Wertkonflikte und Wertekonvergenz im europäischen Grundrechtsverbund: Die Würdekonzeption des Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta im Vergleich [1 ed.] 9783428559657, 9783428159659

Nicht nur unter dem Grundgesetz gilt die Menschenwürde als vornehmstes Recht und tragendes Konstitutionsprinzip. Auch Ar

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Wertkonflikte und Wertekonvergenz im europäischen Grundrechtsverbund: Die Würdekonzeption des Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta im Vergleich [1 ed.]
 9783428559657, 9783428159659

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Studien zum vergleichenden Öffentlichen Recht Studies in Comparative Public Law Band / Volume 10

Wertkonflikte und Wertekonvergenz im europäischen Grundrechtsverbund Die Würdekonzeption des Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta im Vergleich

Von

Christian Lutsch

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTIAN LUTSCH

Wertkonflikte und Wertekonvergenz im europäischen Grundrechtsverbund

Studien zum vergleichenden Öffentlichen Recht Studies in Comparative Public Law Band / Volume 10

Wertkonflikte und Wertekonvergenz im europäischen Grundrechtsverbund Die Würdekonzeption des Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta im Vergleich

Von

Christian Lutsch

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2511-9648 ISBN 978-3-428-15965-9 (Print) ISBN 978-3-428-55965-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Die Dissertation entstand während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Herrn Prof. Dr. Uwe Volkmann am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie zunächst an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, später an der Goethe-Universität in Frankfurt. Mein sehr herzlicher Dank gilt meinem hochgeschätzten Doktorvater, Herrn Professor Dr. Uwe Volkmann, zuvörderst für die Unterstützung dieser Arbeit und das Interesse an den entwickelten Thesen. Nicht weniger danke ich ihm für die überaus lehrreiche, befruchtende und sehr herzliche Zeit an seinem Lehrstuhl sowie für die großzügig gewährten, keineswegs selbstverständlichen Freiheiten zur eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Besonders bedanken möchte ich mich außerdem bei Herrn Prof. Dr. Stefan Kadelbach für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens und bei Herrn Prof. Dr. Georg Hermes für die anregende Diskussion in der Disputation unter seinem Vorsitz. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Öffentliches Recht, Pascal Langer, Dr. Paul Lorenz, Malte Feldmann, Anna-Maria Drescher und Samira Akbarian bin ich ebenfalls mit Dank für eine schöne Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter verbunden. Von Herzen bedanken möchte ich mich ferner bei meiner Familie für die immerwährende Unterstützung, insbesondere bei meinem Bruder Prof. Dr. Andreas Lutsch für den steten geistigen Austausch und die kritische Lektüre von Teilen der Arbeit, die er trotz eigener vielfältiger Verpflichtungen übernommen hat. Meiner Frau Katharina danke ich ebenfalls herzlich für die Lektüre der Arbeit und das rege Interesse an den Thesen sowie die Unterstützung bei der Fertigstellung der Dissertation. Mein größter und tief empfundener Dank gebührt meinen Eltern. Sie haben mir durch ihre Erziehung, stete Begleitung und Unterstützung sowie Förderung von Kindestagen an das Studium und meinen weiteren Werdegang erst ermöglicht. Bonn, im Mai 2021

Christian Lutsch

Inhaltsübersicht Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Kapitel 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Kapitel 3: Die Menschenwürdegarantie im Rechtsprechungsvergleich zwischen BVerfG und EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Kapitel 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh im problemorientierten Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Kapitel 5: Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung

17

A. Die Menschenwürde als Grundrecht im europäischen Mehrebenensystem . . . . . . . . . 18 I. Ein Dauerthema: Grundrechtspluralismus als Grundrechtskonkurrenz? . . . . . . . 18 II. Die Menschenwürde als zu vergleichendes Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 III. Vergleich zwischen der unionalen und (nur) der grundgesetzlichen Würdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Einschränkungen und Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Kontextuelle Rechtsvergleichung in Form eines Konzeptvergleichs . . . . . . . . . . 25 II. Einschränkungen und Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Kapitel 2 Zur Grundrechtearchitektur Europas

32

A. Ausgangslage und frühe Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Konfliktpotenzial der Ausgangskonstellationen mit Blick auf die Menschenwürde . . 34 I. Agency-Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. ERT-Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Die Anwendbarkeit der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Doppelte Grundrechtsbindung und Anwendungsvorrang – Lösungsvorschläge 45 1. Einzelfallorientiertes Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Unionsgrundrechte als Mindeststandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Prinzip der Meistbegünstigung / Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4. Genereller Vorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 5. Genereller Vorrang der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

12

Inhaltsverzeichnis 6. Neuer Ansatz des BVerfG: Grundrechte des Grundgesetzes „im Gewand“ der Unionsgrundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 7. Offene Fragen und die Notwendigkeit des inhaltlichen Abgleichs von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

D. Kooperation oder Konkurrenz – Die institutionelle Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Kapitel 3 Die Menschenwürdegarantie im Rechtsprechungsvergleich zwischen BVerfG und EuGH

56

A. Der Begriff der Menschenwürde und seine Entfaltung durch die Rechtsprechung . . . 56 B. Zum Aufbau des Rechtsprechungsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG: Von der symbolischen Leitformel und einheitsstiftenden Idee zum zentralen Grundrecht der Verfassungsordnung – und zurück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I. Parteiverbotsverfahren und Lüth-Entscheidung: Die Menschenwürde als einheitsstiftende Leitformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Konturen durch Anwendung der Objektformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Mikrozensus und Abhör-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Lebenslange Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 III. Der Mensch als Subjekt mit unbedingtem Eigenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Schwangerschaftsabbruch I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Großer Lauschangriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Asylbewerberleistungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4. Die Bezugnahme auf den Subjektstatus als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 IV. Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Luftsicherheitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. NPD Parteiverbotsverfahren II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 V. Vorläufiges Ende der Entwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH: Anfängliche Zurückhaltung und zunehmende Grundrechtskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 I. Vor der Kodifizierung der Charta: Nur lose Bezugnahme auf die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Menschenwürde als objektives Instrumentalisierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Biopatentrichtlinie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Omega-Spielhallen / Laserdrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Biopatentrichtlinie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Biopatentrichtlinie III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

Inhaltsverzeichnis

13

III. Konturen der grundrechtlichen Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Rückführungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Anerkennungs- und Asylverfahrensrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 E. Zusammenschau: Zum gerichtlichen Zugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 I. Quantitative Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 II. Behandelte Themenbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 III. Gerichtliche Prüf- und Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 F. Gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung der Entscheidungen . . . . . . . 104 G. Rechtsprechungslinien und Würdekonzepte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 H. Wechselwirkungen und gerichtlicher Dialog im Kontext der Menschenwürde . . . . . . 106 I. Zuletzt: Konvergenzen und Divergenzen zwischen den gerichtlichen Menschenwürdekonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Kapitel 4 Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh im problemorientierten Vergleich

114

A. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Probleme bei der inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürdegarantie und ihres Wesensgehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Zur Auslegung der chartarechtlichen Würdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Rechtsquellen der EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Rechtserkenntnisquellen der EU-Grundrechte nach Art. 52 GrCh („Auslegungshilfen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) EMRK-Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Mitgliedstaatliche Verfassungsüberlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 c) Charta-Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Allgemeine Methoden zur Auslegung der EU-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Menschenwürdegarantien in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 B. Der gemeinsame Kern des europäischen und des grundgesetzlichen Würdeverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 I. Eine Ideengeschichte für beide Garantien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Dominanz eines der Deutungsangebote? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts als unmittelbarer Ausgangspunkt der beiden Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

14

Inhaltsverzeichnis IV. Gemeinsamkeiten in der textlichen Konzeption: Wortlaut, Rechtsnatur, systematische Stellung der Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 V. Subjekt-/Objektformel als maßgebliches Kriterium für die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 VI. Konsentierte inhaltliche Grundaussagen beider Garantien: Autonomie und Integrität, elementare Gleichheit sowie Sozialbezogenheit des Menschen . . . . . . . 143 VII. Dennoch: Feine (bereits) systematische Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 VIII. Das Problem der evidenzbasierten Bestimmung von Würdeverletzungen . . . . . 148

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. Menschenwürde „nur“ Grundsatz oder auch Grundrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Drittwirkung der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Menschenwürde als Auffanggrundrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 IV. Offenheit der Menschenwürdegarantie für neue Gefahren und Gefährdungen

156

V. Offenheit auch für „Verfassungswandel“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 D. Personaler Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 I. Ausnahmslos natürliche Personen als Träger der Menschenwürde . . . . . . . . . . . 161 II. Pränataler Menschenwürdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Zur verwendeten Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Menschenwürdeschutz in der Phase zwischen Nidation und Geburt . . . . . . . . 163 3. Menschenwürdeschutz auch vor der Nidation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Postmortaler Menschenwürdeschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 IV. Würdeschutz der menschlichen Gattung („Menschheitswürde“)? . . . . . . . . . . . . 180 V. Ergebnis zum personalen Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 E. Möglichkeit der Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Keine Rechtfertigung von Eingriffen, keine Einschränkbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 186 II. Ausnahmsweise Abwägung im Fall der Würdekollision? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 III. Menschenwürde als „Schranken-Schranke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich . . . . 191 I. Noch einmal: Konsentierte Grundaussagen und tatbestandliche Ausdifferenzierung in der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 III. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums . . . . . . . . . . . . . . 195 IV. Menschenwürde und Schutz des Privatlebens, insb. Datenschutz . . . . . . . . . . . . 197 V. Menschenwürde und Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Unter der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Inhaltsverzeichnis

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c) Ein Recht auf Abtreibung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 d) Im Ergebnis: Normative Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Sterbehilfe / Sterben in Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Indirekte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) Passive Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 d) Direkte Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 e) Fazit zur Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 VI. Biomedizin und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Klonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Reproduktives Klonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Klonen zu therapeutischen Zwecken mittels Zellkerntransfer . . . . . . . . . . 227 2. Forschung an Embryonen / totipotenten Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3. Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4. PID . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5. Keimbahnmanipulation / Genome Editing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6. Leihmutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 7. Fazit zu Menschenwürde und Biotechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Bewertung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 I. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Würdegarantien „an der Oberfläche“ 247 II. Vor allem aber: Inhaltsleere des Würdebegriffs der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. Tieferliegend: Die Würdegarantie des Grundgesetzes als interpretierte, die Würdegarantie der Charta als nicht interpretierte These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 IV. Probleme des Diskursmodells aus Art. 1 Abs. 1 GrCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 V. Mangelnder Konsens in den Mitgliedstaaten der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 VI. Normgenerierung und das Problem Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 VII. Die Würdegarantien zwischen normativem Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . 253 VIII. Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Kapitel 5 Schlussbetrachtungen

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A. Bedeutung der Ergebnisse für die Modelle aus Kapitel 2. Zur Grundrechtskonkurrenz im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. Einzelfallorientiertes Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 II. Unionsgrundrechte als Mindeststandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Prinzip der Meistbegünstigung / Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

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Inhaltsverzeichnis IV. Vorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 V. Vorrang der Unionsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

B. Dialogverantwortung der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 C. Identitätskontrolle des BVerfG als legitimes und notwendiges Schutzkonzept . . . . . . 259 D. Die Würde des Menschen als Grundwert der politischen Ordnung der Bundesrepublik und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Kapitel 1

Einleitung Nach wie vor hat die Beschäftigung mit der Menschenwürde Konjunktur. Dies gilt für den allgemeinen Sprachgebrauch, die Inanspruchnahme als Argument in gesellschaftlichen Debatten wie auch unverändert für die Rechtswissenschaft. Gerade für die deutschsprachige Rechtswissenschaft hat der Begriff kaum etwas von seiner Strahlkraft, seinem ubiquitären Anspruch und seinem tatsächlichen Gewicht eingebüßt. Der Begriff der Menschenwürde fungiert gleichzeitig aber nicht mehr nur als spezifisch „deutscher“ Rechtsbegriff, vielleicht war er das auch niemals in dem Maße, wie es die schiere Anzahl und der Zuschnitt der deutschsprachigen Fachliteratur zunächst vermuten lassen. Er greift vielmehr zunehmend Raum auch in zwischenstaatlichen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Rechtsordnungen.1 Der Begriff der Menschenwürde ist daher, so viel kann gesagt werden, ein weit verbreiteter und weitestgehend akzeptierter Verfassungsbegriff auch über deutsche und europäische Grenzen hinaus.2 Mit Blick speziell auf den europäischen Rechtsraum ist eine Expansion des Begriffs nicht nur im mitgliedstaatlichen Vergleich, sondern auch für die Bereiche des Europarats und der Europäischen Union festzustellen. So hat der EGMR die Menschenwürde in seiner Rechtsprechung zum Leitgedanken der Konvention erhoben, was umso bemerkenswerter ist, als die Menschenwürde in dem Text der EMRK aus dem Jahre 1950 gar nicht explizit erwähnt ist. Vor allem aber häuft sich die Bezugnahme auf die Menschenwürde im Rechtsraum der Europäischen Union: Zahlreiche Sekundärrechtsakte, von der Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer3 über die Fernsehrichtlinie4 bis hin zur Biopatentrichtlinie5, nehmen 1 Walter, Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/ Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung: rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, S. 127 ff.; Schachter, Human Dignity as a normative Concept, AJIL 77 (1983), S. 848 ff. (Editorial). 2 McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, EJIL Vol. 19 (2008), S. 655 (664 ff.); s. auch Carozza, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights: A Reply, EJIL 19 (2008), S. 931 (932 f.). 3 VO (EWG) 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 257/2, Begründung, 5. Erwägungsgrund. 4 Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 12. 2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit.

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Kap. 1: Einleitung

auf die Würde des Menschen Bezug und sollen, so der artikulierte Wille des Normgebers, ihrem Schutz dienen. In das unionale Primärrecht hat der Begriff gar an prominentester Stelle Einzug erhalten. Art. 2 EUV weist die Menschenwürde nicht nur als einen unter vielen, sondern als den Wert der Union schlechthin aus, der auch bei der Auslegung der übrigen Werte der Union maßgeblich sein soll.6 In der im Jahr 2000 erlassenen und 2009 in Kraft getretenen Grundrechtecharta wurde in Art. 1 die Menschenwürde schließlich als wichtigste Regelung normiert. Damit wurde die Menschenwürde nicht nur als normativer Grundwert, sondern als echtes Grundrecht festgeschrieben, das fortan auch im Primärrecht der Union Geltungs- und Steuerungsanspruch erhebt.

A. Die Menschenwürde als Grundrecht im europäischen Mehrebenensystem I. Ein Dauerthema: Grundrechtspluralismus als Grundrechtskonkurrenz? Insbesondere die Dimension der Menschenwürde als Grundrecht verdient auf mitgliedstaatlicher und europäischer Ebene im Kontext zunehmender Europäisierung und Internationalisierung besondere Beachtung. Mit dem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta beanspruchen aus Sicht der Mitgliedstaaten der Union nunmehr drei verbindliche Grundrechtskataloge in Europa Geltung: GrCh, EMRK und Grundrechte der Mitgliedstaaten. Das daraus resultierende Neben-, Über- und Miteinander von Grundrechten bildet eine äußerst komplexe Gemengelage. Die damit einhergehenden Implikationen, vielleicht auch Problemlagen, aus mitgliedstaatlichem Recht, unionsrechtlicher Durchwirkung und konventionsrechtlichem „Überbau“ sind trotz zunehmend zahlreicher Beiträge in der Literatur bislang weder materiellrechtlich noch prozessrechtlich umfassend und systematisch aufgearbeitet. Während das Verhältnis von mitgliedstaatlichen Grundrechten zur EMRK, und damit das Verhältnis zwischen BVerfG und EGMR, zwar als wissenschaftlich gut erschlossen gelten kann, ergeben sich mit Blick auf das Verhältnis von mitgliedstaatlichen und unionsrechtlichen Grundrechten und damit von BVerfG und EuGH viele Unklarheiten. Namentlich betrifft dies das Problem einer „doppelten Grundrechtsbindung“, also einer gleichzeitigen Bindung staatlicher Gewalt an mitgliedstaatliche und unionale Grundrechte. Der normative Anknüpfungspunkt für solche Situationen ist Art. 51 GrCh.

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Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06. 07. 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, Begründung, 16. und 38. Erwägungsgrund. 6 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 1 GrCh Rn. 17 m.w.N.

A. Die Menschenwürde als Grundrecht

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Die Konstellation der doppelten Grundrechtsbindung wirft flagrante Fragen auf, die sich auf drei Kernpunkte reduzieren lassen. Erstens: Welches Grundrecht beansprucht im konkreten Fall nicht nur Geltung, sondern gelangt auch tatsächlich zur Anwendung? Anders gefragt: Besteht im konkreten Fall ein Anwendungsvorrang für das nationale oder das unionale Grundrecht? Betrifft dies zunächst die Frage, welches Grundrecht in der konkreten Situation die rechtlichen Maßstäbe liefert, fragt sich im Anschluss und zweitens: Welches sind die sodann geltenden Maßstäbe und wie unterscheiden sich die konkurrierenden Grundrechte materiell voneinander? Gefragt wird hier also nach dem Schutzniveau des mitgliedstaatlichen Grundrechts auf der einen und des unionsrechtlichen Grundrechts auf der anderen Seite. Schließlich drittens: Wer urteilt im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“7 über die Grundrechtskonformität hoheitlichen Handelns? Welcher gerichtliche Akteur, aus deutscher Perspektive BVerfG oder EUGH, besitzt in dieser Konstellation das „letzte Wort“ in Grundrechtsfragen? Die Fragen stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern vielmehr in innerem Zusammenhang. Dabei hat bereits die Reihenfolge ihrer Beantwortung Folgen für die übrigen Fragen: Ist zunächst – abstrakt – das Grundrecht ermittelt, das in der konkreten Situation maßstabsliefernd ist, fragt sich im Anschluss zwingend, welches Schutzniveau dieses Grundrecht für den Fall bietet. Umgekehrt kann auch zunächst das Schutzniveau des nationalen und des unionalen Grundrechts ermittelt werden, um dann dem schutzintensiveren Grundrecht Anwendungsvorrang im konkreten Fall einzuräumen.8 Die Reihenfolge der Beantwortung wäre damit umgekehrt. Schließlich ist die Beantwortung der Frage, ob das nationale oder das Unionsgrundrecht im konkreten Fall zur Anwendung gelangt, auch für die Rechtsprechungskompetenz zwischen den Höchstgerichten entscheidend. Unabhängig davon, welche der genannten Fragen als zunächst vorrangig betrachtet wird: Die Frage nach Konvergenz und Divergenz, also nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Gehalt des nationalen und des unionsrechtlichen Grundrechts, ist die praktisch relevanteste und stellt damit auch entscheidende Weichen für die Beantwortung der anderen Fragen. Vor diesem Hintergrund besteht ein Bedürfnis nach dem Vergleich der Chartagrundrechte mit den Bestimmungen des Grundgesetzes, ein „dringendes Desiderat“, dessen Erfüllung in der Literatur zur Charta bereits früh, bislang aber weitgehend folgenlos, eingefordert wurde.9 Diesem Bedürfnis will die vorliegende Arbeit nachkommen. Den Kernpunkt der Arbeit bildet daher der Vergleich des Schutzgehalts von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GrCh. Darüber hinaus wird in einem größeren Zusammenhang ein grund7

Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1. Näher u. Kapitel 2. 9 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 51 Rn. 2 Fn.8; ders., in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 22: „Jedenfalls ist es ein Gebot der Stunde, jedes Chartarecht eingehend mit der einschlägigen nationalen Verbürgung und Rechtslage zu vergleichen, um für die Praxis das jeweils höhere Schutzniveau herauszuarbeiten.“ 8

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Kap. 1: Einleitung

legender Vergleich der Würdekonzeptionen des Grundgesetzes und der Grundrechtecharta erfolgen.

II. Die Menschenwürde als zu vergleichendes Grundrecht Warum aber sollte gerade der Menschenwürdeartikel und damit einer der am schwierigsten zu fassenden Rechtssätze zum Vergleich gewählt werden? Zweifellos wirft die Menschenwürde als Rechtsbegriff konzeptionelle Besonderheiten auf, die anderen Grundrechte nicht zu eigen sind und die die wissenschaftliche Erschließung und Aufarbeitung zu einem schwierigen Unterfangen machen. Gleichwohl lohnt gerade der Vergleich dieses Höchstwerts aus mehreren Gründen. Zunächst ist angesichts der Verankerung der Menschenwürde in Art. 2 EUV und seinem Ausweis als Höchstwert in der „Wertehierarchie“ der Europäischen Union fraglich, worin dieser Wert genau besteht, was er der Sache nach beinhaltet und wie weit ein diesbezüglicher Konsens unter den Mitgliedstaaten und den Unionsbürgern vorausgesetzt werden kann. Diese Inhaltsermittlung kann zwar isoliert von anderen Rechtsnormen, insbesondere von solchen außerhalb des Unionsrechts, vorgenommen werden. Gewinnbringender, weil auch erkenntnisreicher, ist dagegen eine relationale Erschließung des Sinngehalts, also die vergleichende Untersuchung, ob der Rechtssatz auf unionaler Ebene einen vergleichbaren Inhalt und ein vergleichbares Schutzniveau, daneben eine ähnliche Appellationskraft, Steuerungswirkung und letztlich „Wichtigkeit“ besitzt wie auf nationaler Ebene. Als Vergleich bietet sich besonders die grundgesetzliche Würdegarantie an, die durch die umfangreiche Rechtsprechung des BVerfG konkrete Formen angenommen hat. Die Vergleichsmethode fördert zu Tage, ob das mitgliedstaatliche (hier: grundgesetzliche) und das unionale Würdeverständnis wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest miteinander kompatibel sind und weitgehend spannungsfrei zueinander stehen – und was dies für die Europäische Union als Wertegemeinschaft bedeutet.10 Da es sich bei der Würde des Menschen um eine Grundaussage von bedeutendem Wert handelt, die auf höchstmöglichen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union abzielt, ist ein Abgleich der verschiedenen Rechtsordnungen daher dringend angezeigt.11 Dabei dürfte der Vergleich der fundamental rights die fundamental boundaries der viel strapazierten „europäischen Wertegemeinschaft“ deutlich zu Tage treten lassen.12 10 Mögliche Konfliktfelder im Bereich der Menschenwürde vor dem Hintergrund der Europäischen Union als Wertegemeinschaft skizziert Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union – Eine Problemskizze, in: Derra (Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht. FS Meyer, S. 49. 11 Scholz, Nationale und europäische Grundrechte – unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Grundrechtecharta, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/2, § 170 Rn. 70. 12 Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries: Common Standards and Conflicting Values in the Protection of Human Rights in the European Legal Space, in: Kas-

A. Die Menschenwürde als Grundrecht

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Zweitens gibt es ein praktisches Bedürfnis für einen Vergleich der Menschenwürdegarantien. Ethische Fragen und damit auch solche Fragen, die an das Recht adressiert sind, weisen zunehmend auch staatsübergreifende Tendenzen auf. Dies betrifft Fragen zur Biomedizin ebenso wie gerade im europäischen Kontext immer wieder aufkommende Fragen zur Zulässigkeit von Sterbehilfe. Auch der Daten- und Privatheitsschutz sowie die Bereiche Migration und Teilhabe sind ohne Kenntnis und Einbeziehung der unionsrechtlichen Ebene nicht mehr vollständig zu erschließen. Damit sind jedoch Themenfelder angesprochen, die in der deutschen Rechtswissenschaft klassischerweise mehr oder weniger stark unter dem Topos Menschenwürde diskutiert werden. Ein Abgleich der Würdekonzeptionen ist daher notwendig, um zu prüfen, ob auf der Ebene des Unionsrechts in diesen Fällen überhaupt eine vergleichbare Würderelevanz besteht und wie hoch der bestehende Schutz im Vergleich zum grundgesetzlichen Schutzniveau einzustufen ist. Drittens besitzt der Begriff Menschenwürde auf europäischer Ebene vor allem aufgrund der textlichen Ausdifferenzierung in den Artikeln 1 bis 5 der Charta bereits schriftlich fixierte Ausprägungen seines materiellen Gehalts, die andere Chartagrundrechte vermissen lassen. Dagegen ist die Menschenwürderechtsprechung des EuGH nach wie vor überschaubar. Es zeigt sich allgemein, dass der Gerichtshof lange Zeit nicht merklich als Grundrechtsgericht agiert hat, freilich auch, weil grundrechtsrelevante Konstellationen vor dem Gerichtshof über längere Zeit verhältnismäßig rar waren.13 Die umfassende Exploration zahlreicher europäischer Grundrechte steht daher noch aus, was auch für die Menschenwürdegarantie gilt. Dennoch sind die Schwierigkeiten der Schutzniveaubestimmung bei der Menschenwürde tendenziell geringer ausgeprägt als bei anderen Grundrechten der Charta.14 Viertens dient die Menschenwürde zunehmend als Argument im institutionellen Gefüge zwischen BVerfG und EuGH, weshalb sie auch aus diesem Grund besondere Beachtung verdient. So beansprucht das BVerfG im Wege der Identitätskontrolle die alleinige Prüfungskompetenz über die Anwendbarkeit und Gültigkeit von EU-Sekundärrecht und innerstaatlichen Rechtsakten, die zwingende Unionsrechtsvorgaben umsetzen, sofern durch diese eine Verletzung der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG droht.15 Schutzgut dieser Identitätskontrolle ist der gem. Art. 23 Abs.1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotene Menschenwürdeschutz als Teil der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland, der fortan im Einzelfall – und abweichend zur Solange II-Doktrin – durch das BVerfG im Rahmen einer „menschenwürdesichernden Identitätskontrolle“ überprüft werden toryano R. (Hrsg.), An Identity for Europe. The Sciences Po Series in International Relations and Political Economy. 13 Ausführlich zur Genealogie des europäischen Grundrechtsschutzes Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 545 ff., ins. 585 ff. 14 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 2. 15 BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle.

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Kap. 1: Einleitung

kann.16 Die sich zunächst nur vage abzeichnende „äußerste Schwelle der Bedrohung der nationalen Verfassungsidentität“ ist damit greifbar geworden;17 das „letzte Wort“ in grundrechtlichen Fragen mit Menschenwürdebezug sichert sich das BVerfG in einem autonomen Rekurs auf die Verfassungsidentität, wobei die Annahme einer substantiierten Behauptung der Verletzung der Menschenwürde durch das BVerfG zum entscheidenden Ansatz für die Grundrechtskontrolle wird. Dies betrifft primär die grundgesetzliche Menschenwürdegarantie, da die Grundrechtsrechtsprechungskompetenz des BVerfG von der Reichweite der Grundaussagen aus Art. 1 Abs. 1 GG selbst, aber auch von dem danach zu bestimmenden Menschenwürdegehalt der anderen Grundrechte abhängt. Gleichzeitig betrifft es aber auch die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie insoweit, als die Überprüfungskompetenz des BVerfG im Einzelfall nicht an ein generelles Absinken des grundrechtlichen Standards auf Unionsebene, sondern an ein unionsrechtliches Schutzdefizit im konkreten Fall geknüpft ist. Letzteres dürfte sich – freilich in der allein dem BVerfG obliegenden Bewertung – maßgeblich am Gewährleistungsgehalt der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie bemessen. Auch aus diesem Grund scheint ein Vergleich der Menschenwürdekonzeptionen dringend angezeigt.

III. Vergleich zwischen der unionalen und (nur) der grundgesetzlichen Würdegarantie Gerade aus letztgenanntem Grund liegt ein Vergleich der unionsrechtlichen mit der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie zwar grundsätzlich nahe. Dennoch ist ein solcher Vergleich, vor allem aber die Beschränkung der Vergleichsobjekte – hier vor allem mit Blick auf die Beschränkung auf die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes – rechtfertigungsbedürftig. Es könnte sich durch die Eingrenzung der Verdacht aufdrängen, der europäische Menschenwürdebegriff müsse sich an einem bestimmten mitgliedstaatlichen, in diesem Fall ausgerechnet am deutschen Menschenwürdeverständnis, messen lassen – eine Vorstellung, die angesichts weiterer 26 Mitgliedstaaten und deren prinzipiell gleich zu gewichtenden Verfassungstraditionen, die auf die Unionsgrundrechte abstrahlen, richtigerweise abzulehnen ist.18 Es

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Der Begriff bei Reinbacher/Wendel, Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl – Zum ebenenübergreifenden Schutz grundrechtlicher Elementargarantien im europäischen Auslieferungsverfahren, EuGRZ 2016, 333 (334). 17 Die Formulierung bei F. Kirchhof, Kooperation zwischen nationalen und europäischen Gerichten, EuR 2014, 267 (271). 18 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34 FN. 166, m.w.N.: „Zu beachten ist auch, daß sich Art. 1 GrCh nicht an der deutschen Grundrechtsdogmatik messen lassen muß, da diese im Vergleich mit den Rechtsordnungen der übrigen Mitgliedstaaten einen Sonderfall darstellt, der insofern für die Konturierung der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie nicht maßgeblich sein kann.“

A. Die Menschenwürde als Grundrecht

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verbietet sich daher jede Form einer grundgesetzlichen Suprematie.19 Dennoch beruht der Vergleich letztlich auch auf der Grundannahme, dass das deutsche Menschenwürdeverständnis und die deutsche Menschenwürdedogmatik – beginnend mit der textlichen Verankerung an prominentester Stelle im Grundgesetz – bei aller Lückenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit und berechtigter Kritik eine grundsätzlich bewahrenswerte, weil rechtsschutzintensive Gewährleistung darstellt. Die „deutsche Perspektive“ hat auch in den unionsweiten Menschenwürdediskurs besonders viel einzubringen, was nicht nur die aufzufindende, eben häufig deutschsprachige Literatur zum Thema zeigt. Bereits die Formulierung der Charta selbst verdeutlicht durch den erfolgten „Normtexttransfer“ das besondere Verhältnis zwischen der unionalen und der grundgesetzlichen Würdegarantie.20 Wenn aber Art. 1 GG erkennbar als Vorbild für die Formulierung von Art. 1 GrCh gedient hat, drängt sich die Frage auf, ob und inwieweit neben dem Normtexttransfer auch ein Norminhaltstransfer stattgefunden hat. Schließlich: Der Vergleich der unionalen mit der grundgesetzlichen Garantie rechtfertigt sich auch daraus, dass die deutsche Perspektive nicht nur viel in den Menschenwürdediskurs einzubringen hat, sondern dass aus deutscher Perspektive bei zunehmender Zentralisierung und Verschiebung menschenwürderelevanter Themen auf die Unionsebene auch besonders viel auf dem Spiel und damit „zu verlieren“ steht. Soweit es nämlich richtig ist, dass der deutsche Menschenwürdestandard einen Sonderfall bildet, und soweit unterstellt werden kann, dass die aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten, im mitgliedstaatlichen Vergleich zum Teil außerordentlich strengen gesetzlichen Anforderungen, ein insgesamt hohes Schutzniveau gewährleisten, ist die Gefahr der Einebnung (um nicht zu sagen: Marginalisierung) dieses Schutzniveaus im unionsrechtlichen Kontext manifest.

IV. Einschränkungen und Präzisierungen Würde lediglich nach dem Schutzniveau zweier gleichartiger Grundrechte gefragt, der Vergleich also primär nach den Kriterien „besserer/schlechterer“ oder „höherer/niedrigerer“ Schutz kategorisiert werden, liefe dies dem Charakter von Grundrechten zuwider und ein solcher Vergleich würde von vornherein seiner Sinnhaftigkeit beraubt. Schließlich insinuiert die Frage nach einem vergleichbaren Schutzniveau ein Gefälle, das jedenfalls in mehrpoligen Rechtsverhältnissen schlicht nicht existiert und sich daher einer solchen Bewertung generell versperrt.21 Die Frage nach der Vergleichbarkeit der Schutzniveaus ist gleichwohl nicht sinnlos. Gerade im Bereich „klassischer“ Staat-Bürger-Konstellationen wird eine Unterscheidung und 19 Die Gefahr eines „rechtskulturellen Imperialismus“ skizziert Kischel, Rechtsvergleichung, S. 51 ff. 20 Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 177 ff., daraus auch der Begriff. 21 Vgl. Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 607 Rn. 1438.

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Kap. 1: Einleitung

Qualifizierung von Schutzniveaus tendenziell möglich sein, da sich bei lebensnaher Betrachtung in dieser typischerweise abwehrrechtlichen Dimension aus der Perspektive des Bürgers ein „Mehr“ oder „Weniger“ an Grundrechtseingriff verhältnismäßig leicht bestimmen lässt. Auch in dieser Konstellation lassen sich freilich nur Tendenzen ausmachen, nicht jedoch punktgenaue Aussagen über das Schutzniveau treffen. Dies gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der Staat auch in dieser Konstellation seinerseits nur als Bündelung der Kollektivinteressen einer politischen Allgemeinheit auftritt. Die Frage nach dem Schutzniveau der beiden Grundrechte im Vergleich ist daher in ihrer Pauschalität allein nicht aufrechtzuerhalten. Allerdings muss sie auch nicht gänzlich verworfen, sondern sollte gerade mit Blick auf mehrpolige Rechtsverhältnisse behutsam um weitere Dimensionen erweitert werden. Leitfragen des Vergleichs bilden dann solche nach der allgemeinen Konzeption der Menschenwürde, der Überformung bestimmter gesellschaftlicher und politischer Bereiche durch die Menschenwürde und den Gestaltungsmöglichkeiten und -spielräumen des Gesetzgebers in ihrem Anwendungsbereich. Mit dieser Erweiterung geht neben einer moderaten Vergrößerung des Untersuchungsgegenstandes auch eine gewisse Unschärfe der zu erwartenden Ergebnisse einher, da in der Analyse häufig nur eine Darstellung des Möglichen und Denkbaren, sprich von Spielräumen unter dem jeweiligen Grundrecht geleistet werden kann, nicht jedoch punktgenaue Aussagen zu bestimmten Problemen getroffen werden können. An Komplexität, möglicherweise auch an Unschärfe, gewinnt die Darstellung dadurch, dass die Grundrechte im europäischen Mehrebenensystem nicht einander gegenüber oder unverbunden nebeneinander stehen, sondern sich im konkreten Fall in häufig unklarer Art miteinander verschränken. Der darin auch zum Ausdruck kommende Konvergenzgedanke, der Realität im Grundrechtsdialog der Höchstgerichte geworden ist, relativiert die Möglichkeit der Scheidung der Grundrechte und Grundrechtssphären voneinander merklich. Jedenfalls erinnert er aber daran, dass im grundrechtlichen Mehrebenensystem nicht Begriffe wie Divergenz und Differenzierung, sondern Konvergenz und Amalgamierung die (auch wissenschaftliche) Programmatik kennzeichnen. Schließlich soll das „Mehr“ an Grundrechten in Europa nicht nur der Harmonisierung, sondern vor allem einer Optimierung des Grundrechtsschutzes dienen. Wenn das Vorgenannte für das Verhältnis von nationalen und unionalen Grundrechten im Allgemeinen gilt, so gilt es im Besonderen und in verstärktem Maße inhaltlich für die Menschenwürdegarantie. In dem Begriff bündelten sich bereits vor seiner Ingebrauchnahme als rechtliches Konzept europäische Ideen-, Philosophieund Geistesgeschichte.22 Der grundgesetzliche Würdebegriff lebt daher auch von seinen europäischen Wurzeln und ist auf eine rein „nationale“ Lesart nicht zu be-

22 Aus der umfangeichen Literatur s. etwa Düwell/Braarvig/Brownsword/Mieth (Hrsg.), The Cambridge handbook of human dignity, S. 53 – 146.

B. Methode

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schränken.23 Bereits die Ideengeschichte des Begriffs sensibilisiert daher für Konvergenzbestrebungen bei der Auslegung der beiden Würdegarantien. Da diese Ideengeschichte als wissenschaftlich weitgehend erschlossen gelten kann24, ist die Untersuchung auf die jeweiligen rechtlichen Konzepte der Menschenwürde zu beschränken und sind die Fragen nach der rechtlichen Verbindlichkeit der Norm und der von ihr ausgehenden Normbefehle in den Vordergrund zu rücken. Die Ideengeschichte soll dagegen nur am Rand und bedarfsabhängig thematisiert werden.

B. Methode Die vorliegende Untersuchung versteht sich als rechtsvergleichende Arbeit. Sie ist als Konzeptvergleich aufgebaut und folgt der Methode der kontextuellen Rechtsvergleichung, wie im Folgenden näher ausgeführt wird (I.). Gleichzeitig sind Einschränkungen und Präzisierungen vorzunehmen (II.).

I. Kontextuelle Rechtsvergleichung in Form eines Konzeptvergleichs Die der Untersuchung zugrundeliegende Methode entspricht in ihrem Ausgangspunkt dem von Kischel beschriebenen „klassischen Rechtsvergleich“ in Form der funktionalen Rechtsvergleichung.25 Danach orientiert sich die Untersuchung zunächst an der simplen Leitfrage, wie die Menschenwürde unter der Grundrechtecharta und dem Grundgesetz im Vergleich geschützt wird. Gleichzeitig und um ein umfassenderes Bild des Würdeschutzes zu erlangen, wird jedoch der Kontext, in den die zu untersuchenden Würdegarantien eingebettet sind, ausführlich zu beleuchten

23 Zur Ideen- und Verfassungsgeschichte s. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 1 ff. Näher zur Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG vor dem Hintergrund der Naturrechtsdiskurse im Parlamentarischen Rat Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 16 ff. 24 Aus der jüngeren Vergangenheit etwa Rothhaar, Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts, insb. S. 101 ff. Zahlreiche Literaturnachweise zur Ideengeschichte finden sich bei Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 269 f., 272 ff. 25 Näher dazu Kischel, Rechtsvergleichung, S. 164 ff., daran angelehnt auch die folgenden Ausführungen. Die Kritik an der funktionalen Rechtsvergleichung etwa bei Frankenberg, Critical comparisons – Re-thinking comparative law, Harvard International Law Journal 26 (1985), 411 (421, 434 ff.); s. auch Frankenberg, Comparative Law as Critique, S. 52 ff. Alternative Konzepte der Rechtsvergleichung, namentlich postmoderne Konzepte, bilden damit keine Grundlage dieser Arbeit.

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Kap. 1: Einleitung

sein. Damit soll – wiederum mit Kischel – die Methode der kontextuellen Rechtsvergleichung zur Anwendung gelangen.26 Unter der kontextuellen Rechtsvergleichung ist eine hermeneutische Methode zu verstehen, die eine möglichst vollständige Einbeziehung aller einschlägigen rechtlichen und nichtrechtlichen Faktoren und Erkenntnisse in die Einzeluntersuchung fordert. Für die vorliegende Fragestellung bedeutet dies zunächst eine intensive Auseinandersetzung mit der ergangenen Würderechtsprechung und der aufzufindenen Fachliteratur. Daneben werden jedoch auch der historische Entstehungskontext der Würdegarantien, etwaige aktuelle (rechts-)politische Entwicklungen und Diskussionen sowie alternative in der Literatur vertretene Würdekonzepte, die die Rechtspraxis (bislang) nicht geprägt haben, in den Rechtsvergleich einbezogen. Schließlich erfordert die kontextuelle Untersuchung, den Vergleich der Würdekonzeptionen selbst in die Gegebenheiten des europäischen Rechtsprechungs- und Grundrechtsverbundes einzubetten, da sich nur von hier aus ein Gesamtbild der miteinander verwobenen Würdegarantien im grundrechtlichen Mehrebenensystem zeichnen lässt.27 Da die Untersuchung als Leitfrage nicht allein die Gegenüberstellung einzelner Probleme, sondern allgemeiner die Konzeption der Menschenwürdegarantie unter dem Grundgesetz bzw. der Grundrechtecharta zum Gegenstand hat, wird sie als Konzeptvergleich ausgestaltet. Mit Kischel ist darunter – in Abgrenzung zu einem „reinen“ Problemvergleich, der auf den Vergleich der Lösungen eines bestimmten umgrenzten Sachproblems zielt – ein umfassenderer, eher abstrakt nach dem rechtlichen Konzept der Menschenwürde und seiner Ausgestaltung fragender Vergleich zu verstehen.28 Angesichts des Gegenstands der Untersuchung lässt sich der Konzeptvergleich jedoch nicht derart aufrechterhalten, dass auf die punktuelle Betrachtung konkreter Sachfragen verzichtet werden könnte. Hier kommt zum Ausdruck, dass sich das rechtliche Konzept der Menschenwürde regelmäßig nur einzelfallbezogen, mittels bestimmter Fallgruppen und anhand spezifisch gelagerter (wiederum einzelfallbezogener) Gerichtsentscheidungen erschließen lässt.29 Das gilt – wie noch zu zeigen sein wird – in besonderem Maße für die grundgesetzliche, in etwas schwächerem Maße aber auch für die unionale Menschenwürdegarantie. Die Untersuchung wird daher einen gleitenden Übergang zwischen Problem- und Konzeptvergleich aufweisen. Im Kern werden einzelne Sachfragen im Problemvergleich dargestellt (etwa: Menschenwürde und Biomedizin unter dem Grundgesetz bzw. der Grundrechte-

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Kischel, Rechtsvergleichung, S. 187 ff. Dies macht insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Grundrechtearchitektur Europas erforderlich, die in Kapitel 2 der Untersuchung vorgenommen wird. 28 Ausführlich zu diesem Punkt wiederum Kischel, Rechtsvergleichung, S. 175 ff. 29 Vgl. Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 2. 27

B. Methode

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charta). Die daraus erwachsenen Ergebnisse münden schließlich in einen umfassenderen Konzeptvergleich der beiden Garantien.

II. Einschränkungen und Präzisierungen Methodische Probleme, die allerdings auch auf den Inhalt ausstrahlen, bereitet die verwertbare Quellenlage zur unionalen Menschenwürdegarantie und zu den angeführten Einzelaspekten in gesamteuropäischer Sicht. Insbesondere ist eine methodische Stringenz und Transparenz dort häufig nicht einzuhalten, wo die klassischen Auslegungsmethoden nicht mehr weiterhelfen und rechtsvergleichende Aspekte einbezogen werden (müssen). Für die Unionsgrundrechte und ihre Auslegung gilt dies zunächst mit Blick auf die zu berücksichtigenden gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, in deren Einklang die Unionsgrundrechte auszulegen sind (Art. 52 Abs. 4 GrCh). Die damit einhergehenden methodischen Probleme sind zahlreich und betreffen insbesondere die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Verfassungsüberlieferungen untereinander. Noch grundlegender sind die Probleme aber bei genauer Sicht bereits dort verortet, wo nach der Rolle, dem Charakter und dem normativen Anspruch der Verfassungen einzelner Mitgliedstaaten gefragt wird. Zu individuell geprägt und disparat sind die Verfassungen hier letztlich im Hinblick auf Rang, Verbindlichkeit, Textdichte, gesellschaftliche Bindungs- und Steuerungskraft, Angewiesenheit auf die Auslegung eines Verfassungsgerichts (inklusive der Frage der Normativität solcher Auslegung), als dass sich hier ein verbindlicher und transparenter Maßstab entwickeln oder offenlegen lassen würde.30 Vergleichbares gilt für den Fall, dass ein „Auseinanderfallen“ von Verfassungsanspruch und einfachgesetzlicher oder gesellschaftlicher Wirklichkeit festgestellt wird.31 Ähnlich gestaltet sich die Situation mit Blick auf die Transferklausel in Art. 52 Abs. 3 GrCh und die Frage nach der Rolle der Rechte der EMRK. Auch hier bleibt das genaue methodische Vorgehen für den Rechtsanwender weitgehend unklar. Dies gilt noch einmal verstärkt für die Garantie der Menschenwürde, die in der EMRK nicht explizit genannt ist, vom EGMR in seiner Rechtsprechung aber als „the very essence“ der Konvention beschrieben wurde.32 Rang und Rechtsverbindlichkeit der zur Auslegung der Chartagrundrechte heranzuziehenden „Auslegungshilfen“ bleiben daher häufig im Ungefähren. Muss 30

Näher Classen, Nationales Verfassungsrecht in der Europäischen Union, S. 79 ff. Der EuGH erweitert bei seinem wertenden Rechtsvergleich daher häufig den Blick auf die jeweilige „Verfassungspraxis“ der untersuchten Mitgliedstaaten, allein schon deshalb, weil im nunmehr ausgeschiedenen Mitgliedstaat Großbritannien eine geschriebene Verfassung fehlt, dazu etwa Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 609. 32 Zuerst EGMR, Urt. v. 29. 04. 2002, Nr. 2346/02 – Pretty/United Kingdom, Rn. 65; bestätigt in EGMR, Urt. v. 17. 07. 2014, Nr. 32541/08 und 43441/08 – Svinarenko und Slyadnev/ Russland, Rn. 118; EGMR, Urt. v. 28. 09. 2015, Nr. 23380/09 – Bouyid/Belgien, Rn. 89. 31

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Kap. 1: Einleitung

deswegen zwar noch nicht von einem „ungenießbaren Brei an Rechtsquellen“33 gesprochen werden, bleibt doch eine gewisse – eben auch stark die Methodik betreffende – Unsicherheit bei der Exploration der Chartagrundrechte bestehen. Schließlich wirft die Auswahl der Einzelfragen, die einem Vergleich unterzogen werden, die Frage auf, inwieweit dieser methodisch sauber vorgenommen werden kann und nicht einer spezifisch „deutschen“ Lesart der Menschenwürdegarantie folgt. Dass die hier behandelten Themen nämlich als menschenwürderelevant – oder, noch grundsätzlicher, überhaupt als (verfassungs-)rechtliche Themen – behandelt werden oder behandelt werden müssen, liegt keinesfalls auf der Hand und kann in einzelnen Fällen sogar als Sonderfall bezeichnet werden.34 Die Gefahr eines grundgesetzlich gefärbten Eklektizismus liegt nahe. Sie wird noch dadurch verstärkt, dass auch für die unionale Menschenwürdegarantie überwiegend deutschsprachige Literatur aufzufinden ist, welche auch für die vorliegende Untersuchung verwendet wurde. Dies mag zwar mit einer gewissen Fixierung der Perspektive einhergehen, ist aber nicht zuletzt der im Vergleich besonders hohen Sensibilität des deutschen Schrifttums für die Menschenwürde und ihren Stellenwert im deutschen Verfassungsrecht geschuldet. Letztendlich ist die Gefahr, die Untersuchung aus einer „deutsch“ gefärbten Perspektive heraus vorzunehmen, damit zwar nicht gänzlich zu bannen. Sie kann aber gerade dadurch eingedämmt werden, dass bei der Betrachtung der einzelnen Problemfelder diese eigene Perspektive reflektiert wird.

C. Forschungsstand Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes darf im Hinblick auf Dogmatik, Wirkungsweise und Deutungsangebote als weitestgehend erschlossen gelten. Zahlreiche Abhandlungen der letzten Jahrzehnte bieten hier Perspektivenreichtum und fügen sich zu einer Materialfülle, die kaum mehr zu überschauen ist. Eine rein auf die grundgesetzliche Menschenwürdegarantie fixierte Beschäftigung erscheint daher allenfalls mit Blick auf bestimmte Einzelaspekte und Problemlagen sinnvoll.35 33 Mit Blick auf das (nicht näher bestimmte) Vorgehen des EuGH Hillgruber, Anm. zu BVerfG, Beschluss v. 7. 7. 2009 – 1 BvR 1164/07, JZ 2010, 41 (43). 34 Zu denken ist hier etwa an den Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dessen Herleitung und Konzeption das BVerfG auch auf Art. 1 Abs. 1 GG gestützt hat. 35 Aus der jüngeren Vergangenheit etwa Schächinger, Menschenwürde und Menschheitswürde: Zweck, Konsistenz und Berechtigung strafrechtlichen Embryonenschutzes; Weschka, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen. Status und Schutz des menschlichen Embryos vor den Herausforderungen der modernen Biomedizin; Timke, Die Patentierung embryonaler Stammzellen. Zum Problemfeld Sterbehilfe etwa Anderheiden, Handbuch Sterben und Menschenwürde; zum Thema Schwangerschaftsabbruch etwa Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch; zum Thema Persönlichkeitsschutz Gstrein, Das Recht auf Vergessenwerden als Menschenrecht: Hat Menschenwürde im Informationszeitalter Zukunft?

C. Forschungsstand

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Für die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie kann gleiches nicht behauptet werden. Zwar existieren mit den Studien von Wallau, Schwarzburg und Berlth allein drei deutschsprachige Abhandlungen über die unionale Menschenwürdegarantie.36 Daneben geben auch die Kommentierungen in den einschlägigen Kommentaren zum EU-Recht Aufschluss über Art. 1 Abs. 1 GrCh.37 Die selbstständigen Abhandlungen sind jedoch allesamt bereits kurz nach Inkrafttreten der Grundrechtecharta erschienen, sodass die jüngste Rechtsprechung der Höchstgerichte, gerade vor dem Hintergrund der hochdynamischen Entwicklung in diesem Feld, nicht berücksichtigt werden konnte. Insgesamt ist auch die Kommentardichte im Hinblick auf die europäischen Grundrechte längst nicht so hoch wie unter dem Grundgesetz.38 Allerdings geben auch einige nichtdeutschsprachige Abhandlungen über das Konzept der Menschenwürde im europäischen Kontext wichtige Impulse zur Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GrCh und zu einem gesamteuropäischen Menschenwürdeverständnis.39 Impulse können sich schließlich aus dem Völkerrecht, namentlich der EMRK, ergeben. Beachtung verdient insbesondere die hierzu kürzlich erschienene Monographie von Schwichows40 sowie der Konkordanzkommentar von Dörr, Grote und Marauhn.41 Versucht man, die sich aus den genannten Quellen ergebenden Erkenntnisse unter der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung zu einem aktuellen Forschungsstand zusammenzufassen, ergibt sich das folgende vergröberte Bild: Zwischen den beiden Würdegarantien soll nach der wohl mehrheitlichen Auffassung eine weitgehende konzeptionelle Gleichheit, zumindest aber Vergleichbarkeit bestehen und unter beiden Garantien sollen ähnliche Problemkreise begegnen, die das jeweilige Menschenwürdeverständnis tangieren; schließlich sollen die identische Subsumtion und der gleiche Prüfungsmaßstab (Subjekt-/Objektformel) übereinstimmende Ergebnisse hinsichtlich eines Menschenwürdeverstoßes zeitigen.42 Im Ganzen mündet dies dann häufig in der Aussage, beide Garantien böten einen vergleichbaren (i. e. vergleichbar hohen) Schutz, jedenfalls sei mit Blick auf die unionsrechtliche Ebene 36 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union; Berlth, Art. 1 GRCh – Die Menschenwürde im Unionsrecht. 37 Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Jarass (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU; Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte; Stern/Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta; Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar. 38 An nichtdeutschsprachigen Kommentaren sind hier vor allem die Kommentare von Bifulco/Cartabia/Celotto (Hrsg.), L’Europa dei diritti. Commento alla Carta dei diritti fondamentali dell’Unione europea und Peers/Hervey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights. A commentary, zu nennen. 39 Exemplarisch Dupré, The Age of Dignity. 40 von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK. 41 Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar. 42 S. etwa Berlth, Artikel 1 GRCh – Die Menschenwürde im Unionsrecht, S. 135, 144; Frenz, Europarecht, S. 375; Borowsky in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 2.

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Kap. 1: Einleitung

ein Schutzdefizit nicht auszumachen.43 Gleichsam als Einschränkung wird in der Folge dennoch häufig auf einen „genuin unionalen Menschenwürdestandard“ verwiesen, ohne dass immer oder auch nur häufig ersichtlich wird, worin dieser gerade in Abgrenzung zum Menschenwürdestandard des Grundgesetzes genau bestehen soll.44 Diese These wird auch in den wenigen komparativen Abhandlungen zum grundgesetzlichen und unionsrechtlichen Menschenwürdebegriff überwiegend vertreten.45 Ziel dieser Arbeit ist es dagegen, zu zeigen, dass neben einigen wenigen Übereinstimmungen viele gewichtige Unterschiede zwischen den Würdekonzeptionen bestehen – Unterschiede, die aus deutscher Perspektive im Zuge einer forschreitenden Europäisierung nicht einfach eingeebnet, sondern durchaus wertgeschätzt und in das institutionelle Gefüge eingepflegt werden sollten.46

D. Gang der Untersuchung Die Untersuchung gliedert sich in fünf Teile. Der Einleitung im ersten Kapitel folgt eine Darstellung der Grundrechtsarchitektur in Europa. Hier werden mögliche Konstellationen, Problemlagen und Lösungsansätze für den Grundrechtspluralismus im europäischen Verfassungsverbund aufgezeigt und untersucht, wobei insbesondere das Problem der grundrechtlichen Doppelbindung erörtert wird. Gleichzeitig verdeutlicht das Kapitel die Notwendigkeit eines Vergleichs zwischen nationalen und unionalen Grundrechten nochmals. Drittens wird beleuchtet, welche Konturen das BVerfG und der EuGH dem Menschenwürdebegriff in ihrer Rechtsprechung bisher 43 Borowsky, in: Meyer (Hrsg,), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 1b; tendenziell auch Dreier, der „flagrante Kollisionen“ für unwahrscheinlich hält, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 35; weitergehend Streinz, Europarecht, S. 288 Rn. 788, der gar von einer „Entsprechung“ der beiden Garantien spricht; ähnlich Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 17 Rn. 46, die eine sachliche Übereinstimmung von Art. 1 GrCh und Art. 1 GG konstatieren. Dagegen Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 1 GrCh Rn. 15 ff.; Dupré, in: Peers (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights. A commentary, Charter, S. 13: „signifikante Unterschiede“ zwischen den Würdegarantien. 44 So etwa bei Breuer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz (EnzEuR Bd. 2), § 7 Rn. 2, m.w.N., dort auch der Begriff. S. auch Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 7. 45 Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (540), sieht bei „Rückbesinnung auf die Ursprünge des Menschenwürdesatzes in Art. 1 Abs. 1 GG“ keine Hindernisse für die Etablierung einer grundrechtlichen Wertegemeinschaft. Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, in: ZeuS 12 (2010), S. 111 (129), konstatieren dagegen deutliche Unterschiede im Bereich der Gentechnik-Förderung; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 294, kommt zu dem Schluss, dass sich das europäische Menschenwürdekonzept deutlich von dem des Grundgesetzes unterscheidet. 46 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17: „Vielmehr ist das begründete Konzept [der Menschenwürde, Anm. C.L.] europapolitisch offensiv zu verteidigen.“

D. Gang der Untersuchung

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verliehen haben und welche Rolle das Konzept in den Entscheidungen der Höchstgerichte im Vergleich gespielt hat. Da der Begriff vornehmlich von der Entfaltung durch die Gerichte lebt, soll sich erst danach der eigentliche problemorientierte Vergleich der beiden Garantien anschließen; er bildet den vierten Teil der Untersuchung. Das anschließende fünfte Kapitel besteht aus Schlussbetrachtungen zum Menschenwürdeschutz im Mehrebenensystem, die von Ausführungen zum Wert der Menschenwürde flankiert werden.

Kapitel 2

Zur Grundrechtearchitektur Europas Im Folgenden werden zunächst die Ausgangslage und die frühe Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten beleuchtet. Im Anschluss daran (B.) wird diese Rechtsprechung auf ihr Konfliktpotenzial mit mitgliedstaatlichen Regelungen zur Menschenwürde hin überprüft. Unter C. werden sodann die unbewältigten Probleme der Charta, insbesondere Art. 51 GrCh beleuchtet, wobei der Situation der Doppelgeltung von Grundrechten besonderes Augenmerk gelten soll. Diese Ausführungen werden verdeutlichen, dass es zur Entwicklung eines kohärenten Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem künftig mehr denn je auf die institutionelle Seite und die gerichtlichen Akteure in Europa ankommen wird (D.).

A. Ausgangslage und frühe Rechtsprechung des EuGH Nachdem der EuGH über Jahre hinweg jegliche Stellungnahme zu Grundrechten und Grundrechtsrügen in anhängigen Verfahren verweigerte, vollzog sich mit der Rechtssache Stauder eine Wende, von der an die europäischen Grundrechte – freilich noch als unselbstständiger Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts angesehen – zum verbindlichen Prüfungsmaßstab für Gemeinschaftsrechtsakte erwachsen sind.1 Die Rechtsprechung des EuGH und seine stetige Fortentwicklung der Grundrechte vermochten es über die Zeit, die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte, allen voran das BVerfG und den Corte Costituzionale, von einem den nationalen Standards vergleichbaren Niveau des Grundrechtsschutzes zu überzeugen mit der Folge, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte ihren Kontrollanspruch über Grundrechtsfragen mit EU-Bezug nach und nach zurücknahmen.2 Dem Vorgehen der Verfassungsgerichte, gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte durch Berufung auf nationale Grundrechte innerstaatlich zu suspendieren, wurde somit mehr und mehr der Boden entzogen. Die Entwicklung der euro-

1 EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69, ECLI:EU:C:1969:57, Slg. 1969, 419 – Stauder; deutlicher hervorgetreten in EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70, ECLI:EU:C:1970:114, Slg. 1970, 01125 – IHG. 2 BVerfGE 73, 339 – Solange II; Corte Costituzionale, Entscheidung Granital v. 08. 06. 1984, Nr. 179/84, Foro italiano 194, I, 2062.

A. Ausgangslage und frühe Rechtsprechung des EuGH

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päischen Grundrechte diente damit auch der Prävention von Gefahren für die einheitliche Anwendung und den Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts.3 Etabliert hatte sich unter diesen Bedingungen eine Situation zweier kategorisch unterschiedener und nebeneinander bestehender Grundrechtssphären: der unionsrechtlichen (früher gemeinschaftsrechtlichen) Grundrechte auf der einen Seite, die als Kontrollmaßstab für Rechtsakte der Gemeinschaft selbst dienten, und der nationalen Grundrechte auf der anderen Seite, die Schutz vor mitgliedstaatlichen Maßnahmen ohne gemeinschaftsrechtlichen Bezug boten. Von dieser ursprünglichen Position aus erklärt sich die bis heute wohl vom BVerfG vertretene „Trennungsthese“, die von einer weitgehenden systemischen Trennung und Trennbarkeit der Grundrechtssphären auszugehen scheint.4 Dass sich diese Trennung – jedenfalls aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs – auf Dauer jedoch nicht aufrechterhalten ließ, ohne dass wiederum die Einheit und der umfassende Geltungsvorrang des Unionsrechts gefährdet wären, verdeutlichten zwei Konstellationen, in denen der Gerichtshof eine Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten annahm und auch heute noch annimmt. Zunächst gelten die Unionsgrundrechte für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Unionsrecht, sei es im Falle des Handelns der Exekutive (etwa bei einer Maßnahme, die von mitgliedstaatlichen Behörden ausgeführt wird, sich aber unmittelbar auf Unionsrecht stützt), oder sei es im Falle des Handelns der Legislative (etwa bei der Umsetzung einer Unionsrichtlinie in nationales Recht). In beiden Fällen wird der Mitgliedstaat nur als Vollzugsorgan, also als „Agent“ der Union tätig, wohingegen die Urheberschaft des Rechtsakts bei der Union zu verorten ist. In dieser folglich als Agency-Situation beschriebenen Konstellation hat der Gerichtshof in der Rechtssache Wachauf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gewalt an die Unionsgrundrechte anerkannt.5 Die zweite Konstellation, in der der Gerichtshof von einer mitgliedstaatlichen Bindung an die Unionsgrundrechte ausgeht, liegt dem Urteil in der Rechtssache ERT zugrunde.6 Danach besteht eine Bindung in den Fällen, in denen ein Mitgliedstaat Grundfreiheiten des Binnenmarktes einschränkt. Die Einschränkung kann dabei aufgrund ausdrücklicher Vorbehalte bzw. Ausnahmeklauseln im AEUV oder aber

3 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 594 ff.: „Vorrang und Grundrechte sind in der Union Zwillinge“, der daher ein Glaubwürdigkeitsproblem des EuGH im Bereich des Grundrechtsschutzes sieht. 4 Näher dazu Kapitel 2 C. I. 5 EuGH, Urt. v. 13. 07. 1989, Rs. 5/88, ECLI:EU:C:1989:321, Slg. 1989, 02609 – Wachauf/ Bundesrepublik Deutschland. 6 EuGH, Urt. v. 18. 06. 1991, Rs. C-260/89, ECLI:EU:C:1991:254, Slg. 1991, 02925 – Etairia/Pliroforisis.

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

aufgrund „zwingender Erfordernisse“ im Sinne der Cassis de Dijon-Rechtsprechung erfolgen.7 Wären mit der „Trennungsthese“ auch in diesen Situationen nach wie vor die nationalen Grundrechte für die Gültigkeit der Rechtsakte bzw. die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen maßgeblich, stünden sowohl die einheitliche Geltung als auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, mittelbar also das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes, zur Dispositionen einzelner mitgliedstaatlicher Gerichte – ein nicht nur für den Gerichtshof unhaltbarer Zustand.

B. Konfliktpotenzial der Ausgangskonstellationen mit Blick auf die Menschenwürde Beide Konstellationen, Agency und ERT, halten jedoch Konfliktpotenzial für das Verhältnis Unionsrecht und mitgliedstaatliches Recht bereit, das grundsätzlich auch den Bereich des Menschenwürdeschutzes betreffen kann.

I. Agency-Situation Für die Agency-Situation entscheidend sind die Gesetzgebungskompetenzen auf Unionsebene: Ihnen folgt die Anwendung der Unionsgrundrechte akzessorisch. Soweit also für menschenwürderelevante Bereiche eine Unionskompetenz besteht, von der durch den Unionsgesetzgeber auch tatsächlich Gebrauch gemacht wird, löst das umsetzende mitgliedstaatliche Handeln eine Bindung an die Unionsgrundrechte aus. Ob daneben nationale Grundrechte, insbesondere Art. 1 Abs. 1 GG, zur Anwendung gelangen und einen Vorrang vor den Unionsgrundrechten beanspruchen können, ist zu bezweifeln (näher sogleich unter III.). Zu untersuchen ist daher zunächst, für welche Bereiche, die als menschenwürderelevant angesehen werden können (näher dazu Kapitel 4), Gesetzgebungskompetenzen der Union bestehen. Nach Art. 16 Abs. 2 AEUV ist die EU – wohl in geteilter Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten8 – zum Erlass von Vorschriften befugt, die dem Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten dienen sollen. Damit ist eine Dimension des Privatheitsschutzes von Personen angesprochen, die unter dem Grundgesetz vom Schutzbereich des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfasst ist und damit eine Verbindung zu Art. 1 Abs. 1 GG aufweist.

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Als Ausnahmeklauseln kommen dabei in Betracht Art. 36, 46 Abs. 3, 52 Abs. 1, 62, 65 Abs. 1 AEUV. Zur Einschränkung aufgrund „zwingender Erfordernisse“ s. EuGH Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein. 8 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 16 AEUV Rn. 4.

B. Konfliktpotenzial der Ausgangskonstellationen

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Ähnliches gilt für die Kompetenznorm in Art. 168 Abs. 5 AEUV auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes. Zwar wird gemäß Art. 168 Abs. 7 AEUV die Verantwortung für die Festlegung der nationalen Gesundheitspolitik grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten belassen und bereits in der Kompetenznorm „jegliche Harmonisierung“ ausgeschlossen (Art. 168 Abs. 5 AEUV). Dennoch räumt die Norm den Unionsorganen ein weites Feld zur gesetzgeberischen Betätigung ein, das begrifflich von ausdrücklich genannten Betätigungsfeldern wie der Bekämpfung von weit verbreiteten schweren Krankheiten bis zu nicht ausdrücklich genannten Bereichen wie medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbrüchen reichen kann.9 Auch ist denkbar, dass Themenfelder wie etwa die Reproduktionsmedizin und damit der Komplex Biomedizin von der Norm erfasst sein sollen.10 Der Bezug zur Menschenwürde ist – gemessen am deutschen Menschenwürdeverständnis – greifbar. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich die zentrale Befugnisnorm des Art. 114 AEUV, die der Union weitgehende Gesetzgebungskompetenzen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Binnenmarktes einräumt. Denkbar hier ist die Erfassung prinzipiell aller potenziell marktrelevanten Regelungsbereiche. Dass es sich dabei auch um Bereiche mit Bezug zur Menschenwürde handeln kann, zeigt etwa der Erlass der dem Menschenwürdeschutz dienenden Biopatentrichtlinie, der auf die Vorgängernormen zu Art. 114 AEUV (ex-Art. 100a EGV, später Art. 95 EGV) gestützt wurde. Scheinen die Kompetenznormen nach Zahl und Konkretisierungsgrad zunächst beschränkt und klar eingegrenzt zu sein, ergeben sich mit Blick auf die praktische Handhabung der Rechtsgrundlagen erhebliche Unsicherheiten für die Reichweite der Normen. Dies beginnt bereits damit, dass die Kompetenznormen durchweg auslegungsbedürftige Begriffe enthalten, die regelmäßig ein breites Definitionsspektrum nicht nur mit Blick auf die Reichweite des Begriffs, sondern auch auf bestimmte (Vor-) Verständnisse aufweisen. Dies gilt etwa für den Gesundheitsbegriff aus Art. 168 AEUV. Der Gerichtshof definiert diesen unter Rückgriff auf die Definition der WHO als „Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit oder Gebrechen“. Danach ist von einem ungesunden Zustand regelmäßig nicht erst dann auszugehen, wenn pathologische Eigenschaften beobachtet werden, sondern schon dann, wenn das Wohlbefinden nur als „ungünstig“ eingestuft wird. Die Definition stellt also die Weichen für die Regelung hochsensibler Bereiche, wobei die Definitionshoheit für diese Begriffe bei den Unionsorganen liegt. Von ihrer Definition hängen dann Inhalt (im Sinne von wertender Interpretation) und Reichweite der unionalen (in Abgrenzung zur mitgliedstaatlichen) Kompetenz ab. Waren die Unionsorgane in der Vergangenheit noch um eine die Mitgliedstaaten „schonende“ Interpretation der Reichweite der Kompetenzen im Sinne des in dubio mitius bemüht, hat sich diese zurückhaltende Auslegung 9 10

Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), AEUV, Art. 168 Rn. 23. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), AEUV, Art. 168 Rn. 12 ff.

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

nach und nach in ihr Gegenteil verkehrt.11 Maßgeblich ist nunmehr nicht mehr der in aller Regel die Reichweite unionaler Kompetenzen einhegende ursprüngliche Wille der Mitgliedstaaten, sondern der Sinn und Zweck der Norm, welcher aus Sicht von Kommission, Parlament und EuGH häufig im Sinne des Vorrangs und der Einheit des Unionsrechts interpretiert zu werden droht.12 Die zunächst eng umrissenen Kompetenznormen können so zum Einfallstor für die Selbstermächtigung der Union zur weitreichenden Normsetzung werden. Fernab von einer Ausdehnung der Kompetenzen durch autonome Definition können die Befugnisse auch aus einem anderen Grund weiter reichen als ursprünglich intendiert. Bei den Kompetenznormen für die EU handelt es sich häufig um Querschnittsklauseln, die Befugnisse für Regelungsbereiche einräumen, welche – je nach Mitgliedstaat – mehrere verschiedene Rechtsmaterien des nationalen Rechts betreffen können. Isoliert betrachtet ist dies zwar kein Problem. Allerdings kann der Eingriff in Rechtsmaterien auch so weit gehen, dass durch die Regelungsbreite auch solche Bereiche der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen tangiert werden, die genuin mitgliedstaatliche Reservoire bilden. Verdeutlichen lässt sich dies mit Blick auf die unionalen Regelungen zum Datenschutz (Art. 16 AEUV). Umfasst der Begriff des Datenschutzes im Informationszeitalter nicht weitaus mehr, als es zunächst scheint? Sind bei dem Erlass datenschutzrechtlicher Vorschriften nicht auch die präzise Austarierung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten sowie die Kontrolle von Eingriffsbefugnissen der Ermittlungsbehörden (wenn auch sektoral begrenzt) möglich und sogar notwendig?13 Auf Art. 16 AEUV gestützt erließen Rat und Parlament etwa die Richtlinie zum Datenschutz bei Polizei und Justiz,14 deren Regelungen tief in das Sicherheitsrecht der Mitgliedstaaten und damit in einen besonders sensiblen Regelungsbereich eindringen. Art. 17 der im Jahr 2016 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung etwa enthält das Recht auf Vergessenwerden, das den Persönlichkeits- und Privatheitsschutz auf nationaler Ebene nicht nur um eine bisher unbekannte Dimension erweitern, sondern möglicherweise zum Überdenken bisher geltender Konzeptionen – etwa des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – anregen wird.15 Mit diesen Querschnittsklauseln eröffnen sich so Wege für die EU, in nationales Fachrecht einzugreifen, für das es im Einzelnen häufig an der entspre11 Haltern, Europarecht, Bd. 1, S. 356.; Möllers, Grundrechtsschutz: Wäre weniger mehr? – zu Friktionen im europäischen Mehrebenensystem, ZEuP 2015, 461 (463 f.). 12 Haltern, Europarecht, Bd. 1, S. 356 f. 13 Masing, Ein Abschied von den Grundrechten, SZ v. 9. 1. 2012, S. 10. 14 Richtlinie EU 2016/680 des europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 04. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates. 15 Art. 17 Recht auf Löschung („Recht auf Vergessenwerden“) DSG-VO; näher zu letztgenanntem Gedanken Paal/Pauly (Hrsg.), Datenschutz-Grundverordnung, Einleitung Rn. 15.

B. Konfliktpotenzial der Ausgangskonstellationen

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chenden Kompetenz fehlt.16 Ferner drohen durch solche Querschnittsklauseln auch die spezialgesetzlichen und nach Sachbereichen ausformulierten Kompetenzgrundlagen des AEUV unterlaufen zu werden, da die Querschnittsklauseln nur nach Zielen orientiert und nicht durch Sachbereiche eingegrenzt sind.17 Der Bereich des Sicherheitsrechts und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit etwa ist in den Kompetenznormen Art. 82 ff. AEUV spezialgesetzlich geregelt, die überdies eng auszulegen sein sollen.18 Mit der Anwendung einer datenschutzrechtlichen Kompetenznorm wurde damit in den scharf umgrenzten, von Art. 82 ff. AEUV geregelten Bereich der Strafrechtspflege eingegriffen.19 Schließlich kann auch die Wahl der Handlungsform eine Erweiterung der EUKompetenzen bzw. eine Verdrängung nationaler Gesetzgebungskompetenzen zur Folge haben. Jedenfalls dort, wo es die Kompetenznormen des AEUV zulassen, obliegt es den Unionsorganen, in einer autonomen Setzung darüber zu entscheiden, welche der in Art. 288 AEUV genannten und zur Verfügung stehenden Handlungsformen gewählt wird (Art. 296 AEUV), und damit zu bestimmen, ob und inwieweit ein legislativer Gestaltungsspielraum für die Mitgliedstaaten verbleibt. Gilt bei dieser Entscheidung zwar das die Einschätzung der Unionsorgane begrenzende Gebot der Sachgerechtigkeit20 und sind ferner auch das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 3 EUV und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 4 EUV zu beachten, dürfte in der Praxis doch ein erheblicher Spielraum für die Unionsorgane bestehen, sodass sich der Gerichtshof nur in Ausnahmefällen zu einer Korrektur dieser Einschätzung veranlasst sehen dürfte.21 Insgesamt ist bei der Entwicklung der Wahl der Handlungsformen eine zunehmende Tendenz zur Verordnung festzustel16 Näher dazu Grimm, Der Datenschutz vor einer Neuorientierung, JZ 2013, 585 (591), der in der Konsequenz auch die Gefahr einer Kompetenzausweitung durch die Unionsgrundrechte (Art. 51 Abs. 2 GrCh) sieht. 17 F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681 (3684). 18 Zu den restriktiv auszulegenden Kompetenzen der EU im Bereich der Strafrechtspflege s. BVerfGE 123, 267 (406 ff.) – Lissabon. 19 Näher dazu Masing, Ein Abschied von den Grundrechten, SZ v. 9. 1. 2012, S. 10. 20 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), AEUV, Art. 288 Rn. 81. 21 Diesen Ermessensspielraum hat der Gerichtshof (Urt. v. 08. 06. 2010, Rs. C-58/08, ECLI:EU:C:2010:321, Slg. 2010, I-4999 – Vodafone, Rn. 52) mit Blick auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wie folgt umschrieben: „Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der Gerichtshof dem Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in Bereichen zugebilligt, in denen seine Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es geht somit nicht darum, ob eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie ist vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (…)“. Näher zur Justiziabilität der Wahl der Handlungsform Wunderlich/Pickartz, Hat die Richtlinie ausgedient? Zur Wahl der Handlungsform nach Art. 296 Abs. 1 AEUV, EuR 2014, 659 (668 f.).

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

len.22 Diese Entwicklung besitzt das Potenzial, den nationalen Gesetzgeber in den von der EU geregelten Politikbereichen in weiten Teilen zu verdrängen. Was lässt sich aus dem Vorgenannten für die Agency-Situation und mögliche Konfliktlagen der nationalen und unionalen Grundrechte festhalten? Die Gesetzgebungskompetenzen in menschenwürderelevanten Themenfeldern sind ihrer Zahl nach zwar begrenzt und muten auf den ersten Blick auch begrifflich eng umrissen an. Eine „Schonung“ der Mitgliedstaaten und ihrer Gesetzgebungskompetenzen im Geiste des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung scheint daher zunächst in den Verträgen angelegt. Ein genauerer Blick offenbart hier jedoch bereits erfolgte, teils sich auch erst abzeichnende oder auch nur denkbare Verschiebungen von Kompetenzen von der nationalen zur unionalen Ebene. Da die geschriebenen Kompetenzen, wie aufgezeigt, das Potenzial zur Ausuferung in sich tragen, ist eine Tendenz und Dynamik in Richtung einer Kompetenzausweitung der Union in Zukunft nicht unwahrscheinlich. Die „föderale Erfahrung, dass im Laufe der Zeit Kompetenzfragen zentripetal entschieden werden“, ist hier mit Händen zu greifen.23 Die möglichen Verschiebungen sind auch nicht strikt auf bestimmte Politikfelder begrenzt und erfassen daher auch menschenwürderelevante Themenbereiche. Da die Anwendbarkeit der Grundrechte in der Agency-Situation entscheidend von den Gesetzgebungskompetenzen abhängt und diese, bildlich gesprochen, den Rechtssetzungsbefugnissen nachfolgen, geht die beschriebene Verschiebung von Kompetenzen von der nationalen auf die unionale Ebene zwangsläufig mit einem Bedeutungszuwachs der Unionsgrundrechte einher. Dies hat zunächst die Folge einer Angleichung der nationalen Grundrechtsstandards, unter Umständen aber sogar der gänzlichen Verdrängung mitgliedstaatlicher Grundrechte und Grundrechtsdogmatiken durch das unionsrechtliche Grundrechtsniveau.24

II. ERT-Situation Eine ebenso praktisch relevante Konstellation mitgliedstaatlicher Bindung an Unionsgrundrechte hat der EuGH in seiner sog. ERT-Rechtsprechung anerkannt.25 Danach sollen die Mitgliedstaaten an die unionalen Grundrechte gebunden sein, wenn sie die im AEUV gewährleisteten Grundfreiheiten einschränken, wobei die

22 Wunderlich/Pickartz, Hat die Richtlinie ausgedient? Zur Wahl der Handlungsform nach Art. 296 Abs. 1 AEUV, EuR 2014, 659, dort die Kritik an den Unionsorganen mit Blick auf die Regelungen zum Datenschutz. 23 Haltern, Europarecht, Bd. 1, S. 355. 24 Paal/Pauly (Hrsg.) Datenschutz-Grundverordnung, Einleitung Rn. 15. 25 EuGH Urt. v. 18. 06. 1991, Rs. C-260/89, ECLI:EU:C:1991:254, Slg. 1991, I-02925 – ERT.

B. Konfliktpotenzial der Ausgangskonstellationen

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Einschränkung aufgrund ausdrücklicher Vorbehalte bzw. Ausnahmeklauseln im AEUV oder aber aufgrund zwingender Erfordernisse erfolgt.26 Da solche Konstellationen in der Praxis relativ häufig vorkommen, sie bei den Dynamiken des Binnenmarkts zumindest leicht vorstellbar sind, könnte man erwarten, dass hier auch eine Grundrechtsprüfung vom Gerichtshof besonders häufig vorgenommen wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. In den meisten Fällen, in denen die Mitgliedstaaten Grundfreiheiten einschränken, bleibt die Überprüfung dieser Einschränkung an den Unionsgrundrechten schlicht aus.27 Erklärt werden kann dies damit, dass die Grundrechte gleich einer „Schranken-Schranke“ den Sinngehalt der Grundfreiheiten stärken, jedoch nur dann zur Anwendung gelangen, wenn sie gegenüber den Grundfreiheiten auch einen „Mehrwert“ an Schutzgehalt aufweisen.28 Im Anwendungsbereich der Menschenwürde dürfte dies zwar regelmäßig der Fall sein, da die primär wirtschaftlichen Zwecken dienenden Grundfreiheiten nur geringfügige Überschneidungen mit dieser aufweisen. Tatsächlich war eine entsprechende kollisive Situation jedoch noch kein Gegenstand einer Entscheidung des Gerichtshofs. Und dennoch sind solche Konstellationen nicht nur theoretisch vorstellbar, sondern waren sie in der Vergangenheit in gerichtlichen Verfahren bereits der Sache nach angelegt. In der Rechtssache Grogan, die die Überprüfung eines mitgliedstaatlichen Verbots der Verbreitung von Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen im Ausland – und damit die Konformität einer Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit mit den Unionsgrundrechten – zum Gegenstand hatte, hätte bei konsequenter Rechtsanwendung durch den Gerichtshof auch eine Entscheidung zur Vereinbarkeit mit der unionalen Würdegarantie erfolgen können. Schließlich modifizierte der Gerichtshof erst mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit, wonach die unentgeltliche Verbreitung von Informationen über Dienstleistungen keine Werbung für selbige darstellen und sie damit insgesamt nicht vom Begriff der Dienstleistung erfasst werden soll.29 Die Begründung des Gerichtshofs, im konkreten Fall sei die Verbindung zwischen den Werbern und den die Schwangerschaftsabbrüche vornehmenden Kliniken zu lose, um in dem Werben eine Dienstleistung zu sehen, überzeugt angesichts des Charakters der Dienstleistungsfreiheit als grundsätzlich weit ausgelegte und auszulegende Garantie nur bedingt.30 Jedenfalls dürfte dem EuGH eine andere Wertung ebenso möglich gewesen

26 Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte hatte der Gerichtshof in früheren Entscheidungen noch abgelehnt, s. EuGH, Urt. v. 11. 07. 1985, verb. Rs. 60/84 und 61/ 84, ECLI:EU:C:1985:329, Slg. 1985, 02605, – Cinéthèque. 27 Näher dazu Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 679 f. 28 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 679 f. 29 So zumindest P. M. Huber in einem Vortrag mit dem Titel „Die Finanzkrise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, gehalten am 29. 06. 2016 am Institute for Monetary and Financial Stability der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 30 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, S. 924 f.

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

sein.31 Es drängt sich daher der Eindruck auf, dass neben dem genannten Argument der Überschneidung der Schutzgehalte von Grundfreiheit und Grundrecht auch die Rechtsprechung des EuGH bislang dafür gesorgt hat, dass solche durchaus spannungsgeladene Konstellationen nicht entschieden werden müssen. Damit bewährte sich der EuGH bereits als pragmatischer Konfliktvermeider. Was bleibt daher mit Blick auf mögliche Spannungslagen im Rahmen der ERTSituation festzuhalten? Der beachtlichen Ausweitung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte „auf dem Papier“ entspricht (noch) keine gleich geartete Ausweitung in der gerichtlichen Praxis. Dafür sorgen zunächst – mit Blick auf die Menschenwürdegarantie allerdings deutlich abgeschwächt – die strukturellen und materiellen Gemeinsamkeiten im Gewährleistungsgehalt zwischen den Grundfreiheiten und Grundrechten. Des Weiteren agierte der Gerichtshof bislang durchaus konfliktvermeidend und schonend gegenüber den Mitgliedstaaten, indem er spannungsträchtige Konstellationen, wenn nur irgendwie möglich, zu vermeiden suchte. Schließlich gilt zu konstatieren, dass selbst bei dem seltenen Fall der Kollision mitgliedstaatlicher Beschränkungen mit Unionsgrundrechten ein Gestaltungsspielraum für die Nationalstaaten besteht, der großzügig bemessen, allerdings vom Gerichtshof überprüfbar sein dürfte; auch dies schränkt das Konfliktpotenzial zwischen nationalem und unionalem Recht im Rahmen der ERT-Konstellation ein.32 Beide Fallgruppen der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung an die Unionsgrundrechte haben nach wie vor Bestand, gehen rechtstechnisch seit dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta jedoch in Art. 51 GrCh auf. Für die Agency-Situation ergibt sich dies bereits aus dem Wortlaut der Norm selbst, da das mitgliedstaatliche legislative oder exekutive Handeln den unionalen Rechtsakten überhaupt erst zur Umsetzung verhilft und damit eine „Durchführung“ des Unionsrechts i.S.d. Art. 51 Abs. 1 S. 1 2. HS GrCh darstellt. Auch die ERT-Situation ist von Art. 51 Abs. 1 S. 1 2. HS GrCh erfasst. Zwar stellt die Einschränkung von Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten begrifflich keine Durchführung des Rechts der Union dar. Allenfalls könnte die „Ausfüllung“ der unionsrechtlichen Ausnahmevorschriften durch die Mitgliedstaaten als eine solche begriffen werden. Jedoch spricht der Wille des Grundrechtskonvents, mit Art. 51 GrCh jedenfalls den status quo der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten zu erfassen, für eine Inkorporation der ERT-Situation.33 Dieser Gedanke wird ferner auch durch die

31 S. auch P. M. Huber, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zu den nationalen Gerichten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/2, § 172 Rn. 90, dem die Begründung des Gerichtshofs „konstruiert“ anmutet. 32 Näher dazu Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 394 ff., ins. 398 ff. 33 von Danwitz, Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz nach der Charta, in: Masing/Jestaedt/ Capitant/Le Divellec (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, S. 67 (76 f.).

C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh

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Erläuterungen zur Charta gestützt, die auf die ERT-Doktrin des Gerichtshofs Bezug nehmen.34 In der Agency- und der ERT-Situation erschöpft sich der Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 1 S. 1 2. HS GrCh jedoch nicht. Stattdessen stellen sich über die beiden Fallgruppen hinaus die Fragen, in welcher Situation eine mitgliedstaatliche Bindung an die Unionsgrundrechte besteht und welches Grundrechtsregime in diesen Situationen die rechtlichen Maßstäbe liefert. In den Blick gerät hier die Konstellation der Ausgestaltung nationaler Handlungsspielräume, etwa beim Gebrauch von Gestaltungsspielräumen im Rahmen von Verordnungen oder bei der Umsetzung von Richtlinien. Dies führt zu den heftig diskutierten und nach wie vor unbewältigten Problemen des Art. 51 GrCh.

C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh Mit der Normierung von Art. 51 GrCh sollte der Versuch einer trennscharfen Abgrenzung der europäischen Grundrechtsordnung von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unternommen werden, der überdies den bis dato geltenden status quo verfestigen sollte, wie er sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergab.35 Eine Korrektur oder Einschränkung der Rechtsprechung des Gerichtshofs war wohl nicht vom Grundrechtekonvent intendiert.36 Da die Rechtslage wie gesehen zur Zeit der Kodifizierung in ihren Details jedoch umstritten bzw. unklar gewesen ist, verwundert es nicht, dass sich Unklarheiten und Streitigkeiten auch nach Inkrafttreten der Charta bis heute fortsetzen und eine gefestigte Rechtslage nach wie vor nicht besteht.37 Ein Blick auf die Norm selbst offenbart im Wesentlichen zwei Problempunkte. Erstens ist der genaue Anwen34 Charta-Erläuterungen zu Art. 51 Abs. 2: „Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln (Urteil vom 13. 07. 1989, Rechtssache 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609; Urt. v. 18. 06. 1991, Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Urt. v. 18. 12. 1997, Rechtssache C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, I-7493).“ 35 Hatje, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, GRC Art. 51 Rn. 2; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 51 Rn. 1. 36 So zumindest von Danwitz, Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz nach der Charta, in: Masing/Jestaedt/Capitant/Le Divellec (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, S. 67 (77); dagegen jedoch P. M. Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385 (2387): „Korrektur [der Rechtsprechung des EuGH, Anm. C.L.] durch Art. 51 I GrCh“. 37 Einen Erklärungsansatz für die nach wie vor bestehenden, sich nur schrittweise auflösenden Unsicherheiten bietet etwa die Praxis der „inkrementellen Konkretisierung“ des EuGH, die Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941 (942 ff.), beschreibt.

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

dungsbereich der Charta fraglich, was die Frage aufwirft, welche Konstellationen von dem Begriff „Durchführung des Rechts der Union“ erfasst sein sollen. Zweitens stellt sich die Frage, welches Grundrechtsregime, das mitgliedstaatliche oder das unionsrechtliche, im Falle einer Doppelgeltung Anwendungsvorrang besitzt. Fraglich ist also, wie weit die „Geltung“ der Chartagrundrechte im Verhältnis zu den nationalen Grundrechtsordnungen reichen soll.

I. Die Anwendbarkeit der Charta Da die Formulierung „im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ aus Sicht vieler Konventsmitglieder zu unbestimmt war, um in Art. 51 GrCh aufgenommen werden zu können, entschied sich der Konvent für den engeren Begriff der „Durchführung“ (implementation/mise en oeuvre). Der Passus des „Anwendungsbereichs des Unionsrechts“ fand dennoch seinen textlichen Niederschlag in den bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigenden (Art. 52 Abs. 7 GrCh) Erläuterungen. Bis heute ist der „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ für den Gerichtshof das entscheidende Kriterium zur Anwendbarkeit der Grundrechtecharta.38 Während die Geltung der Unionsgrundrechte für die Mitgliedstaaten im Falle des unmittelbaren (Verwaltungs-)Vollzugs des Unionsrechts unbestritten, in der ERTSituation zwar häufig kritisiert,39 aber gleichwohl akzeptiert zu sein scheint, bleibt ihre Bindungswirkung bei der legislativen Umsetzung von Unionsrechtsakten durch die Mitgliedstaaten der Bereich, der noch immer hochumstritten und umkämpft ist und nach wie vor einer Lösung harrt. Zur Abgrenzung der Grundrechtssphären böte sich zunächst die kategorische „Trennungsthese“ an, die vom BVerfG lange Zeit favorisiert und dem EuGH immer wieder als „Kompromissangebot“ unterbreitet wurde.40 Danach soll eine Bindungswirkung der Unionsgrundrechte nur in den Bereichen der legislativen Umsetzung bestehen, in denen den Mitgliedstaaten keine Umsetzungsspielräume eingeräumt sind, ihr Handeln also durch das Unionsrecht determiniert ist.41 Dies beträfe weite Teile, häufig sogar den gesamten Vollzug von Verordnungen und die Umsetzung der unionsrechtlich determinierten Bereiche von Richtlinien.42 Dieser in der Theorie leicht zu bewältigende Ansatz führte dann zu einer stets alternativen Geltung und Anwendbarkeit von nationalen und unionalen Grundrechten. Die Frage des 38 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 19 – Åkerberg Fransson; s. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 51 GrCh Rn. 8 ff. 39 Exemplarisch P. M. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190. 40 Vgl. etwa BVerfGE 130, 151 (177 f.) – Zuordnung dynamischer IP-Adressen; s. jetzt aber BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I und Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II. 41 S. jetzt aber BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II. 42 BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen.

C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh

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Anwendungsvorrangs im Rahmen einer grundrechtlichen Doppelbindung stellte sich so von vornherein nicht. Dagegen dürfte der Gerichtshof aus einer birds eye-Perspektive vornehmlich den Anwendungsbereich der Charta und weniger die mitgliedstaatlichen Grundrechte im Auge haben; konsequenterweise folgt er dem Ansatz des BVerfG nicht und nimmt stattdessen eine Bestimmung des Anwendungsbereichs der Charta im jeweiligen Einzelfall aufgrund einer autonomen, wertenden Gesamtbetrachtung vor. Dass das genaue Vorgehen dabei methodisch häufig unklar bleibt, ein verlässliches Abgrenzungskriterium für die Chartabindung fehlt und überdies die Maßstäbe des Gerichtshofs – die sich häufig nur als Indizienbündel darstellen43 – immer wieder zu variieren scheinen, trägt nicht zu einer Erhöhung der Rechtssicherheit bei.44 Man kann dem Gerichtshof daher die Neigung attestieren, den Anwendungsbereich der Charta bei mitgliedstaatlicher Durchführung eher weit zu fassen.45 So erklären sich die teils heftigen Reaktionen im deutschsprachigen Schrifttum auf einige Urteile des Gerichtshofs aus jüngerer Zeit.46 Den Eindruck einer (zu) weiten Anwendung scheint schließlich auch das BVerfG zu teilen, vergegenwärtigt man sich

43 Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941 (944), nennt unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Jahren 2013 und 2014 die folgenden vier Gesichtspunkte zur Abgrenzung: Zweck der nationalen Regelung; Inhalt und Charakter der nationalen Regelung; Übereinstimmung der Regelung mit den Zielen des Unionsrechtsaktes; Existenz einer spezifischen Unionsregelung. S. auch Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, 169 (170), wonach auch sonstige Ziele der nationalen Regelung als Indiz herangezogen werden. 44 Thym, Blaupausenfallen bei der Abgrenzung von Grundgesetz und Grundrechtecharta, DÖV 2014, 941 (945). Dagegen von Danwitz, Unionsrechtlicher Grundrechtsschutz nach der Charta, in: Masing/Jestaedt/Capitant/Le Divellec (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes in Europa, S. 67 (76 ff.), dort insbesondere mit Bezugnahme auf das Urteil in der Rs. Annibaldi. 45 Während in EuGH, Urt. v. 18. 12. 1997, Rs. C-309/96, ECLI:EU:C:1997:631, Slg. 1997, I-07493 – Annibaldi, noch die Einschränkung formuliert wurde, ein nur mittelbarer Zusammenhang zum Unionsrecht genüge nicht, um die Bindung an die Unionsgrundrechte auszulösen, fehlt diese Einschränkung in EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, gänzlich. Stattdessen heißt es dort (Rn. 21): „Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte“. Diese Linie wurde bestätigt in EuGH, Urt. v. 28. 11. 2013, Rs. C-258/ 13, ECLI:EU:C:2013:810, Rn. 18 ff – Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio, jedoch teilweise auch wieder leicht korrigiert, vgl. EuGH, Urt. v. 10. 07. 2014, Rs. C-198/13, ECLI:EU:C:2014:2055, Rn. 33 ff. – Hernández. 46 S. die Beispiele bei Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, 169 (171).

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dessen scharfe Antwort – die auch als Warnung verstanden werden kann – auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Akerberg Fransson.47 Der Gerichtshof wahrt so mit seiner Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Charta nach wie vor eine merkliche Distanz zum Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GrCh. Er gibt sich selbst ein flexibel handhabbares Instrumentarium an die Hand, um die Anwendbarkeit – und damit seine Zuständigkeit in Grundrechtsfragen48 – zu begründen. Praktisch kann damit, einen entsprechenden Willen des Gerichtshofs unterstellt, ein noch so loser Zusammenhang zwischen mitgliedstaatlichem Handeln und dem Unionsrecht genügen, um eine Bindung an die Charta zu begründen.49 Die Konsequenz bestünde dann jedoch darin, dass „kaum ein Lebensbereich existiert[e], der nicht im Anwendungsbereich des Unionsrechts läge“50 – ein Ansatz, der in greifbare Nähe zum bereits von EU-Seite geäußerten Vorschlag einer generellen Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte rückt.51 Unweigerlich mündet eine Ausweitung der mitgliedstaatlichen Bindung bei Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts in eine doppelte Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, da die Bindung an die nationalen Grundrechte ungeachtet weiterer Bindungswirkungen fortbesteht, Art. 1 Abs. 3 GG. Diese Dopplung der Grundrechtsgeltung, die vom EuGH als „Kumulationsthese“ vertreten und teilweise als „Kompromissangebot“ seitens des Gerichtshofs an die nationalen Verfassungsgerichte interpretiert wird, löst die Spannungslage zwischen nationalen

47 BVerfGE 133, 277 (316) – Antiterrordatei: „Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof […] darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete […], dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte […]. Insofern darf die Entscheidung nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, nach der für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechtecharta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.“ 48 Näher dazu unter Kapitel 2 D. 49 Drastisch Grimm, Der Datenschutz vor einer Neuorientierung, JZ 2013, 585 (591): Dem EuGH sei zur Begründung „kein Faden zu dünn“. 50 P. M. Huber, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zu den nationalen Gerichten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/2, § 172 Rn. 98. Ähnlich Grimm, Der Datenschutz vor einer Neuorientierung, JZ 2013, 585 (591): „Nationales Recht, das unter diesen Umständen dagegen gefeit wäre, in den Geltungsbereich des Unionsrechts zu geraten, ist kaum noch vorstellbar.“ Einschränkend jedoch Kadelbach, Die Bindung an die Grundrechte der Europäischen Union bei der Anwendung staatlichen Strafrechts – Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache Åkerberg Fransson, KritV 2013, 276 (281 ff.). 51 S. etwa die Rede der Kommissarin für das Ressort Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft Viviane Reding, The EU and the Rule of Law – What next?, Rede v. 4. 9. 2013, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-13 – 677_de.htm.

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und unionalen Grundrechten jedoch keineswegs auf.52 Vielmehr verlagert sich das Problem auf die nächste Ebene und mündet dort in die Frage, ob das nationale oder das unionale Grundrecht Anwendungsvorrang besitzt.

II. Doppelte Grundrechtsbindung und Anwendungsvorrang – Lösungsvorschläge Die Frage nach dem Anwendungsvorrang des nationalen oder des unionalen Grundrechts ist nicht unter Rückgriff auf Art. 51 Abs. 1 GrCh zu beantworten. Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Norm entnehmen lässt, enthält Art. 51 Abs. 1 GrCh lediglich eine Regelung zur Anwendbarkeit der Chartagrundrechte, aber keine Regelung zum Rangverhältnis verschiedener Grundrechtsregime. Die Vorrangfrage wurde zwar im Grundrechtskonvent angesprochen, aber bewusst offengelassen, sodass auch die Genese der Norm diese Ansicht stützt.53 Eine Zustimmung des Bundes zu einem Gesetz, das den Unionsgrundrechten generellen Anwendungsvorrang einräumte, wäre zudem wohl an die Grenzen von Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG gestoßen.54 Auch die Schutzniveauklausel in Art. 53 GrCh beantwortet die Frage nach dem Anwendungsvorrang nicht. Zwar gebietet diese eine Auslegung der Chartabestimmungen, die die nationalen Grundrechte weder einschränkt noch verletzt. Über diese Formulierung hinausgehend enthält sie jedoch gemessen am Wortlaut keine Vorgaben, sodass Raum für ein breites Spektrum von Lösungsvorschlägen besteht. Diese spielen vornehmlich dann eine Rolle, wenn das europäische und das grundgesetzliche Grundrecht in der Sache nicht übereinstimmen.55 Die verschiedenen Lösungsvorschläge sollen im Folgenden skizziert werden. 1. Einzelfallorientiertes Modell Vor dem Postulat einer allgemeinen Regel könnte der Versuch unternommen werden, die Frage nach dem Anwendungsvorrang einzelfallabhängig, also im Blick auf das jeweils betroffene nationale und unionale Grundrecht und dessen Schutzniveau im konkreten Fall zu beantworten.56 Wo Übereinstimmung im Sinne einer 52

Die Lesart als „Kompromissangebot“ bei Thym, Die Reichweite der EU-GrundrechteCharta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889 (895 f.). 53 Bernsdorff/Borowsky, GrCh Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 294 ff. 54 F. Kirchhof, Nationale Grundrechte und Unionsgrundrechte, NVwZ 2014, 1537 (1538 f.). 55 Scholz, Nationale und europäische Grundrechte – unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Grundrechtecharta, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR, § 170 Rn. 41. 56 So wohl der Vorschlag von F. Kirchhof, NVwZ 2014, 1537 (1541) („Konkordanz und materielle Abstimmung zwischen Grundrechten von Union und Mitgliedstaaten“); s. auch Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.) GG, Art. 23 Rn. 91; Hwang, Grundrechte unter Integrationsvorbehalt?, EuR 2014, 400 (416 ff.).

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

Ergebnisgleichheit zwischen der mitgliedstaatlichen und der unionsrechtlichen Ebene besteht, ist die Frage nach dem Anwendungsvorrang eines der beiden Grundrechte zwar nicht hinfällig, verliert aber deutlich an Schärfe. Gerade bei Fragen der Menschenwürde dürfte eine übereinstimmende Bewertung darüber, ob ein Verstoß vorliegt, gar nicht einmal selten gelingen – denkt man etwa an die Gefahrenprognosen für eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Folge einer Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern oder an die Überschneidungen der Subjekt-/Objektformel des BVerfG mit dem Instrumentalisierungsverbot des EuGH.57 Ob dieses Modell der Konkordanz jedoch auf Dauer tragfähig sein kann, ist zu bezweifeln. Wo nämlich eine solche materielle Übereinstimmung zwischen den beiden Grundrechtsebenen in der Sache nicht besteht – und auch solche Konstellationen sind im Anwendungsbereich der Menschenwürdegarantie existent, wie zu zeigen sein wird –, gelangt dieses einzelfallorientierte Modell an seine Grenzen. Die Vorrangfrage bleibt dann nach wie vor unbeantwortet. Schließlich geht mit der Akzentuierung des Einzelfalls auch eine institutionelle Unklarheit einher, die insbesondere die Fachgerichte in Ungewissheit darüber belässt, welches Gericht in Grundrechtsfragen zuständig sein soll.58 2. Unionsgrundrechte als Mindeststandard Vergleichbar zum Verhältnis zwischen den Grundrechten des GG und den Rechten der EMRK könnte eine Lösung darin bestehen, dass Unionsgrundrechte einen Mindeststandard bilden, den die Mitgliedstaaten bei der Auslegung ihrer nationalen Grundrechte nicht unterschreiten dürfen. Abweichungen „nach oben“, also ein im Einzelfall höherer nationaler Grundrechtsschutz, wären dagegen möglich. Die Vorteile dieses Modells liegen auf der Hand: Für eine solche unionsrechtliche Figur der margin of appreciation spricht zunächst, dass damit ein unionsweit einheitlicher Maßstab gewährleistet ist, der dem Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung Rechnung trägt, dabei aber gleichzeitig Spielraum für nationale Wertungen und Besonderheiten wahrt. Auch wäre das Modell mit den Bestimmungen der Charta (Art. 52 Abs. 4, 6 und 7 und Art. 53 GrCh) und des EUV (Art. 4 Abs. 2 EUV) zum Verhältnis zwischen nationalem und unionalem Recht vereinbar. Das in der Theorie leicht handhabbare Modell dürfte allerdings in der praktischen Umsetzung einigen Problemen begegnen. Zunächst lässt sich einwenden, dass ein grundrechtlicher Mindeststandard eine gefestigte Rechtslage voraussetzt. Eine solche kann letztlich nur durch breite und in der Sache tiefgehende Rechtsprechung des Gerichtshofs geschaffen werden. Allerdings steht dies in weiten Teilen, gerade auch im Vergleich zu den Rechten der EMRK, trotz zunehmender Grundrechtsrechtsprechung des EuGH in den vergangenen Jahren noch aus. Zudem wird die Bestimmung eines einzuhaltenden Mindestmaßes an Grundrechtsschutz nur über Einzelfallentschei57

Näher dazu u. Kap. 3 und 4. Näher dazu Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889 (895 f.). 58

C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh

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dungen gelingen. Eine allgemein gültige Grenze bleibt, sofern überhaupt bestimmbar, dann letztlich aber immer volatil, was der Rechtsklarheit im Allgemeinen nicht zuträglich ist.59 Der gewichtigste Einwand gegen das Modell resultiert jedoch aus dem Umstand, dass das Unionsrecht mit der Figur eines „Mindeststandards“ strukturell nur bedingt vereinbar ist, da sie das Wesen der Unionsrechtsordnung einschließlich der unionalen Grundrechte verkennt. Während die EMRK von vornherein auf die Sicherung eines Mindeststandards zielt und entsprechend konzipiert wurde – wenn sie auch darüber längst hinausgewachsen ist60 –, ist das Unionsrecht (innerhalb der kompetenziellen Grenzen der Union) auf Rechtsvereinheitlichung und Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen sowie auf die Sicherstellung seiner Effektivität gerichtet.61 Der Verwirklichung dieser Ziele dienen die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts und sein Anwendungsvorrang vor mitgliedstaatlichem (Verfassungs-)Recht.62 Wenn diese Zielrichtung für das Unionsrecht im Allgemeinen gilt, so ergibt sich mit Blick auf die Unionsgrundrechte im Besonderen nichts anderes.63 Denn letztlich bilden die Unionsgrundrechte die nach und nach gewachsene Kehrseite der harmonisierenden Unionsrechtsakte und des Handelns der Union, die erst mit diesen zusammengenommen eine in sich geschlossene und aufeinander Bezug nehmende Entität ergeben.64 Dem skizzierten durchgreifenden Anspruch des Unionsrechts wird die Figur eines Mindeststandards damit von vornherein nicht gerecht. Schließlich gilt es zu bedenken, dass es dem EuGH obläge, seine Grundrechtsrechtsprechung nur als Mindeststandard zu formulieren und seine institutionelle Bedeutung und Position im Mehrebenensystem also entsprechend zu reduzieren. Gemessen an der jüngeren Rechtsprechung liegt jedoch der Schluss nahe, dass ein

59 Zu den Grenzen des Mindeststandard-Modells s. auch Möllers, Grundrechtsschutz: Wäre weniger mehr? – zu Friktionen im europäischen Mehrebenensystem, ZEuP 2015, 461 (467 f.). 60 Sauer, Staatsrecht III, S. 111 f. 61 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 253 ff. 62 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 253 ff. Grundlegend zum Vorrangerfordernis EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964, Rs. 6/64, ECLI:EU:C:1964:66, Slg. 1964, 1141– Costa/Enel. 63 Für die Unionsgrundrechte soll dies, wie teilweise vertreten wird, nicht nur auch, sondern erst recht gelten; eine These, die sich auf die im Vergleich zum sonstigen Unionsrecht übergeordnete Stellung der Unionsgrundrechte und – aus der deutschen Perspektive – aus dem Verfassungsauftrag aus Art. 1 Abs. 2 GG stützen lässt, näher dazu Griebel, Doppelstandards des Bundesverfassungsgerichts beim Schutz europäischer Grundrechte, Der Staat 52 (2013), 371 (393 f.). Vgl. auch EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107, Rn. 62 f. – Melloni, wo von der „Einheitlichkeit des […] Grundrechtsschutzstandards“ zur Überwindung von Unterschieden im Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten gesprochen wird. 64 Zur Notwendigkeit der europäischen Grundrechte vor dem Hintergrund der Säulenstruktur der EU s. Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 658 ff.; F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681 (3684).

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

solcher Wille des Gerichtshofs nicht besteht und er diesem Konzept wohl eine Absage erteilt hat.65 3. Prinzip der Meistbegünstigung / Günstigkeitsprinzip Es könnte allerdings auch der Versuch unternommen werden, die Vorrangfrage nach einem Prinzip der Meistbegünstigung zu beantworten.66 Danach käme immer das Grundrecht zur Anwendung, welches im jeweiligen Einzelfall den für den Bürger „höheren“ Schutz bietet. Dieses Modell trüge in seinem Ansatz wohl am ehesten dem Gedanken des effet utile und eines möglichst effektiven Grundrechtsschutzes Rechnung. Ein „Mehr“ an Grundrechten bedeutete danach wirklich auch ein „Mehr“ an Grundrechtsschutz für den Bürger. Das Modell ist jedoch in der Praxis kaum erfolgversprechend: Zunächst ist es von vornherein nur auf die klassische Konstellation zwischen Staat (bzw. Union) und Bürger begrenzt. In sog. mehrpoligen Rechtsverhältnissen bedeutete die Gewährung eines höheren Grundrechtsschutzes auf der einen schließlich eine Einschränkung des Schutzes auf der anderen Seite, mit der Konsequenz, dass sich ein „höheres“ Schutzniveau im grundrechtlichen Vergleich schlicht nicht feststellen ließe.67 Und auch in der Staat-Bürger-Konstellation dürfte eine Bestimmung darüber, worin ein „höherer“ Grundrechtsschutz konkret bestehen soll, häufig nur bedingt möglich sein, tritt der Staat hier doch letztlich nur als Vertreter von Allgemeininteressen in Erscheinung.68 Lässt man diese Überlegung außen vor und gelingt die Bestimmung 65 Selbst da, wo der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung auf (den ihn in der Sache begrenzenden) Art. 53 GrCh Bezug nimmt, findet sich die Einschränkung, dass eine Abweichung vom unionalen Schutzniveau durch die Mitgliedstaaten und die Anwendung nationaler Schutzstandards nur dann erfolgen kann, sofern durch diese „weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts [Herv. C.L.] beeinträchtigt [wird]“ (EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni, Rn. 60). Inwiefern der Gerichtshof mit seiner jüngsten Rechtsprechung an diesem Vorbehalt festhält, ist noch unklar. Nach Burchardt, Kehrtwende in der Grundrechts- und Vorrangrechtsprechung des EuGH? – Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 5. 12. 2017 in der Rechtssache M.A.S. und M.B. (C-42/17, „Taricco II“), EuR 2018, 248 (251 ff.), sei der EuGH in der Rechtssache Tarrico II zugunsten der Mitgliedstaaten zumindest in Teilen wieder von seiner zunächst eingeschlagenen Linie abgerückt, indem er den Vorbehalt des „Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts“ hier nicht mehr angesprochen hat. 66 Ein solches soll, so eine in der Literatur häufig vertretene Ansicht, in Art. 53 GrCh enthalten sein, s. etwa Borowsky in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 14. S. auch F. Kirchhof, Kooperation zwischen den nationalen und europäischen Gerichten, EuR 2014, 267 (271); mit Einschränkungen auch Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 3. 67 Matz-Lück, in: Matz-Lück/Hong (Hrsg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, S. 197. 68 Näher dazu Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 (807 f.), der eine prinzipielle Unterscheidbarkeit der Konstellationen daher in Frage stellt und offenbar kaum für möglich hält.

C. Die unbewältigten Probleme des Art. 51 GrCh

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eines „höheren“ Schutzes, bleibt freilich zu befürchten, dass sich die als „Kooperationsverhältnis“ ausgestaltete Beziehung zwischen BVerfG und EuGH nach und nach zum „grundrechtlichen Überbietungswettbewerb“ entwickelt, da sich die Gerichte in Grundrechtsfragen nur mehr dann noch Gehör verschaffen könnten, wenn „ihre“ Grundrechte auch dank eines höheren Schutzniveaus zur Anwendung gelangten.69 Dass das Prinzip der Meistbegünstigung auch de facto nur begrenzt zur Beantwortung der Vorrangfrage taugt, zeigt schließlich die Rechtsprechung des Gerichtshofs. Dieser hielt das Prinzip in der Rechtssache Melloni unter Bezugnahme auf Art. 53 GrCh zwar grundsätzlich für anwendbar, schob diesem aber gleichzeitig den Riegel „des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts“ vor.70 Ob unter diesen Voraussetzungen ein „ergebnisoffener“ Vergleich der anwendbaren Grundrechte gelingen kann, ist also ernstlich zu bezweifeln.71 4. Genereller Vorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte Vor diesem Hintergrund könnte man auch annehmen, dass ein genereller Vorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte im Bereich von nationalen Umsetzungsspielräumen bestehen soll. Diesen Lösungsweg schien auch das BVerfG zunächst und scheint es nach wie vor zu präferieren, das in diesem Bereich die Grundrechte des Grundgesetzes zur Überprüfung heranzieht und sich so seine Rechtsprechungskompetenz zu sichern sucht.72 Diese mitgliedstaatsfreundliche Lösung bedroht jedoch – und darin liegt ihr zentraler Nachteil – im Vergleich zum Modell der Meistbegünstigung erst recht die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts, da unional veranlasste Rechtsakte von Seiten der 27 Mitgliedstaaten unter Berufung auf Verstöße gegen nationales Recht einseitig für unanwendbar erklärt werden könnten.

69 Zum Kooperationsverhältnis zunächst BVerfGE 89, 155 – Maastricht; in jüngerer Vergangenheit etwa BVerfGE 142, 123 (204) – OMT. Die Formulierung bei Volkmann, Doppelt genäht hält besser?, in: Geis/Winkler/Bickenbach (Hrsg.), FS Hufen, S. 134; s. aber die Wertung bei Borowsky in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 14a: „Förderlicher Wettstreit der Grundrechtsordnungen“. 70 EuGH, Urt. v. 26. 02. 2013, Rs. C-399/11, ECLI:EU:C:2013:107 – Melloni, Rn. 60. Dass dieser Vorbehalt sehr weit reichen kann, zeigt der Umstand, dass der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts bereits dadurch beeinträchtigt werden, dass nationale (auch höhere!) Grundrechtsstandards in einem Bereich zur Anwendung gelangen, der durch den Unionsgesetzgeber in einem (sekundärrechtlichen) Unionsrechtsakt, welcher mit den Unionsgrundrechten in Einklang steht, geregelt wurde. 71 Dagegen etwa Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889 (895): „Luxemburg behält die volle Kontrolle über Ausmaß und Grenzen der Doppelgeltung“; s. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 53 GrCh Rn. 2. 72 BVerfGE 121, 1 (15); BVerfGE 125, 260 (306 f.); in jüngerer Zeit bestätigt in BVerfG, Beschluss v. 18. 05. 2016 – 1 BvR 895/16 – Rn. (30).

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Entsprechend steht der Gerichtshof diesem Konzept auch grundsätzlich ablehnend gegenüber.73 Möglicherweise könnte aber ein vergleichbares Konzept in abgeschwächter Form eine tragfähige Lösung darstellen. Denkbar wäre ein genereller Anwendungsvorrang für die mitgliedstaatlichen Grundrechte, solange durch diese ein den Unionsgrundrechten vergleichbarer (Mindest-)Schutz gewährleistet bliebe.74 Dieses „umgekehrte Solange-Modell“75 hätte den Vorteil, dass die Eigenheiten insbesondere jener Mitgliedstaaten, die über eine ausgeprägte Grundrechtskultur verfügen, gewahrt blieben, gleichzeitig aber ein unionsweiter Mindeststandard nie unterschritten würde. Ein schonender Ausgleich zwischen den Grundrechtsebenen wäre so möglich. Allerdings bliebe auch hier abzuwarten, inwieweit der Gerichtshof Bereitschaft zeigt, einem solchen Modell und der darin angelegten bloßen „Reservekompetenz“ zuzustimmen. 5. Genereller Vorrang der Unionsgrundrechte Zuletzt könnte die Lösung der Spannungslage darin bestehen, dass die unionalen Grundrechte auch im Falle der doppelten Grundrechtsbindung auf Dauer maßstäblich sind. Tatsächlich ist dies auch der Ansatz, der von vielen in der Literatur bereits jetzt beschrieben, perspektivisch jedenfalls als (einzig) realistisch betrachtet wird.76 Nach diesem Modell wäre der Vorrang der Unionsgrundrechte insoweit systemgerecht und konsistent, als die Urheberschaft für den an den Grundrechten zu überprüfenden Rechtsakt auf europäischer Ebene – und innerhalb der Kompetenzen der Union – läge und deshalb der Rechtsschutz auch europäischer Natur sein sollte. Dem steht jedoch die Gefahr einer weitgreifenden Unitarisierung des Grundrechtsschutzes durch die Union entgegen, die angesichts der Vielzahl unionsrechtlich durchwirkter nationaler Rechtsakte als massiv zu bezeichnen wäre. Eine Einebnung nationaler 73 Wenn der EuGH mit der Rs. Melloni nach Ansicht vieler Beobachter dem Günstigkeitsprinzip eine Absage erteilt hat (s. o.), muss diese erst recht für ein Modell gelten, wonach den nationalen Grundrechten im Fall der Doppelgeltung ein genereller Anwendungsvorrang zustehen soll. 74 Das Modell zuerst genannt bei F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681 (3686); eine ausführlichere Entfaltung – allerdings für den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte außerhalb von Art. 51 GrCh – bei von Bogdandy/ Kottmann/Antpöhler/Dickschen/Hentrei/Smrkolj, Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, ZaöRV 72 (2012), 45. 75 Der Begriff „umgekehrte Solange-Doktrin“ bei von Bogdandy/Kottmann/Antpöhler/ Dickschen/Hentrei/Smrkolj, Ein Rettungsschirm für europäische Grundrechte, ZaöRV 72 (2012), 45 (46). 76 Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung die Diagnose etwa bei Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 700 f.; s. auch Kingreen, Die Grundrechte des Grundgesetzes im europäischen Grundrechtsföderalismus, JZ 2013, 801 (808); Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 53 GrCh Rn. 7; Ohler, Grundrechtliche Bindungen der Mitgliedstaaten nach Art. 51 GRCh, NVwZ 2013, 1433 (1437); Eckstein, Im Netz des Unionsrechts, ZIS 2013, 220 (222); Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 25, Hufen, Staatsrecht II, § 3 Rn. 12.

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Eigenheiten – welche den Grundrechtspluralismus in Europa als solchen mit ausweisen – stünde ebenso zu befürchten wie die weitreichende Entmachtung starker mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte. Als Kompromiss böte sich daher auch ein Modell an, wonach den Unionsgrundrechten zwar ein genereller Anwendungsvorrang eingeräumt, dieser jedoch an die Zuordnung des jeweiligen Grundrechts zu einem bestimmten Grundrechtstypus geknüpft wird. In diesem Modell würde ein genereller Vorrang für all diejenigen Grundrechte gelten, die für die europäische Infrastruktur und den Binnenmarkt von Bedeutung sind. Bei den übrigen, stärker ethisch und moralisch relevanten und besonders von nationalen Wertungen abhängigen Grundrechten bestünde dagegen ein Anwendungsvorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte. Ein solches Modell verkennt jedoch, dass auch primär wirtschaftlich ausgerichtete Grundrechte stark von historischen, ethischen und nationalen Erfahrungen abhängen können77 – wie umgekehrt auch solche Grundrechte, die einen primär politischen, moralischen oder ethischen Schutzgehalt aufweisen, Relevanz im europäischen Binnenmarkt besitzen können. Angesichts dieser Überschneidungen bleibt daher auch für die Praxis zu bezweifeln, dass dieses Modell einen tragfähigen und dauerhaften Kompromiss darstellen kann. 6. Neuer Ansatz des BVerfG: Grundrechte des Grundgesetzes „im Gewand“ der Unionsgrundrechte? Einen weiteren Ansatz lieferte schließlich das BVerfG mit den jüngst ergangenen Beschlüssen zum „Recht auf Vergessen“ aus dem November 2019.78 Danach soll bei Umsetzungsspielräumen und daraus resultierender Doppelbindung grundsätzlich das Prinzip der Meistbegünstigung greifen, wobei nach dem BVerfG eine Vermutung dafür bestehe, dass das Schutzniveau der Charta durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes regelmäßig mitgewährleistet sei.79 Für das BVerfG ist die vorrangige Anwendung der nationalen Grundrechte bei doppelter Grundrechtsbindung also durch die Annahme gerechtfertigt, dass die Grundrechte des Grundgesetzes ein regelmäßig höheres Schutzniveau als die Chartagrundrechte aufweisen. Soweit für die nationalen Grundrechte aufgrund des abschließenden Charakters der unionsrechtlichen Vorgaben kein Anwendungsbereich verbleibt – also etwa bei Verordnungen –, überprüft das BVerfG künftig selbst die anwendbaren Chartagrundrechte und zieht diese als unmittelbaren Prüfungsmaßstab heran.80 Möglich ist also, dass die materiellen Vorgaben der Grundrechte des Grundgesetzes künftig in 77 Beispiele bei F. Kirchhof, Nationale Grundrechte und Unionsgrundrechte, NVwZ 2014, 1537 (1539 f.). 78 BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I. 79 BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 16/13, Rn. 55 ff. – Recht auf Vergessen I. 80 BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II.

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

der Lesart des BVerfG, aber „im Gewand“ der Unionsgrundrechte, auch im unionsrechtlich determinierten Bereich Geltung beanspruchen. 7. Offene Fragen und die Notwendigkeit des inhaltlichen Abgleichs von Grundrechten Die Frage nach dem Verhältnis der konkurrierenden Grundrechtsregime bleibt im Lichte des Gesagten offen. Wahrscheinlich sperrt sie sich auch per se einer vereinfachenden Lösung. Die Machbarkeit der vorgestellten Modelle hängt jedenfalls von einem Vergleich der konkurrierenden Grundrechte ab. Für das einzelfallorientierte Modell kann sich aus dem Vergleich ergeben, inwieweit eine Deckungsgleichheit der Grundrechte besteht und wie hoch die Möglichkeit eines pragmatischen und praktikablen Ausgleichs zu bemessen ist. Im Blick auf das zweite Modell ergibt sich aus dem Vergleich, worin genau der Mindeststandard des Unionsgundrechts besteht und inwiefern die grundgesetzliche Norm Abweichungen von diesem Standard beinhaltet. Das Günstigkeitsmodell verlangt selbstredend nach einem Vergleich, da nur dadurch die unterschiedliche „Höhe“ der Schutzniveaus und damit das Konkurrenzverhältnis der Grundrechte bestimmt werden können. Schließlich ist bei den Modellen, die den nationalen bzw. unionalen Grundrechten einen generellen Vorrang einräumen, der Vergleich insoweit aufschlussreich, als erst danach der Grad an Abweichung, im Falle einer weitreichenden Unitarisierung sogar des möglichen Verlustes an Grundrechtsschutz bestimmt werden kann. Dass es bei der Lösung bzw. Bewältigung dieser Konstellationen in der Praxis aber ganz entscheidend auf die gerichtlichen Akteure ankommen wird, ist bereits vielfach angeklungen. Damit ist die institutionelle Seite des dargestellten Konflikts angesprochen. Hier stehen sich der Gerichtshof mit seinem absoluten Vorranganspruch in Grundrechtsfragen und das BVerfG und andere mitgliedstaatliche Gerichte mit ihrer nur relativen Akzeptanz des Vorrangs gegenüber.81 Insbesondere dem Gerichtshof der Europäischen Union wird es dabei künftig obliegen, den mitgliedstaatlichen Gerichten ernsthafte Kooperationsangebote zu unterbreiten, da er derjenige Akteur ist, der in Grundrechtsfragen auf Dauer am längeren Hebel sitzen wird.82

D. Kooperation oder Konkurrenz – Die institutionelle Seite Entscheidend für einen kohärenten Grundrechtsschutz und eine ausgewogene Grundrechtearchitektur werden auf Dauer die gerichtlichen Akteure sein, also der 81 82

Die Formulierungen bei Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 702 Rn. 1631. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 6a.

D. Kooperation oder Konkurrenz – Die institutionelle Seite

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EuGH, das BVerfG bzw. die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte sowie der EGMR. Die vorstehend angerissenen und später zu vertiefenden Probleme betreffen vornehmlich den Gerichtshof und das BVerfG und damit ein Verhältnis zwischen den Gerichten, das von Seiten des BVerfG bis heute als „Kooperationsverhältnis“ bezeichnet wird.83 In diesem europäischen „Verfassungsgerichtsverbund“ geht es jedoch nicht immer um Kooperation, sondern durchaus auch um Konkurrenz, wie die vorstehenden Erwägungen etwa zum Günstigkeitsmodell bereits gezeigt haben. Schließlich geht es beiden Gerichten, dem EuGH und dem BVerfG, bei Grundrechtsfragen immer auch um die eigene institutionelle Position im Gerichtsgefüge, die je nach Lage einmal wiedererlangt und verteidigt, einmal erschlossen und ausgedehnt werden soll.84 Darüber steht – mehr oder weniger unausgeprochen – die Frage, wer in Grundrechtsangelegenheiten künftig das letzte Wort beanspruchen kann. Die Frage ist noch unentschieden. Es zeichnet sich jedoch bereits jetzt ab, dass sich weite Teile ursprünglich rein nationaler Grundrechtsjudikatur auf die gesamteuropäische Ebene (und damit von BVerfG und anderen Verfassungsgerichten in Richtung EuGH) verschieben werden; nur für den Bereich der Verfassungsidentität – und damit (auch) der Menschenwürde – behält sich das BVerfG ausdrücklich das letzte Wort vor, wie in Kapitel 5 näher ausgeführt wird.85 Auch im Dialog der Gerichte selbst bleibt die Frage nach dem Letztentscheidungsrecht bislang unbeantwortet. Es scheint, eine „Lösung“ der Unklarheiten würde durch die Gerichte auch bewusst nicht forciert. Stattdessen entspinnt sich ein gerichtlicher Dialog, in dem auf ein Urteil des einen die „scharfe Antwort“ des anderen nicht lange auf sich warten lässt und in beharrlicher Regelmäßigkeit folgt.86 Dabei scheinen sich beide Gerichte kaum Möglichkeiten entgehen lassen zu wollen, die eigene instutionelle Position zu stärken.87 83 Zunächst BVerfGE 89, 155 – Maastricht; in jüngerer Vergangenheit etwa BVerfGE 142, 123 (204) – OMT. 84 Vgl. Sauer, Mit den eigenen Waffen geschlagen, VerfBlog v. 07. 04. 2016: „Indem [der EuGH] sich mit dem Grundrechtsproblem auch um seine institutionelle Position kümmert, folgt er lediglich dem Vorbild des BVerfG.“ Schonungsloser Kingreen, Ne bis in idem: Zum Gerichtswettbewerb um die Deutungshoheit über die Grundrechte, EuR 2013, 446 (448): „Bundesverfassungsgericht und EuGH streiten nicht mehr darüber, ob es in der Europäischen Union einen ausreichenden Grundrechtsschutz gibt (es gibt ihn!), sondern nur noch, wer ihn im Schnittfeld zwischen Unions- und nationalem Recht gewährleistet.“ 85 S. aber jetzt BVerfG, Beschluss v. 6. 11. 2019, 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II. 86 Von einer „scharfen Reaktion“ des BVerfG auf die Rechtsprechung des EuGH im Jahr 2013 spricht etwa Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 701 Rn. 1629. 87 Für die Rechtsprechung des EuGH s. etwa Grimm, Der Datenschutz vor einer Neuorientierung, JZ 2013, 585 (591). Aber auch der Beschluss des BVerfG vom Dezember 2015 und die darin angesprochene Identitätskontrolle wurden gelegentlich nur als „Manöver“ des BVerfG zur Sicherung der eigenen Position interpretiert, da ein Normkonflikt zwischen dem Grundgesetz und den unionsrechtlichen Vorgaben bereits aus Sicht des BVerfG, das von einer Vorlage nach Art. 267 AEUV wegen eines angenommenen acte claire absah (BVerfGE 140, 317 (376)),

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Kap. 2: Zur Grundrechtearchitektur Europas

Bei all dem darf jedoch nicht verkannt werden, dass gerade das Offenhalten der Frage nach dem Letztentscheidungsrecht dazu beitragen kann, europäische Verfassungskultur zu generieren: Wo klare Regelungen zur Abgrenzung fehlen, ist Dialog gefragt, und es können sich auch im Kontroversen Strukturelemente eines gemeinsamen Verfassungsraumes abzeichnen. Vor diesem Hintergrund muss denn auch ein etwaiges „Konkurrenzverhältnis“ zwischen den Gerichten nichts per se Schlechtes sein, da sich ein konkurrierendes Gegeneinander auch in ein befruchtendes Miteinander wandeln und sogar in ein Mehr an Grundrechtsschutz münden kann, wie es im Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH in Teilen bereits feststellbar ist.88 Diese Bereitschaft zum Dialog bei Offenhalten der institutionellen Machtfrage ist bei beiden Gerichten trotz des teils rivalisierenden Vorgehens auch ausgeprägt. Dies gilt – entgegen anderslautender Stimmen im Schrifttum89 – auch für das BVerfG, das mittlerweile zwei Vorabentscheidungsgesuche nach Art. 267 AEUV an den EuGH gerichtet hat.90 Neben diesem vom Gesetzgeber vorgesehenen Kooperationsverfahren kann der Dialog jedoch auch insbesondere in Grundrechtsfragen subtiler und weniger formalisiert ablaufen. Dies geschieht etwa dadurch, dass bei der Entscheidungsfindung der Gerichte im Wege der wertenden Rechtsvergleichung die Regelungen fremder Rechtsordnungen einbezogen werden, wie es für den EuGH überdies auch verpflichtend ist (vgl. Art. 51 Abs. 3, Abs. 4, Art. 53 GrCh). Die rechtsvergleichende Methode hat gerade auch im Rahmen seiner Menschenwürdejudikatur bereits Früchte getragen.91 Auch der neue Ansatz des BVerfG zur Heranziehung europäischer Grundrechte als Prüfungsmaßstab (s. o. Kapitel 2 C. II. 6.) geht in eine ähnliche Richtung. Da die Bedeutung der Höchstgerichte – und im Mehrebenensystem: ihres Dialogs – für die Auslegung von Grundrechten allgemein und für die Auslegung der gerade nicht vorgelegen hat, s. etwa Hwang, Vorrang der Verfassungsidentität als Herausforderung für die Rechtsordnung der Europäischen Union?, Der Staat 56 (2017), 107 (110 ff., ins. 121). 88 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 512 ff. Rn. 1245 ff., führt in diesem Kontext etwa die Entscheidung des EuGH zur verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru an, näher dazu s. u. Kap. 3. Von einem „förderlichen Wettstreit der Grundrechtsordnungen“ spricht Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 53 Rn. 14a. 89 Ein krasses Beispiel bildet hier etwa ein Editorial des Common Market Law Review, das die jüngere Rechtsprechung des BVerfG zum Unionsrecht in eine Reihe von Problemen der EU, wie etwa dem Austritt Großbritanniens und der Demontage rechts- und verfassungsrechtlicher Institutionen in Polen und Ungarn, stellt: Editorial Comments, The Rule of Law in the Union, the Rule of Union law and the Rule of Law by the Union, CMLRev. 53 (2016), 597, 598, 604. Dagegen Lenaerts, Kooperation und Spannung im Verhältnis von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten, EuR 2015, 3 (26), der eine „immer stärker europarechtsfreundliche Tendenz“ in der Rechtsprechung des BVerfG ausmacht. 90 BVerfGE 134, 366 (369 ff.) – OMT; BVerfGE 146, 216 – EZB Anleihekauf. 91 Näher dazu unten Kapitel 3.

D. Kooperation oder Konkurrenz – Die institutionelle Seite

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Menschenwürdegarantie als besonders hoch einzuschätzen ist, soll im Folgenden eine Rechtsprechungsauswertung der beiden Gerichte zur Menschenwürde erfolgen. Erst danach schließt sich eine detaillierte Gegenüberstellung der Menschenwürdegarantien an. Die Rechtsprechungsauswertung wird dabei auch unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung und gegenseitiger Bezugnahme erfolgen. Für das soeben skizzierte Verhältnis der Grundrechtsregime wie auch der Höchstgerichte wird die Auswertung der Rechtsprechung dann Entwarnung signalisieren, wenn und soweit zwischen den beiden Garantien in den Bereichen, in denen bereits gerichtliche Entscheidungen getroffen wurden, Übereinstimmung, zumindest aber keine Wertungsunterschiede, festzustellen sind. Umgekehrt wird sie aber auch Unterschiede zwischen den Garantien zutage fördern, die die in Kapitel 4 dargestellten Divergenzen bereits vorahnen lassen.

Kapitel 3

Die Menschenwürdegarantie im Rechtsprechungsvergleich zwischen BVerfG und EuGH Im Folgenden soll untersucht werden, mit welchem Inhalt und zu welchem Zweck die Menschenwürdegarantie in der gerichtlichen Praxis von BVerfG und EuGH bislang verwendet wurde und welche Konturen der Würdebegriff dadurch erhalten hat.

A. Der Begriff der Menschenwürde und seine Entfaltung durch die Rechtsprechung Nachdem die Interpretation des Begriffs lange Zeit anderen Disziplinen vorbehalten war, hat der Begriff der Menschenwürde im 20. Jahrhundert auch in der Rechtswissenschaft einen Aufwind erlebt, der nach wie vor anhält. Dies gilt nicht nur mit Blick auf seine Verwendung im Zuge von Gesetz- und Verfassungsgebung; auch und gerade in der gerichtlichen Praxis zeigt sich eine erhöhte Sensibilität für und gesteigerte Bezugnahme auf das Menschenwürdeargument.1 Dies verwundert nicht, da der Begriff der Menschenwürde wie kaum ein anderer der Interpretation und Exploration bedarf und dabei primär den Gerichten die Aufgabe zukommt, diese „nicht interpretierte These“2 mit Sinngehalt anzureichern. Wie kaum ein anderes Grundrecht ist die Menschenwürdegarantie von den Gerichten jedoch häufig nur höchst einzelfallorientiert und schrittweise erschließbar, wodurch die juristische und richterliche Aufarbeitung des Begriffs hinter den eher universalistischen Annäherungsversuchen aus anderen Disziplinen, etwa der Theologie oder der Philosophie, zurückbleibt.3 Im Vergleich erscheinen die juristischen Modelle gerade in der richterlichen Entfaltung als eher fragmentarisch, und es 1 S. von Bernstorff, Menschenwürde und Menschenrechte zwischen Autonomie und Sozialität, in: Vesting/Korioth/Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, S. 284 ff.; von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 19 ff. 2 So die Bezeichnung der Menschenwürdegarantie durch Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat, s. Maihofer in: Benda et. al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 491. 3 Zu modernen Theoriemodellen der Menschenwürde s. Gröschner, Wörterbuch der Würde, S. 55 ff.

B. Zum Aufbau des Rechtsprechungsvergleichs

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wirkt, als kämen von dem Begriff der Menschenwürde so allenfalls einzelne Facetten, nie aber ihr eigentlicher Kern, geschweige denn ein umfassendes Konzept, zum Vorschein. Dieser Umstand erschwert den im folgenden vorzunehmenden Rechtsprechungsvergleich zwischen der Würderechtsprechung von BVerfG und EuGH, da die jeweiligen Würdekonzeptionen – soweit von solchen überhaupt gesprochen werden kann – notwendigerweise bruchstückhaft und stark einzelfallbezogen bleiben. Umgekehrt sensibilisiert er aber zugleich dafür, die je „eigene“ Rechtsprechung tatsächlich auch als fragmentarisch und unvollkommen, als entwicklungsabhängig und unter Umständen auch als offen für Einflüsse aus fremden Rechtsordnungen zu begreifen – eine Voraussetzung, die sich für den bereits mehrfach angesprochenen und von vielen Seiten angemahnten Dialog der Grundrechtsgerichte perspektivisch durchaus als hilfreich erweisen kann. Gerade darum ist es vonnöten, sich der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH zur Menschenwürdegarantie zu widmen. Da im Rahmen des anschließenden Detailvergleichs der beiden Garantien (Kapitel 4) zudem immer wieder auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zurückgegriffen wird, bietet sich ein Vergleich der wichtigsten Entscheidungen bereits an dieser Stelle an.

B. Zum Aufbau des Rechtsprechungsvergleichs Im Folgenden werden zunächst einige wesentliche Entscheidungen des BVerfG zur Menschenwürde in einer systematischen Zusammenschau vorgestellt (C.). Daran schließt sich eine systematische Darstellung der wichtigsten Entscheidungen des EuGH zur Menschenwürde an (D.). Im Anschluss daran werden in einer Zusammenschau der argumentative Zugang des BVerfG und des EuGH zur Thematik der Menschenwürde untersucht. Im Vordergrund stehen hier die Fragen, in welchen Themenbereichen die Menschenwürde von den beiden Gerichten aktiviert wird und wie hoch die gerichtliche Prüfungs- und Kontrolldichte in den Entscheidungen ist (E.). Auch werden die Entscheidungen im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische Bedeutung untersucht (F.). Anhand dieser Darstellungen lassen sich Rechtsprechungslinien aufzeigen und die jeweiligen Menschenwürdekonzepte nachzeichnen und vergleichen (G.). Schließlich wird untersucht, inwieweit zwischen den Rechtsordnungen Wechselwirkungen festzustellen sind (H.) und welche Konvergenzen und Divergenzen im Menschenwürdeschutz nach der Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH bestehen (I.).

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG: Von der symbolischen Leitformel und einheitsstiftenden Idee zum zentralen Grundrecht der Verfassungsordnung – und zurück? In den Jahrzehnten nach seiner Amtsaufnahme im Jahr 1951 war das BVerfG immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Begriff der Menschenwürde aufgerufen, was im Laufe der Zeit zu einer Fülle von Entscheidungen und darüber zur Entstehung einer reichen Rechtsprechungstradition geführt hat. Die Menschenwürde fungierte dabei vor allem in der frühen Rechtsprechung des BVerfG als einheitsstiftende, gleichwohl lediglich symbolische Leitformel (1.), die erst im Zuge ihrer Operationalisierung und durch die Anwendung der Objektformel an Kontur gewinnen sollte (2.). Nach und nach erwuchs sie so zu der zentralen grundrechtlichen Gewährleistung, mit der der Mensch aufgrund seines unbedingten Eigenwerts als Subjekt geschützt werden soll (3.). Bis heute fungiert die Menschenwürdegarantie in der Rechtsprechung des BVerfG auf diesen Grundlagen als Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes schlechthin (4.).

I. Parteiverbotsverfahren und Lüth-Entscheidung: Die Menschenwürde als einheitsstiftende Leitformel Als Beginn der Rechtsprechungstradition können die beiden Parteiverbotsverfahren gegen SRP bzw. KPD aus den Jahren 1952 bzw. 1956 bezeichnet werden.4 Beide Parteien waren in der jungen Bundesrepublik mit politischen Erfolgen aufgefallen, die KPD konnte im Jahr 1949 sogar in den ersten deutschen Bundestag einziehen. In der Folge stellte die Bundesregierung Verbotsanträge für beide Parteien vor dem BVerfG. Dieses beleuchtete den Aufbau, die Organisation, die Betätigung und die Zielsetzung von SRP und KPD genauer, um sie an der in Art. 21 Abs. 2 GG normierten „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ zu messen. Dieser Ordnung, so befand das Gericht, liege die Vorstellung zugrunde, „daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitz[e] und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit“ seien, die Ordnung daher eine „wertgebundene Ordnung“ sei.5 Sie stelle das Gegenteil des totalen Staates dar, welcher „als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit“ ablehne6. Da die SRP nach Überzeugung des Gerichts die Beseitigung dieser Ordnung anstrebte, stellte das BVerfG ihre Verfassungsfeindlichkeit fest und ordnete ihre Auflösung an. Vier Jahre später erging ein solches Urteil auch gegenüber der KPD, wobei das Verfassungsgericht in dieser Entscheidung die gewonnenen 4 5 6

BVerfGE 2, 1 ff. – SRP; BVerfGE 5, 85 ff. – KPD. BVerfGE 2, 1 (12) – SRP BVerfGE 2, 1 (12) – SRP.

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG

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Erkenntnisse weiterspann und dabei speziell an die gesellschaftliche Bedeutung der Menschenwürde anknüpfte. Diese sei, so das Gericht, „in einer freiheitlichen Demokratie der oberste Wert“ und der Mensch „eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit“, um dessen „Würde willen ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden“ müsse.7 An späterer Stelle betont das Gericht schließlich, dass „Menschenwürde und Freiheit jedem Menschen [zukommt], die Menschen insoweit gleich sind“8. Bei beiden Urteilen wurde die Menschenwürde damit „nur“ als (freilich höchster) Wert einer freiheitlichen Demokratie, nicht jedoch als subjektives Recht herangezogen, sodass Art. 1 Abs. 1 GG selbst in den Entscheidungen auch unerwähnt blieb. Die zentralen Aussagen der Entscheidungen liegen folglich auch nicht in Beiträgen zur Grundrechtsdogmatik der Menschenwürdegarantie, sondern in einer ersten grundlegenden Beschreibung der Wertordnung der jungen Bundesrepublik. Erklären lässt sich dies unter anderem mit dem gesellschaftspolitischen Kontext, in dem die Entscheidungen ergangen sind: Wenige Jahre nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges ging es für die Bundesrepublik um den Kampf gegen ihre Feinde auf beiden Seiten des politischen Spektrums – und dies auch unter Zuhilfenahme des Werts der Menschenwürde. Diese wird in den Entscheidungen zum Antagonismus des „totalen Staates“ und damit der Despotie, die nur wenige Jahre zuvor zum Zivilisationsbruch des Dritten Reichs geführt hatte. Ohne dass es hier ihrer genauen Prüfung bedurfte, fungierte die Menschenwürde damit bereits in diesen beiden Urteilen als einheits- und identitätsstiftende Idee einer wehrhaften, gleichwohl noch jungen Demokratie, welche dem „totalen Staat“ als einzig denkbare Alternative vom BVerfG gegenübergestellt wurde. In den Urteilen war daher zwar weder näher dargelegt, was die Menschenwürdegarantie der Sache nach beinhaltet noch was sie im Einzelnen (nicht) schützt, was ihren zunächst symbolhaften Charakter deutlich zu Tage treten lässt. Gerade dadurch schuf diese frühe Rechtsprechung aber für vielfältige politische Gesinnungen die Möglichkeit zur Identifizierung und vermochte so auch Ausdruck eines breiten politischen Konsenses zu werden – ein Umstand, der erklärt, weshalb das Bekenntnis der jungen Bundesrepublik zur Menschenwürde aus heutiger Sicht zu ihrem Gründungsmythos gerechnet werden kann.9 Mit ihrer Heranziehung in den Parteiverbotsverfahren und der damit einhergehenden Festlegung verbindlicher, wertorientierter Wesensmerkmale der freiheitlich demokratischen Grundordnung war fortan ein Axiom in der rechtspolitischen Landschaft verankert, von dem aus sich ein neues politisches Selbstverständnis und eine neue politische 7

BVerfGE 5, 85 (204) – KPD. BVerfGE 5, 85 (205) – KPD. Zur näheren Beschreibung des Begriffs der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der Bedeutung der Menschenwürde für diese Ordnung s. das Urteil des BVerfG zum NPD-Parteiverbotsverfahren (Kapitel 3 C. IV. 2.) BVerfGE 144, 20 – Parteiverbotsverfahren (NPD). 9 Zum Begriff des Gründungsmythos im Zusammenhang mit dem Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde Volkmann, Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes – damals und heute, Natur und Geist 20 (2004), 25. 8

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

Kultur entwickeln konnten. Im Zentrum stand von nun an der Mensch, der kraft seiner Würde zur autonomen und von staatlicher Einflussnahme freien Lebensgestaltung befähigt ist. So legte das BVerfG in diesen frühen Entscheidungen bereits eine funktionale Facette der Menschenwürdegarantie offen, die in darauffolgenden Entscheidungen teils vertieft, teils um weitere Ausprägungen erweitert werden sollte. Zu diesen Entscheidungen zählt das nur wenige Jahre später ergangene LüthUrteil10, in dem das BVerfG in Fortführung und Erweiterung von einer „objektiven Wertordnung“ sprach, die das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt errichtet habe, und von einem darin zum Ausdruck kommenden „Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde“ findet.11 Das Urteil, dem aus heutiger Sicht für die Rechtsordnung im Allgemeinen und die Grundrechtsdogmatik im Besonderen ein überragend hoher Rang zugemessen wird, ließ durch die explizite Bezugnahme auf die Menschenwürdegarantie erkennen, dass diese wiederum vor allem im Hinblick auf ihre objektiv-rechtliche Seite für die gesamte Rechtsordnung Bedeutung erlangen sollte;12 schließlich lieferte sie funktional den Anknüpfungspunkt für die Etablierung der beschriebenen Wertordnung.13 Die Deutung der Menschenwürde als Höchstwert der politischen und gesellschaftlichen Ordnung hat in der Rechtsprechung des BVerfG bis heute nichts von ihrer Aktualität und Verbindlichkeit eingebüßt. Mit ihrer Ingebrauchnahme gelang es schließlich, die freiheitlich demokratische Grundordnung dauerhaft als wertgebundene Ordnung zu etablieren und konkretisieren, der sich fortan alle Bürger bereitwillig verpflichtet fühlen konnten. Daneben fungierte sie auch als Hebel zur Erschließung neuer Grundrechtsdimensionen: Aus der objektiven Wertordnung wurde in der Terminologie des BVerfG nach und nach eine objektive Ordnung, welche schließlich den Weg zur Herleitung des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte ebnete; über diesen Gehalt konnte wiederum die spätere Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten ohne logischen Bruch gelingen.14

10

BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth. BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; s. auch BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes: Art. 1 GG als „tragendes Konstitutionsprinzip“. 12 Zur Bedeutung des Urteils für die Grundrechtsdogmatik und -theorie siehe Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (8 ff.); Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR I, § 19 Rn. 2 ff; s. auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 81 ff. 13 Von dem Achtungsgebot der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG als Fundierungs- und Legitimitätsaussage für die Entfaltung des Charakters der Grundrechte als objektive Grundsatznormen spricht auch Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (3 f.); s. auch Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, 241 (244). 14 Zum Zusammenhang zwischen der Werteordnung des Grundgesetzes und der Entwicklung der grundrechtlichen Schutzpflichten Rensmann, Wertordnung und Verfassung: Das Grundgesetz im Kontext grenzüberschreitender Konstitutionalisierung, S. 113 ff. Zur Entwicklung der grundgesetzlichen Werteordnung Stern, Staatsrecht der BRD III/1, S. 899 ff. 11

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG

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Ihr vornehmlich symbolischer Gehalt sowie ihr Charakter als Leitformel bilden in der Rechtsprechung des BVerfG zusammengenommen jedoch nur eine der Facetten der Menschenwürdegarantie.

II. Konturen durch Anwendung der Objektformel Konkretere Ausführungen zum Schutzgehalt finden sich erst in später ergangenen Urteilen, zu denen vor allem die Entscheidung zum Mikrozensus und das AbhörUrteil aus den Jahren 1969 und 1970, aber auch die Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1977 zählen.15 Eine zentrale Rolle spielt in all diesen Entscheidungen die berühmte, auf Kant zurückgehende16 und von Günter Dürig lancierte17 „Objektformel“, welche sich für das BVerfG in der Folge zum vorrangigen Maßstab für die Bestimmung einer Menschenwürdeverletzung entwickeln sollte.18 1. Mikrozensus und Abhör-Entscheidung Im Mikrozensus-Beschluss des Ersten Senats vom 16. 07. 1969, der eine Streitigkeit über die inhaltliche Reichweite einer staatlichen Befragung zu statistischen Zwecken zugrunde liegt, etablierte das BVerfG als Schutzgut einen „unantastbaren Bereich privater Lebensführung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen“ sei und sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ableiten lasse.19 Im Lichte des vom Grundgesetz vorausgesetzten „Menschenbildes“ komme, so das BVerfG weiter, dem Menschen in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu, der es verböte, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen.20 Daher sei 15 BVerfGE 27, 1 ff. – Mikrozensus; BVerfGE 30, 1 ff. – Abhör-Entscheidung; BVerfGE 45, 187 ff. – Lebenslange Freiheitsstrafe. 16 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), Werkausgabe Band VII, S. 60 ff.: „Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden“. 17 Dürig, in Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Erste Auflage, Art. 1 Rn. 29; s. dazu auch Graf Vitzthum, Die Spur zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm, in: Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig, S. 73 Fn. 54: „[Dürigs] „Objektformel“ ist die Transformation des kategorischen Imperativs Kants (in Form des praktischen Imperativs) in das Recht“. Die Objektformel jedoch zuvor bereits ansprechend Wintrich, Über Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, FS Laforet, S. 227 (235 f.). 18 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 469 ff. 19 BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus. 20 Damit zog das BVerfG die Objektformel hier erstmalig direkt als Prüfungsmaßstab für eine Würdeverletzung heran; in vorherigen Entscheidungen hatte es die Objektformel bzw. den Objektbegriff zumindest bereits angesprochen, s. etwa BVerfGE 7, 53 (58) – Rechtliches Gehör; 9, 89 (95) – Gehör bei Haftbefehl.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

es mit der Menschenwürde unvereinbar, den „Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist“.21 Den unantastbaren Bereich der Intimsphäre sah das Gericht im konkreten Fall jedoch nicht als beeinträchtigt an, weshalb das angefochtene Gesetz zum Mikrozensus für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt wurde. Zwar führte die Anwendung der Objektformel im Mikrozensus-Beschluss noch zu einem stringenten Ergebnis; die in der Formel prinzipiell angelegte Unschärfe und der Umstand, dass sie in ihrer Allgemeinheit allenfalls in die Richtung einer Verletzung der Menschenwürde deuten könne22, veranlasste den Zweiten Senat jedoch in der Folge zu einer begrifflichen Präzisierung – oder auch Modifikation. Diese sollte er in seinem Abhör-Urteil vom 15. 12. 1970 vornehmen.23 Hier erklärte der Senat, eine Verletzung der Menschenwürde sei nicht bereits dann anzunehmen, wenn der Mensch nur zum „bloßen Objekt“ staatlicher Gewalt werde. Vielmehr erfordere die Annahme einer Verletzung, dass die in Rede stehende Behandlung durch den Staat die „Subjektqualität des Menschen prinzipiell in Frage“ stellt oder „dass in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung“ der Menschenwürde liegt. Die Behandlung müsse somit „Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine „verächtliche Behandlung“ sein.24 Man kann diesen Passus aus dem Abhör-Urteil so verstehen, als habe der Zweite Senat die vom Ersten Senat favorisierte Objektformel hin zu einer Subjektformel modifiziert und erweitert, vielleicht geradezu umgekehrt. Für eine Modifizierung oder Umkehrung der Formel sprechen zunächst die Distanzierung von der Objektformel durch den Zweiten Senat25 sowie seine darauf folgenden eigenen Ausfüh-

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BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus. So ausdrücklich der Zweite Senat in seinem Mehrheitsvotum zur Abhör-Entscheidung, BVerfGE 30, 1 (25). 23 BVerfGE 30, 1 ff. – Abhör-Entscheidung. 24 BVerfGE 30, 1 (25 f.) – Abhör-Entscheidung. Die – von einigen Autoren angenommene – vermeintliche Erweiterung der Objektformel um ein „subjektives Element“ ist in der zeitgenössischen Literatur auf harsche Kritik gestoßen, so etwa in dem generellen Verriss des Urteils bei Häberle (S. 156: „verfassungswidrige Verfassungsrechtsprechung“), Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, JZ 1971, 145 (151 f.); Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, in: ders., Gesammelte Schriften, S. 343 ff. (349). Die Einordnung und Relativierung des subjektiven Elements bei Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 (204): „Also ist das subjektive Element des Handelns, das zur Verletzung der Menschenwürde führt, letztlich belanglos.“ 25 BVerfGE 30, 1 (25) – Abhör-Entscheidung: „Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können [Hervorhebung C.L.]“. 22

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG

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rungen zur und Bezugnahmen auf die Subjektqualität des Menschen.26 Eine Erweiterung der Objektformel könnte schließlich darin zu sehen sein, dass der angeführten Subjektformel eine Alternative in Gestalt der Willkürformel zur Seite gestellt wird.27 Letztlich könnten die beiden Entscheidungen in ihren Aussagen zur Menschenwürdegarantie daher so verstanden werden, als stünden sie zueinander in Widerspruch und als etablierten sie so uneinheitliche Maßstäbe desselben Gerichts für die Bestimmung eines Menschenwürdeverstoßes.28 Dem ist jedoch zu widersprechen. Zunächst ist zu bemerken, dass die Willkürformel, die das BVerfG in der Abhörentscheidung als maßgebliches Kriterium herangezogen hat, in der Sache letztlich nicht mehr ist als eine Hilfestellung für die Subjekt-/Objektformel, die zusätzliche Argumentationsansätze für einen Menschenwürdeverstoß liefern kann.29 Dies betrifft vor allem die Verletzung des in der Formel besonders zum Ausdruck kommenden egalitären Prinzips der Menschenwürdegarantie.30 Zudem hat die Willkürformel die Subjekt- und Objektformel des BVerfG in der Rechtsprechung auf Dauer nicht ersetzt, sodass von einer echten Konkurrenz zwischen den Methoden nicht (mehr) die Rede sein kann.31 Auch ein möglicher „Wandel“ oder eine Umkehrung der Objekt- zur Subjektformel durch die Abhörentscheidung ist in der Form, wie ihn die Wortwahl des Zweiten Senats nahelegt, nicht erfolgt. Vielmehr erscheint es geboten, nach der Abhörentscheidung beide Formeln als eine einzige Formel im Sinne einer Subjekt-/ Objektformel zu verstehen, die Objekt- bzw. Subjektanknüpfung bildeten danach lediglich zwei Seiten derselben Medaille.32 Begründen lässt sich dies damit, dass bereits dem Ersten Senat in der Mikrozensus-Entscheidung nicht eine „schlichte“ Behandlung des Menschen als Objekt genügte, um eine Menschenwürdeverletzung 26

BVerfGE 30, 1 (26) – Abhör-Entscheidung: „Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt […]“. 27 BVerfGE 30, 1 (26) – Abhör-Entscheidung: „[…], oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt.“ 28 Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, JZ 1971, 145 (151); Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 48, spricht von der Abhör-Entscheidung (im Vergleich zur Mikrozensus-Entscheidung) als „Sündenfall des Gerichts“. 29 Graf Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 (204); wohl auch Haltern/Viellechner, Der praktische Fall, JuS 2002, 1197 (1201): „Präzisierung der Objektformel“. 30 Statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 61. 31 Soweit ersichtlich wurde die Formel vom BVerfG in der Sache – allerdings ohne explizite Nennung – denn auch in nur wenigen nachfolgenden Entscheidungen angewendet, s. etwa BVerfGE 47, 239 (247) – Zwangsweiser Haarschnitt; BVerfGE 74, 102 (122) – Erziehungsmaßregeln. 32 Vgl. Ipsen, Verfassungsrecht und Biotechnologie, DVBl. 2004, 1381 ff. (1383). S. auch Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 462: „Hier [werden] zwei Seiten der gleichen Medaille geprägt.“; die nachfolgenden Erläuterungen sind an seine Argumentation auf S. 461 ff. angelehnt.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

zu begründen. Erst die Behandlung als „bloßes“ Objekt, sprich eine Behandlung, die von der Subjektqualität des Menschen nichts belässt, löst danach einen Verstoß gegen die Menschenwürde aus. Somit knüpft bereits die Objektformel aus dem Mikrozensus-Beschluss gedanklich notwendigerweise an die Subjektqualität des Menschen an. Umgekehrt ist in der Abhörentscheidung des Zweiten Senats auch der Objektbegriff insofern Bezugspunkt der Argumentation, als nicht irgendeine, sondern nur die „prinzipielle“ Infragestellung der Subjektqualität einen Menschenwürdeverstoß begründet – eine solche ist wiederum nur dann anzunehmen, wenn die Subjektqualität des Menschen generell aberkannt, er somit als „bloßes“ Objekt durch den Staat behandelt wird. Beide Formeln setzen so im Kern an der Subjektqualität des Menschen und an den die Subjektqualität begründenden Kriterien an.33 Daher weichen die Auffassungen des Ersten und des Zweiten Senats nur darin voneinander ab, dass der Zweite Senat sein Verständnis der Menschenwürde als Subjekt-, der Erste Senat das identische Verständnis als Objektformel bezeichnet.34 Zwischen beiden Forme(l)n besteht daher nur ein terminologischer Unterschied. 2. Lebenslange Freiheitsstrafe In dieses Bild fügt sich auch das wenig später ergangene Urteil des Ersten Senats zur Lebenslangen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 1977.35 Das LG Verden hatte dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob und inwieweit die lebenslange Freiheitsstrafe aus § 211 Abs. 1 StGB mit der Verfassung, insbesondere mit Art. 1 Abs. 1 GG, vereinbar sei. In der Bewertung wiederholte und bestätigte der Erste Senat zunächst „seine“ Objektformel aus dem Mikrozensus-Beschluss, betonte allerdings zugleich die aus der Abhörentscheidung bekannte Formulierung der Sozialgebundenheit des Menschen, ohne jedoch die Subjektformel aus selbigem Urteil aufzunehmen.36 Dass er 33

Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 462: „Das Kriterium für diese Unterscheidung zwischen einer „prinzipiellen“ und einer „nicht prinzipiellen“ Infragestellung der Subjektqualität kann die Subjekt- wie zuvor die Objektformel jedoch nur aus der Benennung der vorausgesetzten „Qualitäten“ des Subjekts gewinnen.“ 34 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 462. 35 BVerfGE 45, 187 ff. – Lebenslange Freiheitsstrafe. 36 BVerfGE 45, 187 (227 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe: „Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums [vgl. BVerfGE 33, 303 [334] m.w.N.]. Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht „prinzipiell unbegrenzt“ sein. Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben [BVerfGE 30, 1 [20] – Abhörurteil]. Dies bedeutet, daß auch in der Gemeinschaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden muß. Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen [vgl. BVerfGE 27, 1 [6] m.w.N.]. Der Satz, „der Mensch muß immer

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dennoch auch an die Subjektqualität des Menschen anknüpfte, zeigt neben der vorgenannten Passage des Urteils auch jene, in der er auf die kantsche Formel des „Zweck an sich“ rekurriert und postuliert, die unverlierbare Würde des Menschen als Person bestünde in der Anerkennung des Menschen als selbstverantwortliche Persönlichkeit.37 Zwar stellte das BVerfG die gewonnene Subjekt-/Objektformel im Anschluss unter den zeitlichen wie erkenntnisabhängigen Vorbehalt, dass das Urteil darüber, was der menschlichen Würde entspräche, „nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitliche Gültigkeit erheben“ könne38, was eine Relativierung bisheriger, wesentlich entschiedener vorgetragenen Positionen darstellte, die der bis dahin entwickelten Rechtsprechung fremd gewesen war.39 Auch ließ diese Rechtsprechung bereits erahnen, dass der Leistungsfähigkeit der Subjekt-/Objektformel generell Grenzen gesetzt sind. Gleichwohl gelang es dem BVerfG mit dieser Rechtsprechung, dem vormals noch unscharfen Begriff, der „uninterpretierten These“, als die Theodor Heuss die Menschenwürde beschrieb, merklich Kontur zu verleihen und der Menschenwürdegarantie als griffigem Rechtssatz bis heute zu einer über die zunächst rein objektivrechtlichen Wirkweisen hinausgehenden Bedeutung als Grundrecht zu verhelfen.

III. Der Mensch als Subjekt mit unbedingtem Eigenwert Von hier aus war der Schritt für das BVerfG nicht mehr weit, in seiner Rechtsprechung die wohl zentrale Aussage der Menschenwürdegarantie als Grundrecht zu postulieren: Der Mensch ist Subjekt, ausgestattet mit unbedingtem Eigenwert und unveräußerlichen Rechten, und Art. 1 Abs. 1 GG ist die zentrale Gewährleistung für den Schutz dieser Maximen. Besonders zum Ausdruck gelangten diese Facetten der Würdegarantie unter anderem in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch sowie zum großen Lauschangriff. Auch die Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz und das Hartz IV-Urteil können in diesem Zusammenhang angeführt werden.

Zweck an sich selbst bleiben“, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“ 37 BVerfGE 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 38 BVerfGE 45, 187 (229) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 39 In Kontrast etwa zu BVerfGE 39, 1 (67) – Schwangerschaftsabbruch I.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

1. Schwangerschaftsabbruch I und II Die erste Entscheidung des BVerfG zur Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs erging im Jahre 1975.40 Ein Jahr zuvor hatte der Bundestag mit knapper Mehrheit dem Gesetzesentwurf der SPD/FDP Koalition zur sog. Fristenregelung zugestimmt, die die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs innerhalb der ersten 12 Wochen seit der Empfängnis vorsah. Gegner dieser Liberalisierung – der Schwangerschaftsabbruch hatte davor generell, von engen medizinischen und kriminologischen Ausnahmesituationen abgesehen, unter Strafe gestanden – sahen darin eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und erhoben daher einen Normenkontrollantrag vor dem BVerfG. Die Befürworter führten als Rechtsgüter der Schwangeren deren Selbstbestimmungsrecht sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ins Feld. Das BVerfG konstatierte in seiner Entscheidung grundlegend, dass bereits das Leben im Mutterleib dem objektiven Schutz der Grundrechte unterfiele, wobei es diesbezüglich ausdrücklich auf das Lüth-Urteil rekurrierte.41 In der Konsequenz nahm das Gericht einen Konflikt zwischen der Intimsphäre und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Lebens- und Würdeanspruch des Embryonen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG an.42 Bei der Abwägung dieser Güter zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren seien „beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertsystems der Verfas-

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BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I. BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I. 42 BVerfGE 39, 1 (36 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I. Dagegen ließ das BVerfG mangels Entscheidungserheblichkeit die umstrittene Frage offen, ob bereits der Nasciturus als solcher Träger von Grundrechten sein kann oder lediglich deren objektiven Schutz genießt, s. BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I. Dem Urteil des Ersten Senats lag damit die Konstellation eines mehrpoligen Rechtsverhältnisses zu Grunde, sprich eine Situation, in der der Staat – im Gegensatz zur klassischen Abwehrsituation – in die Rechte anderer eingreift, um seiner Schutzpflicht gegenüber den Bürgern nachzukommen, näher dazu Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 101, der hier von einem „Schutzpflichtendreieck“ spricht. Grundrechtsdogmatisch führt dies faktisch zu einem Grundrechtsdimensionenkonflikt, der einen Ausgleich zwischen Abwehrfunktion auf der einen und Schutzfunktion auf der anderen Seite erforderlich macht, wie Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen. Ein zentrales Problem der Grundrechtsdogmatik, AöR 133 (2008), 346, mit Bezug auf das in Rede stehende Urteil zum Schwangerschaftsabbruch auf S. 348 ff., herausstellt. Im Gegensatz zur Prüfung der klassischen Abwehrsituation liegt der Entscheidung des BVerfG hier generell ein reduziertes Prüfprogramm zu Grunde, das sich in aller Regel auf eine Evidenzkontrolle und die Prüfung des Untermaßverbots beschränkt, vgl. dazu etwa BVerfGE 77, 170 (214) – Lagerung chemischer Waffen; BVerfGE 79, 174 (202) – Straßenverkehrslärm, wonach dem Gesetzgeber und der vollziehenden Gewalt ein „weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich“ zukommt; s. auch Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, 241 (247 f.). 41

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sung zu sehen“43. Da das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren durch Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung zwar in manchen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt sein könne, das ungeborene Leben durch den Schwangerschaftsabbruch jedoch vernichtet werde, müsse die Entscheidung zugunsten des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren ausfallen.44 Diese Position bestätigte auch der Zweite Senat, der nach der Wiedervereinigung abermals mit der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs beschäftigt war, in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1993.45 Der Senat stellte hier, nachdem er die Leitsätze der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch bestätigt hatte, unmissverständlich fest, dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber dem Lebensrecht des Ungeborenen nicht so weit trage, dass die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes von Grundrechts wegen generell aufgehoben sei.46 Daraus folge, so das BVerfG in Bestätigung der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, dass das Lebensrecht des Ungeborenen gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Frau einen höheren Schutz der Verfassung genieße, weshalb der Schwangerschaftsabbruch dauerhaft als rechtswidrig einzustufen sei. Beide Male entschied das BVerfG das „Argumentationspatt“ zwischen dem in der Menschenwürde wurzelnden Selbstbestimmungsrecht auf der einen und dem mit der Menschenwürde gekoppelten Lebensschutz auf der anderen Seite so zugunsten des Schutzes des ungeborenen Lebens.47 Die Urteile, die vor dem Hintergrund intensiver politischer Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik zu sehen sind, trafen in der Literatur auf gemischte Reaktionen. Die Kritik wiederum betraf verschiedene Gesichtspunkte, vor allem aber bereits die Heranziehung der Menschenwürdegarantie als solche.48 Auch wurde 43

BVerfGE 39, 1 (43) – Schwangerschaftsabbruch I. BVerfGE 39, 1 (43) – Schwangerschaftsabbruch I. 45 BVerfGE 88, 203 ff. – Schwangerschaftsabbruch II. 46 BVerfGE 88, 203 (255) – Schwangerschaftsabbruch II. 47 Damit war, jedenfalls für den konkreten Fall, auch der skizzierte Grundrechtsdimensionenkonflikt gelöst: Das BVerfG entschied sich hier für einen Primat der staatlichen Schutzpflicht zulasten der staatlichen Abwehrfunktion der Grundrechte. 48 Die vorgetragenen Bedenken richten sich zunächst auf einen zu weit verstandenen staatlichen Schutzauftrag und damit auf eine zu große politische Einflussnahme durch das Gericht; zu diesem Problem vgl. Minderheitsvotum der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon zur Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 39, 1 (68 ff., insb. 73 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I; Kriele, Anm. zu BVerfGE 39, 1, JZ 1975, 205 (222 ff.). Des Weiteren betrifft die vorgetragene Kritik aber auch die Menschenwürdegarantie selbst, hier insbesondere ihre Heranziehung für den vorliegenden Fall als solche sowie die von vielen als problematisch angesehene Kopplung des Lebens- mit dem Würdeschutz, vgl. hierzu statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69 ff. m.w.N. Schließlich ist das Urteil auch Kritik hinsichtlich seiner inhärenten Logik und Schlüssigkeit ausgesetzt, hierzu ebenfalls Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 71 m.w.N.; Volkmann, Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes – damals und heute, Natur und Geist 20 (2004), 26. 44

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vorgebracht, die Urteile seien insofern inhärent widersprüchlich, als die vorgenommene Wertung des BVerfG und die von ihm zugrunde gelegten Prämissen zur weitgehenden Verfassungswidrigkeit der Abtreibungsregelungen hätten führen müssen.49 Gleichwohl müssen die Urteile, gerade vor dem skizzierten Hintergrund des Grundrechtskonflikts, bei aller Kritik auch als Gewinn und Stärkung der Menschenwürderechtsprechung gesehen werden. Zum einen, weil dem BVerfG hier der Spagat zwischen dem Schutz des menschlichen Lebens und dem Selbstbestimmungsrecht jedenfalls insoweit gelang, als es den von Art. 1 Abs. 1 GG stärker gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens auch entgegen geänderter Moralauffassungen in der Gesellschaft in Folge eines gesellschaftlichen Wandels nicht preiszugeben bereit war.50 Zum anderen, weil das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch den unverfügbaren und unbedingten Wert des einzelnen Menschen wie folgt unmissverständlich und klar herausgestellt hat: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität […]. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu […]. Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen […]. Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht, ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht; es gilt unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen […] “.51 2. Großer Lauschangriff Die Wahrung des Subjektstatus des Menschen bildete schließlich auch den Schwerpunkt der Entscheidung zum Großen Lauschangriff aus dem Jahr 2004.52 Erneut hatte sich das BVerfG hier mit Fragen persönlicher Integrität und Kernbereichen privater Lebensführung auseinanderzusetzen, nachdem diese bereits in der Mikrozensus-Entscheidung und dem Abhörurteil den Streitgegenstand gebildet hatten. Dem Urteil des Ersten Senats ging eine Grundgesetzänderung von Art. 13 GG 49

So Dreier, in: ders. (GG), Art. 1 Abs. 1 Rn. 71 f. m.w.N. In diesem Kontext ist vor allem die Aussage des BVerfG beachtlich, dass die Verfassung zwar eine dauerhafte Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs gebiete, gleichzeitig daraus aber kein strafrechtliches Gebot dergestalt folge, dass der Abbruch generell, oder auch nur für die Fälle, in denen eine kriminologische oder gesundheitliche Indikation nicht vorliegt, zu verbieten sei. Die vom BVerfG vorgenommene Bewertung der Rechtsgüter rückte damit in die Nähe einer Güterabwägung, der die Menschenwürdegarantie mit ihrem Absolutheitsanspruch per se gerade entzogen sein soll. S. dazu auch Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 112. 50 S. insbesondere die Passagen in BVerfGE 39, 1 (66 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I. 51 BVerfGE 88, 203 (251 f.) – Schwangerschaftsabbruch II, (Herv. C.L.). 52 BVerfGE 109, 279 ff. – Großer Lauschangriff.

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voraus, die es den Polizeibehörden fortan gestattete, zu präventiven und repressiven Zwecken heimlich bzw. verdeckt in die Wohnung einzudringen und den Wohnraum akustisch zu überwachen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde waren somit unter anderem die Einschränkungen des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG. Als Prüfungsmaßstab für die Grundgesetzänderung diente dem BVerfG die über Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG. Das BVerfG betonte hier zu Beginn die enge Verknüpfung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung mit der Menschenwürde, deren Konkretisierung unter anderem das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG darstelle.53 So sei die Privatwohnung „als letztes Refugium ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde“, innerhalb derer das Verhalten der in diesen Räumen Anwesenden einen absoluten Schutz genieße.54 Diesen Äußerungen folgten sodann substanzielle Erläuterungen des Gerichts zum Wesensgehalt der Menschenwürde im Bereich der Wohnraumüberwachung. So seien, nachdem in der Rechtsprechung zunächst Erscheinungen wie „Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung“ im Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie diskutiert wurden, nunmehr „Fragen des Schutzes der personalen Integrität und der psychisch-sozialen Integrität“ die Fragen, die die Auseinandersetzungen über den Menschenwürdegehalt bestimmten55 – eine Reminiszenz des Gerichts an sein erstes Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe und die darin beschriebene Abhängigkeit des Würdeverständnisses von den gesellschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit.56 Beide Facetten, also sowohl die personale als auch die soziale Integrität, lieferten sodann die Maßstäbe, anhand derer das BVerfG eine Verletzung der Menschenwürde prüfte. Im Hinblick auf die personale Integrität des Menschen gebiete sie zunächst die Wahrung eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung und aufgrund dessen die Möglichkeit zur Schaffung eines privaten Rückzugsraums, der zwar nicht selbst, innerhalb dessen aber das Verhalten der dort Anwesenden schlechterdings absoluten Schutz genieße.57 Ferner, und in sozial-kommunikativer Hinsicht, gebiete die Achtung der Menschenwürde auch die Wahrung eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung innerhalb der sozialen Bezüge des Einzelnen, auch um einer möglichen Befangenheit

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BVerfGE 109, 279 (313) – Großer Lauschangriff. BVerfGE 109, 279 (314) – Großer Lauschangriff. 55 BVerfGE 109, 279 (312) – Großer Lauschangriff. 56 BVerfGE 45, 187 (229) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 57 BVerfGE 109, 279 (313 f.) – Großer Lauschangriff. Nun war die Erwähnung eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung allein nichts Neues, anerkannte das BVerfG einen solchen doch bereits in BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes. Auch in nachfolgenden Urteilen tauchte dieser Begriff immer wieder und in verschiedensten Zusammenhängen auf, vgl. nur BVerfGE 6, 389 (433) – Homosexuelle; BVerfGE 32, 373 (379) – Patientendatei; BVerfGE 34, 238 (245) – Tonbandaufzeichnungen; BVerfGE 80, 367 (376) – Tagebuch. Der vorliegende Fall sticht aus den genannten Urteilen jedoch deswegen hervor, da das Gericht hier zum ersten Mal einen solchen Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung bejaht hat, was zum (teilweisen) Erfolg der Verfassungsbeschwerde führte. 54

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in der Kommunikation und sozialen Interaktion wegen der Befürchtung einer Überwachung entgegenzusteuern.58 Diese Ausführungen sind insoweit bemerkenswert, als sich das BVerfG hier der Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürde nicht wie bis dahin üblich59 ausschließlich vom Verletzungsvorgang her näherte, sondern stattdessen eine positive Inhaltsbestimmung des Schutzgehalts von Art. 1 Abs. 1 GG vornahm. Von hier aus erklärt sich auch der Passus im Urteil, in dem der Erste Senat kritisch zur Objektformel Stellung nahm und dabei die darauf bezogenen Bedenken des Zweiten Senats aus dem Abhörurteil wortwörtlich wiederholte.60 Dennoch steht das Urteil in diesem Punkt mit der vorangegangenen Rechtsprechung nicht in Widerspruch, sondern bildet vielmehr ihre logische Weiterführung. Schließlich bekannte sich der Senat auch im vorliegenden Urteil grundsätzlich zur Objektformel, ergänzte sie allerdings – wie vor ihm der Zweite Senat – um die Subjektformel, sodass mit den oben dargelegten Erwägungen von einer Kontinuität und Fortentwicklung der Subjekt-/Objektformel des BVerfG gesprochen werden kann. Ungeachtet dessen bietet auch diese Entscheidung Gründe für Kritik und kann sogar – ähnlich wie bereits das zweite Urteil zum Schwangerschaftsabbruch – aus zweierlei Gründen als widersprüchlich angesehen werden. So sei zum einen das Eindringen in den absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung zwar per se verfassungsrechtlich untersagt – gleichzeitig ist nach der gefundenen Lösung ein Eindringen in diesen jedoch de facto gestattet, um herauszufinden, ob der absolut geschützte Bereich im konkreten Fall auch tatsächlich beeinträchtigt ist, was dann jeweils zum sofortigen Abbruch der Ermittlungsmaßnahmen und zur Löschung etwaig angefertigter Aufzeichnungen führen soll. Dies verträgt sich insoweit nicht mit den vorangegangenen Erläuterungen, als bereits mit dem Eindringen in den (möglicherweise) berührten absolut geschützten Lebensbereich auch zwangsläufig die Verletzung desselben einhergeht, sodass das Ergebnis den zugrundeliegenden Erwägungen in diesem Punkt entgegensteht.61 Zum anderen begegnet die Entscheidung des Gerichts Problemen im Hinblick auf den Absolutheitsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG. Ausgehend von einem absolut geschützten Kernbereich nahm das BVerfG hier graduelle Abstufungen hinsichtlich 58

BVerfGE 109, 279 (319 ff.; 354 f.) – Großer Lauschangriff. Zum (regelmäßigen) Verschwimmen der Prüfungsebenen „Schutzbereichseröffnung“ und „Eingriff“ s. nur Volkmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 21 Rn. 58 ff. Zu dieser Vorgehensweise nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der juristischen Ausbildungsliteratur näher Hufen, Menschenwürde: Vor die „Objektformel“ hat die Grundrechtsdogmatik die Bestimmung des Schutzbereichs gesetzt, in: Hanschel/Graf Kielmannsegg/Kischel/Koenig/ Lorz (Hrsg.), Mensch und Recht. Festschrift für Eibe Riedel, 459 (461 ff). 60 BVerfGE 109, 279 (312 f.) – Großer Lauschangriff. 61 So letztlich auch das Minderheitsvotum der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfGE 109, 279 (382 ff.) – Großer Lauschangriff. Die Mehrheit des Senats entgegnet diesem Einwand mit der Notwendigkeit verfassungskonformer Auslegung, näher dargelegt in BVerfGE 109, 279 (316 ff.) – Großer Lauschangriff. 59

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des Schutzes vor Wohnraumüberwachung vor: Dieser soll nach Ansicht des Gerichts in dem Maße abnehmen, in dem sich die Thematik von dem absolut geschützten Kernbereich weg und hin zu Randbereichen privater Lebensgestaltung entferne. Die Abwägungsoffenheit mit anderen Verfassungsgütern soll im selben Maße zunehmen. Da aber auch ein weniger geschützter „Randbereich“ noch strukturell in der Menschenwürdegarantie wurzelt, mithin noch einen spezifischen Bezug zu ihr aufweist, bleibt zumindest für diese Randbereiche offen, inwiefern sich hier eine Abwägungsoffenheit mit dem Unabwägbarkeitsdogma aus Art. 1 Abs. 1 GG schlüssigerweise in Einklang bringen ließe.62 Auch eröffnet diese Lösung ein Dilemma hinsichtlich der Abgrenzung der genannten Bereiche: Wann liegt nun ein „absolut“ geschützter, wann dagegen nur ein „verhältnismäßig“ geschützter Bereich privater Lebensgestaltung vor?63 Am Ende wird sich dennoch nicht leugnen lassen, dass das Urteil zum Großen Lauschangriff auch und gerade hinsichtlich der Dogmatik zu Art. 1 Abs. 1 GG einen gewichtigen Beitrag leistete. Schließlich anerkannte der Erste Senat darin die Notwendigkeit der Subjektformel als Korrelat zur von ihm zuvor favorisierten Objektformel und brachte so auch in seiner Rechtsprechung beide Formeln zusammen. Auch die vorgenommene Konkretisierung der Schutzbereichsausprägungen der Menschenwürde im Kontext staatlicher Ermittlungsarbeit und Informationsgewinnung verdient – bei aller berechtigten Kritik – Beachtung. Mit ihr wurde – zwar unter Inkaufnahme gewisser Unschärfegrade – die Etablierung von Tabuzonen privater Lebensgestaltung vorangetrieben, welche unmittelbar am Absolutheitsanspruch der Menschenwürde teilhaben und sich so als abwägungsfeste Bastion gegen staatliche Übergriffe erweisen können. Aus diesem Grund wurde das Urteil überwiegend als Gewinn für die Menschenwürderechtsprechung des BVerfG bewertet.64 3. Asylbewerberleistungsgesetz Elementar für die Wahrung der Subjektqualität des Menschen ist zudem ein Maß an existenzieller materieller Absicherung, wie es das BVerfG in seiner Hartz IVEntscheidung65 sowie in der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz66 be62 Dieser Umstand führt sodann auch in der Literatur zu der Notwendigkeit nahezu paradoxer Erklärungs- und Erläuterungsversuche des Urteils. Exemplarisch erscheint in diesem Zusammenhang die Formulierung Gusys, dass das BVerfG hier zu Recht zwischen (sic!) „mehr und weniger absolut geschützten Bereichen“ differenziere; Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (458). 63 Das BVerfG stellt hier einige Abgrenzungsparameter vor, die im konkreten Fall Indizwirkung entfalten, freilich aber nicht über eine grundsätzliche Vermutung hinausreichen können, näher dazu BVerfGE 279 (319 ff.) – Großer Lauschangriff. 64 S. etwa Denninger, Verfassungsrechtliche Grenzen des Lauschens Der „große Lauschangriff“ auf dem Prüfstand der Verfassung, ZRP 2004, 101; kritisch dagegen Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2009, 606 (614 f.). 65 BVerfGE 125, 175 ff. – Hartz IV.

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tont hat. Wie bereits im Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe diente die Menschenwürde im Zusammenspiel mit dem Sozialstaatsprinzip als Ausgangspunkt und Anspruchsgrundlage für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins, hier jedoch im Kontext von materieller und finanzieller Absicherungspflicht des Staates. In beiden Verfahren ging es um die Frage, ob die entsprechenden Normen für Transferleistungen nach dem SGB II einerseits und dem Asylbewerberleistungsgesetz andererseits mit dem Grundgesetz vereinbar sind, was dann der Fall wäre, wenn die staatlichen Transferleistungen ihrer Höhe nach genügten, den Leistungsempfängern ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Im Zentrum der beiden Entscheidungen stand damit das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das das BVerfG für den Bereich staatlicher Fürsorge bereits in früheren Entscheidungen67 anerkannte, nun aus einer Zusammenschau von Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 GG herleitete und in den vorliegenden Fällen aber zum ersten Mal konkreter umschreiben konnte. Dieses sichere „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“68 und stehe als Menschenrecht „deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu“69. Die staatliche Schutzpflicht zur Gewährleistung aus Art. 1 Abs. 1 S.2 GG werde dabei immer dann aktiviert, wenn einem Menschen die zu einem menschenwürdigen Dasein notwendigen materiellen Mittel fehlten.70 Diese Verpflichtung sei zwar zunächst eine Verpflichtung objektiven Rechts; ihr korrespondiere aber, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schütze, ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, der gesetzlich gesichert sein müsse, dessen Ausgestaltung im Einzelnen aber dem Gesetzgeber überlassen sei.71 In den beiden Entscheidungen ist zunächst bemerkenswert, dass das BVerfG einen auf finanzielle Sicherung zielenden Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums überhaupt anerkannte – Anfang der 50er Jahre hatte das Gericht davon in einem ähnlich gelagerten Fall noch nichts wissen wollen.72 Mag dies seinerzeit noch an mangelnder Prominenz der grundrechtlichen Leistungsdimension sowie fehlen66

BVerfGE 132, 134 ff. – Asylbewerberleistungsgesetz. Etwa BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente II. 68 BVerfGE 125, 132 (Erster LS) – Hartz IV. 69 BVerfGE 132, 134 (Zweiter LS) – Asylbewerberleistungsgesetz. 70 BVerfGE 132, 134 (159) – Asylbewerberleistungsgesetz. 71 BVerfGE 132, 134 (159 ff.) – Asylbewerberleistungsgesetz. 72 BVerfGE 1, 97 (104) – Hinterbliebenenrente I: „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: ,… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ,Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“ 67

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der staatlicher Finanzkraft gelegen haben, zeigt dieser Umstand dennoch, wie sich der Umgang – nicht nur des Gerichts, sondern auch der Fachliteratur73 – mit der Menschenwürdegarantie, ihrem materiellen Gehalt und dem Verständnis des aus ihr resultierenden staatlichen Schutzauftrags über die Jahre hin zu einem Mehr an staatlicher Fürsorge gewandelt hat. Danach schützt die Menschenwürde gerade nicht mehr nur vor „klassischen“ Würdeverstößen wie Sklaverei, Brandmarkung und Erniedrigung, sondern dient dem umfassenden Schutz des Menschen als ein zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung fähiges Subjekt. Dogmatisch korrespondiert dieses umfassendere Würdeverständnis mit dem offenen Charakter von Art. 1 Abs. 1 GG, welcher vorliegend als Wurzel für ein eigenständiges ungeschriebenes Grundrecht diente. Die Heranziehung von Art. 1 Abs. 1 GG zur Begründung des Grundrechts auf Gewährleistung des Existenzminimums ist in der Literatur zwar ebenso auf Kritik gestoßen wie die gerichtlichen Vorgaben an den Gesetzgeber hinsichtlich eines transparenten Gesetzgebungsverfahrens.74 In der Sache fügt sie sich jedoch in die Rechtsprechungslinien des BVerfG, das die Menschenwürdegarantie nunmehr auch als Garantie für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen verstanden wissen will. 4. Die Bezugnahme auf den Subjektstatus als Problem Die Fokussierung der Rechtsprechung auf die Subjektstellung des Menschen in den vorangegangen Entscheidungen kann damit als Fortführung und Weiterentwicklung der bereits eingeschlagenen Rechtsprechungslinien gesehen werden. Sie ging jedoch – letzlich bis heute – auch mit den besehenen Schwierigkeiten einher, da fortan für das Gericht im Anwendungsbereich der Menschenwürde die zentrale Aufgabe darin bestand, den Subjektbegriff zu bestimmen und zu entfalten. Dies setzte einen Prozess in Gang, der über die einfache Rechtsfindung und -anwendung hinausgeht und eine breitere Verständigung über grundlegende Prämissen des jeweils herrschenden Menschenbildes erfordert – ein Prozess, der sich bereits innerhalb des Gerichts als häufig schwierig herausgestellt hat.75 Mit dieser Handhabbarmachung der Menschenwürdegarantie durch das BVerfG, die als echte Grundrechtsgewährleistung fortan dem „profanen“ Zugriff durch Subsumtion ausgeliefert und als nunmehr griffiger Rechtsbegriff im eigentlichen Sinne in der Rechtsprechung angelangt war, bekam ihre zunächst einheitsstiftende Idee folglich auch erste Risse – das vormalige Konsensprinzip der Menschenwürde 73

(428).

Vgl. hierzu etwa Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, NVwZ 1995, 426

74 S. etwa Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassunngsgerichts, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 385, 395 ff., ins. 397. 75 Davon zeugen insbesondere die über die Zeit hinweg zunehmenden Sondervoten zu den Entscheidungen zu Art. 1 Abs. 1 GG.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

entwickelte sich in der Rechtsprechung des BVerfG so mehr und mehr zu einem Diskursprinzip.76

IV. Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes Gleichwohl hat sie durch diese Entwicklung von ihrer Bedeutung im eigentlichen Sinne nichts eingebüßt: Die Menschenwürde bleibt – auch als vermeintliches Diskursprinzip – nicht nur die zentrale Gewährleistung im deutschen Grundrechtsgefüge. Sie bildet gleich einem „archimedischen Punkt“77 den eigentlichen Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes und der politischen Ordnung der Bundesrepublik. In kaum einer anderen Entscheidung des BVerfG käme dies deutlicher zum Ausdruck als in dem Urteil des Ersten Senats zum Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2006.78 1. Luftsicherheitsgesetz Das BVerfG hatte hier neben kompetenzrechtlichen Fragen die Frage zu beantworten, ob und inwiefern die gesetzliche Erlaubnis zum Einsatz von Waffengewalt und ultimativ zum Abschuss eines zu terroristischen Zwecken gekaperten Personenflugzeugs mit der Verfassung, konkret mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in Einklang steht. Der Entscheidung gingen nicht nur juristische, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche und politische Debatten voraus, die – wie die Gesetzesänderung selbst – vor dem Hintergrund der Terroranschläge am 11. 09. 2001 zu sehen sind. In dem vielbeachteten Urteil ging das BVerfG zunächst auf die aus den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch bekannte Verknüpfung zwischen Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG ein, welche es in den sodann folgenden Ausführungen als materiellen Prüfungsmaßstab heranzog. So sei das Leben die „vitale Basis der Menschenwürde“, weshalb es dem Staat verboten sei, „durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen“, ihm andererseits aber auch die Verpflichtung zukomme, „sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Ein-

76 S. dazu Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 479: „Die methodologische Herausforderung liegt in der Rekonstruktion des Subjektstatus des Menschen im Alltag. Damit geht die Objektformel über den historischen Konsens hinaus, dass der Mensch in einer Verfassungsordnung jedenfalls nicht mehr so wie in pervertierten politischen Systemen behandelt werden soll. Dabei tritt an die Stelle des historischen Konsenses der verfassungspolitische Diskurs über das Subjekt, das durch neue soziale, wissenschaftliche und technische Herausforderungen gefährdet wird. Die Menschenwürde wandelt sich aus einem Konsens- in ein Diskursprinzip, das den Subjektstatus des Einzelnen durch Kompensationsbausteine normativ rekonstruieren muss.“ [Hervorhebungen C.L.]. 77 Der Begriff bei Volkmann, Nachricht vom Ende der Gewißheit. Zur Wirkungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, FAZ Nr. 273 vom 24. 11. 2003, S. 8. 78 BVerfGE 115, 118 ff. – Luftsicherheitsgesetz.

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zelnen zu stellen“.79 Auch hier lag also eine Dreieckskonstellation vor, die zu dem bereits beschriebenen Grundrechtsfunktionenkonflikt zwischen Abwehrrecht und staatlicher Schutzpflicht führt. Die Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit von § 14 Abs. 3 LuftSiG schließlich stützte sich – in materieller Hinsicht – im Wesentlichen auf vier Argumentationsstränge: Der erste betraf die Analyse und Prognose durch die zuständigen Behörden, die einer Entscheidung über den Einsatz von Waffengewalt gegen ein Flugzeug immer vorauszugehen hat. Eine solche trage immer eine zwar von Fall zu Fall graduell variierende, wenngleich niemals völlig auszuschließende Unsicherheit hinsichtlich der Frage in sich, ob sich an Bord der gekaperten Maschine möglicherweise auch unschuldige Passagiere befänden. Bestehe aber eine solche Unsicherheit, so seien ein Abschuss und damit die Tötung unschuldiger Menschen auf Basis einer gesetzlichen Ermächtigung unvereinbar mit Art. 1 Abs. 1 GG und daher schlechterdings verfassungswidrig.80 Eine mögliche Einwilligung der Passagiere in die gezielte Tötung durch Besteigen der Maschine sei daneben nicht mehr als eine „lebensfremde Fiktion“81. Von hier aus leitet das BVerfG zu einem weiteren Problempunkt über, der – in einem engeren Sinne verstanden – substanziellere Aussagen zur Menschenwürdegarantie mit sich bringt. So sei es mit der Menschenwürde unvereinbar, die Tötung mit dem Argument zu rechtfertigen, die Passagiere seien ohnehin dem Tode geweiht, werde dadurch doch gerade den Entführungsopfern die Achtung verwehrt, die ihnen „um ihrer menschlichen Würde willen gebührt“82. Schließlich könne die staatliche Schutzpflicht keinen Vorrang vor der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte beanspruchen, da die staatliche Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt sei und ihre Erfüllung prinzipiell in der eigenen Verantwortung der staatlichen Organe liege.83 In den Argumentationssträngen des Senats klingen durchweg die aus früheren Entscheidungen bekannten Facetten der Menschenwürdegarantie an, so etwa die Auffassung, dass jeder Mensch „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status“ Menschenwürde besitze.84 Auch finden sich mehr oder weniger explizite Bezug79

BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz. BVerfGE 115, 118 (154 ff., insb. 157) – Luftsicherheitsgesetz: „Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten.“ 81 BVerfGE 115, 118 (157) – Luftsicherheitsgesetz. 82 BVerfGE 115, 118 (158) – Luftsicherheitsgesetz. 83 BVerfGE 115, 118 (159 f.) – Luftsicherheitsgesetz. 84 BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz: „Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status.“; zur sog. „Mitgifttheorie“ s. u. Kapitel 4 B. I. 80

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nahmen auf die Autonomie und elementare Gleichheit der Menschen85, die Subjekt-/ Objektformel86 sowie die Figur des Menschenbildes des Grundgesetzes87. Maßgebliches Entscheidungskriterium für die Bestimmung einer Menschenwürdeverletzung war für das Gericht wiederum und in Kontinuität der Rechtsprechung die Subjekt-/Objektformel. Zudem betonte das Gericht explizit die Unverletzlichkeit der Menschenwürde auch angesichts eines in Kürze bevorstehenden, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintretenden Todes der Passagiere. Damit erteilte das Gericht nicht nur utilitaristischen Überlegungen eine radikale Absage, sondern bestätigte auch seine bereits aus früheren Entscheidungen bekannte Bereitschaft, in Fragen des Lebensschutzes und der Menschenwürde eine Wertentscheidung zugunsten dieser Rechtsgüter, unabhängig von einer möglicherweise nur (noch) kurzen Lebensdauer, zu treffen.88 Nur greift diese Beurteilung der Entscheidung dann zu kurz, wenn man bedenkt, dass in der beschriebenen Dreieckskonstellation auch eine staatliche Schutzpflicht zugunsten der am Boden befindlichen potenziellen Opfer bestand. Insoweit standen sich hier auf beiden Seiten hoheitlicher Unterlassungs- bzw. Handlungsverpflichtung Ansprüche (unter anderem) aus der Menschenwürdegarantie gegenüber.89 Dass das BVerfG, dessen Entscheidung daher wohl insgesamt im „Grenzbereich des überhaupt Regelbaren“90 einzuordnen ist, hier aber der abwehrrechtlichen Seite den 85 BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz: „Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden […]“. 86 BVerfGE 115, 118 (154) – Luftsicherheitsgesetz: „[…] schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 [6]; 45, 187 [228]; 96, 375 [399]). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.“ 87 BVerfGE 115, 118 (158) – Luftsicherheitsgesetz: „Mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 45, BVerfGE 115, 118 (158) BVerfGE 115, 118 (159)187 [227]), und das deshalb nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf, lässt sich dies nicht vereinbaren.“ 88 Vgl. BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“; in diesem Kontext auch BVerfGE 30, 173 (194), wonach ein Achtungsanspruch seiner Würde dem Menschen selbst nach dem Tod zukommt. 89 Der Würdebezug der am Boden befindlichen Personen ergibt sich hier aus der vom BVerfG vorgenommenen Kopplung der Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die es bereits in früheren Entscheidungen vorgenommen hat, s. etwa BVerfGE 46, 160 (164) – Schleyer, BVerfGE 49, 89 (142) – Kalkar I; BVerfGE 88, 203 (251) – Schwangerschaftsabbruch II. Danach hat die staatliche Schutzpflicht, sich „schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen, […] ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet“, wie in BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz, klargestellt ist. 90 Treffend formuliert in der schriftlichen Erklärung des Bundestags zur Verfassungsbeschwerde, BVerfGE 115, 118 (129) – Luftsicherheitsgesetz.

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG

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Vorrang vor der Erfüllung der Schutzpflicht gab, ist auch angesichts seiner bisherigen Rechtsprechung, insbesondere der Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, nicht selbstverständlich. Offenbar schien das Gericht bei seiner Entscheidung von einem Primat des Abwehrrechts vor der Verwirklichung der Schutzpflicht auszugehen, wobei eine nähere Begründung für dieses Rangverhältnis ausblieb. Die Gründe für diese Akzentuierung könnten aber in einer möglichen Rückbesinnung des BVerfG auf die Wurzeln der Menschenwürdegarantie zu finden sein. Wenn die Menschenwürdegarantie angesichts historischer Erfahrungen nämlich zuvörderst dazu diente, den Einzelnen vor Übergriffen des Staates in seine geistige und körperliche Integrität zu schützen91, dann würde die gezielte Tötung Unschuldiger durch aktives Einschreiten staatlicher Organe einer verfassungsrechtlichen Prüfung – will man mit der entsprechenden Dogmatik nicht etwa aus staatsnotstandlichen Erwägungen heraus brechen92 – auch nicht Stand halten können.93 Mit seiner Entscheidung stand das BVerfG insgesamt vor einem grundlegenden Dilemma: Entweder würde es zulassen, dass notstandsähnliche Maßnahmen in das positive Recht einfließen – was aus Sicht des Gerichts einem Tabubruch gleich gekommen wäre, oder es würde solche Regelungsbereiche gänzlich aussondern und dem Recht so seine „Unschuld“ belassen – dabei jedoch in Kauf nehmen, dass die Entscheidung über den Abschuss eines Flugzeugs, mithin das Hinwegsetzen über das Recht selbst, nicht mehr in normativ erfassten Bahnen würde vonstatten gehen können.94 91 Nicht umsonst verweist das BVerfG in seiner Entscheidung daher auf das Verbot der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch den Staat, BVerfGE 115, 118 (153) – Luftsicherheitsgesetz. 92 Auf diese Möglichkeit, verbal bisweilen bis zur Notwendigkeit hochgerüstet, verweist etwa Hase, Das Luftsicherheitsgesetz: Abschuss von Flugzeugen als „Hilfe bei einem Unglücksfall“?, DÖV 2006, 213 (218); subtiler Depenheuer, der ein dauerhaftes Ineinandergreifen von Normal- und Ausnahmelage und damit die gleichzeitige Geltung von Friedens- und Ausnahmerecht unter dem Grundgesetz konstatiert, s. ders., Selbstbehauptung des Rechtsstaats, S. 50 ff. 93 Das BVerfG scheint hier in der Tat eine Unterscheidung dahingehend vorzunehmen, ob der Staat durch aktive Handlung in Grundrechte eingreift oder ob er es unterlässt, eine Grundrechtsverletzung abzuwenden, mithin lediglich passiv handelt. Gegen diese Unterscheidung in Tun und Unterlassen argumentierend Vosgerau, Schutzpflichten und Gemeinwohl im staatlichen Risikomanagement: Grenzen der etatistischen Konvergenztheorie, in: Scharrer/ Dalibor/Rodi/Fröhlich/Schächterle (Hrsg.): Risiko im Recht – Recht im Risiko, Tagungsband der 50. Assistententagung Öffentliches Recht 2010, S. 135 (141 ff.). Für eine solche Unterscheidung (in anderem Zusammenhang) etwa Tiedemann (Fn. 50): „[…] müssen Würde gegen Würde Konflikte eigentlich zu einem Dilemma führen, das nur mittels der Überlegung hätte gelöst werden können, dass es allemal besser ist, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun“. Die Unterscheidung und den Primat der abwehrrechtlichen Seite gebietet bei strengem Wortsinn jedoch letztlich auch die konsequente Anwendung der Subjekt-/Objektformel, wie sie das BVerfG im Urteil auch vollzieht; dazu etwa Kersten, Die Tötung von Unbeteiligten. Zum verfassungsrechtlichen Grundkonflikt des § 14 III LuftSiG, NVwZ 2005, 661 (662 f.). 94 Die strafrechtliche Beurteilung eines gleichwohl vorgenommenen Abschusses nahm das BVerfG freilich nicht vor, BVerfGE 115, 118 (157) – Luftsicherheitsgesetz; Depenheuer

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

Das BVerfG entschied sich wie gesehen dafür, mit der Entscheidung der Verfassungswidrigkeit ein Einbrechen notstandsrechtlichen Gedankenguts in das Recht bereits im Keim zu ersticken. Damit erwies sich das aus Art. 1 Abs. 1 GG fließende Verbot eines Abschusses von Passagierflugzeugen nicht nur als Hindernis für eine Verrechtlichung von Unrecht. Die Menschenwürde muss bei dieser Betrachtung sogar als Garant für die Bewahrung des Rechtsstaats(-prinzips) schlechthin angesehen werden. Sieht man die Entscheidung unter diesem Gesichtspunkt nicht nur als Aburteilung des zugrundeliegenden Sachverhalts an, sondern erblickt man in ihr auch so etwas wie eine Selbstvergewisserung des Rechtsstaats und eine Vergegenwärtigung eigener Möglichkeiten und Grenzen,95 dann kommt der Menschenwürdegarantie damit eine ähnlich gewichtige Bedeutung zu wie bereits in den Anfängen bundesrepublikanischer Rechtsprechung. Sie ist damit erneut und auch in heutiger Zeit das Axiom nicht nur für einzelne Problemlagen, sondern für das Verfassungsleben in seiner Gesamtheit. Aus ihr fließen in der Folge nicht nur die Notwendigkeit, staatliche Herrschaft immer vom Menschen aus zu denken und jedwedem Utilitarismus und Konsequentialismus eine Absage zu erteilen. Sie ist auch das Reservoir, das dem Staat und seiner Hoheitsgewalt auch und gerade für Extremsituationen definitive Grenzen setzt und so gleichsam das Fundament des Rechtsstaats bildet.96 2. NPD Parteiverbotsverfahren II Es scheint, als sei die Entwicklung der Würderechtsprechung schließlich in dem Urteil zum Parteiverbot der NPD aus dem Jahre 2017 zu einem vorläufigen Ende gelangt.97 Das Urteil erging aufgrund eines Antrags des Bundesrates im Jahr 2013 und markiert den Schlussstein einer lange anhaltenden Diskussion um die Verfasverweist aber darauf, dass der Berichterstatter der Entscheidung einem Zeitungsbericht zufolge eine solche Lösung insinuiert habe, vgl. hierzu Depenheuer, Doppelmoral im Rechtsstaat? Das Luftsicherheitsgesetz als Verfassungsautismus, Die politische Meinung 463 (2008), 19. 95 Dies ist dann nicht zu hoch gegriffen, wenn man sich den nicht alleine juristischen, sondern auch gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum LuftSiG vergegenwärtigt, der durch die Entscheidung des BVerfG zu einem vorläufigen Ende gebracht wurde. Hierzu passt auch die Tatsache, dass der Bundespräsident nach eingehender Prüfung und trotz späterer Ausfertigung des Gesetzes die Regelungen in §§ 13 und 14 Abs. 3 LuftSiG für „verfassungsrechtlich höchst bedenklich“ hielt, vgl. hierzu Pressemitteilung des Bundespräsidialamts vom 12. 01. 2005, abrufbar unter: http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/ Amtliche-Funktionen/Entscheidung-Januar-2005.html. 96 Deutlich kritischer wiederum Depenheuer, Doppelmoral im Rechtsstaat? Das Luftsicherheitsgesetz als Verfassungsautismus, Die politische Meinung 463 (2008), 19 (27), der hierin die Kapitulation des Staates vor seinen Feinden erkennt: „Der Staat kann verfassungsrechtliche Errungenschaften einschließlich der Menschenwürde nicht mehr erfolgversprechend gegen terroristische Angriffe aus der Luft verteidigen. […] Die grundlegenden Verfassungsprinzipien der westlichen Zivilisation […] werden bei der ersten direkten ideologisch motivierten Negation und militärisch brutalen Bedrohung zum Titel, nicht für ihre Achtung und Wahrung kämpfen zu müssen.“ 97 BVerfGE 144, 20 – Parteiverbotsverfahren (NPD).

C. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des BVerfG

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sungsmäßigkeit der Partei. Ein Parteiverbot seitens des BVerfG erging im Ergebnis nicht, jedoch stellte das Gericht in seinem Urteil die Verfassungsfeindlichkeit der NPD fest. Diese Feststellung stützte das BVerfG im Wesentlichen darauf, dass die Partei nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebe. Dies wiederum liege insbesondere darin begründet, dass ihr politisches Konzept nicht mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar sei. Hier wiederholte das Gericht zunächst die aus früheren Entscheidungen entnommenen Ausführungen zum Schutzgehalt der Menschenwürde, um dann zusammenfassend zu betonen, dass die Menschenwürde insbesondere „die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit“ umfasse.98 Bemerkenswert an dem Urteil ist jedoch vor allem, dass aus der Perspektive des Gerichts allein die Menschenwürdegarantie den Ausgangspunkt der freiheitlich demokratischen Grundordnung bildet, während die weiteren Grundsätze wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit letztlich nur als Ausgestaltungen des Menschenwürdeprinzips betrachtet werden.99 Mag bei der Urteilsanalyse eine Analogie zu den vorangegangenen Parteiverbotsverfahren insgesamt noch so nahe liegen,100 muss dies dennoch als Klarstellung, wenn nicht gar Weiterentwicklung der Dogmatik zu Art. 21 Abs. 2 GG gesehen werden, da sich in den Verfahren gegen SRP und KPD jedenfalls keine vergleichbar klare Hierarchie zwischen den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzeichnete. Überdeutlich kommt in diesen Ausführungen aber die Bedeutung der Menschenwürdegarantie als Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes schlechthin zum Ausdruck.101

V. Vorläufiges Ende der Entwicklung? Zuletzt könnte die Garantie der Menschenwürde damit in ihrer Bedeutung wieder dort angekommen sein, wo sie einmal vor 60 Jahren ihren Anfang nahm: als ein98

BVerfGE 144, 20 (207) – Parteiverbotsverfahren (NPD). BVerfGE 144, 20 (203) – Parteiverbotsverfahren (NPD). 100 Wenngleich diese sich im Ergebnis, dem Parteiverbot, dann doch deutlich von dem in Rede stehenden Urteil unterscheiden. 101 Ähnlich gelagert war die Konstellation bereits in der Lissabon-Entscheidung des BVerfG, BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon. Hier entfaltete das Gericht das Demokratieprinzip von der Menschenwürdegarantie ausgehend wie folgt: „Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert.“ Zum Verhältnis zwischen Demokratieprinzip und Menschenwürde im Lissabon-Urteil s. Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, 872 (873); grundlegend Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 539 ff. 99

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

heitsstiftende Leitformel, mit der sich die wehrhafte Demokratie von ihren Feinden abgrenzt und die eine Integrations- und Identifikationsfläche für das demokratische Gemeinwesen bereithält. Der Unterschied besteht nunmehr freilich darin, dass sich ihre Bedeutung, vor allem aber ihre Wirkungsweise darin allein nicht mehr erschöpfen. Ihr Gehalt ist vielmehr durch die hier skizzierte Entwicklung um den Charakter als echtes Grundrecht angereichert und auch darüber hinaus ist sie – nunmehr auch explizit – zum Sinnmittelpunkt des Grundgesetzes schlechthin erwachsen.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH: Anfängliche Zurückhaltung und zunehmende Grundrechtskontrolle Die Rechtsprechung des EuGH zur Menschenwürde ist gemessen an der Rechtsprechungstradition des BVerfG als deutlich spärlicher zu bewerten. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Anzahl der behandelten Fälle als auch auf die Tiefe der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Menschenwürde. Insgesamt fehlt es daher an einer vergleichbaren Entwicklung der Würderechtsprechung. Gleichwohl haben sich mit der Zeit auch für den EuGH Gelegenheiten ergeben, den Begriff der Menschenwürde näher zu konturieren, sodass sich erste Ansätze eines europäischen Menschenwürdeverständnisses abzeichnen.

I. Vor der Kodifizierung der Charta: Nur lose Bezugnahme auf die Menschenwürde Aus der Zeit vor der Kodifizierung der Grundrechtecharta ist lediglich die Transsexuellen-Entscheidung aus dem Jahr 1996102 dasjenige Urteil des EuGH, das zumindest eine lose Bezugnahme auf die Menschenwürde enthält.103 Das Gericht hatte darin über die Vereinbarkeit der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, die aufgrund einer Geschlechtsumwandlung des Arbeitnehmers erging, mit der Richtlinie RL 76/207/EWG zu entscheiden. Die Richtlinie enthielt in 102 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle. 103 Die für das europäische Grundrechtssystem im Allgemeinen wichtige Entscheidung Stauder aus dem Jahr 1969 (EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. C-29/69, ECLI:EU:C:1969:57, Slg. 1969, 419 – Stauder) mit der der Gerichtshof erstmalig auch Grundrechte der Person als Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung klassifizierte, enthält trotz eines Würdebezugs des zugrundeliegenden Sachverhalts – auf das Würdeargument stützte sich auch die wesentliche Argumentation der Klägerseite – keine Bezugnahme des EuGH auf die Menschenwürde.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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Art. 5 Abs. 1 ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts.104 Der EuGH erklärte die Richtlinie zunächst mit der Begründung für anwendbar, dass die Richtlinie auch für Diskriminierungen gelte, deren Ursache eine Geschlechtsumwandlung darstellt, da solche Diskriminierungen hauptsächlich auf dem Geschlecht des Betroffenen beruhten.105 Ferner konstatierte der Gerichtshof, dass in der Entlassung aufgrund einer Geschlechtsumwandlung eine Schlechterstellung gegenüber den Angehörigen des Geschlechts liege, dem die Person vor der Umwandlung angehörte.106 Daher urteilte der EuGH, dass die Tolerierung einer solchen Diskriminierung Transsexueller aufgrund des Geschlechts darauf hinausliefe, „daß gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstoßen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muß“.107 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie stand nach Auffassung des Gerichtshofs der Entlassung daher im Ergebnis entgegen. Dieser kurzen Bestimmung einer Verletzung folgten keine weiteren expliziten Ausführungen des Gerichtshofs zur Menschenwürde. Aussagen über den Inhalt eines europäischen Menschenwürdeverständnisses lassen sich daher nur insoweit ziehen, als die Menschenwürde hier jedenfalls in enge Verbindung zum allgemeinen Gleichheitsgebot auf der einen sowie zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht des Menschen auf der anderen Seite gebracht wurde. Daneben geben die Formulierungen, die Person habe einen „Anspruch“ auf Achtung ihrer Würde und der Gerichtshof müsse diese Würde „schützen“, erste Sympathien des Gerichtshofs für die Anerkennung einer Achtungs- und Schutzplichtendimension auch in seiner Rechtsprechung zu erkennen.108 Jedenfalls waren damit vom EuGH bereits vor Kodifizierung der Charta die Achtungs- und Schutzdimension und damit die beiden Dimensionen der Menschenwürde angesprochen, die auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegt sind. Dies muss zwar nicht zwangsläufig als „Nachahmung“ der grundgesetzlichen Würdekonzeption verstanden werden. Jedoch bestand damit bereits in diesem frühen Stadium zumindest eine grundsätzliche Vergleichbarkeit des deutschen und unionalen Würdeverständnisses.

104

Artikel 5 Abs. 1 der RL 76/207/EWG lautet: „Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung auf Grund des Geschlechts gewährt werden.“ 105 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle, Rn. 21. 106 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle, Rn. 21. 107 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle, Rn. 22. 108 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle, Rn. 22.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

II. Menschenwürde als objektives Instrumentalisierungsverbot Die bis heute zentrale Aussage des Gerichtshofs zum Inhalt der europäischen Menschenwürdegarantie besteht in ihrer Einordnung als Instrumentalisierungsverbot, was in seinen Urteilen zur Biopatentrichtlinie sowie in Ansätzen auch im Laserdrome-Urteil zum Ausdruck kam. 1. Biopatentrichtlinie I Die Entscheidung zur Biopatentrichtlinie erging im Jahr 2001.109 Dem Gerichtshof wurde hier im Rahmen einer Nichtigkeitsklage die Frage der Vereinbarkeit der Richtlinie 98/44/EG110 mit den europäischen Grundrechten, insbesondere der Menschenwürde, vorgelegt. Gemäß dieser Richtlinie waren die Mitgliedstaaten verpflichtet worden, biotechnologische Erfindungen nach nationalem Patentrecht zu schützen. Von der Patentierbarkeit ausgeschlossen war dabei gem. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie unter anderem der menschliche Körper als solcher; dagegen unterlagen gem. Art. 5 Abs. 2 isolierte Bestandteile des menschlichen Körpers nicht einem Verbot der Patentierbarkeit. Hierin sah das klagende Königreich Niederlande eine Verletzung der Menschenwürde, drohte doch aus seiner Sicht durch eine mögliche Patentierung isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers, dass lebende menschliche Materie zum Objekt gemacht werde.111 Der EuGH stellte hier zunächst grundlegend fest, dass ihm bei der Überprüfung der Handlungen der Organe anhand der Grundsätze des Gemeinschaftsrechts „die Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person“ obliege.112 Sodann erläuterte er, dass es zur Erteilung eines Patents zwingend notwendig sei, dass es sich bei dem zu patentierenden Gegenstand tatsächlich um eine Erfindung handele, die einen natürlichen Bestandteil mit einem technischen Verfahren verknüpfe, durch das dieser isoliert oder reproduziert werden könne – dann, und nur dann, wenn ein natürlicher Bestandteil des menschlichen Körpers so mit einem technischen Verfahren verknüpft werde, könne dieses Erzeugnis durch ein

109 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie. 110 RL 98/44/EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl. L 213/ 13 v. 6. 7. 1998. 111 S. die Schlussanträge des GA Jacobs zu C-377/98 v. 14. 06. 2001, ECLI:EU:C:2001:329, Slg. 2001, I-7079, Rn. 190: „Erstens bestimme Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie, dass ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers patentierbar sei. Das Recht auf Menschenwürde werde vom Gerichtshof als Grundrecht anerkannt. Der menschliche Körper sei Vermittler der Menschenwürde. Unter dem Blickwinkel der Menschenwürde sei es unannehmbar, lebende menschliche Materie zum Objekt zu machen.“ 112 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 70.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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Patent geschützt werden.113 Im Übrigen könnten der menschliche Körper bzw. seine Teile in ihrer natürlichen Umgebung nicht Gegenstand einer Aneignung sein.114 Dies gelte schließlich auch für Arbeiten an Sequenzen oder Teilsequenzen des menschlichen Genoms. Überdies biete, so der Gerichtshof, Artikel 6 der Richtlinie zusätzliche Sicherheit, da hiernach Verfahren zum Klonen, zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken nicht patentierbar seien.115 Insgesamt sei das Patentrecht daher durch die Richtlinie so eng gefasst, dass „der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt“ werde.116 Bei dem Urteil fällt zunächst auf, dass der EuGH im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen die Menschenwürde nicht auf die Verbürgung in Art. 1 GrCh rekurrierte. Dies ist insofern erstaunlich, als der Generalanwalt zuvor noch ausdrücklich auf die Grundrechtecharta Bezug nahm.117 Es lässt sich aber möglicherweise damit erklären, dass es dem noch jungen Regelwerk zu dieser Zeit an Rechtsverbindlichkeit mangelte und der Gerichtshof in dieser Hinsicht offenbar Vorsicht walten lassen wollte.118 Des Weiteren ließ sich der EuGH auch nicht darauf ein, abstrakte Erläuterungen zur Menschenwürde vorzunehmen,119 vielmehr beschränkte er sich auf die Feststellung der Nichtverletzung im vorliegenden Fall. Es fällt weiter auf, dass der Gerichtshof – insoweit konträr zu den Schlussanträgen von GA Jacobs, aber auch in Distanzierung von der Transsexuellen-Entscheidung – zumindest in der deutschsprachigen Urteilsfassung auch nicht von einem „Recht“ bzw. „Anspruch“ auf Achtung der Menschenwürde spricht, sondern lediglich die „Beachtung“ der Menschenwürde einfordert, die er überdies gleich neben das

113 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 72. 114 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 73. 115 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 76. 116 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 77. 117 Schlussanträge des GA Jacobs zu C-377/98 v. 14. 06. 2001, ECLI:EU:C:2001:329, Slg. 2001, I-7079 (7084), Rn. 197. 118 Näher Calliess/Meiser, Menschenwürde und Biotechnologie: Die EG-Biopatentrichtlinie auf dem Prüfstand des europäischen Verfassungsrechts, JuS 2002, 426 (428). Dass der EuGH der Sache nach dennoch das von ihm entwickelte Grundrechtssystem der verfassungsrechtlichen Entwicklung „nachführt“ skizziert Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 (2449). 119 Auch dies in der Tendenz entgegen den Äußerungen des Generalanwalts im konkreten Fall, die freilich dennoch als spärlich zu beurteilen sind: „Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist vielleicht das grundlegendste Recht von allen“, vgl. Schlussanträge des GA Jacobs zu C-377/98 v. 14. 06. 2001, ECLI:EU:C:2001:329, Slg. 2001, I-7079 (7140), Rn. 197.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

„Grundrecht auf Unversehrtheit der Person“ stellt.120 Dies sollte zwar, wie seine später ergangene Rechtsprechung zeigt, keine generelle Absage an den subjektivrechtlichen Charakter des Menschenwürdesatzes bedeuten; zur Konsistenz des unionalen Grundrechtsschutzes und der Grundrechtejudikatur des Gerichtshofs trugen diese unterschiedlichen Formulierungen aber nicht bei. Dessen unbenommen ist die Entscheidung von ihrem Gewicht her als Meilenstein nicht nur der europäischen Grundrechtejudikatur, sondern auch in der Entwicklung einer europäischen Wertegemeinschaft zu verstehen, da erst durch sie die Anerkennung der Menschenwürde als objektive Verfassungsnorm der Union erfolgt ist. In der Sache resultiert ihre Bedeutung vor allem aber aus dem Umstand, dass der EuGH die Menschenwürde hier erstmalig operationalisiert und als verbindlichen und handhabbaren Prüfungsmaßstab etabliert hat. Bei einem Blick auf seine Wortwahl könnte der Eindruck entstehen, dass die Menschenwürde auch für den EuGH im Sinne der Subjekt-/Objektformel des BVerfG zu verstehen ist, diese also auch im Verständnis des Gerichtshofs die entscheidende Methode zur Bestimmung eines Menschenwürdeverstoßes bilden soll.121 Bei genauerer Untersuchung des Urteils bestätigt sich dieser Eindruck jedoch nicht. Der Gerichtshof zog die Objektformel gerade nicht als Prüfungsmaßstab heran, und dies, obwohl sie im Vorbringen der Klägerin (Königreich Niederlande) noch als zentraler Argumentationsanker für einen Menschenwürdeverstoß gedient hatte und ihre Anwendung, zumindest aber ihre Erwähnung, daher grundsätzlich nahelag.122 Stattdessen beschränkte er sein Prüfprogramm durch Anführung der Maßstäbe der „Unverfügbarkeit und Unveräußerlichkeit des menschlichen Körpers“ im Kern auf die Einhaltung eines reinen Instrumentalisierungs- bzw. Kommerzialisierungsverbots.123 Darin liegt zwar ein mit der Subjekt-/Objektformel strukturell vergleichbares Instrumentarium, zumal die Subjekt-/Objektformel sowohl ein Instrumentalisie120

Dagegen lautet die englischsprachige Fassung: „the fundamental right to human dignity and integrity“, die französischsprachige: „droit fondamental à la dignité humaine et à l’intégrité de la personne“. 121 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 73: „Bestandteile des menschlichen Körpers als Gegenstand einer Aneignung“; Rn. 77: „Unverfügbarkeit und Unveräußerlichkeit des menschlichen Körpers“. 122 Zumindest das Klägervorbringen in den deutschsprachigen Schlussanträgen enthält eine Bezugnahme auf die Objektformel (Rn. 190); dagegen lautete die englischsprachige Formulierung des Klägervorbringens in den Schlussanträgen: „Making living human matter an instrument is not acceptable from the point of view of human dignity.“ Der Gerichtshof deutet denn auch in der deutschsprachigen Urteilsfassung (Rn. 69) das Klägervorbingen wie folgt: „Nach Ansicht des Klägers bedeutet die aus Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie folgende Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers eine Instrumentalisierung lebender menschlicher Materie, die die Menschenwürde verletzt.“ 123 Näher Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 479 ff., der zeigt, dass dieses Würdeverständnis auch dem der Kommission entsprochen hat. S. auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 88; skeptisch hinsichtlich des Instrumentalisierungsverbots, da im vorliegenden Fall nur das Kommerzialisierungsverbot Bedeutung erlangt habe, Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 88.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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rungs- als auch ein Kommerzialisierungsverbot beinhalten und ihre Anwendung in vielen Fällen daher auch ähnlich gelagerte Ergebnisse zeitigen dürfte. Gleichwohl besteht zwischen beiden Ausprägungen ein bedeutender Unterschied, der darin liegt, dass das Instrumentalisierungsverbot materiell als ein Weniger gegenüber der Subjekt-/Objektformel zu begreifen ist, wie noch näher zu zeigen sein wird.124 2. Omega-Spielhallen / Laserdrome Drei Jahre nach dem Urteil zur Biopatentrichtlinie sollte ein weiteres Urteil des EuGH zur Menschenwürde vor allem in der deutschen Rechtswissenschaft Aufmerksamkeit erregen.125 Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens hatte der Gerichtshof im Jahr 2004 zu entscheiden, ob eine Ordnungsverfügung der Stadt Bonn gegen einen Spielhallenbetreiber, mit der diesem das Abhalten von simulierten Tötungshandlungen in Form eines entgeltlichen Spiels (sog. Laserdrome) untersagt worden war, mit dem Gemeinschaftsrecht, konkret der Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EG, vereinbar sei. Die Untersagungsverfügung war von der Stadt Bonn damit begründet worden, dass die betroffene Betätigung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle, „weil die simulierten Tötungshandlungen und die damit einhergehende Verharmlosung von Gewalt gegen die grundlegenden Wertvorstellungen der Allgemeinheit verstießen“126. Das BVerwG war, wie auch die zunächst zuständigen Gerichte VG Köln und OVG NRW, zustimmend davon ausgegangen, dass die gewerbliche Veranstaltung eines „gespielten Tötens“ im „Laserdrome“ die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürde verletzte, begehrte jedoch eine Entscheidung des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit des Verbots mit dem Gemeinschaftsrecht.127 Als möglichen Rechtfertigungsgrund für das Verbot zog der EuGH Art. 46 EG (alt) und die dort aufgeführten „Gründe der öffentlichen Ordnung“ heran. Nachdem der Gerichtshof die einhellige Auffassung der zuständigen Behörde sowie der mit der Sache betrauten Gerichte hinsichtlich eines Würdeverstoßes betonte, wandte er sich im Folgenden der europäischen Grundrechtsebene zu. Diesbezüglich legte er dar, dass die unionalen Grundrechte, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe, sowie die Gemeinschaftsrechtsordnung als solche „unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ abzielten.128 In einer im Anschluss daran stattfindenden knappen Verhältnismäßigkeitsprüfung stellte er schließlich fest, dass das Verbot mit dem Gemeinschaftsrecht 124

S. u. Kapitel 4 B. V. EuGH, Urt. v. 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614, Slg. 2004, I-09609 – Omega-Spielhallen. 126 EuGH, Urt. v. 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614, Slg. 2004, I-09609 – Omega-Spielhallen, Rn. 7. 127 BVerwG Beschluss v. 24. 10. 2001, BVerwG 6 C 3.01, 2. Leitsätze 2 und 3. 128 EuGH, Urt. v. 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614, Slg. 2004, I-09609 – Omega-Spielhallen, Rn. 33 f. 125

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

vereinbar sei – und zwar auch dann, wenn die Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten, wie etwa in Großbritannien, erlaubt sei. Mit Blick auf die Menschenwürdegarantie fällt in dem Urteil zunächst auf, dass der EuGH im vorliegenden Fall wie bereits bei seiner Entscheidung zur Biopatentrichtlinie die Menschenwürde nicht als Individualgrundrecht, sondern als überindividuellen objektiven Rechtsgrundsatz und als Wertprinzip von Verfassungsrang prüfte. Die individualgrundrechtliche Dimension der Menschenwürde nahm er in seinem Urteil – wie schon in der Entscheidung zur Biopatentrichtlinie und im Gegensatz zur deutschen Generalanwältin Stix-Hackl129 – nicht zum argumentativen Bezugspunkt, wie er auch jede Bezugnahme auf die Charta im Allgemeinen und Art. 1 Abs. 1 GrCh im Speziellen vermied.130 Das muss verwundern, da die Proklamation der Charta zum Urteilszeitpunkt bereits vier Jahre zurücklag und ihr Inkrafttreten mit dem 2004 begonnenen Ratifizierungsprozess des Europäischen Verfassungsvertrages bereits in Aussicht stand. In der Sache lässt im vorliegenden Urteil vor allem der weite Ermessensspielraum aufmerken, der den Mitgliedstaaten von Seiten des EuGH eingeräumt wurde. Danach war es aus Sicht des Gerichtshofs in Anbetracht unterschiedlicher nationaler Wertvorstellungen im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass die Tätigkeit in einem Mitgliedstaat erlaubt, in einem anderen dagegen verboten war. Zu diesem Schluss gelangte der Gerichtshof, indem er die Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, hier der Menschenwürde, zwar auf ihren legitimen Zweck hin überprüfte, es im Anschluss daran jedoch bei kurzen Erwägungen zur Erforderlichkeit der behördlichen Untersagung beließ. Unter dem Gesichtspunkt des legitimen Zwecks bejahte der Gerichtshof dabei zunächst die Legitimität des nationalen Schutzes der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde unter Verweis darauf, dass auch die Gemeinschaftsrechtsordnung auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes abziele.131 In der Sache beschränkte er seine Prüfung jedoch auf die Feststellung, dass die in Rede stehenden Rechtsordnungen in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung und in ihren Zielen des Menschenwürdeschutzes korrespondieren. Die im Anschluss vorgenommene Erforderlichkeitsprüfung erschöpft sich ebenfalls in nur knappen Ausführungen dazu, dass die von der Behörde und den nationalen Gerichten vorgenommene Wertung des Spiels als menschenwürdeverletzend dem vorherrschenden (nationalen) 129

Schlussanträge der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU: C:2004:162, Slg. 2004, I-9611, Rn. 91. 130 Stattdessen führt ein Passus im Urteil (Rn. 34) zu der Vermutung, dass der Gerichtshof eher nicht von einem Grundrechtscharakter der Menschenwürde auf europäischer Ebene auszugehen schien: „Somit ist das Ziel, die Menschenwürde zu schützen, unzweifelhaft mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, ohne dass es insoweit eine Rolle spielt, dass in Deutschland dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines selbständigen Grundrechts zukommt.“ 131 EuGH, Urt. v. 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614, Slg. 2004, I-09609 – Omega-Spielhallen, Rn. 34.

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Menschenwürdeverständnis entspräche. In der Sache stellt die Prüfung der Erforderlichkeit daher nicht mehr als eine Plausibilitätsprüfung dar. Eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung nach deutschem Vorbild enthält die Prüfung des Gerichtshofs daher nicht. Die Vorteile dieses zurückhaltenden Ansatzes liegen auf der Hand: Insgesamt vermied der EuGH damit eine Harmonisierung von Moralvorstellungen unter Bezugnahme auf die Menschenwürde, die bei einem umfangreicheren Prüfprogramm wohl zur unvermeidlichen Folge geworden wäre. Auch wäre eine Divergenz im Hinblick auf die Erlaubtheit der Maßnahme zwischen Großbritannien auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite kaum aufrecht zu erhalten gewesen, sodass die Lösung des EuGH auch der Vielfalt der Rechtsordnungen und ihrem jeweiligen Proprium Rechnung tragen konnte.132 Dass die „ethische Hoheit“ in Fragen der Menschenwürde so bei den Nationalstaaten verbleiben konnte und mitgliedstaatliche Wertungen in diesem Kontext ihre Bedeutung behielten, dürfte zuletzt auch ein Movens für den Gerichtshof gewesen sein, Legitimitätsproblemen der Union im Ganzen entgegenzuwirken und den Vorwurf einer (ethischen und moralischen) Unitarisierung bereits im Keim zu ersticken.133 Umgekehrt bringt die Lösung jedoch auch Probleme mit sich. Zunächst geht sie zu Lasten einer zu dieser Zeit im Entstehen begriffenen unionalen Grundrechtsdogmatik, da die Prüfung im Einzelnen nicht tiefgehend ist und die angedeutete Verhältnismäßigkeitsprüfung zudem nur bruchstückhaft erfolgt – unklar bleibt letztlich, ob das Laserdrome in der verhandelten Form nun im Einklang mit den Unionsgrundrechten steht oder nicht. Darüber bleiben mit der Lösung des Gerichtshofs notwendigerweise auch die genauen oder auch nur ungefähren Umrisse des europäischen Menschenwürdebegriffs blass, die sich insbesondere bei der Frage des legitimen Zwecks hätten zeichnen lassen.134 Auch bleibt gerade angesichts der bestehenden (und vom Gerichtshof unbeanstandeten) Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten die Frage offen, wie weit der europäische Grundrechtsschutz der Sache nach reichen und wie es um seine Konsistenz auf Dauer bestellt sein soll. In Anbetracht dieser Umstände wird deutlich, dass sich der EuGH mit der Anknüpfung des Problems an die Menschenwürde insgesamt keinen Gefallen getan hat.135 132 Dieses reduzierte Prüfprogramm daher befürwortend Brigola, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gefüge der EU-Grundfreiheiten – Steuerungsinstrument oder Risikofaktor?, EuZW 2017, 406 (407). 133 Die Gefahr einer Delegitimierung in diesem Kontext sieht Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 2. 134 Die Nichtbeanstandung des Verbots durch den EuGH fügt sich zumindest insoweit in das Verständnis des Gerichtshofs von der Menschenwürde als Instrumentalisierungsverbot, als die simulierte Tötung des Menschen diesen auf ein Objekt (spielerischer) Gewalt reduziert, er dadurch als ein zu beseitigendes Element instrumentalisiert wird. 135 Dass der EuGH das Problem mit der Anknüpfung an die Menschenwürde insgesamt zu hoch gehängt hat, wurde wurde in der deutschen Diskussion bereits vielfach vorgebracht, s. etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 152 m.w.N.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

Rückschlüsse auf den Wesens- und Gewährleistungsgehalt des europäischen Würdebegriffs könnten sich angesichts der spärlichen Ausführungen des Gerichtshofs allenfalls noch mit Blick auf die Schlussanträge der Generalanwältin ergeben, die der EuGH mit einem kurzen Verweis in sein Urteil inkorporiert hat, ohne jedoch darzulegen, inwieweit er sich die Ausführungen tatsächlich zu eigen machen wollte.136 Eine umfassende Vereinnahmung der Schlussanträge durch den EuGH scheint zumindest unwahrscheinlich. Zwar enthalten die Ausführungen der deutschen Generalanwältin in der Sache Erläuterungen zum europäischen Menschenwürdebegriff und dem Verhältnis zwischen dem grundgesetzlichen und unionsrechtlichen Würdeverständnis. Was jedoch den Inhalt des europäischen Menschenwürdebegriffs anbelangt, erstaunen die Ausführungen insoweit, als es sich durchgängig um Wesensmerkmale der Menschenwürde handelt, die der deutschen Grundrechtsdogmatik und insbesondere der Rechtsprechung des BVerfG entnommen sind.137 Gestützt werden diese Ausführungen auf Quellen aus der deutschsprachigen Literatur. Die weitgehende Identifikation der beiden Menschenwürdekonzepte dürfte jedoch nicht nur beim Gerichtshof auf Widerstand gestoßen sein – auch die Generalanwältin selbst relativierte die vorangegangenen Aussagen sogleich und warnte vor der Annahme einer weitgehenden Übereinstimmung des unionalen mit dem grundgesetzlichen Würdebegriff.138 Im Ganzen bleiben die Umrisse eines europäischen Menschenwürdebegriffs daher auch nach der Laserdrome-Entscheidung unklar. Dass aus Sicht der befassten Gerichte im konkreten Fall sowohl europarechtlich wie auch grundgesetzlich ein Verbot des Laserdrome gerechtfertigt erschien, lässt den vorsichtigen Schluss zu, dass zumindest im Hinblick auf die vorliegende Konstellation, der simulierten Tötungshandlung an Menschen in Form eines Spiels, der unionale wie der grundgesetzliche Menschenwürdestandard als gleich angesehen werden kann.139 136

EuGH, Urt. v. 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, ECLI:EU:C:2004:614, Slg. 2004, I-09609 – Omega-Spielhallen, Rn. 34: „Wie die Generalanwältin in den Nummern 82 bis 91 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, zielt die Gemeinschaftsrechtsordnung unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab.“ 137 Schlussanträge der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU: C:2004:162, Slg. 2004, I-9611 (I-9630 ff.), Rn. 74 ff.; dabei lässt die Generalanwältin – unter Bezugnahme auf die deutschsprachige Literatur – weder die Subjekt-/Objektformel des BVerfG, noch das der Menschenwürde vorgelagerte „Menschenbild“ unerwähnt. 138 Schlussanträge der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU: C:2004:162, Slg. 2004, I-9611 (9635) Rn. 92: „Aufgrund des ausfüllungs-bedürftigen Charakters des Begriffes der Menschenwürde dürfte es dem Gerichtshof im vorliegenden Fall – anders als im Urteil Schmidberger – aber kaum möglich sein, den Gewährungsinhalt der Menschenwürdegarantie des deutschen Grundgesetzes mit demjenigen der Garantie der Menschenwürde, wie sie vom Gemeinschaftsrecht anerkannt wird, ohne weiteres gleichzustellen.“ 139 So auch die Einschätzung bei Bröhmer, Zulässige Untersagung eines Tötungsspiels, Anm. zu EuGH Urteil Rs. C-36/02, EuZW 2004, 753 (757). Nach dieser Lösung stände freilich die Erlaubtheit des Spiels in Großbritannien mit der unionsrechtlichen Würdegarantie in Widerspruch.

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Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Entscheidung vor allem zum Umgang des Gerichtshofs mit der Menschenwürdegarantie, und dies besonders im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der grundgesetzlichen und der unionalen Ebene, Bedeutung besitzt. Dem Gerichtshof gelang hier jedenfalls eine Konfliktvermeidung zwischen der unionsrechtlichen und der mitgliedstaatlichen Ebene, die ihrerseits jedoch einen Preis hatte. Schließlich fehlen Ausführungen zur inhaltlichen Ausgestaltung sowie zum Wesensgehalt eines europäischen Menschenwürdebegriffs nahezu vollständig, wenn man von den inkorporierten Ausführungen der Generalanwältin absieht. Deren Gehalt bleibt im Einzelnen ohnehin unklar und dürfte tendenziell als eher gering zu bemessen sein. 3. Biopatentrichtlinie II Die Thematik Biomedizin, die bereits im Verfahren zur Biopatentrichtlinie den Streitgegenstand bildete, sollte dem Gerichtshof im Jahre 2011 und damit zehn Jahre später erneut Gelegenheit zu einer wegweisenden Entscheidung geben.140 Grundlage des Rechtsstreits vor dem BGH bildete ein an den Stammzellforscher Peter Brüstle erteiltes Patent zur Herstellung menschlicher Nervenzellen und dessen Vereinbarkeit mit der Verbotsklausel des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG141. Das Verfahren zur Herstellung der menschlichen Nervenzellen beginnt mit der Entnahme embryonaler Stammzellen aus einer befruchteten menschlichen Eizelle und deren anschließender Kultivierung zu einer Stammzelllinie. Die so hergestellten Vorläuferzellen des Gehirns können sodann in das Nervensystem transplantiert werden. Das Verfahren hat dabei zum Ziel, Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Parkinson zu heilen. Die Entnahme der embryonalen Stammzellen führt zur Zerstörung des jeweiligen Organismus. Da das deutsche PatG der Umsetzung der Richtlinie 98/44/EG diente, hing die Vereinbarkeit des Patents mit dem PatG nach Auffassung des BGH nun unter anderem entscheidend davon ab, wie der Begriff „menschlicher Embryo“ in Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44/EG auszulegen sei. Dies bot dem Gerichtshof nun erstmalig die Gelegenheit, sich dem Begriff „Embryo“ im Bereich des Patentrechts anzunähern und diesen zu definieren. Dabei stellte der EUGH fest, dass es zur einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes notwendig sei, den Begriff „Embryo“ in der Richtlinie als autonomen Rechtsbegriff des Unionsrechts zu betrachten, der im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen sei.142 Neben der sodann anzufindenden Wiederholung der Leitsätze aus Rs. C-377/98 sowie der Betonung des Ziels der Richtlinie, die Menschenwürde und 140 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace. 141 § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 PatG lautet: „Insbesondere werden Patente nicht erteilt für die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken.“ 142 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 26.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

Unversehrtheit menschlichen Lebens zu gewährleisten, lässt im Folgenden vor allem die Aussage des EuGH hinsichtlich der Reichweite des gebotenen Schutzes aufhorchen: So ließen „der Zusammenhang und das Ziel der Richtlinie […] erkennen, dass der Unionsgesetzgeber jede Möglichkeit der Patentierung ausschließen wollte, sobald die der Menschenwürde geschuldete Achtung dadurch beeinträchtigt werden könnte“143. Daraus folge, so der Gerichtshof, dass der Begriff des menschlichen Embryos im Sinne der Richtlinie weit auszulegen sei.144 Insgesamt sei daher „jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist, und jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist“ vom Begriff „menschlicher Embryo“ i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie umfasst.145 Schließlich urteilte der EuGH in seinem zweiten Leitsatz, dass auch die Verwendung menschlicher Embryonen zu wissenschaftlichen Zwecken vom Ausschluss der Patentierung nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 erfasst sei.146 Das Urteil des EuGH wurde in der deutschen Fachwelt wie in der Öffentlichkeit kontrovers aufgenommen. Gegner der so betriebenen Stammzellforschung, unter ihnen etwa eine Koalition von Greenpeace und Vertretern kirchlicher Einrichtungen, begrüßten die Lesart des Gerichtshofs und die entschlossene Wendung gegen eine die Menschenwürde und das Lebensrecht von Embryonen beeinträchtigende Forschung. Einige Vertreter dieser Positionen sahen in der Entscheidung schon die Frage der Rechtsträgerschaft von Embryonen geklärt.147 Dagegen formierte sich – vor allem von patentrechtlicher Warte148 – Widerstand gegen das Urteil des EuGH, das, was den Begriff „Embryo“ anbelangt, zwar allein im Hinblick auf das Patentrecht Wirkungen zeitigte, dessen Wirkungen von den Kritikern gerade hier jedoch als gravierend und rückschrittlich für die Forschung an Embryonen zu Heilungswecken angesehen wurden.149 143

EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 34. 144 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 34. 145 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 38. 146 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 46: Erlaubt sei eine Patentierung danach nur dann, wenn es sich bei der Verwendung um eine Verwendung zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken handelt, die auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen anwendbar ist. 147 S. etwa die Pressemitteilung des Vereins Christdemokraten für das Leben, http:// www.cdl-rlp.de/Pressespiegel/Text/CDL-2011 – 10 – 18.html. 148 T. Groh, Anmerkung zu EuGH (Große Kammer), Urt. v. 18. 10. 2011 @ C-34/10 (Oliver Brüstle/Greenpeace e. V.), EuZW 2011, 910 (912). 149 S. etwa Taupitz, Menschenwürde von Embryonen – europäisch-patentrechtlich betrachtet. Besprechung zu EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011 – C-34/10 – Brüstle/Greenpeace, GRUR 2012, 1 (4 f.)

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Beide Positionen sind zu relativieren. Auf der einen Seite sendet das Urteil des EuGH in seiner Prägnanz und Entschiedenheit ein deutliches Signal in Richtung Menschenwürde- und Lebensschutz in der Europäischen Union. Gleichzeitig sind die Leitsätze des Urteils durch das Patentrecht eben thematisch eingehegt und können daher nicht ohne weiteres auf andere Felder ausgedehnt werden – auf die patentrechtliche „Färbung“ des Embryonenbegriffs weist der EuGH schließlich selbst an mehreren Stellen des Urteils hin.150 Umgekehrt kann auch der Auffassung, das Urteil entfalte außerhalb patentrechtlicher Fragestellungen keinerlei Wirkung, nicht zugestimmt werden. Dass der Gerichtshof hier in einer für seine Verhältnisse besonders eindeutigen Sprache die denkbar engste Lesart zur Auslegung der Richtlinie und des Embryonenbegriffs anlegte und in vorab kaum zu erwartender Deutlichkeit den sich über das Patentrecht entfaltenden Schutz von Embryonen vom frühestmöglichen Zeitpunkt an als geboten ansah, wird man allgemein als starkes Signal in Richtung eines umfassenden und absoluten Menschenwürdeschutzes auch frühesten menschlichen Lebens deuten müssen.151 Mit dem Urteil hat der Gerichtshof jedenfalls einen Maßstab gesetzt, an dem sich jede Abweichung auch auf anderen Rechtsgebieten messen lassen muss.152 Insgesamt wurde im Urteil das aus der ersten Entscheidung zur Biopatentrichtlinie bekannte Instrumentalisierungs- und Kommerzialisierungsverbot zwar nicht explizit angesprochen, sodass auch keine inhaltlichen Neuerungen oder Erweiterungen hierzu erfolgt sind. Jedoch ergänzt es die vorangegangenen Ausführungen zum Würdeschutz insoweit, als es Vorgaben über das zeitliche Einsetzen dieses Schutzes und damit des Instrumentalisierungsverbots enthält. Abermals kam der Menschenwürde in der Entscheidung des Gerichtshofs die Rolle eines die Auslegung des Sekundärrechts anleitenden Grundsatzes zu, während ihre individualrechtliche Seite vom Gerichtshof ebenso wenig beleuchtet wurde wie ihre Kodifikation in der Charta.

150

Siehe hierzu etwa Rn. 24, 30, 40 des Urteils. Eine „bereichsübergreifende Tendenz“ des Urteils für den unionsrechtlichen Menschenwürde- und Lebensschutz konstatiert auch Borowsky in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 37. 152 Schwarze, Die Abwägung von Zielen der europäischen Integration und mitgliedstaatlichen Interessen in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2013, 253 (259) spricht daher von einer Auslegung durch den Gerichtshof, die sich am höchsten auf mitgliedstaatlicher Ebene zu findenden Schutzniveau orientiert und in einer Entscheidung auf höchstem grundrechtlichen Niveau kulminiert. Gegen den Gedanken, die Wirkungen blieben auf das Patentrecht beschränkt, zurecht auch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 301 f. A.A. wohl Dederer, Human-embryonale Stammzellforschung vor dem Aus? – Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, EuR 2012, 336 (343 f.), der eine entsprechende Intention des EuGH, über das Patentrecht hinaus die Frage der Menschenwürde von Embryonen in der Europäischen Union zu klären, als nicht gegeben sieht; in diesem Sinne, insgesamt aber noch weitgehender Taupitz, Menschenwürde von Embryonen – europäischpatentrechtlich betrachtet. Besprechung zu EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011 – C-34/10 – Brüstle/ Greenpeace, GRUR 2012, 1 (4). 151

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

4. Biopatentrichtlinie III Ein weiteres Mal bildete die Biopatentrichtlinie den Streitgegenstand eines Urteils aus dem Dezember des Jahres 2014.153 Wieder ging es um die Auslegungsfrage, was unter dem Begriff „menschlicher Embryo“ aus Art. 6 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 98/44/EG zu verstehen sei. Vorliegend stellte sich diese jedoch im Hinblick auf unbefruchtete menschliche Eizellen, die durch chemisch-elektrische Aktivierung zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden sind, im Gegensatz zu befruchteten Eizellen lediglich pluripotente Zellen enthalten und nicht die Fähigkeit besitzen, sich zu einem Menschen zu entwickeln (sog. Parthenoten). Das britische Patentamt hatte mit Blick auf die Brüstle-Entscheidung des Gerichtshofs die Erteilung eines Patents auf Verfahren zur Herstellung von Stammzellen aus solchen Parthenoten im Jahr 2012 noch abgelehnt. Der mit der dagegen eingereichten Klage beschäftigte High Court of Justice legte dem EuGH nun die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob Parthenoten, soweit sie gerade nicht fähig seien, sich zu einem Menschen zu entwickeln, „menschliche Embryonen“ im Sinne der Richtlinie darstellten. Der EuGH verneinte diese Frage, stellte diese Verneinung jedoch unter die Bedingung, dass eine solche unbefruchtete Eizelle „im Licht der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht die inhärente Fähigkeit hat, sich zu einem Menschen zu entwickeln“154. Die Prüfung, ob eine solche Eizelle nicht doch die inhärente Fähigkeit besitzt, sich zu einem Menschen zu entwickeln, sei dabei Sache des nationalen Gerichts.155 Das Urteil des EuGH stellt eine wichtige Präzisierung und gleichzeitig eine Begrenzung, wenn nicht sogar Korrektur der vorangegangen Brüstle-Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2011 dar.156 Galten nach dieser Entscheidung jede befruchtete menschliche Eizelle wie auch jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, unterschiedslos als menschlicher Embryo im Sinne der Richtlinie, so kann diese Formel nach der vorliegenden Entscheidung in ihrer Einfachheit nicht bestehen bleiben, da letztere danach nicht unter den Embryonenbegriff fallen. Unklar bleibt nach der Entscheidung freilich, wie der EuGH das Verhältnis Embryo/Mensch bewertet, ob er insbesondere von einer kontinuierlichen Entwicklung des Menschen oder aber von einer stadienhaften Entwicklung vom Embryo zum 153

Cell.

EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014, Rs. C-364/13, ECLI:EU:C:2014:2451 – International Stem

154 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014, Rs. C-364/13, ECLI:EU:C:2014:2451 – International Stem Cell, Rn. 38. 155 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014, Rs. C-364/13, ECLI:EU:C:2014:2451 – International Stem Cell, Rn. 38. 156 Die Lesart als „Korrektur“ der vorangegangenen Entscheidung bei Dederer, Zellhaufen, Embryo, Mensch? Die jüngste Entscheidung des EuGH zu Stammzell-Patenten, VerfBlog, 2014/12/23, http://www.verfassungsblog.de/zellhaufen-embryo-mensch-die-juengste-entschei dung-des-eugh-zu-stammzell-patenten.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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Menschen ausgeht. Dies ist selbstredend entscheidend für die Frage der Rechtsträgerschaft von Embryonen, zumindest aber der (auch nur objektiven) Teilhabe am Lebens- und Würdeschutz. Man könnte aus der Formulierung „[Fähigkeit], sich zu einem Menschen entwickeln“ schließen, dass der Gerichtshof einen Embryo nicht als Menschen (im Sinne der Richtlinie) ansieht, da er ansonsten von der Fähigkeit der Entwicklung als Mensch hätte sprechen können oder sogar müssen.157 Auch in der englischen und französischen Sprachfassung des Urteils finden sich ähnliche Wendungen, sodass der Gedanke nicht lediglich mit Verweis auf einen „Übersetzungsfehler“ abgetan werden kann.158 Bei Zugrundelegung dieser Lesart der Entscheidung liefe es letztlich darauf hinaus, in ihr zugleich eine Entscheidung über die (Rechts-)Stellung des Embryos zu sehen, wonach dieser kein Mensch (im Sinne des Unionsrechts) wäre und daher auch nicht dem Schutz von Art. 2 Abs. 1 GrCh und Art. 1 Abs. 1 GrCh unterfiele. Indes ist dieser Schluss nicht zwingend. Schließlich spricht gegen diese Lesart der Umstand, dass die Formulierung der Entwicklungsmöglichkeit als Mensch schlicht nicht sinnvoll gewesen wäre, da eine solche voraussetzte, dass die Parthenote (zum Zeitpunkt ihrer Aktivierung) jedenfalls einmal die Eigenschaften eines Menschen gehabt haben müsste. Dies ist aber – so der auch dem Urteil zugrundeliegende Stand der Wissenschaft – gerade nicht der Fall. Die Formulierung „Entwicklung als Mensch“ hätte damit schlicht im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen gestanden. Aus der Formulierung allein lässt sich daher nicht folgern, der EuGH habe mit seiner Entscheidung den rechtlichen Status des Embryos auf Unionsebene beantwortet. Dies gilt im Übrigen auch deshalb, weil diese Entscheidung – wie bereits das Urteil aus dem Jahr 2011 – kontextualisiert und in der Folge in ihrer Bedeutung und Breitenwirkung zum Teil relativiert werden muss. Dass der Gerichtshof in dieser speziellen Materie, die allein die Eigenschaften von Parthenoten und damit bereits einen Randbereich der Patentregelungen als solchen betrifft, die Rechtsstellung von Embryonen insgesamt und mit einem Wort („zu“) abschließend regeln wollte, ist unwahrscheinlich.

III. Konturen der grundrechtlichen Gewährleistung In ihrem Charakter als Grundrecht bekam die Menschenwürde erst in der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs Konturen.

157 Dederer, Zellhaufen, Embryo, Mensch? Die jüngste Entscheidung des EuGH zu Stammzell-Patenten, VerfBlog, 2014/12/23, http://www.verfassungsblog.de/zellhaufen-embryo-mensch-die-juengste-entscheidung-des-eugh-zu-stammzell-patenten. 158 Die englische Fassung spricht von der „inherent capacity of developing into a human being“, die französische von „la capacité intrinsèque de se développer en un être humain“.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

1. Rückführungsrichtlinie Einen der wohl prominentesten Bereiche, in denen auch im öffentlichen Diskurs die Menschenwürde wiederholt bemüht wird, stellt die Asylpolitik dar. Diesem Bereich ist eine jüngere Entscheidung des EuGH vom Juli 2014 zuzuordnen, die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Auslegung der sog. Rückführungsrichtlinie159 ergangen ist.160 Hierbei ging es um die Frage, ob es für die Abschiebehaft illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, deren Antrag auf Asyl zuvor abgelehnt wurde, auch in föderalen Systemen spezieller Hafteinrichtungen bedürfe, ob mit anderen Worten die Unterbringung der abgelehnten Bewerber zusammen mit Strafgefangenen in Justizvollzugsanstalten mit der Richtlinie unvereinbar sei. Darüber hinaus galt es die Frage zu beantworten, ob eine Unterbringung mit gewöhnlichen Strafgefangenen auch dann untersagt sei, wenn der Drittstaatsangehörige in diese Unterbringung ausdrücklich eingewilligt habe.161 Auch in diesem Verfahren waren, ähnlich wie in der Laserdrome-Entscheidung, die Ausführungen des Generalanwalts bezüglich der Menschenwürde ergiebiger als die des Gerichtshofs selbst. Wiederum rekurrierte dieser hier im Gegensatz zum EuGH ausdrücklich auf Art. 1 GrCh, der es einerseits gebiete, den Migranten „nicht den Anschein von Straftätern zu geben – was für sich genommen die Menschenwürde verletzt –, indem sie wie solche behandelt werden“162. Zudem werde durch die Unterbringung in Strafgefängnissen und damit die Art und Weise des Vollzugs, wie der Generalanwalt nachdrücklich darlegt, tief in Persönlichkeit und in die Privatsphäre der Häftlinge eingegriffen, weshalb die Richtlinie eine gesonderte Unterbringung von abgelehnten Asylbewerbern und gewöhnlichen Strafgefangenen verlange.163 Die Pflicht zur gesonderten Unterbringung sei damit „unmittelbarer Be159 RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348/98 v. 16. 12. 2008. 160 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, verb. Rs. C-473/13 und C-514/13, ECLI:EU:C:2014:2095 – Bero und Bouzalmate. 161 Dies war die entscheidende Frage in der Rs. C-474/13 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik. Der GA hatte das Verfahren noch mit den beiden Verfahren Bero und Bouzalmate verbunden, der EuGH jedoch trennte dieses Verfahren von den beiden anderen. 162 Schlussanträge des GA Bot zu verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 und C-474/13 v. 30. 04. 2014, ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 94. 163 Schlussanträge des GA Bot zu verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 und C-474/13 v. 30. 04. 2014, ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 97 f.: „Die interne Anstaltsordnung führt zur Allgegenwart eines Gefühls des Eingesperrtseins, denn die Ausgangszeiten sind genau festgelegt, die Präsenz von Wachpersonal ist stark, die Überwachung ist eng und die Betreuung ist umfassend. Hinzu kommt, dass die Haftanstalten durch Ungewissheit, Promiskuität, Stress, Unsicherheit und eine abweisende Umwelt gekennzeichnet sind; auch darf nicht vergessen werden, dass die administrativen Zwänge, die derartigen Einrichtungen inhärent sind, die administrativen und juristischen Schritte, die von den Migranten unternommen werden können, tendenziell einschränken. Aus denselben Erwägungen verlangt die Richtlinie für den Fall, dass die Abschiebungshaft ausnahmsweise in einer gewöhnlichen Haftanstalt erfolgen muss, eine gesonderte Unterbringung von Migranten und gewöhnlichen Strafgefangenen.“

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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standteil der Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte dessen, dem weder ein Verbrechen noch auch nur ein Vergehen anzulasten ist“164. Der Gerichtshof folgte der Auffassung des Generalanwalts zwar im Ergebnis, begnügte sich dabei jedoch mit der schlanken Feststellung, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet sei, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige grundsätzlich in einer speziellen Hafteinrichtung dieses Staates in Abschiebehaft zu nehmen.165 Der Auffassung des BGH, eine gemeinsame Unterbringung mit Straffälligen könne ausnahmsweise dann erfolgen, wenn der Abschiebehäftling ausdrücklich in diese gemeinsame Unterbringung eingewilligt habe, folgte der EuGH nicht.166 Vielmehr gelte „das Gebot der Trennung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger von gewöhnlichen Strafgefangenen ohne Ausnahme“ und garantiere „die Wahrung der Rechte, die der Unionsgesetzgeber diesen Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Abschiebungshaftbedingungen in gewöhnlichen Haftanstalten ausdrücklich einräumt“167. Nur dadurch könne eine Rückführung der Person unter Beachtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise erfolgen.168 Die Urteile stießen in der deutschen Öffentlichkeit auf breite Resonanz, da es in einigen deutschen Bundesländern an entsprechenden Einrichtungen zur getrennten Unterbringung von Strafgefangenen und Abschiebehäftlingen mangelte.169 Im Vergleich zu den Schlussanträgen des Generalanwalts verzichtete der Gerichtshof in seinen Entscheidungen auf eine explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde und Art. 1 Abs. 1 GrCh, also die Norm, die dem Generalanwalt in seinen Anträgen noch als zentraler Bezugspunkt der Argumentation gedient hatte. Einmal mehr entging dem Gerichtshof so die Möglichkeit, der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie nicht nur implizit, sondern auch explizit Konturen zu verleihen; dies hätte sich in den Entscheidungen auch deshalb angeboten, da der dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Frage nur ein verhältnismäßig geringes Polarisierungspotenzial innezuwohnen schien. Nichtsdestotrotz enthalten auch die Urteile des Gerichtshofs in der Sache Beiträge zu einem unionsrechtlichen Menschenwürdeverständnis. Dazu gehören zum einen das aus der Menschenwürde resultierende Gebot der Trennung von Abschiebehäftlingen und gewöhnlichen Strafgefangenen, zum anderen aber auch die Unverfügbarkeit dieses Gebots, das die Bundesregierung 164 Schlussanträge des GA Bot zu verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 und C-474/13 v. 30. 04. 2014, ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 99. 165 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, verb. Rs. C-473/13 und C-514/13, ECLI:EU:C:2014:2095 – Bero und Bouzalmate, Rn. 32 (gleichzeitig LS). 166 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, Rn. 22 f. (gleichzeitig LS). 167 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, Rn. 19. 168 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, Rn. 19 ff. 169 S. etwa FAZ v. 17. 07. 2014, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ eugh-urteil-deutschland-muss-abschiebehaft-reformieren-13050569.html.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

wie auch die niederländische Regierung – gerade unter Bezugnahme auf die aus der Menschenwürde resultierende Autonomie des Einzelnen – noch als disponibel angesehen hatten.170 Die Entscheidungen zeigen daher, dass der Gerichtshof auch vor der Einschränkung der persönlichen (Entscheidungs-)Freiheit nicht zurückschreckt, wenn aus seiner Sicht gerade durch diese eine Menschenwürdeverletzung, zumindest aber eine Verletzung der Grundrechte der Person droht. 2. Anerkennungs- und Asylverfahrensrichtlinie Ebenfalls im Asylrecht angesiedelt ist die kurz darauf folgende Entscheidung des EuGH zur Überprüfung des Asylgrunds „Homosexualität“ aus dem Dezember des Jahres 2014.171 Mehrere Asylbewerber hatten vor dem niederländischen Raad van State (dem vorlegenden Gericht) gegen die verweigerte Anerkennung als Flüchtling geklagt. Als Asylgrund machten die Kläger dabei die mögliche Verfolgung in ihrem Herkunftsland aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung geltend. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH war nun die Frage, ob – und wenn ja, welche – Grenzen der Überprüfung der Glaubwürdigkeit von möglichen Asylgründen durch das Unionsrecht, etwa durch die Grundrechtecharta, gezogen sind. Konkret ging es dabei auch um die Frage nach der Art und Weise, wie die Glaubhaftigkeit einer behaupteten sexuellen Ausrichtung zu prüfen sei. Die Zuständigkeit des EuGH und die Anwendbarkeit der Charta resultierten dabei aus dem Umstand, dass die mitgliedstaatlichen Regelungen zum Asyl(verfahrens-) recht mit der Richtlinie 2004/83/EG172 (Anerkennungsrichtlinie) und der Richtlinie 2005/85/EG173 (Asylverfahrensrichtlinie) eine Harmonisierung erfahren haben, die die Anwendbarkeit der Charta nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh auslöste. Aus den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston lassen sich Grundrechtestandards in der Europäischen Union im Allgemeinen und Merkmale des unionalen Menschenwürdeverständnisses im Speziellen entnehmen. So ist es nach Auffassung der GA zunächst überhaupt notwendig, unionsweite Standards im Hinblick auf die Umsetzung der Richtlinien zu postulieren, welche sich aufgrund und

170

EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, Rn. 18. 171 EuGH, Urt. v. 02. 12. 2014, verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13, ECLI:EU:C:2014:2406 – A,B,C/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie. 172 RL 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304/12 v. 29. 04. 2004. 173 RL 2005/85/EG des Rates der Europäischen Union über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl. L 326/13 v. 01. 12. 2005.

D. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH

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anhand der GrCh, hier insbesondere aus Art. 3 und Art. 7 GrCh, ermitteln ließen.174 Zwar wird auf eine Erläuterung des Schutzgehalts der beiden Rechte von Seiten der Generalanwältin verzichtet, sodass insbesondere Schutzgehalt und Reichweite von Art. 3 und sein Menschenwürdebezug unklar bleiben. Es erfolgt jedoch im Anschluss eine Aufzählung von behördlichen Aufklärungspraktiken, die nach Ansicht der Generalanwältin einer grundrechtlichen Überprüfung jedenfalls nicht standhielten. Dazu gehörten Vorgehensweisen wie medizinische Untersuchungen, pseudomedizinische Untersuchungen, verletzende Befragungen zu den sexuellen Aktivitäten des Antragstellers und die Zulassung expliziter Beweismittel, die einen Antragsteller bei der Vornahme sexueller Handlungen zeigten.175 Derartige Praktiken verstießen gegen Art. 3 und 7 der Charta.176 Die Generalanwältin folgte in ihrer Argumentation dem Vorbringen Deutschlands (gemeint ist offenbar die deutsche Regierung), wonach es gegen Art. 1 der Charta verstieße, wenn man zur Feststellung der sexuellen Ausrichtung pseudomedizinische Tests durchführen oder dem Antragsteller die Vornahme sexueller Akte abverlangen wollte; als mit diesen Praktiken kollidierendes Grundrecht sah die Generalanwältin jedoch Art. 3 und nicht Art. 1 der Charta an. Zu bemerken gilt schließlich, dass das Unionsrecht nach Ansicht der Generalanwältin nicht nur einen rechtlichen Rahmen, sondern einen Grundrechtsstandard etablierte, von dem die Mitgliedstaaten nicht abweichen dürften. Den Ausführungen schloss sich der EuGH im Wesentlichen an, konkretisierte diese aber insoweit, als er unmittelbar aus Art. 1 GrCh die folgenden Beweiserhebungsverbote ableitete: Es ist danach den Behörden nicht gestattet, Beweise der Art zu erheben, dass „der Asylbewerber homosexuelle Handlungen vornimmt, sich „Tests“ zum Nachweis seiner Homosexualität unterzieht oder auch Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegt“177. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit Art. 1 GrCh, seinen geschützten und im vorliegenden Fall tangierten Einzelausprägungen sowie dem Umstand, dass die Generalanwältin noch Art. 3 GrCh als einschlägiges Grundrecht herangezogen hatte, erfolgte in dem (kurzen) Urteil nicht. Gleichwohl ist das Urteil bereits deswegen für die vorliegende Untersuchung von Interesse, weil es als eines der wenigen eine direkte Bezugnahme auf Art. 1 GrCh enthält, welcher vom EuGH zudem offenbar als subjektives Recht zur Prüfung herangezogen wird. Daneben erlauben die Verbote Rückschlüsse auf das Verständnis des Gerichtshofs von Art. 1 Abs. 1 GrCh, wonach dieser spezielle Diskriminierungsverbote als Ausdruck des (sexuellen) Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen beinhaltet. Wo die Generalanwältin noch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit beein174 Schlussanträge der GA Sharpston zu verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13 v. 17. 07. 2014, ECLI:EU:C:2014:2111, Rn. 57. 175 Schlussanträge der GA Sharpston zu verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13 v. 17. 07. 2014, ECLI:EU:C:2014:2111, Rn. 61 ff., 93. 176 Schlussanträge der GA Sharpston zu verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13 v. 17. 07. 2014, ECLI:EU:C:2014:2111, Rn. 61 ff. 177 EuGH, Urt. v. 02. 12. 2014, verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13, ECLI:EU:C:2014:2406 – A,B,C/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, Rn. 65.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

trächtigt sah, nahm der Gerichtshof durch die in Rede stehenden Praktiken eine derart gravierende Behandlung durch die Behörden an, dass aus seiner Sicht eine Menschenwürdeverletzung festzustellen war. In das vom EuGH bislang favorisierte Verständnis der Menschenwürde als Instrumentalisierungsverbot fügt sich die Entscheidung insoweit ein, als der Einzelne hier vor staatlichen Eingriffen geschützt werden soll, die auf die umfassende Erfassung sexueller Ausrichtung abzielen, ohne dass den Asylbewerbern die Möglichkeit gegeben ist, dieser Erfassung im Zuge der Asylgrundprüfung zu entgehen. Als bloßes „Versuchsobjekt“ für medizinische und pseudomedizinische Tests würde die Person gerade dadurch ihres Eigenwerts beraubt und auf eine verfügbare Entität reduziert. Mit diesem Verständnis ist der Gerichtshof auch von der vom BVerfG favorisierten Subjekt-/Objektformel nicht weit entfernt, was zusammen mit der Tatsache, dass sich der Gerichtshof die von der deutschen Regierung vorgebrachte Position zu eigen machte, dafür spricht, dass das unionale und das grundgesetzliche Würdeverständnis in dieser Hinsicht übereinstimmen dürften.

E. Zusammenschau: Zum gerichtlichen Zugriff Im Folgenden soll die Rechtsprechung des BVerfG und des EuGH zur Menschenwürde einem Vergleich unterzogen werden. Dieser wird zunächst unter den Kriterien der Quantität der menschenwürderelevanten Rechtsprechung (1.), der behandelten Themenbereiche (2.) und der gerichtlichen Prüf- und Kontrolldichte (3.) vorgenommen.

I. Quantitative Aspekte Es stechen bei unbefangenem Blick auf das bisher Gesagte die Fülle und der schiere Umfang an Rechtsprechung zum Menschenwürdeschutz auf Seiten des BVerfG im Gegensatz zur Rechtsprechung des EuGH heraus. So sehr es schwer fällt, die Auswahl der Urteile des BVerfG zur Menschenwürdegarantie auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen – mittlerweile zählen je nach Akzentuierung bis zu 30 Entscheidungen zur menschenwürderelevanten Rechtsprechung des BVerfG178 –, so sehr fällt es im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH schwer, Urteile zur Menschenwürde im Allgemeinen und zur Menschenwürdegarantie der Charta im Besonderen mit substanziellem Gehalt aufzufinden, die sich zu einem repräsentativen Bild zusammenfügen lassen. Dies erklärt sich zum einen aus dem Umstand, dass das BVerfG auf eine nunmehr über 60-jährige Rechtsprechungs-, vor allem Grundrechtsrechtsprechungstradition, verweisen kann, bei der es von Beginn an auf eine 178 Damit ist die Rechtsprechung im Vergleich zu anderen grundrechtlichen Gewährleistungen, etwa Art. 3 GG, gleichwohl nach wie vor überschaubar.

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verschriftlichte Menschenwürdegarantie zurückgreifen und auf sie Bezug nehmen konnte. Der EuGH stand dagegen zunächst mangels kodifiziertem Grundrechtskatalog vor der Schwierigkeit, die europäischen Grundrechte im Allgemeinen und die Menschenwürdegarantie als Rechtssatz im Besonderen zunächst zu entwickeln und zu deduzieren, was aus sich heraus einen verhalteneren Umgang nachvollziehbar erscheinen lässt. Gleichwohl erklärt sich die geringe Anzahl an Urteilen des EuGH zur Menschenwürdegarantie und die seltene Bezugnahme auf Art. 1 GrCh nicht mehr allein aus der verhältnismäßig kurzen Grundrechtstradition der Europäischen Union. Zu zahlreich sind etwa die Fälle, in denen der EuGH entweder überhaupt nicht auf die Menschenwürdegarantie, jedenfalls aber nicht auf Art. 1 GrCh Bezug nahm, obwohl es thematisch angezeigt war und durch die Schlussanträge der Generalanwälte mehrfach angeregt wurde und nahegelegen hätte. Dem EuGH schien es bei seiner Rechtsprechung daher auch darum gegangen zu sein, gerade im Bereich sensibler Problemlagen, die sich im Kontext der Menschenwürde stellen, nur dann zu urteilen, wenn es sich nicht unbedingt vermeiden ließ.179 Zudem dürfte der Umstand, dass die Menschenwürde als normativ verbindlicher Rechtssatz in einigen Mitgliedstaaten der Union ein weitgehend unbekanntes Konzept darstellt, und ihre „Ingebrauchnahme“ – jedenfalls vor Kodifizierung der Charta – daher auch von der personellen Zusammensetzung des Gerichtshofs und den Kammern abhängig gewesen sein dürfte, die merkliche Zurückhaltung des EuGH zum Teil erklären. Nichtsdestotrotz lassen das Inkrafttreten der GrCh und die schon zuvor gewonnene Visibilität des Grundrechtskatalogs GrCh erwarten, dass eine Bezugnahme auf diese in Zukunft leichter fallen wird und die Rechtsprechung zu den unionalen Grundrechten so insgesamt, allein ihrer Quantität nach, zunehmen wird. Entsprechende Tendenzen lassen sich den vorangegangenen Ausführungen bereits entnehmen.

II. Behandelte Themenbereiche Führt man sich die Themenbereiche vor Augen, um die es in den betreffenden Urteilen ging, ergibt sich ein fragmentarisches, heterogenes Bild sowohl innerhalb der Rechtsprechung der beiden einzelnen Gerichte als auch der Gerichte im Vergleich zueinander. Dabei ist freilich zunächst zu beachten, dass Gerichte grundsätzlich von den Fällen abhängig sind, die vor sie getragen werden, sie sich die behandelten Fragen also selbstredend nicht aussuchen. Dessen ungeachtet kann die (Nicht-)Heranziehung des Würdearguments in bestimmten Themenfeldern gleichwohl Aufschluss über das jeweilige Würdeverständnis geben. 179

Zur frühen Kritik s. etwa Frahm/Gebauer, Patent auf Leben? EuR 2002, 78. Hier wird bemängelt, dass der EuGH mit der Möglichkeit, sich zur Menschenwürde zu äußern, „im Herzen der Grundrechte“ – hier: dem Recht auf Leben und dem Schutz der Menschenwürde im Kontext vorgeburtlichen Lebens – angelangt sei, jedoch lediglich eine formale Prüfung vorgenommen und sich mit der Kernproblematik nicht auseinandergesetzt habe.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

In Anbetracht dessen reicht die Spannweite der Menschenwürdejudikatur des BVerfG allein bei den vorangegangen beschriebenen Entscheidungen thematisch von der Bezugnahme in den frühen Parteiverbotsverfahren und bei der Begründung einer objektiven Wertordnung über datenschutzrechtliche und straf(vollzugs-)rechtliche Problemlagen bis hin zu Fragen des Schwangerschaftsabbruchs, des Lebensrechts Ungeborener und der Terrorabwehr. Auch im Bereich existenzieller finanzieller Bedrohung einzelner Bürger hat das BVerfG wie oben skizziert die Menschenwürdegarantie herangezogen. Auf unionaler Ebene erreicht die Rechtsprechung kein vergleichbar breites Spektrum. Stattdessen kristallisieren sich mit der (sexuellen) Selbstbestimmung, vor allem aber mit der Biomedizin und – in jüngerer Zeit – dem Asylrecht im Wesentlichen drei menschenwürderelevante Themenkomplexe heraus. Die Laserdrome-Entscheidung des Gerichtshofs sticht aus diesem Raster insofern heraus, als eine vergleichbare Entscheidung zu Fragen der Sittenwidrigkeit und damit zu Moralvorstellungen innerhalb der Mitgliedstaaten bislang nicht ergangen ist.180 Insgesamt ist die thematische Bandbreite in der deutschen Rechtsprechung somit deutlich breiter und vielfältiger, gleichzeitig aber auch weniger scharf umrissen. Überall dort, wo es um Angelegenheiten höchstpersönlicher Natur geht, wo es sich um Problemlagen nachgerade existenzieller Bedeutung handelt, aber auch in Bereichen von gesellschaftspolitischer Relevanz, in denen nicht die Befriedung eines individuellen Konflikts im Vordergrund steht, kommt in der Rechtsprechung des BVerfG potenziell die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zum Tragen. Des Weiteren bildet die Figur des „Menschenwürdegehalts der Grundrechte“ einen Hebel für das Gericht, auch solche Eingriffe an der Menschenwürde zu messen, die primär auf speziellere Freiheitsrechte zielen und daher lediglich aufgrund ihrer Intensität Würderelevanz aufweisen.181 All dies trägt zu einer thematischen Vielfalt und Verbreiterung der Anwendungsfelder der Menschenwürde bei, die letztlich in einem Ausfransen des Würdebegriffs enden kann und daher in der deutschen Literatur Kritik ausgesetzt ist.182 In der Rechtsprechung des EuGH dagegen scheinen der Zugriff auf die Menschenwürde pragmatischer, ihre Anwendungsfelder daher thematisch enger umrissen und ihre Entfaltung weniger in die Breite gehend – diesem Umstand kommt 180 Dies betrifft aus deutscher Sicht zumindest die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dagegen waren Verwaltungsgerichte bereits häufiger mit Fragen der Sittenwidrigkeit im Anwendungsbereich der Menschenwürde befasst, s. nur BVerwGE 64, 274 ff.; danach, allerdings ohne explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde, BVerwGE 84, 314 (317). 181 Grundlegend für die Figur des Menschenwürdegehalts der Grundrechte BVerfGE 109, 279 – Großer Lauschangriff; näher Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 26; Hilgendorf, Die mißbrauchte Menschenwürde, Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), 137 (149). 182 Der Befund der Trivialisierung und Inflationierung bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47 ff.; s. auch Tiedemann, Vom inflationären Gebrauch der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2009, 606 (607 ff.).

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bereits jetzt, vor allem aber in Zukunft und mit steigender Heranziehung der Chartagrundrechte die Ausdifferenzierung der Würdegarantie in mehrere Einzelverbürgen (Titel I der Charta) entgegen. Die Gefahr einer „Inflationierung“ der Menschenwürdegarantie besteht im Vergleich zum Grundgesetz daher bereits nach der Chartasystematik, aber auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht. Umgekehrt hat der verhaltene Zugriff auf die Menschenwürde durch den Gerichtshof auch seinen Preis. Nicht nur, dass die würderelevanten Themenbereiche auf unionaler Ebene in ihrer Zahl gering sind und diese Zahl der Bedeutung des Höchstwerts kaum gerecht zu werden vermag; auch bleiben inhaltliche Bestimmungen der Würdegarantie, ja bleibt der europäische Würdebegriff im Allgemeinen, unter diesem Ansatz notwendigerweise blass. Allein aus dem Umstand, dass der Rechtsprechung des BVerfG zum Menschenwürdeschutz vielfältigere, und ihrer Summe nach mehr Themengebiete zugrunde liegen als der des EuGH, sind jedoch keine Rückschlüsse auf unterschiedliche Schutzniveaus der beiden Menschenwürdegarantien zu ziehen. Etwaige „blinde Flecke“ in der Menschenwürdekonzeption des EuGH bedeuten allein deshalb schon kein Minus an Schutzgehalt gegenüber ihrem grundgesetzlichen Pendant, da letztere auch trotz der reichen Rechtsprechung des BVerfG eine verhältnismäßig fragmentarische und keineswegs gesättigte Konzeption darstellt. Vielmehr resultieren diese aus dem Umstand, dass die Anwendbarkeit der europäischen Grundrechte und die Grundrechtsprüfung an die eingeschränkten Gesetzgebungskompetenzen der Union gebunden sind. Insoweit sorgen bereits das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) sowie die häufig thematisch eingehegten Rechtsetzungskompetenzen der Union – wenngleich durch die Unionsorgane bisweilen extensiv ausgelegt183 – für eine Begrenzung der Grundrechtsprüfung. Der unionale Würdebegriff wird daher erst dann „wachsen“ (müssen), wenn die unionalen Gesetzgebungskompetenzen in würderelevanten Bereichen ausgeweitet werden.

III. Gerichtliche Prüf- und Kontrolldichte Das BVerfG ist, nach anfänglich verhaltenem Umgang mit der Menschenwürdegarantie, erst nach und nach dazu übergegangen, die Menschenwürdegarantie juristisch handhabbar zu machen. Die Prüf- und Kontrolldichte in seinen frühen Entscheidungen tendiert zunächst gegen Null: Zu wenig griffig erscheinen die – zudem meist spärlichen – Ausführungen des Gerichts zur Menschenwürde, als dass von einer substanziellen Auseinandersetzung mit dieser Schlüsselnorm der Verfassung gesprochen werden könnte. Insgesamt fungiert die Würdegarantie hier eher als apodiktische Beschwörungsformel denn als juristischer Rechtssatz. Dies gilt namentlich für die Entscheidungen des BVerfG in den 50er und frühen 60er Jahren. Die Prüfdichte steigt in der Folge und korreliert damit, dass das Gericht, beginnend in den 183

S. oben Kapitel 2 B. I.

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

60er Jahren, die Subjekt-/Objektformel als herrschende Methode zur Bestimmung einer Menschenwürdeverletzung heranzieht und den Menschenwürdesatz so für eine Subsumtion öffnet. Da die Objektformel an den Subjektstatus des Menschen anschließt, bot sich dem BVerfG mehrfach die Gelegenheit, Wesensmerkmale der Menschenwürdegarantie und des ihr und dem Grundgesetz zugrundeliegenden Menschenbildes herauszuarbeiten. Mit diesen Postulaten aber wuchs auch gleichzeitig die Möglichkeit und Notwendigkeit einer erhöhten Prüfdichte, da das Gericht sich bei der Prüfung fortan an bestimmten Wesensmerkmalen abzuarbeiten hatte. Verdeutlichen lässt sich dies an den Mikrozensus und Abhör-Entscheidungen sowie aus jüngerer Vergangenheit an der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz. Die hohe richterliche Kontrolldichte setzte sich auch in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch und damit in den Schutzpflichtenkonstellationen durch, was Kritik an einer zu ausgreifenden Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Plan rief.184 Die mit der Zeit zunehmende Prüfdichte stellte das BVerfG ferner vor die Schwierigkeit des angemessenen Umgangs mit der Menschenwürdenorm und ihrem Absolutheitsanspruch. Je eher sie in ihrer Natur als Grundrecht von Seiten des Gerichts überhaupt als Prüfungsmaßstab herangezogen und für die Lösung schwieriger und kleinteiliger Konflikte operationalisiert wurde, umso eher ergab sich daraus die Schwierigkeit, das Dogma ihrer Unantastbarkeit aufrecht zu erhalten, da dieses in seiner Rigidität mit den Ausdifferenzierungen in den Urteilen häufig in Konflikt trat. Sinnbildlich ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung zum Großen Lauschangriff. Insgesamt verfestigt sich so der Eindruck, Abgrenzungs- und Ausdifferenzierungsprobleme ergäben sich je eher und häufiger, je höher die richterliche Prüfdichte im Bereich der Menschenwürde ausfällt. Da diese in der Rechtsprechung des BVerfG insgesamt als hoch zu bemessen ist, verwundert nicht, dass sich die gefundenen Lösungen immer wieder dem Vorwurf der Inkonsistenz gegenüber sehen.185 Anders dagegen der EuGH. Seine Urteile zur Menschenwürde sind nicht nur ihrer Anzahl nach spärlich; auch die jeweilige Prüfdichte der einzelnen Urteile ist – jedenfalls aus deutscher Perspektive – nahezu durchweg als gering zu bemessen. So begnügen sich die frühen Urteile zur Menschenwürde, etwa das Urteil zur Biopatentrichtlinie aus dem Jahr 2001, zumeist mit der kurzen Feststellung, dass eine Verletzung der Menschenwürde durch das in Rede stehende Verhalten vorliegt bzw. 184

Hermes/Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht – Das zweite Abtreibungsurteil des BVerfG und seine Folgen, NJW 1993, 2337 (2339 ff.); Säcker, Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht?, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 212. Die Verteidigung bei Steiner, Das Zweite Grundsatzurteil zum Schwangerschaftsabbruch – Ein Gericht zwischen Verfassung und gesellschaftlicher Moral, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 108 ff.; grundlegend vor den Gefahren einer zu weitgehenden Verfassungsgerichtsbarkeit warnend Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 267. 185 Auf das Beispiel des Urteils zum Großen Lauschangriff bezogen K.-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 (201 ff., 208 f.).

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wie im angesprochenen Fall nicht vorliegt. Eine tiefergehende Prüfung und eingehendere Begründung findet sich in den Urteilen zunächst nicht. Auch die Laserdrome-Entscheidung enthält zwar zunächst einen Verweis auf die ausführlichen Schlussanträge der Generalanwältin, im Übrigen aber kaum Aussagen zur Menschenwürdegarantie und nur eine knappe Verhältnismäßigkeitsprüfung, die zudem mit einer kurzen Behandlung der Erforderlichkeit endet. Der aus dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung gewonnene Ermessensspielraum für die Mitgliedstaaten ist derart weit bemessen, dass die gerichtliche Kontrolldichte – gemessen an der Dignität des Wertes Menschenwürde – als gering zu bezeichnen ist; zu gering, um dem unionalen Menschenwürdebegriff nachhaltig Konturen zu verleihen. In dem später ergangenen Vorabentscheidungsverfahren zur Biopatentrichtlinie aus dem Jahr 2011 ist die richterliche Prüfdichte dagegen zwar insofern hoch, als der Gerichtshof hier die einheitliche Auslegung des Embryonenbegriffs einfordert und dabei keinen Spielraum für mitgliedstaatliche Wertungen belässt. Dennoch gilt auch für diese Entscheidung, dass gerade in Bezug auf die Menschenwürde gehaltvolle Aussagen, geschweige denn die detaillierte Prüfung eines Menschenwürdeverstoßes, nicht zu finden sind. Die jüngeren Entscheidungen des Gerichtshofs zum Asylrecht fügen sich nur noch zum Teil in dieses Bild. Merklich steigt hier der Grad der Prüfdichte des Gerichtshofs, der sich in beiden Urteilen, neben zunächst kurzen Äußerungen zur Menschenwürde als solchen, schließlich zu konkreten Handlungsgeboten und -verboten durchringt, die den Mitgliedstaaten auch keinerlei Spielraum zur Abweichung belassen. Allerdings bleibt der Gerichtshof auch in diesen Entscheidungen insoweit bei seinem apodiktischen Stil, als er sich zu kaum einer tiefgreifenden Prüfung der Würdeverletzung durchringt und sich dagegen häufig mit der simplen Feststellung einer solchen begnügt. Gleichwohl kommen auch vor dem Hintergrund dieses stark kasuistischen und inkrementellen Vorgehens des EuGH zumindest nach und nach Facetten des unionsrechtlichen Menschenwürdebegriffs zum Vorschein. Im Vergleich sind daher für das Vorgehen zwei Deutungen möglich. Zum einen könnte man bei kritischer Lesart der Entscheidungen sagen, der EuGH ließe bislang, dies allerdings in mit der Zeit abnehmender Tendenz, substanzielle Prüfungen der Menschenwürde vermissen, obwohl dies in einigen Fällen angezeigt sei.186 Umgekehrt könnte man, positiv gewendet, formulieren, dass der EuGH von Anfang an das Maß an Zurückhaltung walten ließ, das den Problemlagen im Bereich der Menschenwürde angemessen sei und das das BVerfG in seiner Rechtsprechung über die Jahre hinweg immer mehr vermissen ließ. In dieser Deutung würde denn auch die Zurückhaltung dahingehend zu werten sein, dass das reduzierte Prüfprogramm nicht nur Raum für mitgliedstaatliche Eigenheiten beließe, sondern im Abgleich auch der Konsistenz der Menschenwürdedogmatik Vorschub leistete.

186

S. etwa Frahm/Gebauer, Patent auf Leben?, EuR 2002, 78 (86 ff.).

104

Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

F. Gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung der Entscheidungen Nicht unerwähnt bleiben kann, dass die Urteile des BVerfG zur Menschenwürde in der Rückschau eine sehr starke rechts- und gesellschaftspolitische Wirkung entfaltet haben. Das gilt nicht allein für die materiellrechtliche Klärung der den Entscheidungen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konfliktfelder, sondern betrifft auf grundlegenderer Ebene die politische Ordnung der Bundesrepublik als solche. Schließlich fungierte die Menschenwürde explizit oder implizit regelmäßig nicht nur als einer der Bezugspunkte in den Entscheidungen des Gerichts, mit denen die Verfassung als wertgebundene Ordnung konstituiert und durch die die materiellen Verfassungsbindungen in immer weitere Bereiche des politisch-sozialen Lebens ausgedehnt wurden.187 Auch die Stellung des Verfassungsgerichts selbst hing in der Folge von den besagten Urteilen und damit grundsätzlich auch von dem „Hebel“ Menschenwürdegarantie ab, da die Ausdehnung der Verfassung hin zu einer wertgebundenen Ordnung gleichzeitig eine Stärkung und Selbstpositionierung des Verfassungsgerichts bedeutete.188 Auch mit Hilfe der Menschenwürdegarantie konnte das Gericht so über die Rolle des „Hüters der Verfassung“ hinauswachsen und sich zu einem zentralen politischen Akteur der Bundesrepublik entwickeln.189 Eine vergleichbare Bedeutung hat die Menschenwürdejudikatur des EuGH nicht erlangt. Zwar hat sich der Gerichtshof auch durch seine Menschenwürderechtsprechung wirksam als Grundrechtsgericht zu erkennen gegeben. Sein Aufstieg zum prägenden Akteur in Grundrechtsfragen neben dem EGMR und den nationalen Verfassungsgerichten vollzog sich aufgrund der Blässe der Würderechtsprechung jedoch nicht auf diesem Feld, sondern wird primär mit anderen Urteilen assoziiert.190 Auch eine mit dem Grundgesetz vergleichbare „Aufladung“ der unionalen Rechtsordnung zur „Wertegemeinschaft“ vollzog sich nicht durch eine entspre187

Lüth. 188

S. etwa BVerfGE 2, 1 (12) – SRP; BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes; BVerfGE 7, 198 (205) –

Näher dazu Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 171 ff.; s. auch Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (24 f.). 189 Zur Stellung des BVerfG als „Konstrukteur der Verfassung“ Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 174 ff., ins. 177 ff. 190 In Bezug auf Grundrechtsfragen sind hier zunächst die Urteile zu den Rechtssachen Stauder (EuGH, Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69, ECLI:EU:C:1969:57, Slg. 1969, 419 – Stauder) und Internationale Handelsgesellschaft (EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70, ECLI:EU:C:1970:114, Slg. 1970, 01125 – IHG) zu nennen. Zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts s. die Entscheidungen van Gend & Loos (EuGH, Urt. v. 05. 02. 1963, Rs. 26/62, ECLI:EU:C:1963:1, Slg. 1963, 00003 – van Gend & Loos) und Costa/Enel (EuGH, Urt. v. 15. 07. 1964, Rs. 6/64, ECLI:EU:C:1964:66, Slg. 1964, 01141 – Costa/Enel). Näher zum EuGH als Grundrechtsgericht, hier speziell auf das Gebiet des Datenschutzes bezogen, Kühling, Der Fall der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie und der Aufstieg des EuGH zum Grundrechtsgericht, NVwZ 2014, 681 (684 f.).

G. Rechtsprechungslinien und Würdekonzepte?

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chende Würdejudikatur des EuGH, sondern allenfalls über die Kodifizierung der Menschenwürde als Wert der Union in Art. 2 EUV.191

G. Rechtsprechungslinien und Würdekonzepte? Die Suche nach den verbindenden Elementen der einzelnen Entscheidungen, die sich zu Rechtsprechungslinien und Menschenwürdekonzepten der beiden Gerichte zusammenfügen, gestaltet sich schwierig. Für die Rechtsprechung des BVerfG lässt sich sagen, dass die Menschenwürde zunächst in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension, später vor allem in ihrer grundrechtlichen Dimension aktiviert und dabei weiterentwickelt wurde. Diese Weiterentwicklung der Würdegarantie, vor allem des richterlichen Prüfprogramms zur Subjekt-/Objektformel sowie ihre Heranziehung als grundrechtlicher Prüfungsmaßstab gingen aber gleichzeitig einher mit einer zunehmenden Schwächung ihrer konsensstiftenden und befriedenden Wirkung.192 Dies zeigen zunächst einige von innerer Dissonanz geprägte Entscheidungen des Gerichts selbst,193 aber auch der merkliche Anstieg an Sondervoten, da seit der Neufassung des BVerfGG im Jahre 1970 kaum eine der dargestellten Entscheidungen zur Menschenwürde mehr ohne ein Sondervotum, teils sogar mehrere abweichende Sondervoten daherkommt, die sich häufig gerade durch die unterschiedliche Verwendung des Menschenwürdearguments auszeichnen.194 Vor diesem Hintergrund sind größere Rechtsprechungslinien zur Menschenwürde kaum nachzuzeichnen, sondern erschöpfen sich zusammenfassende Darstellungen überwiegend in dem Aufzeigen zahlreicher, mehr oder weniger verbundener, wenngleich doch heterogener Entscheidungen. Wenn das vorgenannte bereits für die an Urteilen reiche Menschenwürdejudikatur des BVerfG gilt, so gilt es in besonderem Maße für die Rechtsprechung des EuGH zur Menschenwürde. Seine Urteile lassen sich in der Zusammenschau nur mit Mühe zu einer Konzeption, dagegen überhaupt nicht zu Rechtsprechungslinien zusammensetzen. Zu heterogen erscheinen sie hierfür in ihrer thematischen Vielfalt und zu wenig tiefgehend ist die sachliche Auseinandersetzung mit der Menschenwürde in den einzelnen Urteilen. Letztlich liegt ein Grund für dieses fragmentarische Ge191 Näher zu den Zielen der Wertebekundung im Primärrecht v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, JZ 2004, 53 (58 ff.); zu den in Artikel 2 EUV niedergelegten Werten der Union im Einzelnen Frenz, Werte der Union, Rechtstheorie 2010, 400 ff. 192 Näher Volkmann, Nachricht vom Ende der Gewißheit. Zur Wirkungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, FAZ Nr. 273 vom 24. 11. 2003, S. 8 ff. 193 S. o. etwa die zweite Schwangerschaftsentscheidung, die Entscheidung zum großen Lauschangriff oder die Entscheidung zum LuftSiG. 194 Exemplarisch: Zur Abhörentscheidung BVerfGE 30, 1 (33); zu Schwangerschaftsabbruch I BVerfGE 39, 1 (84); zu Schwangerschaftsabbruch II BVerfGE 88, 203 (338, 359) (2 Sondervoten); zu Großer Lauschangriff, BVerfGE 109, 279 (383).

106

Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

samtbild auch darin, dass sich die Grundrechtskontrolle des Gerichtshofs zuvörderst in Verfahren der objektiven Rechtskontrolle, etwa der Auslegung von Richtlinien, nicht jedoch im Rahmen von Individualbeschwerden entfaltet.195 Entscheidungen von einer unmittelbaren Einprägsamkeit, wie sie beispielsweise die Entscheidungen des BVerfG zum Mikrozensus und zur Lebenslangen Freiheitsstrafe darstellen, sind daher aufgrund des objektiven Charakters der Rechtskontrolle durch den EuGH in dessen Judikatur bereits strukturell nicht angelegt. Der objektive Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof entfaltet sich überdies häufig in komplizierten Inzidentprüfungen, etwa über die Auslegung von Begriffen in Richtlinien im Rahmen von Vorabentscheidungen, sodass die die Grundrechte betreffenden Passagen nicht sofort ins Auge fallen, sondern häufig in komplexe Verschränkungen eingebettet sind und daher stets kontextbezogen, nicht aber augenfällig und exponiert daherkommen.196 Dies macht es für den Rezipienten kaum möglich, die Aussagen zu dem jeweiligen Grundrecht, hier der Menschenwürde, aus ihrer Verschränkung zu lösen und kontextunabhängig aufzufassen, sodass auch vor diesem Hintergrund Rechtsprechungslinien und Würdekonzepte des Gerichtshofs nicht auszumachen sind.

H. Wechselwirkungen und gerichtlicher Dialog im Kontext der Menschenwürde Wenn eine dem deutschen Recht vergleichbare Judikatur des EuGH zur Menschenwürde bislang fehlt, stellt sich die Frage, welche inhaltlichen Anleihen der EuGH bei der Rechtsprechung des BVerfG künftig nehmen kann bzw. ob und inwiefern er das bereits tat, sprich: wie es um die Permeabilität der Rechtsprechung beider Gerichte im Anwendungsbereich der Menschenwürde bestellt ist. Manifes195

Zur obj. Grundrechtskontrolle s. Haratsch, Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/1 § 165 Rn. 14, 23, 28 ff. 196 Als Beispiel hierfür möge der Leitsatz zu EuGH, Urt. v. 06. 10. 2015, Rs. C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems/Data Protection Commissioner dienen: „Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. 10. 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 09. 2003 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass eine aufgrund dieser Bestimmung ergangene Entscheidung wie die Entscheidung 2000/520/EG der Kommission vom 26. 07. 2000 gemäß der Richtlinie 95/46 über die Angemessenheit des von den Grundsätzen des „sicheren Hafens“ und der diesbezüglichen „Häufig gestellten Fragen“ (FAQ) gewährleisteten Schutzes, vorgelegt vom Handelsministerium der USA, in der die Europäische Kommission feststellt, dass ein Drittland ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet, eine Kontrollstelle eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 28 der Richtlinie in geänderter Fassung nicht daran hindert, die Eingabe einer Person zu prüfen, die sich auf den Schutz ihrer Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aus einem Mitgliedstaat in dieses Drittland übermittelt wurden, bezieht, wenn diese Person geltend macht, dass das Recht und die Praxis dieses Landes kein angemessenes Schutzniveau gewährleisteten.“

H. Wechselwirkungen und gerichtlicher Dialog im Kontext der Menschenwürde

107

tiert sich im Bereich der Menschenwürde das viel beschriebene Kooperationsverhältnis, das zunächst eigentlich kompetenzieller Natur zu sein scheint, hier gerade in Gestalt eines inhaltlichen Austauschs der beiden Gerichte? Zunächst sei an dieser Stelle gesagt, dass ein solcher inhaltlicher Austausch aufgrund der besonderen prozessualen Gegebenheiten nur sehr eingeschränkt möglich ist. Allenfalls das BVerfG könnte, sofern eine Vorlagepflicht bestünde, mittels einer Vorlage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV den EuGH zu Auslegungsfragen, etwa im Anwendungsbereich umgesetzter Richtlinien, konsultieren und so auf eine inhaltliche Korrespondenz zwischen beiden Gerichten hinwirken. Von einer entsprechenden Verweisung hat das BVerfG in Grundrechtsfragen aber bislang noch keinen Gebrauch gemacht.197 Eine solche scheint strukturell ohnehin nur in sehr engen Grenzen möglich.198 Diesem Befund leistet auch der Umstand Vorschub, dass das BVerfG bislang an einer „Trennungstheorie“ hinsichtlich der grundgesetzlichen und unionalen Grundrechte festhält, nach der die beiden Grundrechtssphären nicht in einer inhaltlichen Beziehung zueinander, sondern – durch kompetenzielle Einhegungen getrennt – starr und weitgehend unverbunden nebeneinander stehen.199 Auch generell – und unterhalb der Ebene einer formellen Kooperation in der Sache – sind Offenheit und die Bereitschaft zum inhaltlichen Austausch mit dem EuGH in Grundrechtsfragen beim BVerfG allenfalls gering ausgeprägt, was sich auch daran zeigt, dass das Gericht als Begründungsmaßstab für seine Entscheidungen vor allem die eigene und keine fremde Rechtsprechung heranzieht.200 Wenn also die Bereitschaft des BVerfG zur Vorlage an den EuGH in Grundrechtsfragen bislang nicht gegeben ist, bzw. eine solche rechtlich ohnehin vor allem für Vorfragen, nur bedingt aber für materielle Fragen relevant wäre, so kann dennoch gesagt werden, dass zumindest in der deutschen Fachgerichtsbarkeit die Bereitschaft zur materiellen Kooperation im Bereich der Menschenwürde mit dem EuGH besteht. Augenscheinlich hierfür sind die – auffallend häufig von der deutschen Fachgerichtsbarkeit – vorgelegten Fragen zur Vorabentscheidung in menschenwürderelevanten Thematiken, wie sie etwa in den Verfahren Stauder, Brüstle, Bero, Omega Spielhallen und Bouzalmate zum Ausdruck kamen. Mithin erscheint die Permea197 Wie es überhaupt erst zwei Vorlagen des BVerfG an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV gegeben hat: BVerfGE 142, 123 – OMT, hier ging es allerdings um die Abgrenzung von Kompetenzen, nicht jedoch um Grundrechtsfragen, näher dazu Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, S. 15, sowie zum Anleihekaufprogramm der EZB BVerfGE 146, 216 – EZB Anleihekauf. 198 Bäcker, Das Grundgesetz als Implementationsgarant der Unionsgrundrechte, EuR 2015, 389 (408); ausführlich Proelss, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, S. 176 ff, insbes. 183 ff., der darlegt, dass im Bereich der Grundrechte in Vorabentscheidungsverfahren allenfalls Vorfragen, nicht jedoch materielle grundrechtliche Fragen Verfahrensgegenstand sein können. 199 Zur „Trennungsthese“ s. oben Kapitel 2 C. I. 200 Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassunngsgerichts, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 385 f.

108

Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

bilität im Bereich der Menschenwürde im Verhältnis von deutscher Fachgerichtsbarkeit und EuGH durchaus ausgeprägt, im Verhältnis von BVerfG und EuGH dagegen nicht. Im umgekehrten Verhältnis, also bei der Frage, inwiefern der EuGH inhaltliche Anleihen beim BVerfG nehmen kann, ist zunächst Art. 52 Abs. 4 GrCh zu beachten. Danach werden die Chartagrundrechte in Einklang mit den mitgliedstaatlichen Grundrechten ausgelegt, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.201 Mithin besteht für den EuGH nicht nur die Möglichkeit, sondern auch eine Pflicht, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als Rechtserkenntnisquelle und Auslegungshilfe im Rahmen seiner sog. wertenden Rechtsvergleichung heranzuziehen.202 Diese Verpflichtung gilt auch für die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GrCh, da die Menschenwürdegarantie einerseits ein Grundrecht und nicht nur einen Grundsatz – für den Art. 52 Abs. 4 GrCh angesichts des klaren Wortlauts keine Geltung erlangen würde – darstellt und sie sich ferner aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt.203 Der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes in der Auslegung des BVerfG kommt dabei selbstredend jedoch nur die Rolle einer von einer Vielzahl möglicher und prinzipiell gleich zu berücksichtigender Inspirationsquellen zu. Allerdings sucht man eine vergleichbar ausdifferenzierte Menschenwürdedogmatik im mitgliedstaatlichen Vergleich vergebens, sodass Art. 1 Abs. 1 GG durchaus starkes Gewicht bei der Auslegung der unionalen Menschenwürdegarantie besitzen sollte. Dabei bleiben die genauen Maßstäbe und das methodische Vorgehen des Gerichtshofs jedoch häufig unklar.204 Die Vorschrift des Art. 52 Abs. 4 GrCh belässt dem EuGH in der Frage der Gewichtung der mitgliedstaatlichen Grundrechtsauslegungen einen weiten Spielraum, sodass es bei der Frage nach inhaltlichen Anleihen des EuGH beim BVerfG letztlich nur bedingt um solche rechtlich verbindlicher, sondern eher faktischer Natur handeln kann. Dass sich hinter der Methode des „wertenden Rechtsvergleichs“ daher vor allem ein pragmatisches Vorgehen des EuGH verbergen dürfte, das bislang auf Konfliktvermeidung und schonenden Ausgleich von unionalen und mitgliedstaatlichen Interessen zielt, muss für die

201

Näher dazu Kapitel 4 A. II. 2. b). S. hierzu Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 67; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 44 f.; näher dazu Kapitel 4 A. II. 2. b). 203 Näher dazu unten Kapitel 4. 204 Der EuGH hat in der Rs. Internationale Handelsgesellschaft seine Methode der wertenden Rechtsvergleichung zumindest grundsätzlich umrissen: „Es ist jedoch zu prüfen, ob nicht eine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Garantie verkannt worden ist; denn die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muß zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muß sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen.“, EuGH, Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70, ECLI:EU:C:1970:114, Slg. 1970, 01125 – IHG, Rn. 4. 202

H. Wechselwirkungen und gerichtlicher Dialog im Kontext der Menschenwürde

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Untersuchung im Folgenden in Rechnung gestellt werden.205 Jedenfalls dürfte der Konfliktvermeidung und der Vermeidung schwerer Wertungsunterschiede im Kontext der Menschenwürde besondere Bedeutung zukommen, da solche Unterschiede gerade hier greifbar sind.206 Dessen unbenommen fällt mit einem Blick auf die Judikatur des Gerichtshofs zunächst seine Formulierung zur Abwehr- und Schutzpflichtendimension der Menschenwürdegarantie in der Transsexuellen-Entscheidung ins Auge. Die dortige Wortwahl deutet darauf hin, dass der Gerichtshof bei seiner Bezugnahme auf die Menschenwürde Anleihen beim deutschen Menschenwürdeverständnis und bei der Garantie aus Art. 1 Abs. 1 GG genommen hat, auch wenn dies explizit weder den Schlussanträgen des Generalanwalts noch dem Urteil des Gerichtshofs zu entnehmen ist. Mit Blick auf die Entscheidung zur Biopatentrichtlinie und die dortige Formulierung eines Instrumentalisierungs- und Kommerzialisierungsverbots könnte man geneigt sein zu sagen, der Gerichtshof habe damit die aus der Rechtsprechung des BVerfG bekannte Subjekt/Objektformel übernommen. Dies wäre – gerade auch perspektivisch gesehen – ein fundamentaler Beitrag zu einem komplementären Menschenwürdeverständnis der beiden Gerichte, da die Subjekt-/Objektformel bei all ihrer Vagheit im Detail doch zumindest einen subsumtionsfähigen Maßstab für die Prüfung von Menschenwürdeverstößen liefert und damit ähnliche Ergebnisse erwarten ließe. Ein solcher Transfer ist wie bereits beschrieben jedoch gerade nicht erfolgt. Die Objektformel wurde von Seiten der Kläger ausdrücklich in das Verfahren eingebracht und wie gesehen vom Generalanwalt aufgenommen, weshalb ihre Lancierung auch durch den Gerichtshof im Urteil nahegelegen hätte. Dieser hat jedoch gänzlich darauf verzichtet, die Vorlage aufzugreifen und stattdessen einen eigenen Maßstab für Menschenwürdeverstöße entwickelt. Kann dieser Maßstab des Gerichtshofs in vielen Fällen zu ähnlichen Ergebnissen führen, wie sie auch die Anwendung der Objektformel zeitigt, besteht zwischen den beiden Instrumenten doch ein kategorialer Unterschied, der sich in der Bewertung bestimmter Problemlagen auswirken kann. Dem soll insbesondere in Kapitel 4 der Untersuchung nachgegangen werden. Besondere Beachtung bei der Frage nach Wechselwirkungen in der Rechtsprechung verdient die Omega-Entscheidung des EuGH. Sicherlich auch durch das (Vor-) Verständnis der deutschen Generalanwältin im Verfahren angetrieben, finden sich hier vor allem in den Schlussanträgen, aber auch im Urteil des EuGH selbst wesentliche Erwägungen aus der deutschen Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So werden etwa die wesentlichen materiellen Ausprägungen der Menschenwürdegarantie von der Generalanwältin umrissen, wobei diese zur argumentativen Unterstützung auch und gerade auf deutsche Lite-

205

Näher zu diesem Punkt s. Kapitel 4 A. II. 2. b). Dazu Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union – Eine Problemskizze, in: Derra (Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht. FS Jürgen Meyer, S. 49 ff. 206

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Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

ratur zurückgreift.207 Gleichzeitig findet sich in den Schlussanträgen jedoch eine Relativierung dergestalt, dass die beiden Menschenwürdegarantien nicht ohne weiteres als deckungsgleich angesehen werden können, mithin ein Transfer aller aus deutscher Rechtsprechung bekannten Ausprägungen und Nuancen der Menschenwürde und das zentrale Verständnis der Garantie durch den EuGH nicht statthaft ist.208 Die Grenzen des Normtransfers sind damit zwar nicht klar aufgezeigt, doch unmissverständlich angesprochen. Insgesamt zeugen die Schlussanträge der Generalanwältin sowie die Inkorporation des Gerichtshofs aber von der grundsätzlichen Bereitschaft des EuGH, sich bei der Exegese des Menschenwürdesatzes der Rechtsprechung des BVerfG zuzuwenden und jedenfalls die zentralen Ausprägungen der Menschenwürde, wie sie vom BVerfG entwickelt wurden, in seine Erwägungen einfließen zu lassen. Umgekehrt muss allerdings auch gesehen werden, dass eine derart detaillierte Auseinandersetzung mit dem Würdeverständnis, erst recht eine entsprechende Inkorporation des deutschen (bzw. irgendeines mitgliedstaatlichen) Würdeverständnisses, wie im Omega-Urteil vorgenommen, die absolute Ausnahme in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geblieben ist. Inwieweit der Gerichtshof künftig die Rechtsprechung des BVerfG als Inspirationsquelle heranziehen wird, bleibt abzuwarten. Dass er aber zur Entwicklung eines „eigenen“, unionalen Menschenwürdeverständnisses bereit ist, zeigen seine jüngeren Urteile, in denen er nicht nur auf jegliche Bezugnahme auf mitgliedstaatliche Rechtsprechung verzichtet, sondern dem Würdeverständnis mitgliedstaatlicher Höchstgerichte teilweise sogar ausdrücklich widersprochen hat.209 So ergibt sich insgesamt das Bild, dass es trotz der (wenn auch in weiten Teilen nur theoretischen) Vorlageverpflichtung des BVerfG an den EuGH und damit seiner Verpflichtung zur Kooperation bislang der EuGH war, der auf die Rechtsprechung des BVerfG im Bereich der Menschenwürde zurückgegriffen und so auf eine materielle Angleichung der Verständnisse beider Gerichte hingewirkt hat. Das in dieser Hinsicht „einseitige Kooperationsverhältnis“ war de facto aber auch nur auf wenige Entscheidungen begrenzt. Gerade in der jüngeren Rechtsprechung bemüht sich der Gerichtshof dagegen um die Entwicklung eines eigenständigen unionalen Würdebegriffs und Würdestandards ohne expliziten Rückgriff auf die Würdeverständnisse einzelner Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund bleibt die exakte Steuerungswirkung von Art. 52 Abs. 4 GrCh zwar unklar; dennoch dürfte der Gerichtshof in seiner Menschenwürderechtsprechung wenn auch nicht um den Transfer, dann aber doch um eine grundsätzliche Rezeption und inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BVerfG kaum herumkommen. Dass die Rechtsprechung des 207 Schlussanträge der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU: C:2004:162, Slg. 2004, I-9611, Rn. 74 ff. 208 Schlussanträge der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU: C:2004:162, Slg. 2004, I-9611, Rn. 92. 209 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik, Rn. 22 f. (gleichzeitig LS), näher s. oben Kapitel 3 D. II. 1.

I. Die gerichtlichen Menschenwürdekonzepte

111

BVerfG vor diesem Hintergrund jedoch zum zentralen Beitrag für den gemeineuropäischen Menschenwürdeschutz werden kann und sie in ihrer Wirkung nicht lediglich auf den deutschen Diskurs- und Rechtsraum begrenzt bleibt, ist angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu bezweifeln.

I. Zuletzt: Konvergenzen und Divergenzen zwischen den gerichtlichen Menschenwürdekonzepten Fragt man von hier aus zuletzt nach Konvergenzen und Divergenzen im Schutzniveau der Menschenwürdegarantien in ihrer gerichtlichen Prägung, kann man sich nicht mit der Feststellung begnügen, dass das Menschenwürdeverständnis des EuGH und damit das Schutzniveau auf europäische Ebene ein anderes ist als das des BVerfG. Soweit dem EuGH die Bereitschaft zur Adaption bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung und damit zur Übernahme des hohen und gerichtlich ausdifferenzierten Schutzniveaus attestiert werden kann, sind gravierende Divergenzen zwischen den beiden Grundrechtssphären jedenfalls nach der Rechtsprechung der beiden Gerichte nicht zu erwarten. Wo eine solche Bereitschaft nicht gegeben ist, ist die vom EuGH gefundene Lösung auf ihr Maß an Menschenwürdeschutz zu untersuchen, da sich auch dort, wo der Gerichtshof einen eigenen Schutzstandard etabliert und dazu nicht auf das deutsche Vorverständnis rekurriert hat, allein noch keine Divergenzen im Schutzniveau ergeben müssen. Dies betrifft namentlich die Fälle, in denen Instrumentalisierungs- und Kommerzialisierungsverbot auf der einen und Subjekt-/Objektformel auf der anderen Seite schlicht zu gleichen Ergebnissen gelangen (und wie im Urteil zur Biopatentrichtlinie gelangt sind) oder ein gemeineuropäisches Würdeverständnis dem Verbot von Tötungsspielen nicht entgegensteht, ohne dass es dabei zur Offenlegung dieses Verständnisses gekommen wäre. Übereinstimmung in der Sache besteht zunächst im Hinblick darauf, dass der Menschenwürdeschutz überhaupt als zentrale Aufgabe von BVerfG und EuGH in ihrer Verfassungsrechtsprechung begriffen wird. Mag dies aus deutscher Sicht einer Selbstverständlichkeit nahekommen, sind angesichts des Konstitutionalisierungsprozesses einer europäischen Verfassungsgemeinschaft gerade das ausdrückliche Bekenntnis des Gerichtshofs zu diesem Schutz im Jahr 2001 und seine spätere diesbezügliche Rechtsprechung nach wie vor zu würdigen. Auch über die Doppelnatur der Menschenwürde als objektiver Rechtssatz und subjektives Grundrecht besteht Einigkeit der Gerichte; auf europäischer Ebene wurden anfängliche Zweifel daran nicht zuletzt durch die Kodifizierung von Art. 1 Abs. 1 GrCh und die Bezugnahme des Gerichtshofs auf die Garantie beseitigt. Zweifel an der Bonität des Menschenwürdeschutzes durch den EuGH wurden auch immer wieder dahingehend geäußert, dass dessen Menschenwürdeverständnis kein Absolutheitsanspruch zu Grunde liege und er stattdessen von einer Abwäg-

112

Kap. 3: Die Menschenwürdegarantie bei BVerfG und EuGH

barkeit der Menschenwürde ausgehe.210 Diese Auffassung konnte sich in der Tat auf ein frühes Urteil des Gerichtshofs stützen, in dem dieser davon sprach, dass auch die Ausübung des Grundrechts der Menschenwürde „mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen“ müsse.211 Die daraus abgeleiteten, dem Wortlaut nach nicht unbegründeten Zweifel hat der Gerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung nunmehr selbst ausgeräumt. Einmal, indem er in seinen Urteilen, wie etwa dem zur Biopatentrichtlinie von 2011, jedweder Einschränkung der Menschenwürde (in diesem Fall durch Auslegung der Richtlinie) eine Absage erteilt, in der Sache also den Absolutheitscharakter gestärkt hat, ohne diesen explizit im Urteil anzusprechen.212 Zum zweiten, indem er zur Begründung des absoluten Charakters von Art. 4 GrCh auf die Nähe der Norm zur und ihre Verwandtschaft mit der Menschenwürde verwiesen hat.213 Wenn aber bereits aus der Menschenwürde abgeleitete Rechte absoluten Schutz genießen, muss dies erst recht auch für die Menschenwürdegarantie selbst gelten. Schließlich gilt zu bedenken, dass ein abweichendes Verständnis weder mit der Charta selbst noch mit den Erläuterungen des Grundrechtskonvents in Einklang zu bringen wäre. Einer Abwägbarkeit der Menschenwürde belässt der Gerichtshof mit seiner jüngeren Rechtsprechung daher keinen Raum, sodass auch in Bezug auf den Absolutheitsanspruch Gleichklang zwischen den Würdeverständnissen von EuGH und BVerfG besteht. Dass der Gerichtshof bisweilen sogar zur Etablierung eines materiell höheren oder gar strengeren Menschenwürdestandards willens ist, zeigt die Entscheidung zur separaten Unterbringung von abgelehnten Asylbewerbern, in dem der Gerichtshof dem (vom BGH artikulierten) „deutschen“ Würdeverständnis eine Absage erteilt und eine von gewöhnlichen Straftätern getrennte Unterbringung der Asylbewerber angeordnet hat. Dies zeigt, dass der vom EuGH formulierte Würdeschutz vom deutschen Standard auch „nach oben“ abweichen kann. Gleichwohl ergeben sich bei dem Vergleich auch Divergenzen im Schutzniveau. Solche bestehen bereits dort, wo der EuGH eine Entscheidung zur persönlichen Reichweite der Menschenwürde gänzlich vermied und er es damit unterließ, einen dem deutschen Verständnis vergleichbar weiten Schutzstandard zu etablieren; Vergleichbares gilt auch für die Fälle, in denen er den Mitgliedstaaten von vornherein einen weiten Ermessensspielraum zur Beantwortung dieser Fragen einräumte. Sinnbildlich ist dies für die – europaweit umstrittene – Frage nach dem Würdeschutz 210

Vorgebracht etwa von den Beschwerdeführern in der Lissabon-Entscheidung des BVerfG, s. BVerfGE 123, 267 (314 f.) – Lissabon. 211 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2007, Rs. C-341/05, ECLI:EU:C:2007:809, Slg. 2007, I-11767 – Laval, Rn. 94. 212 EuGH, Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, ECLI:EU:C:2011:669, Slg. 2011, I-09821 – Brüstle/Greenpeace, Rn. 34. 213 EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru, unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 12. 06. 2003, Rs. C-112/00, ECLI:EU:C:2003:333, Slg. 2003, I-05659 – Schmidberger, Rn. 80.

I. Die gerichtlichen Menschenwürdekonzepte

113

Ungeborener, deren Beantwortung der Gerichtshof bislang immer zu umgehen wusste.214 Der vom EuGH garantierte Schutz bleibt hier hinter dem aus deutschen Recht abgeleiteten Schutz daher (bislang) zurück. Nichtsdestotrotz kann ein vergleichbares Schutzniveau auch dort bestehen, wo das BVerfG zur Etablierung bestimmter Ge- oder Verbote auf die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zurückgreift, der EuGH im selben Kontext dagegen speziellere Grundrechte zur Prüfung heranzieht und aus ihnen ähnliche Direktiven gewinnt. Dies gilt etwa im Hinblick auf das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 4 GrCh) oder im Bereich des Persönlichkeitsund Datenschutzes (Art. 7, 8 GrCh). Da hier eine explizite Bezugnahme des Gerichtshofs auf die Menschenwürde fehlt, die Materie dennoch als menschenwürderelevant einzustufen ist, soll dem Vergleich des Grundrechtsstandards in diesen Feldern im nächsten Kapitel nachgegangen werden.

214

S. nur EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan; in den Schlussanträgen zum Verfahren äußerte sich jedoch der Generalanwalt van Gerven dahingehend, dass den Mitgliedstaaten ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum in solch hochsensiblen Fragen eingeräumt werden müsse, vgl. Schlussanträge des GA van Gerven zu Rs. C-159/90 v. 11. 06. 1991, ECLI:EU:C:1991:249, insb. Rn. 37 a.E.

Kapitel 4

Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh im problemorientierten Vergleich Während in Kapitel 3 die unterschiedliche Behandlung der Menschenwürde ausschließlich in der Rechtsprechung von BVerfG und EuGH behandelt wurde, sollen im folgenden 4. Kapitel die Würdekonzeptionen in einem umfassenderen Sinn verglichen werden. Unter Einbeziehung ihres historischen Entstehungskontextes sowie anhand der gängigen Auslegungsmethoden und der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit sollen dabei nicht nur die einzelnen Facetten der Würdegarantien und ihres Schutzgehalts aufgezeigt, sondern auch etwaige hinter ihnen stehende Grundannahmen offengelegt werden. Dies schließt die Auswertung der aufzufindenden Literatur sowie gegebenenfalls die Sondierung einer jeweils „herrschenden Meinung“ ein. Davon ausgehend soll ein Vergleich ausgewählter würderelevanter Problemkreise erfolgen, die in der vorangegangenen Rechtsprechungsanalyse noch nicht bzw. nur teilweise behandelt wurden. So soll sich nach und nach ein Gesamtbild der beiden Menschenwürdegarantien insbesondere in ihrem Charakter als Grundrecht ergeben.

A. Vorbemerkungen Der Vergleich wird synoptisch-problemorientiert erfolgen, also auf eine direkte Gegenüberstellung der beiden Garantien und ihres jeweiligen Schutzgehalts im Hinblick auf ausgewählte Problembereiche abzielen. Die Auswahl der Problemkreise orientiert sich im Wesentlichen an den aus deutschem Vorverständnis erwachsenen und bekannten Ausprägungen der Menschenwürdegarantie. Zwar geht dies mit einer spezifisch deutschen Sicht auf den anstehenden Rechtsvergleich einher, von der sich bei der Analyse zu lösen ein schwieriges Unterfangen darstellt. Der Ansatz ist aber dennoch und dadurch zu rechtfertigen, dass die grundgesetzliche Garantie für die europäische Garantie Pate stand und daher die Frage naheliegt, ob und inwieweit neben dem „Normtexttransfer“ auch ein „Norm(inhalts-)transfer“, sprich eine Übernahme der Einzel-

A. Vorbemerkungen

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ausprägungen von Art. 1 Abs. 1 GG bereits stattgefunden hat oder aber zumindest möglich erscheint.1 In diesem Zusammenhang gilt erneut darauf hinzuweisen, dass unterschiedliche rechtliche Zuordnungen bestimmter Problemkreise zwischen den Grundrechtsebenen nicht notwendigerweise auf Schutzdefizite schließen lassen und daher nicht kurzerhand als solche interpretiert werden sollen. Wenn etwa im deutschen Rechtsdiskurs Fragen hinsichtlich der Biomedizin oder des Datenschutzes (auch oder vornehmlich) als Fragen der Menschenwürde diskutiert werden, auf europäischer Ebene dagegen nicht bzw. nur teilweise, gilt es hier eher, ein spezifisch deutsches Verfassungsverständnis in Rechnung zu stellen, anstatt ohne weiteres ein normatives Gefälle zwischen den Grundrechtsebenen zu diagnostizieren. Schließlich können die aus anderen Grundrechten abgeleiteten Direktiven in ihrem Schutzniveau durchaus auch das Niveau erreichen, das die Menschenwürdegarantie (des Grundgesetzes) bereithält. Insoweit kommt es für die zu behandelnde Frage und den vorzunehmenden Vergleich gerade auch nicht auf Konvergenz und Divergenz im Sinne einer Deckungs- oder Schnittmengen(un-)gleichheit an, sondern auf den Vergleich der materiellen Grundrechtsgehalte, unabhängig von der systematischen Verortung der einzelnen Teilbereiche. Gerade daraus resultiert jedoch ein nicht unerhebliches methodisches Problem: Häufig wird sich dieser materielle Schutz nicht abstrakt bestimmen lassen; stattdessen manifestiert und zeichnet er sich gerade erst in seiner Erprobung im (gerichtlichen) Einzelfall ab. Wie gesehen fehlt es auf europäischer Ebene jedoch in vielen Bereichen an einer dafür benötigten, hinreichend gehaltvollen Rechtsprechung. Daher wird sich die Darstellung in diesen Fällen von „punktgenauen“ Aussagen lösen müssen. Stattdessen wird es dort darum gehen, das Spektrum von möglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben auszuloten und abzubilden.

I. Probleme bei der inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürdegarantie und ihres Wesensgehalts Die bereits angedeuteten Verschiebungen sind letztlich – und in einem tiefergreifenden Sinn – Ausdruck davon, dass sich bei der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde und ihres Wesensgehalts im juristischen Sinne generell Probleme und Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben. Diese sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Über die begriffliche Unschärfe und den hohen Abstraktionsgrad der Menschenwürde ist in Kapitel 3 bereits gesprochen worden.2 Nicht nur die begriffliche Schärfung, sondern darauf aufbauend auch die Subsumtion unter 1

Die Begriffe aus Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 177 ff. S. die prägnante Formulierung in den Schlussanträgen der GA Stix-Hackl zu Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU:C:2004:162, Slg. 2004, I-9611 (I-9630), Rn. 74: „Kaum ein Rechtsbegriff ist wohl juristisch schwieriger zu erfassen als jener der Menschenwürde“. 2

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

diesen Begriff erfordert regelmäßig hohen argumentativen Aufwand, weshalb die Konsistenz richterlicher Entscheidungen auch bisweilen zu wünschen übrig lässt. Aus diesem Grund ist von Anfang an und bis heute immer wieder vorgebracht worden, der Begriff sei als Gesetzes- oder überhaupt als Rechtsbegriff letztlich unpassend und aus dem „Alltagsgeschäft“ der Anwendung und ohnehin der Abwägung herauszuhalten, um ihn nicht auf Dauer abzunutzen.3 Seine bereits terminologische Unschärfe speist sich zudem aus dem Umstand, dass der Begriff der Menschenwürde nicht auf einzelne Lebensbereiche beschränkt, sondern diesen als Prinzip vorgelagert ist, ja überhaupt als Voraussetzung für die Ausübung sonstiger (Freiheits-)Rechte angesehen wird.4 Daher ist er historisch gesehen auch kein genuin juristischer, sondern ein die wissenschaftlichen Disziplinen allgemein übergreifender Begriff.5 Obwohl für die Rechtswissenschaft die Möglichkeit bestünde bzw. bestand, inhaltliche Anleihen bei anderen Disziplinen zu seiner Verdichtung zu nehmen und ihn so mit Substanz zu füllen, ist bislang zwar eine entsprechende Anreicherung festzustellen. Verglichen mit anderen Verfassungsbegriffen, erst recht aber verglichen mit sonstigen Grundrechten, ist der juristische Begriff der Menschenwürde dennoch verhältnismäßig blass geblieben.6 Wenn dies generell auf die Menschenwürde als juristischen Topos zutrifft, so gilt dies in potenziertem Maß für ein gemeineuropäisches Begriffsverständnis der Menschenwürde. Hier geht es neben den soeben beschriebenen Bestimmungsproblemen schließlich zusätzlich darum, einen tragfähigen Konsens zwischen nunmehr 27 Mitgliedstaaten abzubilden, deren historische, gesellschaftliche und politische Erfahrungen unterschiedlich sind und deren Auffassungen zu einem Konzept der Menschenwürde, wie es etwa in Deutschland weitgehend vorherrscht, sich zum Teil gravierend unterscheiden. Angesprochen ist damit letztlich das Problem, ob und inwieweit Grundrechte im Allgemeinen, ein Begriff und Wert wie Menschenwürde aber im Besonderen, auf gemeinsame historische Erfahrungen, einen gemeinsamen Bestand an sprachlichen, mythologischen, volks- und kulturbezogenen Rahmenbedingungen angewiesen ist, um von einem gewissen Maß an konsolidierten Grundaussagen ausgehen zu können. Hinter dieser Frage verbirgt sich damit letztlich das Problem der Universalität von Menschenrechten.7 3

Dürig, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Stand 1958, Art. 1 Abs. 1 Rn. 16, 29; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. Abs. 1 Rn. 47 ff.; Enders, Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung?, JöR 59 (2011), 245 (246 Fn. 1 m.w.N.). 4 Die Deutung als „Recht auf Rechte“ bei Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, Die Wandlung 4 (1949), 754 (760); näher dazu Gröschner, Wörterbuch der Würde, S. 103 ff. 5 Vgl. etwa Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 9 ff., 213 ff. (ins. S. 214 f.), dort auch der bezeichnende Titel des ersten Kapitels: „Wie die Menschenwürde ins Recht kam“. 6 Statt vieler Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 33 ff. 7 Dazu statt vieler Shue, Menschenrechte und kulturelle Differenz, in: Gosepath (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, S. 343 ff.; mit Blick speziell auf den europäischen Rechts-

A. Vorbemerkungen

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Insgesamt sind die aus Deutschland bekannten Probleme bei der inhaltlichen Bestimmung der Menschenwürde so auf europäischer Ebene nicht nur bekannt, sondern noch einmal gesteigert, was auch ein Grund dafür ist, dass der Schutzbereich der europäischen Menschenwürdegarantie noch nicht annähernd abschließend geklärt ist.8 Daher ist besonders hinsichtlich des Schutzgehalts von Art. 1 Abs. 1 GrCh nur eine Annäherung an denselben möglich, wie sie sich aus dem Wortlaut, der Systematik und den übrigen Auslegungsmethoden und Rechts(erkenntnis-)quellen sowie der Rechtsprechung des EuGH vollziehen lässt. Dieses Vorhaben des Annäherns an den Schutzbereich und der Konkretisierung desselben gewinnt schließlich zusätzlich an Spannung, vergegenwärtigt man sich die Spezifika einer Prüfung der Verletzung der Menschenwürde: Eine Verletzung – dies gilt aufgrund ihres jeweils postulierten Unantastbarkeitsdogmas für die europäische wie auch die deutsche Garantie gleichermaßen – tritt bereits damit ein, dass in ihren Schutzbereich eingegriffen wurde.9 Ein situativer, auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittener Rechts- und Interessenausgleich mittels Abwägung auf Rechtfertigungsebene findet daher im Rahmen der Prüfung einer Verletzung der Menschenwürde nicht mehr statt. Aus diesem Grund kommt der ohnehin schwierigen Schutzbereichsbestimmung eine noch gesteigerte Bedeutung zu, will man eine angemessene Mitte zwischen einem zu weit getriebenen und einem zu niedrigen Schutzniveau finden.

II. Zur Auslegung der chartarechtlichen Würdegarantie Vor einem Vergleich der grundrechtlichen Garantien stellt sich daher vorab die Frage, aus welchen Rechts- und Rechtserkenntnisquellen sich die Menschenwürde speist und welche Auslegungsmethoden für ihre inhaltliche Bestimmung herangezogen werden können. Der Fokus wird im Folgenden auf die chartarechtliche Garantie gelegt, zum einen, da für die grundgesetzliche Garantie insoweit bereits auf zahlreiche Abhandlungen verwiesen werden kann und ihre Grundlagen daher als weitgehend erschlossen gelten können,10 zum anderen, da die nachfolgenden Ausführungen neben unionsrechtlichen Spezifika in der Sache auch Maßgaben für die Garantie des Grundgesetzes beinhalten.

raum Mahlmann, Grundrechtstheorien in Europa – kulturelle Bestimmtheit und universeller Gehalt, EuR 2011, 469 ff. 8 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 32 („einheitliche, exakte inhaltliche Definition des Schutzbereichs einer europäischen Menschenwürdegarantie unmöglich und derzeit wohl auch nicht wünschenswert“). 9 Statt vieler Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 11. Für Art. 1 GrCh statt vieler Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 12. 10 S. etwa Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 377 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

1. Rechtsquellen der EU-Grundrechte Im Unionsrecht wird zwischen Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen unterschieden.11 Während die Rechtsquellen den eigentlichen Geltungsgrund der Grundrechte bilden, enthalten die Rechtserkenntnisquellen lediglich die Grundlagen zur Gewinnung von Rechtssätzen.12 Rechtsquellen liefern mithin Rechtssätze, ihnen ist das geltende Recht unmittelbar zu entnehmen, wohingegen Rechtserkenntnisquellen lediglich eine Orientierungsfunktion für die Auslegung einer Rechtsquelle zukommt.13 Die grundlegende primärrechtliche Bestimmung zu den EU-Grundrechten bildet Art. 6 Abs. 1 EUV. Danach erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze aus der Grundrechtecharta an, denen der Rang unionalen Primärrechts zukommt. Des Weiteren sind die grundrechtsbezogenen Regelungen der Verträge und gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV die vom Gerichtshof als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelten Grundrechte unmittelbare Rechtsquellen der unionalen Grundrechte. Die Grundrechtsquellen und ihre Normierung in Art. 6 EUV werfen die Frage auf, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen, sprich: wie es um die Binnenstruktur des Art. 6 EUV hinsichtlich der Grundrechtsquellen bestellt ist. Der systematischen Stellung der Grundrechtecharta in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV kann dabei entnommen werden, dass diese seit ihrem Verbindlichwerden die primäre Rechtsquelle der Unionsgrundrechte bilden.14 Dieser Befund wird auch durch die erhöhte demokratische Legitimation des Grundrechtskatalogs gegenüber den vom EuGH entwickelten Grundrechten sowie durch den Grundsatz des Vorrangs des geschriebenen vor ungeschriebenem Recht gestützt.15 Den vom EuGH als allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Grundrechten verbleibt daneben vor allem eine Rolle als Auffangrechte, die dort zur Anwendung gelangen, wo die Grundrechtecharta ergänzungsoffen und -bedürftig ist oder, wie etwa im Fall Polens, aufgrund von sog. „Opt-Out“Regeln nur eingeschränkte Wirkung entfaltet.16 11

Streinz, Europarecht, Rn. 754 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEU, Art. 6 EUV Rn. 7. 12 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Einleitung Rn. 1. 13 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Einleitung Rn. 1. 14 Zum Vorrang der Grundrechtecharta gegenüber den allgemeinen Rechtsgrundsätzen s. Calliess, Die neue Europäische Union, S. 322. Zustimmend Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 3 Rn. 68, der von einer „Überlagerung“ der anderen Grundrechtsquellen durch die Grundrechtecharta spricht. Für ein formal gleichrangiges, in der Sache daher kumulativen Rechtsschutz gewährendes Verhältnis der Chartagrundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Einleitung Rn. 33 f. 15 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 41 m.w.N. 16 Das „Opt Out“ wurde für Großbritannien und Polen im Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon beschlossen. Mit dieser Regelung sollte eine Ausweitung der Befugnisse der staatlichen Gerichte und des EuGH hinsichtlich der Feststellung der Grundrechtswidrigkeit nationaler Maßnahmen und der Begründung neuer einklagbarer Rechte ausgeschlossen werden. S. hierzu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 51 – Art. 54, Rn. 17 f., m.w.N. Durch den

A. Vorbemerkungen

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Für das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde heißt dies, dass nunmehr zuvörderst Art. 1 Abs. 1 GrCh als Geltungsgrund und Rechtsquelle herangezogen werden kann. Darüber hinaus ist im Hinblick auf die unterschiedlichen thematischen Ausdifferenzierungen auf Artikel 2 bis 5 zurückzugreifen, da diese ebenfalls unter dem ersten Titel „Menschenwürde“ in der Grundrechtecharta firmieren. Ferner sind die Urteile des EuGH zur Menschenwürde zur Konkretisierung heranzuziehen, die – wie oben gesehen – der europäischen Menschenwürdegarantie bereits erste Konturen verleihen konnten.17 Als grundrechtsbezogene Regelung der Verträge und damit als weitere Rechtsquelle für die Grundrechte kommt Art. 2 EUV in Betracht, der die Menschenwürde an erster Stelle derjenigen Werte ausweist, auf die sich die Union gründet. Allerdings erlangt diese Nennung der Menschenwürde ungeachtet des Umstands, dass an dieser Stelle von ihr als „Wert“ und nicht nur als Grundrecht gesprochen wird, bei der Frage nach Grundrechtsquellen und Geltungsgründen der Grundrechte keine eigenständige Bedeutung, verweist Art. 2 EUV doch in der Sache lediglich auf die Einzelverbürgungen der GrCh.18 2. Rechtserkenntnisquellen der EU-Grundrechte nach Art. 52 GrCh („Auslegungshilfen“) Schließlich liefern die Rechtserkenntnisquellen wichtige Impulse zur Auslegung der Unionsgrundrechte. Schlüsselnorm für die Herleitung der Geltung der Chartagrundrechte, die als Rechtsquellen wie soeben skizziert eine herausgehobene Stellung genießen, ist Art. 52 GrCh. Danach dienen als Rechtserkenntnisquellen die Grundrechte der EMRK, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie die Charta-Erläuterungen und die Rechtsprechung des EuGH und des EGMR. a) EMRK-Rechte Als wichtigste Rechtserkenntnisquelle für die Charta-Grundrechte ist die EMRK zu nennen, der auch gemäß der Rechtsprechung des EuGH eine „besondere Be-

vollzogenen EU-Austritt Großbritanniens erledigt sich freilich auch die Geltung der als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannten ungeschriebenen europäischen Grundrechte. 17 Dazu s. oben, Kapitel 3. Zum Teil wird die Rechtsprechung des EuGH auch nur als Rechtserkenntnisquelle eingestuft, vgl. nur Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Einleitung Rn. 3. Richtigerweise hängt die Einstufung der Rechtsprechung des EuGH als Rechts- oder Rechtserkenntnisquelle vom Einzelfall ab: Die frühen Entscheidungen des EuGH zur Menschenwürde, die auf diese als allgemeinen Rechtsgrundsatz Bezug nehmen, dürften als Rechtsquelle einzustufen sein; die Urteile mit Bezugnahme auf die GrCh dagegen lediglich als Rechtserkenntnisquelle. 18 Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Präambel Rn. 6 f.; Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 2 EUV Rn. 3.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

deutung“ für den unionalen Grundrechtsschutz zukommt.19 Für die Auslegung der Chartagrundrechte bilden die Rechte der EMRK gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh den Mindeststandard an grundrechtlichem Schutz, hinter den die Gewährleistungen der Grundrechtecharta nicht zurückfallen dürfen. An der Stellung der EMRK-Rechte als Rechtserkenntnisquelle wird sich auch nach einem etwaigen Beitritt der EU zur EMRK nichts ändern.20 Zwar erfolgt der Rückgriff auf die EMRK-Gewährleistungen zur Gewinnung der Chartagrundrechte nur mittelbar, doch ergeben sich im Vergleich zu einer unmittelbaren Heranziehung faktisch keinerlei relevante Unterschiede, sodass dort, wo die EMRK entsprechende Verbürgungen bereithält, die Chartagrundrechte am verbindlichen Referenzpunkt EMRK gemessen werden und ein mindestens gleichwertiges Schutzniveau aufweisen (müssen).21 Wenn an dieser Stelle von der EMRK als Rechtserkenntnisquelle gesprochen wird, meint dies (auch) die EMRK in der Auslegung durch den EGMR, dessen Rechtsprechung Teil dieser Rechtserkenntnisquelle ist.22 Dies bedeutet zwar keine generelle Unterwerfung des EuGH unter den EGMR und seine Judikatur.23 Dennoch dürfte überall dort, wo eine dem Chartagrundrecht entsprechende Verbürgung in der EMRK existiert, diese maßgeblich sein, und zwar in der Interpretation des EGMR.24 Im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie ist zunächst zu sagen, dass die EMRK eine vergleichbare ausdrückliche Regelung in ihrem Rechtekatalog nicht aufweist. Maßgebend ist hier also eine autonom unionsrechtliche Interpretation, ähnlich wie bei Art. 3 GrCh. Dennoch finden sich in der EMRK zahlreiche Einzelverbürgungen, die im Zusammenhang mit der Menschenwürde zu sehen sind und je nach Einzelfall inhaltliche Ausprägungen der unionalen Regelung abbilden.25 Entsprechend existieren zu diesen Aspekten auch Entscheidungen des EGMR, in denen häufig explizit auf die Würde des Menschen als „durchgehendes Motiv der 19

EuGH, Urt. v. 21. 09. 1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, ECLI:EU:C:1989:337, Slg. 1989, 02859 – Hoechst/Kommission, Rn. 13. S. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV, Art. 6 Rn. 20 f. 20 Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, EUV, Art. 6 Rn. 46. 21 Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 3 Rn. 15, 71 f. Ein gegenüber der EMRK weitergehendes Schutzniveau lässt Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh darüber hinaus ausdrücklich zu. 22 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Einleitung Rn. 43; Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 3 Rn. 74. Zur EMRK als „living instrument“, das laut EGMR einer Auslegung „in the light of present-day conditions“ bedarf, s. EGMR, Urt. v. 25. 04. 1978, Nr. 5856/72 – Tyrer/The United Kingdom, Rn. 26. 23 Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen, EuR 2011, 715 (716). 24 Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und allgemeinen Grundsätzen, EuR 2011, 715 (716); s. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 34. 25 Zu nennen sind hier etwa das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK), das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK) sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Grundlegend zur Menschenwürdekonzeption der EMRK ist von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK.

A. Vorbemerkungen

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Konvention“26 verwiesen wird.27 Faktisch gibt die EMRK damit in einigen Ausprägungen der Menschenwürde den Schutzgehalt vor, wenn auf unionaler Ebene im Einzelfall ein höheres Schutzniveau nicht existieren sollte. b) Mitgliedstaatliche Verfassungsüberlieferungen Auch die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen bilden eine Rechtserkenntnisquelle, sowohl für die Rechtsgrundsatz- als auch für die Chartagrundrechte.28 Bereits die englische Formulierung „common constitutional traditions“ verdeutlicht, dass mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen i. S. d. Art. 52 Abs. 4 GrCh nicht lediglich die geschriebenen Verfassungstexte, sondern auch die innerhalb des jeweiligen Mitgliedstaats gefestigten und praktizierten Verfassungsinterpretationen gemeint sind.29 Während ihre Bedeutung für die RechtsgrundsatzGrundrechte als hoch einzustufen ist (fußen diese doch neben der EMRK auch auf den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten), ist ihre Bedeutung für die Chartagrundrechte grundsätzlich geringer als die der EMRK. Dies ergibt sich bereits aus dem im Vergleich zu Art. 52 Abs. 3 GrCh zurückhaltenden Wortlaut von Art. 52 Abs. 4 GrCh.30 Letztlich verbleibt den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle für die Chartagrundrechte neben der EMRK und der entsprechenden EGMR-Rechtsprechung vor allem noch dort Bedeutung, wo die EMRK entsprechende grundrechtliche Verbürgungen nicht bereithält.31 So auch im Bereich der Menschenwürde. Denn wie skizziert wird diese durch die EMRK nur partiell abgedeckt.32 26

S. EGMR, Urt. v. 29. 04. 2002, Nr. 2346/02 – Pretty/Vereinigtes Königreich, Rn. 65; auch EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013, Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10 – Vinter u. a./Vereinigtes Königreich, Rn. 113, wonach die Achtung der Menschenwürde „the very essence“ der Konvention bilde. 27 Zu Art. 3 EMRK s. etwa EGMR, Urt. v. 01. 06. 2010, Nr. 22978/05 – Gäfgen/Deutschland, ins. Rn. 145; unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Menschenwürde auch EGMR, Urt. v. 26. 10. 2000, Nr. 30210/96 – Kudla/Polen, Rn. 94; EGMR, Urt. v. 04. 05. 2003, Nr. 50901/99 – Van der Ven/Niederlande, Rn. 62. 28 Keine Rolle spielen sie angesichts des eindeutigen Wortlauts von Art. 52 Abs. 4 GrCh jedoch für die Chartagrundsätze. 29 Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der EU, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/1, § 157 Rn. 31. 30 Während nach Art. 52 Abs. 3 GrCh den Chartagrundrechten im Vergleich zu den Rechten der EMRK die gleiche Bedeutung zukommt, werden sie gem. Art. 52 Abs. 4 GrCh nur im Einklang mit den Verfassungsüberlieferungen ausgelegt. 31 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 52 GrCh Rn. 39. 32 Bei der Regelung in Art. 52 Abs. 4 GrCh geht es in erster Linie um Schutzbereichsbestimmung der Chartagrundrechte durch Einbeziehung der Verfassungsüberlieferungen. Ob aus ihnen zusätzliche Schrankenerfordernisse abzuleiten sind, ist umstritten, jedenfalls aber für Art. 1 Abs. 1 GrCh insoweit irrelevant, als es hier nach ganz überwiegender Ansicht gerade keine Schrankenmöglichkeit geben soll, näher dazu unten Kapitel 4 E. I.; s. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 44c.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Gerade für die vorliegende Untersuchung werden die Verfassungsüberlieferungen eine große Rolle spielen, da für einige der Themenfelder weder gerichtliche Entscheidungen vorliegen, noch die Charta und ihre Systematik genügend verlässliche Antworten darüber enthalten, inwieweit die zu untersuchenden Problematiken überhaupt menschenwürderelevant, -konform oder -verletzend sind. Der Vergleich mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen wird das soeben beschriebene Deutungsspektrum daher maßgeblich anleiten müssen. Zur Ermittlung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen nutzt der Gerichtshof die Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“.33 Mittels einer Zusammenschau verschiedener einzelstaatlicher Schutzkonzepte sucht der Gerichtshof dabei nach einem als konsentiert zu bewertenden einheitlichen Schutzniveau, wobei hier kein minimaler, allerdings auch kein maximaler Grundrechtsschutz angestrebt wird, sondern das, „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach der rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“.34 Aus diesen Beschreibungen wird bereits ersichtlich, dass das methodische Vorgehen in seinen Details häufig unscharf und unklar sein kann; daher werden dem Ansatz des Gerichtshofs nicht zu Unrecht bisweilen auch „fehlende Methodentransparenz“35 und eine Tendenz bescheinigt, einen „kreativen Eklektizismus“ bei der Rechtsfindung zu befördern.36 Dies hat zwangsläufig Konsequenzen für die vorliegende Untersuchung, da sich die Bestimmung der normativen Reichweite der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie danach nur schwer vornehmen lässt; zusätzliche Schwierigkeiten bereitet, dass die Verfassungstraditionen und Rechtspraxen der Mitgliedstaaten bisweilen völlig heterogen sind und sich in einem entsprechenden Ländervergleich gewichtige Unterschiede in der grundlegenden rechtlichen Konzeption und Konfliktlösung abzeichnen. Schließlich wird überall dort, wo der Verfassungstext bzw. das Verfassungsrecht (auch in seiner gerichtlichen Aufarbeitung) selbst keine eindeutigen Bestimmungen zu einzelnen Sachfragen enthalten, letztlich auf eine mehr oder weniger verbindliche „vorherrschende Meinung“ innerhalb der Lehrmeinung zurückzugreifen sein. c) Charta-Erläuterungen Des Weiteren sind die Charta-Erläuterungen gem. Art. 52 Abs. 7 GrCh als Rechtserkenntnisquelle heranzuziehen. Ihnen mangelt es zwar an eigener Rechts33 Näher hierzu Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 67; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 44 f. 34 Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 53. Näher dazu Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (541 ff.). 35 Wallrabenstein, Die Grundrechte, der EuGH und die Charta, KJ 35 (2002), 381 (385). 36 Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 5, Fn. 40 f.

A. Vorbemerkungen

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qualität, gleichwohl enthalten sie wichtige Hinweise insbesondere zur Genese der entsprechenden Grundrechte. d) Präambel Zudem kann die Präambel als Interpretations- und Auslegungshilfe herangezogen werden. Sie enthält nicht nur die Grundprinzipien, auf welche sich die Union gründet, sondern bildet einen „übergeordneten Sinnzusammenhang“, in den die einzelnen Grundrechte eingebettet sind, weshalb insbesondere die teleologische Auslegung auf die in der Präambel ausgewiesenen Ziele und Motive Bezug nehmen kann.37 Gerade im Hinblick auf die Auslegung der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GrCh und ihre auch auf vorpositive Grundannahmen angewiesene Normstruktur dürfte die Präambel eine im Vergleich zur Auslegung der sonstigen Einzelverbürgungen besonders starke Wirkungskraft entfalten.38 3. Allgemeine Methoden zur Auslegung der EU-Grundrechte Nachdem die Rechtserkenntnisquellen soeben in ihrer Rolle als Auslegungshilfen beleuchtet wurden, soll sich nun in einem nächsten Schritt den allgemeinen Auslegungsmethoden für die Unionsgrundrechte angenähert werden. Was diese anbelangt, ist zunächst auf die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung hinzuweisen, die auf der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung beruht und einer Auslegung mit einzelstaatlicher Färbung entgegensteht.39 Grundsätzlich gelten daher die nach der Rechtsprechung des EuGH auf alle Gemeinschaftsvorschriften anzuwendenden allgemeinen Interpretationsregeln, ausgehend vom Wortlaut der Norm über ihre Genese bis hin zu systematischen und teleologischen Erwägungen.40 Im Wesentlichen stehen damit die Auslegungsmethoden bereit, die auch dem deutschen Rechtsund Verfassungsverständnis zugrunde liegen. Hinsichtlich der Wortlautauslegung ist zu bemerken, dass diese angesichts der verschiedenen Sprachfassungen einerseits Konfliktpotenziale in sich bergen kann, andererseits aber auch interpretatorischen Spielraum ermöglicht – hier wird im Konfliktfall bzw. im Falle der Mehrdeutigkeit im Rahmen einer Gesamtschau zu prüfen sein, welche der Sprachfassungen die

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Meyer, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Vor Präambel Rn. 6. Dies dürfte vor allem für die Bestimmung der konsentierten Grundaussagen der Norm von Bedeutung sein, da sich die grundlegende Zielrichtung der Menschenwürde als Grundrecht auch am Telos der Charta, wie er in der Präambel zum Ausdruck gelangt, ausrichten dürfte. 39 Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 53. 40 Siehe nur EuGH, Urt. v. 19. 09. 2000, Rs. C-156/98, ECLI:EU:C:2000:467, Slg. 2000, I06857 Rn. 50 – Bundesrepublik Deutschland/Kommission; näher zu den Auslegungsmethoden Weber in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, B. II. Allgemeine Interpretationsmethoden, Rn. 6 ff. 38

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Wirksamkeit der Regelung am effektivsten fördert.41 Insbesondere kommt der historischen Auslegung, sprich der Orientierung am Willen des europäischen Konvents und dem Blick auf die Genese der Norm, wesentliche Bedeutung zu.42 Gerade für die unionale Menschenwürdegarantie spielt hierbei die Beziehung zu ihrem grundgesetzlichen Vorbild aus Art. 1 Abs. 1 GG eine entscheidende Rolle, der in dieser Arbeit nachgegangen werden soll. 4. Menschenwürdegarantien in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vor dem Vergleich der unionalen und grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie soll schließlich untersucht werden, auf welche verfassungsrechtlichen Normierungen in den Mitgliedstaaten bei der Bestimmung von Art. 1 Abs. 1 GrCh zurückgegriffen werden kann, inwieweit die rechtliche Konzeption einer Menschenwürdegarantie in den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten also bislang überhaupt Verbreitung fand. Angesichts der vielfältigen normativen Ausgestaltungsmöglichkeiten der Menschenwürde, von einem rechtlich unverbindlichen Bekenntnis über einen normativ verbindlichen Grundsatz bis hin zu einem selbständigen Grundrecht, muss eine vollumfängliche Untersuchung des mitgliedstaatlichen Menschenwürdeschutzes neben der Textanalyse grundsätzlich auch immer die Verfassungspraxis des jeweiligen Mitgliedstaates beinhalten; ein Unternehmen, das an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Daher beschränkt sich die nachfolgende Untersuchung auf die Analyse der verschiedenen Verfassungstexte. Sofern diese keine entsprechende Regelung beinhalten, wird in Ausschnitten die Verfassungspraxis der jeweiligen Länder zur Menschenwürde beleuchtet. Die vielfältige Ausgestaltung des Menschenwürdeschutzes auf mitgliedstaatlicher Verfassungsebene lässt sich grundsätzlich wie folgt differenzieren: Menschenwürde als Höchstwert der Verfassung und/ oder als eigenständiges Grundrecht; Nennung der Menschenwürde in der Präambel zur Verfassung; Erwähnung der Menschenwürde im Kontext einzelner Verfassungsnormen, insbesondere innerhalb einzelner Ausprägungen ihres Schutzgehalts; keine ausdrückliche Nennung der Menschenwürde in der Verfassung. Im Folgenden soll eine kurze Übersicht der Mitgliedstaaten und ihres Menschenwürdeschutzes durch die jeweilige Verfassung anhand dieser Strukturierung erfolgen. Explizite Menschenwürdegarantien sind in den Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eher die Ausnahme und meist in jüngeren Verfassungstexten aufzufinden. Mit der grundgesetzlichen und chartarechtlichen 41 Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 53. 42 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vorbemerkungen zu Art. 51 GrCh Rn. 2c.

A. Vorbemerkungen

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Menschenwürdegarantie vergleichbare Regelungen von oberstem Verfassungsrang finden sich in den Verfassungen Portugals43, Griechenlands44, Italiens45, Spaniens46, Finnlands47, Ungarns48, Rumäniens49, Estlands50, Bulgariens51, Polens52, der Slowakei53 und Tschechiens54, wenngleich die Menschenwürde nach diesen Verbür43 Art. 1 der portugiesischen Verfassung (1976, i. d. F. v. 12. 12. 2001) spricht zunächst von den „Grundsätzen der Menschenwürde und des Volkswillens“, auf denen sich die Republik gründet. In Art. 25 II (Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung), Art. 26 II (Schutz von Persönlichkeitsrechten), Art. 59 I (Schutz der Arbeiter), Art. 66 I (Umweltschutz) und Art. 67 II (Unterstützung bei Schwangerschaft) finden sich sodann Konkretisierungen der Menschenwürde. 44 Die griechische Verfassung (1975, i. d. F. v. 16. 04. 2001) beinhaltet in Art. 2 I die ausdrückliche Grundverpflichtung des Staates, „die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“ Des Weiteren findet sich in Art. 7 II ein Verbot der Folter und der menschenunwürdigen Behandlung sowie in Art. 106 II eine Schutzvorschrift im Kontext privatwirtschaftlicher Initiativen. 45 In der italienischen Verfassung (1947, i. d. F. v. 02. 10. 2007) wird die Menschenwürde gleich mehrfach genannt, so in Art. 3 unter „Grundlegende Rechtssätze“, darüber hinaus im Kontext des Strafvollzugs (Art. 27), medizinischer Behandlung (Art. 32), Lohnansprüchen des Arbeiters (Art. 36) sowie der Privatinitiative der Wirtschaft (Art. 41). 46 An der Spitze der Grundrechte und Grundpflichten der spanischen Verfassung findet sich in Art. 10 eine Bezugnahme auf die Würde des Menschen, die mit den ihr innewohnenden unverletzlichen Rechten sowie weiteren Rechten „die Grundlage der politischen Ordnung und des sozialen Friedens“ bildet. 47 § 1 des finnischen Grundgesetzes (1999) enthält eine Gewährleistung der „Unverletzlichkeit der menschlichen Würde“; darüber hinaus verbietet § 7 die Behandlung auf eine die Menschenwürde verletzende Weise. § 19 schließlich gebietet das Recht auf sozialen Schutz für jeden, „der die für ein menschenwürdiges Leben erforderliche Sicherheit nicht erwerben kann“. 48 In der Verfassung Ungarns (2011, i. d. F.v.25. 04. 2011) findet sich gleich zweimal ein Bekenntnis zur Menschenwürde: zunächst in der Präambel, wonach die Würde des Menschen die Grundlage des menschlichen Seins“ bildet; schließlich an der Spitze des Grundrechtskatalogs in Art. 2 I als gekoppeltes „Recht auf Leben und Menschenwürde“. 49 Art. 1 III der rumänischen Verfassung (1991) weist u. a. die Menschenwürde als oberstes Staatsprinzip aus, welche einen „höchsten Wert darstellt und garantiert ist“. 50 § 10 der Verfassung der Republik Estland (1992, i. d. F. v. 05. 10. 2003) spricht von dem „Grundsatz der Menschenwürde“, dem die sodann folgenden Grundrechte, Freiheiten und Pflichten entsprechen müssen. In § 18 findet sich ein Verbot der Folter und der grausamen oder unwürdigen Behandlung. 51 Unter den Grundprinzipien aus Kapitel 1 der bulgarischen Verfassung (1991, i. d. F. v. 06. 02. 2007) enthält Art. 4 II die Gewährleistung für „das Leben, die Würde und die Rechte des Einzelnen“. Daneben wird die Menschenwürde in der Präambel als Prinzip höchsten Verfassungsranges aufgelistet. Schließlich finden sich in Art.6 (Gleichbehandlung) und Art. 32 (Schutz von Persönlichkeitsrechten) Bezugnahmen auf die Menschenwürde. 52 Auch die polnische Verfassung (1997) weist die Würde des Menschen, die „ihm angeboren und unveräußerlich“ ist, in Art. 30 unter „Freiheiten, Rechte und Pflichten des Menschen und des Staatsbürgers“ als allgemeinen Grundsatz aus. Daneben spricht die Präambel von der Menschenwürde als „unverletzliche[r] Grundlage“ der Republik Polen. 53 Der Grundrechts- und Freiheitenkatalog der slowakischen Verfassung (1992, i. d. F. v. 11. 04. 2002) beginnt in Art. 12 I mit der Erklärung, dass „die Menschen […] frei und gleich in ihrer Würde und ihren Rechten [sind]“. Des Weiteren finden sich Bezugnahmen auf die

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gungen im normativen Rang zwischen eigenständigem (Grund-)Recht und objektivem Verfassungsgrundsatz höchsten Wertes changiert. Daneben findet sich in der Verfassung Irlands eine Bezugnahme auf die Menschenwürde als grundlegender Wert, allerdings lediglich in deren Präambel.55 In den Verfassungen Belgiens56, Österreichs57, Lettlands58, Litauens59, Sloweniens60 und Kroatiens61 ist die Menschenwürde dagegen nicht als besonders herausgehobene Verfassungsnorm zu finden; dort wird sie meist nur im Kontext mit anderen Verbürgungen oder speziellen thematischen Ausprägungen erwähnt. Überhaupt nicht genannt wird die Menschenwürde in den Verfassungen von Frankreich, Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Malta und Zypern. Gleichwohl finden sich in diesen Ländern einfachgesetzliche Regelungen sowie sonstige verfassungsrechtliche Garantien, die dem Schutz der Menschenwürde dienen.62 menschliche Würde in Art. 19 (Schutz der persönlichen Ehre und Persönlichkeit) und Art. 36 (Anspruch auf zufriedenstellende Arbeitsbedingungen). 54 Die mit Verfassungsrang ausgestattete Charta der Grundrechte und -freiheiten (1992) enthält gleich zu Beginn in Art. 1 das Bekenntnis, dass „die Menschen […] frei und gleich an Würde und Rechten“ sind. Zudem verbürgt Art. 10 I ein Recht auf Erhaltung der Menschenwürde für jedermann, welches in einen Sinnzusammenhang mit Persönlichkeitsrechten eingebettet ist. Schließlich enthält die Präambel zur Verfassung in der Fassung vom 14. 11. 2002 die Bezeugung der „unantastbaren Werte der Menschenwürde und Freiheit“. 55 Präambel der Verfassung der Republik Irland (1937, i. d. F. v. 24. 06. 2004): „… und in dem Bestreben, […] das allgemeine Wohl zu fördern, auf dass die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet […] werde, nehmen wir diese Verfassung an, setzen sie in Kraft und geben sie uns.“ 56 Art. 23 der belgischen Verfassung (1994, i. d. F. v. 17. 12. 2002) normiert das Recht, „ein menschenwürdiges Leben zu führen“, was etwa das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Umweltschutz und kulturelle und soziale Entfaltung umfasst. 57 Im Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich findet sich kein Verweis auf die Menschenwürde. Dagegen enthält das mit Verfassungsrang ausgestattete Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit (1988, i. d. F. v. 04. 01. 2008) in Art. 1 IV das Gebot der Achtung der Menschenwürde im Kontext von Festnahmen. 58 Nach Art. 95 der Verfassung (1922) schützt der Staat „Ehre und Würde des Menschen“, weshalb in diesem Artikel auch ein Verbot grausamer und erniedrigender Behandlung und Strafe zu finden ist. 59 Art. 21 der Verfassung (1992) gebietet den gesetzlichen Schutz der Menschenwürde und verbietet herabwürdigende Strafen. 60 Nach Art. 21 der slowenischen Verfassung (1991) wird die „Achtung der Persönlichkeit und Menschenwürde im Strafverfahren und in allen anderen rechtlichen Verfahren sowie während des Freiheitsentzuges und Strafvollzuges […] gewährleistet“. Daneben schützt Art. 34 das „Recht auf persönliche Würde und Sicherheit“. 61 Bezugnahmen auf die Menschenwürde finden sich in der Verfassung der Republik Kroatien (1990, i. d. F. v. 16. 06. 2010) in Art. 25, wonach jeder Festgenommene und Verurteilte in seiner Würde zu achten ist und in Art. 35, der den Schutz des „Privat- und Familienlebens, der Würde, des Ansehens und der Ehre“ garantiert. 62 In Frankreich ist die Menschenwürde als ungeschriebener Grundsatz von Verfassungsrang anerkannt, s. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union,

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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Ein Querschnitt der verschiedenen Verfassungen und Rechtskulturen der europäischen Mitgliedstaaten zeigt daher zunächst, dass die Menschenwürde überwiegend nicht nur als Fundamentalnorm für das Gemeinwesen als solches (daher die häufige Bezugnahme in Präambeln), sondern für die gesamte Grund- und Menschenrechtsordnung begriffen wird. Als eigenständiger (objektiver oder subjektiver) Rechtssatz ragt die Menschenwürde vor allem in jüngeren Verfassungswerken heraus, so etwa in den Texten zahlreicher osteuropäischer Reformstaaten. Wo eine explizite Bezugnahme auf die Menschenwürde fehlt, vermittelt sich ihr Schutz in der Regel zumindest über die Rechtsprechung der Höchstgerichte oder über spezielle grundrechtliche Verbürgungen. Dies alles zeigt, dass die Menschenwürde als grundsätzlicher Wert in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur Anerkennung findet, sondern überwiegend auch normative Qualität und entsprechende Steuerungskraft beansprucht. Da es nach Ansicht des EuGH bei der Ermittlung einer unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie nicht auf eine vollkommene Übereinstimmung der Schutzmodelle ankommt, sondern darauf, ob sich aus der Vielzahl der Rechtskulturen ein common sense im Hinblick auf das „Ob“ – also die grundsätzliche Notwendigkeit – des Menschenwürdeschutzes ermitteln lässt, kann zumindest insoweit von einem breiten Konsens unter den Mitgliedstaaten gesprochen werden.

B. Der gemeinsame Kern des europäischen und des grundgesetzlichen Würdeverständnisses Es hat sich gezeigt, dass ein Grundkonsens hinsichtlich des „Ob“ des Menschenwürdeschutzes zwischen den Mitgliedstaaten existiert. Nun stellt sich die Frage, welche grundsätzlichen inhaltlichen Ausprägungen daraus für die unionsrechtliche Würdegarantie erwachsen und welchen Inhalt der unionale Würdebegriff vor diesem Hintergrund gewinnt. Auf dieser Grundlage kann im Vergleich weiter gefragt werden, ob und inwiefern zwischen dem Normgehalt der europäischen Menschenwürdegarantie auf der einen und der grundgesetzlichen Garantie auf der anderen Seite grundlegende Schnittmengen und Übereinstimmungen in der Konzeption und im Schutzniveau bestehen. Dass, wenn in den verschiedenen Dokumenten von Menschenwürde die Rede ist, ungefähr dasselbe gemeint ist, liegt auf der Hand und zeigt bereits die in einigen Verfassungen bestehende Verknüpfung der Würdenorm mit dem Gleichheitssatz oder mit Vorschriften zum Schutz von persönlicher Freiheit und Integrität. Die nahezu identische Formulierung der unionsrechtlichen und grundgesetzlichen Würdegarantie legt auch hier eine grundsätzliche Übereinstimmung in ihrem materiellen S. 51 ff. Zur Situation in Grußbritannien s. wiederum Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 56 ff.

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Gehalt nahe. Unverkennbar ist aber auch, dass mit den Garantien nur ungefähr dasselbe, nicht aber Identisches beschrieben ist, die Vorstellungen über Menschenwürde zwischen den Mitgliedstaaten untereinander und zwischen der mitgliedstaatlichen und unionsrechtlichen Ebene also durchaus auseinander liegen können.63 Die entscheidende Frage ist deshalb zunächst, ob sich ein Kern an unionsweiten, möglicherweise aber sogar universal akzeptierten konsentierten Grundaussagen der Menschenwürde identifizieren lässt.

I. Eine Ideengeschichte für beide Garantien? Die Suche nach dem gemeinsamen Kern soll zunächst mit kurzem Blick auf die philosophischen und ideengeschichtlichen Wurzeln der beiden Rechtssätze aus Art. 1 GrCh und Art. 1 GG beginnen, hängt die Interpretation der Würdegarantien doch in nicht unerheblichem Maß von diesen Wurzeln ab.64 Dass die Ideengeschichte nicht auf eine „deutsche“ Geschichte reduziert oder in eine „deutsche“ auf der einen und „europäische“ Ideengeschichte auf der anderen Seite unterteilt werden kann, resultiert bereits aus dem Umstand, dass sie eine Geschichte von Formierung, Weiterentwicklung, Interaktion, Adaptierung und Amalgamierung europäischer Denkschulen ist, die über Jahrhunderte angedauert hat. Einer solchen Entwicklung stellen sich Landesgrenzen zwangsläufig nicht entgegen – wie auch Herkunft und Wirkungsort einiger der wichtigsten Interpreten des Begriffs verraten. Andererseits fällt aber auf, dass das Konzept der Menschenwürde in seiner heutigen vielfältigen Gestalt seinen Ausgangspunkt in Europa genommen hat und in seiner Ausbreitung nach wie vor weitgehend auf europäische Rechtskreise konzentriert zu sein scheint65 – auch wenn ein seit längerem anhaltender Bedeutungszuwachs im inter-

63 Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, S. 55 (59 ff.). 64 Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, S. 56. Ausführlich zur Ideengeschichte des Würdebegriffs Gröschner, Wörterbuch der Würde, S. 15 ff.; induktiv auch von der Pfordten, Menschenwürde, S. 11 ff. 65 Die stark freiheits- und autonomieorientierte US-amerikanische Bill of Rights etwa beinhaltet ein implizites oder explizites Menschenwürdekonzept nicht; s. jedoch zum Menschenwürdeverständnis im US-amerikanischen Verfassungsrecht Eberle, Human Dignity in American Constitutional Law, in: Brugger/Kirste (Hrsg.), Human dignity as a foundation of law, S. 255 ff. Ausführlich nun Gisbertz, Menschenwürde in der angloamerikanischen Rechtsphilosophie, S. 149 ff., 323 ff. Zum Menschenwürdediskurs im islamischen Raum s. Wielandt, Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: Schwartländer (Hrsg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, S. 179 ff. Eine explizite Menschenwürdegarantie, die denen der GrCh und des GG vergleichbar ist, enthält die Verfassung von Südafrika von 1994; s. dazu Ackermann, Equality and the South African Constitution: The Role of Dignity, ZaöRV 60 (2000), 537.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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nationalen Menschenrechtsdiskurs nicht mehr zu leugnen ist.66 In allem ist die Ideengeschichte des Begriffs damit jedenfalls keine deutsche, sondern eine europäische Ideengeschichte und ist der Begriff Menschenwürde daher kein deutscher, sondern ein europäischer Rechtsbegriff.67 Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Ideengeschichte in der Philosophie der Antike, insbesondere der griechischen Stoa und ihrer Vorstellung von einer vernunftgeleiteten Weltordnung. An dieser nimmt, so eine der zentralen Annahmen, der Mensch kraft seines Menschseins teil, wobei seine Vernunftbegabung ihn gerade zur kritischen Selbstreflexion und damit zur Freiheit befähigt, aber auch verpflichtet. Cicero führte diese Vorstellung von der Vernunftbegabung des Menschen und seinen damit einhergehenden Aufgaben fort und verband die Grundzüge der griechischen Stoa mit dem römischen Begriff der „dignitas“.68 Seiner Philosophie lag eine Vorstellung des Menschen als von einem vom Tier dadurch unterschiedenen Lebewesen zugrunde, dass es kraft seiner Vernunftbegabung seine Triebe und Leidenschaften zu domestizieren vermag – und gerade dadurch Würde erlangt. Diese Anschauung lässt einerseits zwar bereits den egalitären Charakter des (heutigen) Menschenwürdeverständnisses vorausahnen, da danach jeder Mensch kategorisch vom Tier unterschieden sein soll. Von dem distinguierenden Gehalt des zur damaligen Zeit die römische Aristokratie beschreibenden Begriffs „dignitas“, die hier weniger als eine allen Menschen gleichermaßen innewohnende Eigenschaft, sondern als Attribut einiger weniger „Würdenträger“ betrachtet wurde, deren gesellschaftliche Stellung – eben ihre Dignität – durch dieses Attribut ausgezeichnet wurde, konnte sich jedoch auch Cicero nicht vollständig lösen.69 Maßgeblicheren Einfluss auf die Entstehungsgeschichte der heutigen Rechtssätze hatte die gleichwohl auf diesen Ideen aufbauende, im Mittelalter vorherrschende christliche Vorstellung, dass der Mensch aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit (Imago Dei) eine einzigartige Stellung innerhalb der göttlichen Schöpfung genießt.70 Nach dieser Lehre, als deren Vertreter allen voran Thomas von Aquin gelten kann, 66 Grundlegend dazu die Beiträge zu „Human Dignity in International Law“ in Kretzmer (Hrsg.), The concept of human dignity in human rights discourse, S. 111 ff. 67 Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5: „Würde des Menschen als grundlegende Rechtserkenntnis der europäischen Kultur“. 68 Cicero, De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln. Lat./Dt. Übers., komm. und hrsg. von Heinz Günermann, S. 13 – 113. Zu dem zentralen Werk De Officiis und dem Würdeverständnis Ciceros s. Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 66 f. 69 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 4 f. 70 Zu den (dort deutlich früher angesetzten) Vorläufern der sog. Imago Dei Lehre s. Tiedemann, Was ist Menschenwürde?, S. 59 ff. Zur Imago-Dei Lehre s. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5 ff. m.w.N. Hier wird der christlichen Lehre im Allgemeinen und der Imago Die Lehre im Besonderen jedoch eine weitaus geringere Bedeutung beigemessen, als dies in anderen Kommentaren der Fall ist, s. nur Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 5 ff: „Da die abendländische Zivilisation entscheidend vom Christentum geprägt ist, liegt es nahe, die Wurzeln der Menschenwürdegarantie im Christentum zu suchen.“ S. auch Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 8 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

kommt dem Menschen Würde als eine vorgegebene und unverfügbare Gabe Gottes zu, ohne dass es dazu seiner individuellen Leistung, Entfaltung oder Findung bedarf.71 Diese Würde ist schließlich jedem Menschen qua Menschsein gegeben, sodass der egalitäre Charakter des Würdeverständnisses hier deutlich zum Vorschein tritt.72 Die Lehre fand später und bis heute noch ihre Entsprechung in den naturrechtlich geprägten sog. „Mitgift“- oder Werttheorien73.74 Neben der mittelalterlichen Imago-Dei-Lehre kommt für die moderne Ausprägung der Menschenwürde vor allem der Philosophie der Aufklärung größte Bedeutung zu. Hier ist es die maßgeblich von Kant geprägte Idee, dem Menschen komme aufgrund seiner Teilhabe an der Weltvernunft und seiner Einsichtsfähigkeit „sittliche Autonomie“ zu, die als Grund der Würde der menschlichen Natur gedeutet wird.75 Die Neuerung und das revolutionäre Potenzial des Ansatzes bestehen darin, dass für die Begründung dieser jedem Menschen innewohnenden Würde – in Abkehr von der Imago-Dei-Lehre – nicht auf die Beziehung des Menschen zu Gott und seine Gottesebenbildlichkeit, sondern einzig auf seine Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung rekurriert wird. Die Lehre Kants wird aufgrund dieser breiten Anschlussfähigkeit häufig als die entscheidende Wurzel des modernen Menschenwürdeverständnisses genannt.76 Gerade die maßgeblich von Günter Dürig geprägte, vom BVerfG adaptierte Subjekt-/Objektformel wird regelmäßig auf ihre kantische Vorprägung zurückgeführt.77

71 Näher Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 70 ff. Ausführlich zur Philosophie Thomas’ Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 180 ff., dort auch zur Weiterführung im Renaissanceindividualismus und -humanismus durch G. Pico della Mirandola und S. Pufendorf, S. 184 ff. 72 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 72. 73 Der Begriff der „Mitgifttheorie“ geht auf Hasso Hofmann zurück, der ihn in seiner Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1993 erstmalig – allerdings mokant – verwendet hat, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (357 ff.). Da sich der Begriff im juristischen Diskurs etabliert hat, soll er auch im Folgenden verwendet werden, ohne dass damit aber eine eigene Wertung zum Ausdruck gebracht werden soll. 74 Zur Entwicklung des grundgesetzlichen Würdebegriffs und seiner Interpretation im christlich-naturrechtlichen Sinne in den 50er Jahren s. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 78 ff.; s. auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 102 ff., dort (S. 27 ff., ins. 32 f.) auch näher zur Konstitutionalisierung der Menschenwürde unter dem Einfluss der katholischen Soziallehre. 75 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786), Werkausgabe Band VII, S. 69: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ 76 Die, wenngleich mit Einschränkungen versehene, grundsätzliche Bejahung dieser Rezeption bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 15 f. 77 Gestützt wird dies maßgeblich auf die Passage aus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (2. Aufl. 1786, Werkausgabe Band VII, S. 66): „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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Auch in der Moderne, insbesondere im 20. Jahrhundert, sind zahlreiche Begründungsansätze für die Interpretation der Menschenwürde auszumachen. Sie bauen zum Teil auf die skizzierten Positionen auf und führen sie fort, stehen den Konzepten bisweilen aber auch diametral gegenüber.78 Im Diskurs prominent vertreten ist dabei etwa die Vorstellung, die Würde des Menschen sei nicht eine ihm per se innewohnende, von persönlichen Verhaltensweisen und Verdiensten unabhängige Eigenschaft, sondern Resultat einer notwendigen Hervorbringung und kreativen Gestaltungsleistung des Menschen.79 Diese häufig als Leistungstheorie paraphrasierte Konzeption bildet damit das ideelle Gegenstück zu den Werttheorien. Zusammen werden sie – teilweise in ursprünglicher, teilweise auch in leicht abgewandelter Form – als die wesentlichen Theorien zur Menschenwürde betrachtet.80 Jüngere ideengeschichtliche Strömungen, insbesondere solche aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stellen zur Begründung menschlicher Würde hingegen primär auf die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen als Sozialwesen ab. Würde resultiert nach dieser Auffassung aus der Kommunikation und sozialen Interaktion mit anderen, weshalb als Schutzgut danach zuvörderst die mitmenschliche Sozialität gelten kann (Kommunikationstheorie).81 Fragt man nun, was sich aus den historischen Wurzeln und dem philosophischen Erbe an Erkenntnissen für die unionale und die deutsche Menschenwürdegarantie ableiten lässt, bestätigt sich zunächst der Befund, dass sich beide Garantien aus derselben Ideengeschichte speisen. Aus diesem Umstand resultiert auch ein vergleichbares Maß an potenziellen Deutungsmustern für den Schutzgehalt der Menschenwürde. Beide Garantien können daher – losgelöst von ihrer konkreten Entstehungsgeschichte – aufgrund des gemeinsamen historischen Erbes als theoriegesättigt, vielleicht sogar -übersättigt gelten. Dabei gilt zu beachten, dass Ausflüsse der jeweiligen Theorien in beiden Garantien zu finden sind. So sind Spuren der „Mitgifttheorie“ etwa in dem Prinzip der Unverfügbarkeit der menschlichen Würde, gesichert über den Absolutheitsanspruch, zu finden. Niedergeschlagen hat sich dieses Prinzip auch in der vom BVerfG herausgearbeiteten engen Verbindung zwischen Lebensrecht und Menschenwürde, welche in der Charta aufgrund der systematischen Stellung von Art. 2 GrCh zum Ausdruck gelangt. 78

Ausführlich Gröschner, Wörterbuch der Würde, S. 57 ff. Zur Vorstellung der Würdeerlangung durch Leistung s. Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff., 68 ff. 80 Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/ Kirchhof, HStR II, § 22 Rn. 39. 81 Diese Theorie kann grundsätzlich auch unter der Leistungstheorie erfasst werden, wenngleich sie ihrerseits noch einmal unterschiedliche Strömungen aufweist. So ist die Frage, worin genau die soziale Interaktion gesehen werden kann bzw. welche Anforderungen an diese zu stellen sind, im Einzelnen umstritten. Maßgeblich für die Untergliederung dürften die Denkschulen Luhmanns, Hofmanns und Häberles sein, näher hierzu Brugger, Menschenwürde im anthropologischen Kreuz der Entscheidung, JöR 56 (2008), 95 (101 ff.). 79

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Mit der Leistungstheorie lässt sich daneben und als weitere Ausdifferenzierung der Menschenwürde die Anerkennung eines postmortalen Persönlichkeitsrechts nachvollziehen, dessen Grund und Ausmaß das BVerfG zumindest in Teilen an dem Erwerb durch die „eigene Lebensleistung der Person“ bemisst.82 Überhaupt trägt die Zielsetzung der Autonomie des Einzelnen (etwa auch im Kontext der sexuellen Selbstbestimmung83), die ein Hauptanliegen der Menschenwürdegarantie darstellt, den Leitgedanken der Leistungstheorie insoweit in sich, als damit gerade die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht, das Rüstzeug für persönliche (Lebens-) Leistung an die Hand gegeben werden soll. Schließlich prägt die Kommunikationstheorie den Schutzgehalt der Menschenwürde vor allem im Bereich der Anerkennung des Menschen als soziales Wesen, was etwa die staatliche Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zur Folge hat oder im Falle der lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit der Wiedererlangung der Freiheit gebietet.84 Dies zeigt, dass keine der Theorien für sich genommen genügt, den Schutzbereich der Menschenwürde hinreichend zu verdichten und thematisch vollumfänglich zu sättigen. Vielmehr kann nur ein Zusammenspiel der unterschiedlichen Auffassungen ein Gesamtbild und damit ein adäquates und unverkürztes Bild des Schutzgehalts der Würdegarantie ergeben. Dies dürfte vor dem Hintergrund des eben Gesagten sowohl für die unionale als auch die grundgesetzliche Menschenwürdegarantie gelten. Andererseits können zwischen den Theorien auch Spannungen bestehen. Betrachtet man in diesem Zusammenhang etwa die vom BVerfG geprägte Formel vom „Menschenbild des Grundgesetzes“, wird deutlich, dass die Leistungs- und Kommunikationstheorie miteinander konfligieren können. In der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe hatte das BVerfG dieses Menschenbild umrissen als ein Leitbild, dem „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde[liegt], das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“.85 Diese Freiheit sei jedoch „nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemein82 S. etwa BVerfG, Beschluß vom 5.4. 2001 – 1 BvR 932/94, NJW 2001, 2957 (2959) – Wilhelm Kaisen: „Geschützt ist bei Verstorbenen zum einen der allgemeine Achtungsanspruch, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht. Dieser Schutz bewahrt den Verstorbenen insbesondere davor, herabgewürdigt oder erniedrigt zu werden (vgl. BVerfGE 30, 173 [194] = NJW 1971, 1645). Schutz genießt aber auch der sittliche, personale und soziale Geltungswert, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat. [Herv. C.L.]“. 83 Eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG erblickte das BVerfG etwa in dem Fall, dass der Staat die Anerkennung der geschlechtlichen Identitätsänderung verweigert, vgl. BVerfGE 115, 1 (14) – Transsexuelle III. 84 Grundlegend zum Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; zuletzt BVerfGE 125, 175 ff. – Hartz IV. Zum aus der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen resultierenden Verbot der lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Chance auf Wiedererlangung der Freiheit s. BVerfGE 45, 187 (228) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 85 BVerfGE 45, 187 (227 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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schaftsgebundenen Individuums“ zu verstehen.86 Mag diese Formel zwar als gelungener Kompromiss zwischen Individualismus und Kollektivismus und als Abgrenzung von traditionellem Liberalismus und National- und Sowjetsozialismus gedeutet werden87: Hier offenbart sich in einem Satz jedenfalls das Ringen zwischen der Autonomie des Menschen – in Abgrenzung zum Menschen als bloßes Sozialobjekt – auf der einen und der Sozialgebundenheit des Menschen – in Abgrenzung von gänzlich isolierter Selbstentfaltung – auf der anderen Seite. Am Beispiel der Frage des Würdeschutzes am Lebensende wird ersichtlich, dass auch Leistungs- und „Mitgifttheorie“ zu divergierenden Lösungen führen und daher konträr zueinander stehen können. Mit der „Mitgifttheorie“ ließe sich etwa die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit von Regelungen zur Sterbehilfe im Ergebnis wohl nur bei sehr restriktiver Ausgestaltung bejahen. Dagegen wären mit der Leistungstheorie auch rechtliche Regelungen vereinbar, möglicherweise sogar angezeigt, die stärker am Willen des Einzelnen orientiert sind und so primär dessen freien Willen Rechnung tragen. Da sowohl die unionale als auch die grundgesetzliche Würdegarantie Grundzüge der drei Theorien in sich vereinen, sind die skizzierten Abgrenzungs- und Entscheidungsfindungsprozesse auf beiden Ebenen vergleichbar. Fraglich ist angesichts dieser Melange an Interpretationsangeboten, welche der Theorien das Würdeverständnis des Grundgesetzes und das der Charta am stärksten prägen.

II. Dominanz eines der Deutungsangebote? Diese Frage wird allerdings deswegen kaum umfassend zu beantworten sein, da die Anwendung der Theorien nicht offen zu Tage tritt, sondern sich wesentlich subtiler in Gerichtsentscheidungen und wissenschaftlichen Diskursverläufen manifestiert. Aufgrund dieser Subtilität und der enstsprechenden Einkleidung der Theorien gestaltet sich eine wissenschaftliche Analyse schwierig und geht notwendigerweise mit Vereinfachungen einher. Sie kann sich gleichwohl dann als gewinnbringend herausstellen, wenn an dieser Stelle abermals die ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung und daneben die Verfassungstexte selbst analysiert sowie die herrschenden Meinungen in der Literatur sondiert werden. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt zunächst die grundgesetzliche Norm und ihre Ausprägung in der Rechtsprechung des BVerfG, hat sich bereits in Kapitel 3 herausgestellt, dass die Interpretation der Würdegarantie durch das BVerfG vor allem von der Wert- oder „Mitgift“-Theorie geprägt ist.88 Neben den bereits zitierten 86

BVerfGE 45, 187 (227 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe. Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, S. 78 f., wonach diese Formel in der Tradition der christlichen Personalitätslehre steht. 88 Im Einzelnen s. oben, ins. Kapitel 3 C. III. Ideengeschichtlich kann dies als eine Prägung im Sinne der christlichen Personalitätslehre gedeutet werden. Sinnbildlich hierfür sind die 87

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Passagen zum Menschenbild des Grundgesetzes geben hierüber zahlreiche weitere Urteilspassagen aus seiner Würderechtsprechung Aufschluss, so etwa die Klarstellung, dass jedem Menschen allein und kraft Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung Würde zukomme, „[…] ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status“89. Menschenwürde sei, so das Gericht weiter, „[…] auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann.“90 Schließlich könne sie weder durch „unwürdiges Verhalten“ verloren gehen noch dem Einzelnen genommen werden.91 Auch für den Bereich des vorgeburtlichen menschlichen Lebens betonte das BVerfG in den bereits vorgestellten Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch wiederholt, dass die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Möglichkeiten genügten, um Würde zu begründen.92 Diese Potentialität weise den Menschen auch im vorgeburtlichen Status als zur menschlichen Gattung gehörend aus, ohne dass es dabei auf die tatsächliche „Umsetzung“ dieses Potenzials ankäme. Einem grundlegenden Verständnis, wonach Würde das Ergebnis einer individuell zu erbringenden Leistung darstellt oder zuvörderst von der gegenseitigen Achtung innerhalb einer Kommunikations- und Diskursgemeinschaft abhängt, erteilte das BVerfG damit eine kategorische Absage.93 Im Schrifttum nehmen dagegen die Leistungs-94 und Kommunikationstheorie95 als maßgebliches Kriterium zur Herleitung von Menschenwürde mittlerweile breiteren Raum ein, sodass die lange Zeit vorherrschende Dominanz der Wert- oder „Mitgift“- Theorie hier nicht unerheblich geschmälert sein dürfte. Nach wie vor ist diese aber auch hier als wichtiges Interpretationsangebot bei der Auslegung der

wiederholten Ausführungen des BVerfG, wonach jedem Menschen Indiviualität und ein eigenständiger absoluter Wert in der „Schöpfungsordnung“ zukommen, s. BVerfGE 2, 1 (12) – SRP, BVerfGE 39, 1 (67) – Schwangerschaftsabbruch I. Mit diesen Ausführungen geift das BVerfG auch terminologisch auf die Grundzüge christlicher Sozial- und Personalitätslehre zurück, vgl. nur Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 85 ff. 89 BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel. 90 BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel; s. auch BVerfGE 96, 375 (399) – Kind als Schaden. 91 BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel. 92 BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 88, 203 (252) – Schwangerschaftsabbruch II. 93 Dies schließt jedoch nicht aus, dass das BVerfG zur Begründung einzelner Ausprägungen der Menschenwürde argumentative Anleihen bei den anderen Theorien nimmt, so etwa im Kontext des postmortalen Persönlichkeitsrechts bei der Leistungstheorie, s. dazu BVerfG, Beschluß vom 5.4. 2001 – 1 BvR 932/94, NJW 2001, 2957 (2959) – Wilhelm Kaisen. 94 Als Vertreter sind hier zu nennen Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff.; Gusy, Sittenwidrigkeit im Gewerberecht, DVBl 1982, 986; Höfling, Menschenwürde und gute Sitten, NJW 1983, 1582 (1583 f.). 95 Vertreter sind Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 ff.; Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung; Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 62.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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Würdegarantie nicht wegzudenken,96 was auch der Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG insofern Rechnung trägt, als der parlamentarische Rat bei Schaffung der Norm stark naturrechtlich dachte.97 Insofern handelt es sich hier um eine Interpretation, die sich der Normgenese im Besonderen verpflichtet weiß und daher auch in der maßgeblichen Literatur nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Die Frage ist dann, ob sich eine vergleichbare Zuordnung auch für die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GrCh vornehmen lässt. Der Blick auf den Wortlaut der Norm lässt hier ebenso wenig Schlüsse wie im Falle der grundgesetzlichen Garantie zu: Differenzierungen im Hinblick auf die Trägerschaft von Menschenwürde, ihren Inhalt und den aus ihr fließenden Schutzanspruch lassen sich daraus nicht ableiten. Auch die Rechtsprechung des EuGH ist diesbezüglich uneindeutig. Allenfalls lassen sich aus der Entscheidung zur Rückführungsrichtlinie aus dem Jahr 201498 vorsichtige Rückschlüsse auf das zugrundeliegende Würdeverständnis ziehen, da der persönlichen Freiheit hier Grenzen auferlegt und gleichzeitig die Indisponibilität der Würde betont wurden.99 Die der Leistungstheorie zugrundeliegende Vorstellung vom Menschen als autonomes, sich selbst bestimmendes und gestaltendes – und dadurch erst Würde erlangendes – Wesen steht damit zumindest in einer Spannungslage. Einen ähnlichen Geist atmet die Entscheidung zur Überprüfung der Homosexualität aus demselben Jahr,100 da auch hier der Gerichtshof den Betroffenen die eigene Erniedrigung und Entwürdigung – hier zum Zwecke der Beweiserbringung – versagte.101 Nun sind die Urteile freilich vor dem Hintergrund spezifischer Bedrohungslagen zu lesen, in der Folge zu kontextualisieren und damit in ihrem Aussagegehalt zu relativieren – viel mehr als gewisse Tendenzen werden daraus kaum abzuleiten sein, zumal der EuGH in den Entscheidungen auf weitergehende oder abstrakte Äußerungen zur Menschenwürde gänzlich verzichtet hat. Trotzdem hat sich gezeigt, dass er auch in seiner Judikatur einen unbedingten und nicht zur Disposition stehenden, da indisponiblen und unveräußerlichen Kern der Menschenwürde – ganz im Sinne der „Mitgifttheorie“ – anerkennt. Es bleibt abzuwarten, 96 S. etwa Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 45 ff. 97 Zur Normgenese von Art. 1 Abs. 1 GG s. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 28 ff.; s. auch Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 19 ff. Zur Genese vor dem Hintergrund einer „Naturrechtsrenaissance“ im parlamentarischen Rat Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 25 ff.; s. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 7. 98 EuGH, Urt. v. 17. 07. 2014, Rs. C-474/13, ECLI:EU:C:2014:2096 – Pham/Stadt Schweinfurt, Amt für Meldewesen und Statistik; näher zum Urteil s. o. Kapitel 3 D. III. 1. 99 Im Einzelnen s. o. Kapitel 3 D. III. 1. 100 EuGH, Urt. v. 02. 12. 2014, verb. Rs. C-148/13 bis C-150/13, ECLI:EU:C:2014:2406 – A,B,C/Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie; näher zum Urteil s. o. Kapitel 3 D. III. 2. 101 Zuletzt bestätigt in EuGH, Urt. v. 25. 01. 2018, Rs. C-473/16, ECLI:EU:C:2018:36 – F/ Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

inwiefern daneben Raum für die Leistungs- und Kommunikationstheorie in seiner Judikatur verbleiben wird. Zuletzt könnte zur Beurteilung der Frage nach der maßgeblichen ideengeschichtlichen Prägung der Menschenwürdegarantien auf die Präambel als Auslegungshilfe abgestellt werden. Für das Grundgesetz gilt, dass die Menschenwürdegarantie – wie auch die übrigen Bestimmungen des GG – ihren Sinn zumindest in Teilen auch von der rechtlich verbindlichen102 Präambel und insbesondere dem darin enthaltenen Gottesbezug empfängt.103 Wenn die „Mitgift“- oder Werttheorien wie gesehen vor allem auf der Vorstellung der Ebenbildlichkeit Gottes und des Menschen fußen, liegt es nahe, in dem in der Präambel enthaltenen Gottesbezug ein Argument für die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG im Sinne der „Mitgift“-oder Werttheorien zu sehen.104 Ein solcher Gottesbezug fehlt in der Präambel der Grundrechtecharta. Allenfalls könnte daher die Bezugnahme auf das „geistig-religiöse und sittliche Erbe“ der Union als „funktionales Äquivalent“ des Gottesbezugs angesehen werden, mit der Folge, dass auch der Würdebegriff der Charta tendenziell im Sinne der Wert- und „Mitgift“-Theorien zu interpretieren wäre.105 Jedoch zeigen der Vergleich mit weiteren Sprachfassungen der Präambel106 sowie der Blick auf den Willen der Delegierten im Grundrechtekonvent107, dass dieses Bekenntnis nicht als eines für eine bestimmte Religion wie etwa das Christentum zu verstehen ist, sodass es bei der 102

BVerfGE 5, 8 (1. LS.) – KPD; BVerfGE 36, 1 (18 ff.) – Grundlagenvertrag; BVerfGE 82, 316 (320 f.) –Beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen. 103 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 7: „Wenn sich nach den Worten der Präambel das deutsche Volk ,im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen‘ das Grundgesetz gegeben hat, so kann diese Aussage für die Interpretation des Begriffs der Menschenwürde nicht unbeachtet bleiben.“ Die normative Reichweite der Präambel und des darin enthaltenen Gottesbezugs ist gleichwohl umstritten. Nach Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 7, ist damit ein Menschenbild konstituiert, das metaphysische Wurzeln hat und sich insbesondere aus der christlich-abendländischen Kultur speist. Tanner, Gehört Gott in die Präambel? Die Präambel des Grundgesetzes im Licht der europäischen Integration, Evangelische Kommentare 1991, 260 (263), sieht im Gottesbezug der Präambel dagegen lediglich eine „freiheitsnotwendige Leerstelle“ des Grundgesetzes; s. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Präambel Rn. 40 ff. 104 Es muss gleichwohl gesehen werden, dass das BVerfG bei der Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG nie explizit auf die Präambel und den darin enthaltenen Gottesbezug rekurriert hat. 105 Abs. 2 der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. […]“. Zur Entstehungsgeschichte der Präambel vor dem Hintergrund heftiger Auseinandersetzungen im Grundrechtekonvent s. Borowsky, Europa ohne Gott?, Tag des Herrn (34. Ausgabe), 51. Jahrgang 2001, sowie Classen, Religionsrecht, S. 14. 106 So fehlt die ausdrückliche Nennung des „religiösen“ Erbes etwa in der französischen („patrimoine spirituel“), der englischen („spritual heritage“) sowie der spanischen Sprachfassung („património espiritual“). 107 Meyer, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Präambel Rn. 32; Bernsdorff/Borowsky, GrCh, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 245 ff.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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Auslegung der Würdegarantie nicht zu berücksichtigen ist. Damit liefert die Präambel der Charta auch kein Argument zur Auslegung der unionsrechtlichen Würdegarantie im Sinne der Wert- oder „Mitgift“-Theorien.108 In alldem dürfen die Ideengeschichte und die daraus erwachsenen Theorien in ihrer Wirkung für die beiden Garantien ohnehin nicht überbewertet werden.109 Schließlich bleiben Auslegungsmaximen beider Garantien ihre textliche und systematische Verankerung in den jeweiligen Verfassungsordnungen und ihre Deutung als primär positivrechtlicher Begriff.110 Dies zeigt sich nicht zuletzt bei einem Blick auf die Entfaltung der Menschenwürdegarantie durch das BVerfG, schließlich findet sich in keiner der relevanten Entscheidungen ein expliziter Rekurs auf eine der dargestellten Theorien, wie auch jedwede Bezugnahme auf die Präambel und den enthaltenen Gottesbezug in diesem Kontext unterblieben ist. Da das Menschenwürdeverständnis des BVerfG gleichwohl maßgeblich und nachhaltig von der naturrechtlich inspirierten Wert- und „Mitgift“-Theorie geprägt ist, ist auch der künftige Pfad zum Umgang mit der Menschenwürde bereits vorgezeichnet:111 An dieser Rechtsprechung wird sich auch die künftige notwendigerweise orientieren müssen. Dieser Umstand sucht auf der europäischen Ebene sein Äquivalent.

III. Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts als unmittelbarer Ausgangspunkt der beiden Garantien Bei der Frage nach dem gemeinsamen Kern von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GrCh dürfen schließlich die jüngeren Unrechtserfahrungen innerhalb des europäischen Kontinents nicht unerwähnt bleiben, die die Genese der Menschenwürdegarantie im Verfassungsrecht maßgeblich bestimmt haben. Für Art. 1 Abs. 1 GG erklärt sich dieser Zusammenhang bereits aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe der Verfassungsgebung zum 2. Weltkrieg und den Gräueltaten des Naziregimes, zu deren Gegenentwurf das Grundgesetz im Allgemeinen112 und die Menschenwür108

Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 81 f. Eingehend zur (begrenzten) Bedeutung des ideengeschichtlichen Hintergrunds für die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 32 ff. Dem zustimmend Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 83 f. 110 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 20. Für das Unionsrecht s. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 34, der die unterschiedlichen Geistesquellen zwar als „zu berücksichtigenden Ausgangspunkt“ bei der Interpretation des Rechtsbegriffs betrachtet, einer weiterreichenden Anwendung im Übrigen jedoch skeptisch gegenüber steht. 111 Zur Pfadabhängigkeit des öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik s. R. Wahl, Entwicklungspfade im Recht, JZ 2013, 369 (371 ff.). 112 BVerfGE 2, 1 (12) – SRP; BVerfGE 124, 300 (328 f.) – Rudolf Heß Gedenkfeier. 109

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

degarantie im Besonderen113 in Verfassung und Rechtsprechung erwachsen sollten. Zwar erschöpft sich die Garantie, wie die vielen Einzelausprägungen im Folgenden zeigen werden, nicht allein in dem programmatischen „Nie wieder“.114 Die Zielrichtung der bundesrepublikanischen Entwicklung war damit aber bereits früh und dem Grunde nach angelegt: Nur der Blick und die künftige Ausrichtung aller staatlichen Verfasstheit auf den Menschen und seine menschliche Würde sollten fortan die Prämisse allen staatlichen Handelns in der Bundesrepublik bilden. Der im Herrenchiemseer Entwurf ursprünglich in Art. 1 Abs. 1 angedachte Satz „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ ging somit der Sache nach vollends in der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes auf.115 Auch die Normierung der unionsrechtlichen Garantie kann als Reaktion auf vorangegangene Unrechtserfahrungen verstanden werden. Zum einen sind hier die Erfahrungen des 2. Weltkriegs und damit die Erfahrungen, die im Wesentlichen auch Art. 1 Abs. 1 GG zugrunde liegen, zu nennen.116 Zum anderen waren gerade im Hinblick auf die bereits absehbare Osterweiterung die Unterdrückung der beitretenden Länder durch das Sowjetsystem als Eindrücke präsent. Gleichwohl zielt die Normierung der Menschenwürde in der GrCh nicht allein auf Abkehr von Vergangenem: Mit ihr war ebenso als Auftrag für die Zukunft die Errichtung eines am Menschen orientierten und auf ihn ausgerichteten Wertesystems beabsichtigt.117 Der konstitutionelle Wandel des europäischen Bürgers vom homo oeconomicus, dem „Marktbürger“118, hin zum civis Europaeus119, dem Unionsbürger mit unional verbürgten höchstpersönlichen, politischen und sozialen Rechten, sollte daher auch und gerade durch die Charta im Allgemeinen und die Menschenwürdegarantie im Besonderen vollzogen und angezeigt werden.120 Gleichsam essentiell war das durchaus praktische Anliegen, mit den Verbürgungen im Abschnitt „Würde des Menschen“ einen Schutzwall gegen noch unbe113 Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 10 ff: „Die Menschenwürde im Eingang der Verfassung eines deutschen Staates nach dem 2. Weltkrieg ist die Besinnung auf die Grundfesten der Zivilisation nach dem Erlebnis der nationalsozialistischen Diktatur […].“ Ein vergleichbarer Befund bei Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, S. 135. Zur Bedeutung der Normierung der Menschenwürdegarantie vor dem Hintergrund der vorangegangenen Naziherrschaft s. auch Volkmann, Solidarität, S. 219 ff. 114 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 29: „NSErfahrung Anlass, nicht Inhalt.“, daraus auch das Zitat. 115 Nipperdey in: Bettermann/Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, S. 11; Maihofer, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts Bd.1, S. 490 f. 116 Dupré, The Age of Dignity, S. 57 ff.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 6; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 33. 117 Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 (2449). 118 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 187, 250 ff. 119 Der Begriff wird erwähnt in den Schlussanträgen des GA Jacobs zu Rs. C-168/91 v. 09. 12. 1992, ECLI:EU:C:1992:504, Slg. 1993, I-01198 – Konstantinidis, Rn. 46. 120 Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 542 f.

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kannte, künftig jedoch nicht auszuschließende Gefahren zu errichten, wie sie sich insbesondere im Bereich der (Bio-)Medizin im ausgehenden 20. Jahrhundert abzeichneten.121 Dieses Anliegen korrespondiert mit Abs. 6 der Präambel der Grundrechtecharta, der künftige Generationen in die Charta ausdrücklich miteinbezieht und damit ein „zukunftsgerichtetes Verantwortungsprogramm“122 errichtet. In alldem eint die beiden Garantien damit ihr zwar reaktiver Charakter, aber auch ihre zukunftsgerichtetes Potenzial, das sich in der Abkehr von totalitären Systemen und der (künftigen) Ausrichtung aller Staatsgewalt am Individuum verkörpert.

IV. Gemeinsamkeiten in der textlichen Konzeption: Wortlaut, Rechtsnatur, systematische Stellung der Garantien Beide Garantien besitzen angesichts des identischen Wortlauts nach herrschender Meinung einen präskriptiven Charakter, sodass Eingriffe in die Menschenwürde rein tatsächlich möglich, keinesfalls aber zu rechtfertigen und damit zwangsläufig verboten sind.123 Nach beiden Garantien genügt es für die Feststellung eines Menschenwürdeverstoßes, dass ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, da dieser die Verletzung des Achtungsgebots bedeutet und einen Abwehranspruch auslöst.124 Daneben sind beide Garantien aber nicht nur auf abwehrrechtliche Ansprüche des Einzelnen gerichtet, sondern aktivieren in Vornahmesituationen ebenso eine staatliche/unionale Pflicht zum Schutz der Menschenwürde.125 Zwar besteht zwischen den Würdenormen in ihrem zweiten Satz ein terminologischer Unterschied.126 Jedoch sind Verpflichtete der unionsrechtlichen Garantie, analog zur grundgesetzlichen, alle unionalen Organe und alle ihr zuzuordnenden Stellen, sprich die gesamte

121 Hierfür sollten vor allem Art. 3 Abs. 2 GrCh und die darin enthaltenen Rechte im Bereich der Medizin und Biologie dienen, vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 15. 122 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 360 f. 123 Ganz herrschende Meinung, s. statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 128 m.w.N. 124 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 34; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 33 ff. 125 Für das GG statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 132. Für das Unionsrecht EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle, Rn. 22; mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH, Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, 261 (263); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 11, Rn. 555; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 610 ff.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 166 f. 126 Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Art. 1 Abs. 1 S. 2 GrCh: „Sie ist zu achten und zu schützen.“

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Hoheitsgewalt der Europäischen Union127, darüber hinaus in den Fällen des Art. 51 Abs. 1 GrCh auch die Mitgliedstaaten der EU. Daher besteht hinsichtlich der umfassenden Verpflichtung aller hoheitlichen Gewalt kein Unterschied zwischen den Würdegarantien, auch wenn diese ausdrücklich nur in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG angesprochen ist.128 Gemein ist beiden Garantien ferner, dass sie ein Menschenrecht und damit universelles Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde normieren, da weder Art. 1 Abs. 1 GG an die deutsche Staatsangehörigkeit noch Art. 1 Abs. 1 GrCh an die Unionsbürgerschaft der Person anknüpft.129 Es eint die Menschenwürdegarantien schließlich ihre systematische Stellung zu Beginn der jeweiligen Grundrechtskataloge, was beide Male ihre herausgehobene Stellung und überragende Bedeutung gegenüber den übrigen Grundrechten und ihre Fundierungsfunktion für ebendiese zum Ausdruck bringt. In beiden Grundrechtskatalogen stellt die Menschenwürde daher nicht nur den obersten Wert, sondern auch das Fundament der nachfolgenden Grundrechte, ja das „Recht auf Rechte“ schlechthin dar.130

V. Subjekt-/Objektformel als maßgebliches Kriterium für die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung? Wie gesehen hat für die Entwicklung des grundgesetzlichen Würdeverständnisses und die Handhabbarkeit der Würdegarantie die Objektformel besondere Bedeutung erlangt.131 Das BVerfG hat sie nicht nur zum maßgeblichen Instrumentarium zur Bestimmung einer Würdeverletzung erhoben, sondern sie, wie die Analyse in Kapitel 3 gezeigt hat, durch Konkretisierung aus ihrer Pauschalität gehoben und früh um die Subjektdimension erweitert. Die Objektformel, nach wie vor als solche in der Literatur beschrieben, ist daher wie gesehen nicht nur Objekt-, sondern zugleich 127 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 51 Rn. 13; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, GrCh, Art. 51 Rn. 5. 128 Der Verzicht auf den Passus erklärt sich aus der nur begrenzten Bindungswirkung der Charta für die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 Abs. 1 GrCh). Eine Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG vergleichbare Formulierung in der Charta hätte dem begrenzten Anwendungsbereich der Charta daher entgegengestanden. 129 Dupré, in: Peers/Harvey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 1 Rn. 01.28; näher Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 64 ff. Das Äquivalent zu den Deutschengrundrechten bilden auf Unionsebene die (Unions-)Bürgerrechte, die in der Charta unter Titel 5 geregelt sind. 130 Für die unionsrechtliche Garantie s. nur Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/17; ferner Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 2. Für die grundgesetzliche Garantie Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 92 ff., ins. 111 ff. Die Deutung der Würde als „Recht auf Rechte“ bei Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, Die Wandlung 4 (1949), 754 (760). 131 S. oben Kapitel 3 III.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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Subjektformel, da mit ihr eine Verletzung der Menschenwürde immer dann anzeigt wird, wenn der Subjektstatus der Person verkannt wird.132 Sie setzt daher denklogisch das Subjekt als Bezugspunkt voraus, was wiederum die Frage provoziert, welches Leitbild eines menschlichen Subjekts dem Grundgesetz zugrunde liegt. Worin dieses besteht und welche Ausprägungen ihm eigen sind, hat das BVerfG selbst in der bereits skizzierten Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe umrissen: „Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar […]. Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums […]. Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht ,prinzipiell unbegrenzt‘ sein. Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben […]. Dies bedeutet, daß auch in der Gemeinschaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden muß. Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen […]. Der Satz, ,der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben‘, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.“133 Die Definition des Menschen als geistig-sittliches Wesen, das zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung begabt, dabei jedoch gemeinschaftsbezogen und -gebunden ist, ist damit zwar nicht so eng umrissen, dass von vornherein andere Subjektvorstellung ausgeschlossen wären. Das macht dieses Menschenbild des Grundgesetzes zu einem gewissen Grad deutungsoffen und prinzipiell anschlussfähig für ein „unionsrechtliches Menschenbild“, sodass auch umgekehrt ein Transfer der Subjekt-/Objektformel des BVerfG auf die unionsrechtliche Ebene grundsätzlich möglich erscheint.134 Indes muss gesehen werden, dass sich in dieser Subjektformel doch gewisse Grundannahmen und Vorstellungen, stille Regeln und vielleicht auch gesellschaftliche Tabus bündeln können, auf die sich eine Gesellschaft unausge132

Ausführlich zur Subjekt-/Objektformel s. oben Kapitel 3 III. BVerfGE 45, 187 (227 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 134 Zum Begriff des „europäischen Menschenbilds“ Altmaier, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ZG 16 (2001), S. 195 ff.; kritisch zum Begriff Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 481. Der Vorschlag des Transfers der Objektformel etwa bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 2. 133

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

sprochen oder explizit verständigt hat.135 Als solche sperren sich diese a priori liegenden Annahmen häufig nicht nur einer zweckrationalen Begründung, sondern bereits einer begrifflichen Bestimmung und Konkretisierung.136 Daher handelt es sich bei der Subjektformel um ein durchaus anspruchsvolles, von bestimmten Eigenarten und tabuisierten Prämissen der nationalen Rechtskultur abhängiges Konzept, sodass ein Transfer der Subjekt-/Objektformel auf die unionsrechtliche Ebene gerade nicht ohne weiteres vorgenommen werden kann.137 Gerade dies dürfte ein, vielleicht auch der zentrale Grund für den Gerichtshof gewesen sein, in seiner Menschenwürderechtsprechung bislang jedes Wort zur Objektformel vermieden zu haben – und dies, obwohl es ihm wie gesehen teilweise durch die Kläger, teilweise durch die Generalanwälte geradezu in den Mund gelegt wurde.138 Seiner Rechtsprechung liegt dagegen ein Verständnis von der Menschenwürde als Kommerzialisierungs- und Instrumentalisierungsverbot zu Grunde – nicht mehr, aber auch nicht weniger.139 Von einer Subjekt-/Objektformel des BVerfG ist das Verbot damit jedoch weit entfernt, da bei der Subjekt-/Objektformel nicht lediglich danach gefragt wird, ob der Mensch als Mittel zum Zweck gebraucht wird, sondern ob die in Rede stehende Behandlung als solche den Subjektstatus des Menschen wahrt.140 Die Subjekt-/Objektformel des BVerfG erschöpft sich daher nicht allein in Zweck-/Mitteldifferenzierungen, sondern fragt über zweckrationale Erwägungen hinausgehend, ob in bestimmten Praktiken der Status des Menschen als Subjekt gewahrt bleibt.141 Das Kommerzialisierungs- und Instrumentalisierungsverbot reicht dagegen nicht so weit, da hier gerade (und nur) danach gefragt wird, ob der Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, sprich ob die Zielvorstellungen und -umsetzungen bestimmter Praktiken des Einsatzes des Menschen als Mittel bedürfen. Anknüpfungspunkt für eine Menschenwürdeverletzung kann danach nicht die Behandlung selbst, sondern nur – und damit enger – der Gebrauch des Menschen als Mittel zum Zweck sein. Zwar dürften bei der Subjekt-/Objektformel als Maßstab auf der einen und dem Instrumentalisierungs- und Kommerzialisierungsverbot auf der anderen Seite 135 Die Deutung der Menschenwürde als „latenter Kulturvorbehalt“ in der Folge bei Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 112 ff.; s. auch Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 146. 136 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 146. 137 Einen Transfer daher zu Recht ablehnend Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 87 ff. 138 S. o. 3. Teil. 139 S. o. 3. Teil, IV. 2. EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 77: „Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass die Richtlinie das Patentrecht in Bezug auf lebende Materie menschliche Ursprungs so streng fasst, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibt und somit die Menschenwürde gewahrt wird.“ 140 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 483 f. 141 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 484.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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durchaus häufig ähnliche Ergebnisse erzielt werden. Schließlich ist ein „Instrumentalisierungsverbot“ in der weitergehenden Subjekt-/Objektformel ohnehin „als Minus“ enthalten. Gleichwohl können sich hier empfindliche Wertungswidersprüche auftun, die das menschliche Selbstverständnis herausfordern und etwa im Bereich des (therapeutischen) Klonens von Menschen bereits festzustellen sind.142 Ein vergleichbar weites Verständnis der Menschenwürde, wie es in der Subjekt-/ Objektformel des BVerfG zum Ausdruck gelangt, liegt der Menschenwürdekonzeption der Charta, gemessen an der Rechtsprechung des Gerichtshofs, daher insgesamt nicht zu Grunde. Die Subjekt-/Objektformel des BVerfG kann daher nur eingeschränkt, im Hinblick nämlich auf das enthaltene Kommerzialisierungs- und Instrumentalisierungsverbot, auf die europäische Ebene transponiert werden.

VI. Konsentierte inhaltliche Grundaussagen beider Garantien: Autonomie und Integrität, elementare Gleichheit sowie Sozialbezogenheit des Menschen Zwar ist auch die Subjekt-/Objektformel des BVerfG für sich genommen deutungsoffen und unscharf hinsichtlich der mit ihr zu erzielenden Ergebnisse. Dennoch lassen sich mit ihr auf der einen, dem Kommerzialisierungs- und Instrumentalisierungsverbot auf der anderen Seite einige wesentliche inhaltliche Ausprägungen der Menschenwürde nachvollziehen, die beiden Würdenormen gemein sein dürften. Es sind dies Ausprägungen, die anknüpfend an die gemeinsamen historischen Erfahrungen zunächst einen Schutzwall gegenüber gravierenden Misshandlungen, Verfolgung, Diskriminierung und Ungleichbehandlung bilden.143 Als ein Grundpfeiler der Menschenwürdegarantien kann daher die Achtung und Wahrung der Autonomie des Einzelnen gesehen werden, die sich über das Recht auf Leben, den Schutz der körperlichen und geistigen Integrität sowie das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung verwirklicht.144 Die Charta enthält für viele dieser Rechte zwar Einzelausprägungen, die aber allesamt unter den Titel „Menschenwürde“ gefasst wurden und die die freiheitsweisende Schutzwirkung der Menschenwürdegarantie daher letztlich nur stärker zum Ausdruck bringen.145 Hervorzuheben ist in Zusammenhang mit der körperlichen Integrität die enge Verbindung zwischen der Menschenwürde und dem Recht auf 142 Näher dazu unten Kapitel 4 F. VI. 1. b). S. wiederum Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 484 m.w.N. in Fn. 336. 143 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 3a. 144 Für Art. 1 Abs. 1 GG s. etwa jüngst das Urteil zum NPD-Verbot, BVerfGE 144, 20 – Parteiverbotsverfahren (NPD), Rn. 539: „Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.“ S. ferner BVerfGE 109, 279 (312) – Großer Lauschangriff. 145 S. etwa Art. 2 Abs. 1, 2 Abs. 2 lit. a), Art. 5 Abs. 1 und 2 GrCh.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Leben, in dem sie sich an erster Stelle entfaltet.146 Diese Verbindung wurde in der deutschen Rechtsprechung früh erkannt,147 bleibt jedoch bis heute vor allem in den praktischen Auswirkungen und der Rechtsanwendung umstritten.148 Für die unionsrechtliche Ebene erschließt sich der Zusammenhang vor allem aus der systematischen Stellung von Art. 2 GrCh im ersten Titel der Charta. Insofern besteht ein Gleichklang zwischen den Garantien dergestalt, dass eine enge Verbindung zwischen Lebensrecht und Menschenwürde überhaupt angenommen wird;149 ein Faktum, das für die verfassungsrechtliche Bewertung von den Lebensbeginn oder das Lebensende betreffende Handlungsformen von einiger Bedeutung sein kann.150 Daneben ist als weitere wesentliche Ausprägung der Menschenwürde und beider Garantien das Gebot der elementaren Gleichheit aller Menschen zu nennen.151 Damit unvereinbar sind zunächst klassische Erscheinungsformen der Missachtung dieses Grundsatzes in Gestalt von Sklaverei, Leibeigenschaft und Menschenhandel – allesamt Erscheinungsformen, die nach beiden Garantien einem eindeutigen und ausnahmslosen Verbot unterliegen.152 Weiter resultieren aus diesem Gedanken das Verbot systematischer Demütigung und Herabstufung von bestimmten Volksgruppen und schließlich das Verbot rassistischer Diskriminierung des Menschen.153 Auch das Verbot der Diskriminierung des Menschen, etwa aufgrund der sexuellen Orientierung, wie es bereits Gegenstand zahlreicher Urteile des BVerfG, aber auch des EuGH gewesen ist, findet seine Wurzeln in dieser Ausprägung der Menschenwür-

146 BVerfGE 39, 1 (42) – Schwangerschaftsabbruch I: „Leben als vitale Basis der Menschenwürde“. 147 BVerfGE 39, 1 (42) – Schwangerschaftsabbruch I; vgl. auch BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz. 148 S. statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69, 72; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 118. 149 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 4. 150 S. u. Kapitel 4 F. V. 151 BVerfGE 144, 20 (207 f.) – Parteiverbotsverfahren (NPD), Rn. 541: „Menschenwürde ist egalitär; sie gründet ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht […]. Dem Achtungsanspruch des Einzelnen als Person ist die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft immanent […]. Mit der Menschenwürde sind daher ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar […]. Dies gilt insbesondere, wenn derartige Ungleichbehandlungen gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstoßen, die sich – ungeachtet der grundsätzlichen Frage nach dem Menschenwürdegehalt der Grundrechte […] – jedenfalls als Konkretisierung der Menschenwürde darstellen.“ 152 Vgl. hierzu BVerfGE 1, 97 (104) – Hinterbliebenenrente I: „Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“; BVerfGE 107, 275 (280) – Benetton II. Auf Chartaebene sind hier vor allem das ausdrückliche Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit aus Art. 5 GrCh zu nennen. 153 BVerfGE 144, 20 (208) – Parteiverbotsverfahren (NPD), Rn. 541.

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degarantie.154 Dass im Grundrechtekonvent sogar darüber nachgedacht wurde, die Menschenwürdegarantie mit dem Gleichheitssatz zu verbinden, zeigt den Menschenwürdekern des allgemeinen Gleichheitssatzes und die darin zum Ausdruck kommende Verbindung zwischen Menschenwürde und Gleichheitsgebot.155 Fraglich ist, ob beide Garantien schließlich auch eine soziale Komponente als Grundpfeiler aufweisen, wie sie etwa in der Anerkennung eines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zum Ausdruck kommt. Für die deutsche Verfassungsordnung ist dies wie gesehen zunächst abgelehnt, später offengelassen, schließlich jedoch anerkannt worden156, wenngleich die dogmatische Anknüpfung an Art. 1 Abs. 1 GG bis heute umstritten bleibt.157 Bei der Ausarbeitung der europäischen Menschenwürdegarantie spielte die Existenzsicherung als soziale Ausprägung der Menschenwürde keine Rolle.158 Existenzsichernde Normen finden sich in der Charta in Art. 34 Abs. 2 und 3. Diese zielen auch ausdrücklich auf die Achtung und Sicherung eines „menschenwürdigen Daseins“, wobei ihr Rechtscharakter im Einzelnen umstritten ist.159 Im Übrigen weisen die Bestimmungen allenfalls vage Beziehungen zur Menschenwürdegarantie oder dem ersten Titel der Charta auf.160 Insgesamt dürfte die Existenz eines aus Art. 1 Abs. 1 GrCh fließenden Rechts auf die Gewährleistung eines Existenzminimums jedenfalls nicht ohne weiteres anzunehmen sein.161 Eine soziale Komponente in Gestalt von materiellen Existenzsicherungspflichten kann daher an dieser Stelle nicht als unverrückbarer Kern beider Garantien, sondern zunächst nur der des Grundgesetzes ausgemacht werden. Jedoch könnte eine gemeinsame soziale Komponente darin zu erblicken sein, dass der Mensch nach beiden Rechtsordnungen fernab von existenzieller wirtschaftlicher Not in seiner gesellschaftlichen Gebundenheit als solcher wahrge154

BVerfGE 49, 286 (297) – Transsexuelle I; BVerfGE 60, 123 (124) – Junge Transsexuelle; EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle. 155 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 6. Gleichwohl ist der allgemeine Gleichheitssatz der Charta nicht unter den ersten Titel „Würde des Menschen“, sondern in einem eigenen dritten Titel gefasst, sodass die egalitäre Facette der Menschenwürde auf massive und evidente Ungleichbehandlungen beschränkt bleiben sollte. 156 Abgelehnt in BVerfGE 1, 97 (104) – Hinterbliebenenrente I; offen gelassen in BVerfGE 75, 348 (360) – Aussschluss von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung; die Anerkennung schließlich in der Leitentscheidung BVerfGE 125, 175 (222 ff.) – Hartz IV. 157 Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassunngsgerichts, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, S. 383 ff. 158 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 139. 159 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 139 ff. 160 Nußberger/Lang leiten aus der englischen Fassung von Art. 34 Abs. 3 („ensure a decent existence“) ab, dass ein Zusammenhang der Norm zur Menschenwürde eher nicht besteht, Nußberger/Lang, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 34 Rn. 26 ff.; dagegen ausführlich Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 141. 161 Dagegen Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 22, wonach Art. 34 den aus der Menschenwürde ableitbaren Schutz- und Leistungsanspruch auf Sicherung des materiellen Existenzminimums lediglich konkretisiert.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

nommen und gewürdigt wird, wie es das BVerfG etwa in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe zum Ausdruck gebracht hat.162 Das Verbot der Todesstrafe in Art. 2 Abs. 2 der Charta könnte in diesem Zusammenhang als entsprechende Ausprägung dieses Gedankens gesehen werden, da damit gerade (auch) der dauerhafte Ausschluss der Person aus der Rechtsgemeinschaft verhindert werden soll.163 Im Wesentlichen stützen sich beide Garantien damit auf drei Grundpfeiler, die zusammengenommen die absoluten Tabuzonen vor Eingriffen markieren:164 Eine die Autonomie und Freiheitssphäre ansprechende Dimension schützt als liberaler Grundsatz zunächst vor Eingriffen in die körperliche und geistige Unversehrtheit und Integrität des Menschen. Daneben tritt die Ausprägung als egalitäres Prinzip, das evidenten Ungleichbehandlungen entgegensteht. Abgerundet werden beide Garantien schließlich durch eine soziale Komponente, die den Menschen in seinen sozialen Bezügen verortet weiß und der Erhaltung dieser Bezüge zu dienen bestimmt ist.

VII. Dennoch: Feine (bereits) systematische Unterschiede Wie bei kaum einem anderen Grundrecht sind, wie sich aus der zugrundeliegenden Ideengeschichte ergibt, Gefechte um die Menschenwürde zugleich philosophische Gefechte oder solche um bestimmte Denkschulen, die angesichts des begrenzt aussagefähigen Normtextes nur selten über die „klassischen“ Auslegungsmethoden ausgetragen werden. Wenn also danach gefragt wird, wie die soeben dargestellten Grundaussagen untereinander zu gewichten sind und welche der Aussagen das jeweilige Menschenwürdeverständnis maßgeblich bestimmen (können), sind Erkenntnisse aus der Wortlautexegese oder der Gesetzessystematik in der Regel nur in geringem Maße zu gewinnen. Allerdings lassen sich aus der Konzeption der Grundrechtskataloge Erkenntnisse darüber gewinnen, inwieweit der Autonomieoder Integritätsschutz jeweils als vorrangige Ausprägung der Menschenwürde anzusehen sind. Unter dem Grundgesetz und der Existenz des Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit verwirklicht sich der Schutz von Selbstbestimmung, -entfaltung und -verwirklichung vornehmlich in dem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Das verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht ist daher nicht ausschließlich, nicht einmal

162 BVerfGE 45, 187 (228 f.) – Lebenslange Freiheitsstrafe. Von der „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person“, die unter anderem aus Art. 1 GG resultiere, spricht ferner BVerfGE 109, 133 (151) – Langfristige Sicherheitsverwahrung. 163 Dem steht nicht entgegen, dass das Verbot der Todesstrafe auch den Gedanken in sich trägt, der Straftäter dürfe nicht lediglich zum Objekt staatlichen Strafanspruchs gemacht werden, da letztlich gerade aus der Subjektstellung des Täters sein Anspruch auf Achtung auch seiner Sozialgebundenheit fließt. 164 Angelehnt an Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 3a.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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grundsätzlich in Art. 1 Abs. 1 GG, sondern primär in Art. 2 Abs. 1 GG verortet.165 Es genießt aus diesem Grund auch nicht absoluten Charakter, sondern unterliegt der Schrankentrias aus Art. 2 Abs. 1 GG. Umgekehrt kann sich der Schutzgehalt der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG nicht primär aus dem Schutz der Autonomie des Einzelnen speisen, sondern bezieht die Garantie ihren Sinngehalt (vornehmlich) aus anderen Anliegen.166 Ein der allgemeinen Handlungsfreiheit entsprechendes Recht existiert in der Charta nicht.167 Daher könnte bei bestimmten Handlungsformen, die dem Recht auf Selbstbestimmung und -entfaltung zuzuordnen und damit als Ausfluss der menschlichen Autonomie zu begreifen sind, künftig der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GrCh naheliegen.168 Fragen der Selbstbestimmung wären dann primär als Fragen der Menschenwürde zu verhandeln und, sofern tatsächlich ihrem Schutzbereich zuzuordnen, mit Absolutheitsanspruch ausgestattet. Gleichzeitig läge es dann auch nahe, in der Menschenwürdegarantie primär ein Institut zur Wahrung der persönlichen Autonomie zu erblicken. Aus der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Zuordnung bestimmter Handlungsformen, man denke etwa an den Themenkomplex der Selbstbestimmung am Lebensende, könnten aus der Gesetzessystematik unterschiedliche Direktiven entnommen werden und sich empfindliche Wertungsunterschiede zwischen den Grundrechtsebenen einstellen. Spiegelbildlich gestaltet sich die Lage bei dem Schutzgut der körperlichen und geistigen Integrität, das unter dem Grundgesetz häufig als Ausprägung der Menschenwürdegarantie selbst gesehen wird und danach wiederum mit Absolutheitsanspruch ausgestattet ist.169 Dagegen ist der Schutz der körperlichen und geistigen 165

Prägnant C. Goos, „Innere Freiheit“. Der grundgesetzliche Würdebegriff in seiner Bedeutung für die Begleitung Schwerkranker und Sterbender, in: N. Feinendegen/G. Höver/ A. Schaeffer/K. Westerhorster (Hrsg.), Menschliche Würde und Spiritualität in der Begleitung am Lebensende. Impulse aus Theorie und Praxis, S. 53 (81 f.): „Selbstbestimmung ist weder Synonym noch ,Kern‘ der grundrechtlich geschützten Menschenwürde, sondern allenfalls einer ihrer Aspekte. Die freie, selbstbestimmte, tätige Entfaltung der Persönlichkeit, der souveräne Selbstentwurf und dessen prinzipiell ungehinderte Realisierung sind „darum“, um der Menschenwürde willen, grundrechtlich geschützt. Sie sind aber nicht Thema des ersten, sondern des zweiten Grundgesetzartikels, dessen erster Absatz vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne gedeutet wird.“ S. jetzt aber die Betonung der Selbstbestimmung als zentrales Schutzgut der Würdegarantie in BVerfG Urt. v. 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 211 – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 166 Hillgruber, Die Menschenwürde und das verfassungsrechtliche Recht auf Selbstbestimmung – ein und dasselbe?, ZfL 2015, 86 ff., führt hier primär den Integritätsschutz des Menschen als Schutzgut der Menschenwürde an. 167 Näher Jarass, EU Grundrechte, S. 19 f. 168 Die Konstellation ist nicht mit der Frage zu verwechseln, ob und inwiefern die Menschenwürdegarantie als „Auffanggrundrecht“ zurückgegriffen werden kann. 169 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 95 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Integrität in der Charta in Art. 3 Abs. 1 GrCh zwar unter dem Titel „Menschenwürde“, aber dennoch eigenständig und wohl ohne Absolutheitsanspruch gewährleistet.170 Auch hier können sich je nach zu bewertendem Lebenssachverhalt durchaus gravierende Wertungswidersprüche ergeben. Freilich haben sich solche bis heute nicht realisiert und sind entsprechende Konstellationen bereits aufgrund der eingeschränkten Gesetzgebungskompetenzen der EU für die nähere Zukunft auch nicht absehbar.171 Umgekehrt muss aber gesehen werden, dass die Charta und das Grundgesetz in diesem Punkt unterschiedliche Deutungspotenziale bereithalten, die künftig durchaus in Wertkonflikte münden können.

VIII. Das Problem der evidenzbasierten Bestimmung von Würdeverletzungen Es wird in der Literatur vorgebracht, dass die vorgenannten konsentierten Grundaussagen der Menschenwürde maßgeblich auf Evidenz und damit auf intuitiven (Vor-)annahmen beruhen müssen, da sich nur so – und in restriktiver Auslegungstendenz – sichere Aussagen darüber treffen ließen, was die Menschenwürdegarantie der Sache nach fordert.172 Dem ist insoweit zuzustimmen, als ein evidenzbasierter Zugang, der sich aus einem gemeinsamen Erfahrungsschatz speist, am ehesten einen gesellschaftlichen Konsens über unter allen Umständen zu missbilligende Handlungsformen abbilden kann. Diese Idee kann zum Teil auch an der Rechtsprechung des BVerfG und dessen Aussage ansetzen, dass das Urteil darüber, was der menschlichen Würde entspräche, „nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben“ könne.173 Mit diesem Ansatz ergeben sich jedoch Probleme zunächst im Hinblick auf die Frage, wie Handlungen zu bewerten sind, die keinem eindeutigen Evidenzurteil unterfallen oder nach einem solchen früher einmal als unerlaubt, heute dagegen als weitgehend tolerabel, künftig aber möglicherweise wieder als zu missbilligen angesehen werden. Die evidenzbasierte Methode ruft also nicht nur Fragen nach Grund, Grenzen und Legitimität eines „Verfassungswandels“ auf den Plan.174 Sie trägt auch 170 van Vormizeele, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 GrCh Rn. 5; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 39. 171 S. aber o. Kapitel B. I. 172 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44 f. Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: Lukes/Scholz (Hrsg.), Rechtsfragen der Gentechnologie, S. 99 (100, 110). Für die Charta etwa Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 35. Dagegen Hillgruber, Die Auseinandersetzung über die Deutung der Würde, in: Böhr (Hrsg.), Die Verfassung der Freiheit und das Sinnbild des Kreuzes, S. 87 (93 ff.). 173 BVerfGE 45, 187 (229) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 174 Grundlegend dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; s. auch Michael, Die verfassungswandelnde Gewalt, RW 2014, 426 ff.

B. Der gemeinsame Kern des Würdeverständnisses

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immer die Gefahr in sich, „falsche“, also illegitime, Urteile zu befördern – ein Umstand, dem nicht allein mit einer dem gesellschaftlichen Konsens innewohnenden Vermutung der Richtigkeit begegnet werden kann.175 Daneben tritt ein weiteres Problem, welches als „Homogenitätsproblem“ beschrieben werden könnte. Der evidenzbasierte Ansatz setzt ein Mindestmaß an vergleichbaren Erfahrungsschätzen, Gefahrprognosen und Weltanschauungen voraus, ohne das eine Konsensfindung schlicht nicht gelingen dürfte.176 Themenkreise wie Embryonenforschung, Sterbehilfe und Würdeschutz zu Beginn des Lebens verdeutlichen dabei bereits im Hinblick auf den deutschen Rechts- und Gesellschaftsdiskurs die Schwierigkeit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit, der Konsensfindung. Als „evidenter“ Würdeverstoß stellt sich hier – das verrät jeder Blick in die einschlägigen Kommentare, aber auch auf öffentliche Diskussionen – kaum eine der diskutierten Handlungsoptionen dar. Unter diesen Vorzeichen dürften gerade die neuen Herausforderungen der Biomedizin – bereits ohne Berücksichtigung der Komplexität dieses Feldes – das Evidenzmodell an seine Grenzen bringen. Wenn dies bereits für einen kulturell, sprachlich, gesellschaftlich und vielleicht auch religiös verflochtenen Rechtskreis gilt, verstärkt sich dieses Problem bei der Erweiterung der relevanten Gruppe um weitere 26 Mitgliedstaaten der Union massiv. Die Feststellung evidenter Verstöße dürfte hier nicht erst an gemeinsamen kulturellen und historischen Vorprägungen scheitern; bereits das Fehlen gemeinsamer Diskursräume und noch grundsätzlicher einer einheitlichen Terminologie und Sprache verunmöglichen die Verständigung über solche Wertungen und daher das Vorhaben nahezu gänzlich.177 Zwar mögen die gemeinsamen Unrechtserfahrungen des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus und der Unterdrückung im sowjetischen System ein gewisses Konvergenzpotenzial bereithalten.178 Allerdings dürfte sich dieses Potenzial bereits schnell und in der Einigung über „klassische“ Menschenwürdeverstöße wie der Sklaverei, Leibeigenschaft, Rassendiskriminierung und Euthanasie erschöpfen; damit aber in Gefährdungen, die so im europäischen Rechtsraum allesamt kaum mehr ernsthaft drohen dürften, zumindest nicht die aktuellen Herausforderungen darstellen. Die Grenzen der evidenzbasierten Methode werden daher vor allem für die Auslegung der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie deutlich.

175 Tendenziell anders aber wohl Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44 f., der aufgrund der „Mitwirkung der potentiellen Normadressaten und [des] Mehrheitsprinzip[s]“ eine „Vermutung der Würdeangemessenheit zugunsten demokratisch legitimierter Gesetzgebung“ annimmt. 176 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44 versucht dem durch ein „Zusammenspiel des geistes- und kulturgeschichtlichen Befundes und normativer Standards“ beizukommen. 177 Darüber geben die unterschiedlichen Sprachfassungen der Chartagrundrechte bereits Zeugnis, wie das Beispiel von Art. 34 Abs. 3 GrCh zeigt: in der englischen Fassung ist von dem Recht „to ensure a decent existence“ die Rede, wohingegen die deutschsprachige Version von der Sicherstellung eines „menschenwürdigen Daseins“ spricht. 178 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 3 f.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien I. Menschenwürde „nur“ Grundsatz oder auch Grundrecht? Es stellt sich die Frage, ob die Menschenwürdegarantie unter beiden Rechtsordnungen als Individualgrundrecht anzusehen ist. Für die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ist diese Frage durch das BVerfG bereits geklärt worden; sie bildet nach dessen Auffassung zugleich ein Grundrecht und einen objektiven Grundsatz. Am Anfang stand dabei allein die Deutung der Würde als objektiver Rechtssatz. Später trat die Aktivierung von Art. 1 Abs. 1 GG als Individualgrundrecht hinzu, die aber nur selten explizit begründet wurde.179 Beide Deutungen stehen heute gleichberechtigt nebeneinander, sodass in der Rechtsprechung des BVerfG bis heute wiederholt von der Würde unter anderem als „oberstem Konstitutionsprinzip“180, „höchstem Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung“181, aber auch „Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“ die Rede ist.182 Auch die wohl herrschende Meinung in der Literatur schließt sich diesem Verständnis von Art.1 Abs. 1 GG an, wobei für den Grundrechtscharakter der Garantie regelmäßig ihre systematische Stellung unter der Überschrift „I. Die Grundrechte“ sowie das teleologische Argument angeführt werden, dass gerade die von der Menschenwürde geschützte Subjektqualität des Einzelnen es gebiete, der Garantie den Charakter eines Individualgrundrechts zuzuschreiben.183 Zwar wurden und werden an diesem Verständnis nach wie vor Zweifel angemeldet184, diese haben sich in der Rechts- und Verfassungspraxis jedoch nicht durchgesetzt. Bei der Frage nach ihrem Grundrechtscharakter ergibt sich für die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie ein weitgehend homogenes Bild aus Normtext, Rechtsprechung und Wissenschaft. Das dem Wortlaut und der Systematik des Grundgesetzes zu entnehmende Argument gegen den Grundrechtscharakter der Menschenwürde185 entfällt angesichts der Formulierung von Art. 1 GrCh. Aus der 179

Zur impliziten Heranzierhung der Menschenwürdegarantie s. die Nachweise bei Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 5. 180 BVerfGE 54, 148 (153) – Eppler; BVerfGE 72, 155 (170) – Grenzen elterlicher Vertretungsmacht: Menschenwürde als „oberstes Konstitutionsprinzip“. 181 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe. 182 BVerfGE 109, 133 (151) – Langfristige Sicherheitsverwahrung; BVerfGE 125, 175 (222) – Hartz IV. 183 Zum Streitstand allgemein Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 5 ff. m.w.N. 184 Prominent etwa bei Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119 f.); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 121, ins. 124. 185 Aus der Formulierung des Art. 1 Abs. 3 GG („Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“)

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien

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vergleichbaren Passage der Präambel der Charta („nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze“) allein lässt sich umgekehrt jedoch auch kein zweifelsfreier Schluss auf die Grundrechtsqualität von Art. 1 Abs. 1 GrCh ziehen. Für die teleologischen Argumente kann im Wesentlichen auf die aus deutschem Verständnis bekannten Ausführungen verwiesen werden, sodass auch danach grundsätzlich beide Auffassungen vertretbar erscheinen. Entscheidend für die Grundrechtsqualität sprechen jedoch die Erläuterungen des Grundrechtekonvents, wonach „die Würde des Menschen nicht nur ein Grundrecht an sich [ist], sondern das eigentliche Fundament der Grundrechte [bildet]“.186 Die insoweit eindeutigen Erläuterungen geben nicht zu erkennen, dass um die Grundrechtstauglichkeit des Art. 1 GrCh im Konvent hart gerungen wurde187; gleichwohl sprechen der erzielte Konsens und die Genese der Norm im Ergebnis sowohl für den Charakter der Menschenwürde als objektiver Rechtssatz, als auch für ihre Grundrechtsqualität. Ein entsprechendes Normverständnis scheint nach anfänglichem Zögern auch bei dem Gerichtshof und den Generalanwälten zu bestehen. Während die Generalanwälte in ihren Verfahren die Menschenwürde verhältnismäßig früh auch als Grundrecht herangezogen haben (und dabei häufig auf die Garantie in der Charta rekurrierten)188, hat sich diese Praxis beim Gerichtshof erst nach und nach eingestellt, mittlerweile aber durchaus gefestigt.189 Dass die Menschenwürde in den Rechtsordnungen einzelner Mitgliedstaaten – wie etwa Frankreich – nicht als Individualgrundrecht, sondern (allenfalls) als objektiver Grundsatz ausgestaltet ist, steht angesichts der Autonomie des Unionsrechts dem Grundrechtscharakter von Art. 1 Abs. 1 GrCh nicht entgegen. Bemerkenswert

wird teilweise geschlossen, dass die Würdegarantie angesichts ihrer Stellung in Art. 1 Abs. 1 GG nicht als Grundrecht anzusehen sein soll. 186 Charta-Erläuterungen zu Art. 1 – Würde des Menschen. 187 Vgl. dazu Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 4. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 54 ff.; s. auch Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 7. 188 Schlussanträge des GA Jacobs zu C-377/98 v. 14. 06. 2001, ECLI:EU:C:2001:329, Slg. 2001, I-7079 (I-7084 ff.) Rn. 197 („Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist vielleicht das grundlegendste Recht von allen […] “); dagegen Schlussanträge des GA Bot zu C-34/10 v. 10. 03. 2011, ECLI:EU:C:2011:138, Rn. 96 („Sie macht damit deutlich, dass es sich bei der Menschenwürde um einen Grundsatz handelt, der nicht nur für den existierenden Menschen, das geborene Kind, gilt, sondern auch für den menschlichen Körper vom ersten Stadium seiner Entwicklung an, d. h. dem der Befruchtung.“); schließlich Schlussanträge des GA Bot zu verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 und C-474/13 v. 30. 04. 2014, ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 81 („Diese Bezugnahme auf die Würde des Menschen ist somit zwangsläufig in den Bezugnahmen auf die Grundrechte in Art. 1 der Richtlinie enthalten.“). 189 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 70 (andere Sprachfassungen deuten hier in Richtung Grundrechtscharakter, s. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 231); generell hierzu Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 229 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

bleibt der Grundrechtscharakter der unionsrechtlichen Garantie aber dennoch, da dieser im mitgliedstaatlichen Vergleich eher die Ausnahme darstellt.190 Auch in der Literatur ist die Grundrechtsqualität der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie neben ihrem objektiv-rechtlichen Charakter weitgehend unbestritten.191 Zwischen beiden Grundrechtsebenen besteht im Hinblick auf den normativen Doppelcharakter der Menschenwürde daher Gleichklang.

II. Drittwirkung der Menschenwürdegarantie Für die grundgesetzliche Ordnung hat das BVerfG früh entschieden, dass den Grundrechten allgemein keine unmittelbare, sondern lediglich mittelbare Drittwirkung zukommt.192 Eine Ausnahme besteht insoweit jedoch nach ganz herrschender Meinung für die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG, deren Anwendungsbereich nicht lediglich auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse beschränkt ist, sondern auch private Rechtsverhältnisse umfasst. Dies resultiert nicht zuletzt aus dem Umstand, dass gerade „klassische“ Menschenwürdeverletzungen wie Sklaverei, aber auch neuere Entwicklungen etwa in der Biomedizin nicht zwangsläufig staatlichem, sondern häufig privatem Handeln zuzurechnen sind. Auch in diesen Fällen soll die Menschenwürde „unantastbar“ bleiben.193 Ihr wird danach neben Art. 9 Abs. 3 GG als einzigem Grundrecht ganz überwiegend unmittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen zuerkannt.194

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S. dazu die Schlussanträge der GA Stix-Hackl zur Rs. C-36/02 v. 18. 03. 2004, ECLI:EU:C:2004:162, Slg. 2004, I-9611 ff. Rn. 84. S. aber die mitgliedstaatlichen Beispiele bei Rixen in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 7 f. 191 Dupré, in: Peers/Harvey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, Article 1, 01.27; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 229 ff.; Olivetti, in: Bifulco/Cartabia/Celotto (Hrsg.), Dommento alla Carta dei Diritti Fondamentali dell’Unione Europea, Art. 1, S. 45; Borowsky in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 27; Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 10. 192 Wegweisend BVerfGE 7, 198 (204 ff.) – Lüth. 193 Die unmittelbare Drittwirkung wird daher häufig aus dem Wort „Unantastbarkeit“ hergeleitet, s. die nachfolgenden Nachweise. 194 BVerwG, NVwZ 2002, 598 (602) – Laserdrome; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 74; Hufen, Staatsrecht II, S. 152 f. Rn. 41; Kunig in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, Art. 1 Rn. 27; Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 22 Rn. 59; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 33. S. ferner für die Rechtsprechung BAGE 38, 69 (80 f.). Die unmittelbare Drittwirkung soll auch dem Willen des historischen Verfassungsgebers entsprechen, vgl. Süsterhenn, JöR n.f. 1 (1951), 51; Süsterhenn, 32. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 11. 01. 1949, abgedr. in: Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 5/II (1993), 912.

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien

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Ob Art. 1 Abs. 1 GrCh ebenfalls Drittwirkung besitzt, ist fraglich. Die Meinung, die die Drittwirkung an der Unantastbarkeitsformel fest macht, kann angesichts des identischen Wortlauts auch unter der Charta vertreten werden. Zudem könnte die abweichende Formulierung von S. 2 („ist zu schützen und zu achten“) dahingehend gelesen werden, dass der Menschenwürdeschutz nicht nur „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ist, sondern die Menschenwürde vorbehaltlos von jedermann, damit auch von Privatpersonen, zu achten und zu schützen ist.195 Zur Unterstützung dieser Meinung könnte auch auf Abs. 6 der bei der Auslegung der Charta zu beachtenden Präambel abgestellt werden, da dort die Ausübung der in der Charta niedergelegten Rechte ausdrücklich „mit Verantwortung und mit Pflichten“ gegenüber den Mitmenschen verknüpft wird. Schließlich könnte die Nennung der Menschenwürde im Wertekanon von Art. 2 EUV und Abs. 2 der Präambel der GrCh für eine unmittelbare Drittwirkung derselben streiten. Wenn die Menschenwürde danach nicht nur ein Grundrecht, sondern einen Wert darstellt, mithin nicht allein auf Befolgung, sondern vollumfängliche Realisierung zielt,196 könnte ihr Zweck gerade darin bestehen, auch im „Zwischenmenschlichen“, also im horizontalen Bereich Geltung zu beanspruchen. Dem entspräche auch der Absolutheitscharakter der Menschenwürde, wonach Eingriffe in ihren Schutzbereich – unabhängig von ihrer Urheberschaft – in jedem Fall intolerabel sind. Jedoch lässt sich diese Argumentation nicht widerspruchsfrei durchhalten: Zunächst muss hier, neben der systematischen Stellung im EUV, die einen weitreichenden Interpretationsimpuls für Normen der GrCh gerade nicht nahelegt, auf den in seinen genauen Konturen unklaren Rechtscharakter des Art. 2 EUV verwiesen werden.197 Dieser dient danach vor allem als Bekenntnis zur Wertordnung und zur Vergegenwärtigung des Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten und dürfte daher insgesamt auch nur deklaratorischen Charakter besitzen.198 Vergleichbares gilt für die Präambel der GrCh, der zwar wichtige Impulse zur Auslegung der einzelnen Verbürgungen entnommen werden können (s. o.), die gleichwohl zur letztentscheidenden Beantwortung der Frage nach möglicher Drittwirkung aufgrund ihres lediglich begrenzten Aussagegehalts nicht tragen dürfte. Zuletzt könnten daher die bei der Auslegung zu beachtenden Charta-Erläuterungen zu Art. 1 GrCh Aufschluss über eine unmittelbare Drittwirkung der Menschenwürdegarantie geben.199 Die dortige Verknüpfung der Ausübung der Charta195

So Korinek, Der Schutz der Menschenwürde im Verfassungsrecht und im internationalen Recht, in: Harrer et al. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Theo Mayer-Maly, S. 257 (266). 196 Näher Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7 ff. 197 Näher Callies, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 2 EUV Rn. 7 ff. 198 Die Begriffe „Bekenntnis“ und „Vergegenwärtigung“ als Normzweck bei Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg,), Das Recht der Europäischen Union, Art. 2 EUV, Rn. 8 ff. 199 Charta-Erläuterungen zu Art. 1 – Würde des Menschen: „Daraus ergibt sich insbesondere, dass keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, und dass die Würde des Menschen zum We-

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

grundrechte mit der Würde anderer Personen könnte dahingehend verstanden werden, dass die Menschenwürde des Anderen bei jedweder Freiheitsausübung des Einzelnen zu beachten ist und er somit zum Normadressat von Art. 1 Abs. 1 GrCh würde. Gegen dieses Verständnis spricht jedoch, dass die Frage nach einer möglichen (auch nur mittelbaren) Drittwirkung der Grundrechte im Allgemeinen und der Menschenwürde im Besonderen vom Konvent ausgespart wurde. Die Charta-Erläuterungen tragen daher keine entsprechenden Vorgaben in sich. Unter teleologischen Gesichtspunkten kann zunächst auf die klassischen Funktionen der Grundrechte als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte bzw. an ihn adressierte Schutzpflichten abgestellt werden; Funktionen, die sich so auch auf die EU und ihre Organe bzw. die Mitgliedstaaten bei Bindung an die Charta übertragen lassen.200 Aus dieser Grundausrichtung wird denn auch in Bezug auf die Menschenwürde gefolgert, dass eine Grundpflicht zu menschenwürdefreundlichem Verhalten gegenüber Mitmenschen von vornherein abzulehnen sei.201 Etwaigen Würdeverletzungen durch Private könnte durch die Schutzpflichtendimension des Art. 1 GrCh begegnet, der Verwirklichung des absoluten Werts der Menschenwürde also auch dadurch Vorschub geleistet werden. Gerade im Hinblick auf die Genese der Grundrechtecharta gewinnt das Argument, dass Pflichten zu menschenwürdefreundlichem oder auch nur generell bestimmtem Verhalten durch sie gerade nicht begründet werden sollen, noch stärkeres Gewicht. Mit der Grundlegung der Charta wurde schließlich das Ziel verfolgt, durch ein zusätzliches Grundrechtswerk nur ein „Mehr“ an Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat – hier der Union und, im Fall des Art. 51 Abs. 1 GrCh, den Mitgliedstaaten als verlängertem Arm der Union – zu sichern.202 Im Fokus standen daher die Schließung bisheriger Rechtsschutzlücken, nicht aber Freiheitsbeschränkungen des Bürgers.203 Damit in engem Sinnzusammenhang steht die im Subsidiaritätsprinzip zum Ausdruck kommende Überlegung, dass mit der Charta keine „verdeckte Kompetenzerweiterung“ zugunsten der Union erfolgen soll, wie Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 51 Abs. 2 GrCh ausdrücklich normieren.204 Zu einer solchen könnte die sensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört. Sie darf daher auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden.“ 200 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 11, Rn. 575. 201 So beispielsweise Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 6; zustimmend Niedobitek, Entwicklung und allgemeine Grundsätze, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/1, § 159 Rn. 103. 202 F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681 (3684 ff.). 203 Näher zum vorangegangenen F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681, dort auch der Gedanke, dass eine umfassende Drittwirkung dem Rechtsgedanken des Art. 51 GrCh – der begrenzten Anwendbarkeit der Charta – entgegenstehen soll. 204 Näher Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 51 Rn. 37 ff.

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien

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Anerkennung einer unmittelbaren Drittwirkung der Menschenwürde jedoch gerade führen, da die dem Einzelnen somit auferlegte Pflicht zum „menschenwürdefreundlichen Verhalten“ regelmäßig auch über (unionale) Gesetzeswerke in allen potenziell menschenwürderelevanten Bereichen vermittelt werden müsste – ob angesichts des Absolutheitsanspruchs der Menschenwürde hierbei Gesetzgebungskompetenzen immer eingehalten werden könnten, ist fraglich. Etwas anderes könnte sich aus den die Menschenwürde partiell schützenden Regelungen in Art. 3 Abs. 2 und Art. 5 GrCh ergeben. Diese unmittelbar an Private adressierten Normbefehle könnten für eine allgemeine unmittelbare Drittwirkung der Menschenwürdegarantie streiten.205 Gleichwohl ist es gerade ihr enger sachlicher Anwendungsbereich, der gegen eine Übertragung ihrer drittschützenden Wirkung auf die „Mutternorm“ Art. 1 Abs. 1 GrCh spricht.206 Letztlich mangelt es zur Beantwortung der Frage an eindeutiger Rechtsprechung des EuGH. Zwar deuten seine Ausführungen etwa in der Transsexuellen-Entscheidung, die die Ausgestaltung eines privatrechtlichen Arbeitsverhältnisses betrifft, in die Richtung, dass die Menschenwürde auch Private, in diesem Fall den Arbeitgeber, unmittelbar bindet.207 Allerdings muss gesehen werden, dass die Menschenwürde hier nicht als Grundrecht, sondern als objektiver Rechtssatz und Auslegungsmaxime zur Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG herangezogen wurde. Zur Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung des Grundrechts auf Achtung und Schutz der Menschenwürde trägt die Entscheidung daher nicht bei. Bis der Gerichtshof hier eine Klärung in der Sache vorgenommen hat, bleibt die Frage nach der Drittwirkung der Menschenwürdegarantie auf unionaler Ebene offen.208 Auf Dauer dürfte sich jedoch aus teleologischen und kompetenziellen Gründen die Meinung bestätigen, die bereits heute eine unmittelbare Drittwirkung der unionsrechtlichen Menschenwürdegarantie verneint.209 205 Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 6 Rn. 58 f.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der GrCh, S. 37 f. (38); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, S. 219 ff. 206 Überdies können auch diese Rechte als nur mit mittelbarer Drittwirkung ausgestattete Rechte gelesen werden, s. dazu Niedobitek, Entwicklung und allgemeine Grundsätze, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/1, § 159 Rn. 103. 207 EuGH, Urt. v. 30. 04. 1996, Rs. C-13/94, ECLI:EU:C:1996:170, Slg. 1996, I-02143 – Transsexuelle; zum Fall s. oben Kapitel 3 D. I. Zum Vorgehen des EuGH in Fragen der Drittwirkung der Unionsgrundrechte s. Frantziou, The Horizontal Effect of the Charter of Fundamental Rights of the EU: Rediscovering the Reasons for Horizontality, ELJ 2015, 657 (659 ff.); danach sei der Gerichtshof bei dieser Frage weniger um dogmatische Sauberkeit, Pfadabhängigkeit und starre Textauslegung, sondern vielmehr um pragmatische und flexible Lösungen im Kontext der Europäischen Integration bemüht. 208 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 323. 209 Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg,), GRCh, Art. 1 Rn. 25; Niedobitek, Entwicklung und allgemeine Grundsätze, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/1, § 159 Rn. 103, dort FN. 323; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 234, dort FN. 1278 m.w.N.; Ehlers, Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: ders. (Hrsg.), Eu-

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

III. Menschenwürde als Auffanggrundrecht? Eine Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit, wie sie Art. 2 Abs. 1 GG für das Grundgesetz darstellt, ist in die Grundrechtecharta nicht aufgenommen worden.210 Mithin fehlt eine Norm, die als Auffanggrundrecht immer dann herangezogen werden kann, wenn kein Schutzbereich eines spezielleren Freiheitsrechts eröffnet ist. Es stellt sich also die Frage, ob die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GrCh als ein solches herangezogen werden kann.211 Für eine Heranziehung als Auffanggrundrecht fehlt es jedoch nicht nur an eindeutiger Rechtsprechung bzw. auch nur entsprechenden Hinweisen des EuGH und der Generalanwälte, die in diese Richtung interpretiert werden könnten.212 Es widerspricht auch dem ausdrücklichen Willen der Konventsmitglieder, Art. 1 Abs. 1 GrCh die Funktion eines Auffanggrundrechts zuzuschreiben und die Menschenwürdegarantie so der Gefahr auszusetzen, zu ”kleiner Münze“ zu verkommen.213 Zudem dürfte die Konzeption der GrCh mit der Verortung der Menschenwürde im ersten Kapitel und den darin enthaltenen fundamentalen Rechten entschieden dagegen sprechen, der Menschenwürde eine Funktion als Auffanggrundrecht für solche Fälle zuzuschreiben, die nicht eine elementare Bedrohung derselben bedeuten.214 Daher gilt nach beiden Grundrechtsordnungen, dass die Menschenwürdegarantie kein Auffanggrundrecht darstellt und in ihrer Anwendung stattdessen auf tatsächlich menschenwürderelevante, sprich basale und elementare Gefährdungslagen beschränkt bleibt.

IV. Offenheit der Menschenwürdegarantie für neue Gefahren und Gefährdungen Wenn die Menschenwürde nach beiden Grundrechtsordnungen kein Auffanggrundrecht darstellt, bleibt die Frage, wie sie sich selbst zu künftigen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unbekannten würderelevanten Entwicklungen verhält. Der Entstehungszusammenhang, in den beide Garantien eingebettet sind, hat gezeigt, dass mit der Menschenwürde zunächst den Gräueltaten begegnet werden sollte, die ropäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14, S. 553 f. Gegen eine unmittelbare Drittwirkung der GRCh auch Huber, Auslegung und Anwendung der Charta der Grundrechte, NJW 2011, 2385 (2389). Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 1 Rn. 10. 210 Jarass, EU Grundrechte, S. 19 f. 211 Für das GG bereits Zippelius, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 u. 2, Rn. 28. 212 Im Gegenteil: Der EuGH erweist sich, was die Heranziehung der Menschenwürdegarantie anbelangt, seit jeher als äußerst reserviert, s. o. Kapitel 3 D. 213 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 34. 214 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 34; Augsberg, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 1 Rn. 5.

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien

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unter den auf europäischem Boden agierenden Unrechtsregimen im 20. Jahrhundert begangen wurden: Ausgrenzung und Entrechtung, Euthanasie und Massenvernichtung. Daneben war zentrales Anliegen des Parlamentarischen Rats auf der einen und des Grundrechtskonvents auf der anderen Seite, auch den sich erst vage abzeichnenden oder gänzlich unbekannten „neuen“ Gefährdungslagen etwa der Biomedizin durch die Menschenwürde zu begegnen. Verwirklicht wurde dies in beiden Fällen durch den identischen deutungsoffenen Satz in S. 1. Diese semantische wie inhaltliche Grundoffenheit bietet zunächst für beide Garantien die Option, Schutz auch vor ungeahnten Gefahren zu gewähren, solange durch diese eine Instrumentalisierung des Menschen oder die elementare Gefährdung seiner Subjektqualität droht. Ihre terminologische Unbestimmtheit, gelegentlich als Schwäche gedeutet, erweist sich so als die eigentliche Stärke der Menschenwürdegarantie.215 Für die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie kommt diese Offenheit in den Erläuterungen zur Grundrechtecharta explizit darin zum Ausdruck, dass gerade zukünftige und noch nicht vorhersehbare Entwicklungen, etwa im Bereich der Biomedizin, an der Menschenwürdegarantie zu messen sind.216 Von dem explorativen Charakter der grundgesetzlichen Würdegarantie hat das BVerfG über die Jahre in verschiedenen Bereichen Gebrauch gemacht, wie die Entscheidungen zum aus der Würde resultierenden Kernbereichsschutz vor dem Hintergrund neuer technologischer Entwicklungen und gesellschaftlichen Umbrüche zeigen.217 Auch auf europäischer Ebene hat sich die Menschenwürde im bioethischen Diskurs und damit auf einem Feld neuartiger Entwicklungen bereits bewährt.218 Insgesamt geben diese ersten Befunde zu erwarten, dass in Zukunft weiterhin neue menschenwürderelevante Herausforderungen aufkommen können, beide Garantien jedoch ausreichend deutungsoffen sind, um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen.

V. Offenheit auch für „Verfassungswandel“? Von der soeben erörterten Fragestellung losgelöst ist die Frage, inwieweit die Würdegarantien selbst, ihr Inhalt und das ihnen zugrundeliegende (Vor-)Verständnis 215 Von dem „explorativen und innovativen Charakter der Menschenwürde zur Entdeckung neuer Rechte“ spricht in diesem Zusammenhang für die unionsrechtliche Garantie etwa Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 35; dort (Rn. 41) auch der Ausblick auf künftige „mannigfache praktische Entfaltungen der Menschenwürde“. Die Bezeichnung der Menschenwürde als „modal ausgerichtete Generalklausel“ schließlich bei Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 13. 216 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 6. 217 Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtrechtsprechung in diesem Kontext s. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 73 ff. 218 S. oben, Kapitel 3 D. II.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

einem Wandel unterfallen können, ob sie vielleicht sogar bereits entsprechende Entwicklungen durchschritten haben oder aber einen wandlungsfesten und entwicklungsunabhängigen Kern besitzen. Für das Grundgesetz ist diese Frage zunächst von dem von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Fall abzugrenzen. Mit der „Ewigkeitsgarantie“ soll ein Wandel in Gestalt der förmlichen Verfassungsänderung und damit ein Wandel der auch in Art. 1 niedergelegten Grundsätze und des „Verfassungskerns“ der Bundesrepublik verhindert werden.219 Dagegen bezeichnet der Verfassungswandel eine Form der „informellen Verfassungsänderung“ durch bestimmte transformatorische Prozesse des gesellschaftlichen, politischen, und vielleicht auch wirtschaftlichen Kontextes.220 Der Verfassungswandel ist unter dem Grundgesetz nicht nur im Einzelnen und im Hinblick auf Messbarkeit, Praktikabilität und Umsetzung, sondern bereits im Hinblick auf seine Existenz und generelle Legitimität umstritten.221 Letztlich und im größeren Zusammenhang betrifft dies auch dahinter stehende Fragen etwa nach dem Charakter des Grundgesetzes im Allgemeinen („offene Verfassung“) sowie nach der Normsetzungs-, Konkretisierungs- und Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein sollen.222 Für die grundgesetzliche Würdegarantie im Besonderen bedeutet ihre Verortung in Art. 79 Abs. 3 GG, dass die Grundsätze des Art. 1 GG nicht geändert werden können, verfassungsändernde Gesetze dagegen gerade an Art. 1 GG gemessen werden. Formelle Verfassungsänderungen finden ihre Grenze in Art. 1 GG, der notwendigerweise einen unverrückbaren und unabänderlichen Kern beinhaltet (und beinhalten muss). Die in Art. 1 GG enthaltene Menschenwürdegarantie zählt nach Ansicht des BVerfG und nach überwiegender Ansicht in der Literatur als Ganzes zu diesem maßstabliefernden Kernbestand und damit zu den Grundsätzen aus Art. 79

219

Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 60 ff. Zum Begriff Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 270 Rn. 14 ff. S. auch Roellecke, Identität und Variabilität der Verfassung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, S. 479 ff. 221 Grundlegend, den Begriff des Verfassungswandels jedoch ablehnend und das Phänomen stattdessen als Interpretationsproblem auf Anwendungsebene wendend Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), 111 ff.; dagegen Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Staat, Nation, Europa, S. 141 f.; skeptisch zur „Lehre vom Verfassungswandel“ Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, Der Staat 43 (2004), 450 (459); den Verfassungswandel für illegitim erachtend Jestaedt, Selbstand und Offenheit der Verfassung gegenüber nationalem, supranationalem und internationalem Recht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 264 Rn. 70; ähnlich Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2007), S. 7 (45 f.): „Für Verfassungswandel kein Raum unter dem Grundgesetz“. Dagegen Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 254 ff.; als legitim erachtet auch bei Michael, Die verfassungswandelnde Gewalt, RW 2014, 426 (448 ff.). 222 Näher Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 141. 220

C. Normative Dimensionen der Menschenwürdegarantien

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Abs. 3 i.V.m. Art. 1 GG.223 Sie steht in der Lesart des BVerfG damit einer förmlichen Verfassungsänderung kategorisch entgegen. Fraglich ist allerdings, ob die Würdegarantie damit auch zugleich einem informellen Verfassungswandel entgegensteht. Man mag daran zwar nicht ganz zu Unrecht bereits im Hinblick auf die Lebenswirklichkeit Zweifel hegen und auch in der Würdegarantie eine – wie alle Rechtsnormen – prinzipiell dem stillen Wandel zumindest ausgesetzte Norm des Verfassungsrechts erblicken. In diesem Sinne lassen sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG (Fort-)Entwicklungen und punktuelle Modifizierungen seiner Menschenwürdedogmatik konstatieren.224 Und doch herrscht in der Würderechtsprechung des BVerfG eine insgesamt starke Kontinuität und lassen sich die einzelnen Urteile ohne signifikante Brüche in einen größeren und konsisten Sinnzusammenhang stellen, wie die Analyse in Kapitel 3 gezeigt hat. Dieser Befund geht auch mit dem normativen Anspruch der Menschenwürdegarantie selbst einher: Wenn das Verfassungsrecht im Allgemeinen immer eine gewisse Distanz zur Lebenswirklichkeit wahrt und zu wahren hat, so gilt dies angesichts ihrer Verankerung in Art. 79 Abs. 3 GG verstärkt für die Würdegarantie des Grundgesetzes. Soweit diese als Ganzes bereits dem formellen Verfassungswandel entgegensteht, muss dies, a maiore ad minus, erst recht für den demokratisch weniger legitimierten und insgesamt weitaus diffuseren informellen Verfassungswandel gelten. Es gilt also, was Josef Isensee geschrieben hat: Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ist die rechtsstaatliche Tabunorm, in all ihren Ausprägungen und im allumfassenden Sinn.225 Daher ist auch bei (Neu-)Interpretation der Norm, bei der Unterbreitung alternativer Deutungsangebote oder auch nur der (Neu-)Justierung ihres Sinngehalts höchste Zurückhaltung geboten. Dies gilt für die grundgesetzliche Garantie trotz vieler vertretener, im Einzelnen (etwa zum Schutzbereich) stark divergierender Meinungen, da der Inhalt der Menschenwürdegarantie im Parlamentarischen Rat keineswegs völlig offengelassen worden ist oder Verhandlungen darüber gar gänzlich ausgespart worden sind.226 Darauf aufbauend hat die Rechtsprechung des BVerfG mittlerweile zu Pfadabhängigkeiten, Kontinuitäten und normative Verfestigungen geführt, denen eine konsistente Interpretation der Würdenorm auch künftig Rechnung tragen muss. Diese wird sich in der Folge – auch und gerade im Angesicht neuer Gefährdungslagen – immer auch in dem Rahmen

223

BVerfGE 109, 279 (310) – Großer Lauschangriff; für die Literatur statt vieler Dietlein, in: BeckOK VerfR, Art. 79 GG Rn. 27. 224 Dies gilt etwa für die Rechtsprechung zum Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, welches das BVerfG im Jahre 1951 – offenbar auch aus wirtschaftlichen Gründen – noch verneinte, um es 60 Jahre später dagegen umstandslos anzuerkennen, s. o. Kapitel 3 C. III. 3. 225 Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 2006 (131), 173 (179). 226 Grundlegend Goos, Innere Freiheit, ins. S. 75 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

bewegen müssen, den die Erwägungen im Parlamentarischen Rat und die bisherige Rechtsprechung des BVerfG vorgeben.227 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die unionsrechtliche Würdegarantie von ihrem grundgesetzlichen Pendant aus zweierlei Gründen. Zum einen, da eine mit Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Regelung in der Charta und dem sonstigen Primärrecht nicht existiert. Zum anderen, da der genaue Inhalt der Würdenorm im Grundrechtskonvent nicht nur nicht festgelegt wurde, sondern Diskussionen darüber erst gar nicht geführt wurden.228 Tabuisiert ist unter der Charta daher nicht die Änderung des Norminhalts der Würdegarantie, sondern waren es – überspitzt formuliert – bereits die inhaltlichen Auseinandersetzungen über ihre normative Reichweite im Konvent, da nur so ein Textkonsens erzielt werden konnte.229 Die Inhaltsoffenheit oder eher Inhaltslosigkeit der europäischen Würdenorm ist vom Konvent daher von Beginn an integraler Bestandteil ihrer Konzeption. In der Folge kann es kaum verwundern, dass in der einschlägigen Literatur immer wieder auf die Entwicklungsoffenheit der Charta im Allgemeinen und der Menschenwürdegarantie im Besonderen verwiesen wird230 und die Bedeutung der „Gemeinschaft der europäischen Verfassungsinterpreten“ und der „europäischen Diskursgemeinschaften“231 zur Interpretation – oder vielleicht zur inhaltlichen (Er-)Schaffung oder (Er-)findung? – der Würdegarantie herausgestellt werden. Eine änderungsfeste Konstante bildet die europäische Würdegarantie im Vergleich zu Art. 1 Abs. 1 GG daher nicht. Vielmehr ist ihre Inhaltsgewinnung selbst erst auf interpretatorische Prozesse der europäischen Verfassungsinterpreten angewiesen, welche die Figur eines Verfassungswandels nicht nur nicht aussschließen, sondern im Gegenteil geradezu ermöglichen.232 Hier zeigt sich ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Garantien, der auf einer grundsätzlichen Ebene lokalisiert ist. Mag man das Grundgesetz zwar als „offene Verfassung“ ansehen, die einem steten Wandel der sie begleitenden Umstände ausgesetzt ist, welcher seinerseits auf ihren Inhalt einwirkt, so bildet die 227 Dies schließt unterschiedliche Deutungen im Einzelnen wiederum nicht kategorisch aus, was auch in der Äußerung des BVerfG zum Ausdruck kommt: „Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“ (BVerfGE 45, 187 (229) – Lebenslange Freiheitsstrafe). Umgekehrt dürfte eine schlichte Rechtsprechungsänderung des BVerfG zur Menschenwürde angesichts ihres Charakters als in Art. 79 Abs. 3 GG verankerte Fundamentalnorm nicht gelingen. 228 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 35. 229 Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 1: „formelkompromisshafter Scheinkonsens“. 230 Rixen in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 5. 231 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Grch, Art. 1 Rn. 41. 232 S. in diesem Zusammenhang die Formulierung bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Grch, Vor Art. 1 Rn. 1b: „Bringing the Charter to Life“. Die Charta rückt somit in die Nähe des Verständnisses des EGMR von der EMRK als „living instrument“, grundlegend dazu EGMR, Urt. v. 25. 04. 1978, Nr. 5856/72 – Tyrer/The United Kingdom, Rn. 31.

D. Personaler Schutzbereich

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Menschenwürdegarantie hierzu doch gerade die Ausnahme: Sie soll die Konstante sein, an der ein möglicher Wandel gerade zu messen ist. Hingegen scheint die Würdegarantie der Charta als „Diskursprinzip“233 nicht nur in ihrer Interpretation wandlungsfähig. Bereits die Entwicklung ihres genauen Inhalts wurde einem mehr oder weniger offenen Interpretationsprozess überantwortet, was eine verbindliche Aussage darüber, welchen Schutzgehalt die Norm aufweist – und auch in Jahren noch aufweisen wird – dauerhaft nahezu unmöglich macht.

D. Personaler Schutzbereich Im Folgenden soll der personale Schutzbereich beider Garantien untersucht werden. Gefragt ist damit, wer nach beiden Rechtsordnungen entweder Träger der Menschenwürde sein kann, oder aber zumindest ihrem objektiven Schutz unterfällt. Schließlich wird zu klären sein, ob und inwieweit die Menschenwürdegarantien Schutz vor Würdeverletzungen auch nach dem Tod bieten und ob ihr jeweiliger Normgehalt eine überindividuelle Komponente in Form einer „Gattungswürde“ in sich trägt.

I. Ausnahmslos natürliche Personen als Träger der Menschenwürde Die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung weist den Träger der Menschenwürde bereits als solchen aus. Danach kommt Menschenwürde, hierin unterscheiden sich beide Garantien nicht voneinander und wird ihr universeller Charakter sichtbar, allen natürlichen Personen zu, unabhängig von ihren Fähigkeiten und Eigenschaften.234 Jüngeren Diskussionen, wonach von Menschenwürde nur dann gesprochen werden könne, wenn ihr Träger bestimmte Eigenschaften aufweise, fanden bisweilen zwar auch in der juristischen Literatur Anklang,235 schlugen sich im rechtlichen Status quo jedoch nicht nieder. Während das BVerfG für die grundgesetzliche Garantie immer wieder betont hat, dass Menschenwürde nicht von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten abhänge, und stattdessen jedem Menschen allein kraft seines Menschseins zukommt, lässt auch die unionsrechtliche Garantie keinen Raum für eine davon abweichende Deutung.236

233

Zur Menschenwürde als Diskursmodell s. Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 478 f. S. etwa BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel. 235 Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 53 ff.; s. dazu Goos, Innere Freiheit, S. 30 ff.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 58. 236 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 258. Den „inklusiven Charakter“ der Würdegarantie betonen auch Höfling/Kempny in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 23. 234

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Ihr universeller Charakter als Menschen- und nicht nur Bürgerrecht zeigt sich auch darin, dass nach beiden Rechtsordnungen Umstände wie die Staatsangehörigkeit oder eine etwaige Illegalität des Aufenthalts eines Menschen bei der Frage nach der Trägerschaft der Menschenwürde keine Rolle spielen.237 Juristische Personen, Personenvereinigungen und Gruppen als solche scheiden schließlich als Träger der Menschenwürde auf nationaler wie unionsrechtlicher Ebene von vornherein aus.238

II. Pränataler Menschenwürdeschutz Ein in nachgerade jeder Hinsicht umstrittenes Feld eröffnet sich jedoch mit der Frage, inwieweit unter beiden Garantien das vorgeburtliche Leben Menschenwürdeschutz genießt. Die Beantwortung dieser Frage wird, soweit sie überhaupt möglich ist, für später zu erörternde Fallgruppen wie den Schwangerschaftsabbruch, die Präimplantationsdiagnostik und insbesondere die Forschung mit embryonalen Stammzellen entscheidende Weichenstellungen liefern. Zudem könnten sich bereits auf dieser grundsätzlichen Ebene empfindliche Wertungswidersprüche zwischen beiden Grundrechtsebenen auftun, die angesichts bereits bestehender239, künftig keineswegs fernliegender Regelungskompetenzen der EU240 auch praktische Bedeutung erlangen können.241 Um sich dem Themenkomplex anzunähern, wird im Folgenden zunächst eine kurze terminologische Klärung vonnöten sein, an die sich Ausführungen zum Menschenwürdeschutz im Zeitraum zwischen der Nidation und der Geburt an237 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 64; BVerfGE 132, 134 ff. – Asylbewerberleistungsgesetz, Rn. 63. Für die Charta Weber, Die europäische Grundrechtscharta, NJW 2000, 537 (542); aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Urt. v. 12. 11. 2019, Rs. C-233/18, ECLI:EU:C:2019:956 – Zubair Haqbin/Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers. 238 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 36; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 11 Rn. 576; Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 7; van Vormizeele, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 Rn. 8. 239 Zu denken ist etwa an die Forschungsförderprogramme der EU, zum zur Zeit gültigen mit dem Titel „Horizont 2020“ s. die Übersicht des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften: http://www.drze.de/im-blickpunkt/stammzellen/gesetze-und-regelun gen. Zu vorangegangenen Förderprogrammen Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 421 ff. Vgl. auch Vöneky/Petersen, Der rechtliche Status des menschlichen extrakorporalen Embryos: Das Recht der Europäischen Union, EuR 2006, 340 (353 ff.). Zur Reichweite der bestehenden Kompetenzen s. jedoch Gassner/Kersten/Krüger/ Lindner/Rosenau/Schroth, Fortpflanzungsmedizingesetz – Augsburg-Münchener-Entwurf, S. 25. 240 Zu den generalklauselartigen Kompetenznormen im AEUV s. oben 2. Teil. 241 Dass das Recht auf Leben schon Teil der europäischen Verfassungswirklichkeit ist, beschreibt Weiler, Ein christliches Europa, S. 61, 135. Näher zu den (bereits im Jahre 2009) bestehenden Gesetzgebungskompetenzen Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 194 ff.

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schließen. Sodann wird untersucht, inwieweit nach beiden Garantien Menschenwürdeschutz auch für den pränidativen Zeitraum und den extrakorporal erzeugten Embryo besteht.242 Die Abschichtung nach einem Zeitraum vor und nach der Nidation ergibt sich dabei aus zwei Gesichtspunkten: Zum einen knüpft sie, wie sich im Folgenden zeigen lässt, an die Urteile des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch und die darin gewonnen Erkenntnisse an, dass damit ein bestimmbares Ereignis in der Entwicklung menschlichen Lebens beschrieben ist. Zum anderen liefert gerade diese Rechtsprechung den maßgeblichen Referenzrahmen für die Diskussion des Problems in der Literatur, in der die Nidation häufig als entscheidender Zeitpunkt für den Menschenwürdeschutz begriffen wird.243 1. Zur verwendeten Terminologie Als Oberbegriff für alle Entwicklungsformen des menschlichen Lebens bis zur Geburt wird im Folgenden der Begriff „Nasciturus“ verwendet. Der Begriff „Embryo“ wird für die Entwicklungsphase zwischen der Befruchtung (Fertilisation) und der Entwicklung der Organsysteme (Phase bis zum Ende der achten Schwangerschaftswoche, sog. Embryonalperiode) verwendet. Für die hieran anschließende Periode (von etwa der neunten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt, sog. Fetalperiode) wird der Begriff „Fötus“ verwendet. Die Nidation bezeichnet den Prozess der Einnistung des befruchteten Eis in die Schleimhaut des Uterus, ein Prozess, der sich über mehrere Tage erstreckt und zum Ende der zweiten Entwicklungswoche des Embryos abgeschlossen ist.244 2. Menschenwürdeschutz in der Phase zwischen Nidation und Geburt Eine im Vergleich zur vornidativen Phase weniger umstrittene, im Hinblick auf das Schutzniveau gleichwohl nach wie vor diskutierte Phase stellt die Phase zwischen dem Zeitpunkt der Nidation und der Geburt dar. Die Frage nach dem Menschenwürdeschutz innerhalb dieser Periode soll für die deutsche Verfassungsordnung zunächst mit einem Blick auf die bereits skizzierte Rechtsprechung des BVerfG in den Blick genommen werden.

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Da der Status des extrakorporal erzeugten Embryos entscheidend von der Beantwortung der Frage abhängt, ob bereits im Zeitraum zwischen Befruchtung und Nidation „würdefähiges“ menschliches Leben vorliegt, sollen die beiden Untersuchungsgegenstände im Folgenden gemeinsam geprüft werden, s. Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 24. 243 S. etwa Dreier, Bioethik, S. 60. Dies dürfte im Übrigen auch für die internationale Diskussion gelten, wie Schwarzburg am Beispiel Großbritanniens zeigt, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 272 ff. Eine Wertung des Autors im Hinblick auf die Frage des vorgeburtlichen Würdeschutzes ist der nachfolgenden Aufteilung nicht zu entnehmen. 244 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 200.

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Maßgeblich wurde die deutsche Rechtsordnung in dieser Frage durch die beiden Urteile des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch geprägt, in denen das Gericht einen Menschenwürdeschutz in Kopplung mit dem Recht auf Leben für das ungeborene Leben jedenfalls ab der Nidation angenommen hat.245 Offen blieb dabei, ob der Nasciturus Träger der Menschenwürde ist oder „nur“ einem objektiven Schutz unterfällt. Ist die Frage nach der Trägerschaft des ungeborenen Lebens daher mit den Urteilen des BVerfG verfassungsgerichtlich zwar nicht entschieden, gehen daraus gezogene Rückschlüsse auf einen möglicherweise eingeschränkten Schutz des Nasciturus gleichwohl ins Leere, im Gegenteil. Das BVerfG erteilte hier jeglichen Einschränkungen im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit und das Schutzniveau, vor allem also den in der Literatur verbreiteten Konzepten eines abgestuften Lebens- und Menschenwürdeschutzes, von vornherein eine Absage, indem es postulierte: „Liegt die Würde des Menschseins auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen, so verbieten sich jegliche Differenzierungen der Schutzverpflichtungen mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand dieses Lebens oder die Bereitschaft der Frau, es weiter in sich leben zu lassen“.246 Da das BVerfG durch die Kopplung von Lebensrecht und Menschenwürdeschutz im Ausgangspunkt keinen Raum für eine Scheidung der beiden Rechtsgüter belässt („wo menschliches Leben, da Menschenwürde“), bleibt für die Frage nach der Teilhabe am Menschenwürdeschutz nach dieser Rechtsprechung also entscheidend, ab welchem Zeitpunkt der Entwicklung von menschlichem Leben gesprochen werden kann. Da menschliches Leben, so das Gericht, jedenfalls ab der Nidation bestehe, ist spätestens von diesem Ereignis an von einem verfassungsrechtlich geschützten Status des Nasciturus auszugehen.247 Diese Rechtsprechung sah sich immer wieder abweichenden und gegenläufigen Meinungen aus der Literatur gegenüber. Der radikale Gegenentwurf, wonach der Schutz der Menschenwürde dem Ungeborenen nicht zustehe und erst ab der Geburt beginnen solle, blieb – soweit ersichtlich – nur sehr vereinzelt vertreten und findet bis heute in der maßgeblichen Literatur kaum Resonanz.248 Dagegen scheinen über die letzten Jahre vermehrt Meinungen Raum zu gewinnen, nach denen der Menschenwürdeschutz des Nasciturus im Vergleich zum geborenen Menschen in seiner Intensität abgestuft sein soll. Zwar variieren die Konzepte in der weiteren Ausgestaltung stark. Ihnen ist jedoch nahezu durchweg gemein, dass die Nidation einen wichtigen, für viele Vertreter gar entscheidenden Zeitpunkt in der Entwicklungsstufe 245 BVerfGE 39, 1 (41) – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 88, 203 (251 f.) – Schwangerschaftsabbruch II. 246 BVerfGE 88, 203 (267) – Schwangerschaftsabbruch II. 247 BVerfGE 88, 203 (251 f.) – Schwangerschaftsabbruch II: „Jedenfalls in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.“ 248 Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 144 f.; Merkel, Embryonenschutz, Grundgesetz und Ethik, DRiZ 2002, 184 (190 f.).

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des Menschen darstellt, von dem an ein dem geborenen Menschen vergleichbarer, zu einem solchen jedenfalls aber rasch ansteigender Menschenwürdeschutz bestehen soll.249 Im Ganzen bleibt daher in der Literatur für die postnidative Phase weniger das „Ob“, sondern nur der Grad des Menschenwürdeschutzes umstritten. Wirft man einen Blick auf die rechtliche Praxis innerhalb Deutschlands, nach der ein Schwangerschaftsabbruch faktisch bis zu zwölf Wochen nach Empfängnis – und damit nach der Nidation – straffrei erfolgen kann, so ergibt sich der Eindruck, dass das (vermeintlich) hohe verfassungsrechtliche Niveau darin keine Entsprechung findet, und das Versprechen des höchstmöglichen Schutzniveaus so in der Realität nicht eingelöst wird.250 Der Eindruck täuscht nicht, verkennt jedoch, dass die Nidation, wie sich anhand der einfachgesetzlichen Vorschrift des § 218 Abs. 1 S. 2 StGB zeigt, den allein maßgeblichen Zeitpunkt darstellt, von dem an überhaupt von einem strafrechtlich relevanten Schwangerschaftsabbruch gesprochen werden kann: Erst ab dem Zeitpunkt der Nidation sind schwangerschaftsabbrechende Maßnahmen strafbewehrt. Auch die Vorschrift in § 218a Abs. 1 StGB ändert nichts an der Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch nach der Nidation dauerhaft als rechtswidrig anzusehen ist; sie schließt nur den Tatbestand aus, begründet jedoch keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund.251 Der Zeitpunkt der Nidation stellt für die deutsche Rechtsordnung nach der maßgeblichen Judikatur und der in der Literatur wohl herrschenden Meinung den Zeitpunkt dar, von dem an – spätestens – ein dem geborenen Menschen vergleichbarer Menschenwürdeschutz zuteilwerden soll. Fragt man nun im Vergleich nach dem postnidativen Schutz des Nasciturus unter dem Unionsrecht, fällt mit Blick auf die Judikatur des EuGH zunächst auf, dass eine vergleichbar eindeutige Rechtsprechung fehlt. So sah der Gerichtshof im Verfahren SPUC/Grogan252 – es ging hierbei um die Verbreitung von Informationen an irischen Hochschulen über Abtreibungsmöglichkeiten in Großbritannien – den Anwen-

249 S. etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 60; Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (315). Darüber hinaus variieren die zahllosen Konzepte im Hinblick auf eine entscheidende zeitliche Komponente, die Frage nach Kopplung bzw. Entkopplung der beiden Schutzgüter Leben und Würde, der Art des Schutzes (objektiver oder auch subjektiver Schutz), oder der Heranziehung der Grundzüge bereits bekannter Schutzinstitute wie etwa des postmortalen Würdeschutzes. 250 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 71 f. Dieser Gedanke in vergleichbarem Zusammenhang auch bei Volkmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 67 Rn. 31: „Man kann aber schlecht einerseits das größtmögliche Schutzniveau fordern und dann in der Verfassungswirklichkeit auf jeden Schutz verzichten.“ 251 Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 218a Rn. 1. Dies war eine der zentralen Forderungen des BVerfG an den Gesetzgeber im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1993, BVerfGE 88, 203 (255 ff.) – Schwangerschaftsabbruch II. 252 EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan.

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dungsbereich der Dienstleistungsfreiheit als nicht eröffnet an.253 Dies hatte zur Folge, dass die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung der Einschränkung aus Gründen des Lebens- und Menschenwürdeschutzes von Ungeborenen unbeantwortet blieb. Allein mit der Einordnung als Dienstleitung hat der Gerichtshof weder ein (Un-) Rechtmäßigkeitsurteil über den Schwangerschaftsabbruch gefällt, gar noch die Frage nach Lebens- und Menschenwürdeschutz des Nasciturus beantwortet, weshalb diese Entscheidung für die vorliegende Fragestellung unergiebig ist.254 Auch aus der Entscheidung zur Biopatentrichtlinie aus dem Jahr 2001 lassen sich keine zwingenden Schlüsse zur Frage des Menschenwürdeschutzes Ungeborener ziehen. Zwar sah der Gerichtshof im Verfahren die Menschenwürde dadurch gewährleistet, „dass der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung keine patentierbare Erfindung darstellen kann“255. Worin diese Phasen seiner Entstehung und Entwicklung bestehen und wann diese beginnen, ließ er jedoch offen. Seine Zurückhaltung in diesem sensiblen Bereich legte der EuGH jedoch zumindest zum Teil in der zweiten Entscheidung zur Biopatentrichtlinie aus dem Jahr 2011 ab.256 Die dort formulierte, denkbar weiteste Definition des Embryos, von dem ab dem Zeitpunkt der Befruchtung zu reden sei, kann als Signal in Richtung eines absoluten Lebens- und Menschenwürdeschutzes gedeutet werden.257 Zwar klärte der Gerichtshof darin nicht explizit die Frage nach Lebensrecht und Menschenwürdeschutz des Embryonen, er spricht dies nicht einmal ausdrücklich an. Dennoch deuten die Begründungsstruktur des Urteils und insbesondere die Heranziehung der Menschenwürde als Grund für die denkbar weiteste Auslegung des Embryonenbegriffs darauf hin, dass für den Gerichtshof jedenfalls im Patentrecht der höchstmögliche Schutz gegenüber dem ungeborenen Leben angezeigt ist. Ein weiteres Indiz für einen derart weiten vorgeburtlichen Lebens- und Menschenwürdeschutz stellt die im Urteil verwendete Terminologie dar. So ist durchgängig von der Entwicklung eines Menschen die Rede258 – eine Formulierung also, die darauf hindeutet, dass der EuGH zwar von unterschiedlichen Stufen der menschlichen Entwicklung ausgeht, dabei jedoch nicht nach „bereits Mensch“ und „noch nicht Mensch“ unterscheidet. Von dieser Formulierung hat sich der Gerichtshof zumindest in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2014 jedoch wieder verabschiedet, sodass voreilige Schlüsse allein auf253

EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan, Rn. 26 f. 254 Dies betonte der Gerichtshof selbst ausdrücklich im Urteil, EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan, Rn. 19 ff. 255 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 77. 256 S. oben Kapitel 3 D. II. 4. 257 So auch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 301 f. 258 Die Formulierung etwa in Randnummer 35. Der englische („development of a human being“) und französische („le processus de développement d’un être humain“) Urteilstext weisen die gleiche Formulierung auf.

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grund der Terminologie vermieden werden sollten.259 Geht man gleichwohl von einem auch dem Urteil des EuGH aus 2011 zugrundeliegenden umfassenden Verständnis bereits des Embryonenbegriffs aus, wäre eine Differenzierung des Schutzstatus und der Schutzintensität nach verschiedenen späteren Entwicklungsphasen damit unvereinbar. Ob dieses Verständnis den EuGH auch künftig anleiten wird, das Urteil aus 2011 also tatsächlich bereichsübergreifende Wirkungen entfalten wird, bleibt abzuwarten; künftige Urteile werden sich an der bisherigen Rechtsprechung jedenfalls zu messen haben.260 Für den hier in Rede stehenden Zeitraum ab der Nidation fehlt es somit an einer klaren Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die wenigen Urteile lassen jedoch Vermutungen zugunsten des Würdeschutzes von Embryonen zu, der dann erst recht für den Nasciturus ab dem Zeitpunkt der Nidation gelten müsste. Es fragt sich, ob sich die Unsicherheit im Hinblick auf den pränatalen Menschenwürdeschutz ab der Nidation mit einem Blick auf den Normtext und die Systematik der Grundrechtecharta einengen lässt. Die Formulierung von Art. 1 Abs. 1 GrCh („Mensch“) deutet – wie die grundgesetzliche Formulierung auch, und entgegen der ursprünglichen deutschsprachigen Formulierung der Charta261 – vorsichtig auf einen vorgeburtlichen Lebens- und Menschenwürdeschutz hin.262 Auch die Existenz des Art. 3 Abs. 2 GrCh, der gerade auch vor ungeahnten Bedrohungen durch die moderne (Bio-)Medizin schützen will, beweist den Willen des Konvents, Grundrechtsschutz auch in frühen Stadien der menschlichen Entwicklung zu gewährleisten: Insbesondere die Verbote eugenischer Praktiken (Art. 3 Abs. 2 lit b) GrCh) und des therapeutischen Klonens (Art. 3 Abs. 2 lit d) GrCh) sind angesichts der bereits heute vielfältigen Forschungs- und Selektionsmöglichkeiten im vorgeburtlichen, teilweise auch im embryonalen Stadium Indiz dafür, dass auch der Nasciturus von diesen Regelungen erfasst sein soll.263 Wenn der Nasciturus Träger der Rechte aus Art. 3 GrCh ist oder aber zumindest dem dadurch gewährleisteten objektiven Schutz unterfällt, dürfte sich im Hinblick auf die übrigen Rechte des Regelungskomplexes des ersten Titels, also insbesondere Art. 1 und Art. 2 GrCh, nichts Gegenteiliges ergeben, da nur dadurch systematische Brüche innerhalb des Grundrechtskatalogs vermieden werden können.264

259

EuGH, Urt. v. 18. 12. 2014, Rs. C-364/13, ECLI:EU:C:2014:2451 – International Stem Cell, näher s. o. 3. Teil. 260 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 301 f. 261 In der ursprünglichen deutschsprachigen Fassung der GrCh war hier noch vom Lebensrecht der „Person“ die Rede. 262 Vorstöße einzelner Delegierter im Grundrechtekonvent, das ungeborene Leben vom Schutz des Art. 2 ausdrücklich auszunehmen, blieben erfolglos, näher hierzu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 29. 263 Vgl. Nowak, in: EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Juni 2006 Article 3, S. 39. 264 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 35.

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Aus teleologischen Gesichtspunkten spricht der mit der Charta angestrebte möglichst umfassende Grundrechtsschutz ebenfalls für einen vorgeburtlichen Lebens- und Menschenwürdeschutz.265 Die Konzeption der Charta, insbesondere aber ihre ersten beiden Artikel und hier die Stellung von Art. 2 GrCh unter dem Titel „Würde des Menschen“, sprechen dafür, dass auch auf unionsrechtlicher Ebene die aus der Rechtsprechung des BVerfG bekannte Kopplung zwischen dem Recht auf Leben und der Menschenwürde gesehen wird und diese auch nach unionsrechtlicher Konzeption eine untrennbare Einheit bilden.266 Maßgeblich bleibt daher auch auf dieser Ebene die Frage, ab welchem Zeitpunkt menschliches Leben vorliegt – eine Frage allerdings, die sich aus dem Wortlaut und der Systematik der Charta nicht sicher deduzieren lässt. Sowohl die Charta als auch das sonstige primärrechtliche Vertragswerk enthalten daher insgesamt zur Frage des pränatalen Lebens- und Menschenwürdeschutzes keine eindeutigen Vorentscheidungen.267 Es fragt sich schließlich, ob die Rechtserkenntnisquellen für die rechtliche Stellung des Nasciturus nach der Nidation entscheidende Erkenntnisse liefern. Während die Charta-Erläuterungen zu diesem Punkt schweigen, wird mit einem Blick auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten deutlich, weshalb die unionsrechtlichen Primärtexte hier kaum eine eindeutige und satisfaktionsfähige Lösung bereithalten können. So ist der „verfassungsrechtliche Status“ des Nasciturus in den meisten Mitgliedstaaten schlicht ungeklärt, explizite Regelungen in den einzelnen Verfassungen sind nur ganz vereinzelt aufzufinden und bilden nicht einmal ansatzweise einen Konsens ab.268 Für zusätzliche Unschärfe sorgt der Umstand, dass das Verhältnis von Würdeschutz und Lebensrecht im mitgliedstaatlichen Vergleich völlig heterogen ist. Vergröbert lassen sich die verschiedenen Schutzkonzepte im Vergleich der Unionsstaaten wie folgt darstellen: Verfassungsrechtlicher Schutz des geborenen, nicht aber des ungeborenen Lebens besteht in Belgien, Österreich und 265 Höfling, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 23; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 27: „Zudem sind sämtliche fundamentalen Rechte auf Inklusion angelegt und bedürfen daher weiter Auslegung.“; Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 19. 266 Hierzu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 27 ff.: „Die Ansiedlung im ersten Titel unter dem Leitbegriff der Menschenwürde und unmittelbar nach dem Grundrecht der Menschenwürde zeigt das Bestreben, jedem ,Auseinanderdriften‘ oder ,Abkoppeln‘ von Menschenwürde und Lebensrecht entgegenzutreten. […] Die Menschenwürde in Art. 1 [und] das Lebensrecht in Art. 2 Abs. 1 […] bilden eine untrennbare Einheit.“ 267 Nach Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 471, lässt sich aus dem geschriebenen Gemeinschaftsrecht allerdings maximal ein gestufter Schutz des Nasciturus deduzieren. 268 Die nachfolgenden Ausführungen sind angelehnt an Eser, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom Internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, Nomos 2003, S. 55 ff., hier allerdings unter Vermischung von Verfassungstext, Urteilen der Verfassungsgerichte, und der jeweils „mehr oder weniger verbindlichen herrschenden Meinung“; s. ferner Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 207 ff.

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den Niederlanden.269 In Italien und Griechenland ist der Fötus zwar in den Schutz des Lebensrechts einbezogen, allerdings ist hier der Schutzanspruch im Vergleich zum geborenen Leben deutlich geringer ausgeprägt. Ähnlich gestaltet sich die verfassungsrechtliche Lage in Frankreich und Portugal, wo von Seiten der Verfassungsgerichte von immanenten Schranken des Lebensrechts ausgegangen wird. Eine ausdrückliche Einbeziehung des Fötus in das Lebensrecht findet sich in den Verfassungen Irlands, Tschechiens, Ungarns sowie der Slowakei.270 Einen dem deutschen Verfassungsrecht vergleichbar weiten Schutz bieten soweit ersichtlich ferner die Mitgliedstaaten Spanien, Irland, Slowakei und Tschechien. Auch die rechtliche Praxis in den Mitgliedstaaten erweist sich in diesem Kontext als weitgehend heterogen. So finden sich etwa neben einem nahezu umfassenden Abtreibungsverbot in Irland auch deutlich liberalere Regelungen in den Niederlanden oder Belgien, in denen der Fötus keine eigenen Rechte genießt.271 Vor diesem Hintergrund bietet die Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen kein einheitliches Bild. Auch die Erweiterung der Perspektive um die Ebene des Europarats und der EMRK erschwert den Rechtsfindungsprozess eher, als dass es ihn erleichtert. Zum Würdeanspruch des Ungeborenen haben sich bislang weder der EKMR noch der EGMR geäußert. Da Art. 2 Abs. 1 GrCh gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh in seinem Schutzumfang jedoch identisch mit dem entsprechenden Recht aus der EMRK ist272, dürfte aufgrund des soeben skizzierten Zusammenhangs zwischen Art. 2 Abs. 1 GrCh und Art. 1 Abs. 1 GrCh die Frage nach dem Würdeschutz des Nasciturus auf der Ebene des Unionsrechts damit auch ganz entscheidend davon abhängen, ob das ungeborene Leben vom Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK geschützt wird und, falls ja, wie weit dieser Schutz reicht. Zum Lebensrecht des Ungeborenen existieren zwar Entscheidungen des EKMR und des EGMR; auch diese Frage bleibt im Kern jedoch unbeantwortet.273 Mit der Frage konfrontiert ließ der EGMR in der Rechtssache Vo/Frankreich aus dem Jahr 2004 angesichts eines fehlenden europäischen Konsenses Zurückhaltung walten und beließ den jeweiligen einzelnen Ver-

269

Zum Beispiel Österreich s. die Entscheidung des Österr. VfGH G 8/74 v. 11. 10. 1974, EuGRZ 1975, 74 (77 f.). 270 S. die Nachweise bei Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 2 Rn. 17. Für Ungarn s. Küpper, Ungarns Verfassung vom 25. 04. 2011. Einführung – Übersetzung – Materialien, S. 117 ff. 271 Eser, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom Internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, S. 55. 272 S. auch Charta-Erläuterungen zu Art. 2 GrCh. 273 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 278, dort (S. 275 ff.) auch eine Skizzierung der bisherigen EKMR und EGMR Rechtsprechung; näher zur Rechtsprechung auch Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 14 ff.

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tragsstaaten zur Beantwortung der Frage einen eigenen Beurteilungsspielraum.274 Diese Rechtsprechung bestätigte der EGMR in späteren Urteilen.275 In der Literatur wird daraus überwiegend gefolgert, die EMRK entfalte im Hinblick auf das pränatale Leben wohl zumindest einen objektiven, jedoch auch nur kontinuierlich anwachsenden Lebensschutz, wodurch der Nasciturus zwar nicht schutzlos gestellt ist, er im Vergleich zum geborenen Menschen jedoch deutlich geringeren Schutz genießt.276 Dieses Schutzniveau wird gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh auch durch die Charta gewährleistet, es bildet aber, wie Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh klarstellt, keineswegs eine Festlegung, sondern lediglich den Mindeststandard, von dem durch das Unionsrecht auch nach oben abgewichen werden kann. Es bleibt nach dem vorangegangen fraglich, ob angesichts der heterogenen Auffassungen innerhalb der Mitgliedstaaten einerseits sowie der vagen Befunde auf der Ebene des Europarats andererseits ein dem Grundgesetz vergleichbar hoher postnidativer Schutz des Ungeborenen besteht. Zwar deuten die jüngeren Entscheidungen des EuGH in die Richtung eines weitgehenden Schutzes. Auch lassen sich dafür systematische und teleologische Erwägungen zur Auslegung der Charta anführen. Jedoch bestehen an diesem Befund nicht zuletzt aufgrund der völlig heterogenen mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen wie auch der rechtlichen Praxis innerhalb der Mitgliedstaaten erhebliche Zweifel. Ein unionsweiter hoher, vor allem aber einheitlicher, Schutzstandard stünde jedenfalls mit der Verfassungsrechtsordnung und der rechtlichen Praxis einiger Mitgliedstaaten in Konflikt.277 In der Literatur finden sich angesichts dieser ungeklärten Lage auch die aus der deutschen Diskussion bekannten divergierenden Meinungen.278 274 EGMR (GK), Urt. v. 8. 7. 2004, Vo/France, No. 53924/00, §§ 82 – 85. Kritisch hierzu Uerpmann-Wittzack, Höchstpersönliche Rechte und Diskriminerungsverbot, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3, S. 118 f., da der Schutzbereich des Lebensrechts zur Disposition der Mitgliedstaaten gestellt werde. Kritisch ebenfalls Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 19. 275 S. nur EGMR Urt. v. 7. 3. 2006, Nr. 6339/05, Evans/ Vereinigtes Königreich, EuGRZ 2006, S. 389; bestätigt in EGMR, GK, Urt. v. 10. 4. 2007, Nr. 6339/05, Evans/ Vereinigtes Königreich, NJW 2008, 2013 ff. 276 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens S. 471; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 278 f.; Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 23. 277 Dieses Problem ist für den Bereich der Sterbehilfe angedeutet bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 31: „Diese Entscheidungen deuten zugleich darauf hin, dass die großzügige Euthanasiegesetzgebung in den Niederlanden, in Belgien und seit 2009 auch in Luxemburg einen Verstoß gegen das Lebensrecht in EMRK und Charta darstellen könnte.“ 278 Einen zumindest objektiven Schutz nach Art. 1 GrCh attestiert Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh Art. 1 Rn. 7. Angesichts der jüngeren EuGH Rechtsprechung wohl zu einem weitergehenden („absoluten und umfassenden“) Schutz tendierend Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 37. Für subjektiven Schutz Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 828; Höfling, in: Tettinger/Stern/Höfling (Hrsg.), GrCh Art. 2 Rn. 21; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 297 ff. Dagegen Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 14 f., wonach der Charta lediglich die Beibehaltung des jeweiligen Status quo in den Mitgliedstaaten zu entnehmen sei. Die Bedeutung von gesetzgeberischen

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3. Menschenwürdeschutz auch vor der Nidation? Durch Techniken wie Präimplantationsdiagnostik und assistierte Reproduktion und Forschungsbereiche wie Stammzellforschung und therapeutisches Klonen wird in Abgrenzung zu den vorangegangenen Ausführungen die Frage adressiert, inwieweit Lebens- und Menschenwürdeschutz auch bereits vor der Nidation besteht. Von der Beantwortung dieser Frage hängt auch entscheidend der Schutzstatus des extrakorporal erzeugten Embryos ab. Das Konfliktpotenzial ist im Vergleich zur vorangegangenen geschilderten Fragestellung daher noch einmal gesteigert. Zu dieser Frage herrscht in der deutschen Rechtsordnung nach wie vor eine heftige Kontroverse, in die auch die vorgenannten Urteile des BVerfG einbezogen sind. Konkret geht es dabei um eine Passage aus dem zweiten Schwangerschaftsabbruchurteil: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität … Es bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob, wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahelegen, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht. Gegenstand der angegriffenen Vorschriften ist der Schwangerschaftsabbruch, vor allem die strafrechtliche Regelung; entscheidungserheblich ist daher nur der Zeitraum der Schwangerschaft. Dieser reicht nach den – von den Antragstellern unbeanstandeten und verfassungsrechtlich unbedenklichen – Bestimmungen des Strafgesetzbuches vom Abschluß der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter … bis zum Beginn der Geburt. Jedenfalls in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt. Wie immer die verschiedenen Phasen des vorgeburtlichen Lebensprozesses unter biologischen, philosophischen, auch theologischen Gesichtspunkten gedeutet werden mögen und in der Geschichte beurteilt worden sind, es handelt sich jedenfalls um unabdingbare Stufen der Entwicklung eines individuellen Menschseins. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“ Da das BVerfG danach zwar von einem Menschenwürdeschutz bereits ab dem Zeitpunkt der Befruchtung auszugehen scheint, die Beantwortung der Frage jedoch ausdrücklich offengelassen hat, entsponnen sich über diese Passage heftige Diskussionen in der Literatur, die bis heute andauern.279 Entscheidungen betonend Dupré, in: Peers/Harvey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 1 Rn. 01.30. 279 Nach Volkmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 65 Rn. 27, etwa lassen sich dem Urteil zumindest „Sympathien“ des BVerfG für die Kernverschmelzungsthese entnehmen, während nach Hillgruber, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz. Verfassungsrechtliche und rechtsethische Überlegungen, Die Neue Ordnung 63 [2009], 84 (88), die Argumentation des Gerichts „eine sinnvolle Unterscheidung zwischen prä- und postnidativer Phase“ schlicht nicht

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Als eine bis heute häufig vertretene Meinung kann die „Kernverschmelzungsthese“ gelten, wonach ein kontinuierlicher Schutz des Embryos ab der Kernverschmelzung und damit ein dem geborenen Menschen identischer Schutz besteht, der aus der vollen Rechtsträgerschaft des Embryos resultiert.280 Für diese Meinung streitet der Umstand, dass bereits ab diesem Zeitpunkt das genetische Programm des Menschen in seiner Gänze angelegt ist, der Mensch sich von diesem Zeitpunkt an als Mensch in einem kontinuierlichen Vorgang entwickelt und er bereits kraft seiner Zugehörigkeit zur Spezies das Potenzial besitzt, sich zu einem geborenen und per se vernunftbegabten Menschen zu entwickeln.281 Die dazu in radikalem Kontrast stehende Ansicht geht dagegen davon aus, dass ein Schutzanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG und aus Art. 2 Abs. 1 GG zwingend den geborenen Menschen als Träger voraussetze und daher eine entsprechende, auch nur aus objektivem Schutz resultierende, Rechtsposition des Embryos zu verneinen sei.282 Schließlich, und auch als Gegenposition zur Kernverschmelzungsthese, existieren zahlreiche differenzierende Konzepte, wonach für den Embryo vor der Nidation und den Embryo in vitro zwar ein grundsätzlicher, aber kein dem geborenen Menschen vergleichbarer Schutz bestehen soll. Diese Meinungen eint, dass sie nicht von der Rechtsträgerschaft des Embryos ausgehen. Sie weisen im Einzelnen aber stark divergierende Ansätze auf, sodass sich hier insgesamt ein breites Spektrum des vorgeschlagenen Schutzes bietet.283 Überwiegend findet sich in den einzelnen Konzepten ein Bezug auf den Zeitpunkt der Nidation, mit der Folge, dass vor diesem Zeitpunkt kein bzw. nur ein schwacher (allenfalls objektiver) Schutz bestehen soll.284 Während bis heute angesichts dieser unversöhnlichen Positionen kein Konsens auf verfassungsrechtlicher Ebene besteht, tragen die einfachgesetzlichen Normen des ESchG und des StZG im Gegensatz zu §§ 218 ff. StGB in ihrer gegenwärtigen zulasse und die Ausklammerung des Embryo vor der Nidation rein verfahrensrechtliche Gründe habe; näher zu letztgenanntem Punkt Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 142. 280 S. Nachweise bei Hufen, Staatsrecht II, S. 143. Zur Deutung als Ausfluss der christlichen Personalitätsidee Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschung, FS Häberle, S. 355 (368). 281 Zu den Argumenten im Einzelnen s. nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 86. 282 Merkel, Früheuthanasie, S. 510 ff.; Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, S. 144 f.; ders., Ein Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht?, JuS 1989, S. 172 (178); ders., Ethik des Embryonenschutzes. 283 Für eine nicht näher bestimmte „prozesshafte“ Entwicklung des Schutzes etwa Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (774 f.); ähnlich Hufen, Staatsrecht II, S. 143; für eine „situationsspezifische Bestimmung“ des Würdeschutzes Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 10. Eine (offenbar dem postmortalen Würdeschutz vergleichbare) Vorwirkung des Würdeschutzes nimmt Ipsen, JZ 2001, 989 (993) an. 284 So etwa bei Hufen, Staatsrecht II, S. 143; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 73.

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Konzeption der Kernverschmelzungsthese – und damit auch der mutmaßlichen Auffassung des BVerfG – Rechnung. Danach genießt der Embryo in vitro nach § 1 und § 2 ESchG einen nahezu absoluten Schutz vor Zerstörung und physischer Beeinträchtigung durch reproduktive oder experimentelle Maßnahmen. Einem Verbot unterliegen nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG ferner die Erzeugung von Embryonen für die Stammzellforschung und die Gewinnung von Stammzellen aus vorhandenen Embryonen. Auch die Tatsache, dass die PID nach § 3a ESchG einem grundsätzlichen Verbot unterliegt und nur in sehr engen Grenzen von ihr Gebrauch gemacht werden darf, verdeutlicht das mit dem ESchG bezweckte hohe Schutzniveau zugunsten des werdenden Lebens. Vervollständigt wird der Embryonenschutz durch das Stammzellgesetz, welches in § 1 ausdrücklich den Schutz der Menschenwürde und des Rechts auf Leben als Zweck des Gesetzes ausweist und in der Sache ein nahezu umfassendes Verbot der Einfuhr und Verwendung von embryonalen Stammzellen normiert.285 Folglich kann für die deutsche Rechtsordnung trotz gegenläufiger Meinungen in der Literatur eine herrschende Auffassung ausgemacht werden, wonach bereits mit der Kernverschmelzung das Lebensrecht und der Menschenwürdeschutz des Embryos beginnt. Dieses aus der Verfassung abgeleitete Niveau spiegeln auch – insoweit, und angesichts der gängigen Abtreibungspraxis abweichend zur Frage nach Menschenwürdeschutz zwischen Nidation und Geburt – die einfachgesetzliche Normebene und die Rechtspraxis wider.286 Vereinzelt wurde daher auch davon gesprochen, der tatsächliche Schutz des anfänglichen in vitro erzeugten Embryos sei höher als der Schutz des späteren in vivo gezeugten Embryos.287 In jedem Fall muss für die deutsche Rechtsordnung daher sowohl für den Embryo in vivo vor der Nidation, als auch für den extrakorporal erzeugten Embryo ein aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitetes außerordentlich hohes Schutzniveau zugunsten des ungeborenen Lebens konstatiert werden, das auf einfachgesetzlicher Ebene seine Entsprechung findet. Dieses Schutzniveau stellt sich im europäischen Vergleich soweit ersichtlich als selten dar, wie gleich zu zeigen sein wird.

285 Darüber hinaus ist der Embryonenbegriff des § 3 Nr. 4 StZG umfassender als der des § 8 Abs. 1 ESchG, umfasst dieser doch auch auf nicht-sexuellem Weg erzeugte Embryonen, s. hierzu Müller-Terpitz, „ESchG 2.0“ – Plädoyer für eine partielle Reform des Embryonenschutzgesetzes, ZRP 2016, 51 (53). 286 Die Divergenz zu den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs lässt sich damit erklären, dass der Gesetzgeber den Sonderfall des Schwangerschaftsabbruchs bereichsspezifisch geregelt hat. Auf den nicht verallgemeinerungsfähigen einfachgesetzlichen „gestuften Lebensschutz“ nach §§ 218 StGB verweist Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 542. Gegen das Argument einer „Sondersituation“ wiederum Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 87. 287 Dreier, Bioethik – Politik und Verfassung, S. 67 ff. Die Replik auf den Vorwurf bei Schächinger, Menschenwürde und Menschheitswürde – Zweck, Konsistenz und Berechtigung strafrechtlichen Embryonenschutzes, S.247 ff., wonach ein Abgleich der Regelungskomplexe des ESchG und § 218 StGB inkommensurabel sei, da beide unterschiedlichen Zwecken dienten: § 218 StGB dem Lebensschutz, das ESchG der „Menschheitswürde“.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Wenn, wie gesehen, über den rechtlichen Status des menschlichen Embryos bereits national scharfe Diskussionen herrschen, kann es nicht verwundern, dass sich auf unionsrechtlicher Ebene ein entsprechender Konsens nicht abzeichnet. Insoweit setzen sich die bereits skizzierten Differenzen hinsichtlich des Schutzanspruchs des Nasciturus nach dem Zeitpunkt der Nidation (s. o.) auch und gerade, und in nochmals schärferer Form, für die Phase vor der Nidation fort. Wortlaut und Systematik der Charta sind in diesem Punkt mit Ausnahme der oben umrissenen288 vorsichtigen Tendenzen in Richtung eines weitreichenden pränatalen Schutzes nur bedingt aufschlussreich; dennoch wäre angesichts des Wortlauts des Art. 2 GrCh („jede Person“) zunächst genau zu begründen, weshalb auch früheste Formen des Menschseins von diesem Schutz ausgenommen sein sollten.289 Angesichts fehlender Verbote etwa des therapeutischen Klonens oder der PID in Art. 3 Abs. 2 GrCh könnte man versucht sein, Rückschlüsse aus Art. 3 Abs. 2 GrCh für den personalen Schutzbereich von Art. 1 GrCh zu ziehen. Danach wäre, stellen diese Praktiken doch angesichts der damit einhergehenden Vernichtung von Embryonen nach in der deutschen Rechtswissenschaft vertretener Auffassung eine Menschenwürdeverletzung dar,290 mit einer möglichen Legalisierung dieser Praktiken dem Menschenwürdeschutz von Embryonen eine Absage erteilt. Neben den systematischen Bedenken gegen diese Rückschlüsse ist dieser Auffassung zwar zunächst zuzugestehen, dass sich die Charta ausdrücklich der Erläuterungen gerade zum Bereich des therapeutischen Klonens indifferent verhält und damit Spielraum für gesetzgeberische Lösungen belässt.291 Dennoch ist die Vorschrift selbst in ihrer Offenheit zum Zwecke eines „effektiven, dynamisch-adaptiven Grundrechtsschutzes“ nicht als abschließende Regelung („insbesondere“) anzusehen und aufgrund ihrer Offenheit nicht maßgeblich zur Bestimmung des personalen Schutzbereichs des Art. 1 GrCh heranzuziehen.292 Für eine Einbeziehung von Embryonen in den Schutz der Charta, insbesondere in Art.1 und 2 GrCh, könnte die Formulierung des Abs. 6 der Präambel der GrCh sprechen.293 Da diese, wie oben gesehen,294 als Auslegungshilfe für die Grundrechtecharta heranzuziehen ist, könnte die Einbeziehung „künftiger Generationen“ 288

S. o. Kapitel 4 D. II. 2. Ähnlich Rixen, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 19 f. 290 So die wohl herrschende Ansicht in der deutschen Rechtswissenschaft, vgl. nur Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809 (813); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 99 ff. 291 S. Charta-Erläuterungen zu Art. 3 Rn. 2. 292 Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (557). 293 Abs. 6 der Präambel lautet: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ 294 Kapitel 4 A. II. 2. d). 289

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und damit künftiger Menschen dem Potentialitätsargument auf der Ebene der Europäischen Union besonderen Ausdruck und gesteigertes Gewicht verleihen und so für eine entsprechend weite Interpretation von Art. 1 GrCh streiten.295 Trotz der Plausibilität dieses Gedankens bleiben gewichtige Zweifel daran, dass ein Interpretationsimpuls aus der Präambel für die hochsensible Frage nach der personalen Reichweite von Art. 1 GrCh maßgebliche und nicht nur indizielle Bedeutung erlangen kann. Daneben bleibt bei der Wendung in der Präambel selbst unklar, wer oder was genau der Bezugspunkt der „Verantwortung und der Pflichten“ sein soll: Sind es künftige Generationen als eher abstrakter oder ist es der konkrete und in der Entwicklung begriffene Mensch als konkreter Bezugspunkt? Die Charta selbst enthält somit keine Vorentscheidung zu der Frage, ihr sind stattdessen nur vage Indizien zu entnehmen, die den Gerichtshof künftig bei der Auslegung der Charta anleiten könnten. Die geringe Aussagekraft der Charta resultiert wie bereits gezeigt aus dem Umstand, dass der Grundrechtekonvent die Frage nach dem Menschenwürdeschutz und dem Lebensrecht von Embryonen weitgehend ausgeklammert hat.296 Die Beantwortung wird weiter erschwert, je mehr man sich die völlig heterogene Rechtspraxis und die ebenso vielfältigen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten der Union vergegenwärtigt. Wie bereits aufgezeigt unterscheidet sich der Schutzanspruch des ungeborenen Lebens von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat zum Teil erheblich. Sofern die Menschenwürde als Argument in der Diskussion um den Rechtsstatus von Embryonen überhaupt eine Rolle spielt,297 wird im Vergleich zur postnidativen Phase häufig nicht nur über das „Wie“ des Schutzes, sondern auch grundlegend über das „Ob“ des Menschenwürdeschutzes von Embryonen gestritten.298 In vielen Mitgliedstaaten sind der Embryo in seiner Frühphase und der Embryo in vitro trotz fehlender verfassungsrechtlicher Statusbestimmung zwar nicht gänzlich schutzlos gestellt; statt über subjektive Rechtspositionen verwirklicht sich der Schutz in diesen Fällen häufig über die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürde

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So auch Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 352 ff., ins. 360. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 37. 297 Haßmann, Embryonenschutz, S. 125 ff., 166 ff. verdeutlicht am Beispiel Frankreich, dass das Menschenwürdeargument bei der Frage nach der Rechtsstellung des ungeborenen embryonalen Lebens überhaupt keine Rolle spielen muss. 298 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S.207, zeichnet mit Bezugnahme auf die Diskussionslage in Österreich das Bild, dass dort der Menschenwürde in der Diskussion um den Schutz des ungeborenen Lebens häufig nur eine ethische, nicht aber eine verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Dass sich selbst unter den Verfassungsordnungen, in denen die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht ausgestaltet ist, die Einbeziehung des ungeborenen Lebens weder aus den Verfassungstexten ergeben, noch durch das jeweilige Verfassungsgericht vorgenommen werden muss, beschreibt Wallau (S. 208) am Beispiel Ungarns. 296

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

und/oder des Lebensrechts.299 Dagegen zeigt ein Blick auf die Forschungspraxis in den Mitgliedstaaten, wie gering der Schutz jedoch im Einzelnen ausgeprägt sein kann: In den meisten Unionsstaaten ist die Embryonenforschung, die in der Regel mit der Vernichtung des Embryos einhergeht, innerhalb der ersten 14 Tagen zulässig.300 Der darin zum Ausdruck kommende „gestufte Menschenwürdeschutz“, der erst ab dem 14. Tag ab der Befruchtung einsetzt, liegt als Grundannahme auch der Ausgestaltung des EU-Sekundärrechts zugrunde und folgt dem europaweit sichtbaren Trend der im Ganzen zunehmenden Embryonenforschung.301 Das Meinungsspektrum wird ferner erweitert durch Einbeziehung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle. Hiernach ist zwar ein grundsätzlicher Schutz von Embryonen in Gestalt von sog. positive obligations gewährleistet,302 sodass diese früheste Lebensform auch unter EMRK nicht gänzlich schutzlos gestellt ist.303 Gleichwohl handelt es sich bei diesem Schutz nur um einen objektiven, nicht jedoch subjektiven Schutz, da Embryonen nach dem vorherrschenden restriktiven Verständnis der EMRK in der Auslegung des EGMR keine Personen darstellen und damit auch nicht Träger von Rechten mit eigenem Rechtsanspruch sind.304 Der Gedanke eines objektiv-rechtlichen Schutzes liegt schließlich auch dem Biomedizinübereinkommen der Bioethik-Kommission des Europarats zugrunde.305 Aus dieser Rechtserkenntnisquelle lässt sich daher insgesamt nicht mehr als ein nicht näher bestimmter objektiver Schutz vor willkürlicher Behandlung deduzieren.306 Zwar entfaltet dieses reduzierte Schutzniveau des Lebensrechts der EMRK noch keine unmittelbare Bindungswirkung für die Menschenwürdegarantie der Charta, zumal ein höheres Schutzniveau unter dem Unionsrecht selbst in diesem Fall nicht ausgeschlossen wäre, Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh; die EMRK dürfte aber bereits einen lediglich schwach ausgeprägten künftigen „gemeineuropäischen“ Schutzstandard

299 So etwa die Situation in Frankreich, Griechenland, Dänemark, Spanien und Ungarn, näher Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 207 ff. Fn. 942. 300 Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschung, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hrsg.), FS Häberle, S. 355 (377); s. auch die Länderberichte in: Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen, S. 124 ff. 301 Ausführlich Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 286 ff., ins. 298 ff. 302 Dupré, in: Peers/Harvey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 1 01.30; Enders, JöR 59 (2011), 245 (249 Fn. 18). 303 Unklar bleibt freilich, ab welchem Zeitpunkt der Lebensschutz der EMRK einsetzen soll – eine Frage, die der EGMR in seiner Rechtsprechung bisher ausdrücklich offengelassen hat, zur Rs. Vo/Frankreich s. o. Kapitel 4 D. II. 2. 304 Enders, JöR 59 (2011), 245 (249 Fn. 18): „EGMR: Embryo verdient zwar ,im Namen‘ der MW Respekt und Schutz, ist jedoch ohne eigenen Rechtsanspruch“. 305 Art. 1 BMÜ („Schutz“); Art. 18 I BMÜ; Erläuternder Bericht zu Art. 1 BMÜ. 306 Alleweldt in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 14 ff.

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andeuten.307 Die Frage nach der Menschenwürdeträgerschaft von Embryonen unter der Grundrechtecharta bleibt damit aber auch unter Bezugnahme auf die EMRK unbeantwortet.

III. Postmortaler Menschenwürdeschutz Es fragt sich, gewissermaßen auf der „anderen Seite“ des Lebensspektrums, inwiefern beide Garantien einen postmortalen Schutz der menschlichen Würde gewährleisten. Ein solcher könnte bei Organ-, Gewebe-, und Zellentnahmen an Toten, grenzüberschreitenden Bestattungsdienstleistungen sowie dem Klonen von Verstorbenen künftig auch auf europäischer Ebene relevant werden.308 Für die deutsche Rechtsordnung hat das BVerfG bereits im Jahr 1971 in der Mephisto-Entscheidung eine Fortwirkung der Menschenwürde über den Tod hinaus bejaht.309 Die Fortwirkung umfasst zunächst den Schutz der Ehre des Verstorbenen und seines Lebensbilds in der Wahrnehmung der Nachwelt.310 Dieser postmortale Persönlichkeitsschutz, der gerade nicht als postmortales Persönlichkeitsrecht konzipiert ist und den das BVerfG im Gegensatz zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ausschließlich aus Art. 1 Abs. 1 GG herleitet,311 genießt keinen absoluten und dauerhaften Schutz der Menschenwürde, sondern tritt mit zunehmender Zeit gegenüber entgegenstehenden Rechtsgütern, etwa der Meinungsfreiheit, immer mehr zurück.312 In einer weiteren Facette schützt die Menschenwürde nach verbreiteter Ansicht jedoch auch – als objektiver Wert – den Eigenwert des Menschen, der sich in einem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach dem Tod verkörpert.313 Aus diesem 307

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 6a. Beispiele bei Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 304 f.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 109; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union. Charta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 347 ff. 309 BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto: „Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch auch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte. Dementsprechend endet die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.“ 310 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57. 311 BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto: „Die Fortwirkung eines Persönlichkeitsrechts nach dem Tode ist jedoch zu verneinen, weil Träger dieses Grundrechts nur die lebende Person ist; mit ihrem Tode erlischt der Schutz aus diesem Grundrecht. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG setzt die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person als unabdingbar voraus“. Die Kritik an dieser Rechtsprechung bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 76. 312 BVerfGE 30, 173 (196) – Mephisto. 313 Exemplarisch VGH München, NJW 2003, 1618 (1620). 308

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folgt konkret etwa das Verbot, den Leichnam als Hülle der verstorbenen Person wie beliebige Materie und damit wie ein Objekt zu behandeln.314 Auf der Ebene des Unionsrechts fehlt bislang eine vergleichbare Rechtsprechung des EuGH, sodass die Frage nach einem etwaigen postmortalen Würdeschutz ausschließlich anhand der Charta sowie der Rechts- und Rechtserkenntnisquellen zu beantworten ist. Allerdings war die Frage kein Beratungsgegenstand im Grundrechtekonvent, sodass sowohl die Charta selbst wie auch die zugehörigen Erläuterungen hierzu keinerlei Vorgaben enthalten.315 Zwar ließe sich für Art. 1 Abs. 1 GrCh analog zur grundgesetzlichen Garantie argumentieren, dass der Begriff „Mensch“ angesichts fehlender zeitlicher Eingrenzung auch den toten Menschen umfasst, da dieser sein Menschsein durch Versterben nicht verliert. Die relativ offene Formulierung allein liefert jedoch noch kein zwingendes Argument dafür, dass ein postmortaler Würdeschutz bestehen soll. Soweit die Menschenwürde nach der Chartakonzeption nicht nur ein Grundrecht, sondern auch einen objektiven Wert darstellt, der gerade in der unbedingten Achtung des Eigenwerts des Menschen besteht,316 könnte diese jedoch auf überindividueller Ebene Wirkungen entfalten, die über den Tod der Person hinausgehen und einen allgemeinen Achtungsanspruch gegenüber dem Verstorbenen begründen. Seine Entsprechung in praxi fände ein solches Normverständnis in europaweit sich ähnelnden einfachgesetzlichen Bestimmungen zum Umgang mit Verstorbenen, wonach pietätloser Umgang mit Verstorbenen, insbesondere mit dem Leichnam, als evidenter Verstoß gegen ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Anstands- und Sittlichkeitsempfinden gewertet werden kann.317 Im Abgleich ergäbe sich in Hinsicht auf einen objektiven postmortalen Schutz damit ein Gleichklang mit der deutschen Rechtsordnung. Ob über einen solchen allgemeinen Achtungsanspruch hinaus ein Achtungsanspruch zugunsten des Verstorbenen besteht, der sich aus dessen eigenen Rechten ableitet, bleibt jedoch fraglich. Während ein solches Verständnis der Mephisto-

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BVerfG NJW 1994, 783 f. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 1 GrCh Rn. 18. 316 Abs. 2 Präambel GrCh. 317 Zur Problematik des Umgangs mit Leichen im Allgemeinen und der Sektion im Besonderen instruktiv sind die Länderberichte aus ausgewählten europäischen Staaten in Tag/ Groß (Hrsg.), Der Umgang mit der Leiche. Sektion und toter Körper, in: internationaler und interdisziplinärer Perspektive, ins. S. 155, 166, 174 f. (Frankreich), 179 ff. (Italien), 187 f. (Ungarn). Zum Strafzweck der strafrechtlichen Ahndung der Störung der Totenruhe siehe Heuchemer, BeckOK StGB, v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), § 168 StGB Rn. 1. Auch auf Ebene des Europarats findet sich im Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Gewebe (SEV Nr. 186) die Achtung der Menschenwürde als Ziel dieses Übereinkommens („everyone, whether now living or dead“) (Art. 1.17 des Zusatzprotokolls). 315

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Entscheidung des BVerfG zugrunde zu liegen scheint,318 verweigert der auf europäischer Ebene bisher allein mit der Fragestellung befasste EGMR die Anerkennung subjektiver Rechte nach dem Tod. So wird der unangemessene Umgang mit dem Körper des Toten allenfalls als Verletzung der Rechte der Angehörigen betrachtet.319 Ein etwaig betroffenes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK zugunsten verstorbener Personen ist entsprechend nicht einklagbar.320 Konzeptionell bietet die Ebene des Europarats daher einen Schutz für den Verstorbenen, der sich jedoch allein aus einem allgemeinen Pietätsempfinden bzw. den Rechten der Angehörigen, nicht jedoch aus dessen eigenen Rechten ableitet. Dies steht einer Anerkennung eigener Rechte des Verstorbenen nach der Charta grundsätzlich nicht entgegen (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh), liefert aber einen wichtigen Interpretationsimpuls aus gesamteuropäischer Perspektive, zu der die deutsche Rechtsordnung in diesem Punkt konträr steht. Was den sachlichen Gewährleistungsumfang anbelangt ist fraglich, ob auf unionsrechtlicher Ebene neben einem allgemeinen Achtungsanspruch hinsichtlich des Leichnams auch ein Persönlichkeitsschutz des Verstorbenen durch Art. 1 GrCh gewährleistet ist. Dagegen spricht zunächst die sehr hohe Regelungsdichte der Charta, die eine isolierte Anwendung des Rechts aus Art. 1 GrCh nur in den Fällen zulässt, in denen hoheitliche Maßnahmen nicht in den Anwendungsbereich eines spezielleren Grundrechts fallen.321 Als ein solcher Ausnahmefall dürfte der Bereich der Persönlichkeitsentfaltung jedoch gerade nicht zu bewerten sein, da dieser grundsätzlich in Titel II der Charta und speziell in Art. 7 GrCh geregelt ist. Titel I der Charta („Würde des Menschen“) weist daneben nur einen grundsätzlichen Bezug zur Persönlichkeitsentfaltung auf. Ein entsprechender postmortaler Persönlichkeitsschutz dürfte daher allenfalls in dem in dieser Hinsicht speziellen Art. 7 GrCh verankert sein.322 Jedoch ist bei dessen Auslegung im Lichte der Rechtserkenntnisquellen zu beachten, dass Art. 7 GrCh gemäß den Chartaerläuterungen in seinem Schutzgehalt dem von Art. 8 EMRK entspricht. Ein postmortaler Persönlichkeitsschutz wird durch 318 BVerfGE 30, 173 (194) – Mephisto, s. Fn. 238. Die konträre Deutung dagegen bei Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (558), wonach der postmortale Schutz aus der Menschenwürde als objektivem Prinzip folgen soll. 319 EGMR, Urt. v. 13. 07. 2006, Nr. 58757/00 – Jäggi/Schweiz, Rn. 39: „the right of third parties to the inviolability of the deceased’s body“. Auch im Fall Elberte v. Latvia (EGMR, Urt. v. 13. 01. 2015, Nr. 61243/08, Rn. 142) nahm der EGMR die Verletzung der Rechte der Ehefrau eines Unfallopfers aus Art. 3 EMRK an, mit dessen Leichnam nicht ordnungsgemäß umgegangen wurde. 320 EGMR Urt. v. 15. 05. 2006, Nr. 1338/03 – Mortensen/Dänemark. 321 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 33. 322 Dafür, allerdings ohne Nachweise Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 20; zustimmend Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 258.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

die EMRK, wie soeben erörtert, allerdings bislang nicht gewährt.323 Auch in den Mitgliedstaaten ist ein postmortaler Persönlichkeitsschutz soweit ersichtlich nur vereinzelt anerkannt.324 Es bestehen daher gewichtige Zweifel daran, dass sich für den EuGH ein aus Art. 1 Abs. 1 GrCh fließender Persönlichkeitsschutz des Verstorbenen deduzieren lässt.325 Sollte ein solcher gleichwohl anerkannt werden, dürfte er eher in den speziellen Artikeln 7 und 8 der Charta angesiedelt sein, mit der Folge, dass dieser nicht unter dem Absolutheitspostulat von Art. 1 Abs. 1 GrCh stünde und er damit der Abwägung zugänglich wäre. Eine Diskrepanz zur deutschen Rechtsordnung bedeutete dies jedoch nicht, genießt der Verstorbene nach der Rechtsprechung des BVerfG de facto ebenfalls keinen absoluten, sondern vielmehr einen nach und nach verblassenden und generell abwägungsfähigen Schutz nach Art. 1 Abs. 1 GG.326

IV. Würdeschutz der menschlichen Gattung („Menschheitswürde“)? Wo Begründungen für eine subjektive Würdeverletzung versagen, sich zumindest aber als schwierig erweisen, wird häufig auf eine überindividuelle Dimension der Menschenwürde als „Gattungs“- oder „Menschheitswürde“ rekurriert. Mit dieser Erweiterung des Normgehalts soll Entwicklungen begegnet werden, die nicht unter die „klassischen“, die Menschenwürde betreffenden, Handlungsformen fallen.327 Solche können sich im Bereich der Biomedizin328, aber auch in anderen menschenwürderelevanten Themenfeldern329 ergeben. Es ist daher zu fragen, ob der Schutzgehalt beider Garantien über die einzelne Person hinausgeht und auch die menschliche Gattung als solche dem Schutz der Menschenwürde unterfällt.

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Röben in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 5 Rn. 22. Anerkannt ist ein solcher in Österreich, s. Oberster Gerichtshof Wien, Entscheidung vom 25. 09. 2015 – 6 Ob 182/15 f – juris), 2. Orientierungssatz daraus: „2. Das Recht auf Ehre kann auch nach dem Tod als sogenanntes postmortales Persönlichkeitsrecht geschützt sein. Zur Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs sind die nahen Angehörigen legitimiert.“ 325 Skeptisch ebenfalls Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 1 Rn. 9 m.w.N. 326 Eine Inkonsistenz der Rechtsprechung in diesem Punkt konstatiert Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 76. 327 Beispiele bilden etwa das reproduktive Klonen oder die Keimbahnintervention, dazu unten Kapitel 4 F. VI. 328 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 355 f. Zum (therapeutischen) Klonen s. etwa Witteck/Erich, Straf- und verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen, MedR 2003, 258 (261 ff.). 329 Als potenzielle Fallgruppen kommen etwa der sog. Zwergenweitwurf, Paintball- oder Laserspiele (Vgl. dazu BVerwG NVwZ 2002, 598, 6 C 17.06 Rn. 25 – Laserdrome), Telefonsex oder Prostitution in Betracht, s. hierzu Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 115 ff. 324

D. Personaler Schutzbereich

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Beide Würdegarantien schützen ausdrücklich ihres Wortlauts die Würde eines (jeden einzelnen) Menschen und sind daher in ihrer Zielrichtung grundsätzlich individualbezogen. Dieser Individualbezug auf der einen Seite führt mit einem etwaigen gattungsbezogenen Charakter der Norm auf der anderen Seite zu einer Spannungslage, da die Anerkennung einer „Gattungswürde“ im Einzelfall dazu führen kann, dass der individualschützende Charakter der Norm, der wiederum in nicht unerheblichem Maße auf die Gewährleistung weitgehender Autonomie des Einzelnen zielt330, mit überindividuellen Moral- und Sittlichkeits-331 oder auch konkreten Verhaltensvorstellungen332 in Konflikt zu geraten droht.333 Für die grundgesetzliche Menschenwürdegarantie dürfte sich – trotz gewichtiger Gegenstimmen334 – eine Mehrheit dafür abzeichnen, in Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur eine individualschützende Norm zu erblicken, sondern dieser auch eine überindividuelle, gattungsbezogene Dimension zuzuschreiben.335 Für diese Auffassung streiten zwar weder der Wortlaut des Grundgesetzes, noch die Entstehungsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG, diese wird bisweilen sogar gegen eine solche Erweiterung des Normverständnisses angeführt.336 Überwiegend werden teleologische Gründe angeführt, um die Erweiterung des Normgehalts der Würdegarantie zu rechtfertigen. Danach verkörpere Würde gerade den sittlichen Rang des Menschen, der aus seiner Vernunftbegabung resultiere und die ihn wiederum zu sittlichem Verhalten gegenüber der menschlichen Gattung („des Menschengeschlechts“) verpflichte.337 Diese 330

Im Einzelnen s. o. Kapitel 4 B. VI. Von der Gefahr, der objektivierende Würdeschutz könne „sittenpaternalistisch die Selbstbestimmung der individuellen Würde-Träger überspielen“, spricht etwa Frankenberg, Die Würde des Klons und die Krise des Rechts, KritJ 33 (2000), 325 (331). 332 Den Charakter einer „objektive[n] Verpflichtung, als ein ,sich würdig erweisen‘ in Gestalt einer Pflicht [Herv. C.L.], mit sich selbst und den anderen Angehörigen der eigenen Gattung würdevoll umzugehen“ attestieren der Menschenwürde etwa Witteck/Erich, Straf- und verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen, MedR 2003, 258 (262). 333 Ein (potenzieller) Konflikt wird nach Isensee jedoch dadurch vermieden, dass die aus überindividueller Würde erwachsende Rechtspflicht des Einzelnen nur durch Gesetz begründet werden kann, dieses Gesetz jedoch wiederum mit den Freiheits- und Gleichheitsrechten des Einzelnen in Einklang zu bringen ist, s. dazu Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 97. 334 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 115 ff., 118; s. aber dessen – insoweit inkonsequente – Begründung zum Verbot des reproduktiven Klonens, Art. 1 Abs. 1 Rn. 110: „Man muss die Menschenwürde hier allerdings von der individuellen Trägerschaft abziehen und auf einer strukturell höheren Ebene, der der Rechtsgemeinschaft, etablieren.“ 335 Statt vieler Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 97 m.w.N.; Lege, Das Recht der Bio- und Gentechnik, in: Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, S. 669 (752 f.); Witteck/Erich, Straf- und verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen, MedR 2003, 258 (262). Der jüngere prominente Anstoß aus der Philosophie („Gattungsethisches Selbstverständnis“) bei Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 121. Aus der Rechtsprechung BVerwG NVwZ 2002, 598 – Laserdrome. 336 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 330 f. 337 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 97. 331

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Meinung findet Anschluss bei einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1992, wonach „Menschenwürde […] nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen“ sei.338 Unweigerlich schwingt hier so die Figur des „Menschenbilds des Grundgesetzes“ mit, die das BVerfG als Leitbild der grundgesetzlichen Ordnung versteht.339 Danach wird der Mensch in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung und freien Entfaltung der Persönlichkeit begriffen, gleichzeitig jedoch seine soziale Eingebundenheit und seine Verantwortung für die Gemeinschaft betont.340 Zwar sagt dies im Detail wenig darüber aus, welche Anforderungen die menschliche Gattung als solche nun vor dem Hintergrund dieses Menschenbildes an den Einzelnen bei seiner Freiheitsausübung legitimer Weise stellen kann. Zumindest theoretisch ist damit jedoch die Möglichkeit der Beschränkung individueller Freiheit aufgrund überindividueller Sittlichkeitsvorstellungen gegeben.341 Wenn die Rechtsprechung des BVerfG, wie die sonstigen Argumente für eine überindividuelle Dimension der Menschenwürde, vor allem in der Figur des Menschenbilds des Grundgesetzes wurzeln, kann eine unhinterfragte Übertragung der Argumente, gar noch der Schlussfolgerung aus der deutschen Regelung auf die unionale Menschenwürdegarantie nicht gelingen. Stattdessen wird im Einzelnen zu prüfen sein, inwieweit die unionsrechtliche Garantie selbst Anhaltspunkte für den Schutz einer überindividuellen Gattungswürde liefert. Der zum Grundgesetz nahezu identische Wortlaut kann hier weder für eine bejahende noch für eine ablehnende Auffassung angeführt werden. Da beide Garantien gleichsam die Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts mit ihren menschenverachtenden Methoden zum Ausgangspunkt haben, könnten ihre historischen Wurzeln gegen eine Anerkennung des überindividuellen Charakters sprechen, da mit ihnen gerade der Schutz des Individuums angestrebt wird.342 Die individualbezogene und die gattungsbezogene Dimension der Menschenwürde schließen einander jedoch nicht zwangsläufig aus. Zudem scheint es, dass diese Erwägungen für die unionsrechtliche Garantie von den Intentionen des Grundrechtekonvents jedenfalls teilweise überlagert wurden: Gerade im Bereich der Biomedizin war es schließlich 338 BVerfGE 87, 209 (228) – Tanz der Teufel. Nach Dreier kann dieser Passus nicht zur Begründung einer „Gattungswürde“ vorgebracht werden, da es dem BVerfG in der betreffenden Entscheidung gerade darum gegangen sei, den Individualschutz zu verstärken, vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 115. 339 Die Kritik an dieser Figur bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 167 f., der von der Figur statt von einem Leitbild eher als „Trugbild“ spricht; dagegen Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 37 ff. Zu den „Leitbildern“ des Grundgesetzes s. Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2007), S. 67 ff. 340 BVerfGE 45, 187 (227) – Lebenslange Freiheitsstrafe; näher Hufen, Staatsrecht II, S. 138 f. 341 Die Figur ist nicht zuletzt aus diesem Grund umstritten, s. etwa die Kritik bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 115 ff. 342 S. o. Kapitel 4 B. III.

D. Personaler Schutzbereich

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dessen ausdrückliches Anliegen, einen Schutzwall gegen noch unbekannte künftige Gefahren zu errichten.343 Dass diese Gefahren nicht notwendigerweise individualbezogen sein müssen, sondern bereits durch Anwendung bestimmter Techniken natürliche Artgrenzen überschritten und grundlegende Vorstellungen eines „Menschenbilds“ erschüttert werden können, zeigen etwa die Thematiken der Erzeugung von menschlich-tierischen Mischwesen oder des Klonens.344 Schließlich wird eine individuelle Menschenwürdeverletzung auch in individualbezogenen Konstellationen künftig nicht immer kritiklos festzustellen345, eine verfassungsrechtliche Grenzziehung je nach Fall jedoch gleichwohl angezeigt sein, weshalb vor diesem Hintergrund die Genese der Normen, insbesondere von Art. 3 Abs. 2 GrCh, auch für einen überindividuellen Charakter der Menschenwürde angeführt wird.346 Für die Anerkennung eines überindividuellen Charakters der Menschenwürde streitet ferner Abs. 6 der Präambel der Charta, der die Ausübung der Chartarechte an die Verantwortung und Pflichten auch gegenüber der „menschlichen Gemeinschaft“ als solcher knüpft.347 Soweit die Präambel Interpretationsimpulse für die Auslegung liefert, steht diese Formulierung einer Anerkennung der „Gattungswürde“ jedenfalls nicht entgegen.348 Der Anerkennung einer Gattungswürde auf europäischer Ebene können im Wesentlichen die Argumente entgegengehalten werden, die auch aus der deutschen Diskussion bekannt sind: Ein notwendiges Einvernehmen über die „sittlichen Forderungen“ der Gemeinschaft an den Einzelnen dürfte auf europäischer Ebene angesichts der vielfältigen Rechtskulturen und divergierenden Grundauffassungen innerhalb der Mitgliedstaaten kaum herzustellen sein. Zudem eröffnet eine solche Lesart der Menschenwürde die Möglichkeit zur Durchsetzung von Partikularinteressen und Moralvorstellungen, die bei der notwendigen Erweiterung und Pluralisierung des Adressatenkreises auf zusätzliche Legitimitätsprobleme stoßen dürfte. Bereits aus diesem Grund begegnet die Bejahung einer überindividuellen Dimension von Art. 1 Abs. 1 GrCh Bedenken.

343 Ausführlich zur Konventsgeschichte von Art. 3 Abs. 2 GrCh Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 15 ff. 344 Für den Themenbereich des Klonens stellt etwa Frankenberg, Die Würde des Klons und die Krise des Rechts, KJ 33 (2000), 325 (329 ff.), die Schwierigkeit der Bestimmung eines in seinem Schutzanspruch verletzten Würdeträgers heraus. 345 Nach Dreier stellen bereits die PID und das Klonen keine Verletzung der individuellen Menschenwürde dar, s. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 96 ff., 105 ff. 346 Zustimmend Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 357; dagegen tendenziell Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 29a. 347 Abs. 6 Präambel GrCh. 348 S. hierzu, einen entsprechend weitgehenden Interpretationsimpuls jedoch ablehnend Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 11, Rn. 574.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Innerhalb der Literatur findet sich dort, wo das Thema überhaupt Erwähnung findet349, ein offenes Meinungsspektrum, sodass eine herrschende Meinung zu diesem Punkt nicht auszumachen ist.350 Es muss daher die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs umso mehr auf Tendenzen für bzw. gegen ein derartiges Normverständnis untersucht werden. Gerade hier bietet sich der Blick auf die Entscheidung zur Omega Spielhallen GmbH an, da bereits das vorlegende BVerwG bei der Begründung eines Würdeverstoßes auf die Gattungswürde als Schutzgut rekurriert hat.351 Zwar überprüfte der EuGH in der Sache nur die Vereinbarkeit des nationalen Verbots des Laserdromespiels mit dem Europarecht, nicht aber die Übereinstimmung der beiden Rechtsebenen in allen Punkten. Bei dieser Prüfung hat es jedoch weder die Argumentation noch die Lösung des BVerwG beanstandet. Nicht nur aus diesem Grund liegt es daher nahe, den unionsrechtlichen und grundgesetzlichen Würdebegriff und ihr jeweiliger Schutzumfang im konkreten Fall als weitgehend inhaltsgleich aufzufassen.352 Da sich die Argumentation des BVerwG entscheidend auf überindividuelle Aspekte der Menschenwürde stützte, könnte ein solches Normverständnis – wenn auch nur implizit – dem Urteil des Gerichtshofs gleichfalls zu Grunde liegen. Schließlich könnten die oben skizzierten Entscheidungen des EuGH aus dem Jahr 2014353 dahingehen gedeutet werden, dass auch hier die Autonomie des Einzelnen (Einwilligung in gemeinsame Unterbringung mit Straftätern; Einwilligung zu pseudomedizinischen Tests) zugunsten eines überindividuellen Schutzes der Menschenwürde eingeschränkt wurde. Allerdings ist generell und in den vorliegenden Fällen im Besonderen zu beachten, dass nicht jede Verbotsmaßnahme als Schutz eines bestimmten Menschenbildes (und damit der „Menschheitswürde“) gelten kann, nur weil der „Einwilligung“ der betroffenen Person im konkreten Fall keine Bedeutung zugemessen wird. Stattdessen ging es dem EuGH in den beiden Fällen angesichts der in diesen Konstellationen unscharfen Grenzen zwischen autonomer und erzwungener Entscheidung wohl vor allem darum, praktischen Schutz vor Drucksituationen und „unfreiwilliger“ Entwürdigung zu gewährleisten.354 Legt man 349 Soweit ersichtlich wird das Thema in den nichtdeutschsprachigen Kommentaren zur Charta nicht behandelt. 350 Während Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 23, im Interesse eines möglichst umfassenden Grundrechtsschutzes auf den inklusiven Charakter von Art. 1 GrCh verweisen und Tendenzen für die Anerkennung einer entsprechenden überindividuellen Dimension erkennen lassen, steht Borowsky dem im Ergebnis eher skeptisch entgegen, Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 29a. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 334 ff., ins. 362, schließlich lässt die Frage nach eingehender Auseinandersetzung offen. 351 BVerwG, NVwZ 2002, 598 (602 ff.). 352 Bröhmer, EuZW 2004, 753 (757), näher zu diesem Punkt bereits o. Kapitel 3 D. II. 2. 353 S. o. Kapitel 3 D. III. 354 Auf das hier in Rede stehende Problem der (Un-)freiwiliigkeit als eigentlich springender Punkt verweist Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 151.

D. Personaler Schutzbereich

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dies zu Grunde, sind die Urteile wohl primär dahingehend zu lesen, dass es dem Gerichtshof vornehmlich um die Gewähr individuellen Schutzes gegangen ist – und gerade nicht um den Schutz einer weitgehend abstrakten, überindividuellen „Gattungswürde“. Es ist daher unklar, welches vergleichende Resümee gezogen werden kann. Für beide Garantien folgt die Anerkennung einer „Menschheitswürde“ nicht zwingend aus dem Wortlaut und der Systematik der Norm. Während die grundgesetzliche Regelung unter historischen Gesichtspunkten tendenziell gegen die Anerkennung einer Gattungswürde spricht, kann die Genese der Norm aus Art. 1 GrCh vorsichtig für eine Anerkennung in Stellung gebracht werden. Das gleiche gilt mit Blick auf die Präambel und den darin verwendeten Passus der „menschlichen Gemeinschaft“. Aus teleologischen Gesichtspunkten ergibt sich für beide Garantien ein zwiegespaltenes Bild: Während im Sinne eines möglichst umfassenden und integrativen Grundrechtsschutzes einerseits die Erweiterung des Schutzgehalts zu begrüßen ist, ist andererseits vor einer Moralisierung und der Gefahr der Durchsetzung von Partikularinteressen im Gewand des Würdeschutzes zu warnen. In allem zeichnet sich – trotz zahlreicher Gegenstimmen – in der Literatur zu Art. 1 Abs. 1 GG eine Mehrheit dafür ab, dass die Norm auch überindividuellen Charakter besitzt. Für die europäische Ebene scheint dieses Bild unübersichtlicher; klare Meinungsbilder lassen sich hier schlicht nicht ausmachen. Tendenziell wird eine überindividuelle Dimension vor allem im Bereich der Biomedizin und damit von Art. 3 GrCh zu bejahen sein. Die Rechtsprechung der beiden Höchstgerichte liefert zwar Hinweise auf ein entsprechend erweitertes Normverständnis, insgesamt bleibt aber eine Positionierung vor allem des EuGH zu dieser Frage abzuwarten.

V. Ergebnis zum personalen Schutzbereich Beide Garantien schützen ausdrücklich nur natürliche Personen als Träger der Menschenwürde. Was die genaue Reichweite des Würdeschutzes anbelangt, öffnet sich die Schere zwischen den Grundrechtsebenen jedoch merklich, wobei dies Umfang und Reichweite des Würdeschutzes am Anfang wie auch am Ende des menschlichen Lebens betrifft. Insbesondere der Bereich des pränatalen und des embryonalen Würdeschutzes zeigt, dass zwischen den Grundrechtsebenen ein Gefälle im Schutzniveau besteht. Das Grundgesetz hält einen verfassungsrechtlich nahezu umfassenden, im europäischen Vergleich besonders hohen Würdeschutz auch für das ungeborene Leben in seiner frühesten Form bereit, der auch überwiegend auf einfachgesetzlicher Ebene durchgesetzt wird. Dagegen entfaltet die Charta zum jetzigen Zeitpunkt keinen vergleichbaren Schutz. Auch für die Zukunft ist fraglich, dass ein solcher vom EuGH

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

(und/oder dem EGMR) anerkannt werden wird.355 Soll die Charta in ihrem normativen Gehalt auch nur ansatzweise die unterschiedlichen Rechtsordnungen und Verfassungsvorgaben widerspiegeln, muss davon ausgegangen werden, dass dem grundgesetzlichen Schutzniveau auf europäischer Ebene nicht entsprochen werden kann. Auch hinsichtlich des postmortalen Würdeschutzes und des Schutzes der menschlichen Gattung besteht zum jetzigen Zeitpunkt eine Diskrepanz zum Grundgesetz. Es bleibt nach den vorangegangenen Ausführungen auch diesbezüglich zu bezweifeln, dass der Schutzgehalt der Charta auf ein mit dem Grundgesetz vergleichbares Niveau anwachsen wird.

E. Möglichkeit der Einschränkung In den Verfahren zum Lissabon Vertrag wurde von Teilen der Beschwerdeführer vorgebracht, die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 der Charta genieße entgegen ihrem grundgesetzlichen Vorbild keine absolute Geltung, sondern unterfiele dem allgemeinen Schrankenregime aus Art. 52 Abs. 1 GrCh.356 Diese Auffassung hat das BVerfG in der Entscheidung mangels entsprechender Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht entkräftet.357 Sollte sie zutreffend sein, könnte sich im Vergleich zum Grundgesetz ein empfindlicher Wertungswiderspruch ergeben. Dies soll im Folgenden untersucht werden.

I. Keine Rechtfertigung von Eingriffen, keine Einschränkbarkeit Die Formulierung „ist unantastbar“ insinuiert für beide Garantien zunächst, dass eine Einschränkung bzw. Eingriffsrechtfertigung nicht möglich ist. Während dies das BVerfG für Art. 1 GG mehrfach betont hat,358 wurden in der deutschen Literatur, vor allem im Zusammenhang mit dem aus der Menschenwürde fließenden Folterverbot, Ausnahmen von der fehlenden Einschränkbarkeit und eine Öffnung der Menschenwürde in Richtung von Abwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung disku-

355 Zudem bleibt fraglich, ob ein wie auch immer gearteter Konsens durch Richterspruch überhaupt hergestellt werden kann, dagegen etwa Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße?, in: FS Häberle, S. 355 (376). 356 BVerfGE 123, 267 (314) – Lissabon. 357 BVerfGE 123, 267 (334) – Lissabon. 358 Exemplarisch BVerfGE 75, 369 (380) – Strauß-Karikatur: „Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings unmittelbarer Ausfluß der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranke absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs.“

E. Möglichkeit der Einschränkung

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tiert.359 Diese Diskussionen begleiteten die Exegese von Art. 1 Abs. 1 GG bereits früher,360 gipfelten aber gerade um die Jahrtausendwende in einem Höhepunkt, der sich exemplarisch anhand der prominenten Kommentierungen zunächst Horst Dreiers aus dem Jahr 1996 und später Matthias Herdegens aus dem Jahr 2003361 zeigen lässt.362 Die Kommentierungen blieben ihrerseits nicht ohne Kritik,363 führten aber letztlich dazu, dass die Öffnung in Richtung einer Abwägungs- und Einschränkungsmöglichkeit zumindest in der Literatur aus einem Nischendasein gekommen und seitdem etabliert ist.364 In der Rechtsprechung blieb diese Meinung dagegen bis heute ohne Anklang.365 Etwa zur gleichen Zeit, da die deutsche Diskussion um die Einschränkbarkeit der Menschenwürde ihren Höhepunkt erreichte, übernahm der Grundrechtekonvent den Absolutheitsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG und betonte diesen in der Charta und den Erläuterungen nachdrücklich.366 Ersten Entwürfen im Grundrechtskonvent, in denen auf einen ausdrücklichen Unantastbarkeitsanspruch noch verzichtet wurde, wurde damit nicht gefolgt.367 Zwar könnte nach ihrer Konzeption die allgemeine Schrankenvorschrift der Charta in Art. 52 Abs. 1 GrCh für eine ausnahmslose Einschränkbarkeit aller Chartagrundrechte sprechen, mit der Folge, dass der Vorbehalt auch bei Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GrCh heranzuziehen wäre. Die Vorschrift ist jedoch nach einhelliger Auffassung angesichts des speziellen Charakters von Art. 1 Abs. 1 GrCh und der darin gewählten Formulierung der Unantastbarkeit im Anwendungsbereich der Menschenwürde restriktiv zu interpretieren bzw. teleologisch 359 Prominent etwa Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165 (169); auch die teilweise Umgehung des Absolutheitsanspruchs durch Konstruktion eines abwägungsfesten Würdekerns und eines weiteren sachlichen Schutzbereichs der Menschenwürde läuft auf dieses Ergebnis heraus, so etwa bei Herdegen, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43 ff., 47 ff. Instruktive Übersicht über die „Relativierungsmodelle“ bei Isensee, Menschenwürde – die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 (195 ff.). 360 S. dazu Goos, Innere Freiheit, S. 161 ff. 361 Die Nachweise bei Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ v. 03. 09. 2003, Nr. 204, S. 33 ff. 362 Zu den zahlreichen Versuchen, Abwägungs- und Einschränkungstendenzen in der Rechtsprechung des BVerfG selbst ausfindig zu machen v. Bernstorff, Der Streit um die Menschenwürde im Grund- und Menschenrechtsschutz, JZ 2013, 905 (912 f.). 363 Die wohl prominenteste Kritik bei Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ v. 03. 09. 2003, Nr. 204, S. 33 ff. 364 Aus der zahlreichen Literatur etwa K.-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 ff.; Darstellung bei Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, AöR 130 (2005), 71 ff. 365 v. Bernstorff, Der Streit um die Menschenwürde im Grund- und Menschenrechtsschutz, JZ 2013, 905 (912 f.). 366 Vgl. Charta-Erläuterungen zu Art. 1: „Sie [die Würde des Menschen, C.L.] darf daher auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden“. 367 Näher dazu Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 2 f.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

zu reduzieren.368 Die Genese der Charta spricht somit gegen eine Einschränkbarkeit bzw. Abwägbarkeit der Menschenwürde. Vergleichbar eindeutig agierte der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung in der Vergangenheit dagegen nicht: Einzelne Textstellen aus den Urteilen zu den Rechtssachen Viking Line369 und Laval370 konnten bei isolierter Lektüre dahingehend gedeutet werden, dass die Menschenwürde lediglich ein abwägungsfähiges Recht darstellen soll. Bei entsprechender Kontextualisierung waren diese Passagen zwar nie als allgemeine Preisgabe des Absolutheitsanspruchs durch den EuGH zu sehen,371 gleichwohl blieben Unsicherheiten und Zweifel daran, dass der EuGH den Absolutheitsanspruch aus Art. 1 GrCh konsequent einhalten und einfordern würde.372 Diese Zweifel hat der Gerichtshof selbst jedoch mit seiner jüngeren Rechtsprechung ausgeräumt. So hat er in mehreren Entscheidungen die Unabwägbarkeit von Art. 4 GrCh betont,373 und dabei zur Begründung der Unabwägbarkeit von Art. 4 GrCh auf dessen Nähe zu Art. 1 Abs. 1 GrCh verwiesen, wonach „[d]as in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung […] absoluten Charakter“ besitze, „da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht“.374 Wenn der EuGH also bereits das unmittelbar würdebezogene Recht aus Art. 4 GrCh als absolut und damit keiner Einschränkung zugänglich betrachtet, muss dies angesichts seiner Argumentation erst recht für das „Muttergrundrecht“ aus Art. 1 GrCh gelten. In alldem erweist sich die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie daher – trotz verbleibender zwei-

368

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 40. EuGH, Urt. v. 11. 12. 2007, Rs. C-438/05, ECLI:EU:C:2007:772, Slg. 2007, I-10779, Rn. 46: 370 EuGH, Urt. v. 18. 12. 2007, Rs. C-341/05, ECLI:EU:C:2007:809, Slg. 2007, I-11767, Rn. 94: „Wie der Gerichtshof in den Urteilen Schmidberger und Omega entschieden hat, liegt die Ausübung der dort betroffenen Grundrechte, nämlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Menschenwürde, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs der Bestimmungen des Vertrags. Sie muss mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.“ 371 Verschiedene Deutungsmöglichkeiten bei Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (559 ff.) und Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 371 f., dort auch die Formulierung von der Preisgabe des Absolutheitsanspruchs. 372 Ausdrücklich Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 372. 373 EuGH, Urt. v. 05. 09. 2012, verb. Rs. C-71/11 und C-99/11, ECLI:EU:C:2012:518 – Y,Z, Rn. 8; EuGH, Urt. v. 05. 04. 2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru, Rn. 85 f.; der Sache nach bereits früher in EuGH, Urt. v. 12. 06. 2003, Rs. C-112/00, ECLI:EU:C:2003:333, Slg. 2003, I-05659 – Schmidberger, Rn. 80. 374 EuGH, Urt. v. 05. 06. 2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru, Rn. 85. 369

E. Möglichkeit der Einschränkung

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felnder Stimmen in der Literatur375 – auch nach der Rechtsprechung des EuGH als nicht einschränkbar und abwägungsresistent.376

II. Ausnahmsweise Abwägung im Fall der Würdekollision? Eine Ausnahme könnte sich für beide Garantien allenfalls im Hinblick auf Würdekollisionen ergeben, also für den Fall, dass sich die staatlichen Organe zweier gegenläufiger Rechtspflichten, die beide aus der Menschenwürde ableitbar sind, gegenüber sehen. Aus den Charta-Erläuterungen zu Art. 1 GrCh ergibt sich, dass die Ausübung eines jeden Rechts – also auch der Menschenwürde – ihre Grenzen in der Menschenwürde des Anderen findet.377 Das Problem findet grundsätzlich also auch auf europäischer Ebene Entsprechung,378 die Frage nach dem konkreten Umgang mit einer solchen Würdekollision ist mit den Erläuterungen aber gerade nicht beantwortet. Entstehungsgeschichte, Wortlaut und systematischer Zusammenhang beider Garantien liefern hier insgesamt keine Lösungen und sprechen für eine prinzipielle Gleichwertigkeit von Abwehrrecht und Schutzpflicht.379 In der Literatur wurden mehrere Lösungswege für ein solches Dilemma vorgeschlagen, wobei das Spektrum von einem generellen Primat der abwehrrechtlichen

375 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 13; Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 16; jüngst Ruffert, Anspruch auf Existenzminimum, JuS 2020, 280 (281). 376 Diese Auffassung dürfte mittlerweile als herrschend betrachtet werden, vgl. nur Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 40; van Vormizeele in: Schwarze/Becker/Hatje/ Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 1 Rn. 7; Mathieu in: Burgorgue-Larsen/Levade/Picod (Hrsg.), Traité établissant une Constitution pour l’Europe. Commentaire article par article. Tome 2 – Partie II: La Charte des droits fondamentaux de l’Union, Article II-61 Ziff. 8. S. ferner Lenaerts, In Vielfalt geeint / Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses?, EuGRZ 2015, 353 (355 f.). 377 Charta-Erläuterungen zu Art. 1: „Daraus ergibt sich insbesondere, dass keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen“. 378 Aus der begrenzten bzw. fehlenden Gesetzgebungskompetenz der Union in sensiblen Bereichen und der damit einhergehenden begrenzten Grundrechtsrechtsprechung ist nicht zu folgern, dass Würdekollisionen im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht zu erwarten sind und das Problem in Folge dessen auf unionsrechtlicher Ebene damit als weniger „virulent“ zu bezeichnen ist. Im Gegenteil sind eine Europäisierung ethischer Entscheidungen und darin auch potenzielle Würdekonflikte bereits jetzt in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte angelegt, vgl. nur EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan. S. dazu auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1, Rn. 6a; dieser verweist daher (Rn. 40) bereits auch auf Würdekollisionen im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs, obwohl dort gesetzgeberische Kompetenzen der EU fehlen. Schließlich tragen auch die durch Regelungen zur Forschungsförderung bereits unionsrechtlich affizierten Bereiche der Biomedizin (und des Klonens) denkbare Würdekollisionen in sich. 379 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 133.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Seite380 über flexiblere Lösungen im Einzelfall bis hin zu einer Hierarchisierung der beiden Rechtspflichten danach, ob von der Würdeverletzung ein abwägungsfester „Würdekern“ oder „nur“ ein der Abwägung zugänglicher „weiterer Schutzbereich“ der Menschenwürde betroffen sei,381 reicht.382 Die vorgetragenen Lösungen und jeweiligen Argumente, die aus der deutschen Diskussion bekannt sind, können angesichts des gleichen Wortlauts und der vergleichbaren Problemlage auch für die unionsrechtliche Würdegarantie fruchtbar gemacht werden. Dennoch harren beide Grundrechtsebene einer Lösung, auf Verfassungsebene sind hierfür wohl keine festen Antworten vorgezeichnet.

III. Menschenwürde als „Schranken-Schranke“ Von der zuvor verhandelten Frage der Nichteinschränkbarkeit ist die Situation zu trennen, in der die Menschenwürde ihrerseits als einschränkendes Rechtsgut bei der Ausübung anderer Grundrechte und – im Fall des Unionsrechts – auch von Grundfreiheiten fungiert. Für beide Garantien ergibt sich dies nicht nur aus ihrem jeweiligen Grundrechtscharakter, sondern auch aus ihrem Charakter als objektivem, bei jedweder Rechtsausübung zu beachtenden Wert. Dabei versteht sich angesichts des voran Gesagten, dass in dieser Konstellation die Menschenwürde nicht in einen Abwägungsprozess „hineingezogen“ werden darf, sondern mit ihrer Betroffenheit gleichsam die Verfassungsmäßigkeit der darauf gestützten Grundrechts- oder Grundfreiheitsbeschränkung einhergeht.

IV. Ergebnis Insgesamt zeigt der vorangegangene Abgleich zur Frage der Einschränkbarkeit die Konvergenz beider Würdegarantien. Hier lässt sich eine sowohl durch die Charta als auch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gefestigte Position der Nichtabwägbarkeit und Absolutheit der Chartagarantie ausmachen, die angesichts der in der deutschen Literatur immer wieder vorgebrachten Meinung zugunsten einer Relativierung im Vergleich als besonders stark zu bewerten ist. Wie im Fall von echten Würdekollisionen zu verfahren ist, ob ein Primat der abwehr- oder der schutzrechtlichen Seite existiert, ist durch das Verfassungsrecht nicht vorgezeichnet. Die Menschenwürde kann jedoch nach beiden Grundrechtsordnungen als Grund für die Einschränkung der Ausübung von Grundrechten und Grundfreiheiten herangezogen werden. 380

Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 12 m.w.N. Die Unterscheidung in Würdekern und „Vorhof“ bei Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs.1 GG Rn. 46 ff. 382 Übersicht bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 133 ff. 381

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 191

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass beide Garantien zwar in einigen Grundannahmen übereinstimmen, dass gleichwohl merkliche Unterschiede in ihrer Konzeption bestehen. Diese sind, wie gesehen, häufig unter der Oberfläche ihrer gleichlautenden Formulierung und hinter mehr oder weniger allgemein gehaltenen Abhandlungen über die Menschenwürde verborgen. Sie brechen sich aber dort Bahn, wo die Höhen abstrakter Ausführungen verlassen und Lösungen für konkrete rechtliche und gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen verlangt werden. Die skizzierten Unterschiede setzen sich so – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – auch auf weniger abstrakter Ebene fort und führen hier, zumindest zum Teil, nicht nur zu nebeneinanderstehenden divergierenden Ergebnissen, sondern zu Wertungswidersprüchen zwischen den beiden Grundrechtsebenen. Gleichzeitig sind hier aber auch Übereinstimmungen beider Würdekonzeptionen und ihres Schutzgehalts auszumachen. Diesen Unterschieden und Übereinstimmungen soll sich im Folgenden anhand eines Vergleichs einiger inhaltlicher Ausprägungen der Menschenwürde gewidmet werden. Die eher exemplarischen Ausführungen – eine „abschließende“ Aufzählung betroffener Fallgruppen ist bereits aufgrund des offenen Charakters beider Würdegarantien unmöglich – orientieren sich an solchen Thematiken, die in der deutschen Rechtswissenschaft gemeinhin als menschenwürderelevant eingestuft werden.

I. Noch einmal: Konsentierte Grundaussagen und tatbestandliche Ausdifferenzierung in der Charta Bezüglich der grundlegenden Ausprägungen der Menschenwürde besteht, wie oben gesehen, ein Gleichklang zwischen beiden Garantien, der sich bereits aus einem gemeinsamen Fundus evidenter Würdeverletzungen ergibt. Die grundgesetzliche wie auch die unionsrechtliche Würdegarantie schützen so den Grundbestand an menschlicher Selbstbestimmung, innerer wie äußerer Integrität, elementarer Gleichheit und sozialbezogenen Rechten. Dies kommt überwiegend direkt in den tatbestandlichen Ausdifferenzierungen der Menschenwürde im ersten Titel der Charta zum Ausdruck. So entsprechen neben Art. 1 Abs. 1 GrCh selbst auch die Verbote der Folter und unmenschlichen Behandlung (Art. 4 GrCh) und der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 5 GrCh) unmittelbar dem deutschen Würdeverständnis, ohne dass diese Verbote im Grundgesetz explizit Erwähnung finden.383 Gleiches gilt für das in Art. 3 Abs. 1 Alt. 2 GrCh enthaltene Recht auf geistige Unversehrtheit: Auch

383 Trotz der bereits angesprochenen Einschränkungsversuche absolut herrschende Meinung, s. statt vieler Höfling in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 20; vgl. auch BVerfGE 1, 97 (104).

192

Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

dieses entspricht dem herrschenden deutschen Würdeverständnis,384 besitzt aber aufgrund der selbstständigen Verbürgung in der Charta im Vergleich nicht nur mehr Sichtbarkeit, sondern auch größeres Gewicht.385 Die zwischen der Würdegarantie und dem Lebensrecht bestehende enge Verbindung, die das BVerfG wie gesehen immer wieder betont hat, findet aufgrund der systematischen Stellung von Art. 2 Abs. 1 GrCh in der Charta ebenfalls ihren Niederschlag.386 Daneben fasst die Charta auch das Verbot der Todesstrafe in Art. 2 Abs. 2 GrCh unter die Menschenwürde, was zumindest aus systematischen Gesichtspunkten einen Unterschied zum Grundgesetz darstellt. In der Sache scheint es mit der Subjekt-/Objektformel jedoch durchaus angezeigt, in der staatlich veranlassten Hinrichtung eine Degradierung zum bloßen Objekt des zum Tode Verurteilten zu erblicken, da sich das Dasein des Verurteilten äußerlich betrachtet auf eine Stellung als Hinrichtungsobjekt reduziert und er nicht mehr als Subjekt geachtet wird, das die Chance besitzt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden.387 So wird auch das spezielle Verbot aus Art. 102 GG von der herrschenden Meinung als direkte Konkretisierung der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG begriffen.388 Dieser Auffassung folgend besteht zwischen den beiden Grundrechtsebenen auch in diesem Punkt eine materielle Übereinstimmung des sachlichen Gewährleistungsumfangs. Die Grundrechtskataloge stimmen ferner dahingehend überein, dass unter beiden der Gleichheitssatz angesichts seiner systematischen Stellung als nicht unmittelbar menschenwürderelevant eingestuft wird.389 Dies ist besonders für die Charta insofern bemerkenswert, als in einigen Mitgliedstaaten der Union ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Gleichheitssatz und der Menschenwürde gesehen wird.390 Damit dürfte sich die egalitäre Seite beider Würdegarantien auf Fälle extremer Ungleichbehandlung beschränken, die wiederum zum Teil in den ausdrücklichen Verboten in der Charta (Art. 5 Abs. 1 GrCh) angesiedelt sein dürften. 384

Goos, Innere Freiheit, S. 139 ff. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 941 ff.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 36. 386 BVerfGE 39, 1 (42) – Schwangerschaftsabbruch I. 387 Richtigerweise ist daher das Verbot der Todesstrafe – im Anschluss an das BVerfG in seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe – als Verletzung der Subjektqualität des Menschen und damit seines Würdeanspruchs aus Art. 1 Abs. 1 GG zu begreifen. 388 Das BVerfG hat diese Frage in seiner Entscheidung zu sicheren Herkunftsstaaten aus dem Jahr 1996 zwar offengelassen, BVerfGE 94, 115 (138) – Sichere Herkunftsstaaten; dagegen geht der BGH jedenfalls bei der Vollstreckung der Todesstrafe von einem Menschenwürdeverstoß aus, s. dazu BGHSt 41, 317 (325). Ausführlich zum Streitstand Kersten, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 102 Rn. 18 ff. 389 Art. 3 GG; Art. 20 (ff.) GrCh. 390 Am Beispiel Frankreich verdeutlicht bei Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 121 ff., die allerdings darauf hinweist, dass die unterbliebene textliche und systematische Verknüpfung von Menschenwürde und Gleichheitssatz aus Gründen der Betonung der übergeordneten Stellung der Menschenwürde resultiert. 385

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 193

Im Ganzen besteht daher zwischen beiden Garantien bzw. zwischen den Würdegarantien und ihren spezialgesetzlichen Ausprägungen in den Grundrechtskatalogen materielle Übereinstimmung vor allem in Bezug auf diejenigen Behandlungsformen des Menschen, die mittlerweile auch nach allgemeinem Sprachgebrauch als „klassisch“ menschenwürdeverletzend angesehen werden können und die in den expliziten Verboten der Charta zum Ausdruck gelangen. Unterschiede im Gewährleistungsgehalt sind auf dieser Ebene nicht festzustellen, Differenzen in der gerichtlichen Bewertung entsprechender Handlungsformen daher auch nicht zu erwarten.

II. Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Es kann nach dem eben Gesagten kaum verwundern, dass die Verletzung elementarer Rechte des Menschen den Bereich darstellt, in dem die materielle Übereinstimmung der Würdekonzeptionen am höchsten und der Konvergenzgedanke zwischen dem BVerfG und EuGH, aber auch dem EGMR, am spürbarsten ausgeprägt sind. Zeigen lässt sich dies mit Blick auf das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung aus Art. 4 GrCh, das Art. 3 EMRK nachgebildet und als „menschenrechtlicher Grundkonsens“ in seinem materiellen Gehalt der Würdegarantie des Grundgesetzes entspricht.391 Es enthält ein Abwehrrecht gegen die Folter als intensivste, gegen unmenschliche Behandlungen als schwächere und gegen erniedrigende Behandlung als schwächste dreier Formen staatlicher Be- bzw. Misshandlung des Menschen.392 Beide Garantien unterliegen keiner Einschränkungsmöglichkeit und gelten daher absolut.393 Insbesondere im Kontext der gemeinsamen Strafverfolgung hat sich im Gerichtsdialog zwischen EuGH und BVerfG das Konvergenzpotenzial der Grundrechtsordnungen gezeigt. Sinnbildlich sind hierfür zwei Verfahren vor den beiden Höchstgerichten, ein Beschluss des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl aus Dezember 2015394 und die Entscheidung des EuGH in der Rs. Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru aus April 2016395. Beide Verfahren hatten die Auslieferung eines verurteilten 391

Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 4 Rn. 5. Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 4 Rn. 8: „drei konzentrische Kreise“. 393 EuGH Urt. v. 05. 04. 2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru, Rn. 85 f.; s. für Art. 3 EMRK aber v. Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK, S. 160 ff., wonach der EGMR nur von einem relativen Gehalt von Art. 3 EMRK auszugehen scheint. Dies steht einem höheren, weil absoluten, Schutz unter der Charta freilich nicht entgegen, vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh. 394 BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle. 395 EuGH Urt. v. 05. 04. 2016, verb. Rs. C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU: C:2016:198 – Aranyosi und Ca˘ lda˘ raru. 392

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Straftäters bzw. eines dringend Tatverdächtigen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls zum Gegenstand. In dem Vorlageverfahren vor dem Gerichtshof stellte sich die Frage, ob der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl396 es der vollstreckenden Justizbehörde ermöglicht oder gar gebietet, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat mit den Grundrechten, insbesondere mit Art. 4 der Charta, unvereinbar sind. Im Verfahren vor dem BVerfG war über die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG Düsseldorf zu entscheiden, wonach die Auslieferung eines in Abwesenheit Verurteilten zulässig ist, obwohl diese Verurteilung in Abwesenheit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG entfließenden Schuldprinzips widerspricht. Beide Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass eine Auslieferung an den Ausstellungsmitgliedstaat dann zu unterbleiben hat, wenn hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Gefahr für die Grundrechte, insbesondere die Menschenwürde, des Häftlings droht.397 Aus dieser Gefährdungslage leiteten sowohl das BVerfG als auch der EuGH – hier liegt die Parallele der Entscheidungen mit Blick auf Gehalt und Reichweite des Grundrechtsschutzes – eine horizontale Prüfungsund Aussetzungspflicht für die nationalen Gerichte hinsichtlich der Überstellung an den Ausstellungsmitgliedstaat ab.398 Dies stellt eine übereinstimmende Begrenzung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dar.399 Aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 4 GrCh, der als unmittelbare Ausprägung der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GrCh anzusehen ist400, resultieren daher nach Auffassung von BVerfG und EuGH zumindest formelle Vorgaben für die nationalen Gerichte in Gestalt bestimmter Prüfungs- und Ausstellungspflichten.401 Weitergehende inhaltliche Aussagen darüber, wann eine menschenwürdeverletzende Behandlung vorliegt, können den Entscheidungen allerdings nicht entnommen werden. Zumindest das BVerfG ging aber davon aus, dass die Verletzung des Schuldprinzips durch Verurteilung in Abwesenheit nicht nur eine Verletzung von

396 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. 06. 2002 über den Europäischen Haftbefehl. 397 BVerfGE 140, 317 (350 f., 367) – Identitätskontrolle. 398 Grundlegend bereits Canor, Solange horizontal. Der Schutz der EU-Grundrechte zwischen Mitgliedstaaten, ZaöRV 73 (2013), 249 (264 ff.). Zu hier denkbaren horizontalen Grundrechtskonkurrenzen s. Schwarz, Grundlinien der Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, S. 312 ff. 399 Reinbacher/Wendel, Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl, EuGRZ 2016, 333 (343), dort allerdings mit Hinweis auf das divergente Prüfprogramm der beiden Gerichte. 400 Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 4 Rn. 4. 401 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 702 Rn. 1631: „Dem Inhalt nach hat der EuGH die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – und damit auch das aus Karlsruhe vorgegebene Schutzniveau – übernommen.“

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 195

Art. 1 Abs. 1 GG, sondern auch der unionsgrundrechtlichen Vorgaben darstellt.402 Eine eigene Vorlagepflicht an den EuGH verneinte es mit der Begründung eines acte claire.403 Soweit die Menschenwürde, sei es nun direkt über Art. 1 Abs. 1 GG oder die spezielle chartarechtliche Regelung in Art. 4 GrCh, von beiden Gerichten zur Bestimmung von Untergrenzen in der Strafvollzugsgestaltung herangezogen wird, erfährt sie hierdurch eine Bestätigung für ihre grundsätzliche Anwendbarkeit und ihren Absolutheitsanspruch.404 Darin liegt in dem in Rede stehenden Themenfeld ein Konvergenzpotenzial für die Zukunft des europäischen Rechtsprechungsverbund und der europäischen Grundrechtskultur.

III. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Als Ausprägung des sozialen Würdeanspruchs des Menschen garantiert das Grundgesetz unter anderem einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Diese als Grundrecht verbürgte Garantie hat das BVerfG aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet und in dieser Gestalt erstmalig in einer Entscheidung aus dem Jahr 1990 anerkannt.405 Während das Grundrecht seinem Grunde nach unverfügbar sein soll, betonte das BVerfG, dass der Umfang des Leistungsanspruchs nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden könne. Vielmehr unterliege dieser einem stetigen Wandel und sei abhängig von Faktoren wie etwa gesellschaftlichen Anschauungen und der Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Auf der Suche nach einem vergleichbaren von der Charta gewährleisteten Anspruch gerät zunächst Art. 34 Abs. 3 GrCh in den Blick. Bei Art. 34 GrCh handelt es sich um eine spezialgesetzliche Ausprägung des Sozialstaatsprinzips im europäischen Verfassungsverbund, die in Absatz 1 die soziale Sicherheit und in Abs. 3 die soziale Unterstützung regelt.406 Es fällt jedoch auf, dass Abs. 3 – wie auch der erste Absatz – lediglich von der „Anerkennung und Achtung“ des Rechts auf soziale 402

BVerfGE 140, 317 (366) – Identitätskontrolle. BVerfGE 140, 317 (376) – Identitätskontrolle; die Annahme eines acte claire bezeichnet Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 701 Rn. 1629, als strategisches und durchsichtiges Manöver. 404 Kromrey/Morgenstern, Die Menschenwürde und das Auslieferungsverfahren, ZIS 2017, 106 (118); Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 702 Rn. 1631. 405 BVerfGE 82, 60 (85) – Steuerfreies Existenzminimum; BVerfGE 123, 267 (362 f.) – Lissabon; BVerfGE 125, 175 (223 f.) – Hartz IV. Zuvor bereits der Sache nach anerkannt, allerdings ohne explizite Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 GG in BVerfGE 40, 121 (133) – Waisenrente II; die Frage nach dem anspruchsbegründenden Charakter von Art. 1 Abs. 1 noch offengelassen in BVerfGE 75, 348 (360) – Aussschluss von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. 406 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 34 GrCh Rn. 5. 403

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Unterstützung spricht. Es handelt sich daher um die Normierung lediglich einer Achtungs- und Schutzpflicht in Bezug auf einen bereits bestehenden, nicht jedoch um die Begründung eines eigenständigen subjektiven öffentlichen Rechtsanspruchs.407 Die zurückhaltende Formulierung der Norm und ihre daraus folgende geringe normative Reichweite sind das Ergebnis kontroverser Diskussion im Grundrechtekonvent, in denen vor einer zu extensiven Lesart der sozialen Garantien in der Charta durch den EuGH sowie vor Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip und das Verbot einer verdeckten Kompetenzerweiterung gewarnt wurde.408 Da Art. 34 Abs. 3 GrCh also keine Leistungsdimension aufweist, aus der sich konkrete Ansprüche deduzieren lassen, stellt sich die Formulierung des Artikels letztlich nur als Minimalkonsens zwischen den Konventsmitgliedern dar. Daher fragt sich, ob unter unmittelbarem Rückgriff auf die chartarechtliche Würdegarantie ein individueller Leistungsanspruch abgeleitet werden kann. Der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GrCh begegnet – anders als unter dem Grundgesetz – jedoch bereits systematischen Bedenken aufgrund der Existenz einer speziellen Regelung der Materie in Art. 34 Abs. 3 GrCh.409 Hält man Art. 1 Abs. 1 GrCh entgegen diesen Bedenken für anwendbar, fragt sich dennoch, ob Art. 1 Abs. 1 GrCh ein solches individuelles Recht beinhalten soll. Gemessen an den Diskussionen zu Art. 34 GrCh und dem gefundenen bloßen Minimalkonsens dürfte die Anerkennung eines subjektiven Leistungsrechts aus Art. 1 Abs. 1 GrCh jedenfalls nicht von dem Willen des Grundrechtskonvents getragen sein.410 Für die Anerkennung streitet jedoch der Telos der Menschenwürdegarantie – Wahrung der Subjektqualität des Einzelnen –, da erst durch materielle Mindestabsicherung des Einzelnen seine persönliche Entfaltung ermöglicht wird.411 Diesem verallgemeinerungsfähigen Befund entspricht auch die Empirie in der Europäischen Union, da existenzsichernde Ansprüche in den Mitgliedstaaten nahezu durchweg verfassungsrechtlich anerkannt sind.412 Der EuGH hat sich zu der Frage, inwieweit Art. 1 Abs. 1 GrCh einen individuellen Leistungsanspruch garantiert, bislang noch nicht eindeutig geäußert. In einem im Jahr 2019 ergangenen Urteil zum Entzug materieller Leistungen an einen minderjährigen Flüchtling aufgrund gewalttätigen Verhaltens betonte der Gerichtshof aber, dass die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde einem 407 Frenz, Menschenwürde in der Flüchtlingskrise, ZAR 2016, 223 (225); Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 34 Rn. 20; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 139, 150. 408 Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 34 Rn. 11 ff. 409 Augsberg, in: v. d. Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 1, Rn. 7; Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 17. 410 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 139. 411 S. dazu grundlegend Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), S. 117 (131 ff.); Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 857, 874. 412 Wobei sich die Ansprüche in den wenigsten Fällen unter expliziten Bezug auf die Menschenwürde herleiten, s. hierzu die detaillierte Übersicht bei Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 34 Rn. 5.

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solchen Entzug als sanktionierende Maßnahme entgegenstehe.413 Gleichwohl ist damit noch nicht beantwortet, ob Art. 1 Abs. 1 GrCh ein unmittelbarer individueller und absoluter Leistungsanspruch zu entnehmen ist.414 Inwieweit hier Unterschiede zwischen den Würdegarantien bestehen, kann daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend geklärt werden.

IV. Menschenwürde und Schutz des Privatlebens, insb. Datenschutz Der Bereich Privatheitsschutz dürfte neben der Zusammenarbeit in Asyl- und Strafsachen eines der bedeutendsten Themengebiete sein, in denen der Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem eine Europäisierung und Harmonisierung erfährt. Hier treffen in der Regel besonders detaillierte mitgliedstaatliche Regelungen, zunehmend verdichtete Unionsrechtsakte und eine umfangreiche EGMR Rechtsprechung zum Privatheitsschutz aus Art. 8 EMRK zusammen. Daraus wiederum resultieren Unitarisierungseffekte, wie sie sich in anderen Rechtsgebieten bislang noch nicht aufzeigen lassen. Insbesondere der Bereich Datenschutz als Teilaspekt des Privatheitsschutzes bietet für eine solche Harmonisierung Anschauungsmaterial. Der Schutz von personenbezogenen Daten wird mit zunehmender Integration Aufgabe und Betätigungsfeld der EU, wie etwa das langjährige Ringen um die Datenschutzgrundverordnung und schließlich ihr Inkrafttreten zeigen.415 Es verwundert daher nicht, dass der EuGH auf diesem Gebiet sein Potenzial als Grundrechtsgericht bislang am sichtbarsten auszuschöpfen vermochte – die (Über-)Betonung des Privatheit- und Datenschutzes in seiner Rechtsprechung bei gleichzeitiger Zurückhaltung in anderen grundrechtssensiblen Bereichen könnte gar zu der These verleiten, der EuGH habe bislang allein im Bereich des Datenschutzes seine ihm längst obliegende Rolle als Grundrechtsgericht adäquat ausgefüllt.416 Einige

413 EuGH Urt. v. 12. 11. 2019, Rs. C-233/18, ECLI:EU:C:2019:956 – Zubair Haqbin; s. auch Ruffert, Anspruch auf Existenzminimum, JuS 2020, 280. 414 Für ein solches Verständnis von Art. 1 Abs. 1 GrCh Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 150 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 34 GrCh Rn. 14 f.; Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 22. Dagegen Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 1, Rn. 7; Rixen, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 17; Berlth, Art. 1 GRCh – Die Menschenwürde im Unionsrecht, S. 164 ff.; Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 11. 415 Zur Entwicklung Paal/Pauly, in: Paal/Pauly (Hrsg.), Datenschutz-Grundverordnung, Einleitung Rn. 1 ff. 416 S. dazu Kühling, Der Fall der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie und der Aufstieg des EuGH zum Grundrechtsgericht, NVwZ 2014, 681 (684 f.).

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

schillernde Urteile aus jüngster Vergangenheit legen über sein Engagement im Bereich des Datenschutzes jedenfalls sichtbares Zeugnis ab.417 Auf den ersten Blick scheint der Privatheits- und Datenschutz beim Gerichtshof daher „gut aufgehoben“, sodass sich auch die Frage nach einem Vergleich zur deutschen Grundrechtsordnung, gerade auch im Hinblick auf einen noch näher zu erörternden Menschenwürdebezug des Themengebiets, unter anderen Vorzeichen als bisher stellen dürfte. Ein Rechtsschutzdefizit dürfte hier nur schwerlich auszumachen sein, im Gegenteil: Der EuGH und die Europäische Union mit der Grundrechtecharta schützen sowohl personenbezogene Daten als auch allgemein das Privatleben der Bürger.418 Aber wie, in welchen Grenzen und mit welchen Mitteln im Vergleich zur deutschen Rechtsordnung? Und kennt auch die Europäische Grundrechtsordnung (möglicherweise aus der Menschenwürde resultierende) unverfügbare Bereiche einer Privat- und Intimsphäre, die einer Abwägung mit anderen Rechtsgütern entzogen sind? Wie weit ist also der Bereich des Privatheits- und Datenschutzes auf nationaler und unionsrechtlicher Ebene von der Menschenwürde überformt? In der Grundrechtecharta sind in Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten) die zueinander in engem Zusammenhang stehenden und vornehmlich für den Privatheit- und Persönlichkeitsschutz heranzuziehenden Rechte verbürgt. Diese Rechte finden sich unter dem 2. Titel der Charta („Freiheiten“) und damit nicht unter dem Titel „Würde des Menschen“, was teilweise als Fehler in der Chartakonzeption kritisiert wurde.419 Art. 7 GrCh schützt dabei zunächst den Raum der Privat- und Intimsphäre an sich, des Weiteren auch die Persönlichkeitsentfaltung sowie personale Selbstbestimmung und Lebensführung der Person, wozu auch die freie Kommunikation zählt.420 Art. 8 GrCh gewährleistet für den Bereich der – in grundgesetzlicher Terminologie – informationellen Selbstbestimmung als lex specialis gegenüber Art. 7 GrCh421 zudem den Schutz vor unberechtigter Verarbeitung personenbezogener Daten.422 In der gerichtlichen Praxis werden diese Rechte häufig zusammen als Prüfmaßstab herangezogen, sodass sich 417 Mediales Echo riefen etwa die Entscheidung zum „Recht auf Vergessenwerden“, EuGH, Urt. v. 13. 05. 2014, Rs. C-131/12, ECLI:EU:C:2014:317 – Google Spain, oder die „Facebook“-Entscheidung, EuGH, Urt. v. 06. 10. 2015, Rs. C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems, hervor. Davor hatte der EuGH auch im Bereich Datenschutz nur marginale Grundrechtskontrollen durchgeführt, s. dazu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 8 Rn. 23c. 418 Kühling, Der Fall der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie und der Aufstieg des EuGH zum Grundrechtsgericht, NVwZ 2014, 681 (684 f.). 419 Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff, S. 402. 420 Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 7 Rn. 6 f. 421 Gersdorf, in: Gersdorf/Paal (Hrsg,), BeckOK InfoMedienR, Art. 8 GrCh Rn. 6. Der EuGH wendet beide Rechte aber nebeneinander an, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 06. 10. 2015, Rs. C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems. 422 Näher Gersdorf, in: Gersdorf/Paal (Hrsg.), BeckOK InfoMedienR, Art. 8 GrCh Rn. 18 ff.

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die Schutzbereiche auch angesichts der Rechtsprechung nicht ohne weiteres scharf voneinander abgrenzen lassen, sondern vielmehr zusammenfallen können.423 In dieser Zusammenschau und im Zusammenwirken entsprechen die Rechte aus Art. 7 und 8 GrCh so weitgehend dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I GG i.V.m Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Ein Rekurs auf die Menschenwürde zur Begründung dieser Rechte ist auf europäischer Ebene daher nicht nötig, gleichzeitig aber auch nicht völlig undenkbar.424 Allerdings ist der EuGH mit einer Heranziehung von Art. 1 Abs. 1 GrCh im Bereich des Datenschutzes bislang nicht in Erscheinung getreten, vielmehr rekurriert er hier ausschließlich auf Art. 7 und 8 GrCh.425 Das heißt in der Konsequenz, dass der Bereich des Privatheit- und Datenschutzes im Unionsrecht keinen (auch nur auf bestimmte Bereiche oder „Sphären“ begrenzten) absoluten Schutz genießt – einen etwaigen Menschenwürdekern der relevanten Grundrechte und eine absolut wirkende Wesensgehaltsgarantie ausgeblendet.426 Vielmehr gilt für beide Rechte die Einschränkbarkeit nach der allgemeinen Schrankenklausel aus Art. 52 Abs. 1 GrCh. Für den Bereich des Datenschutzes erfahren die allgemeinen Schranken durch die Anforderungen aus Art. 8 Abs. 2 S. 1 GrCh eine zusätzliche Konkretisierung. Die aus Art. 8 Abs. 2 S. 1 GrCh für die Datenverarbeitung erforderliche Einwilligung stellt dabei jedoch kein zusätzliches Schrankenerfordernis dar, stattdessen entfällt bei einer wirksamen Einwilligung in die Verarbeitung bereits der Eingriffscharakter derselben.427 Im Ganzen ermöglichen die unionsrechtlichen Regelungen daher eine flexible Handhabung im Bereich des Privatheit- und Datenschutzes gegenüber der deutschen Verfassungsordnung jedenfalls in den Konstel-

423 Vgl. etwa Schlussanträge des GA Villalón zur Rs. C-293/12 v. 12. 12. 2013, ECLI:EU:C:2013:845, Rn. 62: „Das Recht auf Schutz personenbezogener Daten beruht zwar auf dem Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre, so dass die Art. 7 und 8 der Charta, wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, in einem so engen Zusammenhang stehen, dass ihnen ein „[Recht auf] Achtung des Privatlebens hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten“ entnommen werden kann.“; unter Bezugnahme auf EuGH, Urt. v. 09. 11. 2010, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, ECLI:EU:C:2010:662, Slg. 2010 I-11063 – Schecke, Eifer/Land Hessen, Rn. 52. 424 Auf die Möglichkeit einer Menschenwürdeverletzung im Bereich des Daten- und Privatheitsschutzes verweist Wallau für die Fälle, in denen die Verletzung der Privatheit oder des Datenschutzes nach Modalität oder Finalität der jeweiligen Maßnahme ein die Menschenwürde beeinträchtigendes Gewicht besitzen, Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 250 f. 425 Kritisch dazu Frenz, Terrorismus und Menschenwürde, DÖV 2015, 305 (307), der vom EuGH eine stärkere Bezugnahme auf die Menschenwürde im Bereich des Datenschutzes fordert. 426 Frenz, Terrorismus und Menschenwürde, DÖV 2015, 305 (307): „Indes fehlt [bei Art. 7 und 8 GrCh, C.L.] ein eingriffsfester Kernbereich, wie er gerade für die Menschenwürde typisch ist“. 427 Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, GRC Art. 8 Rn. 1.

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lationen, in denen nach der Dogmatik des Grundgesetzes ein eingriffsfester Kernbereich der Garantien betroffen ist. Die fehlende Verbindung zur Menschenwürdegarantie und zum ersten Titel der Charta und die daraus resultierende Abwägbarkeit der Rechte aus Art. 7 und 8 GrCh offenbaren im Vergleich zur grundgesetzlichen Konzeption jedoch allein noch kein Schutzdefizit. Flexibilität und Abwägung erlauben schließlich auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Persönlichkeitsschutz aus dem Grundgesetz, welche gesetzlichen Beschränkungen nicht kategorisch entgegenstehen. Hier offenbart sich die auch nach grundgesetzlicher Konzeption nur mittelbare Verbundenheit des Privatheit- und Persönlichkeitsschutzes mit der Menschenwürdegarantie. Art. 1 Abs. 1 GG wird hier überwiegend auch nur als Leit- und Auslegungsrichtlinie, nicht aber als eigentlich betroffene Norm (i. e. Art. 2 Abs. 1 GG) betrachtet.428 Aus der textlichen und systematischen Entkopplung des Privatheit- und Datenschutzes von der Menschenwürde unter der Charta lässt sich daher im Vergleich zur grundgesetzlichen Konzeption kein Schutzdefizit ausmachen. Dass im Abgleich zwischen den beiden Grundrechtsebenen auch darüber hinaus kein Schutzdefizit zu befürchten steht, zeigt die Rechtsprechung des EuGH, der, nicht erst seit Inkrafttreten der Charta, seitdem aber vermehrt, dem Datenschutz in seiner Rechtsprechung besonderes Augenmerk gewidmet hat. In der Rechtssache Schecke etwa bewertete er unionsrechtliche Vorschriften, die die Veröffentlichung detaillierter Informationen über Empfänger von Leistungen aus dem europäischen Landwirtschaftsfonds vorschrieben, als unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte aus Art. 7 und 8 GrCh und erklärte diese daher für ungültig.429 Auch die Rechtssache Schrems hatte die Kassation eines Unionsrechtsaktes, hier jedoch in Gestalt einer Kommissionsentscheidung zur Folge: Der Gerichtshof erklärte die Entscheidung der Kommission für ungültig, die die Übermittlung personenbezogener Daten an die USA gestattete.430 Zur Begründung führte das Gericht an, dass in der USA angesichts einer fehlenden materiellen Begrenzung der Grundrechtseingriffe und angesichts fehlenden Rechtsschutzes ein der Charta vergleichbares Schutzniveau nicht gewährleistet sei und die Kommission überdies den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachtet habe.431 Ausführungen zu Tabuzonen und „unmöglichen Grundrechtseingriffen“, die in sachlicher Nähe zur Menschenwürde stehen könnten, enthielten die beiden Urteile nicht. Aufschluss hierüber könnten dagegen vielmehr Entscheidungen zum Themenkomplex der Vorratsdatenspeicherung geben. Ihnen soll sich im Folgenden und abschließend gewidmet werden. 428

Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 128; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 69. 429 EuGH, Urt. v. 09. 11. 2010, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, ECLI:EU:C:2010:662, Slg. 2010 I-11063 – Schecke, Eifer/Land Hessen. 430 EuGH, Urt. v. 06. 10. 2015, Rs. C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems. 431 EuGH, Urt. v. 06. 10. 2015, Rs. C-362/14, ECLI:EU:C:2015:650 – Schrems Rn. 87 ff.

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Die Vorratsdatenspeicherung war über Jahre hinweg von Diskussionen geprägt und gipfelte (aus deutscher Perspektive) in einem durch die Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.432 Die Thematik weist so – bei einer teils undurchdringlichen Gemengelage zwischen unionsrechtlicher Determination und mitgliedstaatlichen Freiräumen – bereits wenige Jahre nach ihrem Entflammen eine bewegte Geschichte auf.433 Maßgeblich aus deutscher Perspektive sind dabei die Entscheidungen des BVerfG aus dem Jahr 2010 und die des EuGH aus den Jahren 2014 und 2016. Im Urteil des BVerfG ging es um die Verfassungsmäßigkeit des deutschen Umsetzungsgesetzes zur Richtlinie 2006/24/EG434, die den Mitgliedstaaten die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung auferlegte.435 Das BVerfG erklärte die entsprechenden Normen aus dem Telekommunikationsgesetz436 für nichtig. Zur Begründung führte das Gericht an, die sechsmonatige anlasslose Speicherung verstoße zwar nicht per se gegen das Grundgesetz (konkret gegen Art. 10 GG), jedoch genügten die konkrete Ausgestaltung der Speicherung, vor allem aber der Verwendung der Daten sowie die mangelnden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Speicherung selbst nicht, um dem besonderen Gewicht des Eingriffs angemessen Rechnung zu tragen. Eine vergleichbare Argumentation legte vier Jahre der Gerichtshof seiner Entscheidung und der Verwerfung der Richtlinie 2006/24/EG zu Grunde.437 So sei die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten zwar nicht per se unvereinbar, allerdings müsse sich der damit verbundene Eingriff auf das absolut Notwendige beschränken. Die Grenzen einer möglichen Rechtfertigung seien dann erreicht, wenn der Wesensgehalt von Art. 7 und 8 GrCh tangiert würde. Da der Richtlinie „klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der Maßnahme“ ebenso fehlten wie ausreichende Mindestanforderungen zum Schutz vor unberechtigtem Zugang und unberechtigter Nutzung der Daten, erklärte der Gerichtshof die Richtlinie schließlich für ungültig.438 Im Urteil vom 21. 12. 2016 präzisierte der EuGH die Anforderungen an eine unionsrechtskonforme Vorratsdatenspeicherung. Danach ist eine gezielte Vorrats432 Zur Entwicklung s. Oehmichen/Mickler, Die Vorratsdatenspeicherung – Eine never ending story?, NZWiSt 2017, 298 (298 ff.). 433 Näher auch Schiedermair/Mrozek, Die Vorratsdatenspeicherung im Zahnräderwerk des europäischen Mehrebenensystems, DÖV 2016, 89. 434 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 03. 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG. 435 BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung. 436 § 113 a und § 113 b des Telekommunikationsgesetzes i. d. F. des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. 12. 2007. 437 EuGH Urt. v. 08. 04. 2014, Rs. C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238 – Digital Rights/Seitlinger. 438 EuGH Urt. v. 08. 04. 2014, Rs. C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238 – Digital Rights/Seitlinger, Rn. 54 ff.

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datenspeicherung dann unionsrechtlich zulässig, wenn sie „hinsichtlich Kategorien der zu speichernden Daten, der erfassten elektronischen Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer der Vorratsspeicherung auf das absolut Notwendige beschränkt ist“439. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn sichergestellt ist, dass „die Vorratsspeicherung der Daten stets objektiven Kriterien genügt, die einen Zusammenhang zwischen den zu speichernden Daten und dem verfolgten Ziel herstellen“440, sodass die Voraussetzungen insgesamt geeignet sein müssen, „den Umfang der Maßnahme und infolgedessen die betroffenen Personenkreise wirksam zu begrenzen“441. Nun sind es bei den Urteilen weniger die Anforderungen im Einzelnen, die Aufschluss über die hier zu verhandelnde Frage geben können, sondern vielmehr die insoweit konsensualen Grundaussagen der beiden Gerichte, aus denen sich Hinweise auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der Datenerfassung ergeben. So ist nach beiderlei Auffassung die Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich unzulässig, soweit sie sich im Hinblick auf Speicherdauer, Transparenz und Rechtsschutz in engen Grenzen bewegt und stets als Ausnahmeregelung, nicht jedoch als Einfallstor für eine weitergehende flächendeckende Datensammlung ausgestaltet ist.442 Eine Diskrepanz ergibt sich bei den Gerichten allerdings hinsichtlich der Anlasslosigkeit der Vorratsdatenspeicherung: Während das BVerfG eine solche als nicht per se unverhältnismäßig erachtet, bemängelte der EuGH, dass sie zu „einem Eingriff in die Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölkerung“443 führt, „ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des Ziels der Bekämpfung schwerer Straftaten vorzusehen“444. Daher dürfte eine anlasslose, zeitlich und örtlich nicht begrenzte Vorratsdatenspeicherung nach Ansicht des Gerichtshofs nicht mit den europäischen Grundrechten vereinbar sein445 und somit auf europäischer Ebene auch strengere Maßstäbe gelten als auf nationaler Ebene.446 Einigkeit besteht auf der anderen Seite wieder insoweit, als die Vorratsdatenspeicherung unter beiden Grundrechtsregimen allenfalls als eng umgrenzte Ausnahme zulässig sein kann. Sie darf „im Zusammenspiel mit anderen vorhandenen Dateien“ weder zu einer

439

EuGH Urt. v. 21. 12. 2016, Rs. C-203/15, ECLI:EU:C:2016:970 – Tele2Sverige/Postoch telestyrelsen, Rn. 108. 440 EuGH Urt. v. 21. 12. 2016, Rs. C-203/15, ECLI:EU:C:2016:970 – Tele2Sverige/Postoch telestyrelsen, Rn. 110. 441 EuGH Urt. v. 21. 12. 2016, Rs. C-203/15, ECLI:EU:C:2016:970 – Tele2Sverige/Postoch telestyrelsen, Rn. 110. 442 Dazu BVerfGE 125, 260 (324) – Vorratsdatenspeicherung. 443 EuGH Urt. v. 08. 04. 2014, Rs. C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238 – Digital Rights/Seitlinger, Rn. 56. 444 EuGH Urt. v. 08. 04. 2014, Rs. C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238 – Digital Rights/Seitlinger, Rn. 57. 445 So auch Roßnagel, Die neue Vorratsdatenspeicherung, NJW 2016, 533 (538). 446 Roßnagel, Die neue Vorratsdatenspeicherung, NJW 2016, 533 (539).

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„Rekonstruierbarkeit praktisch aller Aktivitäten der Bürger führen“447, noch dazu, dass bei den Bürgern infolgedessen ein „diffuses Gefühl des Überwachtwerdens“448 erzeugt wird. Der wörtlich nahezu gleich formulierten Argumentation der Gerichte449 lässt sich entnehmen, dass das Grundgesetz wie auch die Grundrechtecharta im Bereich Daten- und Privatheitsschutz spätestens dort eine Grenze markieren, wo die staatlich veranlasste Datensammlung und -verwertung ein solches Ausmaß erlangt, dass der Bürger in allen seinen Tätigkeiten erfasst wird. Unter beiden Grundrechtsordnungen existiert daher ein Verbot der Totalerfassung des Bürgers.450 Bleibt nun die Frage zu klären, welche dogmatischen Anknüpfungspunkte die Grundrechtskataloge für dieses Verbot liefern bzw. welche Grundrechte zu dessen Begründung herangezogen werden. Die Beantwortung dieser Frage wird schließlich auch Aufschluss darüber geben, ob und, wenn ja, inwieweit der Privatheit- und Datenschutz unter dem Grundgesetz einerseits und der Grundrechtecharta andererseits von der Menschenwürdegarantie bestimmt ist – oder aus ihr hier Ge- und Verbote fließen. Das BVerfG hat das Verbot der Totalerfassung in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung nicht nur explizit benannt, sondern auch als von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Teil der verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet.451 Nähere Aussagen über die dogmatische Anknüpfung finden sich in dem Urteil dagegen nicht. In Betracht kommen dafür also entweder die in Art. 1 oder Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze. Naheliegend erscheint eine Herleitung aus Art. 1 Abs. 1 GG, der in seiner Ausprägung als Schutzinstitut gegen eine Verletzung der Integrität sowie der Autonomie des Menschen gerade höchstpersönliche Reservoire garantieren will.452 Das Verbot der Totalerfassung dürfte damit unmittelbar aus der Menschenwürdegarantie abzuleiten sein, die dadurch gezogenen Grenzen sind gem. Art. 79 III GG auch von dem verfassungsändernden Gesetzgeber zu achten.453 447

BVerfGE 125, 260 (324) – Vorratsdatenspeicherung. EuGH, Urt. v. 08. 04. 2014, Rs. C-293/12, ECLI:EU:C:2014:238 – Digital Rights/ Seitlinger, Rn. 72, nahezu wortgleich („Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“, „diffuse Bedrohlichkeit“) BVerfGE 125, 260 (335). 449 Auf eine identische Argumentation der Gerichte verweist auch Classen, Datenschutz ja – aber wie? Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 8. 4. 2014, EuR 2014, 441 (443). 450 Ausdrücklich Hufeld/Rathke, Der Grundrechtsschutz nach Lissabon im Wechselspiel zwischen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Europäischer Menschenrechtskonvention und den nationalen Verfassungen, EuR-Bei 2013, 7 (19); Skouris, Leitlinien der Rechtsprechung des EuGH zum Datenschutz, NVwZ 2016, 1359 (1364): „Generalpräventive Maßnahmen, die ohne konkreten Anlass und direkten Bezug zu bestimmten Personen den Behörden ermöglichen, Daten Massiv zu sammeln, minutiös auszuwerten und unterschiedslos zu übermitteln, sind nicht mit dem System von Grundwerten vereinbar, das der Europäischen Union eigen ist und diese einzigartige internationale Organisation auszeichnet.“ 451 BVerfGE 125, 260 (324) – Vorratsdatenspeicherung. 452 S. o. Kapitel 4 B. VI. 453 Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 53. Im Übrigen finden sich, soweit ersichtlich, weder in der Rechtsprechung des BVerfG noch in der Literatur weitere Ausführungen zu der 448

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Dagegen wird auf europäischer Ebene im Bereich der Datenerfassung und -sammlung sowie des Privatheitsschutzes im Allgemeinen nur der Wesensgehalt des Art. 7 GrCh, gerade aber nicht die Menschenwürde angeführt, wenn es darum geht, absolute Tabuzonen in diesem Bereich zu bestimmen.454 Zwar könnte man argumentieren, dass der Menschenwürdekern und der Wesensgehalt von Art. 7 GrCh weitestgehend deckungsgleich, wenn nicht gar identisch sind.455 Damit wäre auch die Argumentation des Gerichtshofs zum Wesensgehalt von Art. 7 GrCh als Argumentation zum Menschenwürdekern der Norm zu verstehen.456 Dies verkennt jedoch, dass gemäß den Chartaerläuterungen zu Art. 1 GrCh die Menschenwürde lediglich zum „Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört“457 – beide Institute aber gerade nicht deckungsgleich sein dürften, sondern der Wesensgehalt weiter als der Menschenwürdekern reichen dürfte.458 Überdies bleiben genaue Umrisse eines „Menschenwürdekerns“ der Unionsgrundrechte auf europäischer Ebene angesichts fehlender Rechtsprechung weitaus spekulativer, als dies – trotz vorhandener Aussagen des BVerfG – bereits auf nationaler Ebene der Fall ist.459 So kann der Wesensgehalt von Art. 7 GrCh nicht pauschal mit einem Menschenwürdekern der Norm gleichgesetzt werden. Etwaige Tabubereiche im Anwendungsbereich von Art. 7 GrCh, etwa das Verbot der Totalerfassung, sind daher auch nicht aus Art. 1 GrCh bzw. einem etwaigen Menschenwürdekern des Art. 7 GrCh, sondern allenfalls aus dem Wesensgehalt der Norm abzuleiten.460 Ob deswegen im Vergleich zum Grundgesetz ein Rechtsschutzdefizit besteht, hängt daher entscheidend davon ab, ob der Gerichtshof bei den Chartagrundrechten einem absoluten oder nur relativen Wesensgehaltsschutz zuneigt. Nur in erstgenanntem Fall könnte von einem strukturellen Gleichklang der beiden Grundrechtsebenen im Hinblick auf „unmögliche“ Grundrechtseingriffe im Bereich des Privatheitsschutzes ausgegangen werden. Dagegen müsste im Fall einer nur relativen Frage, aus welchem der in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen das Verbot der Totalerfassung abzuleiten ist. 454 EuGH Urt. v. 21. 12. 2016, Rs. C-203/15, ECLI:EU:C:2016:970 – Tele2Sverige/Postoch telestyrelsen, Rn. 81 ff. 455 So Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 23: „Damit weist sie [die Wesensgehaltsgarantie, C.L.] engste Berührung zum Grundsatz und Grundrecht der Menschenwürde auf. […] Der Menschenwürdekern und der Wesensgehalt, „le contenu essentiel“, „the essence“ der Grundrechte dürften sich daher weitestgehend decken, wenn nicht übereinstimmen.“ 456 So die Deutung bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 23. 457 Charta-Erläuterungen zu Art. 1. 458 Zustimmend Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 246; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 167. 459 Grundlegend Dürig, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Vorauflage GG, Art. 1 Rn. 10 ff., 81 ff. 460 Dagegen leiten Hufeld/Rathke das Verbot der Totalerfassung aus Art. 1, 7 und 8 GrCh her, Hufeld/Rathke, Der Grundrechtsschutz nach Lissabon im Wechselspiel zwischen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Europäischer Menschenrechtskonvention und den nationalen Verfassungen EuR-Bei 2013, 7 (19).

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 205

Wirkungsweise der Wesensgehaltsgarantie lediglich von einer Verstärkung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, nicht jedoch von einer selbstständigen Bedeutung derselben ausgegangen werden.461 Während Entstehungsgeschichte, Wortlaut und systematische Stellung von Art. 52 Abs. 1 GrCh für einen eigenständigen (und damit absoluten) Gehalt der Wesensgehaltsgarantie sprechen, neigt der EuGH in seiner Rechtsprechung bislang wohl einem unselbstständigen, mithin relativen Gehalt der Norm zu.462 Die Frage ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend zu beantworten. Vielmehr bleibt abzuwarten, ob und wenn ja inwieweit der Gerichtshof einen absoluten Gehalt der Wesensgehaltsgarantie anerkennt und damit auch für die Fälle, in denen ein Verstoß gegen die Menschenwürde nicht vorliegt, absolut geschützte Grundrechtsbereiche über die Wesensgehaltsgarantie schützt. Bei alldem ist zu beachten, dass es sich bei dem Vorstehenden zunächst um eine theoretisch-dogmatische Frage handelt und dass sich die bestehenden Unterschiede bislang nicht im tatsächlichen Grundrechtsniveau niedergeschlagen haben. Gleichwohl sind diesbezügliche Konkurrenzsituationen zwischen den Grundrechtsebenen auch in der Praxis denkbar.463 Im Fall der Vorratsdatenspeicherung lässt der EuGH jedoch bislang – trotz eines fehlenden Würdebezugs der Art. 7 und 8 GrCh und trotz Unsicherheit hinsichtlich der (absoluten) Wirkungsweise der Wesensgehaltsgarantie – keine lockereren Prüfungsmaßstäbe als das BVerfG erkennen464, sodass er insgesamt auch als „datenschutzfreundliches Gericht“ wahrgenommen wird.465 Rechtsschutzdefizite auf Ebene der Europäischen Union sind vor diesem Hintergrund auf dem Gebiet des Datenschutzes ebenso wenig auszumachen wie eine grundlegende Divergenz zwischen Grundgesetz und Grundrechtecharta. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass sich die verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte gerade im Hinblick auf die Würdegarantie unterscheiden.

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Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 23. Näher dazu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 52 Rn. 23. 463 Dass eine „Konkurrenzsituation“ zwischen den beiden Grundrechtsebenen (und damit dem BVerfG und dem EuGH) angesichts der Geltung beider Grundrechtskataloge im Themenbereich der Vorratsdatenspeicherung auftreten und zu unterschiedlichen rechtlichen Bewertungen der Höchstgerichte führen kann, zeigen Schiedermaier/Mrozek, Die Vorratsdatenspeicherung im Zahnräderwerk des europäischen Mehrebenensystems, DÖV 2016, 89 (91 ff., ins. 97): „Eine derartige Konstellation würde eine neue Dimension des ,Kooperationsverhältnisses‘ der beiden Gerichte darstellen.“ 464 Sogar strengere Maßstäbe des EuGH bei der Prüfung Verhältnismäßigkeit sieht Roßnagel, Die neue Vorratsdatenspeicherung, NJW 2016, 533 (539); s. auch Skouris, Leitlinien der Rechtsprechung des EuGH zum Datenschutz, NVwZ 2016, 1359 (1364). 465 Schiedermaier/Mrozek, Die Vorratsdatenspeicherung im Zahnräderwerk des europäischen Mehrebenensystems, DÖV 2016, 89 (96); Skouris, Leitlinien der Rechtsprechung des EuGH zum Datenschutz, NVwZ 2016, 1359 (1361). 462

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

V. Menschenwürde und Lebensrecht Mit dem Satz „Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde“ hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1975 die besondere Nähe zwischen den beiden Fundamentalgarantien herausgestellt, die nunmehr auch die Grundrechtecharta in ihrem ersten Titel widerspiegelt. Mit dem Satz ist zunächst nur ein Grundierungsverhältnis beschrieben, er kann in seiner Einfachheit allerdings nicht über das in mancher Hinsicht verschränkte und spannungsreiche Verhältnis der beiden Rechte hinwegtäuschen: So ist zu beobachten, dass bei Themen, die primär das Recht auf Leben anbelangen, häufig zugleich mit der Menschenwürde argumentiert wird – wie umgekehrt bei zuvörderst die Menschenwürde betreffenden Themen das Lebensrecht, und hierin etwa Fragen nach Beginn und Ende des Lebens, häufig eine gewichtige Rolle einnimmt. Die Konstellationen reichen dabei von gegenseitiger Schutzverstärkung bzw. Kopplung (so bei den Entscheidungen des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch) bis hin zu einem möglichen Widerstreit der beiden Rechte, wie er zuweilen bei der Diskussion um Selbstbestimmung über das Lebensende zu beobachten ist.466 Damit sind die beiden Hauptthemen, die das Verhältnis von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht betreffen und im Folgenden näher untersucht werden sollen, bereits angesprochen: die verfassungsrechtliche Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs einerseits und die der Sterbehilfe andererseits. Bei den zugrundeliegenden Konstellationen handelt es sich in aller Regel um Schutzpflichtenkonstellationen, da Schwangerschaftsabbrüche regelmäßig von Privaten durchgeführt werden und auch die Anbieter von Sterbehilfe keine staatlichen Akteure darstellen. In der Folge ist zu beachten, dass die richterliche Prüfdichte hier grundsätzlich zurückgenommen und die aus dem Verfassungsrecht fließenden Vorgaben daher im Vergleich zur klassischen Abwehrsituation eingeschränkt sind.467 Die gleichwohl hohe Prüfdichte in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch und die darin enthaltenen genauen Vorgaben für den Gesetzgeber468 verdeutlichen vor diesem Hintergrund nicht nur die ausgeprägte Sensibilität des BVerfG für das Thema. Zugleich kommt darin zum Ausdruck, dass dem Verfassungsrecht jedenfalls in Deutschland in dieser Frage eine hohe Bedeutung zukommt und der Spielraum des Gesetzgebers hier beachtlich eingeschränkt ist. Gleiches gilt spätestens seit dem Urteil des BVerfG zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aus dem Jahr 2020 auch für den Themenbereich der Sterbehilfe.

466

Angedeutet bei Hufen, In dubio pro dignitate – Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849 (850 ff.); s. aber nunmehr BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 204 ff. – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 467 S. dazu Volkmann, Staatsrecht II – Grundrechte, S. 75 f. Rn. 55 ff. m.w.N. 468 S. o. Kapitel 3 C. III. 1.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 207

Inwiefern dies im europäischen Vergleich als eine Selbstverständlichkeit gelten kann und die „deutsche Perspektive“ auf diese Problemfelder keinen Sonderfall darstellt, ist näher zu untersuchen. 1. Schwangerschaftsabbruch Die maßgeblichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch entstammen in den meisten Mitgliedstaaten der EU dem Regelungsbereich des materiellen (Kern-) Strafrechts, einem Bereich also, in dem die EU zum jetzigen Zeitpunkt keine bzw. nur sehr eingeschränkte Regelungskompetenzen besitzt.469 Da die Anwendung der jeweiligen nationalen Strafvorschriften keine Durchführung von Unionsrecht darstellt, sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich auch nicht an die europäischen Grundrechte nach Art. 51 Abs. 1 GrCh gebunden. Es handelt sich zunächst also um eine rein nationale Regelungsmaterie. Gleichwohl zeigt die Rechtsprechung des EuGH, dass auch im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs Konstellationen absehbar sind, die die rein nationalen Rechtsordnungen verlassen und eine unionsweit einheitlichen Entscheidungen verlangen.470 Im Kern führt sich hier unter anderem der Streit fort, inwieweit das vorgeburtliche Leben unter dem Grundgesetz und der Charta vom Menschenwürde- und/oder Lebensschutz umfasst ist. Dass unter beiden Regimen ein grundlegender Schutz, im Einzelnen allerdings mit erheblichen Unterschieden, besteht, das werdende Leben also nicht gänzlich schutzlos gestellt ist, wurde bereits früher dargelegt.471 Gerade die dort aufscheinenden grundlegenden Unterschiede sind es jedoch, die zu einer un469 Zu beachten sind die Kompetenzen der EU im Bereich grenzüberschreitender Straftaten, die in Art. 83 AEUV niedergelegt sind. Das BVerfG hat in seiner Lissabon-Entscheidung eine restriktive Auslegung dieser Kompetenzen gefordert, s. BVerfGE 123, 267 (410 f.); s. aber Ambos/Rackow, Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, ZIS 2009, 397 (401), die vor einer Ausweitung der Kompetenzen warnen und Art. 82 Abs. 2 AEUV als das „breiteste Einfallstor für unterlegitimierte Strafrechtsharmonisierung“ bezeichnen. 470 S. hierzu EuGH, Urt. v. 04. 10. 1991, Rs. C-159/90, ECLI:EU:C:1991:378, Slg. 1991, I-04685 – Grogan. Der Gerichtshof ordnete hier den Schwangerschaftsabbruch als Dienstleistung ein, wodurch allein jedoch noch kein Werturteil des Gerichtshofs getroffen wurde. Allerdings lösen nationale Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit die Bindung an unionale Grundrechte aus, weshalb sich diese Beschränkungen an den Unionsgrundrechten messen lassen müssen. Im in Rede stehenden Fall entging der EuGH einer Entscheidung lediglich dadurch, dass er den Zusammenhang zwischen der Dienstleistung und der darauf bezogenen Werbung aufgrund fehlenden Auftrags für so schwach befand, dass das Verbot der Werbung nicht auch gleich einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit darstellt. Dieser Lösungsweg mag gesucht wirken; es zeigt sich aber jedenfalls, dass der EuGH zu einer weitergehenden Antwort gezwungen gewesen wäre, wenn der Ausgangssachverhalt nur minimal anders gelegen hätte. Zu dann möglichen Maßnahmen zur Konfliktvermeidung im Rahmen von sogenannten ERTKonstellationen s. jedoch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 380 ff., wonach den Mitgliedstaaten bei der Beschränkung von Grundfreiheiten weite Spielräume belassen sein sollen. 471 S. o. Kapitel 4 D. II.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

terschiedlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs nach dem Grundgesetz auf der einen und der Charta auf der anderen Seite führen können, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. a) Unter dem Grundgesetz Zumindest die verfassungsrechtliche Lage zum Schwangerschaftsabbruch kann in Deutschland trotz einer nach wie vor bestehenden Spannung zwischen dem einfachen Recht, der gesellschaftlichen Praxis und dem Verfassungsrecht als konsolidiert gelten.472 Sowohl nach der Rechtsprechung als auch der nach wohl überwiegender Meinung in der Literatur stellt der Schwangerschaftsabbruch eine Verletzung des Lebensrechts und der Menschenwürde des Ungeborenen dar, die als Unrecht anzusehen und mit den Mitteln des Strafrechts zu sanktionieren ist.473 Die Mutter trifft nach dieser Konzeption eine dauerhafte Rechtspflicht zum Austragen des Kindes, von der sie nur in engen Ausnahmefällen befreit werden kann. Ihre eigenen Rechte, vor allem aus Art. 2 Abs. 1 GG, sind zwar zu berücksichtigen, finden jedoch grundsätzlich ihre Grenzen in den Rechten anderer, hier des Lebens- und Menschenwürdeschutzes des Nasciturus. Dies gilt zumindest insoweit, als nicht auch ihre Rechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) in Extremfällen, etwa bei drohendem Tod der Schwangeren, betroffen sind. Die Rechte der Schwangeren können demnach von vornherein „nie die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen oder sie gar mit dem Leben selbst zu zerstören, am wenigsten dann, wenn nach der Natur der Sache eine besondere Verantwortung gerade für dieses Leben besteht“474. Stattdessen liegt in dem Schwangerschaftsabbruch ein dauerhaftes Unrecht, das von Seiten des Gesetzgebers zwingend als solches zu behandeln und unter keinen Umständen als rechtmäßig zu qualifizieren ist.475 Die davon abweichenden Meinungen, wonach der Abbruch nicht kategorisch Unrecht darstellen soll und generell zwischen der Schutzpflicht des Gesetzgebers gegenüber dem Nasciturus und den Rechtspositionen der Schwangeren ein verhältnismäßiger Ausgleich zu schaffen sei, haben in der Diskussion zwar nach und nach Raum gegriffen und sind mittlerweile durchaus zahlreich.476 Gleichwohl sind sie mit der Rechtsprechung des BVerfG nicht in Einklang zu bringen, sodass sie insgesamt nicht auf die Verfassungsrechtslage durchschlagen. 472 Zum Auseinanderfallen des verfassungsrechtlichen Anspruchs und der gesellschaftlichen „Wirklichkeit“ Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 44. 473 BVerfGE 1, 39 (42 ff.) – Schwangerschaftsabbruch I; statt vieler Di Fabio, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Rn. 44. 474 BVerfGE 1, 39 (43) – Schwangerschaftsabbruch I. 475 BVerfGE 39, 1 (44) – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 88, 203 (252 ff.) – Schwangerschaftsabbruch II. S. auch Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 216. 476 Die Position bereits in BVerfGE 88, 203, 338 (340 f.), Sondervotum der Richter Mahrenholz und Sommer; s. auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 83.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 209

b) Unter der Grundrechtecharta Als im Vergleich deutlich unbestimmter und unübersichtlicher gestaltet sich die Lage unter der Grundrechtecharta. Hier ist bereits fraglich, ob die Menschenwürde als Schutzgut tangiert sein, inwieweit der Schwangerschaftsabbruch also überhaupt unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde debattiert werden soll. Eine schlichte, unkritische Übertragung der unter dem Grundgesetz herrschenden Lehre, wonach die Menschenwürde den Grund des Schutzes für das ungeborene Leben bildet, sie als solche bei der verfassungsrechtlichen Bewertung daher auch als betroffenes Schutzgut heranzuziehen ist, dürfte allein aufgrund der heterogenen Verfassungsüberlieferungen und Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten nicht gelingen. Zwar zeugt die systematische Stellung der prima facie einschlägigen Rechte aus Art. 2 und 3 GrCh von ihrer Nähe zur Menschenwürdegarantie. Dass der Gerichtshof aber eine Kopplung der Rechte im Sinne der „in Verbindung mit“- Rechtsprechung des BVerfG vornehmen wird, ist damit allerdings noch nicht entschieden. Rückschlüsse auf die grundsätzliche (Un-)Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen könnten eventuell aus Art. 3 GrCh, konkret aus dem Verbot aus Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh, gezogen werden. Danach unterliegen „eugenische Praktiken, insbesondere diejenigen, welche die Selektion von Menschen zum Ziel haben“ unter der Grundrechtecharta einem grundsätzlichen Verbot. Aufgrund der begrifflichen Offenheit der Norm („insbesondere“) könnte das Verbot auch „eugenisch“ motivierte Schwangerschaftsabbrüche umfassen. Gegen ein solches Normverständnis sprechen jedoch die Chartaerläuterungen zu Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh : Danach soll das Verbot die Organisation und Durchführung von Selektionsprogrammen wie etwa Sterilisierungskampagnen, erzwungene Schwangerschaften sowie die Pflicht, den Ehepartner in der gleichen Volksgruppe zu wählen, umfassen.477 Die Erläuterungen verweisen dabei auf das am 17. 07. 1998 in Rom verabschiedeten Statut des IStGH478 (Artikel 7 Abs. 1 Buchst. g), wonach solche Handlungen als international geächtete Verbrechen betrachtet werden. Erfasst werden von dem Statut jedoch lediglich solche Praktiken, die „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ begangen werden.479 Daraus wird für die Chartaerläuterungen und in der Folge für Art. 3 GrCh überwiegend geschlossen, dass das Verbot nur als Mittel gegen organisierte und kollektive, in der Regel also staatlich verordnete oder zumindest geduldete480 Formen eugenischer Handlungen zu begreifen sei.481 Daher 477

Chartaerläuterungen zu Art. 3 – Recht auf Unversehrtheit, 3. Erläuterung. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs v. 17. 07. 1998, A/CONF.183/9. 479 S. Artikel 7 Abs. 1 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. 07. 1998: „Im Sinne dieses Statuts bedeutet ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ jede der folgenden Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird.“ 480 Nach teilweise vertretener Auffassung sollen von dem Verbot auch nichtstaatliche Akteure wie Bürgerkriegsparteien erfasst werden, sodass es danach entscheidend auf das Organisationsvermögen zur Durchführung der Maßnahmen ankommen soll, s. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Abs. 2 Rn. 44. 478

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

unterliege eine „private Eugenik von unten“, etwa in Gestalt eugenisch motivierter Schwangerschaftsabbrrüche ohne staatlichen Zwang, von vornherein nicht dem Verbot aus Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh.482 Demgegenüber finden sich Stimmen in der Literatur, die auch Formen „privater Eugenik“ von dem Verbot in Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh erfasst sehen.483 Für dieses Verständnis streite zunächst der offene Begriff der Eugenik, welcher grundsätzlich alle Maßnahmen umfasse, die die Fortentwicklung des Menschen generationsübergreifend steuern sollen484 – worunter also auch entsprechend motivierte Schwangerschaftsabbrüche zu subsumieren wären. Ferner umfasse die Aufzählung in Art. 7 des Statuts auch Handlungen wie Vergewaltigung und sexuelle Sklaverei, die dem Verbot in 3 Abs. 2 GrCh erkennbar nicht unterfallen sollen. Die Aufzählung sei daher weder abschließend noch als verbindlich für die Auslegung der Chartanorm anzusehen, sodass daraus nur sehr begrenzt Schlüsse auf die normative Reichweite von Art. 3 Abs. 2 GrCh zu ziehen seien.485 Eine endgültige Aussage darüber, ob Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh auch eugenisch motivierte Schwangerschaftsabbrüche umfasst, ist der Charta daher insgesamt nicht zu entnehmen. Wirft man einen Blick auf die Rechtserkenntnisquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, ergibt sich das folgende Bild: Die EMRK belässt, wie bereits gesehen, den Mitgliedstaaten bei der Frage nach Beginn des Lebensschutzes aus Art. 2 EMRK einen weiten Beurteilungsspielraum. Da neben diesem persönlichen Schutzbereich auch der sachliche Schutzbereich von Art. 2 EMRK in dieser Frage ungeklärt ist486, lassen sich aus der EMRK keine Direktiven für eine etwaige Schutzpflicht nach der Grundrechtecharta entnehmen. Die Verfassungsüberlieferungen und -praktiken der Mitgliedstaaten offenbaren zwar einen Grundkonsens im Hinblick auf einen grundsätzlichen Schutz des ungeborenen Lebens487, im Einzelnen divergieren die Schutzniveaus im Hinblick auf die (Un-)Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen jedoch erheblich. Das Spektrum reicht von nahezu absoluten Verboten bis zur zeitlich nahezu unbegrenzten Zulässigkeit. Ein strenges Abtreibungsverbot auf verfassungsrechtlicher Ebene existiert in der irischen Verfassung;488 in Malta ist die Abtreibung einfachgesetzlich nahezu ausnahmslos verboten.489 Ähnlich gestaltet sich die Lage in Polen.490 481

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Abs. 2 Rn. 44. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Abs. 2 Rn. 44 m.w.N. 483 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 297 Rn. 978; Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 19 484 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 297 Rn. 978; Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 19. 485 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 296 Rn. 977; Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 19. 486 Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 10 Rn. 87. 487 S. o. Kapitel 4 D. II. 488 Art. 40.3.3 lautet: „The State acknowledges the right to life of the unborn and, with due regard to the equal right to life of the mother, guarantees in its laws to respect, and, as far as practicable, by its laws to defend and vindicate that right.“ Allerdings fand über das Abtrei482

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 211

In den übrigen Mitgliedstaaten findet sich auf einfachgesetzlicher Ebene eine Bandbreite von Regelungsmodellen, die sich sowohl hinsichtlich des Regelungsbereichs der Materie, der Einordnung der Handlung in Deliktsgruppen als auch hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Tatbestände unterscheiden.491 Die Ausgestaltung der überwiegend dem Strafrecht zuzuordnenden Normen492 unterscheidet sich ihrerseits hinsichtlich der Indikatoren, die eine Abtreibung indizieren, sowie der zu beachtenden Fristen und gegebenenfalls zu beachtenden Verfahrensvorschriften.493 Im Ganzen lassen sich – bei Ausblendung von Extrempositionen und unter einer notwendigen Vergröberung der Perspektive – im europäischen Ländervergleich nach Eser und Koch drei Kategorien von Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch typisieren, die im Hinblick auf ihre jeweiligen Grundannahmen strukturell unterschieden sind. Es handelt sich bei den drei Modellen um ein restriktives, ein permissives und schließlich ein notlagen-orientiertes Diskursmodell.494 Das restriktive Regelungsmodell – wie es etwa neben Malta und Polen in Portugal, Spanien, Ungarn, Deutschland und Finnland herrscht – zeichnet sich dadurch aus, dass es von den verschiedenen zu gewichtenden Rechtsgütern das Lebensrecht und, wo eine Kopplung der Rechte vorgenommen wird, das Recht auf Achtung der Menschenwürde des Nasciturus am stärksten gewichtet und folglich den Schwangerschaftsabbruch einem grundsätzlichen Verbot unterwirft. Das auf der anderen Seite des Spektrums lokalisierte Modell – der Einfachheit halber permissives Modell genannt – unterscheidet sich nicht nur durch die konträre Gewichtung der kollidierenden Rechtsgüter, sondern bereits durch die grundsätzliche Zuordnung der Abtreibung zur geschützten Rechtssphäre der Schwangeren. Ihren Freiheitsrechten wird in der Folge bei der Abwägung grundsätzlich größeres bungsverbot bei einer vorangegangenen Vergewaltigung im Jahr 2018 ein Volksentscheid statt, der die Straflosstellung der Abtreibung für die Fälle der Vergewaltigung, des Inzest oder einer Missbildung des Fötus zur Folge haben wird, s. hierzu FAZ v. 26. 05. 2018, abrufbar unter http:// www.faz.net/aktuell/politik/ausland/irland-deutliche-mehrheit-stimmt-fuer-recht-auf-abtrei bung-15607641.html. 489 Vgl. EGMR, Urt. v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/05 – A, B und C gegen Irland, Rn. 175. 490 Vgl. Voss, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 122. 491 Näher hierzu Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, S. 43 ff. 492 Die Rechtsgebiete, in denen der Schwangerschaftsabbruch national geregelt wird, reichen von dem klassischen Strafrecht (etwa Irland, Deutschland, Luxemburg, Portugal, Griechenland, Polen) bis hin zu außerstrafrechtlichen Rechtsmaterien (etwa Dänemark, Schweden, Italien), ausführlich hierzu Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, S. 43 f. 493 Eser, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, S. 56 ff. 494 Eser, Schwangerschaftsabbruch und Recht. Vom internationalen Vergleich zur Rechtspolitik, S. 65 ff, daraus auch die näheren Beschreibungen der Modelle.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Gewicht eingeräumt, weshalb der Schwangerschaftsabbruch nach diesem Regelungsmodell weitgehend liberalisiert und nur in Ausnahmefällen mit Strafe belegt ist. Damit ist die Rechtslage etwa in Ländern wie Belgien, Dänemark, Österreich und Schweden beschrieben. Das notlagen-orientierte Modell zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass vor dem Hintergrund des vorrangigen Lebensrechts des Ungeborenen der Schwangerschaftsabbruch nur grundsätzlich rechtlich missbilligt ist. Umgesetzt wird dieses Modell durch Regelungen, die auf Beratung, Wahrung bestimmter Entscheidungsfristen und letztinstanzlich auf die freie Gewissensentscheidung der Schwangeren, sprich auf die Einhaltung gewisser Verfahrensschritte, zielen. Der Charakter des strafrechtlichen Verbots tritt dabei eher in den Hintergrund. Dieses Modell gilt – mit durchaus beachtlichen Unterschieden im Einzelnen – in Frankreich, Italien, Norwegen und Bulgarien. Die Verfassungsüberlieferungen und Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten erscheinen im Ganzen disparat. Es bleibt daher abzuwarten, welche Ergebnisse der vom EuGH praktizierte wertende Rechtsvergleich hier mit sich bringen wird. c) Ein Recht auf Abtreibung? Ein empfindlicher, nachgerade fundamentaler Unterschied zwischen der grundgesetzlichen und der unionsrechtlichen Ebene könnte sich aufgrund der unterschiedlichen normativen Zuordnung von Schwangerschaftsabbrüchen ergeben. Nach der Konzeption des Grundgesetzes stellt der Schwangerschaftsabbruch einen Eingriff in das Lebensrecht des Nasciturus dar, weshalb er auch regelmäßig unter diesem Topos diskutiert wird.495 Dies folgt, im Anschluss an das das in Deutschland geltende restriktive Regelungsmodell, aus der grundlegend stärkeren Gewichtung des Lebensrechts gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Mit dieser Grundsatzentscheidung sind Eingriffsrichtung und -charakter des Schwangerschaftsabbruchs definiert, woraus wiederum die grundlegende Verteilung der Rechtfertigungslast resultiert.496 Der Schwangerschaftsabbruch stellt sich danach als Eingriff in die Grundrechte des Ungeborenen dar, der als solcher per se rechtfertigungsbedürftig, aus Sicht des BVerfG jedoch grundsätzlich nicht rechtfertigungsfähig ist. Daher kommen erst auf dieser gedanklichen Stufe etwaige Rechtspositionen der Schwangeren zum Tragen, die als kollidierende Rechtsgüter in eine Güterabwägung mit dem Lebensrecht des Ungeborenen einfließen und – nur ausnahmsweise – zu einer Befreiung von der Rechtspflicht zum Austragen des Kindes 495 Auch wenn in der Öffentlichkeit gelegentlich ein „Recht auf Abtreibung“ postuliert wird, näher dazu Pabel, Recht auf Abtreibung – Reproduktive Rechte der Frau? Europäische Perspektiven, in: Büchner/Kaminski/Löhr (Hrsg.), Abtreibung – ein neues Menschenrecht?, S. 13 ff. 496 Steiner, Das Zweite Grundsatzurteil zum Schwangerschaftsabbruch – Ein Gericht zwischen Verfassung und gesellschaftlicher Moral, in: Piazolo (Hrsg.), Das BVerfG. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 111.

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führen können.497 Im Ganzen gilt danach, dass unter dem Grundgesetz das (Verfassungs-)Recht bildlich gesprochen „auf Seiten des Kindes“ und seines Lebensschutzes steht.498 Dagegen könnten auf chartarechtlicher Ebene die Abwägung und Gewichtung der kollidierenden Rechtsgüter dann anders verlaufen, wenn die rechtliche Zuordnung im Vergleich zum Grundgesetz divergiert. Sollte der Schwangerschaftsabbruch unter der Charta primär als geschütztes Verhalten im sachlichen Schutzbereich der Grundrechte – in Betracht kommt hier vor allem die Achtung des Privatlebens nach Art. 7 GrCh – verortet werden, oder das Unionsrecht gar ein Recht auf Abtreibung gewährleisten, wie es gerade auf europäischer Ebene immer wieder in die Diskussion gebracht wurde499, ergäbe sich daraus ein eklatanter Wertungsunterschied zur Konzeption des Grundgesetzes. Die Umkehrung des Lebensrechts hin zu einem Recht auf Abtreibung führte zu einer grundsätzlichen Gleichberechtigung der kollidierenden Rechtsgüter, was dem unter dem Grundgesetz geltenden Primat des Lebensrechts entgegenstehen würde. Dieser strukturelle Wertungsunterschied könnte sich künftig auch in bedenklichen Rechtsprechungsdivergenzen äußern, die nach Ansicht einiger Autoren sogar die Grenzen der grundrechtlichen Wertegemeinschaft Europas offenlegen könnten.500 Es fragt sich daher, ob der Schwangerschaftsabbruch unter der Grundrechtecharta als geschütztes Verhalten angesehen wird oder ob diese gar ein Recht auf Abtreibung verbürgt. Die Thematik ist – abgesehen von der Situation, dass durch die Schwangerschaft die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist und daher als einschlägige Grundrechte ihre Rechte aus Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 3 Abs. 1 GrCh heranzuziehen sind – in dem Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 7 GrCh zu verorten.501 Dieses schützt in seiner Ausprägung als Recht auf Selbstbestimmung über private und höchstpersönliche Angelegenheiten die Bestimmung über den eigenen Körper 497

BVerfGE 88, 203 (7. Leitsatz) – Schwangerschaftsabbruch II. Steiner, Das Zweite Grundsatzurteil zum Schwangerschaftsabbruch – Ein Gericht zwischen Verfassung und gesellschaftlicher Moral, in: Piazolo (Hrsg.), Das BVerfG. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 111, daraus auch die Formulierung. 499 Nachdem das Europäische Parlament einen ähnlichen Bericht im Jahre 2013 („EstrelaBericht“) noch ablehnte, nahm es den rechtlich nicht verbindlichen Bericht über die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Europäischen Union 2013 (2014/2217(INI)) – „Tarabella-Bericht“) im Jahre 2015 an, der folgenden Passus enthält: „Das Europäische Parlament verweist darauf, dass Frauen nicht zuletzt durch den einfachen Zugang zu Empfängnisverhütung und Abtreibung die Kontrolle über ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte haben müssen.“ 500 Auf die „Grenzen der Wertegemeinschaft Europa“ im Kontext der Abtreibungsproblematik verweist etwa Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 2 Rn. 30; Borowsky, Wertkonflikte in der Europäischen Union – Eine Problemskizze, in: Derra (Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht. FS Meyer, S. 59. 501 In englischsprachigen Kommentaren wird als betroffenes Recht der Schwangeren, allerdings ohne Begründung und daher nicht überzeugend, auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 Abs. 1 GrCh genannt, s. etwa EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Art. 2 IV 2. 498

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

sowie die sexuelle Selbstbestimmung bis hin zur Entscheidung über die eigene Fortpflanzung.502 Für die Auslegung von Art. 7 GrCh maßgeblich ist Art. 8 EMRK, dem das Chartagrundrecht gemäß den Erläuterungen entsprechen soll.503 Nach der Rechtsprechung des EGMR verbürgt Art. 8 EMRK ausdrücklich zwar kein Recht auf Abtreibung.504 Gleichwohl hat der Gerichtshof seinen zunächst verfolgten Grundsatz der eingeschränkten Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK im Kontext der Abtreibung nach und nach gelockert, sodass das Recht auf Achtung des Privatlebens eine zunehmend stärkere Gewichtung gegenüber den Rechten des Ungeborenen erfahren hat.505 Dies fügt sich in die allgemeine Tendenz des EGMR, das Recht auf Privatsphäre aus Art. 8 EMRK, das als solches im Grundgesetz nicht existiert, zunehmend als eines der wichtigsten Rechte der EMRK zu etablieren, was sich nunmehr in einer reichen Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK niedergeschlagen hat.506 Im Übrigen werden auch in der Literatur die Stimmen nach der Anerkennung von reproductive health Rechten unter der EMRK immer lauter, die grundsätzlich auch ein Recht auf Abtreibung umfassen sollen.507 Nach der EMRK also stehen sich bei dem Schwangerschaftsabbruch ein zunehmend stärker gewichtetes Recht aus Art. 8 EMRK und Rechte des Ungeborenen gegenüber – wobei für letztere aufgrund bislang unklarer Rechtsprechung des EGMR noch nicht einmal gewiss ist, wie ausgeprägt dieser Schutz im Vergleich zum geborenen Menschen ist bzw. inwiefern das ungeborene Leben an den Rechten aus der EMRK überhaupt teilhat.508 Daher folgt aus Art. 8 EMRK für die Auslegung von Art. 7 GrCh lediglich, dass die EMRK zwar kein Recht auf Abtreibung gewährleistet, dem Recht auf (sexuelle) Selbstbestimmung allerdings grundsätzlich hohe Bedeutung beizumessen ist. Nichts anderes dürfte aufgrund der Transferklausel in Art. 52 Abs. 3 GrCh für das Recht aus Art. 7 GrCh gelten. Dass das europäische Verfassungsrecht wie das Grundgesetz prinzipiell „auf Seite des ungeborenen Lebens“ steht, ist damit zu bezweifeln.

502

Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 7 GrCh Rn. 4. Charta-Erläuterungen zu Artikel 7 GrCh. 504 Vgl. EGMR, Urt. v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/05 – A, B und C gegen Irland, Rn. 214; EGMR, Urt. v. 30. 10. 2012, Nr. 57375/08 – P. und S. gegen Polen, Rn. 96. 505 S. dazu Kirchner, Grenzen des vorgeburtlichen Lebensschutzes in der Rechtsprechung des EGMR, ZfL 2015, 17 (19). 506 Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 7 Rn. 19; Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/ Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 16 Rn. 16 ff. 507 Exemplarisch Westeson, Reproductive health information and abortion services: Standards developed by the European Court of Human Rights, International Journal of Gynecology and Obstetrics 122 (2013), 173 (175 f.). 508 Dazu s. o. Kapitel 4 D. II. 503

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d) Im Ergebnis: Normative Unsicherheiten In der Gesamtschau bleibt daher bei der Frage nach der rechtlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs einmal mehr Ungewissheit. Ein Maß an Stabilität, wie es die verfassungsrechtliche Lage trotz beharrlicher Kritik in Deutschland erreicht hat, lässt das Unionsrecht vermissen. Zwar hält die Charta grundsätzlich das Potenzial für ein dem deutschen Grundgesetz vergleichbares Schutzniveau bereit;509 angesichts ihrer normativen Offenheit ist aber auch der gegenteilige Befund denkbar.510 Insgesamt ist zu bezweifeln, dass die unionalen Grundrechte hier überhaupt eine dem Grundgesetz vergleichbare Regelungsdichte und einen vergleichbaren normativen Anspruch in sich tragen.511 Ein Recht auf Abtreibung, das die Gewichtung der Rechtsgüter unter dem Grundgesetz prinzipiell konterkarieren würde, ist weder dem Unionsrecht noch der Menschenrechtskonvention zu entnehmen.512 Es bleibt jedoch unabhängig davon abzuwarten, wie die europäischen Gerichte die betroffenen Rechtsgüter gewichten werden. Voraussetzung für eine mit dem Grundgesetz vergleichbare verfassungsrechtliche Zuordnung ist dabei zunächst, dass die Charta einen vorgeburtlichen Lebensschutz überhaupt gewährleistet, der den Rechtspositionen der Schwangeren gegenübersteht. Dass der Gerichtshof künftig von einem grundsätzlichen Primat des Lebensrechts des Ungeborenen ausgehen und damit ein dem Grundgesetz vergleichbares Schutzniveau etablieren wird, ist angesichts der stark divergierenden Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten jedoch zu bezweifeln. 2. Sterbehilfe / Sterben in Würde Auch das Thema Sterbehilfe ist im Strafrecht zu verorten und gehört daher nach wie vor zum Kernbereich mitgliedstaatlicher Gesetzgebungskompetenzen. Wie im Problemkreis des Schwangerschaftsabbruchs sind jedoch auch hier Konstellationen denkbar, die eine Grundrechtsbindung an die Unionsrechte auslösen können.

509 Mit Blick auf Art. 7 GrCh etwa Weber, in: Sachs (Hrsg.), GrCh, Art. 7 Rn. 24: „Die Vorschrift schließt auch nicht ein generelles Verbot der Abtreibung aus“. 510 Unklar dagegen etwa Jarass, in: ders. (Hrsg.), GrCh, Art. 7 Rn. 8: „Auch die Abtreibung fällt in den Schutzbereich.“, unter Bezugnahme auf EGMR, Urt. v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/05 – A, B und C gegen Irland, Rn. 213 f. 511 Nach Dupré sollen der Komplex Schwangerschaftsabbruch daher nahezu vollständig dem Gesetzgeber überantwortet und für den Bereich des vorgeburtlichen Würde- und Lebensschutzes ausschließlich politische Entscheidungen gefragt sein, während das (Verfassungs-)Recht selbst Raum für „flexible Lösungen“ biete, s. Dupré, in: Peers/Harvey/Kenner/ Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 1 Rn. 01.30. 512 Weber, in: Sachs (Hrsg.), GrCh, Art. 7 Rn. 24; für das Recht der EMRK s. EGMR, Urt. v. 16. 12. 2010, Nr. 25579/05 – A, B und C gegen Irland, Rn. 214; EGMR, Urt. v. 30. 10. 2012, Nr. 57375/08 – P. und S. gegen Polen, Rn. 96.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

a) Zur Terminologie Während in einigen Mitgliedstaaten ein unbefangener Umgang mit dem Begriff „Euthanasie“ gepflegt wird, ist dieser Begriff im deutschen Diskurs angesichts der historischen Erfahrungen ungebräuchlich.513 Stattdessen findet sich hier eher der – gleichwohl umstrittene – Begriff der Sterbehilfe, der seinerseits aus verfassungsrechtlicher Perspektive514 überwiegend in die indirekte, die passive und die aktive Sterbehilfe unterteilt wird.515 Als indirekte Sterbehilfe bezeichnet man die Verabreichung von schmerzbekämpfenden Medikamenten bei unheilbar Erkrankten, die den Eintritt des Todes zwar „als Nebenwirkung“ beschleunigen können, jedoch primär auf die Schmerzlinderung abzielen. Dagegen bedeutet aktive Sterbehilfe die gezielte todbringende oder todbeschleunigende Handlung in Gestalt aktiven Tuns. Passive Sterbehilfe schließlich beschreibt das Sterbenlassen bei bereits moribunden Patienten durch Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, wobei der Sterbevorgang jedoch noch nicht begonnen haben muss. Die Abgrenzung im Einzelfall ist angesichts der Vielzahl denkbarer Konstellationen schwierig, teilweise auch nicht konsistent aufrechtzuerhalten; die Unterteilung ist aber verfassungsrechtlich geboten, da nur so kategoriale Grundaussagen zum Verhältnis der betroffenen Rechtsgüter getroffen werden können.516 Da sich in dem Themenfeld Sterben und Sterbehilfe staatenunabhängig die Debatten zumindest hinsichtlich der verwendeten Argumente – Menschenwürde in der Ausprägung als Autonomieschutz verbunden mit einem Recht auf selbstbestimmtes Sterben auf der einen, Menschenwürde-, Lebens- und Integritätsschutz (als Schutzpflicht) auf der anderen Seite – ähneln dürften, kann die Diskussion in Deutschland als Blaupause für mögliche Argumentationsmuster herangezogen werden.517 Im Kern stellt sich demnach die Frage, wie weit das verfassungsrechtlich verbürgte, auch aus der Menschenwürde abgeleitete Recht auf Selbstbestimmung 513 Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden: Geschichte und Ehtik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 157; exemplarisch dagegen der Titel von Jackson/Keown: „Debating Euthanasia”. 514 Im Jahr 2010 (BGHSt 55, 191) hat der 2. Strafsenat des BGH in einem Grundsatzurteil die im Strafrecht bis dahin auch beim BGH geläufige Unterteilung der Sterbehilfe in drei Fallgruppen aufgegeben und stattdessen den übergreifenden Begriff „Behandlungsabbruch“ verwendet, s. dazu MüKo StGB Bd. 4, Vorbemerkungen zu den §§ 211 ff., Rn. 94 ff.. Die Kritik an der verfassungsrechtlichen Kategorisierung bei Höfling, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG, Art. 2 (3. Teil) Rn. 188. 515 Die folgenden Definitionen entstammen der Übersicht bei Schreiber, Das Recht auf den eigenen Tod – zur gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe, NStZ 1986, 337 (339 ff.). 516 S. auch Fink, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 88 Rn. 51 ff. 517 Dies gilt zumindest für die Diskussionen auf der Ebene des Verfassungsrechts und mit grundlegendem Charakter. Für die einfachgesetzlich-strafrechtliche Ebene dürfte eine Übertragung der Diskussionslinien bereits aufgrund tiefgreifender Strukturunterschiede der gesetzlichen Ausgestaltung nicht gelingen, s. hierzu Jacob, Aktive Sterbehilfe im Rechtsvergleich und unter der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 290.

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gegenüber anderen Rechtsgütern, insbesondere aber dem staatlichen Lebensschutzauftrag greift, und welche Rechtsfolgen die unterschiedliche Gewichtung dieser Rechtsgüter mit sich bringt. b) Indirekte Sterbehilfe Die verfassungsrechtliche Bewertung der indirekten Sterbehilfe dürfte, unabhängig von der untersuchten Grundrechtsebene, die am einfachsten gelagerte und unumstrittenste Konstellation darstellen. Da eine Behandlung mit schmerzlindernden Medikamenten die Subjektqualität des Menschen nicht in Frage stellt, sie ihn im Gegenteil als ärztliche Behandlungsmaßnahme durch Sedierung vor unerträglichen Schmerzen und letztlich vor einer Situation bewahrt, als Patient zum „Objekt der Apparatemedizin“ zu werden, steht das Verfassungsrecht dieser Form der Sterbehilfe nicht entgegen; vielmehr begründet es einen Anspruch auf entsprechende, zwar todbeschleunigende, aber schmerzlindernde Behandlungen.518 Ein solcher Anspruch lässt sich für das Grundgesetz aus der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, zudem direkt aus Art. 1 Abs. 1 GG ableiten.519 Über die Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe besteht soweit ersichtlich in allen Mitgliedstaaten der Union Konsens.520 Insofern stehen hinter den unter dem Grundgesetz geltenden Ansprüchen keine landesspezifischen Wertungen, sondern universelle Erfahrungen elementarer menschlicher Bedürfnisse. Unter der Charta könnte ein solcher Anspruch ebenfalls aus Art. 3 Abs. 1 Alt. 1 GrCh, daneben auch aus Art. 4 Var. 2 und unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GrCh abgleitet werden. c) Passive Sterbehilfe Schwieriger, wenngleich auch noch nicht als Konstellation mit dem höchsten Konfliktpotenzial, gestaltet sich die Bewertung der passiven Sterbehilfe. Da hierbei primär nicht die Schmerzlinderung, sondern die Beendigung eines aussichtslosen Leidens durch willentliche Herbeiführung des Todes durch Einstellen bzw. Verweigern lebensnotwendiger Maßnahmen im Zentrum der Behandlung steht, verlagern sich die anspruchsbegründenden Rechtspositionen des Patienten in der verfassungsrechtlichen Zuordnung vom Schutz der körperlichen Unversehrtheit hin zu seinem Recht auf Selbstbestimmung. Dieses soll unter anderem das Recht zur Selbstaufgabe und damit ein subjektives Recht auf Ablehnung lebensverlängernder Maßnahmen umfassen, was bisweilen als „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ 518 Ausführlich dazu Hufen, In dubio pro dignitate – Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849 (851), dort auch das Zitat. Zum Anspruch auf Leidenslinderung aus Art. 1 Abs. 1 GG LG Karlsruhe, NJW 1992, 756. 519 Hufen, In dubio pro dignitate – Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849 (851, 854). 520 Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 47; Faßbender, Lebensschutz am Lebensende und Europäische Menschenrechtskonvention, Jura 2004, 115 (117 f.).

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pointiert wird.521 Für beide Grundrechtsebenen gilt freilich, dass die Rechte des Patienten in dieser Konstellation nicht vorbehaltlos gewährleistet sind, sondern – je nach konkreter Situation – zunächst durch die Rechte anderer, etwa der Selbstbestimmung und Gewissensfreiheit des behandelnden Arztes, generell aber durch den objektivrechtlichen staatlichen Lebensschutzauftrag beschränkt sind. Mit diesem Verständnis hat das BVerfG in seinem Urteil vom 26. 02. 2020 jedoch weitgehend gebrochen.522 Zuvor bereits hatte das BVerwG im Jahr 2017 nach Auffassung von Beobachtern einen Paradigmenwechsel in der Rechtsprechung eingeläutet, indem es erstmals postulierte, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten beinhalte, darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll.523 Dem folgend ging das BVerwG davon aus, dass der Staat den Betroffenen im extremen Einzelfall den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren dürfe, das eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht.524 Hatte das BVerwG den legalen Zugang zur Sterbehilfe damit noch von der materiellen Voraussetzung abhängig gemacht, dass der Betroffene schwer und unheilbar krank ist, ging das BVerfG in seinem jüngsten Urteil über diesen Ansatz weit hinaus, indem es selbst eine derartige materielle Eingrenzung des neu etablierten „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ verwarf und das Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht

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Hufen, In dubio pro dignitate – Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849 (851); zu einem „Recht auf Sterben“, hergeleitet allerdings aus Art. 2 Abs. 2 GG, und nicht aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG: Höfling, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), GG, Art. 2 (3. Teil) Rn. 190. Aus der Rechtsprechung BVerwGE 158, 142 (2. LS). 522 BVerfG, Urt. vom 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15 – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 523 BVerwGE 158, 142, 2. LS. Das Urteil schließt einen über 12 Jahre langen Verfahrensgang durch mehrere Instanzen ab, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag: Eine an einer hochgradigen, fast kompletten Querschnittslähmung leidende Patientin beantragte beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im November 2004 die Erlaubnis zum Erwerb eine letalen Dosis eines Betäubungsmittels. Nachdem das BfArM diesen Antrag im Dezember desselben Jahres ablehnte, begab sich die Patientin mit ihrem Ehemann in die Schweiz, wo sie sich mit Hilfe des Sterbehilfevereins Dignitas das Leben nahm. Ihr Ehemann begehrte danach Feststellung, dass die behördliche Versagung rechtswidrig und das BfArM zur Erlaubniserteilung verpflichtet gewesen sei. Die Klage wurde zunächst vom VG Köln aufgrund fehlender Befugnis des Klägers abgewiesen, das dagegen eingelegte Rechtsmittel beim OVG Münster blieb ebenso wie die daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde beim BVerfG erfolglos. Der in der Folge angerufene EGMR bewertete die Ablehnung der Prüfung der Begründetheit durch die nationalen Gerichte als Verletzung von Art. 8 EMRK und verwies die Sache an das VG Köln zurück. Das VG Köln wie auch das OVG Münster hielten die Klage für unbegründet, auf die Revision des Klägers hin änderte das BVerwG schließlich die vorangegangenen Urteile und stellte die Rechtswidrigkeit des Versagungsbescheids fest. 524 BVerwG, Pressemitteilung Nr. 11/2017, abrufbar unter: http://www.bverwg.de/presse/ pressemitteilungen/pressemitteilung.php?jahr=2017&nr=11 (12. 4. 2017).

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und Lebensschutz fundamental neu strukturierte.525 Nach Auffassung des BVerfG verbürgt das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Ausdruck persönlicher Autonomie ein prinzipielles und unbedingtes Recht auf selbstbestimmtes Sterben.526 Dabei geht das Gericht davon aus, dass gerade die Menschenwürde – hier verstanden als Garantie allein für eine prinzipiell grenzenlose Selbstbestimmung – ein absolutes Recht zur selbstbestimmten Verfügung über das eigene Leben beinhaltet; die nach freiem Willen erfolgte Selbsttötung begreift es in der Konsequenz als ultimativen Ausdruck menschlicher Würde.527 Damit hat das BVerfG auch die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe – zur Bedeutung für die aktive Sterbehilfe s. u. – gegen Stimmen in der Literatur autoritativ entschieden.528 Auf europäischer Ebene hatte der EuGH über die Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe bisher nicht zu entscheiden. Ein mitgliedstaatlicher Vergleich zeigt, dass sich die gesetzliche Lage in der überwiegenden Anzahl der Unionsstaaten ähnlich der Lage in Deutschland gestaltet, die passive Sterbehilfe also überwiegend als zulässig erachtet wird.529 Da der Charta in dieser Frage selbst keine Direktiven zu entnehmen sind, bleibt zwar fraglich, ob und inwieweit die Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten für die Auslegung der Charta maßgeblich sein wird.530 Es zeichnet sich jedoch ein entsprechender Konsens dahingehnend ab, dass die passive Sterbehilfe im europäischen Recht zulässig sein soll. So wird auch deutlich, dass zumindest das BVerwG mit seinem Urteil aus dem Jahr 2017 parallel zu dem vom EGMR verfolgten Ansatz liegt, wonach Art. 8 EMRK das Recht einer Person beinhaltet, in bestimmten Ausnahmesituationen zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll, vorausgesetzt, dass sie ihren Willen frei bilden und entsprechend handeln kann.531 Die jüngste Rechtsprechung des BVerfG geht mit der Etablierung eines unentziehbaren Freiheitsrechts zur 525 BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15 – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 526 BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 211 – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 527 BVerfG, Urt. v. 26. 02. 2020, 2 BvR 2347/15, Rn. 211 – Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. 528 Aus der Literatur statt vieler Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 39, m.w.N. Gegen ein „Recht auf Sterben“ (ohne nähere Konkretisierung) Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 213 ff. Aus der Rechtsprechung vgl. BGHSt 40, 257 ff. Die Zulässigkeit der passiven Sterbehilfe entspricht allerdings auch dem einfachen Recht, vgl. nur BGHSt 55, 191. 529 S. etwa die Übersicht unter https://www.stiftung-patientenschutz.de/uploads/Sterbehilfe_ Europa_Uebersicht_20161026.pdf; für die Mitgliedstaaten des Europarats s. EGMR, Urt. v. 05. 06. 2015, Nr. 46043/14, Lambert gegen Frankreich, Rn. 147, hier jedoch mit der Betonung des EGMR, dass ein genereller Konsens zwischen den Mitgliedstaaten nicht bestünde. 530 Wenngleich der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 GrCh zum Teil gegen ein entsprechendes Recht angeführt wird, Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 2 GrCh Rn. 16. 531 EGMR, Urt. v. 20. 01. 2011, Nr. 31322/07 – Haas/Schweiz.

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Selbsttötung und dessen Verabsolutierung über die EGMR Rechtsprechung sogar weit hinaus. d) Direkte Sterbehilfe Ein Vergleich der rechtlichen Praxis in den Mitgliedstaaten der Union zeigt, dass sich bei der rechtlichen Bewertung der aktiven Sterbehilfe die Schere zwischen den Mitgliedstaaten weiter öffnet und daher tiefergehende Verwerfungen nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen grundgesetzlicher und chartarechtlicher Ebene auftun können. Unter dem Grundgesetz bleibt, auch nach der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG, die aktive Sterbehilfe verboten und gem. § 216 StGB strafbewehrt, da sie als Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewertet wird.532 Inwieweit das jüngste Urteil des BVerfG zum assistierten Suizid an dieser Bewertung etwas ändern wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Mit der Ebene der EMRK – und damit der unionsrechtlichen Ebene533 – besteht damit zumindest insoweit Einigkeit, als sich aus den drei Grundrechtskatalogen kein Anspruch auf aktive Sterbehilfe ableiten lässt.534 Dass das Konventionsrecht und damit das Unionsrecht der aktiven Sterbehilfe entgegenstehen, ist allerdings zu bezweifeln. Der Charta selbst sind hier abermals kaum Argumente zu entnehmen – eine Folge der höchst kontroversen Debatten im Grundrechtskonvent, bei denen keine Einigung über den Normgehalt von Art. 2 zu diesem Punkt erzielt werden konnte.535 Der EGMR ließ die Frage der generellen Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe ebenso offen wie die Frage, inwieweit mitgliedstaatliche Regelungen, die die aktive Sterbehilfe straffrei stellen, der Konvention entgegenstehen.536 In seinen Urteilen betonte der EGMR zumindest, dass die Rechtspositionen des Patienten in seinem Recht auf Achtung der Privatheit aus Art. 8 532 BVerfGE 76, 248 (252) – Sterbehilfe; BGH, Urt. v. 20. 5. 2003, NJW 2003, 2326 (2327); aus der Literatur Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStRVI, 1. Aufl. 1989, § 128 Rn. 66; kategorisch jede Form von Sterbehilfe ablehnend Leisner, Das Recht auf Leben, S. 39 f.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 Rn. 39, m.w.N. A.A. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs.2 Rn. 64, der ein Verbot der aktiven Sterbehilfe zwar als legitim, nicht jedoch als zwingend erachtet, s. ebenda, Rn. 85.; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 100. 533 Vgl. Charta-Erläuterungen zu Art. 2 – Recht auf Leben. 534 Für die EMRK vgl. EGMR, Urt. v. 29. 04. 2002, Nr. 2346/02 – Pretty/Vereinigtes Königreich, Rn. 39 f.; mit Blick auf Art. 8 EMRK fortgeführt in EGMR Urt. v. 19. 07. 2012, Nr. 497/09 – Koch/Deutschland. Für die Charta fehlt es an einer Rechtsprechung des EuGH; soweit ersichtlich entsprechen jedoch die in der Literatur aufzufindenden Meinungen durchweg der EMRK in der Lesart des EGMR, s. etwa Streinz, in: ders. (Hrsg.) EUV/AEUV, GrCh Art. 2 Rn. 7; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh Art. 2 Rn. 31. 535 Nowak, in: EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Juni 2006, Art. 2 S. 34. 536 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 31; EGMR, Urt. v. 29. 04. 2002, Nr. 2346/ 02 – Pretty/Vereinigtes Königreich.

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EMRK angesiedelt sind, sodass Entsprechendes für Art. 7 GrCh gelten könnte. Darüber hinausgehende inhaltliche Vorgaben enthält die EMRK für den Bereich der aktiven Sterbehilfe jedoch nicht. Im mitgliedstaatlichen Vergleich überwiegen die nationalen Regelungsregime, die die aktive Sterbehilfe bei Strafe verbieten.537 Lediglich in den Niederlanden (seit 2002), Luxemburg (seit 2009) und Belgien (seit 2002) ist die aktive Sterbehilfe durch Ärzte, im letztgenannten Fall sogar im Falle minderjähriger Patienten, bei Einhaltung zwingender Voraussetzungen straffrei.538 Die quantitative Verteilung zwischen den Mitgliedstaaten der Union spricht daher grundsätzlich für einen Konsens bezüglich eines Verbots der aktiven Sterbehilfe unter dem Unionsrecht, wenngleich zum jetzigen Zeitpunkt drei Mitgliedstaaten damit unvereinbare Positionen innehätten. Denkbar ist daher, dass die Euthanasiegesetzgebung in diesen drei Ländern einen Verstoß gegen die Charta darstellt.539 e) Fazit zur Sterbehilfe Die verfassungsrechtliche Lage auf europäischer Ebene gestaltet sich danach ähnlich wie im Problemfeld der Abtreibung: Vieles bleibt im Unklaren, etwa ob und inwieweit die Charta einer divergierenden Rechtspraxis der Mitgliedstaaten entgegensteht, inwieweit aus ihr also überhaupt verbindliche Direktiven erwachsen. Allerdings ist mit der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG zum assistierten Suizid eine Neubewertung und eine Etablierung des „Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ erfolgt, die auch hier eine Unsicherheit der rechtlichen Bewertung insbesondere der aktiven Sterbehilfe mit sich bringt. Während zwischen dem Grundgesetz und der Charta in der Frage der indirekten Sterbehilfe weitgehend Gleichklang besteht, bleibt die passive, vor allem aber die aktive Sterbehilfe ein Thema, das, bedingt vor allem durch die unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten, zu merklichen Wertungsunterschieden führen kann. Dies betrifft zwar nicht die Frage eines aus den Grundrechten folgenden Anspruchs auf aktive Sterbehilfe. Ein solcher besteht, dahingehend sind sich die Gerichte und auch die Literatur einig, unter beiden Verfassungstexten nicht. Jedoch dürfte die Charta im Hinblick auf die Notwendigkeit eines Verbots der aktiven Sterbehilfe im Vergleich zum Grundgesetz einen anderen Ansatz verfolgen. 537

S. etwa die Übersicht der Deutschen Hospiz Stiftung, abrufbar unter https://www.stif tung-patientenschutz.de/uploads/files/pdf/stellungnahmen/10.pdf. 538 Zur Entwicklung der Regelungen s. Jacob, Aktive Sterbehilfe im Rechtsvergleich und unter der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 86 ff. (Niederlande), S. 141 ff. (Belgien), S. 203 ff. (Luxemburg); s. auch Jacob, Sterbehilfe unter der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 2015, 79 (94 ff.). 539 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 2 Rn. 31, hält einen Verstoß gegen Charta und EMRK für denkbar; offengelassen dagegen bei Nowak, in: EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights, Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Juni 2006, Art. 2 S. 34 f.

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Hier scheinen die Vorgaben entweder weniger dicht oder aber schlicht nicht vorhanden. Selbst dort, wo Themenfelder durch die Charta überhaupt nicht vorgezeichnet scheinen, liegt ein Konfliktpotenzial zwischen den Grundrechtsebenen – auch insoweit in Analogie zum Problemfeld des Schwangerschaftsabbruchs. Schließlich kommt die textliche Offenheit der Charta nicht ohne gewisse Vorprägungen und Gewichtungen daher, die denjenigen der grundgesetzlichen Ordnung nicht notwendigerweise entsprechen. Hier geht es konkret um die letztlich judizielle Gewichtung des Lebensschutzes auf der einen und des Selbstbestimmungsrechts auf der anderen Seite und damit auch um die Frage, inwieweit diese Positionen als in der Menschenwürdegarantie wurzelnd angesehen werden. Je eher die Höchstgerichte die Menschenwürdegarantie mit Autonomie und Selbstbestimmung in eins setzen, desto eher verlagern sich die Präferenzen zu einer liberaleren Sterbehilfepolitik. „Menschenwürdiges Sterben“ heißt nach dieser Lesart vor allem „selbstbestimmtes Sterben“, wie es in dem Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2020 bereits unmissverständlich zum Ausdruck kommt. Für diese Wertung hält die Charta auf dem Papier im Vergleich mit dem Grundgesetz größeren Deutungsspielraum bereit, da Systematik und Telos des Grundgesetzes – im Unterschied zur Charta – die Ineinssetzung von Selbstbestimmungsrecht und Menschenwürde prinzipiell verbieten.540 Einer Überschreitung der Jurisditkion durch die Höchstgerichte in die eine wie die andere Richtung ist mit der Verfassung aber letztlich ohnehin kaum zu begegnen, wie das Urteil des BVerfG zum assistierten Suizid aus dem Jahr 2020 zeigt.

VI. Biomedizin und Menschenwürde In kaum einem anderen Themenfeld, das in der deutschen Diskussion mit der Menschenwürde assoziiert wird, scheint die Dynamik der Entwicklung größer als in der Biomedizin. Hier bündeln sich einerseits Hoffnungen auf die Heilung bisher unheilbarer Erkrankungen wie Krebs und Multiple Sklerose, die durch einen vormals unvorstellbaren und atemberaubenden technischen Fortschritt genährt werden. Andererseits wird dieser Fortschritt zunehmend als Bedrohung aufgefasst: für das ungeborene Leben im Allgemeinen, für Embryonen im Besonderen; für die Menschheit als genetisch abgegrenzte und abgrenzbare Gattungsentität541; schließlich für die bisherigen Gewissheiten über Subjektivität des menschlichen Lebens und dessen Grenzen zum tierischen Leben542; Bedrohungen, denen allesamt mit dem 540

S. o. Kapitel 4 B. VII. Mit Blick auf das Klonen etwa Frankenberg, Die Würde des Klons und die Krise des Rechts, KritJ 33 (2000), 325. 542 Zur Interspezies-Hybridisierung s. etwa Deutscher Ethikrat, Mensch-Tier-Mischwesen in der Forschung, Berlin 2011, S. 57 ff. 541

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Verfassungsrecht – in Deutschland maßgeblich mit der Menschenwürde – zu begegnen sein soll.543 Dabei tritt die Menschenwürde als in den Diskurs eingebrachtes Argument abermals in einer Art „Zwitterstellung“ auf. Mit ihr lassen sich für beide Seiten gute Argumente zur Unterfangung der konträren Positionen finden: für eine Bändigung des Fortschritts zugunsten des ethisch Vertretbaren, aber auch für die geregelte, gleichwohl innovationsorientierte Ausweitung einer Forschung, die „menschenunwürdiges“ Leiden der jetzigen und das künftiger Generationen mindern soll. Die Frage, welche Antworten die Verfassungen auf diese Ausgangslage geben, ist daher dringender denn je. Die Biomedizin ist dabei eines der Themengebiete, welches nicht unerheblich europäisch durchwirkt ist und gedacht werden muss. Primärrechtliche Regelungskompetenzen für die EU bestehen bereits spezialgesetzlich in Art. 168 AEUV (Gesundheitswesen) und Art. 179 – 190 (Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt), daneben können Art. 114 (Beschlussfassung; einzelstaatliche Regelungen; Schutzklausel) und Art. 352 (Flexibilitätsklausel), freilich unter dem Vorbehalt des Art. 5 Abs. 1 EUV, im Bereich der Biomedizin früher oder später ebenfalls Relevanz erlangen.544 Auf Sekundärrechtsebene finden sich bereits einige Richtlinien und Verordnungen, schließlich auch Entschließungen des EP und Stellungnahmen der Europäischen Gruppe für Ethik.545 Abkommen zu Fragen der Biomedizin existieren ferner auf völkerrechtlicher Ebene, diese sind bei der Auslegung der Grundrechtecharta teilweise auch zu beachten.546 Da die unionale Grundrechtskontrolle primär diesen Gesetzgebungskompetenzen folgt, ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung der Unionsgrundrechte für das Gebiet der Biomedizin auszugehen. Die zentrale Norm, aus denen im Bereich der Biomedizin Steuerungskraft erwachsen kann, stellt für das Grundgesetz neben Art. 1 Abs. 1 GG das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar. Für die Charta treten hier neben die Würdegarantie als einschlägige Rechte ebenfalls die Rechte aus 543

Vgl. Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 482: Menschenwürde auf nationaler, europäischer und universaler Ebene als die „zentrale normative Garantie für die Bewertung neuer Fortpflanzungstechniken“. 544 Voss, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 46 ff.; zu den Gesetzgebungskompetenzen der EU im Bereich der Biomedizin s. Kapitel 2 B. I. 545 Übersicht bei Voss, Schutz der Grundrechte in Medizin und Biologie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 46 ff. Vgl. auch Fülle, Embryonenforschung und Embryonenschutz, S. 90 ff. 546 Vor allem gilt dies nach den Chartaerläuterungen für die Biomedizin-Konvention des Europarats (SEV-Nr. 164); dazu ist weiter zu denken an die drei Zusatzprotokolle zum Verbot des Klonens menschlichen Lebens (SEV-Nr. 168), über die Transplantation von Organen und Geweben menschlichen Ursprungs (SEV-Nr. 186) sowie über biomedizinische Forschung (SEV-Nr. 195).

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Art. 2 Abs. 1 (Recht auf Leben) sowie Art. 3 Abs. 1 (körperliche Unversehrtheit), darüber hinaus Art. 21 Abs. 1 GrCh (Verbot der Diskriminierung aufgrund genetischer Merkmale). Maßgeblich ist hier aber vor allem der Grundsatz- und Verbotskatalog aus Art. 3 Abs. 2 GrCh, mit dem gerade den teils noch unbekannten Gefährdungen aus der Biomedizin begegnet werden sollte.547 Der Rechtscharakter der einzelnen Bestimmungen (lit. a) – d)) ist umstritten. Während die Chartaerläuterungen von „Grundsätzen“ sprechen, was gegen eine subjektive Dimension der Bestimmungen spricht548, belässt die endgültige Fassung der Charta („muss insbesondere Folgendes beachtet werden“) gerade angesichts der Entwicklung von der ursprünglich angedachten, jedoch nicht realisierten Formulierung („Im Rahmen der Medizin und der Biologie müssen insbesondere folgende Grundsätze beachtet werden“) die rechtliche Qualifizierung zumindest deutungsoffen.549 Da der Katalog nicht abschließend, mithin zukunfts- und deutungsoffen gehalten ist („insbesondere“), kommen neben den expliziten Verboten weitere Sachverhalte in Betracht, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 oder Art. 1 Abs. 1 GrCh darstellen können. Gleichwohl fragt sich, ob die gelisteten Grundsätze und Verbote jeweils als bereichsspezifische Konkretisierung der Menschenwürde eine für das jeweilige Sachgebiet abschließende Bestimmung darstellen.550 Dies hätte zur Folge, dass im Hinblick auf weitere Handlungsformen, die in den Verboten zwar thematisch angesiedelt, jedoch nicht explizit vom Verbot erfasst sind, nicht mehr auf Art. 3 Abs. 1, zudem auch nicht mehr auf Art. 1 Abs. 1 GrCh zurückgegriffen werden könnte. Namentlich gilt das für das sog. therapeutische Klonen. Richtigerweise wird sich diese Frage nicht pauschal für alle Bestimmungen beantworten lassen, sondern von der jeweiligen Ausgestaltung der Verbote abhängen. Je konkreter die einzelnen Bestimmungen und die darin enthaltenen Verbote gefasst und auf spezifische Handlungsformen zugeschnitten sind, desto eher dürfte es sich für diese Bereiche um abschließende Regelungen handeln.551 Darauf wird im Folgenden einzeln einzugehen sein. Für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 2 GrCh ist die EMRK mangels entsprechender Bestimmungen (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh) nicht maßgeblich. Gleichwohl dürften die Gerichte bei der Auslegung im Interesse eines möglichst großen Gleichklangs und der Kohärenz des Menschenrechtsschutzes im europäischen 547 Dies war von Anfang an ein zentrales Bestreben der Konventsmitglieder, vgl. Bernsdorff/Borowsky, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 272 ff. 548 Chartaerläuterungen zu Art. 3, Anm. Nr. 2. 549 Die Entwicklung ist skizziert bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 40; Übersicht über den Meinungsstand (hinsichtlich Art. 3 Abs. 2 lit. d) bei Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 92 ff, der von einem objektiv-rechtlichen Charakter der Bestimmung(en) ausgeht. 550 Dazu Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (553 ff.). 551 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 46, im Hinblick auf das Klonverbot in Art. 3 Abs. 2 lit. d) GrCh.

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Mehrebenensystem auf größtmögliche Übereinstimmung mit der vorhandenen Rechtsprechung des EGMR im Anwendungsbereich von Art. 3 GrCh bedacht sein. 1. Klonen Als Klonen bezeichnet man die Erzeugung von Menschen, die mit dem Individuum, aus dem sie ungeschlechtlich hervorgegangen sind, identische Erbinformationen teilen.552 Dabei wird zwischen dem reproduktiven und dem therapeutischen Klonen unterschieden. Reproduktives Klonen zielt auf die technische Erzeugung menschlicher Embryonen, Zellen oder Zellverbänden, die sich in der Folge zu einem „vollständigen“ Menschen entwickeln sollen. Dagegen bezeichnet das therapeutische Klonen die Erzeugung von Embryonen, Zellen oder Zellverbänden mit dem Ziel ihrer Verwendung zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken; typischerweise ist damit die Herstellung von Ersatzgewebe und Ersatzorganen assoziiert, die der zu behandelnde Körper nicht abstößt.553 Technisch lassen sich beide Formen des Klonens mit dem sog. Zellkerntransfer realisieren, bei dem einer Körperzelle des zu klonenden Körpers der Zellkern entnommen und dieser in eine zuvor entkernte Eizelle übertragen wird („Dolly Methode“). Die angereicherte Eizelle wird dann durch Stromstöße oder chemische Stimulierung zur Teilung angeregt und der Prozess der herkömmlichen Embryonalentwicklung aktiviert. Beim reproduktiven Klonen würde die Eizelle einer Leihmutter eingesetzt und von ihr ausgetragen. Dagegen werden dem erzeugten Embryo im Fall des therapeutischen Klonens zwischen dem 4. und 7. Tag pluripotente Stammzellen entnommen, die sich in der Folge zu nahezu jeder denkbaren Körperzelle entwickeln können. Die Entnahme der Stammzellen hat dabei die Zerstörung des Embryos zur Folge. Für das reproduktive Klonen kommt als Methode ferner das Embryonensplittung, entweder durch Abspaltung totipotenter Zellen oder durch Teilung des Zellverbandes, in Betracht, das zu mehreren Individuen mit gleichen genetischen Anlagen führt. Das therapeutische wie das reproduktive Klonen sind in Deutschland nach § 6 EschG ausnahmslos verboten und strafbewehrt. Der Gesetzgeber begründete dies mit einem „krassen Verstoß gegen die Menschenwürde“.554 a) Reproduktives Klonen Fraglich und für die vorliegende Untersuchung von Interesse ist aber, inwieweit die Regelungen des ESchG zum Klonen zwingende Umsetzung von verfassungs552

Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 6. Definitionen bei Witteck/Erich, Straf- und verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen, MedR 2003, 258, daran angelehnt auch die folgenden Ausführungen. 554 Vgl. BT-Drucksache 11/5460, S. 11. 553

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rechtlichen Vorgaben sind. Zumindest im Hinblick auf das reproduktive Klonen besteht im deutschen Diskurs soweit ersichtlich ein Konsens darüber, dass bereits aufgrund der Finalität ein evidenter Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG vorliegt.555 Begründen lässt sich dies zunächst mit Blick auf den geklonten Menschen, der durch „Herstellung“ eines mit ihm genetisch identischen Menschen seiner genetischen Einzigartigkeit beraubt wird – was als Verstoß gegen seine Subjektqualität zu werten ist. Mit der Subjekt-/Objektformel lassen sich hier also stringente Ergebnisse erzielen.556 Zwar könnte dagegen eingewendet werden, dass es die Subjektqualität des geklonten Menschen gerade gebiete, dass er über eine Klonierung frei entscheiden kann – eine entsprechende Aufklärung und Freiwilligkeit vorausgesetzt. Indes ist zu beachten, dass der geklonte Mensch hierbei nicht nur über seine eigenen, sondern auch über die – wenn auch zunächst nur potenziellen – Rechtspositionen des Klons disponieren würde, weshalb eine solche Einwilligung seine Dispositionsbefugnis von vornherein übersteigt.557 Daher werden in der Literatur als weitere Anknüpfungspunkte für einen Würdeverstoß auch die Würde des mit der Technik erzeugten künftigen Menschen,558 daneben auch die Würde der menschlichen Gattung als solche genannt.559 Auch wenn sich die Anknüpfungspunkte – insbesondere die Frage, wessen Würde durch das Klonen verletzt wird – und die Argumentationslinien im Einzelnen unterscheiden,560 so kann die Auffassung, dass das reproduktive Klonen einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, in Deutschland als weitestgehend unbestritten gelten.561 Diese Auffassung stellt kein Spezifikum des deutschen Verfassungsrechts und des nationalen verfassungsrechtlichen Diskurses dar, sondern findet soweit ersichtlich 555

Wobei sich die einzelnen Begründungsansätze auch hier wiederum in ihren Bezugspunkten unterscheiden, s. Höfling in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 27; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 110; ohne nähere Begründung unter dem Verweis auf Evidenz Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 105. 556 Differenzierend Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 510. 557 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 105; Wittek/Erich, Straf- und verfassungsrechtliche Gedanken zum Verbot des Klonens von Menschen, MedR 2003, 258 (263); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 105; dagegen Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 509 f. 558 So die Lösung bei Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 490 ff., ins. 508 f.; die Kritik an diesem Konzept bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 108. 559 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 139; in der Sache ähnlich, allerdings unter strikter Vermeidung des Begriffs Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 110. 560 Ausführlich Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 207 ff. 561 Einen Evidenzanspruch des Urteils als würdeverletzende Handlung konstatiert Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 105; Frankenberg sieht dagegen die Notwendigkeit eines Auftrags zur Verfassungsänderung, s. Frankenberg, Die Würde des Klons und die Krise des Rechts, KritJ 33 (2000), 325 (332).

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auch in den übrigen Mitgliedstaaten der Union sowie ferner in den Mitgliedstaaten des Europarats Entsprechung.562 Neben den jeweiligen einzelstaatlichen Verboten563 fand diese Auffassung ihren textlichen Niederschlag auf Ebene des Unionsrechts in Art. 3 Abs. 2 lit. d) GrCh. Begründungsschwierigkeiten für einen Menschenwürdeverstoß, wie sie im deutschen Diskurs aus Art. 1 Abs. 1 GrCh existieren, sind damit grundlegend und von vornherein eingedämmt. Verbote des reproduktiven Klonens existieren ferner auf der Ebene des Europarats in Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen.564 Auch der UNESCOErklärung ist ein Verbot des reproduktiven Klonens in Art. 11 S. 1 zu entnehmen.565 Das Verbot des reproduktiven Klonens wird daher teilweise als Völkergewohnheitsrecht angesehen.566 Allen genannten Gesetzeswerken ist gemein, dass darin jeweils die Menschenwürde als zentrales und unrelativierbares Prinzip den argumentativen Dreh- und Angelpunkt bildet. Im Ganzen besteht so ein Gleichklang zwischen der Ebene des Grundgesetzes und der Charta, wobei dem Verbot in der Charta aufgrund der expliziten Normierung sogar besonderer Ausdruck verliehen ist.567 b) Klonen zu therapeutischen Zwecken mittels Zellkerntransfer Ein solcher Konsens lässt sich für das therapeutische Klonen dagegen nicht ausmachen. Die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit beschäftigt den deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs seit Jahren intensiv und ist unverändert umstritten. Neben die bereits beim reproduktiven Klonen bestehenden Differenzen 562 S. Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 129. Vgl. auch die Länderübersicht bei Taupitz, Rechtliche Regelung der Embryonenforschung im internationalen Vergleich. 563 Übersicht bei Taupitz, Rechtliche Regelung der Embryonenforschung im internationalen Vergleich, S. 7 ff. 564 Art. 1 Abs.1 BMK-ZP-Klonen 12. 1. 1998: „Verboten ist jede Intervention, die darauf gerichtet ist, ein menschliches Lebewesen zu erzeugen, das mit einem anderen lebenden oder toten menschlichen Lebewesen genetisch identisch ist.“ 565 Art. 11 S. 1 der Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte der UNESCO vom 11. 11. 1997: „Praktiken, die der Menschenwürde widersprechen, wie reproduktives Klonen von Menschen, sind nicht erlaubt.“ 566 Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 129. 567 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 115, verweist bezüglich der genauen Reichweite des Verbots jedoch auf die Konkretisierungsbedürftigkeit der Norm hinsichtlich des Begriffs „Mensch“. Danach ist angesichts der bestehenden (in Kapitel D. II. verhandelten) Unklarheit darüber, von welchem Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung an der Menschenwürdeschutz der Charta greift, letztlich auch unklar, von welchem Zeitpunkt an das Klonverbot in Art. 3 Abs. 2 lit. d) GrCh greifen soll. Da das deutsche Recht hier von dem denkbar frühesten Zeitpunkt an von dem Menschsein ausgeht, könnten sich die Übereinstimmungen daher de facto wiederum nur als Scheinkonsens herausstellen.

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hinsichtlich der Begründung eines Menschenwürdeverstoßes treten hier vor allem Erwägungen, die den potenziellen Rechtspositionen von Kranken sowie der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit Rechnung tragen wollen. Da das therapeutische Klonen nicht auf die Erzeugung einer mit dem geklonten Menschen identischen Person, sondern auf die Herstellung von Gewebe und Organen zur Heilung von Krankheiten abzielt, begründet die Finalität – gemessen an der Subjekt-/Objektformel – für sich genommen nach herrschender Meinung keine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG.568 Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Begründung einer Verletzung ist daher vor allem das Verfahren zur Erzeugung des Gewebes. Dieses beginnt mit dem Transfer des Zellkerns der zu klonenden Zelle in eine entkernte Eizelle zur weiteren Einpflanzung und Gewinnung. Da dabei der geklonte Embryo vernichtet wird, hängt die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Verfahrens entscheidend vom „verfassungsrechtlichen Status des Embryos“ und der generellen Frage ab, inwieweit die Forschung an Embryonen zulässig ist. In Deutschland dominiert hier, wie gesehen, noch die Auffassung, dass bereits der Embryo in vitro und in vivo Träger der Menschenwürde ist.569 Die Herstellung und der Gebrauch eines Menschen allein für therapeutische Zwecke Dritter missachtet bei diesem Verständnis dessen Subjektqualität, da dieser in seiner Existenz als Mittel für fremde Zwecke dient. Danach stellt die „verbrauchende“ Embryonenforschung mit dem (Fern-)Ziel des therapeutischen Klonens nach herrschender Meinung im deutschen Recht einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG dar.570 Im Abgleich mit den Bestimmungen der Charta können sich hier Wertungswidersprüche ergeben. Der spezialgesetzlichen Vorschrift in Art. 3 Abs. 2 lit d) GrCh ist ein explizites Verbot lediglich des reproduktiven Klonens zu entnehmen. Fraglich bleibt allerdings, ob das therapeutische Klonen auch unter der Charta als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GrCh gewertet werden kann. Eine Verletzung der Würdegarantie kommt nicht nur bei Anwendung der Subjekt-/ Objektformel des BVerfG, sondern auch bei Zugrundelegung des Menschenwürdeverständnisses des EuGH als Instrumentalisierungsverbot in Betracht, da sich die Existenz des Embryos darin erschöpft, als „Instrument“ zur Gewinnung von organischem Material zu dienen. Subjekt-/ Objektformel und Instrumentalisierungsverbot gelangen hier also zu gleichen Ergebnissen, sodass bei Zugrundelegung dieses Verständnisses das Verfahren der

568 Weitergehend dagegen Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 Rn. 23: „Klonen verstößt in jeder Spielart („therapeutisch“ wie reproduktiv) gegen die Menschenwürdegarantie, da der Eigenwert und die Individualität menschlichen Lebens negiert wird“. 569 S. o. Kapitel 4 D. II. 570 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 100; a.A.: Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (776).

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verbrauchenden Embryonenforschung zum Zweck des therapeutischen Klonens als Verstoß auch gegen die unionsrechtliche Menschenwürdegarantie zu werten ist.571 Allerdings setzt diese Überlegung nicht nur voraus, dass eine entsprechende Menschenwürdeträgerschaft von Embryonen unter der Charta überhaupt besteht, was jedoch höchst fraglich ist.572 Auch begegnet der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GrCh selbst starken Bedenken, da mit Art. 3 Abs. 2 GrCh eine spezialgesetzliche Regelung zum Klonen existiert, die den Komplex abschließend regeln könnte. Die Genese von Art. 3 Abs. 2 lit. d) GrCh spricht dafür, dass diese Norm eine abschließende, da bereichsspezifische Konkretisierung der Menschenwürde darstellt: Mit der Norm sollte, wie es die Diskussionen im Grundrechtekonvent belegen, der gesamte Themenkreis des Klonens eine abschließende Regelung erfahren.573 So erklären sich auch die Auslegungshinweise in den Erläuterungen des Konvents, wonach die Charta (und nicht lediglich Art. 3 GrCh) keinerlei weitergehende Direktiven zum therapeutischen Klonen entfalten soll.574 Ein Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GrCh für den Bereich des therapeutischen Klonens dürfte sich damit verbieten und die Systematik der Charta gegen die Annahme sprechen, dass das therapeutische Klonen einen Verstoß gegen die Charta darstellt.575 Mit dieser Indifferenz dürfte das Unionsrecht in der Folge auch anderweitigen mitgliedstaatlichen Regelungen nicht entgegenstehen. Ein entsprechender Vergleich offenbart, dass das therapeutische Klonen in der Mehrheit der Mitgliedstaaten verboten ist (so etwa in Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Lettland, Litauen, Norwegen, Österreich, Polen, Slowenien, Slowakei, Spanien, Tschechien, Irland, Irland), wobei die Verbote im Einzelnen allerdings stark divergieren und ihre normative Reichweite zum Teil unklar ist.576 Daneben finden sich jedoch auch Mitgliedstaaten (Belgien, Finnland, Schweden, Niederlande), in denen die Stammzell- und Embryonenforschung zum Zweck des therapeutischen Klonens erlaubt ist. Ein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten besteht in dieser Frage somit nicht. Da Verbote des therapeutischen Klonens auf mitgliedstaatlicher Ebene häufig nicht explizit normiert sind, sondern sich unter der in diesem Fall übergeordneten Frage nach der Zulässigkeit der Embryonenforschung im Allgemeinen richten, sollen im Folgenden die diesbezüglichen Vorgaben näher beleuchtet werden. 571

Ausführlich, jedoch ohne Erwägungen zur Systematik der Charta, Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 273 ff. Die Tendenz auch bei Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 24. 572 S. o. Kapitel 4 D. II. 573 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 15 ff. 574 Chartaerläuterungen zu Art. 3, Nr. 2: „Die Charta will von diesen Bestimmungen nicht abweichen und verbietet daher lediglich das reproduktive Klonen. Die anderen Formen des Klonens werden von der Charta weder gestattet noch verboten.“ 575 I. E. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 46. 576 S. dazu Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 126 f.

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2. Forschung an Embryonen / totipotenten Zellen Im Rahmen der Embryonenforschung sind im Wesentlichen zwei Konstellationen zu unterscheiden, die Fragen nach der Vereinbarkeit mit der Menschenwürde aufwerfen: die Forschung an sog. „überzähligen“ Embryonen auf der einen und die gezielte Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken auf der anderen Seite. Als „überzählige“ Embryonen werden gemeinhin solche Embryonen bezeichnet, die im Rahmen einer in vitro-Fertilisation etwa aufgrund des Todes, einer Krankheit oder eines Sinneswandels der austragenden Frau nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, eingepflanzt wurden. Die Forschung an diesen Embryonen ist in Deutschland durch das ESchG vollständig untersagt – ein Grund, weshalb die entsprechenden Regelungen im internationalen und europäischen Vergleich als besonders restriktiv gelten und im innerdeutschen Diskurs Kritik ausgesetzt sind.577 De lege lata bleiben – bei fehlender Adoption – zwei mögliche Alternativen zum Umgang mit überzähligen Embryonen: das (möglichst zeitnahe) „Sterbenlassen“ des Embryos oder die Fortsetzung einer begonnenen Kryokonservierung „ad finitum“, wobei bei letzterer gesundheitliche Schäden am Embryo aufgrund der Kälteeinwirkung medizinisch nicht ausgeschlossen werden können.578 Diese „Ausweglosigkeit“ der Situation liefert den Befürwortern für eine Lockerung der Verbote den Anknüpfungspunkt für ihr zentrales Argument: Wenn für die Embryonen ohnehin keine Überlebensperspektive besteht, wäre es dann nicht viel eher menschenwürdegemäß, die Forschung angesichts potenzieller Heilungsperspektiven zuzulassen?579 Die Auffassung ist zwar plausibel, verkennt jedoch zugleich, dass der Embryo damit zu Forschungszwecken „verbraucht“ würde, er in seiner Entität – freilich ohne Zustimmung – als Objekt und Instrument von Forschungszwecken behandelt würde. Die Subjekt-/ Objektformel des BVerfG führt so – wiederum eine entsprechende Teilhabe des Embryos am Menschenwürdeschutz vorausgesetzt – zu einem Verstoß gegen seinen Würdeanspruch und sein Lebensrecht. Weder die vermeintlich nur kurze Lebensdauer oder „Sinnlosigkeit“ seiner Existenz noch die Gewissheit über fehlende

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Die Kritik bezieht sich unter anderem auf die vermeintliche Widersprüchlichkeit zwischen dem ESchG und den strafrechtlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, wonach der Embryo in vitro einen höheren Schutzstatus als der Embryo in vivo besitze, s. nur Dreier, Lebensschutz und Menschenwürde in der bioethischen Diskussion, in: Dreier/Huber (Hrsg.), Bioethik und Menschenwürde, S. 30 ff. Die Institute sind jedoch bereits aufgrund der Sondersituation der Schwangerschaft nicht ohne weiteres miteinander vergleichbar, s. dazu mit Blick auf die Rechtslage zur PID Sacksofsky, Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, KJ 36 (2003), 274 (285 ff.). Daneben sind die beiden Regime auch deswegen inkommensurabel, da angenommen werden kann, dass beide unterschiedlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind: das ESchG dient der „Menschheitswürde“, §§ 218 ff. StGB dem Lebensschutz, dies die These von Schächinger, Menschenwürde und Menschheitswürde – Zweck, Konsistenz und Berechtigung strafrechtlichen Embryonenschutzes, Kapitel 5, S. 247 ff. 578 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 504 ff. 579 So etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 98 f.; Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro, JZ 2001, 989 (996).

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Überlebenschancen rechtfertigen eine andere Bewertung.580 Von hier aus erklären sich die einfachgesetzlichen Regelungen im ESchG und die wohl noch herrschende Lehrmeinung, dass das Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung nicht lediglich verfassungsrechtlich zulässig, sondern sogar geboten ist.581 Die deutschen Regelungen des ESchG stellen eine Ausnahme im europäischen Vergleich dar.582 Nationale Verbote der verbrauchenden Embryonenforschung finden sich für die Mitgliedstaaten der EU lediglich noch in Irland und Österreich. In zahlreichen anderen Mitgliedstaaten (Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Portugal, Schweden, Slowenien) wird die Embryonenforschung dagegen als prinzipiell zulässig behandelt. Schließlich existiert ein drittes Regelungsmodell in Italien, Litauen, Slowakei und Spanien, wonach die Zulässigkeit von einer Güterabwägung abhängig ist. Ein europaweiter Konsens lässt sich folglich nicht konstatieren. Es überrascht daher nicht, dass die Charta zur Embryonenforschung keine näheren expliziten Bestimmungen, etwa in Art. 3 Abs. 2 GrCh, enthält, und dass Art. 3 Abs. 1 GrCh wie auch Art. 1 Abs. 1 GrCh nach überwiegender Ansicht in der Literatur keinerlei Vorgaben zur Embryonenforschung enthalten sollen.583 Nicht von der Hand zu weisen ist gleichwohl, dass die Menschenwürde, mit dem EuGH primär als Instrumentalisierungsverbot verstanden, bei der Embryonenforschung auch auf chartarechtlicher Ebene Wirkung entfalten kann, da in der mit der Forschung einhergehenden Zerstörung des Embryos die Verfügung über einen Organismus zu außerhalb seiner Selbst liegenden Zwecken erblickt werden kann.584 Auch diese Überlegung setzt allerdings eine grundsätztliche Teilhabe des Embryos am chartarechtlich gewährten Lebens- und Menschenwürdeschutz voraus, was in Anbetracht der Rechtslage zu bezweifeln ist.585 Es lässt sich daher nicht endgültig beantworten, inwieweit die verbrauchende Embryonenforschung als Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie der Charta aufgefasst werden kann. Die Rechtserkenntnisquelle der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen spricht aufgrund der heterogenen Rechtspraxis eher gegen diese Annahme. Auch dem EU-Sekundärrecht ist ein entsprechendes Verständnis nicht zu 580

BVerfGE 115, 118 (152) – Luftsicherheitsgesetz. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 103 f.; Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 Rn. 22 ff.; dagegen Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 98 m.w.N.; Schlink, Aktuelle Fragen des pränatalen Lebensschutzes, S. 20. 582 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 124 ff. 583 So etwa Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 46; Olivetti, in: Mock/Demuro/ Bifulco/Cartabia/Celotto (Hrsg.), Human Rights in Europe, S. 24. 584 Zur Menschenwürde als Instrumentalisierungsverbot in der Rechtsprechung des EuGH s. o. Kapitel 3 D. II. 585 S. o. Kapitel 4 D. II. 581

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entnehmen.586 Bis zu einer Klärung durch den Gerichtshof dürfte der Charta daher nur die Fortschreibung des mitgliedstaatlichen Status quo – und der dort bestehenden normativen Unwucht – zu entnehmen sein.587 Übereinstimmung zwischen den beiden Grundrechtsebenen dürfte wiederum im Hinblick auf die Bewertung der Herstellung von Embryonen allein zum Zweck der verbrauchenden Forschung bestehen. Hier dient bereits die Herstellung des Embryos nicht dazu, menschliches Leben als Zweck an sich, sondern bloßes Forschungsmaterial zu schaffen. Die darin liegende funktionalistische Reduzierung des erzeugten Embryos auf ein Forschungsobjekt hält nicht nur einer Überprüfung anhand der Subjekt-/Objektformel des BVerfG, sondern auch dem vom EuGH favorisierten Instrumentalisierungsverbot nicht stand.588 Zum Ausdruck kommt dieses Verständnis nicht nur in dem Forschungsförderprogramm der EU, wonach die Forschung zur Züchtung von menschlichen Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken von vornherein von der Förderung ausgeschlossen ist.589 Auch in der weit überwiegenden Anzahl der Mitgliedstaaten der Union ist die Herstellung allein zu Forschungszwecken mit einem Verbot belegt.590 3. Stammzellforschung Die Stammzellforschung baut auf die vorangegangenen Ausführungen insofern auf, als die totipotenten Stammzellen, also solche, die das Potenzial besitzen, einen 586

In Rede steht hier etwa das Forschungsförderprogramm „Horizont 2020“ der EU, das die Folgeregelung zum 7. Forschungsrahmenprogramm (2007 – 2013) bildet. Im Hinblick auf die ethischen Grundlagen und Zielsetzungen ist Horizont 2020 eng an das 7. Forschungsrahmenprogramm angelehnt. Nach diesem unterlag die Zerstörung von Embryonen zur Stammzellforschung keinem ausdrücklichen Verbot. Zwar flankierte das Rahmenprogramm eine verbindliche Zusatzerklärung der Kommission, wonach diese keine Vorschläge zur Förderung solcher Projekte unterbreitet, bei denen Embryonen ausschließlich zur Gewinnung von Stammzellen abgetötet werden; die insgesamt unübersichtliche Lage wurde dadurch gleichwohl nicht bereinigt, sodass den Förderprogrammen insgesamt ein generelles Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung nicht zu entnehmen ist, näher dazu Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 294 f. Die Darstellung des übrigen Sekundärrechts und der diesem zu entnehmenden gleichen Tendenzen ebenda, S. 286 ff. 587 I. E. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 46, wonach weder Art. 1 noch Art. 3 GrCh Vorgaben für die Embryonenforschung enthalten sollen. 588 Für die Charta s. Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 1 Rn. 19; Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 16; daneben Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 262 ff. m.w.N.; für das GG Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809 (813) m.w.N.; im Ergebnis auch Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 103; offen gelassen bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art 1 Abs. 1 Rn. 99 m.w.N. 589 Vgl. Art. 19 Abs. 3 c) der Verordnung (EU) Nr. 1291/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 12. 2013 über das Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizont 2020 (2014 – 2020) und zur Aufhebung des Beschlusses Nr. 1982/2006/EG. 590 Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 126 f.

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eigenständigen Organismus zu bilden und von denen sich die Forschung die größten Erkenntnisse und Fortschritte verspricht, in aller Regel591 aus Embryonen innerhalb des Blastozysten-Stadiums (ca. 5 bis 7 Tage nach Befruchtung der Eizelle) gewonnen werden.592 Primärer Anknüpfungspunkt der ethischen Debatten sowie der verfassungsrechtlichen Bewertung bildet daher ihre Gewinnung aus verbrauchender Embryonenforschung oder aus dem Klonen mittels Zellkerntransfer, sodass diesbezüglich an das eben Gesagte angeschlossen werden kann. Daneben ist aber die Forschung an den Stammzellen selbst insoweit diskussionswürdig, als ihr, wiederum aus der Menschenwürde abgeleitete, eigenständige verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen. Soweit es sich bei den Zellen und Zelllinien nämlich um solche handelt, die sich zu einem ausgewachsenen Organismus entwickeln können, kommt ihnen mit der in Deutschland vorherrschenden Lehre bereits aufgrund dieser Potenzialität der Schutz aus Art. 1 und Art. 2 GG zu.593 Damit unvereinbar ist in der Folge eine Forschung, die dieses werdende Leben lediglich als Versuchsobjekt behandelt. Diese als Missachtung seiner Individualität und damit des Subjektstatus verstandene Behandlung des Embryos wird daher überwiegend als Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes aufgefasst.594 Auf einfachgesetzlicher Ebene ist die Stammzellforschung in der Folge grundsätzlich verboten (§ 1 Nr. 1 StZG) und nur in engsten Grenzen unter der Einfuhr von embryonalen Stammzellen aus dem Ausland zulässig (§ 4 Abs. 2 StZG).595 Ob die Stammzellforschung ein Verbot gegen die in der Charta enthaltenen Rechte darstellt, ist dagegen fraglich. Zunächst gelangt der Blick wieder zur Regelung des Art. 3 Abs. 2 GrCh. Von dem Verbot in Art. 3 Abs. 2 c) GrCh könnte grundsätzlich auch die Forschung mit embryonalen Stammzellen erfasst sein, da diese als Teil des menschlichen Körpers anzusehen sind und die Forschung – wenn 591 Alternativen für die Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen sind beschrieben bei Timke, Die Patentierung embryonaler Stammzellen, S. 50 ff; vgl. auch die Übersicht bei Ruster, Patentschutz für menschliche Stammzellen, S. 15. 592 Dagegen begegnet die Forschung an sog. adulten Stammzellen, Zellen also, die dem Gewebe eines in der Regel ausgewachsenen Menschen entnommen wurden und die in der Regel nur noch eine eingeschränkte Entwicklungsfähigkeit besitzen (Multipotenz) – eine Einwilligung des Stammzellspenders vorausgesetzt – keinen (verfassungs-)rechtlichen Bedenken; ihr soll daher im Folgenden nicht nachgegangen werden. 593 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 545 ff. m.w.N.; vgl. auch § 8 Abs. 1 ESchG. 594 Hillgruber, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Art. 1 Rn. 22; Stern, StaatsR IV/1, S. 36 f.; dagegen Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (775 f.); Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 100 ff. 595 § 4 Abs. 1 StZG enthält das grundsätzliche Verbot, embryonale Stammzellen einzuführen und zu verwenden. Abs. 2 weicht dieses Verbot für die Fälle auf, in denen zur Überzeugung der Genehmigungsbehörde unter anderem feststeht, dass die embryonalen Stammzellen vor Mai 2007 im Ausland und in Übereinstimmung mit der dortigen Rechtslage gewonnen wurden, die Erzeugung der Embryonen der Herbeiführung einer Schwangerschaft gedient hat und die Überlassung der Embryonen zu Forschungszwecken kostenlos war.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

auch untergeordnet – neben wissenschaftlichen auch kommerziellen Zwecken dient.596 Gleichwohl erfasst das Verbot lediglich die Nutzung „zur Erzielung von Gewinnen“, also offenbar nur solche Tätigkeiten, bei denen die Profiterzielung und -maximierung den allein handlungsleitenden, im Falle eines Motivbündels wie hier zumindest aber dominierenden Zweck darstellt.597 Sind bei der Forschung an humanembryonalen Stammzellen finanzielle Interessen als Fernziel zwar nicht auszuschließen, dient sie diesem Zweck gleichwohl weder allein noch primär, weshalb eine Anwendung des Verbots aus Art. 3 Abs. 2 c) GrCh ausscheidet. Maßstäblich für die Zulässigkeit der Forschung an human-embryonalen Stammzellen unter der Charta kann daher allenfalls Art. 1 Abs. 1 GrCh sein. Auf die Norm dürfte gerade aus dem Grund, da Art. 3 Abs. 2 c) GrCh nur kommerzielle Handlungsformen mit Gewinnerzielungsabsicht erfasst, zwar grundsätzlich zurückgegriffen werden können. Auch lässt sich mit dem EuGH bei Zugrundelegung seiner Entscheidung aus dem Jahr 2011 angesichts des denkbar weitesten Embryonenbegriffs ein zwar nicht näher dargelegter, gleichwohl bestehender Schutz auch von totipotenten Stammzellinien annehmen.598 Ob die Stammzellforschung deswegen aber auch im Unionsrecht als Menschenwürdeverstoß begriffen wird, bleibt zu bezweifeln. Nicht ausgeblendet werden kann nämlich abermals der Fakt, dass in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Union die Stammzellforschung als zulässige Forschungspraxis erachtet wird.599 Soweit der Inhalt der unionsrechtlichen Würdegarantie auch von einer gewissen Übereinstimmung mit der mitgliedstaatlichen Rechtspraxis abhängt, kann auch bei der Stammzellforschung nicht von einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GrCh ausgegangen werden.600 4. PID Vergleichbar dazu gestaltet sich die Lage bezüglich der Präimplantationsdiagnostik (PID). In Deutschland gem. § 3a Abs. 1 ESchG grundsätzlich mit Strafe belegt, wird die PID seit der Gesetzesreform des ESchG aus dem Jahr 2011 nur für die eng umgrenzten Fälle zugelassen, in denen die genetische Veranlagung der Eltern eine schwerwiegende Erbkrankheit des Kindes bzw. dessen Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich werden lässt. Zahlreiche verfahrensrechtliche Bestimmungen (§ 3a 596 Zum umfassenden Begriff des „menschlichen Körpers und seiner Teile“ Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 45; vgl. auch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 182 f. 597 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, S. 184 ff. 598 S. o. Kapitel 3 D. II. 599 Heyer/Dederer, Präimplantationsdiagnostik, Embryonenforschung, Klonen. Ein vergleichender Überblick zur Rechtslage in ausgewählten Ländern, S. 131 f. 600 So etwa Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 46; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 287 f.; Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (775 f.), hier auch der Verweis auf die rechtsvergleichenden Aspekte, die der Evidenz einer Würdeverletzung entgegenstünden.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 235

Abs. 3 ESchG) sollen im Verbund mit den materiellen Voraussetzungen aus Absatz 2 den Ausnahmecharakter der Untersuchung und der potenziell anschließenden Verwerfung des Embryos sichern. In der verfassungsrechtlichen Debatte wird unter der Prämisse, dass auch in vitro erzeugte Embryonen Träger von Rechten sind, mit Blick auf die historischen Erfahrungen vorgebracht, die auf „Selektion“ „lebenswerter“ und „lebensunwerter“ Embryonen zielende PID sei mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar.601 Dagegen wird unter anderem eingewendet, ein Verbot der PID stünde im Widerspruch zur Zulässigkeit einer Spätabtreibung im Falle einer schweren Behinderung des Kindes nach § 218a Abs. 2 StGB und stelle bereits aus diesem Grund keine verbotswürdige Verletzung von Rechten des Embryos dar.602 Die rechtliche Bewertung der PID ist in der deutschsprachigen Literatur damit insgesamt umstritten.603 Soweit die gesetzlichen Regelungen des ESchG als unmittelbare Umsetzung verfassungsrechtlicher Vorgaben gelten können, ist von einer grundsätzlichen Unzulässigkeit der PID unter dem Grundgesetz aufgrund Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG auszugehen.604 Die Regelungen des ESchG stellen im mitgliedstaatlichen Vergleich wiederum einen Sonderfall dar, der ein ausgesprochen hohes Schutzniveau für in vitro erzeugte Embryonen bereithält.605 In den meisten der Mitgliedstaaten der Union wird die PID dagegen als grundsätzlich zulässig erachtet, wobei die Zulässigkeit durchweg von einer genetischen Vorbelastung der Eltern abhängt. In Deutschland, Estland, Irland, Italien, Österreich und Polen ist die PID grundsätzlich unzulässig, allerdings ist auch hier im Falle der genetischen Vorbelastung die Durchführung der PID in mehr oder weniger engen Ausnahmeregelungen gestattet, sodass sich die beiden identifizierten Regelungstypen primär im Hinblick auf die Ausgestaltung des Regel-AusnahmeVerhältnisses der grundsätzlichen (Un-)Zulässigkeit unterscheiden. Flankiert werden diese Regelungen in nahezu allen Mitgliedstaaten von prozeduralen Erfordernissen, etwa der Notwendigkeit der Zustimmung durch eine Ethikkommission, der Einhaltung ärztlicher Beratungspflichten oder bestimmter Untersuchungspflichten. Im Einzelnen gewichtige und vor allem praktisch relevante Differenzen zwischen den mitgliedstaatlichen Regelungen bestehen im Hinblick auf den Risikograd der 601 S. etwa Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 38 ff. m.w.N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 102, m.w.N.; Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809 (814 f.); a.A. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 96 f. m.w.N.; Ipsen, Zur Zukunft der Embryonenforschung, NJW 2004, 268 (270), dort der scharfe Angriff gegen die Verwendung des Begriffs „Selektion“. 602 Den Gleichheitssatz anführend etwa Faßbender, Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, NJW 2001, 2745 (2751 ff.); dazu auch Hillgruber, Es gibt keine Gleichheit im Unrecht, FAZ v. 6. 4. 2011, S. 7. 603 S. die Nachweise zum Streitstand bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 96 FN. 412. 604 S. Augsberg, Die Zukunft des Embryonenschutzes in Deutschland und Europa, ZfL 2014, 74 (78). 605 Die folgenden Darstellungen aus Heyer/Dederer, PID, Embryonenforschung, Klonen, ins. S. 123 f.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Erkrankung, des Weiteren bei der Definition des Erkrankungsbegriffes und bei der Frage, wer für die Definition zuständig ist.606 Schließlich unterscheiden sich auch die Regelungen zur Selektion aufgrund des Geschlechts des Embryos: Strikt verboten ist in allen Mitgliedstaaten die anlasslose Selektion aufgrund des Geschlechts. Dagegen ist sie in Belgien, Norwegen, Schweden und Ungarn dann zulässig, wenn die Erbkrankheit geschlechtsspezifisch ist. Ein Konsens lässt sich zwischen den Mitgliedstaaten in der Frage der Zulässigkeit der PID daher nicht feststellen. Aus der Charta, vor allem aus den Regelungen in Art. 3 Abs. 2 b), Art. 1 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 sowie Art. 26 GrCh, könnten sich jedoch entsprechende Vorgaben zur PID ergeben; möglicherweise enthalten diese auch chartaspezifische Erwägungen, die neben die bereits aus dem Grundgesetz bekannten Argumente hinzutreten könnten. Die PID könnte zunächst vom Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere Selektionspraktiken, in Art. 3 Abs. 2 b) GrCh erfasst sein. Da die PID eine nicht staatlich veranlasste Handlung darstellt und auch nicht auf hoheitliche Organisationsstrukturen zurückzuführen ist, sondern auf privaten Wunsch der Eltern von Ärzten durchgeführt wird, stellt sich – ähnlich wie bei dem Problemkreis eugenisch motivierter Schwangerschaftsabbrüche – zunächst die Frage, ob die Norm überhaupt zur Anwendung gelangen kann.607 Folgt man dem Ansatz von Frenz, dass es nicht auf das Merkmal der Organisiertheit der genannten Maßnahmen ankommt, bleibt gleichwohl die Frage der Rechtsträgerschaft der in vitro erzeugten Embryonen entscheidend.608 Soweit diese unter dem Begriff Mensch aus Art. 3 Abs. 2 b) GrCh zu fassen sind – wofür zwar mit der Rechtsprechung des EuGH die besseren Gründe sprechen, was aber angesichts der vorangegangenen Ausführungen in Frage steht – lässt sich kaum begründen, dass die PID nicht vom Verbot in Art. 3 Abs. 2 b) GrCh erfasst sein sollte.609 Ferner ist in diesem Kontext der als Grundsatz ausgestaltete

606

Während etwa in Frankreich, Norwegen und Schweden neben der Schwere der erblichen Krankheit auch die Unheilbarkeit derselben gegeben sein muss, genügt für die Zulässigkeit der PID in Großbritannien der Befund jedweder genetischer bzw. chromosomaler Anomalie des Embryos, s. dazu Heyer/Dederer, PID, Embryonenforschung, Klonen, ins. S. 123; auf die Deutungsoffenheit des Verbots in § 3a ESchG verweist auch S. Augsberg, Die Zukunft des Embryonenschutzes in Deutschland und Europa, ZfL 2014, 74 (78). 607 S. o. Kapitel 4. F. V. b). 608 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 297 Rn. 978; so auch Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 19. 609 Für das Grundgesetz bereits angedeutet bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 97, FN. 421. Für die Charta Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 11 Rn. 31; ähnlich Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, S. 293, der allerdings einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 b) GrCh ablehnt und stattdessen von einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GrCh ausgeht; a.A. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Abs. 2 Rn. 47; skeptisch auch Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 979.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 237

Behindertenschutz in Art. 26 GrCh zu beachten.610 Unter Behinderung i.S.v. Art. 26 GrCh versteht der Gerichtshof eine Einschränkung, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigung zurückzuführen ist, sodass ein genetischer „Defekt“ des menschlichen Embryos, wie er durch die PID ermittelt werden soll, regelmäßig unter diesen Begriff fallen dürfte.611 Dass die PID zum Zwecke der Selektion von Embryonen die soziale Eingliederung verhindert, bedarf keiner weiteren Begründung; die Norm steht nach hier vertretener Auffassung daher insgesamt der Zulässigkeit der PID mit anschließender Selektion der „defekten“ Embryonen entgegen.612 Auch dem Diskriminierungsverbot aus Art. 21 Abs. 1 GrCh, das explizit Diskriminierungen aufgrund der genetischen Merkmale untersagt und in engem Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GrCh steht,613 liefe eine Praxis zuwider, nach der mit einem Gendefekt belegte Formen menschlichen Lebens allein aufgrund dieses Defekts der Zerstörung preisgegeben werden könnten.614 Die Charta beinhaltet demnach neben der Menschenwürdegarantie zahlreiche spezielle Gewährleistungen, die der PID mit anschließender Selektion grundsätzlich entgegenstehen könnten. Indes bleibt auch hier fraglich, ob es sich bei diesen nicht lediglich um Postulate handelt, die keine Entsprechung in praxi finden. Letztlich bleibt abzuwarten, ob und wie der EuGH diese Gewährleistungen bei der Bewertung der PID ins Feld führen und gewichten wird. 5. Keimbahnmanipulation / Genome Editing Ziel der Keimbahntherapie ist die generationenübergreifende, dauerhafte Eliminierung bestimmter Gendefekte durch Manipulation der Erbsubstanz von mit Gendefekten belasteten Individuen. Dazu sollen gesunde Gene in die Keimzellen des Trägers des Gendefekts eingeschleust werden, die zur Veränderung der Ei- bzw. Samenzellen führen und so zur Verhinderung der Vererbung des Defekts beitragen sollen.

610 Art. 26 GrCh lautet: „Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft.“ 611 EuGH, Urt. v. 11. 04. 2013, verb. Rs. C-335/11 und C-337/11, ECLI:EU:C:2013:222 – HK Danmark, Rn. 37 ff.: Behinderung als Zustand, „der durch eine ärztlich diagnostizierte heilbare oder unheilbare Krankheit verursacht wird, wenn diese Krankheit eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist.“ 612 Ebenso Starck, Anmerkung zur Entscheidung C-34/10 des EuGH, JZ 2012, 145 (146). 613 Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 21 GrCh Rn. 3. 614 Den grundgesetzlichen Gleichheitssatz als Diskriminierungsverbot in diesem Zusammenhang bemüht auch Hillgruber, Es gibt keine Gleichheit im Unrecht, FAZ v. 6. 4. 2011, S. 7.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

War die Keimbahntherapie bislang nur in der Theorie denkbar, lassen die in jüngster Zeit erzielten Ergebnisse der Wissenschaft das Potenzial zur Anwendung der Methode erkennen. Vor allem die CRISPR-Cas9-Methode, mit der mittels „Genscheren“ dereinst zuverlässige und punktgenaue Keimbahneingriffe möglich sein sollen,615 fand in der Öffentlichkeit eine enorme Resonanz.616 In Abgrenzung zur sog. somatischen Gentherapie, die auf die Heilung nur der von Gendefekten betroffenen Individuen beschränkt ist, liegt die Besonderheit der Keimbahntherapie in ihren „intergenerativen Implikationen“617 – diese bilden auch einen Hauptanknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Bewertung des Verfahrens. Daneben begegnet auch die Erprobung der Methode an Embryonen ethischen und verfassungsrechtlichen Bedenken, insoweit kann auf die Ausführungen zur verbrauchenden Embryonenforschung verwiesen werden. Ein einfachgesetzliches Verbot für Keimbahneingriffe existiert für die deutsche Rechtsordnung in § 5 ESchG. Fraglich ist insoweit wiederum, inwieweit dieses Verbot auf verfassungsrechtlichen Vorgaben beruht. Nach Müller-Terpitz soll es lediglich auf dem „technisch-pragmatischen Argument“ beruhen, dass „die Entwicklung und Anwendung derartig komplexer Manipulationsverfahren derzeit nicht risikolos möglich und deshalb nicht verantwortbar ist“618. Nach dieser Lesart entfiele der Strafgrund und stünde eine (therapeutische) Keimbahnintervention dann im Einklang mit der Rechtsordnung, wenn die Verfahren weitgehend risikolos – wobei „risikolos“ offenbar im Sinne von „berechenbar“ zu verstehen ist – verlaufen könnten. Nicht beantwortet sind damit freilich die Fragen der ethischen Vereinbarkeit generationenübergreifender Manipulation des menschlichen Genpools und ultimativ nach den Grenzen eines voranschreitenden Optimierungsdrangs des Menschen. Nach häufig vertretener Auffassung soll die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gerade solchen Perfektibilitätsbestrebungen Grenzen setzen, bei denen der Mensch seiner „je individuellen, naturgegeben-ungleichen Einzigartigkeit“ beraubt zu werden droht.619 Im Detail unterscheiden sich die Begründungen für die Annahme einer Menschenwürdeverletzung zwar. Ihnen gemein ist aber, dass die Begründungshürde einer Verletzung der individuellen Menschenwürde aufgrund von 615 Mit der multifunktionalen CRISPR/Cas9-Methode (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) können wahlweise Gene ausgeschaltet, defekte durch intakte DNATeile ausgetauscht oder gar neue Gensequenzen in die DNA eingefügt werden; näher dazu Eberbach, Genom-Editing und Keimbahntherapie, MedR 2016, 758 (762 ff.). 616 S. exemplarisch Müller-Jung, Also doch Eingriffe an Embryonen, FAZ v. 16. 02. 2017; Merlot, „Das wird man nicht verantworten können“, Spiegel v. 24. 06. 2016. 617 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 28. 618 Müller-Terpitz, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, ESchG § 5 Rn. 1 – 4. 619 Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 22 Rn. 92, daraus auch das Zitat; Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution, in: FS Hollerbach, S. 243 (261 f.); Benda, Humangenetik und Recht – eine Zwischenbilanz, NJW 1985, 1730 (1733); ähnlich auch Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, 253 (260).

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fehlenden, da noch nicht existierenden Rechtsträgern kaum angegangen, und stattdessen die Begründungen der Verletzung mehr oder weniger explizit auf die Figur der Gattungswürde gestützt wird.620 In dieser Ausprägung soll die Menschenwürde letztlich die Kontingenz menschlicher Entstehungsbedingungen schützen, die Ausdruck der humanen Unvollkommenheit sei und auf die jedes, auch künftige Individuum einen Anspruch besitzen soll.621 Gegen diese Begründung wird von der Gegenseite gerade die „Inhumanität einer blinden Genfixierung“ ins Feld geführt und vor einer vorschnellen Berufung auf die Menschenwürde gewarnt; schließlich gebiete es die Menschenwürde gerade, das Leiden Schwerstkranker dadurch zu lindern, dass zumindest die Vererbbarkeit der Krankheit bekämpft werden könne.622 Soweit die Figur der „Gattungswürde“ darüber hinaus keine Anerkennung in der Lehrmeinung findet, wird dort gerade aufgrund der fehlenden Existenz eines Rechtsträgers die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG häufig abgelehnt.623 Die genauen verfassungsrechtlichen Maßstäbe bleiben daher letztlich unklar: Rechtsprechung des BVerfG fehlt, und die Meinungen in der Literatur sind disparat. Ein Konsens dürfte aber zumindest dahingehend bestehen, dass Art. 1 Abs. 1 GG einer „bevölkerungspolitischen Erbhygiene“ und zielgerichteter, gesundheitlich nicht indizierter „Optimierung“ des menschlichen Erbguts entgegensteht.624 Ob Art. 1 Abs. 1 GG darüber hinaus einer „kontrollierten“ kurativen Behandlung von Krankheiten entgegensteht, bleibt offen – ebenso wie die Frage, wo exakt die Grenze zwischen beiden Handlungsformen zu ziehen ist. Unter der Grundrechtecharta bildet Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh und das darin enthaltene Eugenikverbot den zentralen Anknüpfungspunkt der Argumentation. Hier stellt sich zunächst das bereits bekannte Problem, dass die Erläuterungen der Charta darauf hindeuten, dass nur organisierte/hoheitliche Handlungen vom Verbot erfasst sein sollen. Nach dieser Deutung fielen bereits – wie in dem Bereich des

620

Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 28, der jedoch zwischen kurativ und eugenisch veranlassten Eingriffen unterscheiden und nur im Fall der eugenischen Keimbahnintervention eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG erblicken will. 621 Vgl. Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, 253 (260). 622 So ausdrücklich Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 104, der ebenfalls nach den Zwecken der Keimbahnmanipulation differenziert. 623 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 104; hier ist allerdings dessen eigene Widersprüchlichkeit zu bemerken, die in seinem Begründungsansatz für das Verbot des reproduktiven Klonens liegt, s. ebenda, Rn. 110.; s. auch Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 109. 624 Weitergehend Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, § 22 Rn. 92; Benda, Humangenetik und Recht – eine Zwischenbilanz, NJW 1985, 1730 (1733); das Zitat bei Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, JZ 1986, 253 (260).

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

Schwangerschaftsabbruchs, der PID, etc.625 – privat initiierte und durchgeführte Keimbahneingriffe nicht unter das Verbot, sodass sich im Anschluss die Frage stellte, inwieweit Art. 1 Abs. 1 GrCh entsprechenden Praktiken entgegenstehen kann. Sieht man das Merkmal der Organisiertheit dagegen nicht als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Verbots an, stellt sich gleichwohl die Frage nach dem normativen Gehalt von Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh. In der deutschsprachigen Literatur wird überwiegend vertreten, das Verbot solle „auch und gerade die generationsübergreifende direkte Antastung („Optimierung“) des menschlichen Genpools, etwa durch Keimbahnintervention“ erfassen.626 Dafür spreche zunächst der Begriff der Eugenik selbst, mit dem allgemein Handlungen beschrieben sind, „that are directed at „improve“ the genetic design of he human species“627 und der damit gerade die generationenübergreifende Optimierung des menschlichen „Genpools“ erfasst. Ferner sollen ausweislich der Chartaerläuterungen vom Verbot bereits „indirekte“ Manipulationen des menschlichen Genpools erfasst werden (etwa die Pflicht, den Ehepartner in der gleichen Volksgruppe zu wählen), sodass die direkte Manipulation erst recht dem Verbot zu unterfallen habe.628 Vor allem ist aber, und hier zeigt sich der enge Bezug zu Art. 1 Abs. 1 GrCh, zu beachten, dass künftige Menschen dann in ihrer Würde und dem aus ihr folgenden Achtungsanspruch missachtet würden, wenn sie nur unter dem Vorbehalt eines „veränderten optimierten Genpools“ Anerkennung finden und zum Leben gelangen könnten. Da die Charta unbefangen und ausdrücklich die Verantwortung auch gegenüber künftigen Personen und Generationen zum Pflichtenkanon bei der Ausübung der Chartarechte zählt, greift das aus der deutschen Diskussion bekannte Gegenargument eines fehlenden Rechtsträgers hier nicht durch.629 Fraglich bliebe dann gleichwohl, ob jedwede Form der Keimbahnintervention vom Verbot erfasst sein soll, oder ob bestimmte, nach Zweck und Zielsetzung zu unterscheidende Formen davon ausgenommen sein sollen. Aufschluss darüber gibt zunächst das Biomedizin Übereinkommen des Europarats, das zur Auslegung von Art. 3 GrCh herangezogen werden und von dem mit der Grundrechtecharta nicht abgewichen werden soll.630 Nach Art. 13 des Übereinkommens ist eine Intervention zur Veränderung des menschlichen Genoms gestattet, sofern sie „nur zu präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken und nur dann vorgenommen [wird], wenn sie nicht darauf abzielt, eine Veränderung des Genoms von Nachkommen

625

S. o. Kapitel 4 F. V. 1. b); Kapitel 4 F. VI. 4. Aus der deutschsprachigen Literatur s. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 44 m.w.N.; ebenso Höfling/Kempny, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 3 Rn. 19. 627 Michalowski, in: Peers/Harvey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, 03.33. 628 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, Rn. 978. 629 Vgl. GrCh, Präambel, Abs. 6; näher hierzu s. o. Kapitel 4 A. II. 2. d). 630 Charta-Erläuterungen zu Art. 3 GrCh, 2. Anmerkung. 626

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herbeizuführen.“631 Ein absolutes Verbot der Keimbahninterventionen enthält Art. 3 Abs. 2 GrCh somit nicht, wie auch die Genese der Norm verdeutlicht.632 Dem entspricht, dass auch zwischen den Unionsstaaten kein Konsens über ein absolutes Verbot besteht.633 So sehr die Formulierung des Art. 13 des Übereinkommens das Bemühen um Klarheit erkennen lässt, so sehr wirft ihr genauer Wortlaut jedoch Fragen auf, die auch für die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 GrCh von Bedeutung sind. Zunächst: Wie ist – im Falle einer therapeutisch oder präventiv motivierten Intervention – der Begriff der Krankheit, der therapeutisch bzw. präventiv begegnet werden soll, zu definieren und wer zeichnet für eine solche Definition zuständig?634 Ferner erfasst das Verbot nur solche Interventionen, die auf die Veränderung des Genpools der Nachkommen abzielen. Was aber ist genau unter „abzielen“ zu verstehen? Genügt auch ein bloßes „Inkaufnehmen“ oder muss die Intervention von der Absicht getragen sein, Änderungen am Genpool der Nachkommen herbeizuführen? Was aber, wenn diese Veränderung nicht nur kein primäres Ziel, sondern – möglicherweise sogar zwangsläufige, aber eben nominell ungewollte – „Nebenfolge“ der Intervention ist? Es zeigt sich: Die Unklarheiten bezüglich der Reichweite der Norm sind gewaltig; im Ganzen dürfte ihr normativer Steuerungsanspruch Stand heute daher wohl auch als deutlich geringer einzuschätzen sein, als dies der erste Eindruck vermuten lässt.635 Ein Schutzniveau, das der durch das ESchG gesicherten deutschen Rechtslage auf einfachgesetzlicher Ebene gleichkommt, existiert unter der Charta folglich nicht. Soweit der einfachgesetzliche Standard in Deutschland als Umsetzung von verfas631 Art. 13 des Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin 632 Im Gegenteil: Eine ursprünglich angedachte Fassung des in allen Phasen der Beratung höchst umstrittenen Art. 3 Abs. 2, die ein ausdrückliches Verbot der Keimbahnintervention enthielt, wurde nicht weiter verfolgt (Formulierung gestrichen); stattdessen blieb es bei den vier Bestimmungen des zweiten Absatzes, s. Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 116 ff. 633 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 118. 634 Auf die Folgen einer (zu) weitgehenden Definition des Krankheitsbegriffs verweist Hillgruber, „Auf dem Weg zur Vervollkommnung des Menschen – Traum oder Alptraum?“, Eröffnungsansprache der öffentlichen Tagung der JVL vom 12. 05. 2017 in Würzburg, abrufbar unter: http://www.juristen-vereinigung-lebensrecht.de/ueber-die-jvl/aktuelles/eroeffnungsansprache-des-vorsitzenden-prof-dr-hillgruber-auf-dem-weg-zur-vervollkommnung-des-menschen-traum-oder-albtraum/: „Folgt man etwa dem weiten Gesundheitsbegriff der WHO, wonach Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen ist, dann können auch missliebige Eigenschaften nicht pathologischer Art hier relevant sein. Vor allem aber täuscht die Abgrenzung darüber hinweg, dass schon die Ausschaltung oder Reparatur für Krankheiten kausaler Gene nichts anderes als genetische Verbesserung (enhancement) ist.“ 635 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 119, der demgemäß auch für die Charta schlussfolgert: „Reichweite der Charta in diesem Punkt schlicht unklar.“

242

Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

sungsrechtlichen Vorgaben angesehen werden kann,636 besteht ein normatives Gefälle zur Charta. 6. Leihmutterschaft Auch der Themenkomplex der „Leihmutterschaft“, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewann, wirft verfassungsrechtlich relevante Fragen auf. In Deutschland existiert ein Verbot der „Ersatzmutterschaft“ in § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG.637 Dieses Verbot soll sich zuvörderst aus Überlegungen zum Kindeswohl speisen – ein Menschenwürdebezug der Leih- bzw. Ersatzmutterschaft sei, so die überwiegende Auffassung, dagegen zumindest bei der entgeltlichen Leihmutterschaft zu verneinen.638 Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Themenkomplex bleiben im Einzelnen jedoch unklar und umstritten.639 Verträge zur entgeltlichen Leihmutterschaft werden von den Gerichten regelmäßig als sittenwidrig i.S.v. § 138 BGB eingestuft, wobei auch hier das Kindeswohl den zentralen Anknüpfungspunkt für die Sittenwidrigkeit bildet.640 Substanziell stärkeren Schutz gegenüber diesen verfassungsrechtlichen Unklarheiten bietet dagegen die Grundrechtecharta in Art. 3 Abs. 2 c) GrCh und das darin enthaltene Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers.641 Die Norm, die sich mit der Rechtsprechung des EuGH als unmittelbarer Ausfluss der Menschenwürdegarantie begreifen lässt,642 soll der Instrumentalisierung und Degradie-

636

So die Deutung des ESchG im Allgemeinen bei S. Augsberg, Die Zukunft des Embryonenschutzes in Deutschland und Europa, ZfL 2014, 74 (78). 637 § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist, ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen (Ersatzmutter), eine künstliche Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen menschlichen Embryo zu übertragen.“ 638 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 97; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 24; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 94, 157; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG. Art. 1 Rn. 104; BGH NJW 2015, 479 Rn. 49. A.A. Küppers, Die zivilrechtlichen Folgen der entgeltlichen Tragemutterschaft, S. 177; vgl. auch Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizingesetz, 2013, S. 37. 639 Duden, Leihmutterschaft im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 227; näher dazu auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 157. 640 Exemplarisch OLG Hamm NJW 1986, 781; näher Looschelders, in: Heidel/Hüßtege/ Mansel/Noack (Hrsg.), BGB, § 138 Rn. 175. S. auch AG Düsseldorf, Beschluss vom 02. 12. 2015 – 270 F 223/14, hier wird die Leih- bzw. Ersatzmutterschaft jedoch vornehmlich als Verstoß gegen die Menschenwürde der austragenden Frau und des Kindes eingestuft. 641 Art. 3 Abs. 2 lit. c) GrCh enthält „das Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen“. 642 EuGH, Urt. v. 09. 10. 2001, Rs. C-377/98, ECLI:EU:C:2001:523, Slg. 2001, I-07079 – Biopatentrichtlinie, Rn. 77, wonach zur Wahrung der Menschenwürde der menschliche Körper unverfügbar und unveräußerlich bleiben muss.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 243

rung des Körpers zur bloßen Handelsware entgegenwirken.643 Eine solche droht aber gerade durch die Zurverfügungstellung der Gebärmutter, in der die befruchtete Eizelle nach Einpflanzung heranwachsen soll, die ausschließlich zu dem Zweck der Gewinnerzielung erfolgt. Die entgeltliche Leihmutterschaft dürfte damit einem Verbot unterliegen, welches ohne den Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GrCh auskommt und die damit einhergehenden, aus der deutschen Diskussion bekannten Begründungsschwierigkeiten, umgeht. Nicht erfasst ist von der Norm allerdings die „altruistische“, also die unentgeltliche, wahrscheinlich auch bereits die nur aus überwiegend altruistischen Zwecken vorgenommene Leihmutterschaft, welche in der Praxis durchaus eine häufig vorkommende Variante der Leihmutterschaft bilden könnte. Da diese in Deutschland zwar auch dem einfachgesetzlichen Verbot in § 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG unterfällt, ihre verfassungsrechtliche Bewertung jedoch umstritten ist und jedenfalls ein Menschenwürdeverstoß übereinstimmend verneint wird, ergibt sich daraus im Abgleich mit der Würdekonzeption der Charta keine Differenz im Schutzniveau. 7. Fazit zu Menschenwürde und Biotechnologie Im Folgenden sollen die Ergebnisse zum Thema Menschenwürde und Biomedizin zunächst noch einmal zusammengefasst und im Anschluss daran gewürdigt werden. a) Zusammenfassung der Ergebnisse Übereinstimmung zwischen den beiden Grundrechtsebenen besteht letztlich nur im Hinblick auf die Verbote des reproduktiven Klonens und der kommerziellen Leihmutterschaft und bezüglich der gezielten Herstellung von Embryonen allein zu Forschungszwecken. Nach der herrschenden Auffassung in Deutschland stellt auch das therapeutische Klonen einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG dar, die Grundrechtecharta ist diesbezüglich neutral ausgestaltet. Ähnlich gestaltet sich die Situation bei der Bewertung der Forschung an überzähligen Embryonen, die in der deutschen Diskussion überwiegend als Menschenwürdeverstoß begriffen wird, für die die Charta dagegen keine Vorgaben – und damit auch kein Verbot – enthält. Dies gilt gleichsam für das in Deutschland durch das StZG und das ESchG gesicherte Verbot der Forschung an Stammzelllinien. Die PID wird in Deutschland überwiegend als verfassungsrechtlich unzulässig erachtet und ist daher mit einem grundsätzlichen Verbot in § 3 ESchG belegt. Zwar hält die Charta mit den Bestimmungen in Art. 3 Abs. 2 b), Art. 21 Abs. 1 sowie Art. 26 GrCh, die diesbezüglich neben Art. 1 Abs. 1 GrCh treten könnten, das Potenzial für ein vergleichbar hohes Schutzniveau bereit; allerdings bleibt auch die 643

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 3 Rn. 45.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

normative Reichweite dieser Bestimmungen im Einzelnen unklar, sodass ein vergleichbarer Schutz wohl nicht bestehen dürfte. Dasselbe gilt für die in Deutschland als unzulässig erachtete Keimbahnmanipulation, sei sie, sofern diese Unterscheidung überhaupt gelingen kann, primär kurativ oder eugenisch veranlasst. Zumindest die eugenisch veranlasste Manipulation dürfte auch einen Verstoß gegen die Charta darstellen. Dagegen enthält sie keine Bestimmungen zur kurativen Keimbahnintervention. b) Bewertung der Ergebnisse Damit gilt insgesamt festzuhalten, dass durch die absoluten Verbote in Art. 3 Abs. 2 lit. b) – c) GrCh die aus der deutschen Diskussion bekannten Schwierigkeiten und Unklarheiten der verfassungsrechtlichen Argumentation zum Teil entfallen. Die Tatsache, dass der heikle Umgang mit der Menschenwürdegarantie in ihrem Anwendungsbereich von vornherein vermieden werden kann, sorgt bereits für sich genommen für größere Rechtsklarheit. Indes ermöglichen die Verbote aber nicht nur die rechtspraktische und anwenderfreundliche Umgehung einer schwer handhabbaren Norm. Im Abgleich zum Grundgesetz liegt in ihnen auch ein substanziell höherer Schutz begründet, da aufgrund ihres eindeutigen Wortlauts für Abwägungen schlicht kein Raum mehr verbleibt und in diesen Fällen das „letzte Wort“ durch die Charta gesprochen ist. Insgesamt bietet die Charta damit im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 2 GrCh ein größeres Maß an Rechtssicherheit, da gerade im Vergleich zum Grundgesetz die verfassungsrechtlichen Maßstäbe klarer zum Vorschein gelangen und so einer Änderung oder (Neu-)Interpretation per se unzugänglicher sind. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass die Maßstäbe, die das Grundgesetz im Bereich der Biomedizin liefert, schon heute bisweilen unklar, jedenfalls aber durchweg umstritten sind und die diesbezüglichen Gewissheiten mehr denn je im Wandel und Wanken begriffen erscheinen.644 Insoweit stellen die Verbote in Art. 3 Abs. 2 lit. b) – c) GrCh im Vergleich zum Grundgesetz eine signifikante Erweiterung des verfassungsrechtlichen Schutzprogramms dar. Demgegenüber muss jedoch auch der relativ enge Anwendungsbereich der Verbote betont werden. Wenn Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh etwa nur Wirkung für hoheitlich veranlasste eugenische Praktiken entfaltet, bietet die Norm Schutz lediglich für Gefährdungen, die sich so in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gar nicht (mehr) stellen dürften. Das reproduktive Klonen ist dagegen zum jetzigen Zeitpunkt und auch für absehbare Zeit wohl kaum realisierbar und drückt überdies lediglich einen universellen Wert aus, der gemeinhin bereits in der Menschenwürde

644 Aus diesem Grund ist immer wieder Reformbedarf an den einfachgesetzlichen Regelungen angemeldet worden; s. dazu etwa den Vorschlag zu einem „Fortpflanzungsmedizingesetz“ von Gassner/Kersten/Krüger/Lindner/Rosenau/Schroth.

F. Ausgewählte inhaltliche Ausprägungen der Würdegarantien im Detailvergleich 245

ankert, sodass sich das Verbot hier sogar nur als deklaratorisch erweisen könnte.645 Unter diesen Voraussetzungen liefen aber beide Bestimmungen weitestgehend ins Leere, sodass ihnen eine praktische Relevanz gerade nicht zugesprochen werden könnte. Daneben bleiben die Verbotstatbestände nicht nur in ihrem Rechtscharakter, sondern auch in ihrem normativen Gehalt unklar. Dies betrifft nicht lediglich einzelne Randbereiche, sondern bereits die mit ihnen grundsätzlich getroffenen Aussagen zum sachlichen Gewährleistungsinhalt. So ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 lit. c) GrCh und das darin enthaltene Kommerzialisierungsverbot bereits etwa fraglich, inwieweit Formen der Leihmutterschaft diesem Verbot unterfallen sollen. Der unklare Anwendungsbereich des Eugenikverbots in Art. 3 Abs. 2 lit. b) GrCh in Bezug auf PID, Schwangerschaftsabbrüche und Keimbahninterventionen wurde bei der Untersuchung der Norm ebenfalls offenbar. Die normativen Unsicherheiten bei Art. 3 GrCh fallen auch auf die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GrCh zurück. Unterfallen viele in der Biomedizin denkbare Handlungsformen von vornherein nicht den speziellen Verboten in Art. 3 Abs. 2 GrCh, stellt sich in der Folge die nur schwer zu beantwortende Frage, ob und inwieweit in diesen Fällen Art. 1 Abs. 1 GrCh überhaupt zur Anwendung gelangen kann. Allein die Existenz von Art. 3 GrCh legt die Hürden für eine Anwendung der Würdegarantie aus systematischen Gründen hoch. Sinnbildlich dafür ist etwa der Fall des therapeutischen Klonens, bei dem bereits die sichere Zuordnung zum Schutzbereich eines der Chartarechte misslingt. Vor diesem Hintergrund könnte sich der Umstand, dass eine dem Art. 3 GrCh vergleichbare Norm im Grundgesetz fehlt, für die verfassungsrechtliche Bewertung letztlich doch als weniger problematisch, unter Umständen sogar als hilfreich erweisen, da mit der Verortung der Probleme bei Art. 1 Abs. 1 GG zumindest ihr sedes materiae und ihr Bewertungsmaßstab geklärt sind. Für die Charta bleiben damit aber nicht nur das Verhältnis von Art. 3 und Art. 1 GrCh, sondern auch der genaue Anwendungsbereich der Menschenwürdegarantie sowie ihr normativer Gehalt unklar. Inwieweit Art. 1 Abs. 1 GrCh für den Bereich der Biomedizin überhaupt maßstabsgebend sein kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Gewissheit sagen. Insgesamt erweist sich die Rechtssicherheit damit aber als deutlich geringer, als es die Charta mit ihrem ersten Titel prima facie vermuten lässt. Im Hinblick auf den Status des Embryos besteht eine Divergenz zwischen der deutschen Rechtslage und dem von der Charta gewährten Schutz, die nahezu alle besprochenen Themenfelder der Biomedizin durchzieht und sich darin auswirkt. Soweit der Embryo in seiner Frühform unter der Charta nicht einen mit der deutschen Rechtslage vergleichbaren Schutz genießt, fallen die Bewertungen hinsichtlich eines Würde- oder auch nur Grundrechtsverstoßes zwischen den beiden Ebenen erheblich auseinander. Dies gilt namentlich für die Bereiche Stammzell- und Embryonen645

S. zu universalen Klonverboten Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 207 ff.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

forschung, Keimbahnmanipulation und PID, aber auch für das therapeutische Klonen mittels Zellkerntransfer, für die in Deutschland auf einfachgesetzlicher Ebene Verbote existieren. Zwar ist auch hier im Einzelnen umstritten, inwieweit die Verbote zwingendes Verfassungsrecht umsetzen, sodass der Wertungsunterschied zum Teil auch „nur“ zwischen der Ebene der Charta und der einfachgesetzlichen nationalen Ebene bestehen könnte. An dem grundsätzlichen Befund einer existenten Spannungslage zwischen den Rechtsebenen ändert dies jedoch nichts. Insgesamt überantwortet die Charta den Bereich der Biomedizin, so scheint es, außerhalb des Anwendungsbereichs der expliziten Verbotstatbestände weitgehend dem unionalen und nationalen Gesetzgeber.646 Auch und gerade insoweit besteht ein merklicher Unterschied zum Grundgesetz, da vor allem aus Art. 1 Abs. 1 GG im internationalen Vergleich außerordentlich hohe und schutzintensive Maßstäbe abgeleitet werden, die den Gesetzgeber zum Teil erheblich einschränken und ihn an unverfügbare ethische Grundsätze binden. Man mag vor diesem Hintergrund zwar von einer „größeren Flexibilität“ der Charta sprechen und ihre Offenheit grundsätzlich positiv konnotieren.647 Dies liegt erst recht nahe, wenn man die Berufung auf die Menschenwürde im Bereich der Biomedizin ohnehin als „endemisch“ begreift und die aus ihr abgeleiteten Maßstäbe schlichtweg als „weitgehende Beschränkungen und Verbote“ einer „biomedizinischen Revolution“ und damit als Hemmnis für einen bislang ungeahnten Fortschritt abtut.648 Überzeugender scheint es nach hier vertretener Auffassung dagegen, den Anspruch der Würdegarantie gerade dort mit Bedacht zu behaupten und durchzusetzen, wo ihr, wie etwa im Bereich der Biomedizin, die Herabstufung zum disponiblen Gut droht.649

G. Fazit Die Erkenntnisse aus dem Problemkreis Biomedizin bilden in nuce ab, was für den Vergleich der Würdegarantien als weitgehend verallgemeinerungsfähig gelten kann: einige Gemeinsamkeiten, viele Unterschiede, nahezu ausnahmslos aber Un646 Näher zur die Unionsgrundrechte „konstituierenden“ und „konkretisierenden“ subkonstitutionellen Gesetzgebung Michl, Unionsgrundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, S. 73 ff. und 143 ff. 647 So Scholz, Nationale und europäische Grundrechte – unter besonderer Berücksichtigung der Europäischen Grundrechtecharta, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR VI/2, § 170 Rn. 70. 648 So offenbar die Haltung Dreiers, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 79, daraus auch die Zitate. 649 Wie hier, gleichzeitig vor einem vorschnellen Rekurs auf die Würdegarantie im Bereich der Biomedizin warnend Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution, in: FS Hollerbach, S. 243 (247 ff.).

G. Fazit

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sicherheiten über die normative Reichweite vor allem der chartarechtlichen Bestimmungen.

I. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Würdegarantien „an der Oberfläche“ Beide Garantien speisen sich aus derselben Ideengeschichte und drücken einen Grundkonsens der EU-Mitgliedstaaten aus, wonach die Würde des Menschen Ausgangs- und Fluchtpunkt jeder staatlichen Ordnung sein soll. Dies gilt auch für die Mitgliedstaaten, in denen ein entsprechendes Bekenntnis in der Verfassung fehlt, da die menschliche Würde hier entweder unausgesprochen und/oder über andere Grundrechtsverbürgungen und staatliche Garantien geschützt wird. Insoweit findet der Universalitätsanspruch der Menschenwürde in den Rechtsordnungen der Union Entsprechung. Die Genese beider Normen muss jeweils vor dem Hintergrund vorangegangener Unrechtserfahrungen gesehen werden, wobei das Entfaltungsprogramm beider Würdegarantien nicht nur reaktiv, sondern auch zukunftsgerichtet konzipiert ist. Angesichts dieser Unrechtserfahrungen kann es daher auch nicht erstaunen, dass die wesentlichen Grundaussagen und damit der Kern der Würdekonzepte inhaltlich übereinstimmen. Zum Ausdruck kommen diese in der Charta überwiegend in den speziellen Bestimmungen der Art. 2 – 5 GrCh, vor allem Art. 4 und Art. 5 GrCh dürften dabei den universellen Gehalt der Menschenwürde verdeutlichen, wie auch der Abgleich mit der EMRK zeigt. Auch im Hinblick auf ihre normative Dimension zeigen sich Parallelen der beiden Garantien. So ist ihr Charakter von doppelter Natur, die Menschenwürde unter beiden Grundrechtskatalogen also nicht nur Grundrecht, sondern auch objektiver Grundsatz oder „Wert“, wie Art. 2 EUV unumwunden klarstellt. Als Grundrecht dulden beide Garantien keine Einschränkung und beanspruchen absolute Geltung. Gleichwohl existieren gewichtige Unterschiede, die die Gemeinsamkeiten letztlich in der Summe überwiegen. Dies betrifft namentlich den materiellen Gehalt der Garantien hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs, und darin die umstrittene Frage, inwieweit das ungeborene Leben dem Menschenwürdeschutz unterfallen soll. Die hier festgestellten Unterschiede und das Problem der Trägerschaft der Menschenwürde setzen sich in der Folge auch in den einzelnen inhaltlichen Ausprägungen fort und führen hier zu teils eklatanten Wertungswidersprüchen. Solche sind daneben aber auch in den Bereichen des sachlichen Schutzbereichs festzustellen, in denen die persönliche Teilhabe am Menschenwürdeschutz unstreitig gegeben ist. Die festgestellten inhaltlichen Unterschiede und Wertungswidersprüche werden nicht bzw. kaum dadurch abgefangen, dass sich nur die rechtliche Zuordnung der zugrundeliegenden Problemkreise auf der grundgesetzlichen und der chartarechtli-

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

chen Ebene unterscheidet. Dies gilt insbesondere deswegen, da durch eine divergierende Zuordnung menschenwürderelevanter Themen der Absolutheitscharakter der Würdegarantie und die damit einhergehende Uneinschränkbarkeit der Rechtsposition gerade unterlaufen werden können. Exemplarisch ist hierfür das Themengebiet der Existenzsicherung, bei dem die entscheidenden Bestimmungen unter der Charta bereits systematisch nicht der Menschenwürdegarantie unterfallen. So ergibt die Zusammenschau letztlich, dass eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen den beiden Garantien nicht bzw. wenn überhaupt nur in den Bereichen besteht, die als Fundamentalgarantien bzw. -verbote angesehen werden müssen. Dass diese Übereinstimmung einen nennenswerten und tragfähigen Konsens beider Grundrechtsebenen darstellt, bleibt zu bezweifeln, da nicht ernsthaft damit zu rechnen ist, dass etwa ein Verbot der Sklaverei innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten einmal tatsächliche Bedeutung erlangen wird. In der Konsequenz läuft damit aber auch ein entsprechender Konsens zwischen dem chartarechtlichen und dem grundgesetzlichen Würdekonzept in der Praxis teilweise ins Leere – viel mehr als ein deklaratorischer Charakter wird man den materiellen Übereinstimmungen kaum attestieren können. Damit erweisen sich die Übereinstimmungen der Würdekonzepte in der Sache aber lediglich als inhaltlicher Minimalkonsens, daneben praktisch als weitgehend bedeutungslos. Selbst dort, wo eine nominelle Übereinstimmung der Fundamentalgarantien besteht, zeigt sich bei der praktischen Bewährungsprobe, dass es nicht diese materiellen Übereinstimmungen an sich, sondern erst die von gegenseitigen Anreizen lebenden institutionellen Dialoge – vielleicht auch Spannungen – sind, die zu einer Annäherung der Grundrechte des GG und der GrCh führen.650 Die materielle Übereinstimmung der Grundrechte existiert damit aber nicht per se und auf dem Papier, sondern lebt erst auf und wird generiert durch reziproke institutionelle Stimuli. Auch der analytische Blick muss sich daher zumindest in Teilen von der materiellen auf die institutionelle Ebene verschieben.651

II. Vor allem aber: Inhaltsleere des Würdebegriffs der Charta Wo Übereinstimmungen und Unterschiede der Würdekonzepte nicht festgestellt werden können, liegt dies nicht zuletzt daran, dass der Würdebegriff der Charta bislang kaum Konturen angenommen hat, was zunächst und zu einem erheblichen Teil an der bislang in der Summe überschaubaren und inhaltlich vagen Rechtsprechung des EuGH liegt.652 Daneben fehlt es an einer darauf aufbauenden breiten 650

Haltern, Europarecht, Bd.2, S. 698 ff. Rn. 1624 ff., ins. 1631, beschreibt den Prozess der Übernahme des „deutschen“ Schutzniveaus des Art. 4 GrCh durch den EuGH als Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG zur Identitätskontrolle aus dem Jahr 2015. 651 Dazu sogleich unter Kapitel 5. 652 Dazu s. o. Kapitel 3 D.

G. Fazit

249

Entfaltung des materiellen Schutzgehalts in der Literatur. Wo diese existiert, liegt ihre Urheberschaft häufig in Deutschland, was mit dem Problem einhergeht, dass die aus der deutschen Dogmatik bekannten Ausprägungen der Menschenwürde bisweilen ohne weitergehende Hinterfragung auf die Chartagarantie übertragen werden. Sinnbildlich dafür ist das Beispiel der Subjekt-/Objektformel, bezüglich der teils reflexartig versucht wird, sie – zudem in der Lesart des BVerfG – für die unionsrechtliche Garantie fruchtbar zu machen.653 Der Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes ist demgegenüber allein aufgrund der Rechtsprechung – oder: der Dezisionen – des BVerfG konturenschärfer und inhaltsträchtiger, auch und vielleicht gerade deshalb, da sich die einzelnen Entscheidungen nur unter gewissen Mühen in Einklang miteinander bringen lassen. Verlässt man den Raum der Verfassungsgerichtsbarkeit, bietet sich zwar auch für die Würdegarantie des Grundgesetzes das Bild, dass nahezu sämtliche Ausprägungen in der Diskussion begriffen und heftig umstritten sind. Dies dürfte aber vor allem einen allgemeinen Schwund des gesellschaftlichen Wertekonsenses, nicht aber eine vermeintliche Inhaltslosigkeit des Verfassungsrechts widerspiegeln, als die die Dissonanzen in der Konsequenz jedoch gelegentlich gedeutet wurden.654 Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass die Würdegarantie keineswegs inhaltlos konzipiert wurde, sondern durch den Parlamentarischen Rat eine zwar interpretationsoffene, gleichwohl dezidierte Deutung erfahren hat, die als solche bereits nachvollzogen wurde.655 Insgesamt stellt der Umstand, dass die europäische Würdegarantie keine widerspruchsfreie, inhaltsreiche und zeitlos unverbrüchliche Gewährleistung ist, daher zwar erstens keine Besonderheit im Vergleich zum sonstigen EU-Recht und zweitens allein kein Defizit im Vergleich zur Würdegarantie des GG dar. Schließlich sind auch hier – das zeigen die vorangegangene Rechtsprechungsanalyse und der Problemvergleich – Brüche, Widersprüchlichkeiten, Unvollkommenheiten und Präferenzverschiebungen in der Konzeption auszumachen. Wenn diese Umstände jedoch auf unionsrechtlicher Ebene so weit ausgreifen und so tief gehen, dass von der Substanz einer europäischen Würdegarantie der Sache nach wenig bis nichts übrig bleibt, kann

653 So etwa Frenz, Menschenwürde in der Flüchtlingskrise, ZAR 2016, 223 (224); Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 2. 654 So jedoch Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, S. 20: Menschenwürde als „inhaltslose Tautologie“. Angedeutet auch bei Volkmann, Nachricht vom Ende der Gewißheit. Zur Wirkungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, FAZ Nr. 273 vom 24. 11. 2003, S. 8 ff.: „Wird der Begriff der Menschenwürde, wie in der Diskussion um die Biotechnologie zu beobachten, von ganz verschiedenen Seiten in die Debatte geworfen, die sich aber beide für ihre Position auf ihn berufen, so könnte man darin auch nur das vorerst letzte Zeichen dafür sehen, daß ihm die sachliche Substanz endgültig abhandengekommen ist.“ 655 Grundlegend Goos, Innere Freiheit, ins. S. 75 ff., 139 ff., wonach es dem Parlamentarischen Rat primär um die geistige Freiheit als Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG gegangen sei. Diese sei dort als die innere Freiheit des Erlebens, Empfindens und Erleidens und damit als empirisch fassbares Attribut eines jeden Menschen verstanden worden.

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Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

weder von einer gänzlichen Entsprechung, noch auch nur von einem vergleichbaren Schutzniveau beider Garantien gesprochen werden. Diese Erkenntnisse führen daher auch über zu einem, ja dem fundamentalen Unterschied zwischen beiden Würdegarantien, der auf einer strukturell tieferliegenden Ebene auszumachen ist.

III. Tieferliegend: Die Würdegarantie des Grundgesetzes als interpretierte, die Würdegarantie der Charta als nicht interpretierte These Die Prägung des grundgesetzlichen Würdebegriffs durch den parlamentarischen Rat sowie darauf aufbauend die Rechtsprechung des BVerfG heben Art. 1 Abs. 1 GG substanziell von ihrem unionalen Pendant ab. Über deren materiellen Gehalt wurde im Grundrechtskonvent kaum verhandelt und dort, wo dies geschehen ist, blieb aufgrund unversöhnlicher Positionen zwischen den Konventsmitgliedern nur die Lösung, die Charta solle zu diesen Punkten schlicht keinerlei Regelung enthalten. Die inhaltliche Blässe von Art. 1 Abs. 1 GrCh erweist sich so als weitgehende Inhaltslosigkeit, die Würdegarantie in der Folge nicht als Kompromiss- oder Konsensmodell, sondern offenes und entwicklungsabhängiges Diskursmodell.656 Mit dieser Konzeption rückt die Charta als Ganzes zwar in die Nähe der EMRK als „living instrument“, deren Regelungen über längere Zeit einer genauen inhaltlichen Bestimmung harrten und die daher nach wie vor auf fortwährende Interpretation und Weiterentwicklung angewiesen sind.657 Im selben Maße entfernt sie sich dadurch aber von dem grundgesetzlichen Verfassungs- und vor allem von dem hiesigen Würdeverständnis, da die Würdenorm hier gerade als ultimativer Gradmesser für neuere Entwicklungen, nicht aber als erst durch Diskurs zu generierende Regelung dienen soll. Schließlich sollen mit ihr nicht nur absolute Grenzen für Eingriffe in Freiheitssphären des Menschen gezogen werden.658 Auch Verfassungsänderungen und damit Formen des formellen Verfassungswandels sollen nach Art. 79 Abs. 3 GG gerade an Art. 1 Abs. 1 GG gemessen werden.659 Dem unbestimmten, dynamischen Projekt einer noch bevorstehenden Entfaltung und Normgenerierung der Chartagrundrechte steht das grundgesetzliche Würdekonzept daher gegenüber.

656

Chalmers/Davies/Monti, European Union Law, S. 265: „substance of the EU law vision on human dignity is completely empty“; s. auch Sánchez, The Court and the Charter: The Impact of the Entry into Force of the Lisbon Treaty on the ECJ’s Approach to Fundamental Rights, Common Market Law Review 49 (2012), 1565 (1605 f.). 657 S. dazu Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 157 ff. („Evolutive Auslegung der EMRK als living instrument”). 658 Dazu v. Bernstorff, Der Streit um die Menschenwürde im Grund- und Menschenrechtsschutz: Eine Verteidigung des Absoluten als Grenze und Auftrag, JZ 2013, 905 (905 ff.). 659 Näher o. Kapitel 4. C. V.

G. Fazit

251

IV. Probleme des Diskursmodells aus Art. 1 Abs. 1 GrCh Wenn für die Entfaltung der unionalen Würdegarantie und für die Genese eines gemeineuropäischen Würdeverständnisses neben dem Gerichtshof vor allem die „offene Gesellschaft der europäischen Verfassungsinterpreten“ und „europäische Diskursgemeinschaften“ gefragt sind, wie es vielerorts beschrieben ist, fragt sich nicht nur, wer jene sind und worin diese bestehen.660 Auch bleiben die darin geltenden Wirkmechanismen, Machtbalancen und „Spielregeln“ weitgehend im Dunkeln.661 Grundsätzlich fehlt es für einen gedeihlichen Dialog bereits an gemeinsamen Foren und an einer einheitlichen Sprache, was den europäischen Diskursraum insgesamt als verhältnismäßig lose ausweist.662 Dies steht wiederum in deutlichem Unterschied zur deutschen Diskussion um das Grundgesetz und Art. 1 Abs. 1 GG, bei deren Auslegung zumindest keine Sprachbarrieren und Zugangshindernisse zu bestimmten Quellen und Meinungen bestehen.

V. Mangelnder Konsens in den Mitgliedstaaten der Union Soweit es der Würdegarantie der Charta an inhaltlichen Festlegungen fehlt, ist dies zwar vornehmlich auf die Beratungen im Grundrechtekonvent zurückzuführen: aus deren Ergebnislosigkeit in der Sache erklärt sich auch die Zurückhaltung des EuGH in menschenwürderelevanten Fragen. Dieser hat jedoch eine weitere Ursache und letztlich könnten sich die ergebnislosen Beratungen im Konvent selbst nur als Folge dieser Ursache erweisen. Es ist dies die Tatsache, dass eine übereinstimmende Vorstellung darüber, was die Menschenwürde schützen soll, was sie ausmacht und worin sie begründet liegt, zwischen den Mitgliedstaaten nur im Hinblick auf wenige Fundamentalaussagen, im Übrigen, ihren genaueren Ausprägungen und Verästelungen, aber nicht existiert. Dieser Umstand hat sich in der Analyse der Einzelausprägungen und darin regelmäßig in dem Ergebnis gezeigt, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen und Rechtspraktiken völlig heterogen sind, ein irgendwie gearteter Konsens jenseits eines Minimalkonsenses nicht ausgemacht werden kann. Sinnbildlich ist in diesem Zusammenhang das Urteil des EuGH zur Rechtssache Omega, das in einer Disparität der Regelungen in Deutschland und Großbritannien seinen Ausgang nahm und diese im Ergebnis auch nicht beseitigen konnte.

660

Die Begriffe bei Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Art. 1 Rn. 41. Eingehend zu europäischen „Diskursräumen“ Thym, Zustand und Zukunft der Europarechtswissenschaft in Deutschland, EuR 2015, 671 (671 ff.). 662 Ausführlich Hatje/Mankowski, „Nationale Unionsrechte“ – Sprachgrenzen, Traditionsgrenzen, Systemgrenzen, Denkgrenzen, EuR 2014, 155 (157 ff.); Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 613. 661

252

Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

VI. Normgenerierung und das Problem Evidenz Wenn der nähere Inhalt der unionalen Würdegarantie in weiten Teilen gerade (noch) nicht auszumachen ist und sich ihre Konturen erst nach und nach abzeichnen (sollen), wird die Rechtsprechung des EuGH, um nicht Legitimationsproblemen zu begegnen, maßgeblich aber auf Evidenz, also auf gleichartige Einschätzungen und Erfahrungsschätze in den Mitgliedstaaten gegründet sein müssen.663 Wo sich die Evidenz einer Würdeverletzung zwischen den Mitgliedstaaten nicht abzeichnet – wie in nahezu allen untersuchten Themenbereichen der Fall – bleibt allerdings auch unklar, auf welche Erfahrungsschätze der EuGH seine Urteile stützen kann. Die Würdegarantie wird damit auch bei Anwendung der Evidenzmethode kaum merklich an Kontur gewinnen. Letztlich könnte ihr wesentlicher Gehalt dann auch schlicht darin liegen, dass in ihr einige wenige innerhalb der EU konsentierte und evidenzbasierte Grundaussagen gebündelt sind. Ihre übrige Inhaltslosigkeit müsste bei diesem reduzierten Verständnis auch nicht zwangsläufig als Problem gedeutet werden, da dieses Würdekonzept anschlussfähig wäre für vielfältige und heterogene Positionen und darüber hinaus der Gefahr einer Unitarisierung vorgebeugt würde, die von den Mitgliedstaaten als illegitim erachtet werden könnte. Gerade dann muss im Vergleich allerdings gesehen werden, dass sich das grundgesetzliche Würdeverständnis in seiner heutigen Ausprägung von einem solchen reduzierten Gehalt merklich abhebt. Der hierin verbürgte Würdeschutz erschöpft sich schließlich nicht in wenigen, als evidente Würdeverletzung angesehenen Tatbeständen wie Sklaverei etc., sondern ist wie gesehen thematisch wesentlich breiter angelegt und reicht materiell erheblich weiter, ohne dass diesem Schutzgehalt im Einzelnen ein derzeit gültiges Evidenzurteil zugrundeliegt. Für eine Inhaltsermittlung mittels einer evidenzbasierten Methode, die de facto auf eine Neuinterpretation und aus heutiger Sicht in der Konsequenz auf eine Reduzierung des Schutzgehalts von Art. 1 Abs. 1 GG hinausliefe, bestehen unter dem Grundgesetz daher weder Bedürfnis noch Raum.664 Von diesem Verständnis soll und darf allein aufgrund der Tatsache, dass mit der Charta ein Grundrechtskatalog im Mehrebenensystem hinzugetreten ist, nach hiesiger Auffassung auch nicht Abstand genommen werden.665 Vielmehr gilt es, den durch das Grundgesetz gewährleisteten 663 Bereits für das GG Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (775). 664 Ausführlich Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 39 ff. 665 Die Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG im Geiste eines solch reduzierten Würdeverständnisses wurde aber gerade im Abgleich mit der unionsrechtlichen Würdegarantie bereits gefordert, als „Rückbesinnung“ etwa bei Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft, Der Staat 50 (2011), 533 (565); ähnlich Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschung, FS Häberle, S. 355 (377 ff.); schließlich bei Enders, Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung?,

G. Fazit

253

Schutzstandard im Zuge zunehmender Europäisierung durchaus offensiv zu verteidigen.666

VII. Die Würdegarantien zwischen normativem Anspruch und Wirklichkeit Wenn in alledem mit der Würdegarantie der Charta aber eine Norm existiert, deren Inhalt kaum auszumachen ist, unter der des Weiteren sich diametral gegenüberstehende und teils widersprechende Rechtspraktiken der Mitgliedstaaten auszumachen sind, wirft dies die Frage der grundsätzlichen Leistungsfähigkeit der Norm, und allgemeiner: der (Quasi-) Verfassung der Union auf. Wie lassen sich etwa der Absolutheitsanspruch der Menschenwürde und der Fakt in Einklang bringen, dass dieselbe Tätigkeit in einem Mitgliedstaat der Union erlaubt, vielleicht sogar gefördert, im anderen dagegen bei Strafe verboten ist? Dem kann nur beikommen, wer in der Garantie ein nur loses Bekenntnis, und vielleicht auch in weiten Teilen der unionalen Primärrechtsordnung generell lediglich eine Rahmenordnung sieht, die den einzelnen Mitgliedstaaten weitestgehende Freiräume für eigene Wertungen belässt. Was aber bleibt vor diesem Hintergrund substanziell von der Würdegarantie samt ihres Universalitätsanspruchs? Zeigt dieser Umstand, dass der Begriff der Menschenwürde auf Unionsebene damit einer sachlichen Bedeutung weitgehend entbehrt? Die Frage nach der Leistungsfähigkeit stellt sich zwar auch für die grundgesetzliche Würdegarantie, da sich ihre Grenzen – allgemeiner: die Grenzen des Verfassungsrechts – auch hier bereits gezeigt haben: Zu denken ist etwa an die Thematik des Schwangerschaftsabbruchs, in der die rechtlichen Vorgaben, etwa zur Ausgestaltung der Konfliktberatung, längst zu Marginalien verkommen und einer weitgehend geduldeten Praxis gewichen sind.667 Wie die Analyse der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG gezeigt hat, betrifft dies jedoch lediglich bestimmte umstrittene Einzelausprägungen ihres Schutzgehalts, nicht jedoch das Würdeverständnis als solches und im Gesamten.

JöR 2011, 245 (256): „Wird das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde sachgerecht interpretiert, reduzieren sich die Hemmnisse erheblich, die einer gemeineuropäischen Rechtsordnung und vor allem der europäischen Integration von dieser Standortbestimmung des deutschen Volkes […] drohen oder drohen könnten.“ 666 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17: „Konzept […] europapolitisch offensiv verteidigen“; Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 39 ff., ins. 41, 43, 44; s. auch Lange, Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem?, NVwZ 2014, 169 (173), die in diesem Zusammenhang vor einer Einebnung des deutschen Menschenwürdeverständnisses warnt. 667 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 2 Abs. 2 Rn. 44.

254

Kap. 4: Die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG und Art. 1 GrCh

VIII. Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts Letztlich verdeutlicht der Vergleich der einzelnen Probleme und darin der verschiedenen Rechtspraktiken der Mitgliedstaaten, wie sehr das Würdeverständnis einer politischen Gemeinschaft zumindest auch von unausgesprochenen Vorannahmen lebt. Diese Vorannahmen entziehen sich bisweilen einer zweckrationalen Begründung und sind selbst Resultat etwa geschichtlicher, weltanschaulicher, religiöser oder kultureller Prägung.668 Die Menschenwürde und der in ihr verkörperte universalistische Anspruch stehen mit dieser Idee zwar grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis.669 Indes ist zu erkennen, dass Verfassungsordnungen und die darin geltenden Werte wie die Menschenwürde zuvörderst ein Gehäuse je eigener nationaler Wertmaßstäbe bilden, auf die sich eine politische Gemeinschaft verständigt hat.670 Unter der grundgesetzlichen Ordnung bündeln sich diese Vorannahmen in einem bestimmten Menschenbild – ob man den Begriff mit dem BVerfG für das Verfassungsrecht fruchtbar machen will oder nicht – und damit in einem Leitbild, das Vorstellungen über die menschliche Existenz als solche sowie über menschliche Grundbedürfnisse, Unzulänglichkeiten und Verletzlichkeiten in sich trägt.671 Einer Identifizierung der Würdekonzeption der Charta mit der des Grundgesetzes ist daher die Grenze der kulturellen Bedingtheit und Kontextabhängigkeit des Rechts gesetzt.672

668 McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights EJIL Vol. 19 (2008), S. 655 (710). 669 Zum Universalitätsanspruch der Menschenwürde s. Mahlmann, Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 262 ff., 344 ff. Isensee lokalisiert das Problem dagegen auf einer anderen Ebene: Die Spannung bestünde demnach zwischen der abstrakten (universalistischen) Idee der Menschenwürde einerseits und der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes andererseits, da letztere ihre Wirkung nur auf Grundlage der Territorial- und Personalhoheit des Staates entfalte, s. Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 22 f. 670 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 40. 671 Zum Begriff des Menschenbilds des GG s. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 37 ff. 672 S. dazu Mastronardi, Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts, in: Marauhn (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, S. 55 (59 ff.). Die Deutung der Menschenwürde daher als „latenter Kulturvorbehalt“ bei Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, S. 112 ff.; s. auch Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 146. Einschränkend Mahlmann, Grundrechtstheorien in Europa – kulturelle Bestimmtheit und universeller Gehalt, EuR 2011, 469 (479 ff.).

Kapitel 5

Schlussbetrachtungen Abschließend ist zu klären, welche Schlüsse aus dem Vergleich im Hinblick auf das anfangs beschriebene Verhältnis der Würdegarantien im grundrechtlichen Mehrebenensystem zu ziehen sind. Zunächst sollen die Vergleichsergebnisse auf die in Kapitel 2 vorgestellten Modelle angewendet werden (A.). Durch diese Anwendung wird die Dialogverantwortung der Gerichte im grundrechtlichen Mehrebenensystem überdeutlich (B.), in der sich die vom BVerfG vorbehaltene Identitätskontrolle jedoch als legitimes und notwendiges „defensives“ Schutzkonzept im Gerichtsgefüge erweist (C.). Zuletzt könnte die Vergegenwärtigung des Wertcharakters der Menschenwürde und ihrer allgemeinen Bedeutung für das politische System den Weg für eine Parallelität der unterschiedlichen Würdekonzeptionen weisen (D.).

A. Bedeutung der Ergebnisse für die Modelle aus Kapitel 2. Zur Grundrechtskonkurrenz im Mehrebenensystem Was die grundrechtliche Dimension anbelangt, dürfte die Würdegarantie des Grundgesetzes in der Konkurrenzsituation allein aus dem Grund maßgeblich sein, da die aus ihr fließenden Maßstäbe weitgehend klar und berechenbar sind – Rechtssicherheit bedeutet hier schlicht höheren Rechtsschutz. Diese Überlegung hat gegenüber den Modellen, die die Anwendbarkeit der konkurrierenden Grundrechte von vornherein nach der „Höhe“ ihres materiellen Schutzes klären wollen, den Vorteil, dass sie die schwierige, teils unmögliche, Bestimmung eines materiell „höheren“ Schutzes umgeht: Denn häufig werden sich die Grundrechtsgehalte einzig und allein darin unterscheiden, dass innerhalb ihres Anwendungsbereichs von Seiten der Gerichte Freiheiten schlicht anders verteilt und interpretiert werden, ohne dass damit aber ein „höherer“ oder „niedrigerer“ Schutz einhergehen muss.1 Lässt man sich auf die komparativen Abgrenzungs- und Lösungsmodelle gleichwohl ein, ergeben sich nach dem Vergleich die folgenden Ergebnisse.

1 Zur besonderen Schwierigkeit der Bestimmung von Schutzniveaus in sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen s. o. Kapitel 2. C. II.

256

Kap. 5: Schlussbetrachtungen

I. Einzelfallorientiertes Modell Beim Modell, das demjenigen Grundrecht Anwendungsvorrang einräumt, welches im Einzelfall jeweils höheren Schutz bietet, fällt eine generelle Aussage zwar grundsätzlich aus. Es dürfte aber angesichts des vorgenommenen Vergleichs in den meisten Fällen die Würdegarantie des Grundgesetzes sein, die Stand heute den höheren Schutz bereithält, sodass diese hiernach überwiegend maßstabsgebend wäre.

II. Unionsgrundrechte als Mindeststandard Der Vergleich der Würdekonzeptionen hat gezeigt, dass die Charta in vielen Bereichen Beurteilungsspielräume für die Mitgliedstaaten bereithält und dass das Modell des unionsrechtlichen Mindeststandards gerade in dem sensiblen Feld des Menschenwürdeschutzes praktische Umsetzung gefunden hat. Das schränkt ein mögliches Konfliktpotenzial zwischen den Grundrechtsebenen von vornherein stark ein. Allerdings ist fraglich, ob dieser Status Quo auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Schließlich ist durchaus zu erwarten, dass die Charta angesichts ihres Entwicklungspotenzials zunehmend an Vorgaben und an Dichte gewinnen wird und dass die europäischen Gerichte eindeutige Positionierungen auch in sensiblen Fragen zukünftig kaum vermeiden werden können.2 Dass sich die Schutzstandards dann einander entsprechen werden, bleibt angesichts des Vergleichs zu bezweifeln.

III. Prinzip der Meistbegünstigung / Günstigkeitsprinzip Ungeachtet der bereits in Kapitel 2 erörterten Schwierigkeiten dieses Modells und bei Zugrundelegung der Annahme, dass eine qualitative Bestimmung von Schutzniveaus möglich ist, ist die Würdegarantie des Grundgesetzes in weiten Teilen die Norm, die einen höheren Schutzgehalt bereithält. Dies betrifft nicht nur ihre Einzelausprägungen, sondern bereits ihre grundlegenden normativen Aussagen, da unter dem Grundgesetz etwa die Frage des persönlichen Schutzbereichs zugunsten eines denkbar hohen Schutzes geklärt ist. Auch soweit die unionsrechtliche Garantie keine Vorgaben bzw. Unklarheiten über ihren Gehalt enthält, ist nach diesem Modell Art. 1 Abs. 1 GG das anwendbare, da weiterreichende Grundrecht.

IV. Vorrang der mitgliedstaatlichen Grundrechte Für die Mitgliedstaaten wäre dieses Modell im Falle der Doppelgeltung der Grundrechte insoweit unbedenklich, als der nationale Würdeschutz weitgehend 2

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GrCh, Vor Art. 1 Rn. 6a.

A. Bedeutung der Ergebnisse für die Modelle aus Kapitel 2

257

maßgeblich bliebe und aus deutscher Sicht somit das hohe Niveau des grundgesetzlichen Menschenwürdeschutzes auch hier beibehalten werden könnte. Umgekehrt bedeutete dies eine Vielzahl von teils stark divergierenden Würdekonzepten und eine Perpetuierung unterschiedlicher Grundrechtsniveaus zwischen den Mitgliedstaaten. Speziell die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes könnte sich in der nach wie vor maßgeblichen Interpretation als Hemmnis für eine gemeineuropäische Rechtsordnung und ein gemeineuropäisches Würdeverständnis erweisen.3 In jedem Fall bliebe bei diesem Modell zu bezweifeln, dass die unionale Würdegarantie überhaupt breitere Wirkung entfalten kann, sodass auch der Sinn darüber, wozu sie überhaupt benötigt wird, abhandenzukommen drohte.

V. Vorrang der Unionsgrundrechte Bedenklich scheint nach dem vorgenommenen Vergleich das Modell, das in der Situation der Doppelgeltung der Grundrechte einen generellen Vorrang der Unionsgrundrechte postuliert. Dies bedeutete in weiten Teilen einen Abschied von dem hohen grundrechtlich garantierten Würdeschutz, da Art. 1 Abs. 1 GrCh von diesem weitgehend abfällt. Soweit das Schutzniveau der Chartanorm noch ungeklärt ist, bleibt zu bezweifeln, dass ihr Gehalt auf ein mit dem Grundgesetz vergleichbares Niveau anwächst, da das deutsche Würdeverständnis und in der Folge das mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Schutzniveau im mitgliedstaatlichen Vergleich eine Ausnahme darstellt.

VI. Zwischenergebnis Zumindest in der Theorie dürfte, wenn es darum geht, ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten, Art. 1 Abs. 1 GG das in der Doppelgeltung anwendbare, da in der Sache weitere Grundrecht darstellen. In der Praxis wahrscheinlicher und aus deutscher Sicht zu befürchten ist jedoch, dass im Falle zunehmender Kompetenzverschiebung und -ausweitung zugunsten der Union sowie aufgrund der extensiven Rechtsprechung des EuGH auf Dauer die europäischen Grundrechte maßgeblich sein werden, Art. 1 Abs. 1 GrCh die grundgesetzliche Garantie daher zwar nicht gänzlich verdrängen, doch zumindest in weiten Teilen überlagern wird.4

3

S. dazu Enders, Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung?, JöR 59 (2011), 245. 4 Thym, Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz?, NVwZ 2013, 889 (895).

258

Kap. 5: Schlussbetrachtungen

B. Dialogverantwortung der Gerichte Da sich die verschiedenen Konstellationen einstweilen aber einer rigiden Lösung sperren, kommt es bis auf weiteres, vielleicht auch auf Dauer vor allem auf den rücksichtsvollen Dialog – hier – zwischen dem BVerfG und dem EuGH an. Dialogräume dafür existieren auf formeller wie auch informeller Ebene zu Genüge.5 Die Dialogverantwortung betrifft die Frage des Verhältnisses von nationalen und unionalen Grundrechten im Allgemeinen, und die Menschenwürderechtsprechung der beiden Höchstgerichte im Besonderen. Was letztere anbelangt, hat der EuGH bislang die Bereitschaft gezeigt, den Mitgliedstaaten weite Beurteilungsspielräume zu belassen und auf nationale Bedürfnisse zu reagieren, wodurch ein Aufbegehren nationaler Gerichte in diesem Kontext vermieden werden konnte.6 Dieses reduzierte Prüfprogramm sollte angesichts des vorgenommenen Vergleichs, soweit möglich, auch bei Erweiterung von Gesetzgebungskompetenzen zugunsten der Union aufrechterhalten werden, da nur dadurch weite Teile des jeweiligen – hier: grundgesetzlichen – Würdeverständnisses auch künftig bewahrt werden können. Inwieweit dies auf Dauer praktikabel und realistisch ist, vor allem aber, ob der Gerichtshof diesen Willen nachhaltig aufrechterhalten wird, bleibt jedoch abzuwarten. Letztlich wird das Verhältnis zwischen dem BVerfG und dem EuGH, aber auch dem EGMR, nämlich von der Frage überschattet, wer künftig das „letzte Wort“ in Grundrechtsfragen beanspruchen kann.7 In diesem Wettbewerb konkurrieren die nationalen Verfassungsgerichte mit dem EuGH und dem EGMR um Auslegungsund Deutungshoheit; materielle Fragen sind hier zugleich solche mit institutionellen Implikationen und letztlich Machtfragen zwischen den gerichtlichen Akteuren.8 Der aktuelle Schwebezustand, wie er auch in den vorgestellten Modellen zum Ausdruck kommt, kann dabei zwar durchaus als Stimulans für eine europäische Grundrechtskultur wirken.9 Vor einem solchen Hintergrund könnte ein allgemeines Interesse daran bestehen, dass die Frage nach dem „letzten Wort“ vielleicht gestellt,

5 In formeller Hinsicht ist hier an die Vorlageverpflichtung des BVerfG an den EuGH gem. Art. 267 AEUV zu denken, von der das BVerfG bislang zwei Mal, allerdings nicht in Grundrechtsfragen, Gebrauch gemacht hat. Die informellen Dialogräume zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten beschreibt P. M. Huber, Europäische Verfassungsund Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (410 ff.). 6 Beispielhaft in der Rs. Omega, s. o. Kapitel 3 D. II. 7 Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 578 Rn. 1371 ff. 8 Näher Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 574 Rn. 1359 ff., 1372 ff. Der Machtaspekt bleibt in Konzepten des „Verfassungspluralismus“ häufig unterbelichtet, was Schorkopf darauf zurückführt, dass ein Anliegen dieser Konzepte gerade in der „Unsichtbarmachung“ von Macht besteht, Schorkopf, VVDStRL 75 (2015), Aussprache S. 126. 9 Haltern, Europarecht, Bd. 2 S. 702 Rn. 1631: „Verfassungsrechtliche Klarheit und Ordnung ist nicht immer ein Wert an sich, sondern tritt manchmal vielleicht hinter die gegenseitigen Anreizwirkungen und Begründungspflichten zurück.“

C. Identitätskontrolle des BVerfG als Schutzkonzept

259

aber eben bewusst nicht oder jedenfalls nicht vorschnell beantwortet wird, um die stimulierenden Effekte eines Grundrechtsdialogs nicht im Keim zu ersticken.10 Jedoch drohen bei dieser undurchsichtigen Melange – anders gewendet: dieser „dynamischen“ Grundrechtsentwicklung – die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes und der dadurch garantierte Menschenwürdeschutz unter die Räder zu kommen: Einerseits, da hier gefestigte und unverrückbare Positionen auf dem Weg zu einer gemeineuropäischen Grundrechtskultur tendenziell als störend begriffen werden könnten.11 Andererseits, da die materiellen Fragen um das mit der Menschenwürdegarantie verbürgte Schutzniveau zurückgedrängt werden und so zum „Spielball“ im institutionellen (Macht-)Kampf der Grundrechtsgerichte verkommen könnten.

C. Identitätskontrolle des BVerfG als legitimes und notwendiges Schutzkonzept Um die Bonität der Menschenwürderechtsprechung und des grundgesetzlichen Würdeschutzes zu wahren, ist das BVerfG gleichwohl verpflichtet, Grundrechtskontrolle im Wege der sog. Identitätskontrolle nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG im Konfliktfall auch über Sekundärrechtsakte und nationale Umsetzungsakte – und damit im unionsrechtlich determinierten Bereich – auszuüben, soweit diese Rechtsakte den Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 GG betreffen. Das BVerfG hat diesen Ansatz erstmalig in dem Beschluss zum Internationalen Haftbefehl (Dezember 2015) lanciert und damit die Solange-II-Recht10 Dagegen aber bereits C. Schönberger, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 63 (2015), 41 (61). 11 S. dazu Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 669 f.: Mehrere, sich voneinander unterscheidende Grundrechtsschutzniveaus verlören an „Plausibilität, […] sind kaum mehr einsichtig und werden zu einem Problem für die Rule of Law“. Unverhohlen spricht Enders, Das Bekenntnis zur Menschenwürde im Bonner Grundgesetz – ein Hemmnis auf dem Weg der Europäisierung?, JöR 59 (2011), 245 ff., in diesem Kontext gar von dem deutschen Würdestandard als Bedrohung für eine gemeineuropäische Rechtsordnung und die europäische Integration insgesamt: „Wird das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde sachgerecht interpretiert, reduzieren sich die Hemmnisse erheblich, die einer gemeineuropäischen Rechtsordnung und vor allem der europäischen Integration von dieser Standortbestimmung des deutschen Volkes […] drohen oder drohen könnten.“; in die gleiche Kerbe schlägt Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 ff., der in der Konsequenz eine europaverträgliche Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG anmahnt. Dagegen streiten für die Verteidigung des grundgesetzlichen Würdeverständnisses im Zuge der europäischen Integration Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 GG Rn. 17, sowie Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HBdGR IV, § 87 Rn. 39 ff., der mit den voranstehenden Positionen wie folgt abrechnet: „Das naturrechtliche Argument stützt den Absolutheitsanspruch der Menschenwürde, das völkerrechtliche und rechtsvergleichende Argument fördert ihre Relativierung.“

260

Kap. 5: Schlussbetrachtungen

sprechung12 partiell – nämlich für den Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 GG – verabschiedet.13 Zwar mag das BVerfG dabei auch (oder vor allem) institutionelle Fragen und die eigene Position im Blick gehabt haben. Schließlich hat das Gericht die Frage, wer künftig das „letzte Wort“ in Grundrechtsangelegenheiten haben soll, nun zumindest für den Bereich des Menschenwürdeschutzes in einem autonomen Rekurs auf die Verfassungsidentität zu seinen Gunsten beantwortet. Allerdings erschöpft sich darin nicht der Sinn und Zweck der vorgenommenen Relativierung der Solange-IIRechtsprechung: Gerade anhand des vorgenommenen Vergleichs lässt sich zeigen, dass der Menschenwürdeschutz zwischen der unionalen und der grundrechtlichen Ebene zwar Gemeinsamkeiten enthält, in vielen Bereichen jedoch auseinanderfällt bzw. auseinanderfallen kann. Letzteres hängt in Zukunft – wie sich an verschiedenen Stellen gezeigt hat – ganz entscheidend von den zur Auslegung berufenen gerichtlichen Akteuren ab, da es diesen obliegt, innerhalb der von ihnen bereits eingeschlagenen „Pfade“ die Reichweite bestimmter Freiheitssphären letztinstanzlich zu bestimmen und dabei verschiedene Interessen und Einzelausprägungen zu gewichten. Wie bei kaum einem anderen Grundrecht, auch dies hat der Vergleich gezeigt, können sich bei der Menschenwürde durch unterschiedliche Gewichtung und Interpretation Wertungswidersprüche ergeben, die sensible Bereiche und die Grundlagen des menschlichen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses berühren. Die materielle Bonität des Menschenwürdeschutzes hängt also auch ganz entscheidend davon ab, wer über die zugrundeliegenden Fragen entscheidet. Daher erschöpft sich der neue Ansatz des BVerfG auch nicht in einer lediglich selbstzweckhaften Sicherung der eigenen institutionellen Vorrangstellung;14 er bildet vielmehr die Grundlage für die Wahrung des hohen Schutzniveaus, für das das BVerfG in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verantwortlich war.15 Vor diesem Hintergrund gilt es, diese Bereitschaft des Gerichts zur Bewahrung, vielleicht auch zur Verteidigung des grundgesetzlichen Würdekonzepts positiv herauszustellen. Des weiteren hat der Ansatz des BVerfG bereits Anreize für den EuGH geschaffen, die nicht nur zu Antworten in institutioneller Hinsicht, sondern auch zu 12

BVerfGE 73, 339 – Solange II. BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle; davor wurde die Verfassungsidentität seit der Lissabon-Entscheidung jedoch bereits in nahezu allen Entscheidungen des BVerfG im EUKontext angesprochen; näher (und kritisch zu dem Konzept) Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland, AöR 140 (2015), 1 (7 ff.); die Verteidigung des Konzepts bei Wischmeyer, Nationale Identität und Verfassungsidentität. Schutzgehalte, Instrumente, Perspektiven, AöR 140 (2015), 415 ff. 14 Die Deutung als bloße „Widerstandsformel“ jedoch bei C. Schönberger, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 63 (2015), 41 (54 ff.); s. auch C. Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl), JZ 2016, 422 (424): „Es geht hier allein um judizielle Kommunikationspolitik“. 15 Zustimmend Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl), JZ 2016, 424 (426 f.). 13

C. Identitätskontrolle des BVerfG als Schutzkonzept

261

einer Neujustierung des europäischen Grundrechts- und Menschenwürdeschutzes geführt haben.16 Somit zeigen sich auch erste Früchte dieser Rechtsprechung in Gestalt eines gemeineuropäischen Grundrechts- und Menschenwürdeschutzes, der an die stimulierende Wirkung der Solange-I-Rechtsprechung erinnern lässt.17 Daneben bedarf es etwaiger Anreizwirkungen aus dem oben beschriebenen „Schwebezustand“ (durch Offenlassen der institutionellen Fragen) nicht. Der Ansatz des BVerfG ist schließlich auch mit dem Unionsrecht nicht nur vereinbar, sondern findet darin selbst seine Legitimation, da die Union gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV die Identität der Mitgliedstaaten ausdrücklich achtet.18 Schließlich stellt das Rekurrieren auf die Verfassungsidentität von Seiten des BVerfG keinen Sonderfall in der Beziehung zwischen der Bundesrepublik und der Union dar, sondern hat das Konzept der Verfassungsidentitätskontrolle im mitgliedstaatlichen Vergleich durchaus Konjunktur.19 Die Identitätskontrolle des BVerfG ist jedoch ihrerseits mit gewissen Problemen und Gefahren verbunden. So ist zunächst die exakte Reichweite von Art. 1 Abs. 1 GG nach wie vor nicht geklärt.20 Des Weiteren droht eine Verwässerung des Schutzgehalts durch (Über-)Strapazierung und Inflationierung des Würdearguments.21 Schließlich trägt die Figur des „Menschenwürdekerns“ der Grundrechte zu Rechtsunsicherheit bei, da Prüfungskompetenzen dadurch auch in den Bereichen zurückzuerlangt werden könnten, die eigentlich durch die Solange-II-Rechtsprechung der Jurisdiktion des EuGH unterfallen – was wiederum negative Konse-

16

S. o. Kapitel 4 F. II. Näher Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 702 Rn. 1631. Zur Entwicklung Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 592 ff. 18 Die Identitätskontrolle sei demnach in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV „der Sache nach angelegt“, BVerfGE 140, 317 (337 ff.); kritisch dagegen Sauer, „Solange“ geht in Altersteilzeit – Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht, NJW 2016, 1134 (1136); ebenfalls kritisch C. Schönberger, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 63 (2015), 41 (51 ff.); F. C. Mayer sieht die Identitätskontrolle nur insoweit von Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV erfasst, als es sich bei ihr um ein „Verbundkonzept“ handelt, was zwingend eine Beteiligung des EuGH im Wege des Vorlageverfahrens voraussetzt, s. F. C. Mayer, Verfassung im Nationalstaat: Von der Gesamtordnung zur europäischen Teilordnung?, VVDStRL 75 (2015), S. 43 ff. 19 S. die Nachweise zur Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichte bei P. M. Huber, Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389 (406 f.). 20 Dazu s. o. 4. Teil. 21 Nettesheim, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl), JZ 2016, 424 (427 f.); C. Schönberger, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss v. 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl), JZ 2016, 422 (423): Erfindung eines „neuartige[n] Grundrecht[s] auf Menschenwürdität“. Angedeutet auch bei C. Schönberger, Identitäterä. Verfassungsidentität zwischen Widerstandsformel und Musealisierung des Grundgesetzes, JöR 63 (2015), 41 (59 f.). 17

262

Kap. 5: Schlussbetrachtungen

quenzen für eine gemeineuropäische Grundrechtskultur haben könnte.22 Auch nach dem Ansatz des BVerfG kann die Menschenwürde also zum „Spielball“, hier jedoch in den Händen des BVerfG, werden. Soweit die menschenwürdesichernde Identitätskontrolle aber, wie vom BVerfG selbst formuliert, nur in „in eng begrenzten Einzelfällen“ vorgenommen wird23 und das BVerfG seinerseits an der Dialogbereitschaft mit dem EuGH festhält – die Entscheidungen aus jüngerer Vergangenheit deuten in diese Richtung24 –, sind die skizzierten Nachteile des Ansatzes im Vergleich mit seinen Vorteilen insgesamt als gering zu gewichten.

D. Die Würde des Menschen als Grundwert der politischen Ordnung der Bundesrepublik und der Europäischen Union Vielleicht könnte eine Lösung für die Wertungswidersprüche auf grundrechtlicher Ebene daher einstweilen darin bestehen, unter Einbeziehung der Identitätskontrolle wie bislang fortzufahren; das bedeutete zum einen eine strikte Begrenzung von unionalen Gesetzgebungskompetenzen und eine entsprechend zurückhaltende Rechtsprechung des EuGH, vor allem in ethisch-moralisch und gesellschaftlich sensiblen Bereichen.25 Zum Anderen verlangte dieser Ansatz die Bereitschaft der 22

Hong, Case note: Human Dignity, Identity Review of the European Arrest Warrant, EUConst 12 (2016), 549 (558 ff.). Zum Menschenwürdegehalt der Grundrechte s. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg,), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 26 f. 23 BVerfGE 140, 317 (337) – Identitätskontrolle. 24 Zunächst ist hier die zweite Vorlage des BVerfG an den EuGH im Kontext von Staatsanleihekäufen zu nennen, die allerdings nicht als Teil einer Grundrechts-, sondern Ultra-Viresund Identitätskontrolle ergangen ist, BVerfGE 146, 216. Vorrangig und im Kontext des europäischen Grundrechts- und Menschenwürdeschutzes zu nennen ist jedoch der Beschluss des BVerfG vom 19. 12. 2017 (2 BvR 424/17). Hier hat das BVerfG einer auf die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 gestützten Verfassungsbeschwerde (nach erfolgter grundrechtlicher Identitätskontrolle) stattgegeben und die Sache an das zuvor damit befasste Hanseatische OLG zurückverwiesen. Die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde resultierte dabei allerdings nicht aus einer Verletzung der Menschenwürdegarantie, sondern des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), welche aus der Nichtvorlage des Rechtsstreits an den EuGH als gesetzlicher Richter eingetreten sei. Dies bietet dem Gerichtshof nun die – von Seiten des BVerfG eingeräumte – Gelegenheit zur Stellungnahme bezüglich menschenwürdiger Haftbedingungen in Rumänien. Da der Fall in der Sache ähnlich gelagert ist wie der Beschluss des BVerfG zur Identitätskontrolle aus dem Dezember 2015 und das BVerfG daher auch hier eine eigenständige Grundrechtsprüfung hätte vornehmen können, kann die Entscheidung als deutliches Kooperationsangebot des BVerfG an den EuGH verstanden werden. 25 In diese Richtung auch Hillgruber, Weniger ist mehr – Plädoyer für eine Begrenzung der Kompetenzen der EU zwecks Wiederherstellung einer föderalen Balance, in: Kadelbach (Hrsg.), Die Europäische Union am Scheideweg: mehr oder weniger Europa?, S. 29 ff.

D. Die Würde des Menschen als Grundwert

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mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte zur Kommunikation mit dem EuGH, gleichzeitig aber auch ihre Wachsamkeit und Beharrlichkeit im Hinblick auf dessen Agieren und ihre eigene institutionelle Position.26 Daneben könnte und sollte aber vor allem die objektiv-rechtliche Dimension der Menschenwürde als gemeinsamer Wert der Europäischen Union und der Bundesrepublik stärker fokussiert und betont werden. Schließlich bedeutet die Aufnahme der Menschenwürde in den Wertekanon von Art. 2 EUV sowie in die Grundrechtecharta nichts weniger als den Nachvollzug desjenigen Verständnisses von politischer Ordnung, das auch dem Grundgesetz zugrunde liegt und den frühen Verfahren des BVerfG zur Menschenwürde zu entnehmen ist: Alle politische Ordnung soll die Würde des Menschen als Ausgangs- und gleichzeitig als Bezugspunkt nehmen.27 Herrschaftsmacht besteht nach dieser Vorstellung nicht als Selbstzweck, sondern nur im Blick auf den Einzelnen, dem sie stets verpflichtet ist. Zum Ausdruck kommt dieses Verständnis in den Beschreibungen der Menschenwürde durch das BVerfG als „tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Wert der Verfassung“28 – Umschreibungen, die mit der Aufnahme des Werts der Menschenwürde in das Primärrecht der Union nunmehr auch für die dort niedergelegten Würdebestimmungen in Anspruch genommen werden können. Die Menschenwürde entfaltet damit sowohl für die Bundesrepublik als auch für die Europäische Union eine Grundierungsfunktion für eine bestimmte neue politische Ordnung. Für die Bundesrepublik bedeutete sie die Abkehr vom vorangegangen Totalitarismus, für das Unionsrecht daneben die Transformation der EU von der reinen Wirtschafts- zu einer politischen Werte- und von der schlichten Zweck- zur Solidargemeinschaft.29 Die Betonung gerade dieser Dimension für das Projekt Europäische Union sollte nicht nur in primärrechtlichen Regelungen, sondern stärker und vermehrt auch in der Rechtsprechung des EuGH erfolgen. Schließlich gibt das Identifikationspotenzial normierter Würdegarantien, das beide Garantien eint, Anlass für einen positiven Blick in die Zukunft. Mögen sich die Konzeptionen im Einzelnen zwar unterscheiden, so sorgen die normierten Garantien doch dafür, dass rechtliche Probleme eine gleiche Zuordnung erfahren, bestimmte Fragestellungen unter denselben Topoi verhandelt werden und so gemeinsame

26

Haltern, Europarecht, Bd. 2, S. 704, Rn. 1636 f. Vgl. Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 534 ff., 539 ff. 28 BVerfGE 109, 279 (311) – Großer Lauschangriff. Zu weiteren Beschreibungen der Menschenwürde als Staatsfundamentalnorm durch das BVerfG s. Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts, S. 71 ff. S. auch Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 335 m.w.N. zum Charakter der Menschenwürde als Höchstwert des GG. 29 Zum Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Konstitutionalismus im europäischen Raum s. Dupré, The Age of Dignity, Human Rights and Constitutionalism in Europe; s. auch Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 542 ff. 27

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Kap. 5: Schlussbetrachtungen

Diskursräume entstehen, die wiederum für größere Akzeptanz und gemeinsame Identifikation sorgen können.30 Hinter diese Funktionen der Menschenwürde als Höchstwert treten die Unterschiede in der grundrechtlichen Konzeption zwar nicht zurück. Sie sensibilisieren aber dafür, die Grundrechtsdimension der europäischen Würdegarantie stärker vor dem Hintergrund des europäischen Konstitutionalisierungs- und Integrationsprozesses zu betrachten und daher keine zu hohen Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit als Grundrecht zu stellen.31 Dieses Bewusstsein um die begrenzte Leistungsfähigkeit der Würdegarantie der Charta sollte künftig nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die entscheidenden Akteure auf nationaler und unionaler Ebene leiten und bereits bei der Vergabe von Gesetzgebungskompetenzen an die Union beachtet werden. Dadurch würde jedenfalls die bittere Erfahrung vermieden, feststellen zu müssen, dass im Anspruch der chartarechtlichen Würdegarantie eine beträchtliche Überforderung liegt.

30

Zum Identifikationspotenzial von gemeinsamen Wertebekundungen v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, JZ 2004, 53 (58 f.). 31 Für eine stärkere Kontextualisierung der Fundamentalgarantien der EU, die eine Entlastung in ihrem Grundrechtsgehalt und eine stärkere Betonung ihrer konstituierenden Funktionen zum Ergebnis haben soll, Chalmers/Trotter, Fundamental Rights and Legal Wrongs: The Two Sides of the Same EU Coin, EuLJ 2016 (22), 9 ff.

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Sachwortverzeichnis Absolutheitsanspruch 68, 70 f., 102, 111 f., 131, 147 f., 155, 187 f., 195, 253, 259 Agency-Rechtsprechung 33 f., 38, 40 f. Anwendungsvorrang 19, 34, 42 f., 45 ff., 50 f., 104, 256 Asylbewerber 46, 65, 71 f., 94, 96 ff., 112, 162 Asylrecht 96, 100, 103 Auslegungshilfen 27, 108, 119, 123, 136, 174 Autonomie 56, 76, 96, 130, 132 f., 143, 146 f., 151, 181, 184, 203, 219, 222

Folter 113, 120, 125, 143, 186 f., 191, 193

Biomedizin 21, 26, 28, 35, 89, 100, 115, 149, 152, 157, 172, 176, 178, 180, 182, 185, 189, 222 ff., 240 f., 243 ff., 252 Biopatentrichtlinie 17, 35, 82 ff., 89, 91 f., 102 f., 109, 111 f., 142, 151, 166, 242

Identitätskontrolle 21 f., 44, 53 f., 193 ff., 248, 255, 259 ff. Imago-Dei-Lehre 129 f. Instrumentalisierungsverbot 46, 82, 84 f., 87, 91, 98, 142 f., 228, 231 f. Integrität 68 f., 77, 79, 84, 127, 143, 146 ff., 191, 203, 216 Invitro-Fertilisation 230, 235 f.

Datenschutz 36 ff., 44, 53, 100, 104, 113, 115, 197 ff., 203, 205 Diskriminierung 69, 81, 97, 143 f., 149, 213, 224, 237 Diskursmodell 161, 211, 250 f. Doppelgeltung 32, 42, 49 f., 256 f. Drittwirkung 152 ff. Egalität 63, 129 f., 144 ff., 162, 192 Eizelle 89 f., 92, 225, 228, 233, 243 Embryo 66, 83, 89 ff., 103, 162 ff., 166 f., 171 ff., 185, 222 f., 225, 227 ff., 242, 245 Embryonenforschung 149, 176, 223, 227 ff., 238 Embryonenschutz 28, 164, 171 ff., 175, 223, 230, 235 f., 242, 249 ERT-Rechtsprechung 38, 40 ff. Eugenik 167, 209 f., 236, 239 f., 244 f. Europäischer Haftbefehl 22, 193 f., 260 f. Evidenz 148 f., 226, 234, 252 Existenzminimum 72 f., 132, 145, 159, 189, 195, 197

Gattungswürde 134, 144, 161, 180 ff., 222, 226, 239 Geltungsvorrang 33 Gottesbezug 136 f. Grundrechtspluralismus 18, 30, 51 Grundrechtsverbund 26 Haftbedingungen 95, 194, 262 Handlungsfreiheit 64, 141, 146 f., 156

Keimbahnintervention 180, 238 ff., 244 f. Kernbereich 68 ff., 157, 199 f., 215 Klonen, reproduktives 180 f., 183, 225 ff., 243 ff. Klonen, therapeutisches 143, 167, 171, 174 ff., 224 ff., 243 ff. Kommerzialisierung 84 f., 91, 109, 111, 142 f., 242, 245 Kommunikationstheorie 131 f., 136 Konsensmodell 250 Konzeptvergleich 25 ff. Kooperationsverhältnis 49, 53, 107, 110, 205 Lebensrecht 67 f., 90, 100, 131, 144, 164, 166 ff., 172 f., 175 f., 192, 206 ff., 212 ff., 230, 241 Leistungstheorie 131 ff. Leitbild 132, 141, 182, 254

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Sachwortverzeichnis

Margin of Appreciation 46 Menschenbild des Grundgesetzes 61, 76, 88, 102, 132 ff., 141, 182 ff., 254 „Mitgift“-Theorie 75, 130 ff. Nasciturus 66, 163 ff., 174, 208, 211 f. Nationalsozialismus 138, 149 Norminhaltstransfer 23, 110, 114, 141 f. Normtexttransfer 23, 114 Parteiverbot 58 ff., 78 ff., 100, 143 f. Patentierung 82 ff., 90, 166 Potentialität 134, 175, 233 Präambel 123 ff., 136 ff., 151, 153, 174 f., 183, 185 Präimplantationsdiagnostik 28, 162, 171, 234 ff. Rechtsgrundsätze, allgemeine 32, 85 f., 118 f., 121 Rechtsquellen 28, 118 ff. Rechtsvergleich 25 ff., 108, 114, 122, 212 Schuldprinzip 194 Schutzpflicht 60, 66 f., 72, 75 ff., 102, 109, 139, 154, 189, 196, 206, 208, 210, 216 f. Schwangerschaftsabbruch 35, 66 ff., 164 ff., 206 ff., 245, 253 Selbstbestimmung, informationelle 36, 199 Selbstbestimmung, sexuelle 214 Sinnmittelpunkt 58, 74 ff., 80 Solange-Rechtsprechung 21, 32, 50, 259 ff. Sozialstaatsprinzip 72, 192, 195

Stammzellforschung 28, 89 ff., 171, 173, 232 ff. Sterbehilfe 21, 28, 133, 149, 170, 206, 215 ff. Subjekt-/Objektformel 29, 46, 62 ff., 70 f., 76, 84 f., 102, 105, 109, 111, 130, 140 ff., 192, 226, 228, 230, 232, 249 Subjektqualität 62 ff., 71, 76, 150, 192, 196, 217, 226, 228 Subsidiarität 37, 154, 196 Tabu 71, 77, 141 f., 146, 159 f., 200, 204 Trennungsthese 33 f., 42, 107 Unantastbarkeit 61 f., 69, 72, 102, 117, 126, 152 f., 186 f. Unitarisierung 42, 50, 52, 87, 197, 252 Verfassungsgericht 27, 32, 44, 51 ff., 104, 169, 258, 263 Verfassungsgerichtsverbund 19, 53 Verfassungsidentität 21 f., 53 f., 259 ff. Verfassungsüberlieferungen 27, 108, 119, 121 ff., 168 ff., 209 ff., 251 Verfassungswandel 148, 157 ff., 250 Vorratsdatenspeicherung 104, 197 ff. Wertegemeinschaft 20, 30, 84, 104, 122, 213, 224, 252, 259 Wertekanon 153, 263 Wertekonsens 249 Wertkonflikte 20, 109, 148, 213 Wertordnung 59 f., 100, 130, 153 Willkürformel 62 f., 176