Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit: Deutschland und Österreich im Vergleich und im Spiegel der französischen Öffentlichkeit 9783412213435, 9783412206390

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Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit: Deutschland und Österreich im Vergleich und im Spiegel der französischen Öffentlichkeit
 9783412213435, 9783412206390

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Christine Axer

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Deutschland und Österreich im Vergleich und im Spiegel der französischen Öffentlichkeit

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugleich Dissertation der Universität Heidelberg 2009 unter dem Titel „Vergangenheitsbewältigung? – von einem deutschen Sonderfall zu einer universellen Pflicht. Frankreichs Öffentlichkeit und der Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches – 1945/49 bis 2005.“

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Impress, d.d., Ivančna Gorica Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Slovenia ISBN 978-3-412-20639-0

Inhaltsverzeichnis VORWORT ............................................................................................................. 9 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................. 11 1. EINLEITUNG ..................................................................................................... 13 1.1. Fragestellung .......................................................................................................14 1.2. Die Bedeutung der französischen Wahrnehmung ...............................................15 1.3. Zeitungen, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung ..................................................16 1.4. Kurzporträts von Le Figaro, L’Humanité und Le Monde....................................19 1.5. Aufbau der Arbeit ...............................................................................................24 2. „VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG“?! ............................................................. 27 2.1. Erinnerungs- und Geschichtskultur .....................................................................28 2.2. „Vergangenheitsbewältigung“ .............................................................................35 2.2.1. „Vergangenheitsbewältigung“ als Sonderfall von Erinnerungskultur .................. 37 2.2.2. „Vergangenheitsbewältigung“ geht von der Universalität der Menschenrechte aus ....................................................................................... 40 2.2.3. „Vergangenheitsbewältigung“ im Zeichen von Diskontinuität ............................ 42 2.2.4. Opfer von staatlicher Gewalt und „Vergangenheitsbewältigung“ ........................ 44 2.2.5. „Vergangenheitsbewältigung“: zwischen Demokratisierung und innerem Frieden ................................................................................................................. 47 2.2.6. Menschenrechte und internationale Gemeinschaft ............................................... 52 2.2.7. Schuld und Schuldgefühl: die Emotion der collective guilt .................................. 54 2.2.8. Das Verhältnis der Motive zueinander ................................................................. 57

2.3. „Vergangenheitsbewältigung“ – eine Antwort an die Kritiker ............................57

3. „VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG“ IN DEN NACHFOLGESTAATEN DES DRITTEN REICHES ................................................................................... 61 3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik ........................................61 3.1.1. Grenzen politischer „Vergangenheitsbewältigung“ .............................................. 63 3.1.2. Amnestiepolitik und die Last der Gegenwart ....................................................... 66 3.1.2.1. Theodor Oberländer (Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte) ............................................................................................. 66 3.1.2.2. Hans Globke (Staatssekretär des Bundeskanzleramtes) ...................................... 67 3.1.2.3. Kurt Georg Kiesinger (baden-württembergischer Ministerpräsident, Bundeskanzler) ................................................................................................... 67 3.1.2.4. Hans Filbinger (baden-württembergischer Ministerpräsident) ........................... 67

3.1.3. Politik der „Wiedergutmachung“ ......................................................................... 69 3.1.4. Wendejahre 1958 und 1959 .................................................................................. 72 3.1.5. Von der Schwierigkeit der juristischen Aufarbeitung .......................................... 73 3.1.6. Krise der politischen „Vergangenheitsbewältigung“? .......................................... 80 3.1.7. Zeichen des Wandels ............................................................................................ 82

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Inhaltsverzeichnis 3.1.8. Die geschichtspolitische Ära Kohl ....................................................................... 90 3.1.9. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik bis 1989/90 Ŕ ein Zwischenfazit ..................................................................................................... 101

3.2. „Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR? .....................................................103 3.2.1. Politische Repression in der DDR ...................................................................... 106 3.2.2. Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR ............................................. 110 3.2.3. Entnazifizierung in der DDR .............................................................................. 112 3.2.4. Juristische oder inszenierte Aufarbeitung? ......................................................... 114 3.2.5. Hierarchie der Opfer ........................................................................................... 123 3.2.6. Antisemitismus und Antizionismus .................................................................... 124 3.2.7. „Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR? Ein Zwischenfazit ......................... 132

3.3. „Vergangenheitsbewältigung“ im vereinten Deutschland .................................135 3.3.1. Auf der Suche nach Orientierung Ŕ „Vergangenheitsbewältigung“ als „Gründungserzählung“ ....................................................................................... 135 3.3.2. „Politische Lehren“ oder vom Streben, es besser zu machen ............................. 143 3.3.3. Auschwitz als moralische Richtschnur ................................................................ 147 3.3.4. Der Konsens zeigt sich dort am stärksten, wo er gebrochen wird ...................... 149 3.3.5. Institutionelle versus persönliche Erinnerung: ein Widerspruch?....................... 153 3.3.6. Die Geschichte wird greifbar.............................................................................. 157 3.3.7. Der „neue Opferdiskurs“ .................................................................................... 162 3.3.8. Späte Gerechtigkeit: Die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter ................ 167 3.3.9. „Vergangenheitsbewältigung“ im vereinten Deutschland Ŕ ein Zwischenfazit ................................................................................................................ 169

3.4. „Vergangenheitsbewältigung“ in Österreich? ...................................................172 3.4.1. Der Mythos vom „Ersten Opfer“ ........................................................................ 175 3.4.2. Mehr als ein Anfang? Entnazifizierung und NS-Prozesse .................................. 179 3.4.3. Strafrechtliche Aufarbeitung .............................................................................. 190 3.4.4. „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“ .............................................. 194 3.4.5. Das Scheitern der Ersten Republik als Fixpunkt der politischen „Vergangenheitsbewältigung“ ............................................................................ 198 3.4.6. Die Waldheim-Affäre: Ein Neuanfang österreichischer „Vergangenheitsbewältigung“? .......................................................................... 201 3.4.7. Mehr als staatspolitische Räson? Von der Opferthese zur Mitverantwortung .... 210 3.4.8. Das ambivalente Verhältnis der FPÖ zur österreichischen Geschichte .............. 221 3.4.9. „Vergangenheitsbewältigung“ in Österreich? Ŕ ein Zwischenfazit .................... 232

4. WAHRNEHMUNG IN DER FRANZÖSISCHEN ÖFFENTLICHKEIT .......................... 234 4.1. Wahrnehmung der „beiden Deutschlands“ durch L’Humanité .........................234 4.1.1. Demokratie ist nicht gleich Demokratie ............................................................. 234 4.1.2. Kontinuität versus Bruch: Das Verhältnis von Bundesrepublik und DDR zum Nationalsozialismus ........................................................................................... 238

Inhaltsverzeichnis

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4.1.3. „Geschichte als Waffe“ ...................................................................................... 245 4.1.4. L’Humanité, die DDR und der Ostblock ............................................................ 250 4.1.5. Das Geschichtsbild der französischen Kommunisten ......................................... 251 4.1.6. Ideologische Starrheit oder Raum für Wandel? .................................................. 257 4.1.7. Wahrnehmung der „beiden Deutschlands“ durch L’Humanité Ŕ ein Zwischenfazit ..................................................................................................... 260

4.2. Wahrnehmung der DDR durch Le Monde und Le Figaro .................................261 4.2.1. Die DDR ist eine sozialistische Diktatur und nicht in erster Linie ein deutscher Staat ................................................................................................................ 261 4.2.2. Trägt die DDR als sozialistischer Staat keine historische Verantwortung? ........ 264 4.2.3. Totalitarismus in der DDR Ŕ jedoch kein deutscher Totalitarismus ................... 267 4.2.4. Der PCF Ŕ eine Bedrohung für die Französische Republik? .............................. 269 4.2.5. Normative Totalitarismuskritik im Frankreich der Nachkriegszeit .................... 272 4.2.6. Bleibende Distanz, doch Mäßigung im Tonfall .................................................. 276 4.2.7. 1989/90: Als „deutscher“ Staat trägt nun auch die DDR historische Verantwortung.................................................................................................... 277 4.2.8. Wahrnehmung der DDR durch Le Monde und Le Figaro Ŕ ein Zwischenfazit ............................................................................................... 279

4.3. Die Bundesrepublik im Spiegel von Le Monde und Le Figaro .........................280 4.3.1. Interesse an Stabilität jenseits des Rheins .......................................................... 280 4.3.2. „Der ewige Deutsche“ ........................................................................................ 286 4.3.3. Neues Deutschland Ŕ doch alte Ängste? ............................................................. 289 4.3.4. Le Monde und Le Figaro als „politische Akteure“ ............................................. 296 4.3.5. „Une Certaine Idée de la France“  Frankreich und die Welt ............................ 299 4.3.6. „Vergangenheitsbewältigung“ als juristische Aufarbeitung ............................... 303 4.3.7. Der Holocaust Ŕ ein lange Jahre verdrängtes Verbrechen .................................. 307 4.3.8. Die Last der eigenen Vergangenheit: Vichy Ŕ Kollaboration Ŕ Résistance........................................................................................................... 311 4.3.9. Von der juristischen Aufarbeitung zu einer umfassenden „Aufarbeitung“? ................................................................................................. 318 4.3.10. Die Existenz einer moralischen Verantwortung ............................................... 322 4.3.11. Deutschland und die Last der Geschichte: Zwischen Akzeptanz und Verdrängung....................................................................................................... 324 4.3.12. Eine Vergangenheit, doch welche Erinnerung? Unterschiede zwischen Le Monde und Le Figaro ......................................................................................... 330 4.3.13. Wahrnehmung der Bundesrepublik durch Le Monde und Le Figaro Ŕ ein Zwischenfazit ..................................................................................................... 334

4.4. Österreich in den Augen der französischen Öffentlichkeit ................................337 4.4.1. Doch keine „Insel der Seligen“ Ŕ Österreich und der Kalte Krieg...................... 340 4.4.2. L’Humanité : Der Kommunismus lenkt die Wahrnehmung ............................... 344 4.4.3. Österreich Ŕ das „erste Opfer“ des Nationalsozialismus .................................... 349 4.4.4. Vom Opfer zum Komplizen ............................................................................... 355

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Inhaltsverzeichnis 4.4.5. Österreich ist nicht Deutschland! ....................................................................... 361 4.4.6. Österreicher im französischen Exil ..................................................................... 368 4.4.7. Die österreichische Tragödie .............................................................................. 374 4.4.8. Parallelität von Verdrängung und „Aufarbeitung“ ............................................. 377 4.4.9. Mittäter Österreich, doch geringes Interesse an „Vergangenheitsbewältigung“ ............................................................................ 381 4.4.10. Die FPÖ als Antisystempartei .......................................................................... 384 4.4.11. „Die Weigerung der Österreicher, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen“........................................................................................................... 388 4.4.12. Die französische Erinnerungskultur im Zeichen des devoir de mémoire .......... 391 4.4.13. Von der universellen Gültigkeit der französischen Erinnerungspflicht ............ 400 4.4.14. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft ............................................... 401 4.4.15. Die schwarz-blaue Regierungsbildung und die Stockkholmer HolocaustKonferenz ........................................................................................................... 403 4.4.16. Österreich in den Augen der französischen Öffentlichkeit Ŕ ein Zwischenfazit ............................................................................................... 407

4.5. Deutschland seit 1989/90 und die französische Öffentlichkeit..........................410 4.5.1. Das Ende des deutschen Sonderweges Ŕ Deutschland überwindet seine Vergangenheit .................................................................................................... 410 4.5.2. Warum die Einbettung Deutschlands in die EU und internationale Strukturen wichtig ist ......................................................................................... 419 4.5.3. Das neue Deutschland soll Verantwortung übernehmen! ................................... 423 4.5.4. Die „neue deutsche Normalität“  zwischen alten Sorgen und neuer Zustimmung ....................................................................................................... 424 4.5.5. „Vergangenheitsbewältigung“ als mehrdimensionale Aufgabe .......................... 428 4.5.6. Für die Pflicht zur Erinnerung  gegen das Vergessen ....................................... 430 4.5.7. Eine gewisse Idee von „Vergangenheitsbewältigung“ ....................................... 436 4.5.8. Das wiedervereinte Deutschland und die französische Öffentlichkeit Ŕ ein Zwischenfazit ..................................................................................................... 438

5. ABSCHLIEßENDE ANALYSE ............................................................................ 440 6. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ...................................................... 449 6.1. Quellen ..............................................................................................................449 6.2. Literatur .............................................................................................................462 VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN UND SCHAUBILDER ...................................... 515 7. REGISTER ....................................................................................................... 516 7.1. Personenregister ................................................................................................516 7.2. Ortsregister ........................................................................................................519

Vorwort Dieses Buch ist die leicht überarbeitete und gekürzte Version meiner Doktorarbeit „Vergangenheitsbewältigung Ŕ von einem deutschen Sonderfall zu einer universellen Pflicht. Frankreichs Öffentlichkeit und der Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus Ŕ 1945 bis 2005“, die am Historischen Seminar der Universität Heidelberg entstanden und von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Die Disputation erfolgte im Juli 2009. Die Arbeit wurde durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerk Villigst gefördert und von Professor Volker Sellin und Professor Edgar Wolfrum betreut. Ihnen gilt mein Dank. Besondere Erwähnung verdienen all jene, die meinen Weg in den vergangenen Jahren verständnisvoll begleitet haben. Ihnen möchte ich meinen ganz persönlichen Dank aussprechen.

Abkürzungsverzeichnis ADN BdV BGB BSA BZÖ CC CDU CFLN CR CSU DDR DL DRP DVU FAZ FDP FN FPÖ FTPT(F) GG IKG KPD KPdSU MfS MRP MSI NATO NDPD NPD NSDAP NSDStB ÖVP OFG PCF RAF RFS R.P.F. RSHA SA SAPD SDS SED SFIO SMAD SPD SPÖ SS

Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Bund der Vertriebenen Bürgerliches Gesetzblatt Bund Sozialistischer Akademiker Bündnis Zukunft Österreich Claims Conference Christlich Demokratische Union Deutschlands Comité Français de Libération Nationale Groupe des député-e-s communistes et républicains Christlich-Soziale Union Deutsche Demokratische Republik Démocratie Libérale Deutsche Reichspartei Deutsche Volksunion Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Front National Freiheitliche Partei Österreichs Franc-Tireurs et Partisans Grundgesetz Israelitische Kultusgemeinde Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Ministerium für Staatssicherheit Mouvement Républicain Populaire Movimento Sociale Italiano North Atlantic Treaty Organization (Nordatlantikpakt) National-Demokratische Partei Deutschlands Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Österreichische Volkspartei Opferfürsorgegesetz Parti Communiste Français Rote Armee Fraktion Ring Freiheitlicher Studenten Rassemblement du peuple français Reichssicherheits-Hauptamt Sturmabteilung Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Sozialistischer Deutscher Studentenbund Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Section Française de l‟Internationale Ouvrière Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Österreichs Schutzstaffeln

12 SVP UDF UdSSR VdU/WdU VVN WJC ZK

Abkürzungsverzeichnis Schweizer Volkspartei Union pour la Démocratie Française Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Verband der Unabhängigen/Wahlpartei der Unabhängigen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes World Jewish Congress Zentralkomitee

1. Einleitung „Aber unter Mißbrauch des Namens unseres Volkes ist auch das Unheil des Zweiten Weltkrieges entfesselt worden. Nur wenn wir uns selber nicht aus der Frage entlassen, wie es zu dem schreckensvollen Kapitel des Nationalsozialismus kommen konnte, werden andere Völker dieses Kapitel nicht länger gegen uns hervorkehren können.“1

Mit diesen Worten mahnte Bundespräsident Gustav Heinemann im Sommer 1969 seine Mitbürger, sich der nationalsozialistischen Geschichte zu stellen. Er begründete dies nicht nur mit der Verantwortung, die ein jeder Deutscher gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft trage, und mit dem Blick in die „Zukunft“, sondern auch mit dem Hinweis, dass die anderen Völker die Vergangenheit nicht mehr gegen Deutschland hervorkehren könnten, wenn es sich dieser stelle.2 Wie Karl Jaspers und Thomas Mann geht Gustav Heinemann damit nicht nur von der Existenz einer inneren Notwendigkeit aus, sich der historischen Verantwortung zu stellen, sondern er postuliert auch eine äußere Notwendigkeit. Jaspers hatte bereits im Wintersemester 1945/46 in seinen Heidelberger Vorlesungen über die Schuldfrage festgestellt, dass es den Deutschen als Teil der Menschheit nicht egal sein könne, wie der Rest der Welt von ihnen denke, und dass sie auch deshalb den Nationalsozialismus „bewältigen“ müssten. „In der Tat sind wir Deutsche ohne Ausnahme verpflichtet, in der Frage unserer Schuld klar zu sehen und die Folgerungen zu ziehen. Unsere Menschenwürde verpflichtet uns. Schon was die Welt über uns denkt, kann uns nicht gleichgültig sein; denn wir wissen uns zur Menschheit gehörig, sind zuerst Menschen und dann Deutsche.“3 „>Das ist eure Schuld< besagt aber heute viel mehr als Kriegsschuld. Jenes Plakat ist schon fast vergessen. Was dort von uns erfahren wurde, ist jedoch geblieben: Erstens die Realität einer Weltmeinung, die uns als gesamtes Volk verurteilt,  und zweitens die eigene Betroffenheit. Die Weltmeinung ist für uns wichtig. Es sind Menschen, die so von uns denken, und das kann uns nicht gleichgültig sein.“4

Sowohl Karl Jaspers als auch Gustav Heinemann nahmen somit an, dass das Deutschlandbild im Ausland nach 1945 durch den Nationalsozialismus geprägt sein würde, und dass dieses, wenn überhaupt, nur durch die Auseinan1

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Bundespräsident Gustav Heinemann am 1. Juli 1969 vor dem Deutschen Bundestag. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. 245. Sitzung, zugleich 341. Sitzung des Bundesrates, Bonn, den 1. Juli 1969, S. 13665. Ebd. Jaspers, Die Schuldfrage, S. 44. Jaspers, Die Schuldfrage, S. 57. Vgl. auch Thomas Mann am 31. Januar 1945 in einer Radiosendung an das deutsche Volk, in: Deutsche Hörer, S. 122.

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1. Einleitung

dersetzung mit der eigenen historischen Verantwortung, durch die später sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“5, verbessert werden könne.

1.1. Fragestellung Die Überlegungen von Jaspers und Heinemann sind derart prinzipieller Natur, dass sie nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die beiden anderen Staaten Gültigkeit besitzen müssten, die nach 1945 mit der DDR und mit Österreich auf dem Gebiet des Dritten Reiches (wieder) gegründet worden waren, basiert doch die Annahme einer äußeren Notwendigkeit, die Vergangenheit „aufzuarbeiten“, auf universellen Werten wie „Menschheit“, „Weltmeinung“ und „Würde“. Diese Annahme scheint so plausibel, dass sie oft als gegeben hingenommen wird. Bislang ist sie keiner ernsthaften Prüfung unterzogen worden.6 Vielmehr wird in Deutschland immer wieder mit Erstaunen und auch ein wenig Enttäuschung konstatiert, dass das Ausland Deutschland immer noch auf den Nationalsozialismus reduziere, obgleich Deutschland sich wie kaum ein anderes Land seiner historischen Verantwortung gestellt habe. Trotz der vorbildlichen deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ stelle die englische Boulevardpresse im Vorfeld sportlicher Wettbewerbe die Deutschen immer wieder als „Nazis“ dar. Auch dieser Position kann die Überzeugung entnommen werden, dass die „Vergangenheitsbewältigung“ doch eigentlich eine Revision des vom Nationalsozialismus geprägten Deutschlandbildes bewirkt haben müsste.7 Es stellt sich somit die Frage, ob die Annahme einer äußeren Notwendigkeit, sich der historischen Verantwortung zu stellen, zutreffend ist oder nicht. Existiert eine solche wirklich oder ist das Interesse der anderen Staaten an der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches wirklich so gering wie gelegentlich unterstellt? Liegt also eine Diskrepanz zwischen der „Vergangenheitsbewältigung“ und ihrer Wahrnehmung vor? Wenn ja, worauf kann diese zurückgeführt werden? Und wenn nicht, 5 6

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Zum Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ siehe unten S. 35-58. Die „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik bis 1990 hingegen ist mit Ausnahme der siebziger Jahre sehr gut erforscht. Nicht nur zahlreiche Darstellungen zu Einzelfragen, sondern auch Überblicksdarstellungen wie die von Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, liegen bereits vor. Auch zur „Vergangenheitsbewältigung“ beziehungsweise Erinnerungskultur in der DDR, Österreich und Deutschland nach 1990 existieren bereits zahlreiche Arbeiten zu einzelnen Aspekten wie beispielsweise den Engerauer Prozessen, der Walser-Bubis-Affäre oder dem Antisemitismus in der DDR. Was jedoch für all diese Länder noch fehlt, das ist ein Gesamtüberblick, der die einzelnen Ereignisse gewichtet. Zudem gibt es für die Jahre nach 1998, und in ganz besonderer Weise für die Jahre nach 2000, noch kaum umfassende und differenzierende Forschungen. Vgl. Süssmuth, Die Perzeption Deutschlands, S. 22-31, Wolfrum, Geschichte der Erinnerungskultur, und Müller, Branding Germany, S. 50.

1. Einleitung

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hat die „Vergangenheitsbewältigung“ eine Korrektur der Deutschland- beziehungsweise Österreichbilder bewirkt? Diesen Fragen soll im Folgenden anhand der Wahrnehmung der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches durch die französische Öffentlichkeit nachgegangen werden.

1.2. Die Bedeutung der französischen Wahrnehmung Nach seiner vernichtenden Niederlage gegen das Dritte Reich hatte Frankreich am 22. Juni 1940 im Wald von Compiègne einen Waffenstillstand unterzeichnen müssen, der einem Diktat glich. Der Waffenstillstand sah die Besetzung weiter Teile des Landes, die Demobilisierung der französischen Streitkräfte und die Leistung von Besatzungskosten vor. Frankreich selbst wurde territorial zerstückelt.8 Nord-, Mittel- und Westfrankreich standen unter der Verwaltung eines deutschen Militärbefehlshabers, die beiden Départements Pas-de-Calais und Nord befanden sich seit Ende Mai 1940 unter der Gewalt des Militärbefehlshabers von Belgien und Nordfrankreich, im Südosten Frankreichs entstand eine kleine italienisch besetzte Zone und die drei Départements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle wurden als „Elsaß-Lothringen“ vom Dritten Reich annektiert. Der Süden Frankreichs hingegen blieb zunächst unbesetzt und französisch regiert. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika im November 1942 jedoch wurde auch dieses Gebiet von den deutschen Truppen besetzt. Zwar blieb die französische Vichy-Regierung unter Philippe Pétain offiziell weiterhin im Amt, doch hatte sie fortan kaum mehr Einfluss auf die Geschicke des Landes.9 Auch wenn die deutsche Besetzung Frankreichs einige Besonderheiten aufweist Ŕ die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsvertrages, die territoriale Zerstückelung des Landes und die Existenz einer französischen Regierung, die von der französischen Nationalversammlung legitimiert worden war Ŕ, so entsprach sie in ihren Grundsätzen dennoch der Besatzungspolitik, wie sie in den anderen besetzten Ländern Europas vom Dritten Reich praktiziert wurde. Auch in Frankreich war die deutsche Besatzungspolitik ganz auf die Kriegsziele des Dritten Reiches ausgerichtet. Nicht nur die materiellen und finanziellen Ressourcen Frankreichs wurden von der deutschen Besatzungsmacht schonungslos ausgebeutet, sondern auch zahlreiche Franzosen zum Arbeitsdienst in Deutschland gezwungen.10 8 9 10

Nestler, Einleitung, S. 20 f., Umbreit, Der Kampf um die Vormachtstellung, S. 316319, und Baruch, Das Vichy-Regime, S. 66-77. Baruch, Das Vichy-Regime, S. 66-77 und S. 144-146, Jäckel, Frankreich, S. 30 ff., S. 59 ff., S. 85 ff. und S. 249 ff., sowie Nestler, Einleitung, S. 24. Rousso, Vichy face à la mainmise, S. 148-157, Radtke-Delacor, Verlängerte Werkbank, S. 327-350, Zielinski, Der „Reichseinsatz“, S. 379-395, Ders., Staatskollabora-

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1. Einleitung

Auch in Frankreich wurde ein Terrorregime etabliert, welches jeden Widerstand gegen die Besatzungsherrschaft „im Keim ersticken“ sollte.11 Mit Zunahme des französischen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht seit dem Überfall auf die Sowjetunion gewann die deutsche Repression weiter an Härte. Im September 1941 begann die deutsche Besatzungsmacht mit den sogenannten „Geiselmorden“: Franzosen, die „von den deutschen Dienststellen oder für die deutschen Dienststellen in Frankreich in Haft“ gehalten wurden, galten als „Geiseln“, „von denen bei jedem weiteren Anlaß“, das heißt insbesondere nach jedem Widerstandsakt gegen die deutschen Truppen, „eine der Schwere der Straftat entsprechende Anzahl erschossen werden soll(te).“12 Und schließlich wurden zwischen 1942 und 1944 mindestens 75.721 Juden unterschiedlicher Nationalität unter Mitwirkung französischer Institutionen aus Frankreich deportiert. Nur wenige von ihnen überlebten.13 Frankreich hatte somit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unmittelbar erfahren und müsste eigentlich Interesse an ihrer „Aufarbeitung“ gehabt haben. Überdies war Frankreich eine der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die als Besatzungsmächte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung jener Staaten hatten, die nach 1945 auf dem Gebiet des Dritten Reiches (wieder) gegründet worden waren. Seine Wahrnehmung der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches ist folglich nicht die Wahrnehmung irgendeinen Landes, sondern eines Landes, welches in Europa Einfluss zu nehmen versuchte.

1.3. Zeitungen, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung Die Wahrnehmung der „Vergangenheitsbewältigung“ durch die französische Öffentlichkeit wird zunächst anhand französischer Tageszeitungen untersucht werden. Ihre Analyse lässt Rückschlüsse auf die öffentliche Meinung in Frankreich zu. Diese wird im Folgenden nicht als die Summe der Einzelmeinungen und auch nicht als die Mehrheitsmeinung definiert, sondern als das Ergebnis des öffentlichen Diskurses, welches durchaus differenziert sein kann.14 Ein Diskurs ist dann öffentlich, wenn er nicht privat ist, wenn also

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tion, S. 191-201, Arnaud, Fabréguet, Les prisonniers de guerre, S. 419-435, Nestler, Einleitung, S. 43-45, S. 48-52 und S. 57-79, sowie Umbreit, Auf dem Weg, S. 210264. Nestler, Einleitung, S. 38 f. und S. 80-91. Aus einem Telegramm von Rudolf Schleier an das Auswärtige Amt vom 23. August 1941, S. 173 f., Meyer, Die deutsche Besatzung, unter anderem S. 54-98, sowie Nestler, Einleitung, S. 83-90. Klarsfeld, Vichy-Auschwitz, S. 331-333. Vgl. auch Delacor, Ausländische Juden, S. 495-512, Grynberg, Les interventions, S. 515-526, und Marrus, Paxton, Vichy et les Juifs, S. 473-515. Eilders, Massenmedien, S. 33, Gerhards, Öffentlichkeit, S. 269, und Detjen, Plura-

1. Einleitung

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prinzipiell für jeden die Möglichkeit besteht, an ihm aktiv oder passiv teilzunehmen. Es muss also nicht ein jeder an dem Diskurs teilnehmen, es muss lediglich die Möglichkeit der Partizipation für einen jeden gegeben sein, sei es als Publikum oder als Akteur. Zeitungen erfüllen diese Kriterien.15 Sie sind Teil des Mediensystems eines Landes. Als Tageszeitungen erscheinen sie täglich, berichten über Ereignisse politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur aus dem In- und Ausland und leisten einen Beitrag zur Meinungsbildung. Sie sind gekennzeichnet durch Aktualität, Periodizität, Publizität und potenzielle Universalität.16 Sie sind „nationale Tageszeitungen“17, weil sie, auch wenn sie immer öfter Teil global agierender Medienunternehmen sind, in der Sprache des Erscheinungslandes verfasst sind und sich in erster Linie an das dortige Publikum wenden. In ihrem Bestreben, sich auf dem nationalen Zeitungsmarkt zu bewähren, orientieren sich die Zeitungen an den Interessen ihrer weitestgehend national zusammengesetzten Leserschaft.18 Dies sind nicht die einzigen Argumente, die angeführt werden können, um zu begründen, warum von einem Diskurs in den Tageszeitungen auf den öffentlichen Diskurs in einem Land geschlossen werden kann. Ein solcher Zusammenhang kann auch hergestellt werden, weil Zeitungen wie Medien überhaupt in repräsentativen Demokratien, Frankreich war eine solche während des gesamten Untersuchungszeitraums, eine zentrale Stellung innehaben. Erstens ist Öffentlichkeit für die repräsentative Demokratie konstitutiv, ermöglicht sie doch die Transparenz des gesetzgeberischen Entscheidens und dessen Kontrolle durch das Staatsvolk. Und zweitens sind die modernen Staatsgebilde viel zu groß, als dass die Regierten ihre Repräsentanten unmittelbar kontrollieren könnten und unmittelbar von den Regierungsentscheidungen erfahren würden. Öffentliche Kontrolle erfolgt daher nicht in erster Linie durch sogenannte Versammlungsöffentlichkeiten,19 sondern zumeist durch mediale Öffentlichkeiten. Medien, das heißt Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet, informieren über Entwicklungen innerhalb- und außerhalb

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lismus, S. 276-281. Zu den verschiedenen Konzepten von „öffentlicher Meinung“ vgl. auch Schulz, Politische Kommunikation, S. 119-123. Gerhards, Öffentlichkeit, S. 269, Eilders, Massenmedien, S. 39 f., Schulz, Politische Kommunikation, S. 113 und S. 139, sowie Imhof, Öffentlichkeitstheorien, S. 193. Schröder, Zeitung, S. 399. Der Begriff „national“ wird im Folgenden vor allem als Antonym zu „international“ verwandt, um deutlich zu machen, dass Zeitungen zuvörderst durch die politische, gesellschaftliche, historische, wirtschaftliche und kulturelle Situation geprägt sind, die innerhalb der Grenzen eines Landes herrscht. Zeitungen sind also in erster Linie nationalstaatliche Akteure. Und schließlich existieren in jedem Staat je eigene rechtliche Rahmenbedingungen. Vgl. Albert, La presse française, S. 33, und Schulz, Politische Kommunikation, S. 127. Vgl. auch Thogmartin, The National Daily Press, S. 218, und Kuhn, The Media in France, S. 1-10. Wobei Debatten im Parlament ein wichtiges Element der Kontrolle sind. Beierwaltes, Demokratie, S. 42 f. Vgl. auch Schulz, Politische Kommunikation, S. 117 f.

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1. Einleitung

der nationalstaatlichen Grenzen, sie richten sich potenziell an jeden und stellen in Demokratien, für die Meinungs- und Pressefreiheit kennzeichnend sind, zugleich ein Forum zur Diskussion dar, an dem alle teilnehmen können.20 Medien fungieren als sogenannte Gatekeeper,21 sie entscheiden nicht nur, welche Informationen sie weitergeben, sondern auch, wie sie diese weitergeben. Sowohl die Auswahl der Informationen als auch ihre Weitergabe durch die Zeitungen erfolgen nicht losgelöst vom jeweiligen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, und wirtschaftlichen Kontext. Ein Vergleich mit dem Vorgang der menschlichen Wahrnehmung kann diesen Zusammenhang illustrieren. In der Allgemeinen Psychologie dient Wahrnehmung erstens der Beschreibung dessen, was wahrgenommen wird. Doch nicht alles, was einen Menschen umgibt, wird von diesem wahrgenommen. Ansonsten würde der Organismus unter einer Reizüberflutung „zusammenbrechen“. Unbewusst und bewusst selektiert er das, was er wahrnimmt. Er nimmt das bewusst wahr, was für ihn in der jeweiligen Situation wichtig ist. Zweitens sind der Gegenstand, der wahrgenommen wird, und das, was wahrgenommen wird, nicht absolut identisch. Wahrnehmungstäuschungen und die Verarbeitung unvollständiger Informationen legen diesen Schluss nahe. Liegt einer Person beispielsweise ein schlecht lesbarer Text vor, bei dem Wortteile fehlen, ist ihr jedoch der Kontext bekannt, so ist sie in der Lage, den Text zu rekonstruieren. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Wahrnehmung nicht nur durch den physikalischen Reiz, sondern auch durch das Vorwissen, die Erwartungen und die Empfindungen des Wahrnehmenden sowie den Kontext beeinflusst wird.22 Überträgt man nun dieses psychologische Modell auf die mediale Berichterstattung, so ist davon auszugehen, dass Zeitungen nicht über alles berichten, sondern nur über das, was sie für wichtig erachten. Die Medienforschung bestätigt diese Annahme. Die Entscheidung darüber, was wichtig ist und was nicht, aber auch die inhaltliche Positionierung der Zeitung zu einem gegebenen Thema hängen vom Kontext der Berichterstattung ab, welcher wiederum, wie bereits erläutert wurde, zunächst ein nationalstaatlicher Kontext ist. Folglich ist davon auszugehen, dass die innere wie äußere politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Situation Frankreichs sich in der Wahrnehmung der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches niederschlägt. Da in einer pluralistischen Demokratie die verschiedenen politischen, kulturellen und sozialen Gruppen die 20

21 22

Vgl. Gerhards, Öffentlichkeit, S. 269 f., Eilders, Massenmedien, S. 32 f., Beierwaltes, Demokratie und Medien, S. 46-61, und Neidhardt, Jenseits des Palavers, S. 20-24. Bonfadelli, Was ist Massenkommunikation?, S. 39. Ziebura, Psychologie, S. 109-113 und S. 143-148, Goldstein, Wahrnehmungspsychologie, S. 6-13, sowie Guski, Wahrnehmung, S. 120-128.

1. Einleitung

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Möglichkeit haben, sich öffentlich zu äußern, oft stehen parteinahe, wenn nicht gar parteieigene Medien zur Verfügung, kann ferner angenommen werden, dass unter Umständen die Wahrnehmung der Zeitungen je nach politischem Standpunkt changiert.23 Wenn also bei der Untersuchung der französischen Zeitungen die Heterogenität der politischen Öffentlichkeit Frankreichs beachtet wird, dann sind Rückschlüsse auf die gesamtfranzösische Wahrnehmung der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches zulässig. Dies ist auch der Fall, weil Zeitungen als Vermittler von Informationen und Meinungen fungieren. Die Analyse von ausgewählten französischen Tageszeitungen erlaubt folglich Aussagen darüber, welche Informationen und Bewertungen die Zeitungen an ihre Leserschaft unmittelbar und mittelbar weitergegeben haben. Die Zeitungen üben nicht nur direkt über ihre Berichterstattung und Kommentierung Einfluss auf die Meinungsbildung der Bevölkerung aus,24 sondern auch, indem sie auf die Meinungsbildung der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entscheidungsträger des Landes einzuwirken versuchen.25

1.4. Kurzporträts von Le Figaro, L’Humanité und Le Monde Zwar erscheint die regionale Presse in Frankreich in einer relativ hohen Auflage,26 doch berichtet sie selten umfassend über politische und kulturelle Ereignisse außerhalb Frankreichs, die für Frankreich selbst von nur geringer 23

24 25

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Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 146-151, und Eilders, Nachrichtenauswahl, S. 257 f. Die hiermit skizzierte Einbettung der Zeitungen in ein „nationales politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System“ trifft auch auf Fernsehen und Radio zu. Auch diese Medien wenden sich an ein nationales Publikum. Da die Einflüsse auf alle drei Mediengattungen die Gleichen sind, ist zunächst davon auszugehen, dass ihre Wahrnehmung einander ähnelt, wobei anzunehmen ist, dass die Zeitungen am ausführlichsten über die „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches berichten. Was die jüngste Form der medialen Öffentlichkeit, das Internet, betrifft, so spricht gegen seine Berücksichtigung, dass es viel weniger an nationale Grenzen gebunden ist als die anderen genannten Mediengattungen. Folglich kann vom Internet nicht so einfach auf eine öffentliche Meinung in Frankreich geschlossen werden. Daher werden die Zeitungen trotz Krisen durchgehend untersucht und nicht durch ein anderes Medium abgelöst bzw. um ein solches ergänzt. Zur Krise der französischen Zeitungen vgl. Thogmartin, The National Daily Press, S. 299-320. Vgl. Schulz, Politische Kommunikation, S. 146-151. Vgl. auch Reinhardt, Jäckel, Gedanken zur Integrationsleistung, S. 85 f. Ferner kann angenommen werden, dass Öffentlichkeiten nicht nur aufgrund der Möglichkeit entstehen, dass prinzipiell jeder an ihnen teilnehmen kann, sondern sich auch anhand von Themen herausbilden. Da nicht jeder an jedem Thema Interesse hat, können Öffentlichkeiten je nach Thema auch kleinere Öffentlichkeiten sein. Vgl. Eilders, Massenmedien, S. 39 f. Kuhn, The Media, S. 28 ff.

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1. Einleitung

Bedeutung sind, und stützt sich dann oft auf Berichte der überregionalen Tageszeitungen sowie deren Korrespondenten.27 Daher bilden die landesweit erscheinenden Zeitungen Le Figaro, L’Humanité und Le Monde die primäre Quellenbasis für die Analyse der französischen Wahrnehmung. Sie sind überdies den verschiedenen einflussreichen politischen Strömungen in Frankreich zuzuordnen und wurden beziehungsweise werden auch von den politischen Entscheidungsträgern des Landes gelesen. Le Monde und Le Figaro zählen nicht nur zu den für den Untersuchungszeitraum auflagenstärksten landesweiten Tageszeitungen,28 sondern sie sind zugleich auch ihre einflussreichsten Vertreter. Beide stehen im Ruf, die Informationsquelle der französischen politischen Elite zu sein und so die Meinungsbildung im Land entscheidend mitzuprägen.29 Alfred Grosser bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Sie [Le Monde, eigene Anm.] nimmt einen ganz speziellen Platz im politischen Leben Frankreichs ein, einen Platz, wie ihn keine Zeitung in Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder der Bundesrepublik hat: Sie dient als Gesprächsforum des politischen Milieus mit sich selbst.“30

Ähnliches gilt auch für Le Figaro.31 Ist diese Ausnahmestellung der beiden Zeitungen bereits für die nationale Berichterstattung zu beobachten, so trifft diese Feststellung in noch größerem Maße für die internationale Berichterstattung zu. Seit seiner Gründung hebt sich Le Monde von den anderen französischen Tageszeitungen durch seine umfangreiche internationale Berichterstattung ab;32 1975 bis Ende der achtziger Jahre, als der Umfang der internationalen Seiten des Figaro zwischenzeitlich radikal gekürzt worden war, hatte Le Monde eine unangefochtene Ausnahmestellung inne.33 Le Monde erschien am 19. Dezember 1944 zum ersten Mal. Seine Gründung war möglich geworden, weil mit Le Temps eine der Zeitungen der Dritten Republik mit der Vichy-Regierung kollaboriert hatte und nach der Be27 28

29 30 31 32 33

Früher noch seltener als heute. Vgl. Schmitz, Zwischen Mythos, S. 18 f. Auflage und Verbreitung von Le Figaro, L’Humanité, Le Monde und Libération: LE FIGARO: 1948: 400.000, 1962: 391.238, 1969: 434.077, 1981: 336.000, 1988: 432.000, 1994: 383.000; LE MONDE: 1946: 110.000, 1955: 117.694, 1969: 354.643, 1981: 439.000, 1994: 354.000; L’HUMANITÉ: 1946: 400.000, 1981: 141.000, 1997: 61.000; LIBÉRATION: 1975: 16.000, 1988: 195.000, 1994: 67.000. Zahlen nach Albert, La presse française 1978, S. 96-100, Ders., La presse française 1998, S. 121, Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 238, und Eveno, Histoire du Journal Le Monde, S. 245. Mit Ausnahme der Angabe zu Le Figaro im Jahre 1948 handelt es sich um die Anzahl der verkauften Zeitungen und nicht um die Auflage. Vgl. Kuhn, The Media, S. 32, Blandin, Le Figaro, S. 271, und Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 245-248. Grosser, in: Presse Actualité, No. 129/78, S. 9, zit. nach Schmid, Le Monde, S. 19. Vgl. auch Thogmartin, The National Daily Press, S. 218. Vgl. Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 241, und Blandin, Le Figaro, S. 269-271. Vgl. Schmitz, Zwischen Mythos, S. 32. Vgl. auch Schmid, Le Monde, S. 19. Schmitz, Zwischen Mythos, S. 38. Vgl. auch Blandin, Le Figaro, S. 269-271.

1. Einleitung

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freiung Frankreichs von der provisorischen französischen Regierung verboten worden war. Zugleich hatte sich Charles De Gaulle, bis Januar 1946 Präsident der provisorischen französischen Regierung, für das Entstehen einer neuen qualitativen Zeitung eingesetzt, die von industriellen und finanziellen Einflüssen unabhängig sein sollte. Die Geburtsstunde von Le Monde hatte geschlagen.34 Seine Gründungsväter waren Hubert Beuve-Méry, René Courtin und Christian Funck-Brentano. Vor allem Hubert Beuve-Méry sollte in den folgenden Jahrzehnten Ŕ bis zu seinem Rückzug im Dezember 1969 Ŕ das Gesicht der neuen Zeitung prägen. Dem katholischen Milieu entstammend, war er während der deutschen Besetzung dem Vichy-Regime gegenüber distanziert geblieben und hatte sich im Widerstand gegen dieses engagiert.35 Bis zur Gründung des gaullistischen Rassemblement du peuple français (R.P.F.) sowie während und nach der Rückkehr De Gaulles an die Spitze des französischen Staates im Jahre 1958 unterstützten Beuve-Méry und Le Monde den General. Spätestens seit Ende des Algerienkrieges im Jahre 1962 jedoch schlug diese Unterstützung in offene Gegnerschaft um. Beuve-Méry und Le Monde warfen De Gaulle vor, nach der absoluten Macht zu streben und den Nationalismus zu schüren.36 Ist bereits diese Position ein erstes Indiz für die politische Ausrichtung von Le Monde, so sprechen auch das Engagement der Zeitung für die Union de Gauche, bestehend aus Kommunisten und Sozialisten, während der siebziger Jahre und die Unterstützung François Mitterands in den Präsidentschaftswahlkämpfen der Jahre 1974, 1981 und 1988 für die Annahme, dass Le Monde spätestens seit Beginn der sechziger Jahre tendenziell eher politisch links zu verorten ist. Noch genauer ist es, Le Monde als eine „linksliberale Zeitung“ mit anfänglich katholischen Wurzeln zu beschreiben. Doch sollte diese politische Zuordnung nicht überstrapaziert werden,37 denn bei aller politischen Überzeugung sah sich Le Monde stets auch der Aufgabe verpflichtet, umfassend zu informieren und ließ daher in zahlreichen Gastartikeln auch Personen zu Wort kommen, die nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion konform waren.38

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Eveno, Histoire du Journal Le Monde, S. 21-34, Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 23-26, Thibau, Le Monde, S. 47-54, und Jeanneney, Julliard, Le Monde de BeuveMéry, S. 47-56. Thibau, Le Monde, S. 13-20 und S. 35-46, Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 13-22 und S. 26-29, Eveno, Histoire du Journal Le Monde, S. 34-45, sowie Jeanneney, Julliard, Le Monde de Beuve-Méry, S. 13-46 und S. 56-65. Eveno, Histoire du Journal Le Monde, S. 82-94 und S. 194-199, Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 119-127, sowie Thibau, Le Monde, S. 309-345. Thibau, Le Monde, S. 387-395, Finkeldei, Histoire et Idéologie, S. 149-164, Schmitz, Zwischen Mythos, S. 15, und Bohnacker, Le Monde, S. 142. Vgl. Schmitz, Zwischen Mythos, S. 15-18. Vgl. auch Eveno, Histoire du Journal Le Monde, S. 685-687.

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Während Le Monde die jüngste der untersuchten Zeitungen ist, handelt es sich bei Le Figaro um die älteste französische Tageszeitung, welche heute noch existiert. Le Figaro war 1854 gegründet worden und hatte seitdem viele Höhen und Tiefen erlebt.39 Nach der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung konnte Le Figaro als einzige der Zeitungen, die nach dem Juni 1940 noch erschienen waren und 1944 die Zulassung erhalten hatten, seinen Namen beibehalten. Le Figaro kam zugute, dass er gegenüber der Vichy-Regierung Distanz gewahrt hatte. Am 10. November 1942 war Le Figaro verboten worden, weil er nach der Landung der alliierten Truppen in Nordafrika die „anglo-amerikanische Aggression“ nicht als solche verurteilt hatte. Wenige Wochen später folgte das Verbot für den Figaro Littéraire. Es sollte bis zum 23. August 1944 dauern, bis die nächste Ausgabe des Figaro erschien. Nachdem viele konservative Zeitungen durch ihre Kollaboration mit der Vichy-Regierung diskreditiert waren, schien nun Le Figaro die einzige konservative Zeitung auf dem Markt zu sein, welche weitestgehend unbeschädigt geblieben und ihren guten journalistischen Ruf nicht auf Spiel gesetzt hatte. Jahre des Erfolgs begannen.40 Bis spätestens 1975 kann der Figaro als liberal-konservative Zeitung gelten, die durch die Erfahrung der Résistance und den Antikommunismus geprägt war. Auch wenn Le Figaro zumeist auf Seiten De Gaulles zu finden war, so war diese Unterstützung nicht grenzenlos.41 Wie Le Monde war Le Figaro in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende eine außerordentlich angesehene Zeitung, die von der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite des Landes gelesen wurde. Dies änderte sich zeitweise, als Le Figaro im Juni 1975 von Robert Hersant übernommen wurde. Nach amerikanischem Vorbild wollte Hersant einen großen Medienkonzern aufbauen und diesen auch zu gezielter politischer Meinungsbildung nutzen. In der Folge verließen viele altgediente Mitarbeiter die Redaktion, die fortan unter Leitung von Max Clos vor allem gegen die politische Linke polemisierte. Von der einst liberal-konservativen Zeitung war nicht mehr viel übrig geblieben. Le Figaro war nun eine politisch rechts stehende Zeitung, die weniger informieren, denn mobilisieren und unterhalten wollte.42 Ende der achtziger Jahre jedoch besann man sich wieder auf die qualitative politische Berichterstattung, so dass Le Figaro nach kurzer Abstinenz wieder zu einer der Informationsquellen in Frankreich wurde.43 39

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Tchirva, Le Figaro, S. 106, sowie Thogmartin, The National Daily Press, S. 236 ff. Blandin hingegen nennt 1826 als Gründungsjahr des Figaro, erschien damals doch erstmals eine Zeitung mit dem Namen Le Figaro. Blandin, Le Figaro, S. 1-4 und S. 10-13. Vgl. Blandin, Le Figaro, S. 140-179. Vgl. auch Thogmartin, The National Daily Press, S. 238. Vgl. Blandin, Le Figaro, S. 177, S. 179 und S. 186-200. Vgl. Chastenet, Citizen Hersant, S. 261-301, Blandin, Le Figaro, S. 245-262, und Thogmartin, The National Daily Press, S. 226 f. Vgl. Blandin, Le Figaro, S. 269-271.

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Im Unterschied zu Le Monde und Le Figaro handelt(e) es sich bei L’Humanité, 1904 von Jean Jaurès gegründet, um eine Zeitung, die einer Partei gehört.44 Sie ist die Zeitung der französischen kommunistischen Partei. Zwischen dem Parti communiste français (PCF) und L’Humanité bestanden und bestehen Abhängigkeiten materieller und personeller Natur. Bis 2001 war die Gesellschaft der Zeitung L’Humanité eine Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 500.000 Francs. Dem Papier nach waren die Aktien im Besitz von natürlichen Personen, in Wirklichkeit jedoch waren sie vom PCF an Personen vergeben worden, welche die Partei vertraten. Der politische Direktor der Zeitung wurde vom Zentralkomitee der kommunistischen Partei nominiert, welches wiederum zusammen mit dem politischen Direktor für die Ernennung der Redakteure zuständig war. Der politische Direktor war dem Zentralkomitee des Parteikongresses für die politische Linie der Zeitung verantwortlich.45 Damit war beziehungsweise ist L’Humanité keine Zeitung wie alle anderen. Und auch das Selbstverständnis ihrer Journalisten unterschied sich von dem ihrer Berufskollegen. Sie verstanden sich nicht als ganz gewöhnliche Journalisten, sondern als Funktionäre einer revolutionären Partei.46 L’Humanité ist insofern von großer Bedeutung, als der PCF die stärkste politische Kraft der Vierten Republik war, auch wenn er seit Mai 1947 in keiner der Regierungen mehr vertreten war.47 In der Fünften Republik, welche 1958 ins Leben gerufen worden war, verlor er stetig an Bedeutung. Einerseits wirkte sich das neue Mehrheitswahlsystem negativ für den PCF aus, andererseits hatte das Ansehen des Kommunismus durch eine Reihe von Ereignissen Ŕ unter anderem durch die Niederschlagung des Ungarischen Aufstands und des Prager Frühlings sowie durch das Buch „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn Ŕ immer wieder Schaden erlitten. Und schließlich gelang es auch den französischen Sozialisten unter François Mitterand, durch eine gezielte Politik die Kommunisten als stärkste Kraft im linken Lager Frankreichs allmählich abzulösen.48 Mit dem kontinuierlichen Niedergang des PCF ging auch der Bedeutungsverlust der Zeitung L’Humanité einher.49 Daher wird L’Humanité nicht bis Ende 2005, sondern lediglich bis zur deutschen Einheit im Oktober 1990 44 45 46 47

48

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Delporte, L‟Humanité, un siècle d‟histoire, S. 11. Eveno, De l‟organe du Parti au journal d‟opinion, S. 200 f. Delporte, L‟Humanité, un siècle d‟histoire, S. 14. Vgl. Courtois, Lazar, Histoire du Parti communiste français, S. 248-301 und S. 392394, Tiersky, French Communism, S. 151-154, sowie Fauvet, Histoire du Parti communiste français, Bd. 2, S. 201-204. Vgl. Courtois, Lazar, Histoire du Parti communiste français, S. 305-310, S. 329-341, S. 344-362 und S. 382-414, Courtois, Das letzte Jahrzehnt des französischen Kommunismus, S. 23 und S. 34-36, sowie Ackermann, Der Sündenfall, S. 126-132 und S. 154-172. Zu den negativen Auswirkungen der absoluten Mehrheitswahl für die französischen Kommunisten vgl. Nohlen, Wahlrecht, S. 291. Vgl. Delporte, L‟Humanité, un siècle d‟histoire, S. 13

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in die Untersuchungen einbezogen. Diese Zäsur scheint sinnvoll, weil mit dem Ende des Kalten Krieges der Erosionsprozess der französischen Kommunisten weiter beschleunigt wurde.50 Es wird darauf verzichtet, L’Humanité durch die Zeitung Libération zu ersetzen. Libération erschien im April des Jahres 1973 zum ersten Mal. Einer ihrer Mitbegründer und ihr erster Direktor war Jean-Paul Sartre. Da jedoch in den ersten Jahren ihres Bestehens Le Monde sich zeitweise weiter nach links geöffnet hatte51 und L’Humanité große Teile der kommunistischen Leserschaft erreichte, ist es nicht sinnvoll, Libération mit in die Untersuchung einzubeziehen. Dagegen spricht auch, dass sie sich seit Beginn der achtziger Jahre immer mehr zu einer sozialistisch-liberalen Zeitung entwickelte und damit sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrer potenziellen Leserschaft erneut Übereinstimmungen mit Le Monde aufwies. Auch hat Libération bis heute Schwierigkeiten, eine eigene Stammleserschaft an sich zu binden. Ihre Analyse würde daher wohl keine neuen Erkenntnisse im Sinne der vorliegenden Arbeit bringen.52 Der Vergleich der Wahrnehmung von Le Figaro, L’Humanité und Le Monde ermöglicht Aussagen sowohl über die Homogenität beziehungsweise Heterogenität der öffentlichen Meinung in Frankreich im Hinblick auf die „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches als auch über die öffentliche Meinung zu diesem Thema überhaupt. Das ist auch deshalb der Fall, weil die vorliegende Untersuchung in ihrer Analyse nicht bei den genannten Zeitungen stehen bleibt. Vielmehr sollen anhand von Le Figaro, L’Humanité und Le Monde Deutungsfiguren herausgearbeitet werden, welche die Wahrnehmung der Zeitungen strukturieren und Rückschlüsse darauf erlauben, warum die „Vergangenheitsbewältigung“ im jeweiligen Kontext für wichtig erachtet wurde oder nicht. Diese Deutungsfiguren beziehungsweise Wahrnehmungsmuster sollen dann in einem weiteren Schritt auf ihre Plausibilität und Verbreitung in Frankreich hin untersucht werden, indem geprüft wird, ob sie sich in weiteren Quellen Ŕ historiographischen Werken und politischen Dokumenten Ŕ finden.

1.5. Aufbau der Arbeit Die Arbeit umfasst vier größere Abschnitte: erstens, die kritische Annäherung an das, was „Vergangenheitsbewältigung“ bedeutet, und die Frage, 50 51 52

Vgl. Courtois, Das letzte Jahrzehnt, S. 35 f. Vgl. Thibau, Le Monde, S. 389-395 und S. 492. Vgl. v.a. das Buch von Guisnel, Libération, la biographie. Vgl. auch Rimbert, Libération, S. 15-130, Freytag, Libération, S. 194 f., und Thogmartin, The National Daily Press, S. 248-258. Die von den beiden zuletzt erwähnten Autoren jeweils genannten Zahlen zur Verbreitung von Libération stimmen nicht immer miteinander überein. Ebd.

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inwieweit dies ein wissenschaftlich nutzbarer Begriff ist, zweitens die Darstellung und die Analyse der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und Deutschland nach 1989/90, drittens die Analyse der französischen Wahrnehmung und viertens den abschließenden Vergleich. Definition und Analyse des Begriffs „Vergangenheitsbewältigung“ stehen am Anfang der Arbeit, geht es doch im Folgenden um diese und ihre Wahrnehmung durch die französische Öffentlichkeit. Damit werden nicht nur kritische Stimmen berücksichtigt, die den Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ als vage und emotional aufgeladen bezeichnen, und die Spezifika von „Vergangenheitsbewältigung“ herausgearbeitet, sondern auch neuere Entwicklungen reflektiert, in deren Folge zunehmend von Erinnerungskulturen die Rede ist. Dieses erste konzeptionelle Kapitel ist der Ausgangspunkt für die anschließende Analyse der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches in den Jahren zwischen 1945/49 und 2005. Nicht die auflistende Darstellung einzelner Ereignisse, sondern ihre analytische, teils deskriptive Einordnung in einen Gesamtzusammenhang kennzeichnet diese Kapitel. Sowohl die „Vergangenheitsbewältigung“, als auch ihre Versäumnisse werden dabei thematisiert. Auch sie geben Auskunft über die Entwicklung der „Vergangenheitsbewältigung“. Diesem Abschnitt kommt insofern entscheidende Bedeutung zu, als erst aus der quasi konfrontativen Gegenüberstellung der „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches einerseits und ihrer Wahrnehmung in der französischen Öffentlichkeit andererseits Einsichten in mögliche Diskrepanzen gewonnen werden können, die zwischen diesen beiden Phänomenen bestehen. Würde ausschließlich die französische Wahrnehmung betrachtet werden, was alleine schon eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Wahrnehmung erfordern würde, dann wären lediglich Aussagen über die französische Wahrnehmung, nicht jedoch Aussagen über mögliche Diskrepanzen zwischen der „Vergangenheitsbewältigung“ einerseits und ihrer Wahrnehmung durch die französische Öffentlichkeit andererseits möglich. Insbesondere würden Auslassungen und Lücken in der französischen Wahrnehmung unberücksichtigt bleiben. Allen Kapiteln dieses Abschnitts ist daher gemeinsam, dass sie Charakteristika, Wendepunkte und Entwicklungslinien des jeweiligen Umgangs53 mit dem Erbe des Nationalsozialismus anhand wichtiger Ereignisse herausarbeiten. Diese Ereignisse bilden dann die Grundlage für die Darstellung und die Interpretation der französischen Wahrnehmung. Die Begründung der Fallauswahl erfolgt somit implizit. Lediglich in einigen wenigen Fällen ist dann eine explizite Begründung angebracht, wenn eine facettenreiche Entwicklung oder eine strukturelle Veränderung in einem oder mehreren geeigneten Er53

Der Begriff Umgang scheint an dieser Stelle angemessen, werden mit ihm doch auch mögliche Versäumnisse in der „Vergangenheitsbewältigung“ erfasst.

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eignissen punktuell erfasst werden müssen, um so später ihre Wahrnehmung durch die französische Öffentlichkeit untersuchen zu können. Erst nach der Definition des Begriffs „Vergangenheitsbewältigung“ und der Analyse des Umgangs mit dem Erbe des Nationalsozialismus in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches folgen Darstellung und Analyse der Wahrnehmung in der französischen Öffentlichkeit. Bis auf wenige begründete Ausnahmen wird zunächst die Wahrnehmung der einzelnen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches auf Deutungsfiguren hin untersucht werden. Mögliche Unterschiede beziehungsweise Übereinstimmungen in der Wahrnehmung der einzelnen Länder können so besser herausgearbeitet werden. Sie geben Auskunft über den länderspezifischen beziehungsweise grundsätzlichen Charakter einzelner Deutungsfiguren. Am Ende der Arbeit steht die zusammenfassende Analyse.

2. „Vergangenheitsbewältigung“?! „Vergangenheitsbewältigung“ Ŕ kaum ein Begriff der politisch-sozialen Sprache Deutschlands ruft derart ambivalente Reaktionen hervor. Einerseits ist er vor allem aufgrund seiner großen Bekanntheit kaum noch aus dem zeithistorischen Standardvokabular Deutschlands wegzudenken.1 Andererseits stößt er insbesondere in wissenschaftlichen Kreisen zunehmend auf Kritik. Bereits mit der Verwendung des Begriffs drücken viele Autoren ihre Skepsis gegenüber seiner Angemessenheit aus Ŕ sie schreiben ihn kursiv oder setzen ihn in Anführungszeichen. Die Erklärung folgt sofort. Das zusammengesetzte Wort „Vergangenheitsbewältigung“ sei nicht nur ein Widerspruch in sich, etwas Abgeschlossenes  die Vergangenheit Ŕ könne gar nicht bewältigt werden,2 sondern der Terminus „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichne darüber hinaus nicht einmal die konkrete Vergangenheit, die bewältigt werden solle. „Vergangenheitsbewältigung“ sei also ein unbestimmter, ein vager Terminus.3 Er sei sogar so vage, dass er verschieden gefüllt werden und daher zu Missverständnissen führen könne.4 Gerade angesichts dieser terminologischen Mängel von „Vergangenheitsbewältigung“ finden gegenwärtig präsente Schlagwörter wie Vergangenheitspolitik, Geschichtspolitik, Erinnerungskultur oder Geschichtskultur großen Anklang als Ŕ vermeintliche Ŕ Alternativen.5 Sie scheinen eine durchaus beachtenswerte Antwort auf die oben skizzierten Schwächen von „Vergangenheitsbewältigung“ darzustellen. Ihnen fehlt jegliche emotionale Färbung, wie „Bewältigung“ sie impliziert. Sie zeichnen sich durch eine größere Neutralität und Nüchternheit aus und sie suggerieren nicht einmal ansatzweise, dass die Vergangenheit, um die es geht, abgeschlossen werden könne.

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4 5

Vgl. Frei, Das Problem, S. 22. So unter anderem Jesse, Doppelte Vergangenheitsbewältigung, S. 12, Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 20, Hey, NS-Prozesse, S. 51, und Kittel, Die Legende, S. 22. Vgl. hierzu auch Arenhövel, Demokratie, S. 21. Die mit „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnete Vergangenheit lasse sich erst recht nicht „bewältigen“, so Dudek, „Vergangenheitsbewältigung“, S. 44. Vgl. Weber, Vergangenheitsbewältigung, S. 196. So unter anderem Jesse, Doppelte Vergangenheitsbewältigung, S. 12, Jesse, „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik, S. 550, Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 20, Hey, NS-Prozesse, S. 51. Vgl. auch Weber, Vergangenheitsbewältigung, S. 196. Pampel, Was bedeutet?, S. 30 f. Vgl. auch Wielenga, Schatten, S. 16. Zu „Vergangenheitspolitik“ vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 13; zu „Geschichtspolitik“ vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik S. 19 und S. 22-32; zu „Erinnerungskultur“ vgl. als Überblick das Buch von Erll, Kollektives Gedächtnis; zu „Geschichtskultur“ vgl. Rüsen, Historische Orientierung, S. 219.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

Doch bezeichnen sie wirklich den gleichen Sachverhalt wie „Vergangenheitsbewältigung“? Stellen sie also ernsthafte Alternativen dar? Und wieso konnte sich „Vergangenheitsbewältigung“ trotz aller Kritik in der politischsozialen Sprache der Bundesrepublik etablieren und mehr als fünfzig Jahre halten? Antworten auf diese Fragen können in der Definition, der Analyse und dem Vergleich der genannten Begriffe erarbeitet werden. Es ist also zu klären, was „Vergangenheitsbewältigung“, Vergangenheitspolitik, Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und Geschichtskultur genau bedeuten, ob sie den jeweils gleichen Sachverhalt benennen, und wenn nicht, im Anschluss daran, worin mögliche Unterschiede bestehen. All die genannten Begriffe lassen sich, so viel soll vorweggenommen werden, nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Vielmehr weisen sie eine Reihe von Berührungspunkten auf, so dass ihre jeweilige Analyse aufeinander aufbauen kann. Erinnerungskultur fungiert dabei gleichsam als Oberbegriff.

2.1. Erinnerungs- und Geschichtskultur6 Nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive, gleich ob politische oder soziale, kleine oder große, erinnern sich ihrer Geschichte.7 Doch anders als die Lebensgeschichte eines Individuums umspannt die eines Kollektivs mehr als die bloße Lebenszeit der sich erinnernden Individuen, in der Regel gar mehrere Generationen. Die Erinnerung der Lebensgeschichte eines Kollektivs ist also eine wahrhaft historische Erinnerung.8 Das Wachhalten dieser Vergangenheit bedarf besonderer Anstrengungen, Formen und Medien der Konservierung und Gestaltung. Doch nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihren Trägern unterscheiden sich kollektive von individuellen Erinnerungen. Anders als Individuen kann Kollektiven kein organisches Gedächtnis zugeordnet werden, in dem Informationen über vergangene Ereignisse, Personen oder Orte gespeichert und von dort wieder abgerufen werden können.9 Zudem ist es je nach Größe des sich erinnernden Kollektivs seinen einzelnen Mitgliedern nicht einmal ansatzweise möglich, 6 7

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Beide Begriffe können synonym verstanden werden. Cornelißen, Zur Erforschung, S. 32. Für Individuen lässt sich dies am augenscheinlichsten an Biographien und Memoiren, aber auch an Photoalben oder Tagebüchern festmachen. All diese zeugen von dem offenkundigen Bedürfnis, Vergangenes festzuhalten und weiterzugeben. Gleichsam lassen sich ähnlich signifikante Beobachtungen für die Erinnerung von Kollektiven berichten. Zu nennen sind hier staatliche Gedenktage, Jubiläen jeglicher Art oder kirchliche Feiertage. Bloch, Kollektives Gedächtnis, S. 247. Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 7, und Bloch, Kollektives Gedächtnis, S. 246 f. Zum menschlichen Gedächtnis vgl. einführend den Aufsatz von Welzer, Gedächtnis, S. 155-174.

2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

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einander alle zu kennen.10 Und dennoch werden mit dem Paradigma der Erinnerungskultur(en) Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Erinnerung innerhalb eines Kollektivs, wenn nicht sogar die Erinnerung eines Kollektivs unterstellt: Ist von Kultur die Rede, so wird damit zugleich immer auch auf einen sozialen Zusammenhang hingewiesen. Eine Kultur einer Person ist nicht denkbar; Kultur setzt immer die Existenz einer Gruppe beziehungsweise einer Gesellschaft voraus. Entsprechend lautet die Definition von Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn: „Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behavior acquired and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievement of human groups, including their embodiments in artifacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e. historically derived and selected) ideas and especially their attached values; culture systems may, on the one hand, be considered as products of action, on the other as conditioning elements of further action.“ 11

Wie nun lassen sich der kollektiv veranlagte Begriff der Kultur und der sich ursprünglich auf individualpsychologische Zusammenhänge beziehende Begriff der Erinnerung in einem gemeinsamen Konzept vereinen? Gemeinschaften erinnern sich ihrer Geschichte nicht aus bloßem Zeitvertreib oder ästhetischem Vergnügen. Vielmehr begründen und stabilisieren Erinnerungen dort, wo sie von Bedeutung sind, Identität, Werte und Normen von Kollektiven.12 Erinnerung bildet einen Baustein zur Erklärung und Begründung gegenwärtiger Zustände. Sie leistet somit einen entscheidenden Beitrag zu Kohäsion und Stabilität von Gruppen und erfüllt dabei zugleich auch das Bedürfnis des Einzelnen nach Orientierung.13 Hiermit ist die erste Kernannahme des erinnerungskulturellen Paradigmas genannt: In der gemeinsamen Erinnerung an vergangene Ereignisse, Personen oder Orte entwickeln und stabilisieren Gruppen beziehungsweise Gesellschaften Identität, genauer noch: kollektive Identität.14

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So in Religionsgemeinschaften oder Nationen. Kroeber, Kluckhohn, Culture, S. 357. Giesen, Triumph, S. 109, Echterhoff, Saar, Einleitung, S. 18. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 29-31, Carrier, Les Lieux de mémoire, S. 144, und Assmann, Funktionsgedächtnis, S. 176. Vgl. Assmann, Erinnern, um dazuzugehören, S. 51-62. Giesen, Triumph, S. 109, Echterhoff, Saar, Einleitung, S. 18. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 29-31, Carrier, Les Lieux de mémoire, S. 144, und Assmann, Funktionsgedächtnis, S. 176. Trotz begründeter und überzeugend vorgetragener Kritik am kollektiven Identitätsbegriff Ŕ wie vor allem Lutz Niethammer sie in seinem Buch „Kollektive Identität“ entwickelt und vorgetragen hat Ŕ ist weiterhin an diesem festzuhalten. Es kann entgegnet werden, dass die Annahme kollektiver Identität für eine Gemeinschaft keineswegs die Wesensgleichheit ihrer Mitglieder unterstellt. Deskriptiv verstanden benennt kollektive Identität vielmehr einer „variablen Mehrzahl etwas ihnen Gemeinsames“, ohne dabei jedoch „Unterschiede in anderen Hinsichten“ auszuschließen. Straub, Identität, S. 298.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

Kollektive Identität ist mehr als eine bloße Analogie zur Identität eines Individuums. Letztere setzt sich aus den beiden Polen personale Identität und soziale Identität zusammen. Während die personale Identität „das Wissen um eigene Charakterzüge, Fähigkeiten, Meinungen samt der damit verbundenen Gefühle und Wertungen“ umfasst, definiert sich die soziale Identität als „das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren sozialen Gruppen“ und als „die damit verbundenen Gefühle und Bewertungen“. Beide Formen von Identität werden in Abhängigkeit von verschiedenen „kontextabhängige[n] Anregungsbedingungen“ abgerufen.15 Mit kollektiver Identität wird die erfahrbare, durchaus auch bewusste Übereinstimmung einer Mehrzahl von Individuen in ihrer sozialen Identität bezeichnet. Diese ist kein Produkt des Zufalls, sondern Folge übereinstimmender Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gemeinschaft.16 Der Einzelne lebt nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist eingebettet in soziale Beziehungen, zugehörig zu verschiedenen Gruppen wie Familie oder Vereinen und über diese, aber auch als einzelne Person Teil von Gesellschaftssystemen wie Religion oder Nation.17 In Lernprozessen, Interaktionen und Kommunikation übernimmt er wie viele andere die jeweils für die Gruppe konstitutiven Werte und Normen. Da diese wiederum einen Großteil ihrer Legitimation aus der in einem Kollektiv gegenwärtig kursierenden Deutung ihrer Geschichte ziehen, kommt gemeinsamen Erinnerungen für die Begründung kollektiver Identitäten entscheidende Bedeutung zu.18 Die gesellschaftliche Prägung des individuellen Gedächtnisses, wie sie sich in der sozialen Identität des Individuums niederschlägt, sollte dabei nicht mit kollektiven Erinnerungen verwechselt werden. Auf der einen Seite bezeichnet die auf Halbwachs zurückgehende Formel des kollektiven Gedächtnisses die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses. Träger des Gedächtnisses und der Erinnerung ist stets das einzelne Individuum, doch ist sein Gedächtnis gleichsam kollektiv geprägt, das heißt Erinnerungen jeglicher Art entstehen im Rahmen von Kommunikation und Interaktion sozialer Gruppen.19 Soziale Gruppen, zu denen ein Individuum gehört, beeinflussen also

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Wiswede, Sozialpsychologie-Lexikon, S. 245/256. Vgl. Straub, Identität, S. 298-300, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 134 f., und Heinrich, Kollektive Erinnerungen, S. 44 f. Zur Unterscheidung von Gruppen und Gesellschaften vgl. überblicksmäßig den Aufsatz von Schäfers, Entwicklung. Schäfers differenziert nochmals zwischen Kleinund Großgruppen. Während Kleingruppen maximal bis zu 25 Personen umfassen, liegt die Obergrenze für Großgruppen bei bis zu 500 oder 1000 Personen. Schäfers, Entwicklung, S. 21 f. Nationen oder Religionsgemeinschaften sind demnach keine Gruppen. Vgl. auch Gukenbiehl, Schäfers, Gruppe, S. 118. Für größere soziale Verbände kann der Begriff der Gesellschaft verwendet werden. Vgl. hierzu Schäfers, Gesellschaft, S. 109-114, und Schwonke, Die Gruppe als Paradigma, S. 50-52. Vgl. Saar, Wem gehört?, S. 268. Vgl. Halbwachs, La mémoire, S. 2 f.

2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

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Inhalt und Struktur seines Gedächtnisses.20 In diesem Sinn haben Kollektive Anteil an der Erinnerung ihrer Individuen. Von diesem Phänomen sind die im Folgenden so genannten kollektiven Erinnerungen abzugrenzen. Anders als das Konzept des kollektiven Gedächtnisses gestehen sie auch Kollektiven Subjektcharakter zu. Obgleich sich kollektive Erinnerungen nur in ihren Bezügen zu Individuen als Träger des Gedächtnisses denken lassen und sie nicht dem menschlichen Gedächtnis gleich an einem Organ festzumachen sind, wird mit einem eigenen Konzept kollektiver Erinnerungen der Versuch unternommen, dem Umstand gerecht zu werden, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, dass also „Gruppen, Gesellschaften und menschliche Kollektivitäten generell eigene Identitäten, Denkweisen und Gedächtnisse besitzen“ können.21 Kollektive Erinnerungen sind dabei mehr als eine bloße Analogie zu ihrem individuellen Widerpart. Individuen müssen nicht einmal Übereinstimmungen in ihrer sozialen Identität mit anderen erfahren, um ihr Verhalten im Sinne eines angenommenen oder gar erfahrenen Kollektivs zu ändern. Die bloße Annahme einer solchen Ähnlichkeit reicht bereits aus, damit sich aus dieser eine eigene, eine neue Handlungsdynamik entfaltet. Die Grenzen zwischen Wir und Ihr werden in Situationen entsprechend neu justiert, wo Gruppenzugehörigkeiten Verhalten und Handeln rahmen.22 Während, allgemein gesprochen, das Konzept des kollektiven Gedächtnisses sich stärker auf die Mikroebene bezieht, orientiert sich das der kollektiven Erinnerungen an der Makroebene.23 Kollektive Erinnerungen sind kein autopoietisches System. Kommunikation und Interaktion der Individuen mit- und untereinander machen das Wissen um Übereinstimmung in der sozialen Identität bewusst und helfen, dieses weiterzugeben.24 Während in kleinen Gruppen wie Familien die Herausbil20

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„On nous accordera, peut-être, qu'un grand nombre de souvenirs reparaissent parceque les autres hommes nous les rappellent; on nous accordera même, lorsque ces hommes ne sont point matériellement présents, qu‟on peut parler de mémoire collective quand nous évoquons un événement qui tenait une place dans la vie de notre groupe et que nous avons envisagé, que nous envisageons maintenant encore au moment ou nous le rappelons, du point de vue de ce groupe.“ Halbwachs, La mémoire, S. 15. Vgl. auch Halbwachs, La mémoire, S. 30 f. und S. 60 ff. Einen kurzen Überblick über die Theorie des sozialen Gedächtnisses geben auch Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 34-48, Bloch, Kollektives Gedächtnis, S. 241-251, und Cornelißen, Nationale Erinnerungskulturen, 12 f. Cavalli, Gedächtnis, S. 456. Einige Soziologen wie Gérard Namer kritisieren in diesem Zusammenhang auch Halbwachs' Konzept des kollektiven Gedächtnisses. Dieser thematisiere ausschließlich Individuen als Träger des sozialen Gedächtnisses, „nichtpersonale Entitäten“ hingegen spielten keine Rolle. Echterhoff, Saar, Einleitung, S. 24. Vgl. Straub, Identität, S. 298-300. Zur Unterscheidung zweier Ebenen vgl. Echterhoff, Saar, Einleitung, S. 14 f., S. 23, und Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 14 f. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 140-145. Vgl. auch Assmann, Funktionsgedächtnis, S. 175.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

dung kollektiver Identitäten keiner weiteren Förderung bedarf, trifft dies nicht für größere Gruppen oder Gesellschaften zu. Überschreitet die Größe eines Kollektivs einen Umfang, der den direkten Kontakt zwischen seinen jeweiligen Mitgliedern unmöglich macht, so sind weitere Medien und Mittel erforderlich, um in der Erinnerung auch an länger zurückliegende Ereignisse, Personen oder Orte kollektive Identität zu begründen. Die Mitglieder der Gemeinschaft kennen einander nicht, sind einander noch nie begegnet und werden dies wahrscheinlich auch nie tun. Je größer also die Kollektive werden, die eine kollektive Identität ausbilden, und je länger die bedeutsame Vergangenheit zurückliegt, desto schwieriger gestaltet sich die sinnbildende Erinnerung.25 Nur unter Zuhilfenahme von Institutionen wie beispielsweise Schulen, die das Kollektiv vertreten, kann dies gelingen.26 Anderenfalls besteht das „Risiko“, dass nicht die kollektiven Erinnerungen der Gesellschaft, sondern ihre Deutung durch eine Gruppe weitergegeben wird, da diese ja einer Brücke gleich Individuen und Gesellschaft miteinander verbindet.27 Kultureller Entwicklungsstand, Grad der Vernetzung und Mentalitäten28 bilden weitere Rahmenbedingungen für geschichtliche Erinnerungen politischer und sozialer Kollektive. Sie erfordern unterschiedliche adaptive Leistungen, soll die Erinnerung gelingen und dauerhaft sein. Dem Übergang von oralen zu schriftlichen Gesellschaften sowie der wachsenden Interdependenz vor allem im Zuge gestiegener Medialisierung und Virtualisierung kommt hierbei besondere Bedeutung zu, verändern sie doch Zusammenhalt, Repräsentativität und symbolisch-virtuelle Verbindungen von Gemeinschaften.29 Während nicht-schriftliche, orale Kulturen in erster Linie auf Formen ritualisierten Gedenkens und auf „Erinnerungsexperten“ zurückgreifen müssen, um sich ihrer Geschichte (als Mythos) zu erinnern,30 konnte bereits das alte Isra25

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So weist Assmann darauf hin, dass das kulturelle Gedächtnis sich „nicht von selbst herum“ spricht, sondern „sorgfältiger Einweisungen“ bedarf. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 54 f. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 24 f. und S. 145 ff. Vgl. auch Assmann, Erinnern, S. 55-57, und Schwonke, Die Gruppe, S. 50 f. Vgl. Schwonke, Die Gruppe, S. 50 f. So weist Burke darauf hin, dass einige Kulturen sich ihrer Vergangenheit stärker erinnern als andere. Burke, Geschichte als, S. 297. In diesem Sinne zeigen auch Assmann und Folkers, dass der Erinnerung im Judentum eine besonders zentrale Bedeutung zukommt, Vgl. hierzu die Aufsätze von Folkers, Die gerettete Geschichte, S. 363-377, und von Assmann, Die Katastrophe, S. 337-355. Zur Bedeutung von Mentalitäten und den Herausforderungen einer sogenannten Mentalitätsgeschichte vgl. die Aufsätze von Sellin, Mentalität, S. 555-598, und den Aufsatz von Flaig, Habitus, S. 356-371. Zum Einschnitt, den die Entwicklung der Schrift für die Erinnerung von Kollektiven bedeutete, vgl. Le Goff, Geschichte, S. 91-95. Den Ägyptern galt die Schrift gar „als rettende Dimension: sie erlöst vom Fluch der Vergänglichkeit“. Assmann, Erinnern, S. 56. Zu den Auswirkungen der Entwicklung von Computern auf die kollektiven Erinnerungen vgl. Le Goff, Geschichte, S. 126-136. Zum Einfluss der Massenmedien auf kollektive Erinnerungen vgl. Carrier, Les Lieux, S. 148-150. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 54-59, und Le Goff, Geschichte, S. 87-

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el für sein Selbstverständnis bedeutsame Ereignisse oder Personen mit Hilfe des Alten Testaments für eine Vielzahl von Personen in gleicher Weise verbindlich erinnern.31 Doch mit dem Übergang zu einer schriftlichen Gesellschaft verlieren Formen ritualisierten und symbolischen Gedenkens keineswegs an Bedeutung. Sie finden weiterhin große Verbreitung. Nur sie halten die Erinnerung an Vergangenes in einer Weise wach, die dieses stets neu, stets als die eigene Geschichte erfahren lässt, insbesondere dann, wenn das zu Erinnernde bereits länger zurückliegt und die Generation der Zeitzeugen ausgestorben ist.32 Das ritualisierte Gedenken macht den Einzelnen wieder zum Träger der Erinnerung und schiebt so der Gefahr des Vergessens dauerhaft einen Riegel vor.33 In diesen Worten klingt bereits an, dass nicht alles jederzeit erinnert wird. Zugleich jedoch wird nicht alles, was nicht erinnert wird, gleich vergessen. Um diesen Zusammenhang zu benennen und zu verdeutlichen, hat Aleida Assmann die Unterscheidung zwischen Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis eingeführt. Das Funktionsgedächtnis speichert alles, was „Halt zu geben und Interessen und Werte zu festigen vermag“. Ist das nicht mehr der Fall, „wird es fallen gelassen und vergessen“.34 Das Speichergedächtnis entspricht mit den Worten Assmanns einer „>vorgestellte(n), verstaubte(n) Dachkammerin seine Gewalt bringen, eine Sache beherrschenmit etwas fertig werdenwe are all Germans now< in the sense that all countries (and many other entities as well) that wish to be regarded as legitimate con-

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Wie jedoch können diese Beobachtungen erklärt werden, wenn die Erinnerung an negative Kapitel der eigenen Geschichte eben nicht zwingenderweise der Bildung einer positiven Identität dient Ŕ dieses Ziel könnte auf anderen Wegen einfacher erreicht werden Ŕ, sondern Ambivalenz, Zweifel und Unsicherheit hervorruft?63 Worin liegt also der Nutzen von „Vergangenheitsbewältigung“ für die Gegenwart, wie ihn das Konzept der Erinnerungskultur ja unterstellt? Bevor der Versuch unternommen wird, diese Fragen zu beantworten, sei an dieser Stelle noch kurz auf die beiden anderen genannten Begriffe Ŕ Vergangenheitspolitik und Geschichtspolitik Ŕ eingegangen. Auch sie stellen keinen adäquaten Ersatz für „Vergangenheitsbewältigung“ dar. Während Vergangenheitspolitik sich ausschließlich auf „einen politischen Prozeß“ in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik erstreckte, der vor allem durch Amnestie und Integration ehemaliger „Parteigenossen“ gekennzeichnet war,64 hat Geschichtspolitik „die Auseinandersetzung um Geschichte als politisches Ereignis in Demokratien“ unter besonderer Berücksichtigung der politischen Akteure zum Gegenstand.65 Vergangenheitspolitik stellt folglich das engste aller genannten Konzepte dar, es bezieht sich auf die Bonner Integrationspolitik der ersten Hälfte der fünfziger Jahre und somit auf einen empirischen Fall.66 Die anderen Konzepte jedoch Ŕ Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und „Vergangenheitsbewältigung“ Ŕ sind weder an ein konkretes Ereignis noch an einen geographischen Raum gebunden. Zugleich stehen sie alle in einer wechselseitigen Beziehung. Erinnerungskultur kann als Oberbegriff gelten; Geschichtspolitik geht in die gleiche Richtung, legt jedoch einen anderen, enger begrenzten Schwerpunkt, was seine Akteure und seine Handlungsfelder betrifft; „Vergangenheitsbewältigung“ bezieht sich auf einen Sonderfall von Erinnerungskultur(en), und Vergangenheitspolitik wiederum benennt ein konkretes historisches Beispiel. Trotz der eingangs wiedergegebenen Kritik an Vagheit, Emotionalität und mangelnder Schärfe von „Vergangenheitsbewältigung“ ist daher weiterhin an diesem als eigenständigem Konzept festzuhalten. „Vergangenheitsbewältigung“ wird im Folgenden weitestgehend synonym mit dem Begriff „Aufarbeitung der Vergangenheit“ verwandt. Ähnlich wie gegen „Bewältigung“

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front pressures to make amends for the more sordid aspects of their past and, often compensate victims of earlier wrongdoings.“ Torpey, Introduction, S. 2 f. Vgl. auch Barkan, The guilt, S. IX, oder Olick, Coughlin, The Politics S. 37 f. Vgl. ebenso Branscombe, Doosje, International Perspectives, S. 5 f., Méndez, In Defense, S. 1 f., und Torpey, Introduction, S. 7 f. Vgl. Cairns, Coming to Terms, S. 63, und Giesen, Triumph and Trauma, S. 110. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 13. Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 19. Eine detaillierte Beschreibung und Analyse von Geschichtspolitik findet sich bei Wolfrum, Geschichtspolitik, S. 22-32. Zwar kann eine zunehmende Öffnung des Begriffs „Vergangenheitspolitik“ beobachtet werden, doch ist den meisten Ansätzen weiterhin die Fokussierung auf den Umgang mit den Tätern gemeinsam. Vgl. Miquel, Ahnden, S. 11.

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kann gegen den Begriff „Aufarbeitung“ eingewandt werden, dass er die Abschließbarkeit der Auseinandersetzung mit einem historischen Gegenstand suggeriere, ist doch „aufarbeiten“ in seiner ursprünglichen Bedeutung sinnverwandt mit „etwas erledigen“. Jedoch hat sich der Begriff „Aufarbeitung der Vergangenheit“ seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend zur Bezeichnung der Summe gesellschaftlicher, politischer und juristischer Bemühungen etabliert, sich historischem Unrecht zu stellen, ohne dass damit ein Schlussstrich intendiert wäre. Zudem weist das Verb „arbeiten“ Berührungspunkte mit „bewältigen“ auf. Es betont erstens die Notwendigkeit, etwas auf- beziehungsweise durchzuarbeiten, es macht zweitens deutlich, dass der Prozess des Aufarbeitens mit Anstrengungen verbunden ist, und es erfordert drittens die aktive Beteiligung der Akteure. Nicht umsonst wird „aufarbeiten“ synonym verwandt mit „ins Reine bringen, […], bearbeiten, […], sich Gedanken machen, geistig verarbeiten, sich klar werden, sich vertiefen“.67

2.2.2. „Vergangenheitsbewältigung“ geht von der Universalität der Menschenrechte aus68 Sowohl das Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ als auch die dadurch erfasste Realität basieren auf einem Menschenbild, welches nicht nur von der Universalität der Menschenrechte, sondern auch von der prinzipiellen Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Menschen für sein Handeln ausgeht.69 Nur

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Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3. Antagonismus Ŕ Azyklisch, Sp. 425 f. Vgl. auch den Titel des siebten Bandes der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“: Deutscher Bundestag, Materialien der EnqueteKommission, Bd. VII: Herausforderungen für die künftige Aufarbeitung der SEDDiktatur. Vgl. Duden. Das Synonymwörterbuch, S. 109. Jedoch ist der Begriff „Aufarbeiten der Vergangenheit“ weniger emotional besetzt als „Vergangenheitsbewältigung“. Daher wird auch „Aufarbeitung“, sofern es sich nicht um die juristische Aufarbeitung handelt, in Anführungszeichen gesetzt. Da es erst der Erläuterung bedurfte, wurde das noch nicht im Titel der Arbeit gemacht. Aus den gleichen Gründen wurde im Titel auch das auf den ersten Blick zunächst neutralere „Aufarbeiten“ verwandt. Auch Olick und Coughlin verweisen auf die Möglichkeit, die von ihnen so genannte Politik des Bedauerns mit einem moralphilosphischen Ansatz zu erklären. Vgl. Olick, Couglin, The Politics of Regret, S. 192. „Von manchen Menschenrechten wird normalerweise angenommen, dass sie gegenüber jeder Person und gegenüber jedem Staat, also sozusagen gegenüber der ganzen Welt, gelten. Ein Beispiel ist das Recht auf Leben und physische Integrität. Diese Rechte sind nicht nur universell begründet, sondern auch generell hinsichtlich ihrer Adressaten.“ Koller, Der Geltungsbereich, S. 101. Vgl. auch Ebd., S. 112. Vgl. Olick, Coughlin, The Politics of Regret, S. 44 und 46, sowie McCarthy, Vergangenheitsbewältigung, S. 854-857.

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vor dem Hintergrund dieser Annahmen ist „Vergangenheitsbewältigung“ denkbar. Der Anspruch der universellen Gültigkeit bezieht sich vor allem auf die liberalen Freiheitsrechte Ŕ von diesen sind die politischen Teilnahme- sowie die sozialen Teilhaberechte zu unterscheiden.70 Folglich kommt nicht nur allen Menschen von Geburt an ein unveräußerlicher Kanon an Menschenrechten zu, sondern auch alle Staaten (und Individuen) haben diesen zu respektieren und zu schützen, gleich ob das Subjekt dieses Schutzes nun ein Mitglied ihrer Gemeinschaft Ŕ das heißt ihr Staatsbürger Ŕ ist oder nicht.71 Da diese Forderung moralisch begründet, also vorstaatlich legitimiert ist, erheben diese Menschenrechte auch unabhängig von ihrer Implementierung in geltendes staatliches Recht Anspruch auf Anerkennung, so die moralphilosophische Argumentation.72 Erst aus diesem universellen Anspruch der Menschenrechte auf Gültigkeit ergibt sich das Potenzial zu „Vergangenheitsbewältigung“. Für das Konzept von „Vergangenheitsbewältigung“ ist diese Argumentation von grundlegender Bedeutung, folgt aus ihr doch, dass Opfer von Menschenrechtsverstößen unabhängig vom rechtlichen Entwicklungsstand des Landes, welches ihre Menschenwürde missachtet hat, als solche anerkannt werden, und dass sie darauf aufbauend legitimen Anspruch auf Gerechtigkeit erheben können. Diese Argumentation besitzt auch dann Gültigkeit, wenn das Unrecht staatlich sanktioniert war und sich mit geltendem positiven Recht im Einklang befand. Damit dürfte auch deutlich geworden sein, was der zugegebenermaßen recht vage Begriff der negativen Geschichte eigentlich bedeutet. Er benennt staatlich beziehungsweise institutionell organisierte oder legitimierte Verstöße gegen die Menschenrechte beziehungsweise ihre Duldung. Individuelle Verstöße mit Einzelfallcharakter zählen nicht dazu. Der kollektive Charakter von „Vergangenheitsbewältigung“ hat hier seine Wurzeln. Zwar bedürfen derartige Verbrechen stets Individuen als ausführende Täter, und diese sind auch für ihr Handeln verantwortlich, doch sind sie staatlich organisiert und legitimiert. Deshalb zeichnen auch die Kollektive für sie verantwortlich, in deren Namen sie begangen werden. So wie spätere Generationen an den von ihren Vorfahren erworbenen Vorteilen partizipieren, so haben sie auch Anteil an ihrem negativen Erbe.73

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Lohmann, Gosepath, Einleitung, S. 13. Koller, Der Geltungsbereich, S. 100 f., S. 112 und S. 116. Da Menschenrechte und ihr Schutz von fundamentaler Bedeutung sind, gewinnt dieser Anspruch gar noch an zwingendem Charakter. Vgl. Lohmann, Menschenrechte, S. 84 ff. Vgl. auch Lohmann, Gosepath, Einleitung, S. 18. Vgl. McCarthy, Vergangenheitsbewältigung, S. 851 und S. 855. Hier liegt erneut eine Überschneidung zwischen den beiden Konzepten der Erinnerungskultur einerseits und der „Vergangenheitsbewältigung“ andererseits vor.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

2.2.3. „Vergangenheitsbewältigung“ im Zeichen von Diskontinuität Mit der Universalität der Menschenrechte ist lediglich eine notwendige Bedingung für „Vergangenheitsbewältigung“ benannt. Eine zweite ergibt sich aus dem zeitlichen und kontextuellen Rahmen, in dem sich „Vergangenheitsbewältigung“ entwickelt. Nicht jeder Staat, genauer: nicht jedes politische System, setzt sich zu jedem denkbaren Zeitpunkt mit Menschenrechtsverbrechen auseinander; schon gar nicht, wenn er selbst diese begangen hat. Es bedarf eines Auslösers und eines entsprechend gestalteten Kontextes, innerhalb dessen die Einsicht in den Unrechtscharakter des (vergangenen) Regimes reifen kann, sowie den Opfern die Möglichkeit gegeben ist, auf das ihnen zugefügte Unrecht hinzuweisen. „Vergangenheitsbewältigung“ findet daher zumeist in der unmittelbaren, aber auch längerfristigen Folge von Systemtransformation oder im Zeichen systemischer Diskontinuität statt, das heißt die historische Erzählung des Kollektivs begründet dessen Identität, Werte und Normen nicht in der Rückbesinnung auf Ŕ scheinbare Ŕ historische Kontinuität.74 Erst nach Ende des Unrechtsstaates und/oder mit zunehmender zeitlicher Distanz besteht die ernsthafte Möglichkeit, staatliches Unrecht als solches zu benennen und juristisch zu verfolgen, ohne zwingenderweise politische oder juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Es ist daher naheliegend, dass erst in der Folge von Umbruchsituationen Aktivitäten auftreten, die im Sinne des Konzeptes der „Vergangenheitsbewältigung“ auf Aufdeckung und Bestrafung von staatlich organisierten Verstößen gegen die Menschenrechte zielen. In Übereinstimmung mit dem erinnerungskulturellen Konzept kann schließlich auch auf die Identität, Werte und Normen der menschlichen Zivilisation in Frage stellende Wirkung von systematischen Menschenrechtsverbrechen hingewiesen werden.75 Erst infolge von Umbruchsituationen und Diskontinuitäten gelangen diese ins volle Bewusstsein sowohl der nationalen als auch der internationalen Öffentlichkeit, herrschten doch zuvor Zensur und staatlich kontrollierter Zugang zu Informationen. Orientierungslosigkeit ist die Folge. Aus dem Versuch, das Geschehene zu begreifen, für bedeutsam erachtete Werte und Normen zu retten, resultiert entweder die Verdrängung des Geschehenen oder seine „Aufarbeitung“ beziehungsweise die Ergründung seiner Ursachen.76 Die Frage nach dem Warum ist der Versuch, auf der 74 75 76

Siehe oben, S. 29. Vgl. Cairns, Coming to Terms, S. 64, und Merkel, Das Recht, S. 89. Vgl. auch Arendt, Eichmann, S. 272. Cavalli schildert den Versuch von Kollektiven, mit Umbruchsituationen infolge von Naturkatastrophen umzugehen. Analogien können erkannt werden. Vgl. Cavalli, Gedächtnis, S. 457-500. Cavalli fasst seine Untersuchung wie folgt zusammen: Gesellschaften erleben „kollektive Verzweiflung“. Diese muss jedoch „verarbeitet oder verdrängt werden, wenn das soziale Leben einen minimalen Grad an Stabilität und Kontinuität wiedergewinnen will“. Cavalli, Gedächtnis, S. 470.

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Grundlage des Wissens um das Geschehene dessen Wiederholung unmöglich zu machen. Diese Aufgabe kann nicht den Gerichten allein überlassen werden, sie bedarf gesamtgesellschaftlicher, sowohl politischer als auch kultureller Anstrengungen. Denn Gerichte können nur Urteile fällen, wenn die Täter und der Tathergang eindeutig bekannt sind, also alle Zweifel an ihrer Schuld ausgeräumt sind. Bei Massenverbrechen jedoch sind diese Fragen außerordentlich schwierig zu klären, ein juristischer Freispruch muss daher nicht ein moralischer sein.77 Der mit Systemumbruch eigentlich auch implizierte Bezug auf den Zusammenbruch von Demokratie ist aus dem Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ ausgenommen. „Vergangenheitsbewältigung“ bleibt auf Demokratisierungsprozesse begrenzt. Würde es auch den Zusammenbruch von Demokratie mit einbeziehen, so müsste daraus geschlossen werden, dass eine Demokratie systematisch flächendeckende Menschenrechtsverstöße begehen kann, ohne aufzuhören, eine Demokratie zu sein. Wird jedoch von einem nicht nur formalen, sondern auch inhaltlichen Demokratiebegriff im Sinne der westlichen Demokratie ausgegangen, so sind lediglich begrenzte staatliche Verstöße gegen Menschenrechte möglich, ohne dass das entsprechende politische System aufhört, eine Demokratie zu sein. Würden diese jedoch Ausmaße annehmen, dass sie zu einem Kennzeichen des Systems würden, dann könnte nicht mehr von einer Demokratie die Rede sein. Im westlichen Demokratieverständnis kommt Menschenrechten eine zentrale Rolle für die Demokratie zu.78 Würde ein Staat diese, vor allem die liberalen Menschenrechte sowie die politischen Teilnahmerechte, flächendeckend nicht respektieren, so wären die für die Realisierung von Demokratie in großen Gesellschaften notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt. Die Bürger könnten in diesem Fall ihre Stimme weder frei noch gleichberechtigt erheben, noch hätten sie ausreichend Möglichkeiten, die Regierung zu kontrollieren.79 Ist „Vergangenheitsbewältigung“ somit ausschließlich in Demokratien möglich? Anders als in Demokratien, die pluralistisch und rechtsstaatlich organisiert sind, erkennen Diktaturen in der Regel weder die Universalität der Menschenrechte an, noch gewähren sie ihren Bürgern Meinungsfreiheit.80 Da Diktaturen systematisch gegen Menschenrechte verstoßen, haben sie darüber hinaus auch kein intrinsisches Motiv, die Missachtung von Men77 78

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Vgl. Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1455-2457. Vgl. Linz, Typen politischer Regime, S. 532 ff. Diese Annahme schlägt sich auch im Konzept der „defekten Demokratie“ nieder. Die Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte bildet ein Kriterium einer defekten Demokratie. Vgl. Merkel u.a., Defekte Demokratie, Bd. 1, S. 85 ff. und S. 261 ff. Zu verschiedenen Ausformungen von Demokratien und der Frage des Schutzes von Minderheitenrechten vgl. auch Linz, Typen politischer Regime, S. 527-535. Zum Begriff der Demokratie im 20. Jahrhundert vgl. zusammenfassend Kailitz, Staatsformen, S. 281-328. Vgl. Beetham, Democracy, S. 91 f. Vgl. Pfahl-Traughber, Staatsformen, S. 227, und Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. 7 und S. 146 f.

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schenrechten durch andere wegen ihrer Amoralität zu verurteilen. Anders als Demokratien gehen Diktaturen nicht vom gleichen Menschenbild wie die Menschenrechte aus.81 Die Suche nach Argumenten für die Vereinbarkeit von „Vergangenheitsbewältigung“ und Diktaturen gestaltet sich schwierig. Lediglich instrumentelle Motive können angeführt werden. Wenn Diktaturen Interesse an der „Aufarbeitung“ von Menschenrechtsverbrechen zeigen, dann höchstens mit dem Ziel, die Träger des alten Regimes aus ihren öffentlichen Ämtern zu entfernen. Dann jedoch erstreben sie keine Verurteilung von Menschenrechtsverbrechen als solche, sondern zielen primär auf die Desavouierung des alten Regimes ab.82 Da die instrumentelle Komponente dominiert, kann nicht von „Vergangenheitsbewältigung“ die Rede sein. Sind mit der Universalität der Menschenrechte und dem Hinweis auf systemische Diskontinuität strukturelle Voraussetzungen für „Vergangenheitsbewältigung“ benannt, so ist die Akteursebene bislang unbeachtet geblieben. Vier Akteursgruppen können unterschieden werden. Motive und Motivation auf Seiten der Opfer sind prinzipiell andere als die auf Seiten der Gesellschaft/des Staates, auf Seiten der Täter oder auf Seiten der internationalen Gemeinschaft. Während das Streben der Opfer nach „Aufarbeitung“ des Unrechts in weiten Teilen sowohl auf den Versuch zurückgeführt werden kann, die psychischen Folgen der Gewalterfahrung zu „bewältigen“, als auch wieder in das Leben zurückzufinden, agieren staatliche Interessen im Spannungsfeld zwischen dem Ziel, den sozialen Friedens wiederherzustellen einerseits, und dem Interesse an Demokratisierung sowie Aufbau von Rechtsstaatlichkeit andererseits. Die Motivation von Tätern schließlich, aber auch die ihrer Nachfahren, liegt unter anderem im Erleben von Schuld(gefühlen) begründet.

2.2.4. Opfer von staatlicher Gewalt und „Vergangenheitsbewältigung“ Opfer staatlicher Gewalt und ihre Nachfahren haben erstmals nach dem Ende von Diktaturen die Möglichkeit, das öffentliche Interesse auf das ihnen zugefügte Unrecht zu lenken und dessen „Aufarbeitung“ einzufordern. Dabei geht es ihnen nicht ausschließlich um die Bestrafung der Täter und materielle Wiedergutmachung, sofern diese überhaupt möglich ist, sondern auch um die Wiedergewinnung ihrer Selbstachtung sowie den Abbau von Misstrauen Ŕ oder anders formuliert: den Aufbau von Vertrauen in andere Menschen und die Gesellschaft.83 81 82

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Vgl. Linz, Typen politischer Regime, S. 535-544, und Ders., Totalitäre und autoritäre Regime, S. XXIX ff. und S. 63-78. Vgl. auch Barkan, Restitution, S. 99. Der Umgang der DDR mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kann hierfür als Beispiel angeführt werden. Vgl. vor allem Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 116122. Vgl. Rojas Baeza, Die Fortsetzung, S. 169-171.

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Die Bedeutung, die hierbei der juristischen Aufarbeitung des Unrechts zukommt, lässt sich durch die Kontrastierung mit dem umgekehrten Fall anhaltender Straflosigkeit verdeutlichen. Opfer und ihre Nachfahren empfinden diese nicht selten als Fortdauern der Gewalt. Die seelischen Folgen der Gewalterfahrung halten an, wenn sie nicht gar noch verstärkt werden.84 Auch durch die erfahrene Gewalt erzeugtes Misstrauen besteht fort, die Welt erscheint den Opfern fremd und feindlich. Rückzug aus der Gesellschaft oder Selbstjustiz können die Folgen sein. Beide Verhaltensweisen sind mit nicht unbeträchtlichen Risiken sowohl für die Opfer selbst als auch für die Gesellschaft insgesamt verbunden.85 Diese wären besonders verheerend, da Opfer oft als Kollektiv, das heißt wegen ihrer Ŕ unterstellten Ŕ Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Ethnie oder politischen Gemeinschaft zu Opfern gemacht werden. Aus diesem kollektiven Opferstatus folgt auch, dass das Interesse an der „Aufarbeitung“ des Geschehenen nicht mit dem Aussterben der Opfergeneration(en) verebbt, sondern im Sinne der kollektiven Erinnerung an ihre Nachfahren weitergegeben und so weiter am Leben gehalten wird.86 Die Rückkehr in den Alltag ist den Opfern erschwert; auch, weil ihre im alten Regime erlittene Misshandlung durch ihre Dehumanisierung und Darstellung als Feinde des Kollektivs gerechtfertigt worden war. Derart erzeugte Ausgrenzung, Abwertung und Feindseligkeiten hören nicht mit dem Ende des Unrechtsstaates auf. Sie zu durchbrechen, dauert und bedarf der erfolgreichen Etablierung einer entgegengesetzten historischen Erzählung.87 Sowohl die offizielle Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts als auch die öffentliche Entschuldigung können helfen, ihre Würde wiederzugewinnen und den Unrechtscharakter der an ihnen verübten Gewalt deutlich zu machen.88 Nicht nur die Gewalt, sondern auch die dabei erfahrene Hilflosigkeit haben das Verhältnis der Opfer zu sich selbst, ihr Selbstwertgefühl, zerstört.89 Nur wenn es gelingt, diese psychischen Folgen zu überwinden, wird es ihnen dauerhaft möglich sein, in das gesellschaftliche Leben zurückzukehren. An84 85

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Rojas Baeza, Die Fortsetzung, S. 160 f. und S. 170. Vgl. Rojas Baeza, Die Fortsetzung, S. 166-172. Zu den Folgen, die aus individuellen Traumatisierungen für die Gesellschaft resultieren können, vgl. ebd., S. 173-175. Vgl.auch Aldana-Pindell, In Vindication, S.1457, 1470 ff., S. 1477 ff. und S. 1488 f. Huhle jedoch widerspricht dieser Position, wenn er feststellt, dass die Fälle, in denen Opfer Rache übten, nur gering seien. Vgl. Huhle, Einleitung, S. 30 f. Zu Gruppen als Opfern vgl. Barkan, Restitution, S. 94, und McCarthy, Vergangenheitsbewältigung, S. 848 und S. 851-854. Zu Gruppenrechten vgl. Barkan, The guilt, S. 336-342. Vgl. Teitel, Transitional Justice, S. 84 f. Vgl. Méndez, In Defense, S. 11 f., Barkan, The guilt, S. 323 f., Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1440, und Ayala Lasso, Gerechtigkeit, S. 49 f. Zur Definition und Bedeutung von Entschuldigung(en) vgl. vor allem die Aufsätze von Kort, What is an Apology, S. 105-110, sowie Gill, The Moral Functions of an Apology, S. 111-123. Rojas Baeza, Die Fortsetzung, S. 168-171.

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sonsten wirkt das Unrecht auf schmerzhafte Weise bis in die Gegenwart hinein und begründet anhaltende Ungleichheit. Die Folgen der Gewalt blieben weiterhin spürbar. Je mehr die Opfer jedoch über Täter, Drahtzieher und Umstände des Verbrechens erfahren, desto eher lernen sie, seinen systematischen, regimeinhärenten Charakter zu erkennen. Dann suchten sie die Gründe für das Geschehene nicht mehr bei sich selbst, in vermeintlich eigenem Versagen; ein erster Schritt auf dem Weg zu neuer Selbstachtung wäre gemacht.90 Es ist deutlich geworden, dass Opfer staatlicher Gewalt und ihre Nachfahren ein mehrfach begründetes Interesse sowohl an der juristischen als auch an der gesellschaftlichen und politischen „Aufarbeitung“ der ihnen zugefügten Verbrechen haben und dass diese nicht dem Vergessen anheim fallen. Doch werden Motive nie direkt in Handeln umgesetzt. Volitionale Prozesse, die die Realisierbarkeit des Anliegens sowie seinen Wert in Relation zu anderen Motiven prüfen, sind ebenso zwischengeschaltet wie kontextuelle Faktoren. Zu diesen gehören unter anderem die Interessen sowohl der Gesamtgesellschaft als auch der Täter. „Vergangenheitsbewältigung“ findet immer im Rahmen einer sozialen Beziehung, zwischen Einzelnen, zwischen Gruppen, aber auch zwischen Einzelnen und Gruppen statt. Daher ist für die Frage, ob und wann „Vergangenheitsbewältigung“ überhaupt auftritt, das Verhältnis von Täter- und Opfergruppen entscheidend.91 Sind also die Opfer oder ihre Nachfahren weiterhin in großer Zahl in der Tätergesellschaft präsent, so sieht sich diese mit ihren Untaten beziehungsweise denen ihrer Vorfahren quasi täglich konfrontiert. Unter diesen Umständen wird es ihr schwerfallen, ihrer historischen Verantwortung auszuweichen. Zwar besteht immer noch die Möglichkeit, rechtfertigende Argumentationsstrategien einzusetzen, gelingt es jedoch den Opfergruppen, zusätzlich an sozialer Stärke innerhalb des betroffenen Landes zu gewinnen oder ihre Stellung durch internationale Verbindungen zu verbessern, so wird unter diesen Umständen „Vergangenheitsbewältigung“ zumindest im Sinne von Entschädigungen und juristischer Aufarbeitung wahrscheinlicher.92 90

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Vgl. Rojas Bazea, Die Fortsetzung, S. 168-172, und Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1409. Oft empfinden die Opfer gar Aggressionen gegen sich selbst. Vgl. Huhle, Einleitung, S. 31 f. Wahrheit ist Voraussetzung für Entschädigung(en). Teitel, Transitional Justice, S. 88-90. Vgl. Barkan, Restitution, S. 93. Als Beispiel für den umgekehrten Fall seien die USA und die dort gelegentlich immer wieder aufflammende Diskussion genannt, ob ehemalige Sklaven oder ihre Nachfahren ein Recht auf Entschädigung haben. Diesem Anliegen werden nicht nur wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Argumente entgegengesetzt, sondern die Gegner befinden sich auch in einer machtpolitisch stärkeren Position. Immer noch sind die Afroamerikaner in den USA nicht in einer gänzlich gleichberechtigten Stellung zu den weißen Schichten. Vgl. hierzu vor allem den Aufsatz von McCarthy, Vergangenheitsbewältigung, S. 847-867.

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2.2.5. „Vergangenheitsbewältigung“: zwischen Demokratisierung und innerem Frieden Im Unterschied zu den Opfern systematischer Menschenrechtsverbrechen kommt dem Staat die Aufgabe zu, nicht nur einen einzigen Akteur in seinen Interessen zu berücksichtigen, sondern deren durchaus divergierende Vielzahl zu beachten und das Gesamtwohl im Auge zu behalten. Aus dem Zusammenspiel der Motive verschiedener sozialer Gruppen können einander durchaus widerstrebende Handlungsanreize resultieren. Für die Annahme, dass auch staatlich organisierte Gemeinschaften begründetes Interesse an „Vergangenheitsbewältigung“ haben, spricht zunächst, dass die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Vorgängerregimes im Kontext von Systemtransformation Ŕ genauer Demokratisierungsprozessen Ŕ nicht nur den Handlungsspielraum der alten Eliten einschränkt, sondern dies zugleich auch der Öffentlichkeit signalisiert und die Vorgängerregierung(en) diskreditiert.93 Auch bildet die „Aufarbeitung“ von Menschenrechtsverbrechen einen ersten Prüfstein für den neuen Rechtsstaat. Zwar sind seine zentralen Prinzipien wie das Rückwirkungsverbot sorgsam einzuhalten, doch gilt es zugleich auch, deutlich zu machen, dass Verstöße gegen die Menschenrechte nicht tolerierbar sind, sowie eine neue Werteordnung aufzubauen und zu etablieren.94 Hierbei kann die juristische Aufarbeitung den notwendigen Anfang machen. Weitere sowohl politische als auch kulturelle Anstrengungen sind jedoch erforderlich, um die Bevölkerung in diesen Wandel einzubinden und für derartig menschenverachtende Grundhaltungen und Verhaltensweisen zu sensibilisieren.95 Die Absicht, Rechtsstaatlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Geschichte aufzubauen, entspringt dabei nicht nur pragmatischen Motiven, sondern ist durchaus auch intrinsisch begründet. Im westlichen Demokratieverständnis sind Rechtsstaat und Demokratie voneinander kaum zu trennen.96 Indem eine junge Demokratie den Rechtsstaat stärkt, fördert sie daher zugleich auch ihre eigene Glaubwürdigkeit.97 Ähnliche Aussagen lassen sich über den Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten treffen. Wird von einem nicht nur formalen, sondern auch inhaltlichen Demokratieverständnis im westlichen Sinne ausgegangen, so liegt diesem das identische Menschenbild zugrunde wie den Menschenrechten.98 Die Auseinandersetzung mit vergangenem Unrecht ist daher mora93 94 95 96 97 98

Vgl. Méndez, In defense, S. 9, und Teitel, Transitional Justice, S. 72 f. Vgl. auch Kritz, The dilemmas, S. xxviii, und Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1464. Kritz, The dilemmas, S. xxiii, Orentlicher, Settling Accounts, S. 2540 und S. 25422544, und Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1465-1470. Vgl. Teitel, Transitional Justice, S. 225 f., und Tomuschat, Von Nürnberg, S. 112. Vgl. Merkel, Systemtransformation, S. 28. Vgl. Orentlicher, Settling Accounts, S. 2543 f., und Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1404 und S. 1465-1470. Vgl. Beetham, Democracy, S. 93, und Kelsen, Vom Wesen, S. 98. Huntington weist

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lisch begründet sowie durch das ernsthafte, eigenen Überzeugungen entspringende Interesse an der Wiederherstellung der Achtung vor den Menschenrechten motiviert. In der Förderung von Menschenrechten und der Ahndung ihrer Missachtung handelt die noch junge Demokratie in Übereinstimmung mit ihrem moralischen Fundament. Sie gewinnt so an Glaubwürdigkeit und kann ihre zumindest anfänglich noch schwache Legitimität stärken.99 Doch erfordert die Achtung der Menschenrechte nicht nur deren „Implementierung in geltendes positives Recht“, sondern auch ihre Anerkennung durch die Menschen selbst; sie müssen ihre Herzen und Köpfe erreichen. Dies zu fördern, kann nicht Ŕ primär Ŕ Aufgabe der Gerichte sein. Ein Dilemma tut sich auf, den Prinzipien der Demokratisierung und der Förderung des Respekts vor den Menschenrechten einerseits steht andererseits das der Gerechtigkeit gegenüber. Soll dem Prinzip der Gerechtigkeit Genüge getan werden und der Möglichkeit einer Wiederholung menschenverachtender Verbrechen entgegengewirkt werden, so reicht es nicht aus, ausschließlich die alten Eliten zur Rechenschaft zu ziehen. Für eine Vielzahl repressiver Regime ist von der aktiven Partizipation größerer Bevölkerungsteile sowie deren Indoktrinierung auszugehen.100 Werden diese jedoch zu großen Teilen für vergangenes Fehlverhalten belangt oder öffentlich diskreditiert, wie es das Prinzip der Gerechtigkeit erfordert, so wird ihre dauerhafte Einbindung in die Demokratie gefährdet. Das würde der Stabilität der Demokratie und damit gleichbedeutend auch den Menschenrechten selbst schaden. Eine Demokratie braucht ihre Bürger. Zugleich jedoch bildet die Ahndung von Menschenrechtsverbrechen die Voraussetzung für Anerkennung und Förderung von Menschenrechten. Denn wie kann beispielsweise von einem anderen Staat die Achtung der Menschenrechte eingefordert werden, wenn man selbst

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auf kulturelle Unterschiede hin, wenn er von einer „westlich geprägten Demokratie“ und „westlich verstandenen Menschenrechten“ spricht. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 295. Vgl. auch ebd., S. 307-316. Es ist daher nicht erstaunlich, dass all die oben erwähnten Beispiele für „Vergangenheitsbewältigung“ dem westlichen beziehungsweise westlich geprägten Kulturkreis entstammen. Zum Begriff der Demokratie im 20. Jahrhundert vgl. zusammenfassend Kailitz, Staatsformen, S. 281-328. Vgl. Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1404, und Méndez, In Defense, S. 4. Eine Reihe verschiedener Autoren, so David Beetham, Albrecht Wellmer oder ErnstWolfgang Böckenförde, erörtern mögliche Zusammenhänge zwischen Demokratie und Menschenrechten. Vgl. hierzu das Buch von Beetham, Democracy, sowie die Aufsätze von Böckenförde, Ist Demokratie?, S. 233-243, und Wellmer, Menschenrechte, S. 265-291. Folgt man der Argumentation Beethams, so sind liberale Menschenrechte eine notwendige Bedingung für Demokratie. Denn erst auf der Grundlage bürgerlicher und politischer Menschenrechte kann der Kerngedanke der Demokratie, das Recht aller Bürger, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu artikulieren und Kontrolle über die Regierung auszuüben, wirksam in die Realität umgesetzt werden. Beetham, Democracy, S. 92. Vgl. Torpey, Introduction, S. 8 f. Vgl. auch Troebst, „Diktaturerinnerungsvergleich“, S. 28 und S. 32. Zu den gesellschaftlichen Folgen von Straflosigkeit vgl. AldanaPindell, In Vindication, S. 1470-1476.

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vergangene Menschenrechtsverbrechen ungestraft gelassen hat? „Vergangenheitsbewältigung“ bewegt sich somit in einem Spannungsfeld einander gegenläufiger Bestrebungen.101 Mögliche Unterschiede in Einsetzen, Intensität, Formen und Dauer von „Vergangenheitsbewältigung“ liegen unter anderem hierin begründet. Doch selbst der Sturz des alten Regimes, die juristische Aufarbeitung seiner Verbrechen sowie die bloße Institutionalisierung von Demokratie reichen nicht aus, eine dauerhafte stabile demokratische Ordnung zu begründen. Dazu bedarf es, wie eben bereits angedeutet, vor allem auch der Akzeptanz in der Bevölkerung und der Ausbildung einer entsprechenden politischen Kultur, die unmittelbar gelebt wird, oder umgekehrt: Die politische Kultur der Diktatur und die durch sie geschaffenen Denk- und Handlungsmuster müssen überwunden und durch die der Demokratie ersetzt werden.102 Mit dem Ende der Diktatur gehören weder ihre politische Kultur, noch ihre Verhaltens- oder Denkmuster endgültig der Geschichte an. Ihre Überwindung ist ein langwieriger und steiniger Weg. Er ist jedoch notwendig, hatten diese doch die Grundlage für die Missachtung der Menschenrechte und ihre Duldung gebildet. Erst wenn dieser Weg gegangen ist, kann mit Recht von einer stabilen Demokratie und einem soliden Fundament für den Schutz der Menschenrechte ausgegangen werden. Auch dieser Wandel der politischen Kultur ist eine Facette von „Vergangenheitsbewältigung“. Er kann von den politischen Institutionen über Schulen und politische Bildung, vor allem aber auch über Medien beeinflusst werden. „Vergangenheitsbewältigung“ umfasst daher nicht nur politische, sondern, wie bereits angedeutet, auch kulturelle Formen.103 „Vergangenheitsbewältigung“ ist stets in die Zukunft gerichtet. Aus der Absicht, für die Zukunft Gewaltexzesse unmöglich zu machen, resultiert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Sorge vor der Wiederholung treibt an, das Geschehene zu begreifen, seine Ursachen und Gründe zu erkennen. Nur im Wissen um diese kann der ernsthafte Versuch unternommen werden, eine Wiederholung des Geschehenen zu verhindern. Eine vielfältige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist die Folge. Eine oft gezogene „Lehre“ aus der Frage nach dem „Warum“ geht davon aus, dass zwischen demokratischer Ordnung und der Achtung von Menschenrechten wie auch zwischen Diktaturen und der systematischen Missachtung von Menschenrechten ein Zusammenhang besteht. Die Wiederholung gravierender Menschenrechtsverbrechen kann in diesem Sinne, wenn überhaupt, nur im Rah101 102

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Vgl. Méndez, In Defense, S. 1, S. 4 und S. 7-11. Vgl. auch Kritz, The dilemmas, S. xxiv-xxvii. Entsprechend unterscheidet die Literatur zwischen der Institutionalisierung und der Konstitutionalisierung der Demokratie. Merkel, Systemtransformation, S. 120 und S. 143-169. Auch Wahrheitsreporte verfolgen das Ziel, die in der Bevölkerung existierenden Ŕ eher positiven Ŕ Einstellungen zu Diktaturen zu verändern. Vgl. Teitel, Transitional Justice, S. 90. Vgl. auch Kritz, The dilemmas, S. xxviii.

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men von Demokratien verhindert werden.104 „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichnet daher nicht nur die juristische Ahndung von Menschenrechtsverbrechen sowie die Arbeit an der politischen Kultur, sondern auch den Versuch, als Konsequenz aus dem Geschehenen eine dauerhaft stabile Demokratie aufzubauen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu „Vergangenheitsbewältigung“ kommt, hängt dabei nicht nur von den machtpolitischen Stärkeverhältnissen, sondern auch vom Verlauf der Transformation selbst und dem Grad aktiver Partizipation der Bevölkerung in der vorausgegangenen Diktatur ab. War die Diktatur durch eine (anfänglich) große Unterstützung durch weite Teile der Bevölkerung gekennzeichnet, so wird die „Aufarbeitung“ zuerst nur schwer in Gang kommen. Mit der Wirksamkeit des Widerstands der Bevölkerung ist auch deshalb zu rechnen, weil das neue demokratische System der Unterstützung durch die Bevölkerung bedarf. Lag hingegen der umgekehrte Fall vor, dass das alte System sich in erster Linie auf eine kleine Führungsgruppe stützte, so ist die „Aufarbeitung“ der Vergangenheit insgesamt, insbesondere jedoch die juristische, wahrscheinlicher.105 Die kulturelle Dimension stellt sich in diesem Fall zwar auch als weniger schwierig dar, doch beansprucht sie stets eine längere Zeitspanne, da Mentalitäten nicht auf einen Schlag, sondern nur in einem langwierigen Prozess geändert werden können. Profitierte schließlich eine Bevölkerungsgruppe auf Kosten einer anderen von der Diktatur, so ist nach Systemende mit massiven Spannungen zu rechnen. Die Situation ist nicht einfach. Während die ehemals Unterdrückten nach Gerechtigkeit streben, können nicht alle anderen juristisch verfolgt oder ausgegrenzt werden, denn dann bestehen nicht unerhebliche Risiken für die dauerhafte Etablierung der Demokratie. Zugleich jedoch erfordert die Glaubwürdigkeit der Demokratie, dass ihre Werte und Normen umgesetzt werden und nicht nur auf dem Papier geschrieben stehen.106 Ähnliche Aussagen lassen sich über das Verhältnis von „Vergangenheitsbewältigung“ und der Art der Transformation machen. Bei einem durch äußere Faktoren wie Krieg bedingten Systemumbruch ist sofortige aktive „Vergangenheitsbewältigung“ eher unwahrscheinlich. Ist jedoch die Initiative zum Umbruch größtenteils von der eigenen Bevölkerung ausgegangen, so ist mit geringerem Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit den nega-

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Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und Menschenrechten vgl. Schmitz, Sikkink, International Human Rights, S. 518 f., und Linz, Typen politischer Regime, S. 527 ff. So unterscheidet Torpey zwischen Regimen, wo Kriminelle regierten, und Regimen, die selbst als kriminell bezeichnet werden könnten. Beide unterschieden sich hinsichtlich des Grades der Durchdringung und Kollaboration der Bevölkerung. Vgl. Torpey, Introduction, S. 8 f. Zu unterschiedlichen Typen autoritärer Regime hinsichtlich Grad und Typ der Partizipation vgl. Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, S. 112-256. Vgl. unter anderem Aldana-Pindell, In Vindication, S. 1465-1470.

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tiven Seiten der eigenen Geschichte zu rechnen.107 Jedoch ist eine weitere Differenzierung einzuführen. Ist die Abkehr von der Diktatur durch wirtschaftliche Gründe motiviert, müssen keineswegs gleichsam automatisch Interesse an der „Aufarbeitung“ der Diktatur und Engagement für die Einführung eines demokratischen Regierungssystems vorhanden sein. Liegen hingegen der Abkehr von der Diktatur politische Ursachen zu Grunde, so erhöhen sich die Anreize, sich der Vergangenheit reflexiv zu stellen. Je nachdem, ob der Umbruch mit oder gegen die alte Führung durchgeführt wurde, sind unterschiedliche Anreize zu „Vergangenheitsbewältigung“ gegeben. Im Falle einer Transition wie in Spanien müssen die alten Machthaber zunächst keinerlei juristische Verfolgung befürchten. Transitionen sind ausgehandelte Systemübergänge, die mit und nicht gegen die alten Eliten stattfinden. Wesentlicher Bestandteil ist daher oft eine Politik der Amnestie.108 Die Bereitschaft der alten Führung zum Wandel wird hierdurch nicht unerheblich erleichtert. Im Falle eines Systemwechsels gegen die alte Elite sind die umgekehrten Bedingungen gegeben. Jedoch können andere, bereits genannte Bedingungen wie die Teilhabe der Bevölkerung am autoritären System auch in diesem Fall dem Ingangkommen von „Vergangenheitsbewältigung“ entgegenwirken. Die genannten Dimensionen von „Vergangenheitsbewältigung“, die juristische, die politische, die kulturelle und die individuelle beziehungsweise moralische sind keinesfalls isoliert voneinander zu betrachteten. Zwischen ihnen besteht ein wechselseitiges Interaktionsverhältnis. Je weiter der Wandel der politischen Kultur bereits vorangeschritten ist, desto eher ist mit der Bereitschaft der Bürger zu rechnen, die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des Vorgängerregimes zu akzeptieren. Andererseits können im Verlauf von Prozessen wichtige Einsichten in den verbrecherischen Charakter des alten Systems gewonnen werden und so zur Aufklärung der Bevölkerung über diesen beigetragen werden. Umdenkprozesse auf Seiten der Bürger und ein Wandel der politischen Kultur werden initiiert.109 Der transformationstheoretische Erklärungsansatz bezieht sich zunächst auf ein kleines Zeitfenster: die Phase der unmittelbaren Systemtransformation.110 Doch deutet sich bereits in den Schwierigkeiten, mit denen sich diese konfrontiert sieht, und in der kulturellen Dimension von „Vergangenheitsbewältigung“ an, dass mit ihm dennoch ein längerer Zeitraum erfasst werden kann. In diesem Sinne ist „Vergangenheitsbewältigung“ ein mehrphasiger, mehrdimensionaler Prozess. In seiner Gegenwartsbezogenheit und Kollektivität weist er deutliche Überschneidungen mit dem Konzept der Erinnerungskultur auf, doch ist trotz der Möglichkeit positiver Identitätsbildung wie auch in der Entwicklung einer neuen politischen Kultur sein Anspruch deut107 108 109 110

Vgl. Troebst, „Diktaturerinnerungsvergleich“, S. 28. Vgl. Barrera, The importance, S. 69-72, und Rodrigo, Amnesia, S. 177. Vgl. Tomuschat, Von Nürnberg, S. 112. Torpey, Introduction, S. 8 f.

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lich geworden, einen eigenständigen Ansatz darzustellen. Im Kern geht es um die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung für vergangenes Unrecht.111 Da die im erinnerungskulturellen Ansatz beschriebenen Mechanismen zugleich weiterhin Gültigkeit beanspruchen, wird hiermit von einem Schuldbegriff ausgegangen, der nicht nur von der Verantwortung eines Einzelnen für sein Handeln ausgeht, sondern auch kollektive Verantwortlichkeit für Ŕ vergangenes Ŕ Fehlverhalten der eigenen Gruppe oder einiger ihrer Mitglieder unterstellt. Der Einzelne trägt also, so wie er an den historischen Errungenschaften seines Landes teilhat, ohne selbst an ihrer Begründung beteiligt gewesen zu sein, auch an der historischen Last des Landes mit Ŕ selbst dann, wenn er diese nicht selbst mit verursacht hat.112

2.2.6. Menschenrechte und internationale Gemeinschaft113 Verbrechen gegen die Menschenrechte sind nicht nur von nationalem Interesse. Oft werden sie im Kontext von Kriegen oder gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Staaten, zwischen Ethnien oder zwischen Ethnien und Staaten begangen. Sie gehen die Menschheit als solche an, verneinen sie doch das moralische Fundament jeder und somit auch der internationalen Gemeinschaft.114 Dass es sich hierbei nicht nur um abstrakte Überlegungen handelt, kann anhand der Entwicklung des Völkerrechts nach 1945 illustriert werden. Kannte dieses bis in das 20. Jahrhundert hinein ausschließlich Staaten als seine Subjekte, so stellten die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, der Zweite Weltkrieg sowie die in der Folgezeit initiierten Prozesse gegen die Kriegsverbrecher einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Völkerrechts dar. Verbrechen gegen den eigenen Staatsbürger waren nun nicht mehr eine ausschließlich innere Angelegenheit des betroffenen Staates.115 Erst diese Änderung ermöglichte die Ahndung des Völkermords an den Juden, den Sinti und Roma und die Verfolgung von psychisch Kranken oder politisch Andersdenkenden.116 Das Recht der Staaten und ihre Souveränität finden seitdem ihre Grenzen in einem „Recht der Menschheit“.117 111 112 113 114 115

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Zum Begriff der „Schuld“ wie er hier gemeint ist, vgl. vor allem Jaspers, Die Schuldfrage, S. 45-75. Zu dieser Argumentation vgl. McCarthy, Vergangenheitsbewältigung, S. 851-855. Zur allgemeinen Entwicklung der Menschenrechte nach 1945 vgl. Schmitz, Sikkink, International Human Rights, S. 521 ff., und Opitz, Menschenrechte, S. 47-194. Vgl. Cairns, Coming to Terms, S. 64, und Orentlicher, Settling Accounts, S. 2556. Vgl. auch Arendt, Eichmann, S. 272. Tomuschat, Von Nürnberg, S. 106. Vgl. auch Torpey, Introduction, S. 4 f., Huhle, Menschenrechtsverbrechen vor Gericht, S. 17, und Orentlicher, Settling Accounts, S. 2555. Zu den bereits nach dem Ersten Weltkrieg unternommenen Versuchen, das Völkerrecht „menschlicher“ zu gestalten, vgl. Merkel, Das Recht, S. 71-75. Merkel, Das Recht, S. 81 f., und Tomuschat, Von Nürnberg, S. 97 und 106. Merkel, Das Recht, S. 86. Ein weiteres Novum der Nürnberger Kriegsverbrecherpro-

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Trotz aller seit 1945 von den Staaten unternommenen Versuche, die hiermit eingeschlagene Entwicklung zu ignorieren, konnte diese „Revolution im Völkerrecht“ nicht mehr rückgängig gemacht werden.118 Der Gründung der Vereinten Nationen, ihrer Charta, der Internationalen Erklärung der Menschenrechte und einer Vielzahl weiterer Abkommen lag die Absicht zugrunde, die in Nürnberg angestoßene Entwicklung hin zur universellen Achtung der Menschenrechte fortzusetzen. Nicht selten litten diese Versuche unter dem Kalten Krieg.119 Mit seinem Ende jedoch gewannen die Menschenrechte Ŕ zumindest kurzzeitig Ŕ international an neuem Leben.120 Die in den neunziger Jahren aufkommenden Diskussionen über Für und Wider der humanitären Intervention Ŕ das heißt die Rechtfertigung kriegerischer Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten Ŕ können hierfür als Beispiel gelten.121 Zwar kann internationaler Druck die Umsetzung von Menschenrechten in einem Land fördern, oppositionelle Gruppen stärken sowie den Opfern helfen, doch kommt er oft nicht zustande, weil ökonomische oder strategische Interessen für wichtiger erachtet werden.122 Auch reagiert nicht jedes Land, welches Ziel des Drucks ist, gleichermaßen empfindlich. Die Wirksamkeit internationaler nicht-militärischer Maßnahmen hängt unter anderem davon ab, wie wichtig der Tätergesellschaft ihre Anerkennung beziehungsweise ihre Reputation bei dem Land ist, welches den öffentlichen Druck aufbaut, und wie stark ihre eigene machtpolitische sowie (militär) strategische Position ist.123 Andererseits zeigt die bereits in Umrissen skizzierte Entwicklung des Völkerrechts seit 1945, dass universelle Normen in der internationalen Politik nicht gänzlich bedeutungslos sind, auch wenn ihnen staatliche Mittel zu ihrer Sanktionierung und Umsetzung fehlen.124

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zesse war die persönliche Verantwortlichkeit des Täters. Vgl. ebd., S. 77 f., und Tomuschat, Von Nürnberg, S. 94. Merkel, Das Recht, S. 86. Vgl. auch ebd., S. 87. Vgl. Huhle, Einleitung, S. 12 f., Merkel, Das Recht, S. 88, Tomuschat, Von Nürnberg, S. 98 ff., und Van Boven, „Jeder Mensch“, S. 117 ff. Vgl. Barkan, The guilt, S. XI, S. 309 und S. 318, Opitz, Menschenrechte, S. 145-194, sowie Pelinka, Sensibilität, S. 21. Zur „humanitären Intervention“ vgl. Opitz, Menschenrechte, S. 148-174. Zur Bedeutung von Menschenrechten in der Außenpolitik vgl. zusammenfassend Schmitz, Sikkink, International Human Rights, S. 529-532. Vgl. Barkan, The guilt, S. 320. Aktuelle Beispiele wie die im April 2005 im Deutschen Bundestag geführte Debatte über den Umgang der Türkei mit dem Völkermord an den Armeniern zeigen, dass Ŕ unterbliebene Ŕ „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur internationales Interesse auf sich ziehen kann, sondern auch, dass der Umgang mit historischem Unrecht als Aussage über die Akzeptanz bestimmter Wertevorstellungen wahrgenommen wird. Vgl. hierzu die Debatte im Deutschen Bundestag vom 21. April 2005 in Berlin. Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht. Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages, S. 16127-16136. Vgl. zusammenfassend Barkan, Restitution, S. 91 f. Zu fehlenden Mitteln auf internationaler Ebene vgl. Huhle, Einleitung, S. 29.

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2.2.7. Schuld und Schuldgefühl: die Emotion der collective guilt125 Hiermit ist bereits eine Vielzahl von Motiven gesammelt worden, die das Zustandekommen von „Vergangenheitsbewältigung“ erklären können; ein Aspekt jedoch ist bislang noch unbeachtet geblieben: die Frage, wie die Täter mit ihrer Schuld umgehen und inwieweit diese auch auf ihre Nachfahren „übertragen“ werden kann. Wie jüngste sozialpsychologische Untersuchungen belegen, kann aus dem Empfinden von Schuld beziehungsweise Schuldgefühlen sowohl auf Seiten der Täter als auch auf Seiten ihrer Nachfahren ausreichend Motivation resultieren, sich der historischen Verantwortung zu stellen. Erst seit Kurzem gehen Psychologen von einem eigenständigen Phänomen der collective guilt aus, welches mit Formen juristischer oder moralischer Schuld nichts gemein hat, sondern ausschließlich eine aversive emotionale Reaktion benennt.126 Ein Individuum kann diese erleben, wenn es zu der Einsicht gelangt, dass seine Gruppe oder eines ihrer Mitglieder sich einer anderen Person oder Gruppe gegenüber unangemessen oder gar schädigend verhalten hat. Selbst wenn die Person an der schädigenden Handlung nicht im Geringsten beteiligt war, besteht die Möglichkeit, dass sie kollektive Schuld empfindet. Das Fehlverhalten von Gruppenmitgliedern berührt auch das Selbstbild unbeteiligter Dritter, bildet doch die Gruppenidentität einen integrativen Bestandteil der sozialen Identität einer jeden Person.127 Negative Handlungen anderer werden daher als unangenehm empfunden und auf diese Weise die Motivation ausgebildet, diesen Zustand aversiver Emotion durch prosoziales Verhalten gegenüber den Opfern oder ihren Nachfahren abzubauen.128 Ausbildung und Erleben kollektiver Schuld werden häufig als dreistufiger interpretativer Prozess dargestellt.129 Ausgangspunkt für die Entwicklung einer derartigen Emotion ist, dass das Individuum das Unrecht zunächst einmal als solches wahrnimmt und die Urheberschaft der eigenen Gruppe beziehungsweise eines ihrer Mitglieder erkennt. Sollte es der Gruppe gelingen, die jeweilige Tat als im Sinne einer Norm oder einer übergeordneten Sache Ŕ wie der Verteidigung der Freiheit Ŕ gerechtfertigt darzustellen, wird die Empfindung kollektiver Schuld unwahrscheinlich, da der Einzelne im Sinne

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Begriff unter anderem nach Nyla R. Branscombe und Bertjan Doosje. Vgl. Rensmann, Collective Guilt, S. 170 f., und Branscombe, Doosje, International Perspectives, S. 7. Moralische Schuld hingegen ist „zuerst ein Ergebnis der Individualität (des Gewissens), ...“ Vargas Peňa, Schuld und Sühne, S. 69. Wenn im Folgenden von kollektiver Schuld die Rede ist, so wird damit die aversive emotionale Reaktion beschrieben. Vgl. Branscombe, Doosje, International Perspectives, S. 3 f., und Branscombe, Skugoski, Kappen, The Measurement, S. 17-19 und S. 22. Branscombe, A Social Psychological Process, S. 329. Vgl. Lickel, Schmader, Barquissau, The Evocation, S. 36-43.

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seines Selbstschutzes geneigt ist, Deutungen zu akzeptieren, die seine Gruppe und so auch seine soziale Identität entlasten.130 Nachdem die Person das Fehlverhalten und seine Urheberschaft erkannt und benannt hat, prüft sie, welche Konsequenzen für sie selbst daraus folgen. Hätte sie das Fehlverhalten der anderen durch eigenes Handeln verhindern oder zumindest mäßigend auf dieses einwirken können, dann liegt das Empfinden kollektiver Schuld nahe. Wenn sie jedoch in erster Linie ihr Ansehen durch das Verhalten der anderen Schaden nehmen sieht, ist von der Ausbildung eines Gefühls der Scham auszugehen.131 Je nachdem, in welchem dieser beiden emotionalen Zustände sich ein Individuum befindet, zeigt es unterschiedliche Verhaltensweisen. Aus Schuld resultiert in der Regel der Versuch, eine gestörte soziale Beziehung Ŕ wie sie sich im Schuldgefühl niederschlägt Ŕ wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aus Scham hingegen folgen nicht selten Rückzug oder Abgrenzung von der betroffenen kollektiven Identität.132 Unmoralisches Verhalten einer Gruppe löst bei all ihren Mitgliedern keineswegs immer eine in gleicher Weise intensive Emotion der kollektiven Schuld aus. Aus differentialpsychologischer Sicht drängt sich daher die Frage auf, wie die beobachtete Varianz in Auftreten und Intensität von kollektiver Schuld erklärt werden kann. Ein erster Argumentationsstrang weist auf zwischen Kollektiven divergierende kulturelle und mentale Strukturen hin. Kollektive Schuld sei vor allem dann zu beobachten, wenn eine Gesellschaft Individuen nicht nur Verantwortung ausschließlich für ihr eigenes Verhalten, sondern auch für das anderer Gruppenmitglieder zuspricht.133 Ein zweites Modell weist auf die Bedeutung hin, die dem Grad der Identifizierung mit einer Gruppe und dessen Stellenwert innerhalb der individuellen sozialen Identität für die Herausbildung und die Intensität kollektiver Schuld zukommt. In Experimenten konnte gezeigt werden, dass ein hoher Grad an nationaler Identifizierung die Bereitschaft der Probanden unterminiert, negative Informationen über die Vergangenheit der eigenen Gruppe zu akzeptieren und umgekehrt, dass geringe nationale Identifizierung bei gleichzeitiger Selbstkategorisierung als Staatsbürger mit einer erhöhten Bereitschaft einhergeht, negative Informationen über die eigene Geschichte zu akzeptieren. Die Versuchspersonen, die dieser Kategorie zugeordnet werden konnten, zeigten ein entsprechend höheres Ausmaß an Empfindung kollektiver Schuld.134 Schließlich konnte auch gezeigt werden, dass die Versuchspersonen die Informationen nicht blind übernahmen, sondern diese in Abhängigkeit von der Informationsquelle prüften. Bei hoch national Identifi130 131 132 133 134

Vgl. Lickel, Schmader, Barquissau, The Evocation, S. 38-40. Vgl. Lickel, Schmader, Barquissau, The Evocation, S. 40-43. Vgl. Lickel, Schmader, Barquissau, The Evocation, S. 47 f. Vgl. Branscombe, Skugoski, Kappen, The Measurement, S. 20-22. Doosje, Branscombe, Spears, Manstead, Consequences, S. 97-100.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

zierten wurde Informationen höhere Glaubwürdigkeit zugestanden, die von Mitgliedern der ingroup, also der eigenen Gruppe, stammten.135 Wie sehr der hiermit dargestellte sozialpsychologische Ansatz für die Analyse von „Vergangenheitsbewältigung“ hilfreich sein kann, wird sich dauerhaft erst zeigen müssen, doch vermittelt er bereits jetzt neue Sichtweisen auf „Vergangenheitsbewältigung“ und ihre empirische Realität. Nicht nur die Täter selbst, sondern auch ihre Nachfahren, gar die Nachfahren unbeteiligter Gruppenmitglieder, können aufgrund der Zugehörigkeit zu dem identischen Kollektiv die Emotion der kollektiven Schuld empfinden Ŕ so lautet das mit Sicherheit bedeutendste Fazit aus dem sozialpsychologischen Ansatz der collective guilt. Mit ihm kann angenommen und begründet werden, dass Schuld beziehungsweise das Empfinden von Schuld nicht mit dem Aussterben der Tätergeneration an handlungsprägender Kraft verlieren, sondern darüber hinaus wirksam bleiben kann. Sowohl kulturelle als auch moralische und politische Auseinandersetzung mit historischen Menschenrechtsverbrechen sind daher auch noch Generationen nach dem Aussterben der Täter möglich. Da nach Diktaturen der Grad der nationalen beziehungsweise kollektiven Identifizierung in der Regel überdurchschnittlich hoch ist, kann für die unmittelbare Zeit nach Diktaturende die Wirksamkeit der dargestellten Selbstschutz-Mechanismen angenommen werden. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Verbrechen und vor allem die Verantwortung der eigenen Gruppe für diese erkennt. Auch muss davon ausgegangen werden, dass zu einem frühen Zeitpunkt des Transformationsprozesses die Argumentationsmuster der Diktatur noch Bestand haben. Da diese die Unterdrückung und Verfolgung anderer Gruppen oder Personen oft mit dem Hinweis auf höher geordnete Ziele gerechtfertigt haben, ist auch deshalb nicht mit dem Einsetzen von „Vergangenheitsbewältigung“ unmittelbar nach Systemende zu rechnen. Erst wenn es dem neuen System gelungen ist, die alten Denk- und Legitimationsmodelle zu durchbrechen und durch neue zu ersetzen, kann mit zuerst langsam, dann aber stetig wachsender Einsicht und Ausformung von kollektiver Schuld gerechnet werden. Diese Erklärung fällt mit dem oft beobachteten Einfluss des Generationenwechsels auf das Zustandekommen von „Vergangenheitsbewältigung“ zusammen. Junge, nach Ende der Diktatur sozialisierte Generationen sind vom Weltbild, vom Wertesystem und vom Freund-Feind-Denken der Diktatur unabhängig. Schließlich erweitert auch die Unterscheidung zwischen Schuld und Scham das dem Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ inhärente Erklärungspotenzial. So ist es durchaus plausibel, dass sich die alten Eliten nach Systemwechseln nicht als Täter, sondern als Opfer sehen, empfinden sie doch angesichts der neuen Entwicklungen so etwas wie Hilf- und Orientie135

Doosje, Branscombe, Spears, Manstead, Consequences, S. 100-105.

2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

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rungslosigkeit. Dass, wie es in der Bundesrepublik oder Spanien zu beobachten war,136 „Vergangenheitsbewältigung“ anfänglich oft nur schwer in Gang kommt, kann unter Rückgriff auf dieses Argument erklärt werden. Damit wird keinesfalls die Möglichkeit ausgeschlossen, dass auf Scham- Schuldempfinden folgen kann. Mit zunehmender zeitlicher Distanz können vergangene Untaten durchaus als weniger gefährlich für die eigene Identität wahrgenommen und so der Weg für das Erkennen von Verantwortlichkeiten freigemacht werden. Kollektive Schuld kann somit auch erst Jahre nach dem eigentlichen Unrecht empfunden werden. Um den sozialpsychologischen Ansatz erweitert, bezeichnet „Vergangenheitsbewältigung“ die sichtbaren Verhaltensfolgen einer kollektiv bedingten, aber individuell erlebten Emotion. Sie kann unmittelbar nach dem Unrecht, aber auch erst Jahre später empfunden werden. Das Erleben einer solchen Emotion erfordert nicht, selbst in das Fehlverhalten involviert gewesen zu sein. Es ist bereits ausreichend, als Mitglied einer Gruppe durch deren Handeln in der eigenen sozialen Identität betroffen zu sein. Kollektive Schuld schließt die Möglichkeit sowohl interindividueller als auch intergesellschaftlicher Varianz ein. Empirisch beobachtete Unterschiede in Verbreitung, Auftreten, Einsetzen und Intensität von „Vergangenheitsbewältigung“ liegen unter anderem hierin begründet.

2.2.8. Das Verhältnis der Motive zueinander Nachdem hiermit eine Vielzahl verschiedener struktureller Bedingungen sowie individueller Motive für das Zustandekommen beziehungsweise das Ausbleiben von „Vergangenheitsbewältigung“ genannt wurde, sei abschließend darauf hingewiesen, dass diese in der Wirklichkeit nie so trennscharf auftreten, wie es hier aus analytischen Gründen dargestellt wurde. Oft treten sie gemeinsam auf, interagieren miteinander oder bedingen einander wechselseitig. Andererseits muss auch betont werden, dass einige Formen von „Vergangenheitsbewältigung“ wie das Arbeiten an der politischen Kultur und das Verhindern einer Wiederholung des Geschehenen längerfristige, bleibende Aufgaben darstellen, während den beiden Bereichen der juristischen Aufarbeitung und der „Entschädigung“ allein schon durch das Aussterben der Opfer- beziehungsweise Tätergenerationen biologische Grenzen gesetzt sind.

2.3. „Vergangenheitsbewältigung“ – eine Antwort an die Kritiker Was also bedeutet „Vergangenheitsbewältigung“? „Vergangenheitsbewältigung“ ist ein mehrdimensionales Konzept, mit dem Formen kollektiver Erin136

Siehe unten, Kapitel 3.1. Zu Spanien vgl. den Aufsatz von Brinkmann, Verspätete Erinnerung, S. 98-114.

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

nerung an vergangene systematische (Menschenrechts-) Verbrechen benannt werden, die das eigene Kollektiv begangen hat beziehungsweise die in dessen Namen begangen worden sind. „Vergangenheitsbewältigung“ bezieht sich somit nicht nur auf einen Ausschnitt von Erinnerungskultur. Vielmehr liegt bereits im Gegenstand der Erinnerung selbst, den systematischen Menschenrechtsverbrechen, die Notwendigkeit begründet, das Unrecht umfassend „aufzuarbeiten“ und, in die Zukunft gerichtet, danach zu streben, die Wiederholung ähnlichen Unrechts zu verhindern. Erinnerung an historisches Unrecht bleibt nicht bei der Erinnerung stehen, sondern ist der Beginn einer sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft gerichteten Verpflichtung, die Würde der Opfer wiederherzustellen und so zu handeln, dass diese und die Achtung vor den Menschenrechten dauerhaft garantiert bleiben. Voraussetzung hierfür ist, dass das Unrecht nicht verdrängt, sondern, so schmerzhaft dies auch sein mag, erinnert wird. Erst wenn die strukturellen Voraussetzungen wie der Kontext systemischer Diskontinuität oder der demokratische Rahmen und das begründete Interesse an der „Aufarbeitung“ der Vergangenheit auf Seiten der Akteure zusammentreffen, wird diese Erinnerung und somit auch „Vergangenheitsbewältigung“ wahrscheinlich. Sowohl auf Seiten der Opfer als auch auf Seiten der (betroffenen) Gesellschaft und der Täter können je eigene Motive ausgemacht werden, sich der historischen „Wahrheit“ zu stellen und diese nicht zu verdrängen.137 Während es den Opfern dabei in erster Linie um die Wiederherstellung ihrer Würde, die Überwindung des durch die Gewalt erlittenen Traumas und ihre zukünftige Sicherheit geht, können demokratischen Gesellschaften nicht nur intrinsische Motive zugeordnet werden, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, sondern auch eine Reihe pragmatischer Überlegungen. Während die enge ideelle Verwandtschaft zwischen der westlichen Demokratie und den Menschenrechten als intrinsisches Motiv eingeordnet werden kann, weist das Interesse am Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und die damit verknüpfte Hoffnung auf wachsende Legitimität eher auf dahinterstehende pragmatische Überlegungen hin. Dass „Vergangenheitsbewältigung“ sich dennoch nicht selten mit einer Vielzahl von Hindernissen konfrontiert sieht, kann unter anderem auf den besonderen Kontext der Systemtransformation zurückgeführt werden. Einer137

Opfern und Tätern können jeweils gegenläufige Interessen an der Verdrängung der Geschichte zugeordnet werden. Auf Seiten der Opfer ist durchaus der Wunsch existent, die Gewalt und das Leid zu vergessen, auf Seiten der Täter kann der Versuch erkannt werden, das eigene Selbstbild zu schützen. Die Arbeit vertieft diesen Themenbereich jedoch nicht, geht es ihr an dieser Stelle um die Frage, wann „Vergangenheitsbewältigung“ wahrscheinlich ist. Zudem kann sowohl Tätern als auch Opfern trotz gemeinsamer Merkmale eine ambivalente Motivlage zugeordnet werden. Ihre Interessen variieren. Es ist daher wahrscheinlich, dass es immer Täter und Opfer geben wird, die das Unrecht nicht verdrängen, sondern erinnern beziehungsweise aufarbeiten wollen. Vgl. unter anderem Segev, Die siebte Million, S. 10-21 und S. 428476.

2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

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seits begünstigt gerade die ihm innewohnende systemische Diskontinuität die kritische Auseinandersetzung mit vergangenem Unrecht und begründet er eine Vielzahl weiterer Motive Ŕ wie die Entfernung der alten Eliten aus staatlichen Funktionen Ŕ, sich der Vergangenheit zu stellen. Andererseits bedarf der Aufbau einer dauerhaft stabilen Demokratie Ŕ wie bereits mehrfach betont Ŕ der Integration der Mehrheit der Bevölkerung in die neue politische und gesellschaftliche Ordnung, selbst wenn diese das Unrecht geduldet oder gar an diesem mitgewirkt hat. Alten Eliten und Tätern ist somit die Möglichkeit gegeben, Einfluss auf die Vergangenheits- und Geschichtspolitik zu nehmen. In diesem Sinne ist „Vergangenheitsbewältigung“ auch stets Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Machtverhältnisse. Erst wenn es den Opfern gelingt, die Öffentlichkeit für ihre Anliegen zu sensibilisieren, und sich das neue demokratische System nicht mehr allzu sehr zur Rücksichtnahme auf die alten Eliten gezwungen sieht, ist zunehmend mit dem Ingangkommen von „Vergangenheitsbewältigung“ zu rechnen. Internationaler Druck kann dabei insofern begünstigend wirken, als er die inneren Kräfteverhältnisse verändert oder Anreize bietet, die Vergangenheit „aufzuarbeiten“. Dass „Vergangenheitsbewältigung“ zeitlich nicht nur auf die Generation der Täter und der Opfer begrenzt ist, liegt im kollektiven Charakter der Opfer, der Täter und der betroffenen Gesellschaft begründet. Opfer staatlicher oder institutioneller Gewalt werden oft nicht als einzelne Individuen, sondern als unterstelltes Kollektiv zu Opfern gemacht. Spätestens durch diese gemeinsame Opfererfahrung entwickeln sie eine „reale“ kollektive Identität. Diese wird dann im Sinne des Konzeptes der Erinnerungskultur, aber auch aufgrund ihrer bis in die Gegenwart hinein spürbaren Folgen an nachfolgende Generationen weitergegeben, ist sie ja der Ursprung der kollektiven Identität. Auf der anderen Seite sind die Menschenrechtsverbrechen, mit denen sich das vorliegende Kapitel beschäftigt hat, staatlich oder institutionell begangene beziehungsweise legitimierte Gewalt. Auch wenn die ausführenden Täter Individuen sind, so ist der Charakter der Verbrechen kollektiver Natur. So wie Kollektive an den Errungenschaften ihrer Vorfahren partizipieren, so haben sie auch an ihren historischen Lasten teil. Erneut begründet die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv eine längerfristige Verpflichtung. Sozialpsychologische Studien bestätigen dies. „Vergangenheitsbewältigung“ ist somit nicht nur rückwärtsgewandt, sondern durchaus gegenwarts- und zukunftsbezogen. Die dem Konzept der Erinnerungskultur inhärente Annahme, dass kollektive Erinnerung immer auch in gegenwärtigen Interessen begründet liegt, wird somit durch das Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ nicht in Frage gestellt. Abschließend kann festgehalten werden, dass „Vergangenheitsbewältigung“ ein mehrdimensionales Konzept ist, welches politische, juristische, gesellschaftliche und kulturelle Bemühungen umfasst, sich der historischen Verantwortung zu stellen und so die Wiederholung historischen Unrechts zu

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2. „Vergangenheitsbewältigung“?!

verhindern. Gerade aus dieser Zukunftsbezogenheit resultiert der Blick zurück. Nur er kann Ŕ wenn überhaupt Ŕ Ursachen und Gründe der Verbrechen erkennbar und so ihre Wiederholung vermeidbar werden lassen. Da institutionell begangene beziehungsweise legitimierte Menschenrechtsverbrechen in Diktaturen auftreten, in westlichen Demokratien hingegen nicht, fallen auch der Aufbau einer demokratischen Ordnung, ihre Stabilisierung und ihre „Verteidigung“ unter das Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“, vor allem dann, wenn diese im Zeichen bewusster Abkehr vom Vorgängerregime stehen. Der Einwand vieler Kritiker, der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ suggeriere, dass die Vergangenheit abgeschlossen werden könne, kann am Ende dieses ersten Kapitels, zugegebenermaßen erst nach einer erfolgten Überarbeitung des Konzeptes der „Vergangenheitsbewältigung“, als unzutreffend zurückgewiesen werden. Gerade aus der Kollektivität ihrer Akteure und deren Mehrzahl sowie aus seiner Mehrdimensionalität, seiner Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit folgt, dass „Vergangenheitsbewältigung“ ein sich über einen längeren Zeitraum erstreckender Prozess ist, der auch dann noch beobachtet werden kann, wenn die Generation der Täter und Opfer ausgestorben ist. Schließlich ist „Vergangenheitsbewältigung“ als Ausschnitt von Erinnerungskultur(en) in deren Formen und Mechanismen der Vergegenwärtigung von Vergangenheit eingebunden. Diese Formen können dazu beitragen, dass das, was geschehen ist, präsent bleibt und damit zugleich auch die Verpflichtung zur „Bewältigung“ ist.138

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Es stellt sich die Frage, ob „Vergangenheitsbewältigung“ stets „Vergangenheitsbewältigung“ bleibt oder ob sie irgendwann zu Erinnerungskultur wird, und wenn ja, wann dieser Übergang geschieht. Jedoch ist ihre Erläuterung an dieser Stelle nicht möglich.

3. „Vergangenheitsbewältigung“ in den Nachfolgestaaten des Dritten Reiches Nach diesen Annäherungen an das Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“, die neben der Berechtigung seiner Eigenständigkeit vor allem seine Mehrdimensionalität betonen, gilt es in einem zweiten Schritt Grundzüge und Kennzeichen des Umgangs mit dem Erbe des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, in der DDR, in Deutschland nach 1989/90 und in Österreich herauszuarbeiten. Wie bereits in der Einleitung dargelegt, ist dies Voraussetzung für die anschließende Analyse der französischen Wahrnehmung.

3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik Im Anfang der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen standen die bedingungslose Kapitulation und die Niederlage des Dritten Reiches.1 Offenkundiges Zeichen dieser Niederlage war die alliierte Besetzung. Bereits in der Konferenz von Jalta (Februar 1945) hatten die späteren Besatzungsmächte Großbritannien, die Sowjetunion und die USA keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sich nicht mit der bloßen Niederlage des Dritten Reiches zufrieden geben würden, sondern dass sie auch danach strebten, „den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören“.2 Wie das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 belegt, waren die alliierten Mächte nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands vom 7./8. Mai 1945 um die politische Umsetzung dieser Ziele bemüht. Zahlreiche Maßnahmen zur Denazifizierung, Demokratisierung und Demilitarisierung wurden beschlossen.3 Im Folgenden wird jedoch nur am Rande auf diese alliierten Maßnahmen eingegangen werden, erfüllen sie doch nicht das Kriterium der innerdeutschen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.4 Denn weder im völkerrechtlichen Sinne kann bis 1949 von einem 1 2

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Vgl. Jasper, „Vergangenheitsbewältigung“, S. 19. Vgl. auch Lepsius, Das Erbe, S. 229 f., und Herbert, Zweierlei Bewältigung, S. 14. Konferenz von Jalta (Krim) vom 3. bis 11. Februar 1945. Wortlaut der Erklärung der drei Regierungschefs von Großbritannien, der USA und der UdSSR, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 13-16, hier: S. 14. Potsdamer Abkommmen vom 2. August 1945, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 34-47, hier: S. 37-43. Zur Entnazifizierung vgl. als Überblick Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 30-41. Vgl. auch Herbert, Zweierlei Bewältigung, S. 11. Vgl. Stolleis, Besatzungsherrschaft, S. 289-308. Nur wenn primär bundesrepublikanische Akteure Träger der „Vergangenheitsbewältigung“ waren, kann von „bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung“ die Rede sein.

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3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik

bundesdeutschen Staat gesprochen werden, noch waren die alliierten Maßnahmen Ausdruck eines bundesdeutschen Willens.5 Dennoch seien an dieser Stelle einige Merkmale der alliierten Maßnahmen kurz erwähnt, da sie für die spätere „Vergangenheitsbewältigung“ der Westdeutschen von zentraler Bedeutung sein sollten. Erstens unterschieden die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nicht zwischen Kriegsverbrechen und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen; dadurch wurden die Unterschiede zwischen diesen Verbrechen nivelliert und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als gewöhnliche Kriegsverbrechen bewertet.6 Zweitens begünstigten die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mit ihrer Konzentration auf die Hauptkriegsverbrecher die Genese eines Geschichtsbildes, für das die strikte Unterscheidung zwischen wenigen nationalsozialistischen Tätern an der Spitze und der Masse der Bevölkerung charakteristisch sein sollte.7 Drittens leisteten die Schwächen und die Fehler der Entnazifizierung einen Beitrag zur Verfestigung des Opferselbstbilds vieler Deutscher. Das rasche Ende der Entnazifizierung konnte dann von der deutschen Bevölkerung als Eingestehen alliierten Entnazifizierungsunrechts angesehen werden.8 Erst mit der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 kann von der Möglichkeit einer eigenständigen bundesrepublikanischen „Vergangenheitsbewältigung“ ausgegangen werden, die alle Dimensionen, insbesondere auch die politische Dimension, der „Vergangenheitsbewältigung“ umfasst. Zwar behielten sich die alliierten Mächte auch nach dem Mai 1949 Verantwortlichkeiten und Rechte hinsichtlich Deutschlands als Ganzes und Berlin vor,9 5

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Vgl. Protokoll über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung GroßBerlins vom 12. September 1944, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 6-8, Ergänzungsprotokoll vom 14. November 1944, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 8-10, und Abkommen über den Kontrollratsmechanismus in Deutschland vom 14. November 1944, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 10-13. Zum Problem der Staatlichkeit vgl. vor allem die Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek, kurz zusammengefasst bei Hailbronner, Der Staat und der Einzelne, S. 187 f. Vgl. Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, S. 27. Vgl. auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 43-45, und Reichel, Auschwitz, S. 606. Vgl. Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, S. 27. Zur weiten Verbreitung dieses Bildes in der Bevölkerung vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 405. Vgl. auch Reichel, Auschwitz, S. 606. Zur Entnazifizierung vgl. Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 30-41. Vgl. auch Herbert, Zweierlei Bewältigung, S. 11. Vgl. ebenso Leonhard, Politik- und Geschichtsbewußtsein, S. 92. Vgl. Außenministerkonferenz der drei Westmächte in Washington vom April 1949 vereinbart Ende der Militärregierung, Besatzungs-Statut für Westdeutschland, Abkommen über Drei-Mächte-Kontrolle (Fusion der drei Westzonen) und DemontageErleichterungen; Wortlaut des Besatzungsstatuts und des Abkommens über die DreiMächte-Kontrolle, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 72-78, hier: S. 74-76, Statut der Alliierten Hohen Kommission in der Bundesrepublik Deutschland am 20. Juni 1949 unterzeichnet, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 83-89, In-

3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik

63

doch sind seitdem alle Versuche, sich der historischen Verantwortung Deutschlands zu stellen beziehungsweise diese zu verdrängen, eindeutig der Bundesrepublik zuzuordnen.10 Die Darstellung der bundesrepublikanischen „Vergangenheitsbewältigung“ und ihrer Versäumnisse setzt daher erst im Frühjahr 1949 ein.

3.1.1. Grenzen politischer „Vergangenheitsbewältigung“ In den Anfangsjahren der Bundesrepublik war die Diskrepanz zwischen dem offiziellen politischen Bekenntnis zur historischen Verantwortung und den privaten Erinnerungen wesentliches Kennzeichen des bundesdeutschen Umgangs mit dem Erbe des Nationalsozialismus.11 Während die neue Bonner Republik sich zur Rechtsnachfolge des Dritten Reiches bekannte,12 die „Verurteilung des Nationalsozialismus“ und damit einhergehend die Bejahung der westlichen Demokratie „gleichsam zur Staatsdoktrin“13 erhob, lehnte der Großteil der Bevölkerung jegliche Verantwortung für den Nationalsozialismus ab und wollte die Schuldfrage, die möglicherweise auch der eigenen Zukunft schaden konnte, endgültig als unbegründet der Vergangenheit zugewiesen wissen.14 Die Konzentration der Bevölkerung galt dem Wiederaufbau, durch dessen Erfolg sie glaubte, die Berechtigung erworben zu haben, die Forderung nach einem Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit stellen zu können.15 Begünstigt wurde diese Haltung durch die Schwächen, die sowohl der Entnazifizierung als auch den alliierten Kriegsverbrecherprozessen inne-

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krafttreten des Besatzungsstatuts für die Bundesrepublik am 21. September 1949; Ende der Militärregierung und Amtsantritt der Alliierten Hohen Kommission, in: Dokumentation zur Deutschlandfrage, S. 89 f. Und auch noch nach der Aufhebung des Besatzungsstatuts im Mai 1955 bestanden alliierte Vorbehaltsrechte fort. Vgl. Haftendorn, Die Alliierten Vorbehaltsrechte, S. 11, und Mußgnug, Alliierte Militärmissionen, S. 228 f. Seit dem 14. August beziehungsweise dem 15. September 1949 existierten ein bundesrepublikanisches Parlament und eine bundesrepublikanische Regierung, die durch Wahlen auf dem gesamten Gebiet der Bundesrepublik legitimiert waren. Assmann, Persönliche Erinnerung, S. 130 f. Jesse, Doppelte Vergangenheitsbewältigung, S. 15. Vgl. auch Leonhard, Politik- und Geschichtsbewußtsein, S. 91. Kielmansegg, Lange Schatten, S. 16 f. Vgl. auch Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, S. 37 f., und Weber, Einleitung, S. 8. Vgl. Eser, Das Internationale Militärtribunal, S. 56 f., Goschler, Schuld und Schulden, S. 132 f., Winkler, Der lange Weg, S. 175 f. Die Bevölkerung wollte „die Vergangenheit Vergangenheit sein“ lassen. Kielmansegg, Lange Schatten, S. 45 f. Zum Widerspruch zwischen öffentlicher und privater Sphäre vgl. auch Kielmansegg, Lange Schatten, S. 67, Wolfrum, Die Suche, S. 190 f., und Wielenga, Schatten, S. 35. Die neu erreichte Lebensqualität ließ darüber hinaus die nationalsozialistische Vergangenheit weit weg erscheinen. Vgl. Kielmansegg, Lange Schatten, S. 65 f. Vgl. vor allem auch Benz, Zum Umgang, S. 58, Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, S. 91, und Weber, Einleitung, S. 144.

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3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik

wohnten, das Opferselbstbild und das Selbstmitleid vieler Deutscher sowie den angesichts der täglichen Not als dringender empfundenen Wiederaufbau Deutschlands, welcher die ganze Kraft und die volle Konzentration erforderte.16 Das Bekenntnis zur historischen Verantwortung, das Voraussetzung für jegliche Form von „Vergangenheitsbewältigung“ gewesen wäre, blieb aus. Und schließlich stand auch der Charakter der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ihrer „Aufarbeitung“ im Wege. Viele Deutsche hatten sich nicht durch aktive Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen juristisch schuldig gemacht, sondern waren durch Nicht-Einschreiten, durch Wegschauen und durch Nicht-Wissen-Wollen moralisch schuldig geworden.17 Der Bürde der moralischen Schuld wollten sich viele nicht stellen, auch konnte dies nicht von außen erzwungen werden und einer offenen Diskussion stand das in den Jahren zuvor gesäte Misstrauen entgegen. Stattdessen verfestigte sich bei der Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Bild einer Clique von Tätern um Hitler, die das deutsche Volk missbraucht habe.18 Mit diesem Bild ließ es sich leben. Die Erfahrungen des Krieges, Vertreibung und unantastbare Niederlage des Dritten Reiches boten zusätzliche Nahrung für Opferselbstbild und Selbstmitleid der Deutschen.19 Damit war die Ausgangslage für den Versuch, einen demokratischen Staat in der Bundesrepublik aufzubauen und zu etablieren, alles andere als einfach. Das Gelingen des demokratischen Wiederaufbaus hing von der Bereitschaft der deutschen Bevölkerung ab, den demokratischen Weg mitzugehen.20 Zwar waren „traditionelle autoritäre Alternativen“ nach 1945 diskreditiert,21 doch drohte bei einem Scheitern der Demokratisierung der jungen Republik immer noch das Schicksal der Weimarer Republik Ŕ einer Republik

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Vgl. Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, S. 42 f. Vgl. auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 67 f., und Ders., Vergangenheitsbewältigung als Problem, S. 155 f. Zur Betonung der Opferrolle vgl. Schieder, Kriegsregime, S. 29 f. Zur zunehmenden Ausbreitung deutschen Selbstmitleides vgl. Wolfrum, Die Suche, S. 187. Hinzu kommt der „eigentümlich kriminelle Charakter des Nationalsozialismus“. Lepsius, Das Erbe, S. 241. Die zu beobachtende Verantwortungsdiffusion lässt sich mit seiner Hilfe zumindest teilweise erklären. Zwar erforderten die nationalsozialistischen Verbrechen stets das Handeln einzelner Akteure, doch zeichneten sie sich zugleich durch einen kollektiven Charakter aus. Durch Nichteinschreiten machten sich fast alle Ŕ zwar nicht kriminell Ŕ schuldig, ohne dabei direkt mit ihrer Schuld konfrontiert zu werden. Potenziell hätte jeder einschreiten können. Am Ende übernahm schließlich niemand die Verantwortung und ergriff die Initiative. Vgl. Weber, Einleitung, S. 145. Die Kriminelle Schuld, die die Gerichte ahnden konnten, war und ist nur ein Teil der gesamten historisch-politischen Schuld. Vgl. Hey, NS-Prozesse, S. 68 f., und Schwan, Politik, S. 122. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 404 f. Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 67 f. Vgl. auch Wolfrum, Die Suche, S. 191 f., und Goschler, Schuld und Schulden, S. 132 f. Siehe oben, S. 47-51. Lepsius, Das Erbe, S. 234-240.

3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik

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ohne Republikaner.22 Hermann Lübbe fasst diese diffizile Ausgangslage prägnant zusammen, wenn er schreibt, dass die neue deutsche Republik einerseits gegen den Nationalsozialismus und seine Ideologie aufgebaut werden musste, andererseits jedoch nicht gegen die Mehrheit seiner Bürger eingerichtet werden konnte. Diese musste sie vielmehr für sich gewinnen.23 Die Bevölkerung für die Demokratie zu gewinnen, bedeutete, auf die Bevölkerung und die dort vorhandenen Stimmungen Rücksicht zu nehmen, auch und besonders in allen Fragen, die die mögliche „Vergangenheitsbewältigung“ betrafen.24 Das öffentliche Bekenntnis der Bundesrepublik zum nationalsozialistischen Unrecht blieb daher für längere Zeit ein Lippenbekenntnis.25 Rücksichtnahme auf die in der Bevölkerung verbreitete ablehnende Haltung, auf die Erfordernisse des Wiederaufbaus und den aufkommenden Kalten Krieg26 führten zu einer durch Integration und Amnestie gekennzeichneten „Vergangenheitspolitik“27 der Bundesrepublik.28 Weder konnten die Millionen ehemaliger Parteimitglieder und ehemaliger Mitläufer vom Aufbau der Demokratie ausgeschlossen werden, noch konnte der Wiederaufbau von Verwaltung und Wirtschaft gänzlich auf die hierbei dringend benötigte Fachkompetenz ehemaliger Parteimitglieder und Mitläufer verzichten. Eine wirkliche Erneuerung der Führungsschicht des Landes blieb aus. Was zählte,

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Vgl. Benz, Nachkriegsgesellschaft, S. 24, und Winkler, Weimar, S. 601 f., S. 610 und S. 614 f. Lepsius sieht in der Weimarer Republik und in deren Scheitern die „zentrale Orientierungsfunktion für den Wiederaufbau der institutionellen Ordnung“ in der Bundesrepublik. Lepsius, Das Erbe, S. 230 f. Zur Gegenwart der Weimarer Republik in den Anfangsjahren der Bundesrepublik vgl. Ullrich, Der Weimar-Komplex, S. 305-412. Lübbe, Der Nationalsozialismus, S. 586. Vgl. auch Kogon, Das Recht, S. 654 f. Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 404. Vgl. Meier, 40 Jahre, S. 61. So weist Wolfrum auf den Umstand hin, dass die Bundesrepublik in ihren Anfangsjahren nicht den Weg der kritischen Selbstreflexion beschritten, sondern dass sie sich vielmehr für einen Weg entschieden habe, der die eigene Opferrolle betont und so die eigentliche Täterschaft ausgeblendet habe. Vgl. Wolfrum, Die Suche, S. 193. Erstens ermöglichte dieser den Deutschen, das Feindbild des Kommunismus beizubehalten und sich selbst einzureden, dass der Nationalsozialismus zumindest hier nicht so falsch gelegen habe. Vgl. Benz, Nachkriegsgesellschaft, S. 19 und S. 23 f. Zweitens resultierte aus der veränderten weltpolitischen Lage eine gewachsene strategische und politische Bedeutung der Bundesrepublik. Diese führte zu einem baldigen Ende ihrer internationalen Isolation. Vgl. Kielmansegg, Lange Schatten, S. 72. Vgl. auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 117 f. Drittens gewann im Zuge des Kalten Krieges die Totalitarismustheorie an Bedeutung. Der Nationalsozialismus galt nun als eine mögliche Erscheinung totalitärer Staatsformen. Vgl. Wolfrum, Die Suche, S. 187 f., und Frei, Das Problem, S. 31. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 13. Vgl. hierzu das Buch von Frei, Vergangenheitspolitik. Darüber hinaus stellt Frei seine hier von ihm entwickelten Thesen auch in einigen Aufsätzen vor. So Frei, Amnestiepolitik, S. 120-137, oder Frei, Das Problem der NS-Vergangenheit, S. 19-31. Zur Amnestie im Allgemeinen vgl. Güntner, Der strafrechtliche Schuldbegriff, S. 49 f. und S. 58.

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3.1. „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik

war nicht die individuelle Vergangenheit, sondern das, was jemand für den neuen Staat einbringen konnte und wollte.29

3.1.2. Amnestiepolitik und die Last der Gegenwart Bereits im Mai 1951 trat das Gesetz zur Restauration des Berufsbeamtentums in Kraft, am 17. Juli 1954 folgte das Straffreiheitsgesetz.30 Beide Gesetze waren Ausdruck einer politischen Grundhaltung der damaligen Bundesregierung, die darauf zielte, der Masse der Bevölkerung den Weg in die neue demokratische Ordnung der Bundesrepublik zu ebnen und auf diese Weise zu deren Stabilisierung und zu innerem Frieden beizutragen.31 So umfasste das Amnestiegesetz von 1954 eine weitreichende Straffreiheit für „>Taten während des Zusammenbruchs131er