Wertewandel in der Unternehmensführung: Die Unternehmenspersönlichkeit als Ausdruck ökonomischer Vernunft [1 ed.] 9783896448613, 9783896731203

Zu spät erkennt man, dass sich einmal mehr die Menschen als die eigentlichen Hürden und nicht als unendlich erweiterbare

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Wertewandel in der Unternehmensführung: Die Unternehmenspersönlichkeit als Ausdruck ökonomischer Vernunft [1 ed.]
 9783896448613, 9783896731203

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Wertewandel in der Unternehmensfuhrung

Rainer H. Thierfelder

Wertewandel in der Unternehmensführung Die Untemehmenspersönlichkeit als Ausdruck ökonomischer Vernunft

Verlag Wissenschaft & Praxis

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Thierfelder, Rainer H.: Wertewandel in der Unternehmensfuhrung. Die Untemehmenspersönlichkeit als Ausdruck ökonomischer Vernunft / Rainer H. Thierfelder - Sternenfels : Verl. Wiss, und Praxis, 2001 ISBN 3-89673-120-3

ISBN 3-89673-120-3

© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2001 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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5

Inhalt Vorwort

11

Ausgangslage und Umfeld

15

Erfolgsfaktor „Unternehmenskultur“ - was ist daraus geworden? Von der Entdeckung eines Phänomens ... ... über sein Mißverständnis ... ... zum falschen Aktionsfeld

18 19 34 36

Die Angst vor der unkontrollierten ökonomischen Globalisierung Die neue Dimension Wo bleiben die Menschen? Unternehmen vor neuer Verantwortung

56 57 60 78

Beziehungskisten Probleme mit dem Shareholder Value Kundenorientierung - nur ein Schlagwort Und immer wieder die leidige Mitarbeiterfuhrung

82 82 84 88

Nun also Werte?

112

Werte als menschliche Perspektive Zum Wertebegriff Entstehung der Werte Individualität der Wertmaßstäbe und ihrer Ausprägungen Werte und Verhalten Wertewandel und Kultur der Beweglichkeit

112 113 118 123 128 132

Werteorientierung als unternehmerisches Leitbild Beziehung vor Inhalten Die sachliche und die emotionale Ebene Beziehungsstörungen

146 148 157 167

6

Interessenvielfalt der Stakeholder Vielfalt der Kulturkreise Persönlichkeit Charakter und Glaubwürdigkeit Persönlichkeitsentwicklung des Unternehmens

Kunden

177 180 193 194 206

213

Mit dem Kunden fängt alles an

214

Gekauft wird nicht nur Funktionalität Produkte sprechen für sich Identifikatoren des eigenen Lebensgefuhls Kundenbeziehung als Vertrauensverhältnis Kauf nach Ethik und Moral?

215 216 222 225 228

Von den fortwirkenden Altlasten ...

232

... zu neuen Sünden Scheinaktionismus Informative Werbung oder lästige Reklame? Emotion nur mehr als Selbstzweck? Chef-Marketing

237 238 243 246 248

Trends Individualisierung Kundennähe Internet und E-Commerce - wieder nur Technik? Gesamte Problemlösung im System Lebensqualität und ihre speziellen Dienstleistungen Kundenservice Respektvoller Umgang

249 250 252 254 264 266 267 269

Wettbewerbsverhältnisse Wettbewerb ist Kundenorientierung Der Umgang mit Wettbewerbern Versuchungen und Gefährdungen Kooperation statt Fusion

271 271 274 274 276

7

Mitarbeiter und Führungskräfte

284

Interne Beziehungen - ein Wirtschaftsfaktor? Das künftige Szenario Der Mitarbeiter - wirklich in den Mittelpunkt! Integration von Arbeits- und Kundenbeziehungen

284 285 290 297

Die Arbeitsbeziehung Die Vergütung - verkannt und falsch gehandhabt Der mangelnde „Reiz“ der Vergütungs-Systeme Wenn schon Systeme - was wäre besser? Kein Lebenssinn ohne Arbeit Wert der Arbeit für das Unternehmen

302 302 303 324 331 340

Führung im Wandel Die neue Führungsrolle und ihr Verständnis Management als „sachlicher Regelkreis“ Führung als mehrdimensionaler „sachlicher und persönlicher Regelkreis“ Visionen und Ziele Ausgleich Vertrauen - doch besser als Kontrolle? Führungsverhalten ist Kommunikation Von der Information zum Einverständnis Stilfragen Vorbild Zusammenspiel Das zweifelhafte „Team“-Gerede Gruppe und Individuum Die Gruppe - geführt oder selbstgesteuert? Konflikte - lieber gefährliches Spiel oder Nichtachtung? Zusammenfassung und Ausblick

349 351 355

Kollektive Interessenvertretung

445

Personalauswahl, -einsatz und -entwicklung Anforderungen Personalmarketing Umgang mit denen, die nicht (mehr) genügen?

452 453 462 465

Gemeinschaftsbildende Einrichtungen

470

357 357 370 377 387 388 403 408 412 412 418 423 432 443

8

Eigentümer und Aktionäre

475

Eigentümer- und Aktionärsstruktur

476

Die direkte Aktionärsbeziehung Investor Relations-Funktion Namensaktien Hauptversammlungen Befragungen Internet Besondere Ereignisse

481 482 483 485 492 493 494

Interessenvertreter der Kleinaktionäre

496

Wirtschaftsprüfer, Analysten und Ratingagenturen

499

Interessenvertreter der Belegschaftsaktionäre

502

Sonstige

503

Öffentlichkeit und Gesellschaft

506

Wirtschaft in Staat und Gesellschaft

506

Anlässe für allgemeines Interesse

509

Kommunikation mit der Öffentlichkeit

516

Sonstige Betätigungsschwerpunkte

520

Wege zur praktischen Werteorientierung

524

Meinungsbildung und Klärungen Gemeinsames Verständnis Ziele

524 524 528

Vorgehensmodelle und -alternativen

529

9

Grenzen des klassischen „Projekts“ Führung als laufender Prozeß mit unterstützenden Rahmenbedingungen Prozeßverantwortung Begleitseminare, Stakeholdermanagement und Redaktion

Die funktionalen Prozeßschritte Prozeßstart durch Bestandsaufnahme Zunächst: Feststellen ohne zu werten Methoden Die Mitarbeiterbefragung Analyse und Bewertung der Ergebnisse Entwickeln neuer Leitbilder Leitbilder in Verhalten umsetzen Die personalen Voraussetzungen Der institutioneile Rahmen, Systeme, Instrumente Erfolgsmessung und Stabilisierung

Und die Moral...?

530 538 540 542 545 545 549 551 557 569 571 574 576 577 579

581

Literaturverzeichnis

591

Stichwortregister

599

11

Der Mensch, der als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, daß er keine Achtung verdient, sofern er wünscht? Friedrich Nietzsche1

Vorwort Dieses Buch ist kein Roman, wohl auch nicht so unterhaltsam, sondern manchmal eher eine traurige Geschichte. Denn es ist aus Anschauungen und Erfahrungen der Praxis entstanden. Es gliedert sich deshalb vorrangig nach den dort vorhande­ nen, also den untemehmensintemen praktischen Problemen und Defiziten, ihrer tatsächlichen Gewichtung für die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen und weniger an einer sachtheoretischen Systematik. Es behandelt Ungereimtheiten, tatsächliche Widersprüche und Scheingegensätze, wie sie das alltägliche Gesche­ hen in einem Unternehmen beherrschen, weil sie fast allesamt mit den Menschen zu tun haben:

• • •

• •

die Ignoranz von Realitäten und das (Un-)Verständnis ihrer Folgen, die angeblich unüberbrückbare Kluft, der „fundamentale Widerspruch“2 zwischen Theorie und Praxis, die Rolle und das Funktionieren des Menschen als betriebswirtschaftlicher Faktor den angeblichen Widerspruch zwischen Ökonomie und Humanität und vor allem die ständigen Widersprüche und Differenzen zwischen Wollen und Tun, zwischen Reden und Handeln.

Alles dieses immer nur schön zu reden, zu leugnen oder zu ertragen verschwendet ungeahnte Kräfte und vernichtet betriebswirtschaftliche Ressourcen. Es macht unzufrieden, manche krank - jedenfalls allen keinen Spaß. Nicht selten kostet es die erwarteten Ergebnisse. Dabei ließe sich vieles davon durchaus miteinander vereinbaren oder auflösen. Denn nur so ist auch wenigstens der Versuch aus­ sichtsreich, Ethik und Moral in der Wirtschaft einmal von den wortreichen und hohen Regalen ihrer abstrakten Aufbewahrung auf den Boden der Realität herun­ terzuholen.

1 Friedrich Nietzsche, Band 2: „Götzen-Dämmerung“, S. 1008 2 So auch konstatiert von Roland Schulz, Henkel KGaA - 8. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für

Personalfuhrung 1999 in Wiesbaden - Personalfiihrung 8/1999, S. 57

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Nicht ohne Grund und vielfältigem Anlaß ist daher dem inneren Beziehungsfeld zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern das Hauptaugenmerk gewidmet. Parallele Aspekte in den externen Beziehungen des Unternehmens können nur beispielsweise angedeutet und erst recht nicht mit dem Anspruch auf Vollstän­ digkeit und abschließende Fachkompetenz behandelt werden. Sie sind lediglich als Vergleiche und dementsprechende Denkanstöße gedacht. Die Darstellung bezieht die zu vielen Einzelaspekten zahlreich und kompetent vorliegende Literatur aus Wissenschaft und Praxis als eine große, zeitgenössische Diskussion - wenn auch angesichts ihrer Fülle keinesfalls vollständig oder nur durch weiterführende Anmerkungen - mit ein. Vieles davon entstammt der Ta­ gespresse, in der sich aktuell neben der Politik auch die Wissenschaft und die Wirtschaftspraxis immer mehr darstellen. Auch wenn es in vielen Beispielen vorwiegend um jetzt anstehende Fragen geht, ist ihre Grundthematik zeitlos. Dabei liegt dem Verfasser nicht daran, alle die vorhandenen Beiträge nochmals um eine persönliche Variante im Sinne des Münchner Komikers Karl Valentin „Inzwischen ist alles gesagt worden, nur noch nicht von allen!“ - zu vermehren, sondern die meist punktuellen Betrachtungen spezieller Fragen auch einmal in ihren Zusammenhängen, in ihren Wechselwirkungen und damit die Bedeutung einer dahinter liegenden Gesamtlinie deutlich zu machen. Die vielen richtigen VeränderungsVorschläge für Management und Führung sind es nicht nur wert, nicht in Vergessenheit zu geraten, sondern auch einmal so aufbereitet zu werden, daß sie entsprechend ihrer praktischen Bedeutung auch konkrete Ansatzpunkte für ein sachlich wie menschlich und damit betriebswirtschaftlich relevantes Han­ deln aufzeigen. Denn vieles, was so gesagt und geschrieben wird, ist jeweils für sich genommen richtig, aber mit dem anderen, ebenso richtigen nicht ohne weite­ res vereinbar. Dieses ständige und durchaus plausible „Wer nicht flexibel ist, hat verloren!“3 einerseits und die Warnung, „Wir brauchen gerade heute unsere Rou­ tinen und Rituale, um zu überleben!“4 oder die Kritik an der Industrie mit ihrem „Kardinalfehler“, das menschliche Bedürfnis nach Kontinuität zu ignorieren,5 andererseits - übrigens u.a. dargestellt auf der gleichen Seite eines Wirtschafts­ blatts - verwirren die Praxis und hemmen eher, als daß sie befördern. 3 Statt vieler Jürgen Fuchs, Geschäftsführer der Wiesbadener Untemehmensberatung CSC Ploenzke zitiert nach dem Bericht von Chris Löwer: „Statt Status“ - Handelsblatt/Karriere vom 11 ./12.08.2000, S. K2 4 Münchner Unternehmensberaterin Dorothee Echter: „Stichwort: Routine-Design“ - Handels­ blatt/Karriere vom 11./12.08.2000, S. K2 5 Stephan Zöller: „Was Mönche und Manager verbindet“ - Besprechung des Buches von Johannes

Claudius Eckert: „Dienen statt herrschen. Untemehmenskultur und Ordensspiritualität: Begegnungen - Herausforderungen - Anregungen“ - Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart 2000 - Süddeutsche Zei­ tung Nr. 5 vom 08.01.2002, S. 24; vgl. auch die Warnung vor dem Verlust an Tradition und Identität des Ethnologen und Kulturhistorikers Hans Peter Duerr in dem Interview: „Der Genussmensch ohne Herz“ - DER SPIEGEL 49/2000, S. 188 ff. (189)

13

Wer zur Vermeidung vieler modischer Irrwege sich für weiterführende Einzel­ heiten interessiert, mag gezielt den zahlreichen Hinweisen nachgehen, die ange­ sichts zunehmend digitaler Archivierung immer leichter zugänglich sind. Damit ist natürlich kein „Rezept“ entstanden, das wirksam ist, nur weil es hier so steht.6 Schon gar nicht kann in dem komplexen Bereich der überwiegend „weichen Fak­ toren“ eine Garantie für ein Gelingen gegeben werden. Aber es könnte reizvoll und sollte eine Herausforderung sein, hier und da einmal etwas genauer hinzu­ schauen und wenigstens dort, wo bei selbstkritisch-ehrlicher Bestandsaufnahme die Ungereimtheiten unerträglich werden, sich aus eingefahrenen Vorgehenswei­ sen und technokratischen Gepflogenheiten herauszulösen, die entscheidenden Ursachen zu erkennen, auf seine positiven oder negativen Folgen hin offen zu diskutieren. Es könnte sich herausstellen, daß es notwendig ist, sich nunmehr wirklich auf das für viele neue und schwierige Terrain respektvoller menschlicher Interaktion und damit einen neuen, alle anderen überlagernden ,Geschäftsprozeß4 konsequent einzulassen. Manche mögen zu dem einen oder anderen ihre Vorbehalte oder auch Wider­ sprüche anmelden. Einige tun das immer und zu allem, denn alles hat ja auch ein pro und contra. Ich behaupte auch nicht, in allem allein den richtigen Ansatz beschrieben zu haben. Aber eine gewisse Konsequenz im Denken und Handeln stelle ich gern zur Diskussion. Das vielfältige, beziehungslose Propagieren gängi­ ger Prämissen führt zu ebenso vielen Ungereimtheiten und damit zu offenen Fra­ gen, die einer auflösenden Antwort bedürfen. Also muß in einem wertenden Pro­ zeß eine Abwägung mit den Beteiligten und dann eine glaubwürdige, schlüssige unternehmerische Entscheidung stattfinden, die zu einem konkreten Handeln führt. Wertungen bedingen Maßstäbe. Welche sind das, wo kommen sie her und wo führen sie hin? Die zu den dargestellten Inhalten weitgehend einmütige Diskussion aus der Sicht von Theorie, Praxis und Beratung macht es freilich denen, die stets meinen, allein mächtig und mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu stehen und dabei selbst vor den Realitäten die Augen verschließen, nicht so leicht, die Konsequenzen dieser Darstellung als pure Träumerei, Illusion oder realitätsfeme Hier gibt es inzwischen eine spezielle „Rezeptliteratur“ mit praktischen Hinweisen, Checklisten, Vorgehensschemata, wie sie beispielsweise der Carl Hanser Verlag, München mit seiner Reihe „Pokket Power“ zu zahlreichen aktuellen Themen anbietet; auf der anderen Seite geht es auch gar nicht um Verhaltenstips, sondern um die Entwicklung von „Fähigkeiten zur Intuition, Imagination und Impro­ visation ... und diese mit dem im Alltag notwendigen Pragmatismus und logischen Verhalten zu verbinden“ - Bärbel Schwertfeger: „Spirituelle Manager - An der Cranfield School glaubt man, dass sich Untemehmensentwicklung nur durch die persönliche Entwicklung der Manager erreichen lässt“ Handelsblatt/Karriere vom 10./11.03.2000, S. K9; vgl. auch S. Nidiaye u. F.-T. Gottwald: „Führung durch Intuition“ - Ariston Verlag 1997; daß es keine „geheime Formel“ für erfolgreiches Manage­ ment und auch nicht nur den einen, richtigen Weg gibt, hat gerade wieder eine neue, lang angelegte und umfangreiche Studie des Gallup-Instituts gezeigt - vgl. Dagmar Deckstein: „Kleines FührungsGeheimnis“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 53 vom 05.03.2001, S. 24

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Theorie abzutun. Andererseits ist zuzugeben, daß der hier gewiesene Weg alles andere als einfach ist. Jeder, der heute eine Führungsaufgabe in der Wirtschaft übernimmt, sollte sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigen, auch wenn - oder gerade weil - es nor­ malerweise nicht Teil seiner bisherigen Ausbildung ist. Möge sich dieser Beitrag dazu eignen, als einstimmende Lektüre den Vorständen - vielleicht zu Weihnach­ ten, vor Beginn eines neuen Jahres mit neuen Vorsätzen - in die Hand zu drükken, sowie jedem Trainee am Anfang seiner hoffnungsvollen Laufbahn als Pflichtbaustein zu überreichen, nicht um ihm bequeme Antworten zu geben, son­ dern zu eigenem Nachdenken und kritischer Weiterentwicklung anzuregen. Wir brauchen nicht mehr Manager und Technokraten, sondern vor allem menschlich orientierte Persönlichkeiten und individuelle Führung. In diesem Sinne ist dieses nicht nur ein Beitrag zur tatsächlichen oder scheinbaren Kontro­ verse zwischen Eigennutz und Moral, zwischen Chaos und leitbildhafter Orientie­ rung, sondern ein Plädoyer für praktizierten Humanismus im Wirtschaftsleben hier und heute als Voraussetzung für dauerhaften ökonomischen Erfolg.

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Ausgangslage und Umfeld Wenn es angesichts des oft beklagten und schon viel zu lange anhaltenden Re­ form- und Innovationsstaus,7 der mangelnden finanziellen, technischen Ressour­ cen und qualitativen personellen Kapazitäten im aktuellen Wirtschaftsleben ein Problem nicht gibt, dann ist es der Erfindungsreichtum und Überfluß an großen Worten und spektakulären Begriffen aus dem „unerschöpflichen Rohstoff Spra­ che“.8 Pathetische Worthülsen und „Floskelreden“ - oder liegt es nur an der „Un­ schärfe der Begriffe“?9 - ermöglichen einen zügigen Umgang mit Dingen, die auf ihre Substanz hin zu untersuchen viele sich gar nicht mehr zumuten,10 schon weil niemand sich dem Verdacht aussetzen will, daß er nicht auf dem laufenden Stand ist und ohnehin alles bestens im Griff hat. Noch schlimmer wird es, wenn die „sprachliche Virtuosität“ und „die Kraft der Worte die Welt nach Wunsch in Position zu drehen“ erlaubt,11 und die so viel beschworene neue Führung nur als die alte Fremdsteuerung in neuem begrifflichen Gewand als „Vertrauenskultur“, „Unternehmer im Unternehmen“, „Selbstverantwortung“ und „Zeitsouveränität“

Derzeit sind gleichzeitig in der öffentlichen Diskussion so grundsätzliche Themen wie Steuerreform, Rentenreform, Bildungsreform, Justizreform, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, Reform der Zuwanderung bzw. des Asylrechts sowie Bundeswehrreform u.v.a. mehr; gerade erst hat auch der Bundesverband der Deutschen Industrie anläßlich seiner Jahrestagung wieder durch seinen Vorsitzen­ den Hans-Olaf Henkel eine stärkere Reformbereitschaft bei den Unternehmen angemahnt und die Gefahr aufgezeigt, daß vor allem Selbstzufriedenheit verhindere, positive Konjunktur- und Arbeits­ marktdaten auch auf den Arbeitsmarkt zu übertragen - „BDI kritisiert Selbstzufriedenheit“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 146 vom 28.06.2000, S. 25; für ein schnelleres Reformtempo auch Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle in dem Interview: „Die nächste Fusionsphase bei den Banken kommt euro­ paweit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 146 vom 28.06.2000, S. 27 8 Leo Sucharewicz, Sprachpsychologe und Berater in München: „Sprudelnde Sprach-Reserven“ - SZManagement - Süddeutsche Zeitung Nr. 276 vom 29.11.1999, S. 26; vgl. im weiteren Umfeld dazu auch Franz- Benno Delonge: „Rückhaltlose Aufklärung - Politiker-Deutsch für Anfänger“ - Eichbom Verlag 2000 und die Besprechung von Felix Berth: „Ein Sammler von Phrasen und Parolen“ - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 206 vom 07.09.2000, S. L3 9 Hans-Herbert Holzamer: „Viele Floskeln, wenig neue Impulse“ - Bericht über den 8. Kongreß .Menschen fuhren zum Erfolg* der Deutschen Gesellschaft für Personal Führung in Wiesbaden Süddeutsche Zeitung Nr. 138 vom 19./20.06.1999, S. Vl/1 (Bildung und Beruf); ders.: „Eine Un­ schärfe der Begriffe“ - Personal Führung 8/1999, S. 60 10 Vgl. zur Umsetzung in das alltägliche Handeln „Ethik in der Wirtschaft: Nur in Sonntagsreden?“ Interview mit dem Personal- und Finanzvorstand und Mitglied im internationalen European Business Ethics Network (EBEN) Michael Heinrich der Müller Weingarten AG - Personalfuhrung 5/1999, S. 4 ff.; kritisch in diesem Sinne auch Klaus M. Leisinger, S. 9 und 10 11 Thomas Hübner: „Quacksalbrige Worte“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 111 vom

15.05.2000, S. 27

16

auf „subtile Weise praktiziert“ wird.12 So verliert die Sprache immer mehr ihre Rolle als Träger von Sinn und Verständigung und wird statt dessen zu einem sich selbst genügenden Mittel fur Show, Joke, Verballhornung, Event und respektloser Beziehung zum jeweiligen Adressaten. So erging es etwa seit Beginn der achtziger Jahre auch der Untemehmenskultur, als alle Welt vor allem von den Bestsellerautoren Thomas J. Peters und Robert H. Waterman erfuhr, daß das „überragende Kennzeichen ..(erfolgreicher).. Unter­ nehmen die aus festgefugten Überzeugungen erwachsende Intensität der Firmen­ kultur“ sei.13 Man fühlte sich wahrhaftig geschlagen von dem sich daran anschlie­ ßenden verbalen Getöse, das scheinbar als Sachthema behandelt sich inhaltlich als nur wenig konkret oder operational erwies, und das noch weniger speziell an irgend jemanden als Handlungsaufforderung adressiert war. Untemehmenskultur blieb ein etikettierender Sammelbegriff mit seinen vielfältigen Aspekten und willkürlichen Akzentuierungen, der auf alle wie ein duftiger, weicher Nebel her­ niederkam, aber im Ergebnis allenfalls Verunsicherungen auslöste, ohne daß Hilfe in Sicht war. Man las es, staunte, redete darüber wie von einem fremden Stern. Aber konkret passiert ist wenig. Es scheint, als ob sich dieser Nebel inzwi­ schen wieder etwas verzogen hat. Dafür hat Ethik nunmehr Konjunktur,14 obwohl es gerade auch in der deutsch­ sprachigen Betriebswirtschaftslehre schon früher entsprechende Ansätze und Diskussionen gab.15 Jetzt aber sprechen auch alle Praktiker vom „Value Mana­ gement“ oder „Value-based-Management“, von dem „Managing-By-ValuesPrinzip“ oder einer „neuen Management-Ethik“.16 Wer fühlt sich nicht unwillkür­ lich an den Wandel der Mode erinnert, von der auch nicht immer gesagt werden kann, warum sie sich ändert und in welche Richtung. Es mag hier wie dort daran liegen, daß eine Welle von irgendwoher, nunmehr aus den USA nach Europa überschwappt, vielleicht aber auch daran, „daß die Moral besonders in Zeiten des Niedergangs blüht. Wenn die natürliche und gütige Haltung der Menschen unter­ einander aufgehört hat, etwas Selbstverständliches zu sein, dann blüht der Weizen der Moral.“17 Bericht zum 8. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Personalführung 1999 in Wiesbaden Personalfuhrung 8/1999, S. 52 ff. (59) 13 Thomas J. Peters u. Robert H. Watermann, S. 39 (auch S. 102, 103 und besonders 131 ff.) 14

Herbert Mainusch, S. 11 15 Vgl. dazu etwa Udo Neugebauer: „Untemehmensethik in der Betriebswirtschaftslehre“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1998 16 Vgl. den Titel von Ken Blanchard u. Michael 0’ Connor (amerikanischer Originaltitel: „Managing

By Values“, San Francisco) - Hoffmann und Campe 1998, Titel und S. 32; „Managing by values“ nannte das Wirtschaftsmagazin „Business Week“ auch den Ansatz bei Levi Strauss - vgl. Wolfgang Him: „Moral und Moneten“ - Manager Magazin 12/1996, S. 124 ff. (zu den „sechs Geboten“ wie „offen“, „kommunikativ“, „sozial“, „verantwortlich“, „leistungsfördemd“ und „dezentral“ vgl. S. 125) 17 Richard Wilhelm, S. 152

17

Auch diesen neuen, vielen noch ungewohnten verbalen Kraftakten ergeht es inhaltlich bereits ähnlich wie der Untemehmenskultur. Was sie jeweils konkret bedeuten oder was zu tun ist, bleibt besonders Praktikern ebenso unklar. Es ist ihnen angesichts zahlreicher und höchst unterschiedlicher, meistens privater Mei­ nungen gänzlich ungewiß und nicht selten unheimlich, worauf sie sich dabei einlassen würden. Aber alle sprechen darüber, sowohl diejenigen, die sich über­ haupt schon einmal damit befaßt haben, aber auch alle die anderen, die längst die Hemmschwellen überwunden haben, sich täglich und stündlich über alles äußern zu können, auch wenn ihnen dafür jegliche sachliche oder menschliche Grundla­ ge fehlt. Alles, was sich nicht in wenigen Sätzen sagen läßt, ist zudem „viel zu theoretisch“ und kompliziert, als daß man sich damit ernsthaft - oder wirksam in der Praxis auseinandersetzen könnte. Während es hierzu vor allem in den USA schon einige Jahre thematische Vor­ läufer gibt18 und „business ethics“ seit den 70er Jahren diskutiert werden, steckt „Wirtschaftsethik“ in Deutschland noch immer „in den Kinderschuhen“.19 Sie scheint sich aber auch in Deutschland in eine ähnliche Richtung zu entwickeln, nachdem sich inzwischen in unterschiedlicher Weise auch hier einige Unterneh­ men - vor allem die Bauindustrie, Versand- und Kaufhäuser, Wirtschaftsprü­ fungsgesellschaften und Automobilhersteller - mit entsprechenden Beispielen hervortun.20 Es besteht aller Anlaß und höchste Zeit, gerade aus der Sicht der Praxis einige klärende Fragen zu stellen und die Substanz eines Phänomens zu diskutieren, das auf hohem Abstraktionsgrad in seiner wirtschaftlichen Relevanz nicht geleugnet werden kann und auch nicht bestritten wird. Dabei sollen nicht einfach appellhaft vorgegebene Wertemuster zum Ausgangspunkt der Betrachtungen gemacht wer­ den, wie das sonst in aller Regel geschieht, sondern eher aus der Gegenrichtung - also bei den Menschen, zu denen das Unternehmen in Beziehungen steht - die relevanten Ansatzpunkte gesucht werden. Auch bereits bestehende, grundsätzli­ che und durchaus beachtliche Darstellungen zu diesem weitreichenden Thema 18

Siehe die Darstellungen bei Geert Hofstede, S. 248, Thomas J. Peters u. Robert H. Watermann, S. 131 ff. und Ulrich A. Wever, S. 9; Josef Wieland, FH Konstanz und Direktor des Konstanz Institut für WerteManagement sowie des Zentrums für Wirtschaftsethik, Forschungsinstitut des Deutschen Netz­ werks Wirtschaftsethik, berichtet, daß heute mehr als 90 Prozent der nordamerikanischen Unterneh­ men einen „code of ethics“ oder „code of conduct“ haben, 40 Prozent dieser Firmen die Umsetzung ihrer codes durch einen „Ethics Officer“ betreiben und die Vereinigung der Ethikmanager mehr als 300 institutioneile Mitglieder hat - Personalführung 8/1999, S. 18; neuerdings auch Volker Wörl: „Gut und Böse als Managementprobleme in Deutschland und Amerika“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.2001, S. 24 in seiner Besprechung der weiterführenden Dissertation von Bettina Palazzo: „Interkulturelle Untemehmensethik: Deutsche und amerikanische Modelle im Vergleich“ - Gabler Edition Wissenschaft im Deutschen Universitätsverlag 19 Helga Einecke: „Erst wenn es schmerzt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 27 20 Vgl. Josef Wieland: „Ethik im Unternehmen - Ein Widerspruch in sich selbst?“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 18 ff.

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- teils unter sehr hoch hängenden Überschriften wie „Macht und Moral“21 - sol­ len nicht nur nicht wiederholt, sondern mit allen darin enthaltenen richtigen As­ pekten und Einsichten etwas operationaler gemacht werden. Viele theoretische Erkenntnisse - etwa „Macht neigt dazu, sich mit Tugend zu verwechseln“22 stehen oft recht beziehungslos auf dem Papier und vermitteln allenfalls gute oder weniger gute Gefühle. Sie zeigen aber noch keine klare Zielrichtung auf und lösen auch keine konkreten Handlungsschritte aus. Management als aktives Be­ mühen um zielgerichtete Realisierung im Rahmen des unternehmerischen Zwecks benötigt nun einmal neben allgemeinen Erkenntnissen konkrete, deduktiv aus dem tatsächlichen Geschehen gewonnene Ansatzpunkte für Veränderungen in eine letztlich ökonomisch wirksame Richtung. Die damit bevorzugte Handlungsorientierung spricht für eine Personifizierung des Themas, denn sie hat stets einen Adressaten.23 Versuchen wir daher zunächst einmal, auch unternehmerische Macht und Einfluß einfach nur als Facetten der „Untemehmenspersönlichkeit“ zu begreifen und an die Stelle der Moral die vie­ len näher liegende „ökonomische Vernunft“ an den Anfang zu setzen, zumal sich beide ohnehin wechselseitig bedingen und beeinflussen. Als Gegenstand von Management und Führung verdienen sie beide - wenn auch in unterschiedlicher Weise - alle Aufmerksamkeit. Sie zu verstehen, glaubwürdig und überzeugend auszubalanciercn und damit zwangsläufig auch soziale Anschauungen einzube­ ziehen gehört zum Kernbereich erfolgreicher Untemehmensführung, die damit zugleich auch humanitäre und ethische Ziele und Grundsätze verwirklicht. War­ um das in hohem Maße so ist oder als Folge vieler zielführender Wechselbezie­ hungen möglich erscheint, soll hier versucht werden aufzuzeigen.

Erfolgsfaktor „Unternehmenskultur “ - was ist daraus geworden? Wenden wir uns zunächst noch einmal der Ausgangslage und dem auslösenden Thema der »Unternehmenskultur4 zu.

21 Unter diesem Titel gibt es Bücher von Zbigniew Brezinski für den politischen Bereich - Verlag

Hoffmann u. Campe 1994 - und von Rupert Lay - Untertitel: „Untemehmenserfolg durch ethisches Management“ - Econ Verlag 1990 22 J. William Fulbright - zitiert in der Besprechung seines Buches: „Die Arroganz der Macht“ von Hans Heigert unter dem Titel: „Moral als Instrument der Kritik“ - Süddeutsche Zeitung vom 23./24.09.1995 23 Vgl. auch Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 255, 06.11.2000, S. 26

19

Von der Entdeckung eines Phänomens... Als die wirtschaftende Zunft zum ersten Male massiv aufgeschreckt wurde durch die umfangreich begründete Darlegung, daß Untemehmenskultur ein Erfolgsfak­ tor sei,24 waren sich viele Unternehmen und ihre Repräsentanten bis dahin gar nicht recht bewußt, daß sie eine Untemehmenskultur haben, geschweige denn, worin sie besteht und woher sie kommt. Manche haben überhaupt ein solches Phänomen schlicht geleugnet, und einige tun das auch heute noch. Das mag sich dadurch erklären, daß ein solcher Sammelbegriff seine einzelnen Wirkelemente nicht transparent werden läßt. Dazu kommt, daß im allgemeinen traditionellen Verständnis Wirtschaft und Kultur eher voneinander geschieden sind, ja geradezu als Beleg für Gegensätze herangezogen werden, die sich ausschließen. Dabei schwingen eine Reihe von Assoziationen mit, die für das eine oder das andere kennzeichnend erscheinen, aber jeweils eine eigene Welt markieren. Die eine Welt ist vernünftig, rational, gestaltbar, fruchtbar und insoweit vor allem auch in Zahlen darstellbar. Sie erhält uns. Zu ihr gehören Produkte, Ideen und Innovationen, Qualität, Verfahren und Preise. Am Ende steht der Gewinn. Hier wird nachvollziehbar Geld verdient. Die andere Welt ist weniger klar greif­ bar, eher emotional, ein bißchen Luxus, scheinbar überflüssig, und sie kostet etwas. Gefühle, Eigenschaften, Beziehungen, Verhaltensweisen und Umgang gelten im allgemeinen als Privatsache. Sie sind - ökonomisch betrachtet - nicht nützlich, sondern eher hinderlich und teuer, weil sie von dem ersten ablenken. Hier wird Geld aufgewendet und konsumiert. Wie also soll das je zusammenge­ hen? Allenfalls in der Art, daß sich die eine Welt einmal als Mäzen der anderen gibt?25 Nur so erleben es auch viele. Auf den ersten Blick erscheint damit der schon „klassische Konflikt zwischen Profit und Ethik“26 nicht als kulturelles Problem lösbar, weil sich ethische Forde­ 24

Vgl. dazu neben den oben bereits zitierten Autoren auch Geert Hofstede, S. 267 ff. sowie die Um­ frage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln bei 289 Unternehmen verschiedener Branchen dargestellt bei Marion Hüchtermann u. Werner Lenske: „Wettbewerbsfaktor Untemehmenskultur“ Beiträge zur Gesellschaft- und Bildungspolitik des Instituts Nr. 168 Köln 1991, in der 57 Prozent der Befragten die Untemehmenskultur als entscheidenden Erfolgsfaktor bejaht haben; vgl. auch OefnerPy, Stefan et alt.: „Der Erfolg, der von innen kommt“ - Gablers Magazin, 10. Jahrg. 1996, Heft 9, S. 14-18; Ulrich A. Wever, S. 15 und 39; Studie der Stuttgarter Untemehmensberatung Management Partner zusammen mit INSEAD, dem größten internationalen Managementinstitut für Untemehmensführung in Europa in dem Bericht von Martina Brückner: „Die entscheidende Rolle des Kopfes an der Spitze“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 17./18.11.1995, S. K2; Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 9 25 Vgl. etwa zur Kulturarbeit der Deutschen Bank den Beitrag: „Ein tolles Schauspiel“ - DER SPIE­

GEL 29/1999, S. 108 ff. 26 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 77 mit den verschiedenen Lösungstypen; vgl. dazu auch Hand­ buch der Wirtschaftsethik, Bände 1-4, herausg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff

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rungen und ein angeblich oder tatsächlich „rein ökonomisch ausgerichteter Wett­ bewerb“ widersprechen.27 Auch wenn die Erwartungen verschiedener Beziehun­ gen sich im ständigen Verteilungskampf untereinander überschneiden, stehen sich offenbar insbesondere Wettbewerb und Moral - ein moralischer Aspekt ist etwa die Solidarität28 - gegenseitig im Wege. Und ist es nicht auch so, daß jemand, der „kostenträchtige moralische Vor- und Mehrleistungen erbringt, z.B. Soziallei­ stungen oder Umweltschutz, ... gegenüber weniger moralischen Wettbewerbern zurück(fällt)?“29 Auch die Auffassungen, wonach Ethik und Moral immer Geld kosten30 oder „keine Ethik ... vom einzelnen verlangen (kann), daß er bei einer Befolgung von Werten dauerhaft massive Benachteiligungen in Kauf nimmt“, scheinen dieses zu bestätigen.31 Bei kurzfristiger Betrachtung ist das auch kaum zu bestreiten. Noch immer gibt es Seminare darüber, ob die wirtschaftlichen Be­ dingungen und Rahmen es überhaupt erlauben, ethische Prinzipien beizubehal­ ten.32 Kapitalismus und Menschlichkeit, das von Adam Smith herausgestellte „Eigeninteresse“ und die gleichzeitig angestrebte „Sympathie unserer Mitmen­ schen“33 - ist das überhaupt miteinander vereinbar? Nun ist also auch für Unternehmen untersucht und im Ergebnis bestätigt wor­ den, daß Kultur eine wirtschaftliche Bedeutung und Auswirkung hat, was in grö­ ßeren Gemeinschaften wie einem Staat und damit in der Nationalökonomie längst zur Überzeugung vieler gehört. National typische Eigenschaften und Verhaltens­ weisen charakterisieren Produkte und Qualitäten. So hat der ehemalige japanische Premierminister Yasuhiro Nakasone kürzlich wieder festgestellt, daß auch Politik und Wirtschaft nur im Einklang mit der Kultur eines Landes gedeihen können,34 und Koll, Gütersloher Verlagshaus - bespr. von Volker Wörl: „Die Balance zwischen Eigennutz und Moral“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 301 vom 29.12.1999, S. 27 27 Nach Karl Homann liegt hierin das „Grundproblem einer modernen Ordnungstheorie“ - vgl. „Ver­ fall der Moral?“ - Wirtschaftswoche Nr. 38 vom 12.09.1996, S. 38; ähnlich auch Louis von Planta Vorwort zu Klaus M. Leisinger, S. 8 28 „Jede Gesellschaft braucht ein Mindestmaß an Solidarität“ - so der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr in dem Interview: „Der Genussmensch ohne Herz“ - DER SPIEGEL 49/2000, S. 188 ff. 29 So - einschl. der Zitate - Karl Homann, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik der Universität Eichstätt - SZ-Gespräch in Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 04.02.1998, S. 32; vgl. auch Brigitta Lentz: „Der Treue ist der Dumme“ zu Treue und Verläßlichkeit von Managern und Mitarbei­ tern, Kunden und Aktionären - Capital 8/1997, S. 54 30 Ebenso - zumindest für eine kurzfristige Betrachtung - Klaus M. Leisinger, S. 175 31 Rupert Lay: „Kultur und Unkultur im Unternehmen“ - Personal ftihrung 8/1999, S. 48; vgl. dazu auch die Systematisierung bei Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 37 ff. 32 Wafi Al-Baghdadi: „Lean Management aus ethischer Sicht: Der Mensch steht im Mittelpunkt“ Personalftihrung 12/1993, S. 1050 ff. 33 Nikolaus Piper: „Die Moral der Ökonomie ... und die Ökonomie der Moral“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 277 vom 01.12.1999, S. 17 14 Yasuhiro Nakasone: „Japan wird gesund“ - Standpunkt - DER SPIEGEL 28/1999, S. 148

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auch wenn es neuerdings viele Tendenzen gibt, sich im Rahmen zunehmender Globalisierung den Standards der übrigen, vor allem der westlichen Welt anzu­ passen.35 Inzwischen hat sich für viele nun auch auf ganz andere Weise konkret und persönlich spürbar gezeigt, daß Untemehmenskultur wirtschaftliche Auswirkun­ gen hat. Besonders bei den zahlreichen Reorganisationsmaßnahmen in den Un­ ternehmen wurde immer deutlicher, daß allein 70 Prozent davon deshalb schei­ tern, weil auf die Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird.36 Mehr als die Hälfte37 bis zwei Drittel38 aller groß angekündigten Fusionen und Übernahmen aus durchaus selbstbewußten Unternehmen mit bislang sehr unterschiedlichen Werte- und Normenwelten erfüllen nicht die Ziele und die in sie gesetzten Erwartungen des Managements und der Aktionäre, weil die Unter­ nehmenskulturen nicht zusammenpassen und es nicht gelingt, sie weiter zu ent­ wickeln oder neu zu bilden.39 Als häufigster Grund für die Mißerfolge wird er­ 35 Wieland Wagner: „Abschied von Konfuzius - nach einem Jahrzehnt der Dauerkrise setzen die Japaner auf einen radikalen Umbau ihrer Wirtschaft ...” - DER SPIEGEL 1/2000, S. 78 ff. 36 Hans Scholten, Untemehmensberater, in einem Interview sowie die Befragung der Management

Akademie Bad Harzburg bei 350 Führungskräften: „Wir wollen so bleiben wie wir sind“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. V1/1 37 Marc Beise: „Die Gier nach Größe“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 22.10.1999, S. 4 38

Max Otte, Prof, der Boston University, Massachussetts, USA - zitiert nach Veronika Renkes: „Fusionspartner spielen Titanic“ - Bericht über einen Tag der Weiterbildung, der vom Universitätsse­ minar der Wirtschaft (USW) auf Schloß Gracht in Erfstadt veranstaltet wurde; ebenso die Feststellun­ gen des amerikanischen Beratungsuntemehmens A.T. Keamey - Süddeutsche Zeitung Nr. 25 vom 01.02.2000, S. 25 und die Studie des Roffey Park Management Institutes vom Oktober 1998 - zitiert bei Ulrich Althauser und Dagmar Tonscheidt-Göstl: „Kultur Due Diligence - Erfolgsfaktor bei Fusio­ nen und Akquisitionen“ - Personalwirtschaft 8/1999, S. 40 ff.; vgl. dazu auch eine Harvard-Studie, wonach Fusionen in den letzten hundert Jahren in zwei Drittel der Fälle „schlicht Kapital vernichte­ ten“; nach Untersuchungen der Wirtschafts- und Untemehmensberatung Pricewaterhouse-Coopers (PwC) hat es allein in den letzten fünf Jahren weltweit 40000 Fusionen gegeben mit einem Gesamt­ wert von fünf Billionen Dollar. Mehr als 80 Prozent davon hat nicht einmal die Kapitalkosten der Transaktionen erwirtschaftet - zit. nach Dagmar Deckstein: „Frösche, Hasenfuße, Hasardeure“ - SZManagement - Süddeutsche Zeitung Nr. 105 vom 08.05.2000, S. 24; auch die Aktienkurse des Ener­ gieversorgers Eon nach der Fusion von Viag und Veba befinden sich seit geraumer Zeit auf einem Abwärtstrend - vgl. „Aktie unter der Lupe: Zukunftspläne von Eon verstimmen Analysten“ - Han­ delsblatt Nr. 44 vom 02./03.03.2001, S. 54 39 Vgl. zum Beispiel der Fusion der Münchner Großbanken Vereins- und Hypobank Johannes Spannagl: „Bei einer Fusion kommt es darauf an, keine Verlierer zu produzieren“ - Handelsblatt vom 11.09.1998; vgl. dazu auch „Frust mit Fusionen“ - DER SPIEGEL 42/1999, S. 121; ebenso hierzu Angelika Buchholz: „Langstreckenläufer Albrecht Schmidt ist noch nicht am Ziel - Der gelungene Auftakt der Fusion wurde durch Kultur-Unterschiede der besonderen Art schnell zunichte gemacht“ Süddeutsche Zeitung Nr. 154 vom 07.07.2000, S. 26; andere aktuelle Beispiele sind die Fusionen der Deutschen Bank mit Bankers Trust sowie von Hoechst und Rhone-Poulenc sowie von DaimlerChrys­ ler; ein anschauliches Beispiel für eine falsche Einschätzung der Personalpolitik bietet auch der Münchner Softwarehersteller TBS Labs, der nach anfänglichen Mißerfolgen mit einer eingekauften professionellen Vertriebsmannschaft den Fehler erkannte und die Kehrtwende schaffte - Bericht von

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kannt, daß die Bedeutung einer Corporate Identity vom Management unterschätzt wurde. Wie Beispiele - das Zusammengehen der Deutschen Bank mit Bankers Trust40 - zeigen, ist es der „Kulturschock“,41 den zu vermeiden oder konstruktiv zu nutzen42 von den Verantwortlichen nicht beherrscht wird.43 Es wird mit Recht schon die Frage gestellt, wie lange sich die Shareholder diese Mißerfolge im Management überhaupt noch gefallen lassen wollen.44 Mitunter stehen nicht nur die Kulturen einzelner Unternehmen, sondern die Verschiedenheiten ganzer Kulturkreise gegeneinander, wie das immer wieder zwischen den USA und Europa sichtbar wird,45 ohne daß diese Einsicht dem unbesehenen, hemmungslosen Kopieren amerikanischer Verhältnisse in Fragen des Managements in Deutschland Einhalt gebieten würde. Selbst innerhalb Euro­ pas liegen den Rechtsauffassungen, aber auch den sozialen Wertausprägungen etwa Frankreichs und Deutschlands höchst unterschiedliche Wertewelten zugrun­ de. Das hat sich beispielsweise gezeigt bei der Fusion der deutschen DASA und Dirk Hinrich Heilmann: „Alles umgekrempelt“ - Handelsblatt/Karriere vom 24./25.03.2000, S. K 10; vgl. auch Stephan A. Jansen u. Niko Pohlmann: „Anforderungen und Zumutungen: Das HR Manage­ ment bei Fusionen“ - Personalftihrung 2/2000, S. 30 ff. m.w. Nachw.; ebenso: „Warum Fusionen scheitern“ - zu den Recherchen des Geschäftsführers Jörg Wirtgen der Untemehmensberatung WMConsult in Moers - Personalftihrung 2/2000, S. 46; eine Aufstellung der in letzter Zeit „geplatzten 14 Großfusionen“ zeigt die Süddeutsche Zeitung Nr. 82 vom 07.04.2000, S. 29, die spektakulärsten Fu­ sionen 1999 in Europa - Süddeutsche Zeitung Nr. 299 vom 27.12.1999, S. 22; vgl. dazu auch Dinah Deckstein und Dietmar Hawranek: „Revolution von oben“ - DER SPIEGEL 40/1999, S. 136 ff. 40 Human-Resource Manager Heinz Fischer, Deutsche Bank - zitiert nach Veronika Renkes: „Fusi­ onspartner spielen Titanic“ - Bericht über einen Tag der Weiterbildung, der vom Universitätsseminar der Wirtschaft (USW) auf Schloß Gracht in Erfstadt veranstaltet wurde. 41 Angelika Fritsche: „Kulturschock für die Mitarbeiter“ - Viele Fusionen scheitern daran, daß sich die Beschäftigten nicht mit dem neuen Unternehmen identifizieren - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1 42 Vgl. das Praxisbeispiel der französischen Einzelhandelskette Monoprix, bei der nicht Qualitätsver­ besserung oder Kostensenkung, sondern die schnelle Änderung der Untemehmenskultur das größte Problem war - Charles Waldmann und Pascale Balze: „Heilsamer Kulturschock“ - Handels­ blatt/Karriere vom 24./25.03.2000, S. K 4 43 So die Erfahrungen des Managing Directors und Investment-Bankers von J.P. Morgan John B. Jetter - vgl. dazu den Bericht von Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27 44 Jürgen Weibier, Prof, an der Femuniversität Hagen - Handelsblatt/Karriere vom 28./29.04.2000, S. K3; vgl. dazu auch Dagmar Deckstein: „Frösche, Hasenfuße, Hasardeure" - SZ-Management Süddeutsche Zeitung Nr. 105 vom 08.05.2000, S. 24; gegenüber einem ursprünglichen Börsenwert von DaimlerChrysler im Mai 1999 von 95 Milliarden Dollar ist dieser bis zur Mitte Juli 2000 auf ca. 55 Milliarden Dollar gesunken - vgl. Karl-Heinz Büschemann: „Fusion geglückt, Ergebnis enttäu­ schend“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 159 vom 13.07.2000, S. 27 45 Vgl. dazu auch Günther R. Vollmer und David A. Ralston: „Werthaltungen deutscher und amerika­ nischer Führungskräfte im Vergleich“ - PERSONAL 9/1999, S. 444 ff.; auch der ZEIT-Herausgeber Theo Sommer warnt vor „amerikanischen Verhältnissen in der Arbeitswelt“ in seinem Buch: „Der Zukunft entgegen“ - Rowohlt Verlag Reinbek 1999 und die Besprechung von Catrin Bialek: „Wohin die Pendel schlagen“ - Handelsblatt vom 03 ./04.12.1999, S. G 9

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der französischen Aerospatiale Matra, wo unterschiedliche Einflußmöglichkeiten der Arbeitnehmer die Sorge der deutschen Betriebsräte bestärkten, daß Mitbe­ stimmungsrechte entfallen und künftig angesichts der Dominanz des französi­ schen Einflusses nur noch Entscheidungen ausschließlich nach betriebswirtschaft­ lichen Kriterien getroffen würden.46 Es ist nicht damit getan, die Abwehr feindlicher Übernahmen wie im Beispiel der britischen Vodafone Air Touch gegenüber dem deutschen Unternehmen Mannesmann einfach als „nationalistisch“ zu kritisieren47, weil dahinter in Wahr­ heit die unterschiedlich ausgeprägte Sorge der Menschen steht, ihren historisch gewachsenen sozialen Werterahmen zu verlieren, und die mangelnde Anerken­ nung dieser Aspekte durch die entscheidenden Topmanager leicht zu einer Kul­ turrevolution fuhrt. Es geht immer noch um das historisch geprägte Selbstver­ ständnis ganzer Regionen, um Identifizierung mit der Heimatsprache, mit den gewachsenen Loyalitäten, Erfahrungen und sich daraus entwickelnden Zukunfts­ chancen.48 Gerade was die Sprache anbetrifft, ist sie in ihrer derzeitigen Hetero­ genität als typische Ausprägung der eigenen Kultur geradezu das Prüfkriterium für internationale Entwicklungen, die sich immer mehr auch von ihr entfernen, indem traditionelle Ausdrucksformen mit „neudeutschen Ausdrücken“ ersetzt werden, was hin und wieder und dann meistens weit über den sachlichen Anlaß hinaus sehr emotional kritisiert wird. Die Gründe für das Scheitern mancher groß angelegter Aktionen sind also of­ fenbar. Der wichtigste liegt zweifellos darin, daß im allgemeinen nicht schon bei den Integrationsplänen, sondern erst nach deren Vollzug begonnen wird, sich um die Menschen und ihren Verbleib zu kümmern. Für das betriebliche Personalma­ nagement ist und bleibt es eine „Zumutung“, wenn in der sogenannten „PreMerger-Phase“ oft aus Gründen der Vertraulichkeit nur Vorstände und Juristen einbezogen werden.49 Es gibt hier von Anfang an zu wenig Problembewußtsein. 46 Handelsblatt Nr. 225 vom 19./20.11.1999, S. 15 47

So ein Kommentar der britischen Zeitung Times - vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 270 vom 22.11.1999, S. 1; vgl. auch Marc Beise: „Knigge für Fusionierer“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 01./02.07.2000, S. 25 mit Hinweis darauf, daß der Präsident des Bundeskartellamts Ulf Böge diese als „ziemlich peinlich“ bezeichnet hat. 48 Mathias Müller von Blumencron und Christoph Pauly: „Globales Monopoly“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 110; Sprache als Ausdruck einer Identität erklärt sicher auch die Heftigkeit, mit der „An­ glizismen“ die Gemüter erregen und die Schärfe mancher Aussagen dazu, wie immer wieder festzu­ stellen ist - vgl. etwa „Denglisch“ - Investor 9/2000, S. 8; vgl. dazu auch Marianne Heuwagen: „Was ist deutsch? Multi, interkulturell und »Denglisch*: Die Debatte über die Leitkultur erfasst alle Partei­ en“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 252 vom 02.11.2000, S. 6 und Sylvia Englert: „Meeting kurz vorm Weekend gecancelt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 22 vom 27./28.01.2001, S. 63 (Bildung und Beruf) 49 Stephan A. Jansen u. Niko Pohlmann: „Anforderungen und Zumutungen: Das HR Management bei Fusionen“ - Personalfuhrung 2/2000, S. 30 ff. (32); ebenso die Erfahrungen des Managing Directors und Investment-Bankers John B. Jetter - vgl. dazu den Bericht von Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27 sowie Christian H.

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Daher ist die Analyse der Untemehmenskultur und Wertemanagement im Sinne einer „Cultural Diligence“ auch zu wenig Gegenstand eines vorrangigen aktiven Managements.50 Noch fataler wird es im Bereich der New Economy, wo Invest­ mentmanager angesichts der Vielfalt, Schnelligkeit und Dynamik immer weniger langfristig und sorgfältig die Geschäftsidee als solche und ihre Erfolgschancen überprüfen können, als vielmehr auf das Management und seine Fähigkeiten setzen müssen. Ohne dieses ist es gleichgültig, ob die Idee gut oder schlecht ist.51 Häufig genannt wird für das allgemeine Scheitern noch ein weiterer Grund, daß nämlich Vorstände bei derartigen Vorhaben oft zerstritten sind und gegeneinan­ der intrigieren.52 So scheitern viele Deals nur an den beteiligten Menschen, an

Molsen - Rütgers AG: „Global handeln und provinziell denken?“ - Editorial - Personalführung 11/1998, S. I; in diesem Sinne auch Joseph Wayne Brockbank, Lehrer an der Business School der University of Michigan, anl. Der Handelsblatt-Jahrestagung „Personalstrategien für das 21. Jahrhun­ dert“ - Bericht von Annette Eicker: „Pferd oder Karren - Die Wirkung der Personalarbeit auf den Untemehmenserfolg ist umso größer, je strategischer und proaktiver sie ist..“ - Handelsblatt/Karriere vom 23./24.02.2001, S. Kl 50 So auch das einsichtige, rückblickende Fazit bei der HypoVereinsbank München - vgl. Angelika

Buchholz: „Langstreckenläufer Albrecht Schmidt ist noch nicht am Ziel - Der gelungene Auftakt der Fusion wurde durch Kultur-Unterschiede der besonderen Art schnell zunichte gemacht“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 154 vom 07.07.2000, S. 26; ähnlich speziell für die Qualität des Managements in der New Economy Jochen Schein, CREDO Consulting GmbH München - SZ-Management - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 197 vom 28.08.2000, S. 24; ein Instrument für die „Messung“ der jeweiligen Unter­ nehmenskultur findet sich dargestellt bei Ulrich Althauser und Dagmar Tonscheidt-Göstl: „Kultur Due Diligence - Erfolgsfaktor bei Fusionen und Akquisitionen“ - Personalwirtschaft 8/1999, S. 40 ff. 51 Jochen Schein: „Lektoren der New Economy“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 197

vom 28.08.2000, S. 23 52 Dinah Deckstein: „Faktor Mensch“ - DER SPIEGEL 23/1999, S. 89; vgl. dazu auch Walter Joch­ mann, Kienbaum Management Consultants GmbH: „Personalmanagement nach Fusionen: Profilie­ rungschance für die Personaler“ - Handelsblatt/Management und Karriere Nr. 190 vom 01./ 02.10.1999, S. K2 mit Vorschlägen, wie das zu vermeiden ist; ebenso Marc Reise: „Die Gier nach Größe“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 22.10.1999, S. 4; Prof. Max Otte von der Boston Univer­ sity, Massachussetts, USA - zitiert nach Veronika Renkes: „Fusionspartner spielen Titanic“- Bericht über einen Tag der Weiterbildung, der vom Universitätsseminar der Wirtschaft (USW) auf Schloß Gracht in Erfstadt veranstaltet wurde; Angelika Fritsche: „Kulturschock für die Mitarbeiter“ - Viele Fusionen scheitern daran, daß sich die Beschäftigten nicht mit dem neuen Unternehmen identifizieren - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1; ebenso Martin Welge, wissenschaftli­ cher Direktor des Universitätsseminars der Wirtschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Untemehmensführung an der Universität Dortmund, in dem Interview mit Veronika Renkes - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1; G. Steingräber, Chef des amerikanischen Beratungsuntemehmens A.T. Kearney anläßlich des Weltwirtschaftsforums 2000 in Davos - Süddeutsche Zeitung Nr. 25 vom 01.02.2000, S. 25; dort auch und ebenso John Chambers, Chef des amerikanischen ElektronikUnternehmens Cisco Systems; unter Bezugnahme auf Arie de Geus („Jenseits der Ökonomie“) auch Dagmar Deckstein: „Fieberschübe nach der Fusion“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 60 vom 13.03.2000, S. 26; die sehr unterschiedlichen Meinungen im BMW-Vorstand zur Lösung der Roverproblematik hat erneut dazu geführt, daß drei Vorstände wegen anderweitiger Auffassung das Unternehmen verlassen müssen - Süddeutsche Zeitung Nr. 63 vom 16.03.2000, S. 1; zu den Macht­

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ihren Emotionen, Eitelkeiten und auch Machtgelüsten.53 Dazu kommt, daß be­ achtliche 60 Prozent der Topmanager selbst schon nicht daran glauben, daß die angestrebten Synergieeffekte erreicht werden. In der Großindustrie sehen in grenzüberschreitenden Fusionen sogar 76 Prozent von ihnen mehr die Gefahr als die Chance.54 Genau betrachtet hat auch das wieder etwas mit den unbearbeiteten persönlichen Wertanschauungen zu tun. Nun mag es ja andere gute Gründe geben, daß der Trend zu spektakulären Fu­ sionen immer größerer Einheiten schnell voranschreitet: Der meist kurzfristige Druck der Finanzmärkte55 und die Hoffnung, sich durch Größe vor feindlichen Übernahmen besser absichem zu können. Schon hier ist jedoch nicht immer nachvollziehbar, warum Großfusionen die richtige Lösung für diese Probleme sind, wenn es nicht die pure Angst vor feindlichen Übernahmen ist, die viele Vorstände vom Fusionsfieber angesteckt veranlaßt, „um jeden Preis“ mitzuma­ chen.56 Genannt wird als erster Grund für diese Hektik, sich durch Konsolidie­ rung und Führerschaft besser im weltweiten Wettbewerb behaupten zu können.57 Der Markt, eventuell die Marktfuhrerschaft, wenn sie auch qualitativ so verstan­ den und vom Kunden entsprechend honoriert wird, kann ein guter Grund sein. Nur auch hier bleibt offen, ob sich alle diese wirtschaftlichen Erwartungen so realisieren lassen, wenn die Entscheidungen nicht mehr auf sicherem und zu Ende gedachtem betriebswirtschaftlichem Kalkül beruhen. Größe bedeutet keinesfalls unbedingte Sicherheit, wie sich das an vielen Fusi­ onsbeispielen oder gravierenden Umstrukturierungen - etwa am Beispiel der Deutschen Bank AG - für die eigenen Mitarbeiter gezeigt hat. Und wenn Größe identisch wäre mit besonders hoher Kapitalrendite, dann könnte allenfalls der kämpfen bei der Fusion Thyssen und Krupp auch Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27 53 Annette Schäfer: „Manager auf dem Egotrip“ - Manager Magazin 6/1998, S. 254 ff. 54

So ein Ergebnis des „Handelsblatt-Business-Monitors“ nach einer repräsentativen Umfrage bei 816 Führungskräften der deutschen Wirtschaft - Personalfuhrung 2/2000, S. 46; vgl. auch Handelsblatt Nr. 75 vom 14./15.04.2000, S. 7 55 Vgl. dazu etwa Jan Fleischhauer, Dietmar Hawranek, Alexander Jung und Mathias Müller von Blumencron: „Es regiert die Gier“ - DER SPIEGEL 11/2000, S. 104 ff.; ebenso Harald Stöber, Vor­ standschef von Mannesmann Arcor - „Der Preis von Otelo war gut“ - SZ-Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 120 vom 28.05.1999, S. 28 56 So die Erfahrungen des Managing Directors und Investment-Bankers von J.P. Morgan John B. Jetter - vgl. dazu den Bericht von Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27; ebenso Dagmar Deckstein: „Die Angst als Motor“ - zur dementsprechenden Ansicht des Managementprofessors Manfred Kets de Vries, Insead und den Befragungsergebnissen des Münchner Psychologen Lutz von Rosenstiel - SZ-Management - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 200 vom 31.08.2000, S. 26 57 Helga Einecke: „Greifen oder gegriffen werden“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 58 vom 10.03.2000, S. 3 am Beispiel der Deutschen und Dresdner Bank; vgl. auch Ralph Schlieper-Damrich: „Integration verlangt Führung - Thesen zur,Merger-Fähigkeit“* - Personalfuhrung 2/2000, S. 40

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Aktionär sich darüber freuen. Aber auch diese Erwartung erfüllt sich nicht immer, wie sich an der Kursentwicklung der Börsen ablesen läßt.58 Auch Anleger sind von den lediglich in Aussicht gestellten Synergieeffekten oft gar nicht begei­ stert,59 zumal es keine naturwissenschaftliche Formel oder betriebswirtschaftliche Erkenntnis gibt, wonach eins und eins gleich drei ist, und auch später kaum mehr jemand - auch mangels geeigneter Kriterien - überprüft, ob und wo sie eingetre­ ten sind.60 Eine Harvard-Studie hat vielmehr gezeigt, daß Fusionen in den letzten hundert Jahren in zwei Drittel der Fälle „schlicht Kapital vernichteten“. Nach Untersuchungen der Wirtschafts- und Untemehmensberatung Pricewaterhouse­ Coopers (PwC) hat es allein in den letzten fünf Jahren weltweit 40000 Fusionen gegeben mit einem Gesamtwert von fünf Billionen Dollar. Mehr als 80 Prozent davon haben nicht einmal die Kapitalkosten der Transaktionen erwirtschaftet.61 Größe sagt für sich genommen - und ähnlich ist es auch mit anderen sogenannten Wertkriterien wie Macht und Einfluß - also „gar nichts.“ 62 Größe kann und muß 58

So ist etwa die Kursentwicklung der Aktie der HypoVereinsbank seit Beginn der Fusion am 21. Juli 1997 (Ankündigung) bis Ende Juni 2000 deutlich hinter der Entwicklung des DAX zurückgeblieben vgl. die Darstellung zum Bericht von Angelika Buchholz: „Langstreckenläufer Albrecht Schmidt ist noch nicht am Ziel - Der gelungene Auftakt der Fusion wurde durch Kultur-Unterschiede der beson­ deren Art schnell zunichte gemacht“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 154 vom 07.07.2000, S. 26 59 „Synergieeffekte können Anleger nicht begeistern“ - Die Anleger reagierten mit Enttäuschung auf die Bekanntgabe von Einzelheiten der Fusion zwischen Deutscher und Dresdner Bank - Handelsblatt Nr. 50 vom 10./11.03.2000, S. 16; Christoph Stehr: „Vier Hochzeiten und zwei Todesfälle - Mergers & Akquisition - Fusionen und Übernahmen - erregen die Gemüter der Investoren und Belegschaften gleichermaßen. Vor allem wenn die Unternehmen nicht richtig zusammenwachsen und sich wieder trennen müssen“ - Handclsblatt/Karriere und Management vom 07./08.04.2000, S. K 1; besonders auffallend kritisch ist die Kursentwicklung des sonst sehr auf Shareholder Value bedachten Unter­ nehmens DaimlerChrysler nach der deutsch-amerikanischen Großfusion, die seither „per Saldo berg­ ab“ geht; der DaimlerChrysler Chef Schrempp kann dieses offenbar seinen Aktionären nicht erklären und weicht nunmehr zur „Kurspflege“ auf Internet aus - vgl. die Berichte von Karl-Heinz Büsche­ mann: „Internet-Fan Schrempp“, „Schrempp setzt auf Internet und Börse“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 120 vom 25.05.2000, S. 28 und: „Fusion geglückt, Ergebnis enttäuschend“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 159 vom 13.07.2000, S. 27 60 So mit Recht der Münchner Betriebswirtschaftler Manuel R. Theisen: „Viele Konzerne sind nicht zu fuhren“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 14.06.2000, S. 28; auch der HypoVereinsbank-Chef Albrecht Schmidt räumt ein, daß über Erfolg oder Mißerfolg insoweit erst in ein paar Jahren ein endgültiges Urteil möglich ist - vgl. Angelika Buchholz: „Langstreckenläufer Albrecht Schmidt ist noch nicht am Ziel - Der gelungene Auftakt der Fusion wurde durch Kultur-Unterschiede der besonderen Art schnell zunichte gemacht“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 154 vom 07.07.2000, S. 26 61 Zit. nach Dagmar Deckstein: „Frösche, Hasenfuße, Hasardeure“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 105 vom 08.05.2000, S. 24 62 Ferdinand Piech, VW-Vorstandsvorsitzender, Interview mit der Süddeutschen Zeitung Nr. 4 vom 07.01.1999, S. 24; ebenso MdB Uwe Jens und Holger Grawe, Westdeutsche Landesbank in: „Genie­ streich oder Größenwahn“ - DER SPIEGEL Nr. 17/1999, S. 80 ff. (81) zum Zusammenschluß der Deutschen Telekom mit der Telecom Italia; vgl. auch „Firmenfusion“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 201 vom 01.09.1999, S. 2: „Dabei haben Studien ergeben, daß sich etwa jede dritte Großfusion nicht gelohnt hat“; vgl. auch Famy: Im Wettbewerb ist Rentabilität wichtiger als Wachstum - FAZ v.

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zu einem spezifischen Nutzen geführt werden, vor allem auch erlebbar für die Kunden, Mitarbeiter und Aktionäre. Das ist keine automatische Eigenschaft von Größe, sondern bedarf zunächst eines gezielten und erfolgreichen Wertschöp­ fungsmanagements.63 Größe hat vielleicht spezielle Vorteile, die sich als „Skalen­ effekte“ positiv bei der internationalen Präsenz, der Werbung und einem sparten­ übergreifenden Produktangebot auswirken.64 Aber auch diese Effekte müssen erst einmal hergestellt und wahrnehmbar vermittelt werden. Sie können durchaus in der besseren Fähigkeit zur Bewältigung großer Aufgaben, in größeren investiven Volumina wie Forschungs- und Entwicklungsetats, in dem synergetisch wirksa­ men geringeren Kostenaufwand liegen oder auch in einem gehäuften Wiederer­ kennungseffekt. Andererseits ist es eher umgekehrt: Größe behindert auch schon ohne aktives Tun meist Schnelligkeit, Flexibilität und Innovationskraft, fordert Bürokratie und das Ausfechten von Machtkämpfen. Größe lähmt.65 Den langjährigen Chef von General Electric, Jack Welch, flößt Größe Angst ein: „Erzählen Sie mir bloß nicht, wie groß das alles ist. Ich hasse das.“ Größe bedeutet Trägheit und Selbst­ gefälligkeit statt Schnelligkeit und Einfachheit.66 Je größer die Einheiten werden,

13.11.98; ebenso Heiner Kamps, Vorstandsvorsitzender der Kamps AG, zit. bei Dirk Neubauer: „Mit dem richtigen Konzept quillt die AG wie Hefe“ - Handelsblatt Nr. 180 vom 17./18.09.1999, S. K3; Sir Peter Bonfield, British Telecommunications: „Größe allein ist kein Wert“ - Manager Magazin 9/1999, S. 172 ff.; Dieter Heuskel von Boston Consult, zit. bei Dieter Fockenbrock: „Strategie der Zukunft liegt in der Kunst des Zerlegens“ - Handelsblatt Nr. 190 vom 01 ./02.1999, S. 27; ähnlich für den Bankenbereich auch der Commerzbankchef Martin Kohlhaussen anl. einer vom Bayemwerk veranstalteten Diskussion im Kloster Andechs - „Die deutschen Banken sind groß genug“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 244 vom 21.10.1999, S. 26; ebenso Infineon-Chef Ulrich Schumacher, Spiegelge­ spräch - DER SPIEGEL 11/2000, S. 119 ff. (120) 63 Im Ergebnis ebenso BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel in dem SZ-Interview: „Die Größe einer Firma darf kein Selbstzweck sein“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20.03.2000, S. 28 „Ist Größe ein Vorteil?“ - Bericht über das Ergebnis einer Umfrage der Untemehmensberatung Mitchel Madison Group unter 100 Vorständen der deutschen Versicherungswirtschaft - Versiche­ rungswirtschaft Heft 19/1998, S. 1324; auf die durch Größe bedingte Stärke verweist auch Ron Som­ mer, Deutsche Telekom: „Weltkonzem oder Regionalladen?“ - Interview - DER SPIEGEL 22/1999, S. 86 ff.; vgl. auch Helmut Maier-Mannhart: „Der Zwang zur Größe“ - zur Fusion der Hoechst AG mit dem Pharmakonzem Rhone-Poulenc unter dem neuen Namen Aventis - Süddeutsche Zeitung Nr. 190 vom 19.08.1999, S. 19 65 Jan Fleischhauer, Dietmar Hawranek, Alexander Jung und Mathias Müller von Blumencron: „Es 64

regiert die Gier“ - DER SPIEGEL 11/2000, S. 104 ff. (114, 115); vgl. auch Heinz Fischer: „Es ge­ winnt meistens nicht der Größte, sondern der Beste“ - Editorial zu Personalftihrung 2/2000, S. 1 ff.; Martin Kohlhaussen, Vorstandssprecher der Commerzbank und Präsident des Bundesverbandes der deutschen Banken: „Wenn etwas groß ist, muß es nicht unbedingt gut sein“ - Personal Führung 2/2000, S. 46 66 Thomas A. Stewart: „Ein wahres Kraftwerk - Die Globalisierung von General Electric ist vielleicht das wichtigste Erbe, das Jack Welch nach 19 Jahren als Chef hinterlassen wird“ - Handels­ blatt/Karriere vom 17./18.12.1999, S. K 4; vgl. dort auch (S. Kl): Annette Eicker: „Wir haben eine Bibel“ - Gespräch mit dem Deutschland-Chef Bernhard Fink zum Integrationsmanagement

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desto anonymer werden sie auch für die Menschen, für Kunden und Mitarbeiter. Um so schwerer wird es damit, Identifikationen zu schaffen und zu erhalten. Und wenn dabei ein ganzes Unternehmen oder auch nur der alte Firmenname sogar verschwindet, verlieren die Menschen nicht nur ihren Stolz, sondern den Kem ihrer Identität.67 Aber gerade mit dieser steht und fällt in der Regel die Erfüllung aller mit der Fusion verbundenen Verbesserungen und damit ihr Erfolg. Schon jetzt zeigt sich etwa auch im internen Beziehungsfeld zu den eigenen Mitarbeitern ein bedenklicher Trend durch übermäßig praktizierte „JobRotationen“68, die zwar geographische und strukturelle Breite im Wissen und in der Erfahrung vermitteln mögen, es aber immer mehr an fachlicher Tiefe fehlen lassen. Die dringend notwendigen Spezialisten, die Fachleute, die ihr Metier wirklich verstehen, die aktuelles Wissen mit Können und Erfahrung verbinden, werden so nicht mehr hinreichend herangebildet. Außerdem entwickelt sich so kaum mehr ein persönliches und loyales Verhältnis zum Vorgesetzten. Der St. Gallener Management-Experte Fredmund Malik hat daher schon vor einiger Zeit mit Recht bemängelt, daß Manager dadurch nicht besser werden, sondern nur routinierter: „Job-Rotation fuhrt dazu, daß die Leute in ihrem Lebenslauf jede Menge Positionen vorweisen können - aber kaum noch unternehmerische Ergeb­ nisse.“69 Vor allem wird die auch in Deutschland als traditionelle Stärke geltende Firmentreue so zum „Wert von gestern.“70 Wenn man Arbeitskräfte nur noch als

Mathias Müller von Blumencron und Christoph Pauly: „Globales Monopoly“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. HO ff. (111); vgl. auch Helga Einecke: „Der Coup“ - zur Fusion von Deutscher und Dresdner Bank - Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 08.03.2000, S. 23; nach Ansicht des Münsteraner Wirtschaftspsychologen Michael Krämer laufen die Vorstände bei Großfusionen Gefahr, das Vertrau­ en und damit die Motivation ihrer Mitarbeiter zu verlieren, statt das diese sich mit der Firma identifi­ zieren, um die Produkte erfolgreich vertreten zu können - Süddeutsche Zeitung Nr. 82 vom 07.04.2000, S. 28; Wolfgang Reuter: „Schmerzhafte Trennung - Enttäuschung und Ohnmacht drükken die Stimmung der Mannesmann-Belegschaft “ - DER SPIEGEL 6/2000, S. 80 ff. (81): „Der Verlust der juristischen Eigenständigkeit wird erkennbar als Verlust von persönlicher Identität erlebt, als schmerzhafte Trennung, die das Ende eines bis dahin gepflegten Wir-Gefuhls bedeutet.“ 68 Vgl. dazu die Umfrage der Frankfurter TASA Consulting Partners GmbH bei deutschen Großun­ ternehmen: „Job-Rotation macht Manager fit für die Führung“ - WELT am Sonntag Nr. 34 vom 23.08.1998; Stefan Winter: „Verein der Führungskräfte bei Volkswagen will eine neue Untemeh­ menskultur - Den Weltkonzem zusammenhalten“ - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 200 vom 15./16.10.1999, S. K2; bei der Wiesbadener Untemehmensberatung CSC Ploenzke gilt ein Aufgabenwechsel nach zwei Jahren als Grundsatz - vgl. den Bericht von Chris Löwer: „Statt Status“ - Handelsblatt/Karriere vom 1 l./l2.08.2000, S. K2; ebenso Jochen Mai: „Riskanter Rollentausch“ Wirtschaftswoche Nr. 27 vom 25.06.1998, S. 88 ff.: „Das Postenkarusell dreht sich von Jahr zu Jahr immer schneller“ 69 Zitiert nach Jochen Mai: „Riskanter Rollentausch“ - Wirtschaftswoche Nr. 27 vom 25.06.1998, S. 88 70 Imke Henkel: „Firmentreue - ein Wert von gestern - Häufige Jobwechsel, in Deutschland noch unbeliebt, sind auf dem englischen Arbeitsmarkt längst Alltag“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 287 vom 11./12.12.1999, S. Vl/1

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„manövrierbare Masse behandelt“, verringert sich die so dringend angemahnte Loyalität und damit die „Corporate Identity“71 mit allen daraus resultierenden Effizienz- und Wettbewerbsnachteilen. In der Tatsache, daß die Unternehmen deshalb auch viele ihrer Leistungsträger und besonders Mittelmanager verlieren, auf die eine erfolgreiche Fusion stets angewiesen ist, konkretisiert sich ein Teil des Schadens. Im Durchschnitt verlas­ sen im ersten Jahr bereits 47 Prozent der höheren Manager das fusionierte Unter­ nehmen, in den ersten drei Jahren sogar 72 Prozent.72 Der Chef des amerikani­ schen Elektronik-Unternehmens Cisco Systems, John Chambers berichtet, daß es in seiner Branche die Regel sei, daß 40 bis 80 Prozent der Beschäftigten nach einer Übernahme das erworbene Unternehmen verlassen.73 Unternehmen, die das besser können, gibt es freilich auch. Sie belegen, worauf es wirklich ankommt: So ist die Übernahme der kalifornischen Fondsgesellschaft Pimco durch die Allianz AG nicht nur durch gründliche Vorbereitung auf beiden Seiten wohl analysiert und durchdacht und über ein Jahr lang verhandelt worden, bevor sie verkündet wurde. Ganz entscheidend war, daß sich die Topmanager bei verschiedenen, speziell hierzu anberaumten Treffen auch privat und persönlich Klaus Boeder, Frankfurter Untemehmensberater, sowie der Heidelberger Soziologe Karl-Heinz Bette, zit. bei Thomas Hübner: „Die Schattenseiten der Flexibilisierung: Des globalen Nomadenseins müde“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 218 vom 21.09.1999, S. 28; ebenso Stefan Winter: „Verein der Führungskräfte bei Volkswagen will eine neue Untemehmenskultur - Den Weltkonzem zusammen­ halten“ - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 200 vom 15./16.10.1999, S. K2 72 Stephan A. Jansen u. Niko Pohlmann: „Anforderungen und Zumutungen: Das HR Management bei

Fusionen“ - Personal Führung 2/2000, S. 30 ff. (37) m.w. Nachw.; ebenso Martin Welge, wissenschaft­ licher Direktor des Universitätsseminars der Wirtschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Untemehmensfuhrung an der Universität Dortmund, in dem Interview mit Veronika Renkes - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1 unter Hinweis etwa auf die Beispiele Krupp/Thyssen, Deutsche Bank/Bankers Trust und Daimler/Chrysler; schon ein Jahr nach der Verkündung der Fusion von DaimlerChrysler hatte ein halbes Dutzend Top-Leute das Unternehmen verlassen - vgl. Karl-Heinz Büschemann: „Fusion geglückt, Ergebnis enttäuschend“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 159 vom 13.07.2000, S. 27; zum Beispiel der geplanten Fusion der Deutschen mit der Dresdner Bank - vgl. Titus Kroder: „Werte vernichtet - ... Top - Banker wollen kündigen“ - Handelsblatt Nr. 70 vom 07./08.04.2000, S. 14; der in diesen Fragen behutsame und erfolgreiche Allianz-Chef Henning Schul­ te-Noelle betont daher mit Recht die Wichtigkeit, an dezentralen Strukturen festzuhalten und den Fusionspartnem ihre Identität zu lassen - „Die deutschen Banken sind groß genug“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 244 vom 21.10.1999, S. 26; vgl. hierzu auch die „zehn Tipps“ von Uwe Böning, Böning Consult, Frankfurt unter dem Stichwort: „M&A und die Karrierefolgen“ - Handelsblatt/Karriere vom 01./02.09.2000, S. K2; allein 70 Prozent des Managements verlassen 1t. Institut für Mergers & Acqui­ sitions in den ersten fünf Jahren nach der Fusion das Unternehmen und wer bleibt ist demotiviert vgl. Sylvia Englert: „Anhaltende Gigantomanie - SZ-Serie: Werden Fusionen die größten Jobkiller der Zukunft sein?“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 40 vom 17./18.02.2001 (Bildung und Beruf), S. Vl/1 73 Vgl. den Bericht über das Weltwirtschaftsforum 2000 in Davos: „Viele Fusionen scheitern“ Süddeutsche Zeitung Nr. 25 vom 01.02.2000, S. 25; vgl. dazu auch Marc Kowalsky: „Ich habe Angst vor allem - Cisco-Chef John Chambers treibt die Paranoia zu immer Größerem. Die Übernahme von Unternehmen hat er dabei zum Managementprinzip erhoben“ - Handelsblatt/Karriere vom 20.04.2000, S. K 1

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näher gekommen sind. Das Ergebnis war, daß fast die gesamte Führungsriege von Pimco an Bord blieb, was in der sensiblen Investmentbranche als dem eigentli­ chen Leistungselement der Akquisition zwar entscheidend, aber noch durchaus als Seltenheit anzusehen ist.74 Diese jedoch überwiegend problematische Entwicklung läßt auch makroöko­ nomisch wieder soziale Spannungen aufkommen, die sich in der Zukunft als großes Hindernis für ein freies und gedeihliches Wirtschaften erweisen könnten. Es wäre von daher gesehen folgerichtig, die einseitig aus Kapitalsicht und kurz­ fristig nur marktbedingt motivierte Fusionsethik etwa auch im Rahmen von Richtlinien zur feindlichen Übernahme75 zusätzlich einer Sozialbindung, eines dem Management und den Beschäftigten zustehendem Selbstentscheidungsrecht zu unterwerfen, jeder Übernahme auch formell zustimmen zu müssen, wenn das nicht ohnehin im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten - etwa als vinkulierte Namensaktie, deren Übertragung an die Zustimmung des Vorstandes gebunden ist76 - geschieht. Denn wie soll das sonst gehen: „Wenn Sie sich nicht verändern wollen, dürfen Sie sich nicht kaufen lassen“ meint Norris Woodruff, General Manager der zu General Electric gehörenden Industrial Systems.77 Dieses „Sich verändern wollen“ muß einen Sinn haben, der für die Menschen im Unternehmen erkennbar ist und von ihnen auch tatsächlich geleistet werden kann. Nur dann treten auch die damit verbundenen wirtschaftlichen Effekte ein. Das bedeutet, daß

Norber Kuls und Caspar Busse: „Schulte-Noelles Rentenstar“ - Handelsblatt Nr. 97 vom 19./20.05.2000, S. 14 (Report) und Marc Beise: „Milliarden-Allianz unter südlicher Sonne“ - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 167 vom 22./23.07.2000, S: 27; vgl. auch Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle selbst in dem Interview: „Die nächste Fusionsphase bei den Banken kommt europaweit“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 146 vom 28.06.2000, S. 27 mit dem Hinweis, daß Akquisitionen besonders dann nach den Regeln partnerschaftlicher Kooperation durchgeftihrt werden müssen, wenn das Leistungs­ niveau der Mitarbeiter erhalten bleiben soll. 75 Vgl. dazu das in Deutschland vorgeschlagene Gesetz zur Regelung von Untemehmensübemahmen (zum Diskussionsentwurf des Bundesfinanzministeriums vgl. Hans Mundorf: „Arbeitnehmer spielen im Übemahmegesetz eine bescheidene Rolle“ - Handelsblatt Nr. 139 vom 21./22.07.2000, S. 7) und unabhängig davon den Entwurf für eine europäische Übemahmenrichtlinie - Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19.05.2000 und Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2000, Heft 25, S. XLV ff.; zur letzteren vgl. auch Handelsblatt vom 14.06.2000 und Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2000 (Heft 29), S. XLVII; grundsätzlich zur Rechtsentwicklung vgl. Arnd Weisner: „Abwehrmaßnah­ men gegen feindliche Übernahmen“ - Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2000 (Heft 12), S. 520 ff. 76 Nach § 68 II 1 AktG kann die Satzung einer Aktiengesellschaft die Übertragung der Aktien an die Zustimmung der Gesellschaft binden. Die Zustimmung erteilt der Vorstand, wenn die Satzung dafür nicht den Aufsichtsrat (hier evtl. Mitbestimmung der Arbeitnehmer!) oder die Hauptversammlung für zuständig erklärt. (§ 68 I 2 und 3 AktG) 77 Zitiert nach Thomas A. Stewart: „Ein wahres Kraftwerk - Die Globalisierung von General Electric ist vielleicht das wichtigste Erbe, das Jack Welch nach 19 Jahren als Chef hinterlassen wird“ - Han­ delsblatt/Karriere vom 17./18.12.1999, S. K 4

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Eigentümerschutz und die darauf basierende Dispositionsfreiheit78 einerseits und deren Sozialbindung nicht um jeden Preis schrankenlos schätzenswerte Güter sind, sondern abzuwägen sind, weil man auch im ökonomischen Interesse davon ausgehen muß, daß der mit dem Eigentum verbundene wirtschaftliche Wert nicht isoliert werden kann von den Menschen, die ihn erwirtschaften. Das hätte zur Folge, daß es in vielen Fällen jedenfalls keine feindliche Übernahme gegen den Willen der Beschäftigten mehr geben würde, weil sie - und das ist sehr im Inter­ esse der Unternehmensleitungen und der Aktionäre - zugleich wirtschaftlich sinnlos ist. Auch wenn solche Vorschläge besonders bei den Verfechtern einer ungebrem­ sten Marktwirtschaft bislang meist sofort auf strikte Ablehnung stoßen80 - eine freiwillige, auf entsprechender Einsicht basierende Verhaltensweise wäre in der Tat besser als jede Regulierung -, wenn sie zumindest jedoch zögerlich aufge­ nommen werden und daher auch als Führungsaufgabe zu lange vernachlässigt worden sind, ist es erfreulich zu sehen, daß sich jetzt doch einige - wohl aus leidvoller Erfahrung - intensiver damit befassen. Denn es gibt schon von der Logik wirtschaftlicher Gesamtabläufe her eine ,reine* Marktwirtschaft allenfalls kurzfristig unter Ausblendung der weiteren Zukunft. Insofern hat Stefan Baron recht mit seiner Aussage: „Marktwirtschaft ist menschlich.“81 Es wäre zudem nicht das erste Mal, daß die soziale Dimension als wirtschaftlicher Effizienzfaktor den Unternehmen vom Gesetzgeber aufgezwungen worden ist, weil sie - etwa in der ,Zwangskommunikation* des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes - etwas 78

Bislang mit Recht betont auch von BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel in dem SZ-Interview: „Die Größe einer Firma darf kein Selbstzweck sein“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20.03.2000, S. 28; zum Thema der „Übemahmerichtlinien“ vgl. auch Christian Reiermann, Wolfgang Reuter und Ulrich Schäfer: „Regeln für Giganten“ - DER SPIEGEL 10/2000, S. 104 ff. 79 Ebenso Helga Einecke: „Zum Scheitern verurteilt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 83 vom 08./09.04.2000, S. 25; zur Vermeidung von Mißverständnissen sei klargestellt, daß mein Vorschlag sich ausschließlich von der Sache her, also wirtschaftlich-humanitär begründet, und deshalb nicht identisch ist mit einem ähnlich lautenden, allein auf den formalen Besitzstandserhalt abzielenden und damit im Ergebnis genau gegenteiligen Antrag der PDS-Fraktion zu einem Arbeitnehmer-Vetorecht (BT-Drucksache 14/3394) - vgl. auch Zeitschrift fiir Rechtspolitik (ZRP) 2000 (Heft 7) S. 311; an den bisherigen freiwilligen Übemahmekodex der Börsensachverständigenkommission scheint sich kaum jemand zu halten, weil er keine Sanktionen vorsieht; freilich scheinen auch die Vorschläge der Exper­ ten und Börsensachverständigen zu einem dementsprechenden Gesetz und die geplante Richtlinie der EU-Kommission vorzusehen, Übernahmen weiter zu erleichtern und nicht zu erschweren - dazu Nikolaus Piper: „Schöpferische Zerstörung - Großfusionen machen Angst - trotzdem sollte der Staat Übernahmen nicht erschweren“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 59 vom 1 l./l2.03.2000, S. 4; andererseits haben Deutschlands Manager keine Angst auch vor Übernahmen durch ausländische Unternehmen vgl. Handelsblatt Business-Monitor - Handelsblatt Nr. 55 vom 17./18.03.2000, S. 1 und 8 80 Vgl. so auch Marc Beise: „Knigge für Fusionierer“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 01./ 02.07.2000, S. 25 81 Stefan Baron: „Marktwirtschaft ist menschlich“ - Wirtschaftswoche Nr. 10 vom 26.02.1998, S. 34 ff. (auch zu seinem Buch: „Die Entscheidung - Nachdenken über Deutschland“)

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bewirkt, was eigener Einsicht der für wirtschaftliche Ergebnisse Verantwortlichen jedenfalls zu diesem Zeitpunkt noch nicht entsprach und auch heute noch als „international schwer vermittelbar“ gilt.82 So machte sich das neue, synergetische und multikulturelle Unternehmen DaimlerChrysler beispielsweise Gedanken hierzu.83 Es zeigte sich nämlich auch hier, daß ein Jahr nach der formellen Verschmelzung noch immer der ,Faktor Mensch4 und die unterschiedlichen Kulturen die größte Gefahr darstellten, weil es bis dahin nicht gelungen war, eine neue multinationale Konzemidentität zu schaf­ fen.84 Nun gab es - wie könnte es bei einem so neuen Thema anders sein - über die richtige Vorgehensweise höchst unterschiedliche Meinungen. Während der eine die Vorstellung propagiert, daß eine neue gemeinsame Kultur entstehen soll, für die man eine gewisse Entwicklungszeit einplanen will, und die vor allem in einem „bestgefuhrten Unternehmen überhaupt“ ihren Ausdruck finden soll,85 glauben andere immer noch, daß dieses nur eine Frage des beherzten Zupackens durch entschlossene Macher ist. Inzwischen ist der lange als Hoffnungsträger und künftiger Spitzenmann geltende Vertreter der ersten Auffassung Thomas Stallkamp bei dem Chef des gemeinsamen neuen Unternehmens Jürgen Schrempp in Ungnade gefallen und hat das Unternehmen verlassen auch deshalb, weil er kri­ tisch und richtigerweise dessen Auffassung („Kraftakt“) widersprochen und dar­ auf aufmerksam gemacht hat, daß es einen langen und geduldigen Prozeß („lang­ sam und behutsam“) erfordert.86 Inzwischen hat der Chef selbst das Bemühen um die Zusammenführung der unterschiedlichen Kulturen aufgegeben.87 Die Füh­ rungskräfte in Deutschland haben trotz eines insgesamt positiven Grundtenors weiterhin „mentale Vorbehalte“ gegenüber der Fusion mit Chrysler zum Aus­ druck gebracht und warnen davor, den Konzern auf ein einheitliches Kulturpro-

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Marc Beise: „Knigge für Fusionierer“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 01./02.07.2000, S. 25 Interview mit DaimlerChryler-Chef Jürgen Schrempp: „Ohne Mut läuft nichts“ - Manager Magazin 11/1998, S. 78 ff. (88) 84 Dietmar Hawranek: „Daimler gegen Chrysler - Das Management des neuen Autoriesen rangelt um Prestige und Posten. Die Deutschen sind zu dominant, sagen die Amerikaner. Die US-Managerkollegen seien faul, kontern die Deutschen“ - DER SPIEGEL 24/1999, S. 100 ff. 85 DaimlerChrysler Präsident Thomas T. Stallkamp in dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Nr. 6 vom 09./10.01.1999, S. 24 und Karl-Heinz Büschemann: „Fusion geglückt, Ergebnis enttäu­ schend“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 159 vom 13.07.2000, S. 27; vgl. auch das Praxisbeispiel der DaimlerChrysler Aerospace AG in dem Bericht von Ingo Hecke: „Die Fusion als Prozeß des Change Managements“ - Personalfuhrung 2/2000, S. 16 ff. (zum Wertemanagement S. 18, 19) 86 Dietmar Hawranek: „Das gibt Ärger" - DER SPIEGEL 39/1999, S. 126 ff. (127) 83

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Vgl. den Bericht von Karl-Heinz Büschemann: „Fusion geglückt, Ergebnis enttäuschend“ - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 159 vom 13.07.2000, S. 27

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gramm einzustimmen.88 Auch andere Unternehmen wie die HypoVereinsbank in München haben inzwischen die Erfahrung gemacht, daß ein erfolgreicher Integra­ tionsprozeß nur dann gelingt, wenn man sich hierauf konzentriert und dabei zu­ nächst sogar auf ein weiteres Wachstum verzichtet.89 Die Untemehmenskultur hat nun freilich auch noch in ganz anderer Weise eine wirtschaftlich relevante Bedeutung erhalten, indem sie nämlich als „Unkultur“ schnell zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Risiko werden kann. Dazu haben viele Manager selbst beigetragen und deren leidvollen Ergebnisse erfahren. Wenn es nämlich zur Selbstverständlichkeit wird, daß beispielsweise „Schmier­ geldzahlungen fester Bestandteil der Geschäftspolitik auch in Chefetagen re­ nommierter deutscher Unternehmen“ sind,90 wenn sie sogar steuerlich absetzbar sind, wie das in Australien, Luxemburg und der Schweiz angeblich noch immer ohne Einschränkungen der Fall ist,91 ja dazu sogar „Handlungsanweisungen für Mitarbeiter“ schriftlich herausgegeben werden, legitimieren sich derartige Prakti­ ken und Formen der „Vergütung“ nur scheinbar als eine harmlose und im Ge­ schäftsleben sonst durchaus vertretbare „Provision“.92 Demgegenüber wirken die internationalen Bemühungen durch das 1997 geschlossene Abkommen zur Kor­ ruptionsbekämpfung, das nun auch ein Verbot der Bestechung von Privatperso­ nen vorsieht, wegen mangelnder Sanktionen allenfalls ein guter Appell.93 Als Folge auch solcher Erfahrungen wächst die Einsicht, daß nicht nur das Aufeinandertreffen von starken, unterschiedlichen Kulturen als kritischster Faktor für das Gelingen einer Fusion im Sinne der gemeinsamen Erreichung der be­ triebswirtschaftlichen Ziele anzusehen ist, sondern überhaupt kulturelle Aspekte und die dahinter liegenden Werteerwartungen eine immer entscheidendere Be­ deutung für erfolgreiches Wirtschaften sind. Die beteiligten Menschen folgen ihren eigenen Denk- und Verhaltensweisen, die nicht von vornherein in einer OB

„Vertuschung von Fehlern kostet Daimler-Chrysler 400 000 Dollar Strafe“ - Handelsblatt Nr. 179 vom 15.09.2000, S. 20; „Gute Stimmung bei Daimler - Die Mehrheit der Manager hält die Fusion mit Chrysler nach wie vor für richtig“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 241 vom 19.10.2000, S. 31 89 „HypoVereinsbank will profitieren“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 57 vom 09.03.2000, S. 29; vgl. dazu auch Hans-Gert Penzel u. Bernd Ratzke: „Die virtuelle Bank im Merger - Eine Organisation im Übergang“ - Personal Führung 2/2000, S. 22 ff. 90 So der Oberstaatsanwalt Wolfgang J. Schaupensteiner, Frankfurt - zitiert bei Hans Leyendecker: „Wie besteche ich meinen Geschäftspartner“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 219 vom 22.09.1999, S. 2 91 Zur deutschen Rechtslage vgl. § 4 V 1 Nr. 10 EStG in der verschärften Fassung durch das Steuer­ entlastungsgesetz 1999/2000/2002 - dazu auch Verfügung der OFD Frankfurt/M. vom 29.05.2000 Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2000 (Heft 39) S. 2880 92 Hans Leyendecker: „Wie besteche ich meinen Geschäftspartner“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 219 vom 22.09.1999, S. 2 93 Vgl. den Bericht: „Firmen sollen für Menschenrechte eintreten - OECD will bessere Umsetzung ihrer neuen Investitionsleitlinien erreichen“ - Handelsblatt Nr. 65 vom 31.03./01.04.2000, S. 12; vgl. dazu auch Klaus M. Leisinger, S. 62 ff.

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bestimmten Weise, Funktion und Ablaufsicherheit wie die Technik organisierbar sind. „Die Effizienz unternehmerischen Handelns wird langfristig von den be­ trieb- und gesellschaftlichen Lebensformen sowie von den Verhaltensweisen der Mitarbeiter zueinander aufgrund geformter Haltungen bestimmt.“94 Die ,richtige4 Untemehmenskultur ist bedeutsam und wichtig, weil sie - wie auch immer - je nach ihrer Stärke und Funktionalität das Auftreten am Markt positiv beeinflußt, die Strategieumsetzung unterstützt, Struktur und Managementsysteme beeinflußt, den Rahmen für den formalen Regelungsbedarf abgibt, Sinn, Identifikation und Motivation schafft, rasche Entscheidungsfindung ermöglicht sowie die tägliche Führungsarbeit unterstützt.95

... über sein Mißverständnis ... Nach diesen grundsätzlichen Erfahrungen und Einsichten bleibt für die meisten in der Praxis dabei dennoch die Frage offen, was sich nun hinter der ,Kultur4 oder ,Unternehmenskultur4 im einzelnen konkret verbirgt Eine weitere Frage ist, ob es für eine positive Beeinflussung der Kultur in der Wirtschaft gewissermaßen handhabbare, absolute Kriterien gibt oder doch nur die Abhängigkeit von ver­ schiedenen übergeordneten, aus Religion und Lebensform herrührenden kulturel­ len Prägungen, so daß beispielsweise japanische Unternehmen nach ganz anderen Kriterien erfolgreich sind als etwa die amerikanischen. Andererseits gibt es Ge­ meinsamkeiten, die im Menschen wurzeln und überall auf der Welt ähnlich etwa die übermäßige Strapazierung der Firmenloyalität der Mitarbeiter auch in negativer Weise96 - ausfallen. Es ist nicht klar, welche Kulturaspekte und Inhalte wann in welche Richtung wirken, welche positiv sind und welche sich als negativ erweisen. Denn mit einer Untemehmenskultur können auch Nachteile und Gefah­ ren verbunden sein, die sich vor allem als Folge eines zu starren „geschlossenen Systems“ bei Veränderungen zeigen. Wir sollten kurz zurückgehen zu dem Kem des Kulturbegriffs. Unter Bezug­ nahme auf seine lateinische Ursprungsbedeutung als „Ackerbau44 und „Pflege“ muß Kultur verstanden werden als Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Vol­ kes bei der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse, der Mittel dazu einschließlich der Techniken, Zeichen, sittlichen, religiösen und politischen Ordnungen sowie

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Otto Burgmer, Lindenthal Institut Köln: „Untemehmenskultur basiert auf Vertrauen“ - Personal­ führung 10/1997, S. 936 95 Nach der Systematik von Ilse Hantschk, S. 3 96 Vgl. dazu Andre' Kurz: „Gelbe Karte für die japanische Untemehmensfuhrung - Immer mehr entlassene oder versetzte Mitarbeiter rächen sich mit anonymen Hinweisen auf firmeninteme Fehllei­ stungen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 203 vom 04.09.2000, S. 28

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alle Bestrebungen, sie zu veredeln und zu verfeinern.97 Die analoge Übertragung dieser Bedeutung auf andere Organisationsformen wie ein ganzes Volk oder den Staat ist naheliegend. Gegenüber dieser übergeordneten Gemeinschaft bilden sie gewissermaßen hierarchisch betrachtet eine „Subkultur“.98 So können auch Un­ ternehmen angesehen werden als „ein historisch gewachsenes Gefüge von Wert­ orientierungen und Verhaltensmustem, welche als unsichtbare, nicht direkt beein­ flussbare Steuerungsgrößen das Denken und Handeln der Untemehmensmitglieder lenken und sich über Symbole verdeutlichen.“99 Edgar H. Schein, Professor für Management an der Sloan School of Management am Massachusetts Institute of Technology, definiert Untemehmenskultur als „Muster gemeinsamer Grund­ prämissen, das die Gruppe bei der Bewältigung ihrer Probleme externer Anpas­ sung und interner Integration erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bin­ dend gilt und daher an neue Mitglieder als rational und emotional korrekter An­ satz für den Umgang mit diesen Problemen weitergegeben wird.“100 In einer Um­ frage des Instituts der deutschen Wirtschaft101 wurde eine ähnliche Definition zu­ grundegelegt und von 98 Prozent der Befragten akzeptiert: „Untemehmenskultur ist ein Gefüge von Normen, Werten, Verhaltens- und Arbeitsweisen, das die betriebsintemen Strukturen, Abläufe und Entscheidungen auf der Ebene der zwi­ schenmenschlichen Beziehungen, der Technik und des Produkts bestimmt.“ Man ist sich einig darin, daß Untemehmenskultur als „Organisationskultur“ auf ein Ganzes bezogen, historisch bedingt und geprägt ist und mit Anthropologie zusammenhängt (Rituale, Symbole). Sie hat eine soziale Struktur, ist „weich“ und nur schwer zu verändern. In diesem Sinne wird sie auch beschrieben als „kollek­ tive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Organisation von einer anderen unterscheidet.“102 Andere sprechen hier auch nur schlicht von dem „Geist des Hauses.“103 Die Einflußfaktoren für die Entwicklung einer stets irgendwie vorhandenen Untemehmenskultur über längere Zeit hin sind vielfältig und häufig verwurzelt in den persönlichen Werten der Firmengründer und bedeutender Führungsperso­ 97

dtv-Lexikon 1967; vgl. auch Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 9 ff. 98 Ulrich A. Wever, S. 91 ff.

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Ilse Hantschk, S. 3; ähnlich Rupert Lay: „Kultur und Unkultur im Unternehmen“ - Personal Führung 8/1999, S. 48: „...gemeinsame Werteüberzeugungen, die neben der ökonomischen Verantwortung auch eine sittliche Verantwortung von den einzelnen abfordem“. 100 Edgar H. Schein, S. 18 ff. (25) 101 Dargestellt bei Marion Hüchtermann u. Werner Lenske: „Wettbewerbsfaktor Untemehmenskul­ tur“ - Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik des Instituts Nr. 168 Köln 1991 102 Geert Hofstede, S. 247 ff (248, 249); auch Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 50 sprechen von einem „weichen“ Prozeß wie Management durch Werte; dazu auch Rainer Herzog in Ber­ kel/Herzog, S. 16 ff. 103 Ulrich A. Wever, S. 33

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nen.104 Sie sind von daher schon für jedes Unternehmen recht unterschiedlich und differieren zudem nach Branchen, Märkten, Produkten, rechtlichen Rahmenbe­ dingungen, lokalem Umfeld, Entwicklungsstadium, Risiken, Zeitperspektive, Relation Arbeits- zu Kapitalintensität, Konkurrenzdruck, Erfolg, Menschen und Management. Untemehmenskultur ist also das spezifische Resultat von langen Auseinandersetzungen mit einer Mischung und unterschiedlichen Gewichtung aus allen diesen Elementen.105 Resultate kann man beschreiben, analysieren, nach verschiedenen Aspekten systematisieren („Typologien“106), erklären und bewerten, so wie es Peters und Waterman ja auch getan haben. Inwieweit bei einem solchen deskriptiven Ansatz über die bloße Beschreibung von Tatbeständen und wahrnehmbaren Ergebnissen hinaus in einem explikativen Ansatz107 auch die dahinter wirkenden Werte, Nor­ men und Überzeugungen erkennbar werden, aus denen dann auch Schlußfolge­ rungen für ein künftiges Handeln möglich sind, erscheint auf den ersten Blick wegen der langwierigen und komplizierten Entstehungsgeschichte schon nicht mehr so einfach. Die Übertragbarkeit kultureller Erfolgsfaktoren der Vergangen­ heit im Sinne eines erfolgreichen Wirkens auch für die Zukunft setzt zudem im­ mer vergleichbare Verhältnisse voraus, die spätestens im Detail so nur selten eintreten, und in der gleichen Art und Mischung daher grundsätzlich kaum vor­ liegen dürften.

... zum falschen Aktionsfeld Wenn nun gleichwohl die Untemehmenskultur von einer solchen Bedeutung für den Erfolg eines Unternehmens ist oder noch mehr eine falsche Kultur ein hohes Risiko begründet, dann kann keinen verantwortlichen Manager die Frage ruhen lassen, ob sie nicht - und ggf. wie - aktiv beeinflußbar, veränderbar und im Sinne des Erfolges gestaltbar ist. Besonders groß ist die Versuchung für diejenigen, die im Zusammenhang mit aktuellen Prozeßverbesserungsbemühungen („Reenginee­ ring“ - „Total Quality Management“) oder gar Untemehmenszusammenschlüssen nun doch erkannt haben, daß die eigentliche Schwachstelle immer wieder nur der 104

Geert Hofstede, S. IX (Vorwort); Ulrich A. Wever, S. 67 ff.; vgl. als Beispiel den langjährigen Bosch-Konzemchef Hans Lutz Merkle, der als Verfechter eines „moralischen Kapitalismus“ galt DIE WELT vom 27.09.2000, S. 13 105 Ilse Hantschk, S. 3; vgl. dazu auch Jörg Staute, S. 201 ff. zu den Möglichkeiten des Managements. 106 Eine solche nach den Kriterien „Risiko“ und „feedback“ dargestellte Typologie beschreibt Ilse Hantschk, S. 13 ff. unter Bezugnahme auf Deal und Kennedy; ausführlich auch Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 19 ff. 107 Siehe diese Unterscheidung von deskriptivem und explikativem Ansatz bei Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S.13

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Mensch ist und bleibt. Und weil man stets vor allem auf den schnellen Erfolg bedacht ist, denken insoweit fast alle auch nur kurzfristig. Es lassen sich demge­ mäß in der Tat zahlreiche praktische Aktivitäten unter verschiedenen Titeln und zu verschiedenen Anlässen feststellen, die den dringenden Handlungsbedarf auch über den jeweiligen konkreten Anlaß hinaus erkennbar werden lassen. Offenbar als Folge eines allgemeinen „Problemdrucks“108 beginnen viele nun mit einem völlig neu erscheinenden Grundansatz zu agieren, ja sogar die Gralshüter des Verbots einengender Reglementierungen nun selbst frank und frei zu reglemen­ tieren, obwohl gleichzeitig festzustellen ist, daß kaum ein Segment der Gesell­ schaft jetzt schon so von Verhaltenscodices durchsetzt ist wie die Wirtschaft.109 Die vielfältige Praxis - ein geradezu anschwellender Aktionismus hierzu - läßt sich jedoch nur schwer unter eine gemeinsame Verständnislinie stellen. Zu unter­ schiedlich sind selbst bei gleichen Überschriften die Ziele, aber auch die Inhalte. In der Regel variieren andererseits trotz vergleichbarer Inhalte auch wieder die Überschriften und wenden sich an nicht immer eindeutig ermittelbare Adressaten:



Zum neuen Management-Arsenal gehören zum einen Handlungsprogramme, Handbücher, Leitfäden und andere Reglementierungen, als ob man „in zehn Schritten zu einer effektiven Corporate Identity“ finden könne.110 Oder es entstehen regelrechte „Tugendkataloge“, die sich unterschiedlich an die Kun­ den und die Öffentlichkeit („Untemehmensleitbild,,111 - „Untemehmenskonzept“112 - „Botschaften“113 - „Vision,,114) und/oder an die eigenen Mitar­ beiter („Führungsleitbild,,115 - „Führungsstil“116 - neue Untemehmenskultur

Horst Steinmann, Universität Erlangen-Nürnberg, zit. nach Helga Einecke: „Erst wenn es schmerzt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 27 109 Holger Liebs: „Eine Allianz fürs Geben - Sponsoren entdecken die Kultur als gesellschaftliches Leitmedium“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 206 vom 07.09.1999, S. 15 110 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11/1998, S. 168 111 z. B. „Siemens - Unser Leitbild“; zum Siemens-Leitbild auch Irmgard Wallner: „Leitbildorientier­ te Mitarbeiterbefragung“ - PERSONAL 11/1999, S. 566 ff.; zahlreiche „Leitbilder“ sind in Auszügen zitiert auch bei Jörg Staute: „Das Ende der Untemehmenskultur“ - Campus Verlag Frankfurt/New York 1997; 112 z. B. „Das Shell Untemehmenskonzept“ - 1. Auflage 113 „Nixdorf-Botschaften“ - abgedruckt bei Ulrich A. Wever, S. 44 114

z.B. „DaimlerChrysler Vision“ 115 z. B. „Wir bei BMW - Mitarbeiter- und Führungsleitbild“; ähnlich auch der unter dem Einlei­ tungssatz „Unser Weg zur Qualitätsbank“ stehende „Verhaltenskodex für Führungskräfte“ der BfG Bank AG (Gruppe Credit Lyonnais) mit einer getrennten Darstellung der „Ideale“ und der „Stan­ dards“ oder die „Führungsleitlinien“ als „Beiersdorf Management Commitment“ der Beiersdorf AG; ebenso „Die neuen Führungsleitlinien“ der Allianz - vgl. Allianz Journal 2/2000, S. 23 ff. 116 Vgl. etwa „Führungsstil bei Hewlett-Packard“ - abgedruckt bei Ulrich A. Wever, S. 38

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„Leisten, Verhalten, Gestalten“117) richten. Sie beschreiben und beschwören mit unterschiedlicher Akzentuierung, im Ergebnis aber immer wieder gleich das wünschbare Eigenbild mit idealen Eigenschaften („Wer wir sind“), sach­ lich und menschlich notwendige Ziele und Verhaltensweisen („Was wir wol­ len“ - „Was streben wir an“) und appellieren an Veränderungs- und Lei­ stungsbereitschaft („Wie können wir das erreichen“).118 Thematisch untergliedern sich diese Appelle zumeist in die Bereiche „Kundenorientierung“, „Innovation“, „Untemehmensgröße“ und „-rang“ im weltweiten Wettbewerb, „Teamwork“, „Offenheit“, „Eigeninitiative“, „Lei­ stungsbereitschaft“, „Qualität“ und „Professionalität“, „Schnelligkeit“ und „Verantwortung“. Der Konstanzer Wirtschaftsethiker Josef Wieland hat die­ se Ansatzpunkte und Inhalte einmal in seinem sogenannten „WerteViereck“ nach „Leistungswerten“, „Kommunikationswerten“, „Kooperationswerten“ und „Moralischen Werten“ systematisiert.119 Zwar beschäftigen sich solche Führungsleitbilder hin und wieder mit Einstellungen und dem Verhalten der eigenen Mitarbeiter. Deren Interessen­ lage und Erwartungen sind dabei jedoch eher selten erwähnt oder be­ schrieben. „Im Gegensatz zur Stereotypie der wohlklingenden Unter­ nehmensleitbilder nimmt sich das Mitarbeiterbild vom Unternehmen oftmals eher niederschmetternd aus.“120 Allenfalls wird in modischer Regelmäßigkeit die Floskel zelebriert, wonach die Mitarbeiter als wichtigstes Kapital anzu­ sehen sind,121 obwohl die Realität nun wahrhaftig immer wieder zeigt, wie groß gerade hier der Unterschied zwischen Theorie und Praxis - oder besser zwischen artikuliertem Wollen und realem Sein - dann tatsächlich ist.122 Der 117 Rolf Gerling über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen und die neue Kultur in

seinem Konzern: „Mit Leben füllen“ - Interview in Wirtschaftswoche Nr. 14 vom 28.03.1996, S. 122 ff. 118 Z. Beispiel „Das Shell Untemehmenskonzept“ - 1. Auflage; ebenso „Die neuen Führungsleitlini­ en“ der Allianz - vgl. Allianz Journal 2/2000, S. 23 ff.: „Wir fuhren ...“, „Wir stellen sicher...“, „Wir fordern ..." ist schon sprachlich und in der Appellhaftigkeit wenig partnerorientiert und suggeriert zudem eine falsche, weil so oder zu diesem Zeitpunkt keinesfalls vorhandene oder über ehrliche Kommunikationsprozesse hergestellte ideelle Gemeinsamkeit; als Basis für Veränderungen stößt sie in dieser Einseitigkeit und ohne jegliche individuelle Kommunikation daher eher ab, als daß sie zu einem Aufbruch und allmählichem Wandel fuhren wird. 119 Josef Wieland - Personalftihrung 8/1999, S. 18 ff. (20) 120 Dagmar Deckstcin: „Die Unternehmens-Story“ - Besprechung des Buches von Karolina Frenzel,

Michael Müller und Hermann Sottong: „Das Unternehmen im Kopf*, Hanser-Praxisbuch - SZManagement - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.2000, S. 26 121 So z.B. die „Business Principles“ von Goldmann Sachs 122 Tom Voltz, philosophischer Untemehmensberater und Publizist, Egg bei Zürich: „Analyse zur gelebten Firmenkultur“ - Personalwirtschaft 4/1998, S. 66; ebenso der frühere und erfolgreiche Präsi­ dent von Dana, Rene McPherson - zitiert nach Thomas J. Peters u. Robert H. Watermann, S. 39; sehr kritisch auch Jörg Staute, S. 54 und zum Beispiel der Mitarbeiterorientierung S. 183 ff.; auch der

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Kommunikationsexperte Heinz Goldmann fordert deshalb, daß im Interesse eines besseren Verständnisses im Unternehmen „Sprüche wie »Unsere Mitar­ beiter sind unser größtes Kapital4 in den Führungsleitlinien ersatzlos gestri­ chen ... (werden), bis wieder Substanz dahinter steckt.“123 So ähnlich ist es auch bei den Begriffen der Pflichterfüllung, des Gehorsams und der Bescheidenheit. Es sind - so sagte einmal der Schriftsteller Norman Mailer - nur „schöne Worte, welche die großen Herren für die kleinen Leute erfunden haben.“124 Denn selbst verhalten sie sich zumeist ganz anders. Stäbe oder Mitglieder eines Projekts denken sich gleichwohl in diesem Sinne Broschüren und Plakate mit hehren Sprüchen aus, die „furchtbares Ge­ schwafel“ bleiben, weil sie nichts bewirken.125 Die Leitlinien sind oft schon bei ihrer Entstehung bloße „Makulatur“, weil sich im übrigen nichts än­ dert.126 Dem „inflationären Gebrauch des Begriffs von der Untemehmenskul­ tur folgt die ermüdende Inhaltslosigkeit der Worte drumherum“.127 So gelten sie denn auch als „pures Impressionsmanagement“, als „profillose Firmen­ broschüren, in denen diffus über Sinn und Werte schwadroniert wird“ oder „als ,goldene4 Unternehmens-Leitbilder, die sich in schwammiger Poesie er­ schöpfen“.128 Alle diese Appelle mit ihren Forderungen und Lockungen, mit ihren Geboten und Verboten erweisen sich geradezu als amoralische Indizien einer Wertordnung, die das zwischenmenschliche Verhalten mehr zum Nut­ zen der Institution regulieren als wirklich eine moralische, individualistische Werteorientierung zulassen und ermöglichen sollen.129 Man muß sich in der Tat allen Ernstes fragen, welche Vorstellungen hier herrschen und damit auch offenbar werden, wenn einerseits Selbstverständ­ lichkeiten aus dem großen Normenkatalog ethisch und menschlich begründe­

Vorsitzende des Betriebsrates Hans Haumer von BMW bekennt, daß in dem Führungsleitbild von BMW zwar alles drin stehe, aber gelebt werde es nach wie vor nicht - vgl. „Wir wollen so bleiben wie wir sind - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23724.10.1999, S. Vl/1 123 Heinz Goldmann: „Auf Empfang gestellt - über das Problem, vernünftig in Unternehmen zu kommunizieren“ - Wirtschaftswoche Nr. 45 vom 31.10.1996, S. 183 124 Zitiert nach Süddeutsche Zeitung Nr. 236 vom 12713.10.1996, S. V3/22 125 So mit Recht Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 123 ff. zu plakativen Aussagen wie: „Der Kundendienst ist nicht nur Sache des Kundendienstes - er ist jedermanns Sache!“ oder „Unsere Mitarbeiter sind unsere wertvollste Ressource.“ 126 Manfred Herrmann, Sozialreferent bei der Degussa AG Frankfurt: „Psychosoziales Handeln im Unternehmen - Ein Plädoyer für die Umsetzung bekannter Fakten“ - Personalfuhrung 7/1996, S. 552; vgl. ähnlich auch Hans-Gert Penzel u. Bernd Ratzke: „Die virtuelle Bank im Merger - Eine Organisa­ tion im Übergang“ - Personal Führung 2/2000, S. 22 ff. (28) 127 Jörg Staute, S. 55 128 Henry Joe Heibutzki: „Globalsystematisierte Leitbildpoesie“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 228 vom 05.10.1998, S. 24 129 Rupert Lay, S. 13, 14; ebenso mit vielen praktischen Beispielen Jörg Staute.

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ter Daseins- und Verhaltensweisen bemüht werden130 und lediglich nochmals als gebetsmühlenartige Wiederholung zum Ausdruck bringen, was unter an­ ständig denkenden und redlich handelnden Menschen ohnehin gilt oder un­ zweifelhaft ist.131 Andererseits fühlt sich in Wahrheit doch niemand als Indi­ viduum angesprochen, so daß auch der Appellcharakter sinnlos bleibt. Ap­ pelle adressieren nie, sie beachten den einzelnen nicht und sind nicht opera­ tionalisierbar.132 Ihre Wirkung beruht allenfalls auf dem einseitig-autoritären Anspruch einer „Absichts- und Willenserklärung“,133 manchmal verstärkt durch eine öffentlich geäußerte, und damit wenigstens die Glaubwürdigkeit berührenden Selbstbindung. Aber wer hätte jemals allen Ernstes die Redlich­ keit eines Unternehmens und seine Bereitschaft, die Gesetze befolgen zu wollen, zumindest auch ohne konkreten Verdachtsanlaß in Zweifel gezogen? Es steht dieses alles sehr in der Nähe eines wechselnden und je nach Mode austauschbaren Rollenspiels.134 Vergleichbar sind derartige Publikationen auch mit klassischer, aber problematischer Werbung, wobei bekanntermaßen deren negative Spielart die pure Reklame, nichts anderes als die Darstellung - oder besser Behauptung - von Tatsachen oder Eigenschaften, von Be­ kenntnissen und Absichten allein aus der Innensicht ist. Die darin enthaltenen Forderungen oder Erwartungen nach mehr Identifikation sind - mit den Wor­ ten des Untemehmensberaters Reinhard K. Sprenger - mindestens versuchte „Gesinnungsnötigung“, die jede Selbstverantwortung untergräbt.135 Noch mehr gilt dieses alles im schnell wachsenden „digitalen Zeitalter“, das zugleich auch Änderungen bisheriger Gewohnheiten und Gepflogenhei­ ten erzwingt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Richtigkeit der neuer­ dings im sogenannten „Cluetrain-Manifest“ von vier jungen Web-Experten

130 „Die Richtsätze des Bayer-Konzems klingen wie eine Menschenrechtserklärung ..." - so Jörg Staute, S. 183 131 Vgl. die Konkretisierung solcher „Selbstverständlichkeiten“ als „Grundsätze für Fortgeschrittene“ - differenziert nach Stakeholdem - bei Klaus M. Leisinger, S. 187 ff. 132 Ebenso Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 118; zu weiteren Gründen für „erfolglose Appel­ le“ vor allem auch für „tiefgreifende Änderungen“ vgl. Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 214 ff.; ebenso zu der „gleichsam anthropologischen Beschwörung der .Ressource Mensch“* - Bericht zum 8. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Personal führung 1999 in Wiesbaden - Personalfüh­ rung 8/1999, S. 57 133 Josef Wieland - Personalführung 8/1999, S. 18 ff. (20); vgl. dazu auch Fredmund Malik: „Kunst

der Wirksamkeit“ - Handelsblatt/Karriere vom 28./29.04.2000, S. K 3: „Management ist die Trans­ formation von Ressourcen in Nutzen.“ 134 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11/1998, S. 168 ff. (171) 135 Reinhard K. Sprenger: „Gesinnungsnötigung - Über die Forderung nach Identifikation mit dem Arbeitgeber“ - Wirtschaftswoche Nr. 22 vom 21.05.1998, S. 110

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aufgestellten, geradezu „reformatorischen Thesen“ zu bejahen:136 Eine deut­ liche Aussage zum Thema Werbung enthält die These 17: „Unternehmen, die noch glauben, die Online-Märkte seien dieselben, die einst ihre Fernsehwer­ bung ertragen haben, machen sich etwas vor“. In gleiche Richtung weist die These 74: „Gegen Werbung sind wir immun. Die könnt ihr vergessen.“ Ähnlich wie in der Politik verhalten sich viele Unternehmen „appellhaft“, reden sich stark in Rage und bewirken - nichts. So prophezeihen die Verfas­ ser des Cluetrain-Manifests mit Recht das Ende der „Untemehmensrhetorik“ (These 11) und der „hohlen Phrasen“, die bei den Menschen nicht mehr an­ kommen (These 16), der „bombastischen Protzerei“ (These 24), der „verab­ reichten Sprachhülsen“ (These 62) und der „vorverdauten Platitüden eurer Gesprächsleitfäden“ (These 65). Erfrischend klar und dennoch weiterführend faßt These 79 diese Kritik zusammen: „Kommt herunter von eurem Egotrip, befreit euch von eurer neurotischen Selbstbezogenheit. Macht einfach mit!“ Waren es denn bisher vor allem Selbstzweifel, Unsicherheit, schlechtes Gewissen, ein „Pfeifen im Walde“, die zu solchen beschwörerischen Be­ kenntnissen führten, weil alles das eben nicht gelebt wird, und damit zugleich das Eingeständnis, daß insoweit ein beachtliches Defizit verbunden mit der eigenen Hilflosigkeit zu vermelden ist? Oder ist es die entlastende Projektion eigenen Fehlverhaltens oder der erkannten Defizite auf andere, auf die Mit­ arbeiter und Kunden? Nur wird auch insoweit die Realität selten systema­ tisch erfaßt und wahrgenommen.



Mehr eine inhaltlich-sachliche Orientierung („Unsere Ziele,,137) versuchen andere Papiere oder Broschüren zu geben, die sich vorrangig mit den nach Inhalten und Ergebnissen ertrebenswerten Untemehmenszielen befassen. Auch sie beachten weniger oder nur bei dieser Gelegenheit verbal am Rande einmal die Menschen und ihren Beziehungen zum Unternehmen, aber nicht als Mitträger von Erwartungen, sondern allenfalls auch hier nur als Adressa­ ten der Botschaft und Übernehmer der daraus resultierenden Pflichten. Auf­ fallend hierbei ist, daß die Ziele immer anspruchsvoller und „ambitionierter“ formuliert und auch einmal als „Visionen“ kommuniziert werden, als ob der eigentliche Wettbewerb schon in der Formulierung selbst stattfindet und da­ mit alles entscheidet.138

136 Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls u. David Weinberger: ’’Das Cluetrain-Manifest“, S.

16 ff.; vgl. auch die Intemetadresse www.cluctrain.com und www.cluetrain-buch.de 137 Zum Beispiel in der „ChryslerDaimler Vision“ 138 Statt vieler z.B. DaimlerChrysler: „Wir werden eine neue Kultur schaffen“ - neues Untemehmensleitbild: „Wir wollen das weltweit führende und erfolgreichste Unternehmen im Automobilbau, bei Transportprodukten und -dienstleistungen sein“ - Handelsblatt v. 7.12.98 (Modell der „Zwiebelscha­

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Oft drängt sich nicht zuletzt der Eindruck auf, als schreibe auch hier nur noch einer vom anderen ab: Die Inhalte sind weder originell noch helfen sie, die Unternehmen im Sinne eines spezifischen Profils für Kunden und Stel­ lenbewerber zu unterscheiden. Und wenn sie ohnehin nur auf dem Papier stehen, machen sie die Dinge nur noch schlimmer. Denn: „Solche nach außen dargestellten Werte wirken allerdings dann kontraproduktiv, wenn die Mitar­ beiter im Alltag nicht viel davon erleben und das Gefühl haben, solche Leit­ papiere dienen vor allem den Public Relations Abteilungen und weniger ih­ nen als gewünschten Trägem und Begünstigten solcher Philosophien.“139 Diesen Weg beschreiten offensichtlich gern die Unternehmen, die beson­ ders hart im Wettbewerb stehen oder sich durch radikale Umorientierung, durch eine neue Vision oder ein verändertes Leitbild eine Sanierung und die Wende aus bestehender Krise versprechen. Ein Beispiel dafür war die Me­ tallgesellschaft AG unter Kajo Neukirchen.140 Dazu kommen diejenigen, die ihren Hut in den weltweiten Ring werfen, um ihre sich selbst zuerkannte Rol­ le und den daraus resultierenden Anspruch im internationalen Wettbewerb wortreich deutlich zu machen. Damit ich nicht mißverstanden werde: Nichts spricht gegen eine realistische, ja sogar anspruchsvolle, klare Orientierung in diesem Sinne nach innen und außen, die insbesondere für alle Beziehungen von Kunden und Wettbewerbern, den Mitarbeitern bis hin zu den Aktionären Transparenz schafft und insoweit eine Voraussetzung offener Kommunika­ tion ist. Die Frage ist immer nur allein, ob die genannten Ziele ihrem Inhalt nach nachvollziehbar ehrlich, damit glaubwürdig und realistisch oder mehr Wunschträume und Utopien sind zu einem Zeitpunkt, wo die Trauben im all­ gemeinen noch sehr hoch hängen. Können sie angenommen werden, um ei­ nen Ansporn zu ihrer Erreichung zu geben oder sind sie so fern, daß jeder Versuch in ihre Richtung von vornherein eher resignativ belastet wird, schon deshalb gar nicht erst beginnt und alles nur zu dem sprichwörtlichen homeri­ schen Gelächter beiträgt?



Ganz andere Perspektiven verfolgen Ansätze und Darstellungen, die mehr die erwünschten Verhaltensweisen beschreiben und abfordem. Auch für da­ hingehende Standards gibt es unterschiedliche Gründe und Motive. Zum ei­ nen versuchen sie, eine gewisse Konkretisierung und beispielhafte Typisie­ rung der abstrakten Eigenschaften, Ideale und Leitbilder in das dafür erfor­

len“ - 10 Integrationsprojekte); vgl. auch Deutsche Telekom: Zweijahresmodell „von der Behörde zum marktwirtschaftlichen Unternehmen“ 139 Tom Voltz, philosophischer Untemehmensberater und Publizist, Egg bei Zürich: „Analyse zur gelebten Firmenkultur“ - Personalwirtschaft 4/1998, S. 66 140 „Metallgesellschaft auf der Suche nach einer neuen Kultur“ - Süddeutsche Zeitung vom 10.10.1995

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derliche Verhalten141 aufzuzeigen, so daß besser verstanden wird, was das al­ les konkret bedeutet, und damit auch überprüfbar umzusetzen ist. Solche er­ läuternden Übersetzungen können durchaus hilfreich, wenn sicherlich auch niemals ausreichend sein. Andere Verhaltensreglementierungen haben einen konkreten, oft auch rechtlichen Anlaß, wenn es etwa darum geht, aus dem „Ruch der Bestech­ lichkeit“142 oder anderer vergleichbarer Mißstände mit negativer Außenwir­ kung herauszukommen. Besonders in den USA haben Wirtschaftskriminali­ tät und viele Bestechungsaffären zu einer Reihe von Aktivitäten - u.a. Inte­ gritätsfragebögen, Zusammenschluß amerikanischer Wehrtechnikuntemehmen zur „Defense Industrie Initiative“ (DU) mit einem systematischen Ethikmanagement - geführt.143 Gerade der kriminalisierte Bereich unterneh­ merischer Unkultur - das hat sich beispielsweise gezeigt bei der Diskussion um die Banken, die zur Steuerumgehung ihrer Kunden, aber in deren wirt­ schaftlichem Interesse, sich verdächtig oder sogar strafbar gemacht haben, aber auch in vielen anderen spektakulären Fällen wie dem sogenannten „Schmiergeldskandal“ bei Siemens144 oder in der Baubranche - hat auch in Deutschland einen beachtlichen Umfang und eine zunehmende Bedeutung erlangt:145 Nach einer Untersuchung der Beratungsgesellschaft KPMG sind kriminelle Auswüchse im Betrieb für 70 Prozent der Firmen ein Problem, und 88 Prozent gehen davon aus, daß sich dieses Problem in den nächsten Jahren im Zuge von Globalisierung und Internationalisierung eher noch wei­ ter verschärfen wird. Da sich auch mit 28 Prozent der im Jahre 1999 Befrag­ ten Firmen immer weniger zutrauen, solchen Machenschaften gut bis sehr

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Ein gutes Beispiel dafür ist der „Verhaltenskodex für Führungskräfte“ der BfG Bank AG Zur Beratungstätigkeit des Konstanzer Wirtschaftsethikers Josef Wieland bei Helga Einecke: „Erst wenn es schmerzt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 27 143 Alexander Freisberg: „Wunderwaffe Ethik“ - Handelsblatt/Karriere vom 23./24.6.2000, S. K4 144 „Keine Haft für verurteilte Manager“ - Handelsblatt Nr. 178 vom 16.09.1998, S. 4; vgl. auch Walter Ludsteck: „Unglücksfall Korruption - Siemens nennt Bestechungsfälle „das Fehlverhalten Einzelner/ Vorschriften wurden noch einmal verschärft“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 35 vom 12./13.02.2000, S. 2: Der Konzern hat Verhaltensgrundsätze für Mitarbeiter und Leitlinien in seiner Arbeitsordnung, die sich an der 1999 verabschiedeten Konvention der OECD zur Ächtung der Kor­ ruption orientieren. 145 Vgl. z.B. der Fall Wolf Refardt: „Ehemalige Balsam-Manager verurteilt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 202 vom 03.09.1998, S. 21; z.B. der Fall eines Vorstandsmitglieds und zweier Geschäftsführer von SAP wegen Verstoß gegen Insiderhandelsverbot: „Manager zahlen Geldbußen“ - Wirtschaftswoche Nr. 37 vom 03.09.1998, S. 11; z.B. Waffengeschäfte Thyssen (u.a. Karlheinz Schreiber): „Ver­ dächtige Ex-Manager in Untersuchungshaft - Frühere Thyssen-Mitarbeiter sollen bei Waffengeschäf­ ten fließende Schmiergelder nicht versteuert haben“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 104 vom 07.05.1999, S. L7 142

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gut begegnen zu können,146 ist es nicht verwunderlich, daß es schon ver­ schiedene überstaatliche und überbetriebliche Einrichtungen und Regelungen wie die einschlägige Konvention der OECD, die private Beratungs- und Ko­ ordinationsstelle „Transparency International (TI)“ im Bereich der Korrupti­ onsbekämpfung,147 aber auch Richtlinien für Banken der Eidgenössischen Bankenkommission (EBK), den „Geldwäschekodex“ der „Wolfsberger Prin­ zipien“ der zwölf weltweit größten Bankinstitute148 und ähnliches gibt, wel­ che die Bemühungen um die Wiedererlangung wirtschaftlicher Korrektheit zu unterstützen versuchen. Auch die Genfer Firma SGS für Zertifikate hat eine Ethik-Kommission gegründet und „Codes of Ethics“ herausgegeben, die eine totale Transparenz aller Zahlungen und Leistungen vorsehen.149 Selbst die Europäische Kommission hat inzwischen als Reaktion „auf die jüngsten Betrugs- und Korruptionsaffären“ durch einstimmige Vorlage einen „Verhal­ tenskodex“ bezüglich Nebentätigkeiten und Annahme von Geschenken und zur Offenlegung ihrer finanziellen Verhältnisse einschließlich der Ehepartner auf den Weg gebracht.150 In der Bundesrepublik Deutschland haben sich die Unternehmen selbst „Empfehlungen an die Geschäftsführungen und Vorstände der gewerblichen Wirtschaft zur Bekämpfung der Korruption in Deutschland“151 und dazu konkrete richtungsweisende Anhaltspunkte gegeben. Auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Hans-Olaf Henkel hat die Unternehmen eindringlich aufgefordert, der Bestechungspraxis energisch entgegenzutreten.152 So entstehen zahl- und variantenreich „Codes of Con146

Vgl. dazu den Bericht von Alexander Freisberg: „Wunderwaffe Ethik“ - Handelsblatt/Karriere vom 23./24.6.2000, S. K4 147 Vgl. neuerdings die Bemühungen um eine Reform des der „mafiaähnlichen Strukturen“ verdächti­ gen deutschen Gesundheitssystems - Interview mit der Geschäftsführerin von IT-Deutschland Anke Martiny: „Das System ist nicht zu reformieren“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 24.10.2000, S.L 10 148 „Banken einigen sich auf Geldwäschekodex“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 24.10.2000, S. 25 149 So die Darstellung bei Hans Leyendecker: „Wie besteche ich meinen Geschäftspartner“ - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 219 vom 22.09.1999, S. 2; vgl. auch die Rangliste der Organisation Transparen­ cy International (TI) über die Exportländer, die im Ausland am meisten bestechen (getrennt nach „Schmiergeldzahlcm“ und „Korruptionsanfälligkeit“) in „Weit vom im Bestechungswettlauf1 Süddeutsche Zeitung Nr. 249 vom 27.10.1999, S. 2 150 „EU-Kommissare müssen ihr Vermögen offenlegen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 1 und 4; in ähnlicher Weise hat auch Niedersachsen für Regierungsmitglieder „10 Grundsätze zur Amtsführung“ eingefuhrt - NJW 2000 (Heft 10), S. LII 151 Herausgegeben vom Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Köln 152 „BDI-Chef gegen Bestechungswettlauf1 - Süddeutsche Zeitung Nr. 250 vom 28.10.1999, S. 25; vgl. dazu auch Carel Mohn: „Auswege aus dem Wettbewerb von Bestechung und Korruption - Nur konsequente Maßnahmen gegen Bestechlichkeit und Korruption sichern die Integrität der Firmenkul­

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duct“,153 „Verhaltensstandards im Immobiliengeschäft“154 und ähnliches, wobei oft auch wieder nur das wiederholend beschrieben und aufgezählt wird, was ohnehin in den Strafgesetzen und anderen „Spielregeln“ längst zu finden ist, freilich verbunden mit dem Bekenntnis, künftig brav sein zu wol­ len. In Branchen, die - wie das Kreditgewerbe - in besonderer Weise auf das Vertrauen ihrer Kunden angewiesen sind, hat das eine besondere, aber zu­ nächst eben auch nur werbliche Außenwirkung. Nicht ganz anders ist das Motiv für derartige Regulierungen dort, wo es ebenfalls um äußerste „correctness“ geht. So sind etwa anläßlich einer beab­ sichtigten Börsenzulassung eines Unternehmens in den USA solche Verhal­ tensstandards ähnlich und vergleichbar den „Insiderregeln“ oder „Compliance-Regeln“ bei uns im Wertpapiergeschäft sogar gesetzlich155 vorgeschrieben.



Im weiteren Sinne kann man zu den verhaltensorientierten Reglements jetzt sogar die Zertifizierungen von Managementsystemen nach DIN EN ISO 9000/1156 oder ähnlicher Alternativen dazu rechnen, die der qualitativen Selbstbeurteilung, der Schaffung eines seriösen Image oder Werbezwecken dienen. Wenn sie auch nicht die Qualität und Güte der Produkte selbst aus­ weisen, so beschreiben sie doch die Prozesse im Unternehmen und damit die Erstellung einer Leistung nach Kriterien und einem Ablaufstandard, den es aufrecht zu erhalten gilt.157 Im Kem sollen die arbeitenden Menschen auch hier durch fremdbestimmte Regelementierungen in die erwünschte Richtung geleitet werden in der Annahme, daß solche Maßnahmen auch tatsächlich geeignet sind, entsprechend qualitativ hochwertige Produkte und Dienstlei­

tur und schützen vor Betrug und Unterschlagung“ - Personalftihrung 8/1999, S. 24 ff.; „Wer besticht, fliegt - Ethik und Verantwortung bei Shell“ - Interview mit Fritz Vahrenholt... über Ethik und Ver­ antwortung im Unternehmen und praktische Konsequenzen der Personalpolitik“ - Personalftihrung 8/1999, S. 30 ff.; interessant in diesem Zusammenhang ist das Modell der Deutschen Bahn, mit Hilfe eines Ombudsmanns als Ansprechpartner für Kollegen unkorrekte Verhaltensweisen anonym aufhel­ len zu helfen und so vermeiden zu können - vgl. den Bericht: „Ombudsmann im Betrieb kämpft gegen Korruption“ - Handelsblatt Nr. 169 vom 01./02.09.2000, S. 6 153 Siehe z.B. den Geschäftsbericht 1999 der Allianz Group, S. 103 154 Solche wurden etwa von der Münchner HypoVereinsbank angekündigt, nachdem die Bewertung der Immobilien anläßlich der Fusion zu Irritationen, eine beabsichtigten Sonderprüfung und dazu geführt hatte, daß Vorstand und Aufsichtsrat in der Hauptversammlung 1999 noch nicht entlastet worden sind: „HypoVereinsbank verschärft Regeln“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 107 vom 11.05.1999, S.31 155 z. B. § 14 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) 156 Kritisch dazu insbesondere Jörg Staute, S. 179 ff. 157 Vgl. dazu besonders das bei Dienstleistern „grassierende ISO-Fieber“ - Wirtschaftswoche Nr. 12

vom 16.03.1995, S. 92 und auch Walter Simon: „Das EFQM-Modell: Die bessere Alternative zur DIN ISO 9000 ff.“ - PERSONAL 3/1999, S. 130 ff.

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stungen entstehen zu lassen. Warum sie dazu beitragen und die Menschen sich damit automatisch identifizieren können, bleibt offen. Ein ähnliches Ziel hatten auf einem ganz anderen Sektor auch elf Weiter­ bildungsorganisationen im Auge, als sie in der Kommission „Forum: Werte­ orientierung in der Weiterbildung“ unter der Federführung der Bundesge­ schäftsführerin des BDVT Renate Richter einen Entwurf für einen Berufsko­ dex der Weiterbildner, also eine Art „Ausbildungsethik“ vorlegten. Aus­ gangspunkt hierfür war unter anderem die Forderung der vom Bund und den Ländern getragenen Enquetekommission „Sogenannte Sekten und Psycho­ gruppen“ an die Weiterbildungsverbände, selbsttätig Qualitätsstandards zu entwickeln und sich über Ethikkonventionen zu verständigen. Hier geht es also vor allem um die Seriosität, Qualität und das positive Image für einen Berufsstand, für den keine staatlich geregelten Zugangsvoraussetzungen gel­ ten oder sonst ein von der Allgemeinheit anerkannter Ehrenkodex bereits vorhanden ist.158



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Besonders anzusprechen sind schließlich die in der Praxis der Unternehmen vielfältig anzutreffenden Aktivitäten, die unter ähnlichen Überschriften im Schwerpunkt „Werte“ vorstellen, „die das Unternehmen als eigenständiges soziales Gefüge auszeichnen und zu deren lebendiger Entfaltung es sich ver­ pflichtet fühlt.“159 So haben einige Unternehmen vorwiegend in den USA,160 inzwischen aber auch in Deutschland161 regelrechte „Werteprogramme“ oder „Ethik Management Systeme“ und „Ethik Audit Systeme“ installiert.162 In­ teressant sind hierbei nicht nur die geschriebenen Broschüren, die schon mit „Mao-Bibeln“ verglichen worden sind, sondern auch sogenannte „Wertkar­ ten“ (Value Cards), die - wie bei General Electric unter ihrem Chef Jack Welch - jeder bei sich tragen muß, sowie vor allem die Praktiken, die in ih­

Vgl. Seminaris-Express Nr. 90, 22. Jahrg. 2000, S. 1 und 12 Tom Voltz, philosophischer Untemehmensberater und Publizist, Egg bei Zürich: „Analyse zur gelebten Firmenkultur“ - Personalwirtschaft 4/1998, S. 66 160 Besonders bekannt ist das Modell von General Electric: „Value guide“, z.B. absolute Priorität für das Personalmanagement - Wert Nr. 1: „Grenzenloses Denken und Handeln“ - „Offenheit für Ideen von überall!“ - „Alle haben den gleichen Wissensstand“; vgl. auch Helga Einecke: „Erst wenn es schmerzt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 27 161Z. B. das Führungsleitbild von Siemens: „Die Zeit ist reif für den Aufbruch im Unternehmen“ neuerdings: „Sieben-Punkte-Katalog zum neuen Untemehmensleitbild“ - Beteiligung der Betriebsräte am Umgestaltungsprozeß - Führung durch Motivation und Stärkung der Handlungsmöglichkeiten der Mitarbeiter - Handelsblatt v. 26.11.98; über das Modell der SECURITAS: „Der Weg zu einem Untemehmensleitbild“ berichtet Gerd vom Felde - Personal 1/94, S. 30; zum Katalog der 15 „Grund­ werte“ bei BMW oder „Grundhaltungen“ bei Nixdorf vgl. Ulrich A. Wever, S. 39,40 und 41,44; zur Aktualität der Ethikdiskussionen auch Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 37 ff. 162 Josef Wieland - Personalftihrung 8/1997, S. 712; Beispiele auch bei Ken Blanchard u. Michael O* Connor 159

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ren Bemühungen um das Einschwören und die „mentale Programmierung“ der Beschäftigten mehr und mehr Ähnlichkeiten mit religiösen Sekten auf­ weisen. Der Vergleich mit einer auf Glauben angelegten Kirche ist schon früher einmal in Frankreich gezogen worden.163 Zu diesen Vorstellungen und Verhaltensweisen gehört nach dem kritischen Urteil des Augsburger Organi­ sationspsychologen Oswald Neuberger die dauerhafte Erzeugung eines schlechten Gewissens, wobei nie eine Sättigung eintreten darf, um den Druck auf die Mitarbeiter zu erhalten. Beabsichtigt ist die „totale Einvernahme“ der Mitarbeiter, das „Einswerden mit dem Unternehmen.“164 Was hingegen da­ mit ausbleibt, ist die wirklich identitätsstiftende und stabilisierende Wirkung eines „Wiedereinfrierens“, also die Bestätigung der Problemlösung und da­ mit der Abbau der Ängste.165



Es gibt inzwischen zu allen diesen Themen der Untemehmenskultur, der Wirtschaftsethik und der Wertorientierungen auch zahlreiche, meistens grundsätzliche Veröffentlichungen mit weiter stark zunehmender Tendenz.166 Sie stammen überwiegend aus der Wissenschaft oder von mit der Wirtschaft verbundenen Beratern, die in der Regel die Dinge eben wissenschaftlich oder aus der Außensicht abstrakt und in Teilgebieten abhandeln. Die Praxis und der „Firmenalltag im Turbokapitalismus“167 tun sich schwer mit diesen vie­ len „Bausteinen“, die sich aber offenbar derzeit gut vermarkten lassen, im Rahmen ihres täglichen Management- oder Führungsverhaltens sinnvoll um­ zugehen, weil der Bezug zum komplexen realen Geschehen in ihrem jeweili­ gen Unternehmen nur schwer herstellbar ist. Es ist in der Tat - ähnlich wie bei den meisten Bildungsveranstaltungen - nie ganz einfach, den Transfer von erlernten Einsichten in die tägliche Praxis so herzustellen, daß daraus auch ein konkreter praktischer Nutzen erwächst. Bei dieser Materie kommt erschwerend noch die mangelnde Vertrautheit mit den „weichen Faktoren“ hinzu. Vor allem Spitzenmanager vernachlässigen daher viel zu sehr den „Risikofaktor Mensch“.168

163 Vgl. die Darstellung über IBM France („La nouvelle eglise“) bei Geert Hofstede, S. 249; vgl. jetzt auch „Leitbilder als säkularer Religionsersatz“ bei Jörg Staute, S. 152 ff.; vgl. dazu auch Dagmar Deckstein: „Sieger mit Sendungsbewußtsein“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 117 vom 25.05.1999, S. 26 164 So in einer Fernsehsendung von Wolfgang Herles zur Untemehmenskultur von General Electric im Zweiten Deutschen Fernsehen am 04.07.1999, 22.35 Uhr unter dem Titel: „Machtspiele“ 165 So Edgar H. Schein, S. 235 und 263 166 Siehe anliegendes Literaturverzeichnis. 167 So der Untertitel des Buches von Jörg Staute. 168 Vgl. dazu auch Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl - Die weichen Faktoren entscheiden über den Erfolg von Fusionen und Untemehmenskäufen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27

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Zum Schluß soll zur Abrundung der themenbezogenen Aktivitäten eine In­ itiative verschiedener Unternehmen nicht unerwähnt bleiben, die sich 1993 unter der Bezeichnung „Deutsches Netzwerk Wirtschaftsethik“ gebildet hat, um Unternehmer, Manager, Politiker, Journalisten und Wissenschaftler zu­ sammenzufuhren mit dem Ziel, Erfahrungen, Einsichten, Ideen und Anre­ gungen auszutauschen, in welcher Weise die „Übernahme ethischer Verant­ wortung“ im Unternehmen Nutzen für alle Beteiligten stiften kann.169 Inter­ essant und zugleich hoffnungsvoll - wenn auch nicht überraschend - ist, daß sich der Erfahrungsaustausch bisher mehr mit Fragen der Sensibilisierung der Führungskräfte, der Entwicklung von „Reflexionspotential von Organisationsmitgliedem“ und der Prozeßgestaltung befaßte als mit dem Austausch von Tugendinhalten oder -katalogen.170 Es deutet sich angesichts praktischer Erfahrungen mit dem Einbezug von Ethik in das Management Develop­ ment171 hier schon an, daß nicht die flächendeckende Vermittlung von ethi­ schem Orientierungswissen, sondern die individuelle Sensibilisierung dafür die besten Voraussetzungen schafft, daß Führungskräfte selbst in „sittlich verantworteter Güterabwägung“ den richtigen Weg finden.

Aus allen diesen Bemühungen ist ein verstärktes Bedürfnis nach Rechtfertigung und nach überzeugender Darstellung all dessen spürbar, was die Unternehmen vorhaben und künftig verfolgen wollen. Wie schon jede Werbung und die tatsäch­ liche Unternehmenskultur so oder so ihre Wirkungen auf die Menschen ausüben - sie fuhren bei manchen zu positiven, bei anderen auch zu sehr negativen Reak­ tionen172 - steht hier offensichtlich aber stets und vor allem nur das eigene Image

Vgl. Helga Einecke: „Erst wenn es schmerzt - Wirtschaftsethik steckt in Deutschland in den Kinderschuhen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 27; dem Vorstand gehören unter Leitung des Nürnberger Professors Horst Steinmann weiter Prof. Peter Ulrich, St. Gallen, Dr. Anette Kleinfeld, Hannover, und Prof. Josef Wieland, Konstanz an; das Kuratorium wird gebildet von Prof. Marcus Bierich (Bosch), Dr. Peter Eigen (Transparency International), Prof. Karl Homann (Eichstätt), Prof. Peter Koslowski (Hannover), Dr. Heiko Lange (Lufthansa) an - vgl. Personalfuhrung 8/1999, S. 50; Intemetadresse: http://dsw.uni-rostock.de) 170 Vgl. den Bericht: „Verantwortung statt Untemehmensethik?“ - Personalfuhrung 6/1996, S. 539 171 Klaus M. Leisinger, S. 164 m.w. N. 172 Geert Hofstede, S. 248; ebenso Manfred Schwaiger, Prof, und Leiter des Lehrstuhls für empirische

Forschung und quantitative Untemehmensplanung an der Universität München - investor 8/2000, S. 43; einer Umfrage der Fachzeitschrift Horizont (TNS - Emnid/Bielefeld) zufolge hält die große Mehrheit der Deutschen die Werbung ftir wenig unterhaltsam, so daß die Werbung vor allem in Hör­ funk und Fernsehen offensichtlich überschätzt wird. Jedoch halten 66 Prozent der Befragten Hinweise über neue Produkte ftir nützlich, so daß insoweit die Werbung hilfreich sei für den Verbraucher Süddeutsche Zeitung Nr. 88 vom 14.04.2000, S. 23

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des Unternehmens im Mittelpunkt.173 Sobald erst einmal ein Unternehmen damit angefangen hat, wirkt das wie eine Massenhysterie auf alle anderen. Inzwischen fühlen sich viele unter Handlungsdruck nicht nur im Gefolge allgemeiner oder spezifischer Veränderungsprozesse, sondern originär auch durch den Wettbewerb in diesem Handlungsfeld selbst. Schließlich ist man ja in einem Markt, und was die anderen tun und anbieten, können wir schon lange! Deshalb muß es auch ganz schnell gehen. Solche hektischen Aktionen fußen daher normalerweise nicht auf konkreten Analysen der Beziehungen zu den Partnern des Unternehmens, sondern entstehen in der beschriebenen Weise, obwohl sie gegenüber den Beziehungspartnem des Unternehmens als Management-Funktion eingesetzt werden. Wenn man sich die Ergebnisse der Diskussionen und Versuche um eine Beein­ flussung der Untemehmenskultur ansieht, so können diese trotz hohen Auf­ wandes eigentlich alle als mehr oder weniger gescheitert betrachtet werden gemessen daran, was eine positive Untemehmenskultur ausmacht. Auch das hat unterschiedliche, aber durchaus einsichtige und nachvollziehbare Gründe:



Zunächst gibt es - wohl auch bedingt durch viele negative Erfahrungen über die Frage, ob Kulturwandel als aktive Aufgabe des Managements über­ haupt denkbar oder möglich ist, schon keine einheitliche Meinung. Auch die Wissenschaft denkt verschieden darüber, wie schwierig kulturelle Verände­ rungen sind.174 Die eine Seite des Spektrums vertreten die „Kulturalisten“ mit der Auffas­ sung, als gewachsenes festgefügtes Orientierungssystem entziehe sich eine gewachsene Untemehmenskultur allen willentlichen Veränderungsversu­ chen. 175 Es erscheint auch richtig, daß über Jahrtausende geprägte Werte und Normen unterschiedlicher nationaler und religiöser Kulturen bei den Men­ schen sich jedenfalls nicht in ökonomisch verwendbarer und humanitär ak­ zeptabler Kürze von einem global tätigen Unternehmen integrieren, sondern zunächst einmal nur respektieren lassen. Es ist ohne Zweifel auch so, daß in unterschiedlichen Gruppierungen - von der kleinsten Einheit der Familie über Unternehmen über ganze Branchen bis hin zum Staat oder einer größe­ ren kulturellen Region - also auf verschiedenen wertebildenden Ebenen und über längere Zeit jeweils gemeinsame „Grundüberzeugungen und Normen“

173 Befragungsergebnisse des Instituts der deutschen Wirtschaft - Marion Hüchtermann u. Werner Lenske: „Wettbewerbsfaktor Untemehmenskultur“ - Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik des Instituts Nr. 168 Köln 1991 174 Geert Hofstede, S. 249; vgl. auch Stephan A. Jansen u. Niko Pohlmann: „Anforderungen und Zumutungen: Das HR Management bei Fusionen“ - Personalftihrung 2/2000, S. 30 ff. (38) 175 Nach Ilse Hantschk, S. 17; ebenso Marion Hüchtermann und Werner Lenske: „Wettbewerbsfaktor Untemehmenskultur“ - Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik 168 (7/1991) - Deutscher Institutsverlag Köln 1991, S. 5

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entstehen,176 die im Verhältnis der Ebenen zueinander teils koexistieren, teils auch in Konflikt zueinander geraten können. Diese Stufenbildung der Her­ kunft von Grundüberzeugungen, Werten und Normen, ihre unterschiedlichen Beziehungen, Intensität, Einflußwirkungen und damit auch ihre Veränderbarkeit fuhren dann jeweils zu den „objektiven Bedingungen von Organisa­ tionen.“177 Die sogenannten „Kulturingenieure“ sagen nun hingegen: Untemehmens­ kultur ist vollständig planbar und gestaltbar. Hierfür scheint auch die »Pro­ grammierbarkeit4 in obiger Definition zu sprechen, wenngleich sie - anders als sonst üblich im Management - immer „kollektiv“ erfolgt. Eine solche un­ eingeschränkte Veränderungseuphorie entstammt sicherlich dem allgemeinen Überlegenheitsgefühl, alles gestalten zu können - und wenn es sein muß - es auch irgendwie zu tun. Nur in dieser Weise und Vorstellung trifft das auf ein so komplexes Thema mit so vielen beteiligten Menschen sicherlich nicht zu. Denn es besteht nach Meinung des Mannheimer Historikers Rolf Peter Seiferle kein Zweifel daran, daß angesichts vieler aktueller Veränderungen und Umbrüche sich selbst schon in dieser Welt ein Epochenwechsel „so cha­ otisch“ vollzieht, „daß sich die Konturen künftiger Wirklichkeit noch kaum erahnen lassen.“ Dem eigenen Wollen stehen viele Faktoren entgegen, die sich als Bedingungen erweisen, an denen man nicht vorbei kommt. Weil also derzeit und noch mehr in der absehbaren Zukunft immer mehr ungewiß und nicht absehbar ist, erscheint es auch nach Meinung des Essener Philosophen Norbert Bolz zumindest „ebenso sinnlos wie gefährlich“, die Zukunft nach Leitbildern zu planen. Der Frankfurter Politikwissenschaftler Richard Sage schließlich warnt, man solle nicht einmal im Traum fortan daran denken, eine perfekte Welt zu entwerfen und sie den Mitmenschen als Leitbild anpreisen.178 Grundsätzlich möglich sein dürfte allenfalls eine allmähliche, wenn auch langwierige „Kurskorrektur“ durch gezielte Interventionen und neue Impulse („symbolisches Management“).179 Denn warum sollten nicht Veränderungen einer Kultur möglich sein nach den gleichen Bedingungen, unter denen sie entstanden ist? In eingehenden Untersuchungen hat vor allem der Maastrich­ ter Organisationsanthropologe Geert Hofstede sechs Dimensionen von Orga­ nisationskulturen entwickelt, anhand derer ihre Wirkungen differenziert er­ 176 Ulrich A. Wever, S. 34, 35; eine ähnliche Stufenbildung gab es schon vor langen Zeiten bei Kon­ fuzius und Lao tse - vgl. Richard Wilhelm, S. 167 177 Geert Hofstede, S. 274 ff. 178 Alle zit. nach Klaus Franke: „Ende aller Träume“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 102 ff. (102 und 103) 179 Ebenso Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 23 unter Hinweis darauf, daß sich diese „Auffassung weitgehend durchgesetzt“ habe.

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mittelt und als Folge dessen auch die Veränderbarkeit und die konkreten An­ satzpunkte dafür festgestellt werden können.180 Man könnte sie in ihrem konkreten und zeitbezogenen Mischungsverhältnis für ein Unternehmen ana­ lysieren, wenn man die Kultur insgesamt oder auch nur einzelne Aspekte daraus - zum Beispiel für übergreifende Vergütungsregelungen181 im Hin­ blick auf künftige strategische Ziele hin - verändern und dann später auch messen und feststellen will, ob und in welchem Ausmaß solche Veränderun­ gen auch tatsächlich stattfinden. Wir werden auf diese Dimensionen vor al­ lem bei den weltweiten Kulturkreisen noch einmal zu sprechen kommen. Zu den Befürwortern einer kulturellen Neugestaltung als Managementauf­ gabe zählt neben dem Erfolgsuntemehmer Jack Welch mit seinem Petitum nach einer „Lemkultur“182 auch der Kulturexperte Edgar H. Schein. In sei­ nem „Handbuch für Führungskräfte“ definiert, analysiert und beschreibt Schein nicht nur verschiedene Untemehmenskulturen, sondern zeigt Ansätze auf, wie Führungskräfte als „Manager des Wandels“ je nach dem Reife- und Entwicklungsgrad ihres Unternehmens in unterschiedlicher Weise diesen Wandel unter Wahrung der Identität des Unternehmens beeinflussen kön­ nen.183 Es zeigt sich bei diesen Vorstellungen, daß es dabei weniger um ein grundsätzliches „Ob“ als um ein einfühlsames und realistisches „Wie“ geht. Ebenso wie die Entstehung einer Kultur ist auch ihre Veränderung ein langandauemder Prozeß mit vielen Faktoren, gewollten und ungewollten, sowie mit zahlreichen Menschen. Gegenstand der Beeinflussung und mögli­ chen Veränderung ist dabei nie primär die Kultur als solche oder als Inbegriff vieler Aspekte, sondern sind immer nur einzelne Menschen. Ein solcher Weg erfordert daher neben den äußerst aufwendigen analytischen und meinungs­ bildenden Voraussetzungen zumindest viel persönliches Engagement, Zeit, Ausdauer und Geduld.184 Es geht nie mit einer von oben gemachten Kultur­ revolution!



Aber welcher Manager in lebendigen Wirtschaftsuntemehmen macht sich schon über die dargestellten ‘Details4 ausführliche Gedanken und reflektiert dabei seine eigene Rolle und höchstpersönliche Verantwortung? Die Wissen­ schaft ist bei den selbstbewußten Machern ohnehin oft suspekt, wenngleich

180 Geert Hofstede, S. 245 ff. (v.a. S. 260 ff.) 181

Ein gutes Beispiel für die Anwendung dieser Kriterien findet sich bei Thomas Aleweld und Car­ sten Hölscher: „Aktienoptionspläne bei unterschiedlichen Untemehmensstrategien“ - PERSONAL 5/1999, S. 228 ff. (230) 182 zit. in Capital 5/1999, S. 46; ebenso Reinhard K. Sprenger, zit. ebenda, S. 46 183 Edgar Schein, insbes. S. 229 ff., u.a. 232 184 Ebenso Edmund Heinen: „Untemehmenskultur als Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre“ in Heinen/Fank, S. 44

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diese andererseits dann doch die große Kluft, die Berührungsängste und das Unverständnis zwischen Wirtschaft und den Intellektuellen185 mit Recht be­ klagen. Wissenschaft wird - bei aller Unkenntnis - oft nur mit dem über­ haupt nicht schlüssigen, allgemeinen Theorieargument, der ihr innewohnen­ den Kompliziertheit und daher schnell behaupteten Praxisfeme vom Tisch gefegt. Statt dessen ist die Neigung groß, einfach amerikanische Verhältnisse unbesehen und modisch zu kopieren, obwohl nun gerade diese sich schon von den Rahmenbedingungen her in vielen Beziehungen erheblich von den unseren unterscheiden.186 Doch schon ein solches Verhalten läßt Zweifel aufkommen, ob es allein zur populären Befriedigung einer „Modeerschei­ nung“187 sinnvoll ist, sich auf diese Weise im Wettbewerb positiv darzustel­ len. Alle wollen sie weltweit an der Spitze stehen, zu den erfolgreichsten Un­ ternehmen ihrer Branchen werden, sich durch Innovation und Qualität vor al­ len anderen auszeichnen und professionell und profitabel ihren Aktionären eine helle Freude bereiten. Warum sollten Kunden und alle die anderen - wo immer auf der Welt sie sich befinden - das alles glauben oder hiernach noch Unterschiede machen?



Anderen, so den ,rational und handfest4 denkenden und handelnden Mana­ gern, ist dieser Komplex als ein „weicher“ überhaupt zu riskant. Denn man kann viel falsch machen bei einem „immens populären Thema, über das sehr viel Unsinn geschrieben worden ist.44188 Kultur ist für sie eine ungewohnte und unheimliche Dimension, mit der sie nicht vertraut sind und wo sie keinen konkreten Nutzen sehen. Und so ist kein sicherer sachlicher, nicht einmal ein persönlicher Erfolg dabei zu erwarten. Hier müßten schon die Wirkfaktoren rationaler und nachvollziehbar werden und dann die Verhältnisse zu einem dementsprechenden Handeln zwingen.



Vor allem unterscheiden sich in dieser Kulturfrage erheblich die Perspektiven sowie die Erwartungen, wer gegenüber wem sich verändern sollte.

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Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle in dem Bericht von Christine Burtscheidt: „Botschafter des Wettbewerbs“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 39 vom 17.02.2000, S. L4; aktuelle Studien zeigen, daß es für die deutschen Unternehmen hier einen erheblichen Nachholbedarf gibt - vgl. „Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis“ - Personalführung 5/2000, S 12 (das Sonderheft PersonalfuhrungPlus Juni 2000 befaßt sich schwerpunktmäßig mit diesem Thema); speziell am Beispiel des Controlling zeigt auch Jürgen Weber, Prof, an der WHU Koblenz die beachtliche Diskrepanz zwischen wissen­ schaftlichen Erkenntnissen und ihre Beachtung in der Praxis auf: „Anspruch und Wirklichkeit“ Handelsblatt/Karriere vom 04./05.08.2000, S. K4 186 Ebenso Ulrich A. Wever, S. 9 187 Geert Hofstede, S. 248 188 Geert Hofstede, S. IX (Vorwort)

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Untemehmenskultur als Gegenstand von Management betont bislang zu­ nächst nur deutlich und überwiegend die hierarchisch geprägte Eigensicht der Organisation, wie ja auch ihre Einflußfaktoren zeigen. Im Vordergrund steht oft nur die Frage: Wie möchten wir selbst sein? Wie sollten die sein, die uns repräsentieren? Untemehmenskultur ist aber nicht allein, was man gerne hät­ te und nur durch die Politur der Symbole, d.h. der steuerbaren formalen Aus­ prägungen verändern kann.189 Die traditionell stark dominante Innensicht vieler Unternehmen - gerade auch solcher mit starker und selbstbewußter Kultur - vernachlässigt bei allen diesen Aktivitäten allzu sehr noch die Au­ ßenbeziehungen und die vielfältigen Erwartungen der Beziehungspartner, um die es vor allem geht, schon weil man sie aktuell und in ihren Differenzie­ rungen nicht genügend kennt, ohne das offen zuzugeben. Die Sicht der von ihnen betroffenen oder ihnen ausgesetzten Beziehungspartner als Individuen spielt in Wahrheit noch immer eine untergeordnete Rolle. So ist letztlich in vielen Unternehmen nur nach alter Tradition versucht worden, sogenannte „Kulturprojekte“ schlicht, aber beherzt analog einer da­ tentechnischen Anwendungsentwicklung zu installieren,190 also bestenfalls ein durch wenige vorbereitetes, dann aber kognitives Ergebnis der Unter­ nehmensleitung allen anderen als Verhaltens- und Orientierungsmaßstab zu oktroyieren. Und auch hier ist es - soweit zu sehen ist - bisher ganz über­ wiegend beim Versuch geblieben. Denn schließlich kommt es unabhängig von formalen Projektergebnissen und den daran Beteiligten auch weiterhin nur auf das tatsächliche Denken und Verhalten all der übrigen an und das, was sie wahmehmen, wie sie ihr Unternehmen erleben und nach ihren unver­ änderten eigenen Maßstäben bewerten. Oft werden durch die Neuformulie­ rung und Präzisierung der gewünschten Untemehmensphilosophie zudem längst vorhandene Diskrepanzen zwischen der inneren Wirklichkeit und der gewünschten Wirkung nur noch deutlicher sichtbar. Und wenn das Reden und Darstellen schon von den eigenen Mitarbeitern als unwahr oder un­ glaubwürdig identifiziert wird, was Rückschlüsse auf den Grad ihrer Identität mit dem Unternehmen erlaubt - „Wir meinen es nicht ernst - wir sind bereit, anderen etwas zu erzählen, was nicht stimmt usw.“ - dann erkennen bald auch die Kunden, Bewerber oder sonstige Geschäftspartner, daß ihnen etwas Falsches versprochen und in Aussicht gestellt worden ist, das sich in der un­ ternehmerischen Wirklichkeit nicht wiederfindet. So entstehen schnell Ent­ täuschungen, immense Folgekosten und negative Wirkungen für die Zukunft, 189

Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts fur Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11 /1998, S. 168 190 So berichtet z.B. Lovro Mandac, Vorstandsvorsitzender der Kaufhof Warenhaus AG, Köln von der Entwicklung von „Integritätsrichtlinien“ durch ein „Projektteam“ in: „Untemehmensethik will gelebt werden“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 1 ff. (2)

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die nicht zu unterschätzen sind. Eine negative Stimme hat dabei ein größeres Gewicht als hundert Lobesrufe. Das alles schadet zunächst einmal mehr als es nützt. Der Untemehmensberater Jörg Staute kommt daher zu der Erkennt­ nis: „Die Ethikprogramme der Unternehmen sind häufig deshalb so wenig hilfreich, weil sie mit dem Arbeitsalltag wenig zu tun haben.“191 Auch der Untemehmensberater und Jesuitenpater Rupert Lay kritisiert sol­ che Ansätze mit einem weiteren, wichtigen Argument: Sie seien nichts ande­ res als eine „Widerspiegelung struktureller Vorgaben institutionalisierter Sy­ steme“, die in ihrer appellativen Form mit Geboten und Verboten den Be­ stand des Systems sichern sollen und deshalb amoralisch, vor allem aber un­ wirksam sind. Sie widersprechen den ansonsten üblichen Postulaten von per­ sonaler Freiheit.192 Es scheint sich damit auch hier zu bewahrheiten, was Os­ car Wilde in seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ - übrigens ganz auch im Sinne des Taoismus eines Lao-Tse oder Chuang-Tse - sagen läßt: „So etwas wie einen guten Einfluß gibt es nicht.... Jeder Einfluß ist unmora­ lisch, denn Beeinflussung eines Menschen bedeutet, daß man die eigene See­ le auf ihn überträgt. Er denkt nicht mehr seine eigenen Gedanken, brennt nicht vor eigener Leidenschaft. ... Das Ziel des Lebens ist Selbstentfal­ tung.“193

Im Ergebnis muß man feststellen, daß trotz vieler guter Hinweise, Ratschläge und auch einiger Versuche das ganze Problemfeld „Kulturveränderungen“ nicht ver­ daut worden ist - w eder konzeptionell genießbar aufbereitet, noch in seiner prak­ tischen Umsetzung gelungen oder gar erfolgreich vorgefuhrt. Besonders als Ge­ genstand aktiven Managements im Sinne einer „systemischen Veränderung“ ist die Unternehmenskultur damit ohne Bedeutung geblieben. Die praktischen Schwierigkeiten beginnen auch hier in der Regel schon beim Verständnis über die Inhalte und damit bei den Zielen, die erreicht werden sollen und können. Jeder denkt in diesem Zusammenhang an etwas ganz anderes. Und viele der hier ange­ sprochenen, aber ungelösten Punkte behindern sodann den Fortgang. Mit den traditionellen, aus der Welt der „Macher“ entlehnten mechanistischen Mitteln und Methoden, mit Wunschvorstellungen und einer Schneidigkeit nach dem beherzten Motto „lieber etwas Falsches tun als gar nichts“ ist dem genannten Problemdruck nicht beizukommen. Und trotz einer Reihe von „Versuchen, Denk­ ansätzen und Modellen, mit denen man das Unternehmen sicherer durch die Klippen einer globalen, auf Effizienz versessenen und zunehmend virtuellen Geschäftswelt steuern können soll“, besteht unter Fachleuten weitgehend Einig­ Jörg Staute, S. 195; ebenso Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZManagement - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24 192 Rupert Lay: „Die Macht der Moral“, S. 14 193 Zitiert nach Herbert Mainusch - Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11

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keit darin, daß „nicht ein Regelwerk ... das Fundament der Untemehmenskultur (legt), sondern die Menschen und ihr täglicher Umgang miteinander, ob es sich nun um Mitarbeiter handelt, um Kunden oder um Geschäftspartner“.194 Es sind nicht Systeme, sondern die Menschen selbst, die eine Kultur prägen.195 Verfehlt ist von Anfang an die Vorstellung, daß „nun die Mitarbeiter den geschmacksar­ men Gips der höheren Unternehmens werte in sich hinein (fressen)“ würden.196 Kultur ist zudem eine Beschreibung für etwas, was entstanden und vorhanden ist. Es ist in diesem Sinne immer ein Ergebnis, jedoch nie ein „Instrument“, mit dem sich Überzeugungen und Wertvorstellungen der Menschen beliebig nach dem aktuellen Willen des Managements ausrichten und fremdbestimmen lassen. Al­ lein mit Papieren, die ethische oder humanitäre Werte proklamieren, geht das nicht.197 Die Menschen scheren sich nicht darum. So ist es dann auch nicht überraschend, daß trotz mancher Bemühungen, „die Ethik mit Hilfe eingängiger Sentenzen in die Praxis zu überfuhren ... sich das schöne Reden über Werte in einer gefährlichen Sackgasse befindet.“198 Als Folge der „Diskrepanz zwischen formulierten Untemehmensleitbildem und Firmenrea­ lität“, wegen der „Unehrlichkeit“ der Untemehmensgrundsätze und des insgesamt rauher werdenden Firmenalltags wird mit dem Untemehmensberater Jörg Staute eher das „Ende der Untemehmenskultur“ registriert199 als ein Neubeginn. In die­ ser Kluft zwischen Wollen und Sein, zwischen Predigen und nicht gelebtem eige­ nen Vorbild liegt wohl der Hauptgrund dafür, daß alle diese Bemühungen letzt­ 194

So auch Sylvia Böcker-Kamradt vom Moerser Beratungsuntemehmen Kamradt Consulting: „Man stellte einen Plan mit den Punkten eins bis zehn auf und dachte, die Menschen werden sich ändern“ zitiert nach Thomas Mersch: „Untemehmenskultur erfordert vor allem Geduld“ - Handels­ blatt/Karriere Nr. 245 vom 19./20.12.1997, S. K3; am Beispiel der Einführung neuer, flexibler Vergü­ tungssysteme wurde als ein entscheidender Fehler ermittelt, daß die Unternehmen etwa 80 Prozent in das Design und nur 20 Prozent in die Implementierung steckten. Nötig wäre nach Meinung des Tow­ ers Perrin Beraters Jörg Stolzenburg gewesen, 40 Prozent für das Design und 60 Prozent für die Implementierung aufzuwenden - Christoph Stehr: „Ansporn zum Abheben - Der Trend zur variablen, leistungsorientierten Vergütung ,made in USA* erreicht Europa. Die Unternehmen erproben Anreiz­ systeme, die aber viele Mitarbeiter nicht verstehen“ - Handelsblatt/Karriere und Management vom 10./11.12.1999, S. Kl unter Hinweis auf Untersuchungen der Untemehmensberatung Towers Perrin 1996 und 1999.; vgl. dazu auch den Bericht von Hans-Herbert Holzamer: „Ideengebäude auf dem Prüfstand“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 71 vom 25./26.03.2000, S. V1/1 (Bildung und Beruf) über die Veranstaltung „Planspiele zur Untemehmenskultur“ des Zukunftsforums der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth, bei dem u.a. Claudia Schmitz, Untemehmensberatung Celemi die Simulation Tango zur Veranschaulichung immaterieller Untemehmenswerte präsentierte, der Zukunftsforscher Helmut Volkmann Whalex zeigte, eine Meßzahl für Lebensqualität und Charles Savage, Knowledge Era Enterprises Inc., Boston und München, seine Konzeptionen von Werten im Unternehmen darstellte. 195 Ulrich A. Wever, S. 59 ff. 196 Reinhard K. Sprenger: „Visionen? Personalentwicklung!“ - Personalfuhrung 1/1992, S. 42 ff. (43) 197 Vgl. dazu auch „Ethik als entbehrlicher Luxus“ bei Jörg Staute, S. 214 ff. 19S Herbert Mainusch - Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11 199 Jörg Staute, bes. S. 53 ff.

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lieh gescheitert sind. Es bleibt eine Modeerscheinung aus der Denkwelt der Tech­ nokraten, die wie alle Moden wieder vergehen.200 Vielleicht gehört dazu auch eine Phase der Besinnung, der Reflexion und viel Geduld, die üblicherweise bei den sich hektisch und aktionistisch gebenden, vor allem auf schnelle, vorzeigbare Ergebnisse bedachten Managern nicht vorhanden oder üblich ist. Man sollte und kann aber auch bei allen weiteren Bemühungen zu diesem Thema wenigstens offen zugeben, daß man auch hierbei letztlich ökonomisch erfolgreich sein will. Aber als Thema ist es verstanden worden und beschäftigt die Menschen in un­ terschiedlicher Weise. Untemehmenskultur als das, was ist, hat ökonomisch rele­ vante Auswirkungen, denn es hat etwas mit den Menschen zu tun. Wenn sie posi­ tiv waren für die Vergangenheit, kann ein Festhalten daran gerade für die Zukunft negativ sein, wenn man nichts tut, weil veränderte Anforderungen auch Änderun­ gen in der Kultur erzwingen.201 Andererseits gibt es immer auch Unternehmen, denen es ganz einfach gelingt, gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich zu sein und positiv auszustrahlen, ohne daß sie es bewußt thematisiert haben oder wissen, warum. Es gibt - wie unter einzelnen Menschen auch - bei Unternehmen wahre Persönlichkeiten, die es vor allem auch deshalb sind, weil es für sie selbstver­ ständlich und natürlich ist. Vielleicht findet sich in der Verfolgung dieser Er­ kenntnis ein Weg, der auch anderen Unternehmen zugänglich ist.

Die Angst vor der unkontrollierten ökonomischen Globalisierung Manches bleibt langlebig, taucht immer wieder auf und ist lästig in seiner nicht handhabbaren Penetranz. Zur unbewältigten Untemehmenskultur gesellt sich neuerdings ein damit eng verwandtes Etikett, die sogenannte „Managing Diversi­ ty“.202 Man kann auch schlicht „Vielfalt“203oder - wenn es denn englisch sein muß - wie früher schon speziell auf den „Job“ bezogen „enrichement“ oder „en­ largement“ dazu sagen, was immer auch jetzt unter Diversity konkret zu verste-

200 Geert Hofstede, S. 248 201 Vgl. als ein Beispiel: „Metallgesellschaft auf der Suche nach einer neuen Kultur“ - Süddeutsche Zeitung vom 10.10.1995 202 Vgl. dazu beispielsweise das Diversity Program Office des amerikanischen Argonne National Laboratory (Internet: http://www.anl.gov/welcome.html ) mit einem Glossar zu den Begriffen, einer Einführung in die Grundgedanken und einem Testmodul als Hilfen zur Umsetzung in die tägliche Arbeit. Weitere Literatur hierzu findet sich in Personalftihrung 5/1999, S. 48 203 Zur jetzt sogenannten „Diversity“ vergleiche Agnus Cassens, Deutsche Shell AG: „Discover the

Value of Differences!“ - Personalftihrung 5/1999, S. 18 ff.

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hen ist.204 Die Dinge werden eitel und mit großen Lettern als „neues Paradig­ ma“205 beschriftet oder marktwirksam und trendig variiert und rufen damit allen­ falls in Erinnerung, daß da schon seit längerer Zeit noch immer dasselbe unbeakkerte Feld liegt, das nach seinem Meister ruft, weil es über seine schemenhafte Begrifflichkeit hinaus, aber auch in den einzelnen Facetten - hier von Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung und Alter, von Rasse, Ländern, Lebensstil, Weltanschauung und Sprachen - eigentlich doch noch nicht bewältigt worden ist. Oder ist es gerade das und nur der wachsende Druck der Öffentlichkeit nach einem Verbot jeglicher Diskriminierung, die ein solches „Bekenntnis“206 erforder­ lich machen? Eine „neue Grundhaltung und ein neues Verständnis, wie Unter­ nehmen funktionieren können“ oder ein „strategischer Ansatz der Untemehmensfuhrung“207 ist mit diesem auf seine Weise auch wieder nur selektiven An­ satz sicher herstellbar, auch wenn man ihn „Vielfalt“ nennt. Längst Vertrautes und weiterhin Richtiges, aber bisher schon schwierig zu Handhabendes wird wieder einmal schnell von neu erscheinenden Perspektiven überrollt, wenn die Realitäten sich verändern, ohne wirklich neu zu sein oder eine bessere Lösung der Probleme - etwa in den Bereichen des Personal- oder des Produktmarketings - zu * 208 garantieren.

Die neue Dimension Ein besonders aktueller, wegen seiner grundsätzlich veränderten Größenordnung einschneidender Anlaß, sich wieder mit kulturellen Themen zu beschäftigen, ist die rasante Entwicklung der Wirtschaft nicht nur von einer Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungs- oder „Wissensgesellschaft“,209 sondern gleichzeitig zu einem allumfassenden Weltmarkt, der technisch immer besser unterstützt dazu fuhrt, daß sich alle Wettbewerber rasch aneinander messen können und auch müssen. Die Veränderungen haben besonders darin ihre Ursache, daß zunehmend wichtige Produktions- und Wettbewerbsfaktoren weltweit mobil werden und 204

Auf das unterschiedliche Verständnis dieses Begriffs weist auch Agnus Cassens, Vorstand der Deutschen Shell AG, hin: „Discover the Value of Differences!“ - Editorial in Personalftihrung 5/1999, S. 1 205 Sabine Balser, Deutsche Shell AG: „Abschied von der Monokultur: Diversity als Spiegel der Welt“ - Personalführung 5/1999, S. 14 ff. 206 Rainer Steppan: „Diversity makes good business sense“ - Personalftihrung 5/1999, S. 28 ff. 207 Michael Stuber, Berater für Diversity Management Consulting Köln/Hamburg - Personalftihrung 5/1999, S. 46 ff. (47) Dieter Wagner und Peyvand Sepehri, Universität Potsdam: „Managing Diversity - alter Wein in neuen Schläuchen?“ - Personalftihrung 5/1999, S. 18 ff. (20) 709 Jürgen Rüttgers, ehern. Bundesminister ftir Forschung - DER SPIEGEL Nr. 32/1999, S. 19 208

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dieses in einfacher und kurzfristiger Weise. An erster Stelle stehen dabei vielfäl­ tige Informationen, aber auch Wissen, Innovationen und Erfindungen, und vor allem das Kapital. Für Finanzströme gibt es so gut wie keine Grenzen mehr. An jedem Tag transferieren die Banken heute schon Milliardenbeträge über den ge­ samten Globus. Alle diese Faktoren sind also mehr und mehr standortunabhängig. Dazu kommt der freiere und weltoffenere Handel von Produkten und Dienstlei­ stungen, wobei die auch immer als Einflußfaktor genannte Entwicklung der Technik zwar vieles von alledem ermöglicht oder unterstützt, aber auch eigene, durchaus von der Globalisierung zu trennende Auswirkungen zeitigt.210 Es ist schon von vielen darauf hingewiesen worden, daß die Globalisierung damit nicht nur die grundsätzliche Fähigkeit aller - der kleinen wie der großen, der finanzschwachen wie der finanzstarken Unternehmen - umfaßt, überall auf den Weltmärkten mit- oder gegeneinander zu konkurrieren, sondern auch die weltweite Kooperationsfähigkeit herausfordert, um gemeinsam mit anderen wirt­ schaftlich bestehen zu können. Immer mehr Unternehmen schließen sich daher wie bereits oben angesprochen - auch deshalb zu Größenordnungen zusammen, um mit Marktmacht und beachtlichen Synergieeffekten den Wettbewerb zu ihren Gunsten zu entscheiden.211 Nach Feststellungen der Handels- und Entwicklungs­ konferenz der Vereinten Nationen (Unctad) erwirtschaften bereits rund 60 000 multinationale Unternehmen mit insgesamt über einer halben Million Auslandsfi­ lialen einen Umsatz von 11 Billionen Dollar, was etwa 25 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts entspricht. 80 Prozent aller Direktinvestitionsströme entfie­ len dabei im Jahre 1998 auf die klassischen Industrieländer.212 Nunmehr haben sich diese Perspektiven nochmals um eine Dimension erwei­ tert. Vor allem in dem Buch „Globalisierungsfalle“ der Spiegelredakteure HansPeter Martin und Harald Schumann213 ist eindrucksvoll darauf aufmerksam ge­ macht worden, daß die Globalisierung der Wirtschaft auf der Basis eines aus­ schließlich ökonomischen Handelns und der länderübergreifenden Großfusionen nicht nur zu einem einschneidenden Wegfall traditionell bezahlter Erwerbsarbeit

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Kumiharu Shigehara: „Die negative Einstellung zur Globalisierung überwinden“ - Handelsblatt Nr. 6 vom 09./10.01.1998, S. 43 211 Auch der Untemehmensberater Roland Berger sieht in der Globalisierung und den damit größer werdenden Märkten die Ursache für die Fusionsflut der jüngeren Zeit - vgl. zu der vom Bayemwerk veranstalteten Diskussion im Kloster Andechs: „Die deutschen Banken sind groß genug“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 244 vom 21.10.1999, S. 26 212 „Unctad: Multis beherrschen die Weltwirtschaft - Entwicklungsländer kommen bei Direktinvesti­ tionen viel zu kurz“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 224 vom 28.09.1999, S. 26 213 Vgl. auch Hans-Peter Martin und Harald Schumann: „Anpassung nach unten“ - DER SPIEGEL 39/1996, S. 90 ff. und Harald Schumann: „Die Globalisierung“ - Das Jahrhundert des Kapitalismus DER SPIEGEL 25/1999, S. 121 ff.

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fuhrt,214 weil besonders Automation und Computerisierung der dritten industriel­ len Revolution menschliche Arbeit ersetzen,215 sondern diese Entwicklung auch in keiner Weise politisch, d.h. von nichtökonomischen Kriterien kontrolliert wird. Eine politische Kontrolle gibt es weltweit - im Gegensatz zur Europäisierung weiterhin nur national oder im Rahmen sich zusammenschließender Wirtschafts­ regionen mit mehr oder weniger politischer Kontrolle im Inneren. Internationale Wettbewerbsregeln und ein globales Fusionskontrollregime werden zwar drin­ gend angemahnt, sind jedoch nicht absehbar.216 In diesem Sinne konkretisieren sich auch zunehmend die Prognosen: Für die global handelnden Unternehmen „geht es nicht mehr um die Nationalität. Das neue Jahrhundert wird zu Unternehmen fuhren, die globale Einheiten sind und für die es keine nationale Flagge mehr gibt. ... In Zukunft geht es nicht mehr um die nationale Zugehörigkeit, sondern um Management-Fragen. Wer herausfindet, wie man ein wahrhaft globales Unternehmen fuhrt, der setzt die Zeichen für das näch­ ste Jahrhundert.“217 Schon heute gelten deshalb als bedeutendste Hinterlassen­ schaft des langjährigen Chefs von General Electric, Jack Welch, die Manage­ mentprogramme und Führungspersönlichkeiten, an deren Entwicklung er großen Anteil hatte.218 Und wenn dabei die ursprüngliche „Heimat des Unternehmens“ als nationales Unternehmen nicht immer sogleich abgeschüttelt werden kann, 214

Ebenso der Soziologe Ulrich Beck: „Schöne neue Arbeitswelt - Vision Weltbürgergesellschaft“, Campus Verlag Frankfurt 1999 und Interview mit Heike Littger: „Wir sind alle potentielle Arbeitslo­ se“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. Vl/1; ebenso auch der Bamberger Soziolo­ ge Manfred Garhammer, nach dessen Studie: „Wie Europäer ihre Zeit nutzen: Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung“, Edition Sigma, Berlin 1999, zitiert nach Thomas Hüb­ ner: „Schneller essen, schneller schlafen, schneller duschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1999, S. 26 wir uns bereits inmitten dieses Prozesses befinden; anderer Ansicht ohne überzeu­ gende Begründung Herbert A. Henzler, Chef von McKinsey Europa: „Europa ist der Testfall“ - DER SPIEGEL 25/1999, S. 140; „Firmenfusion“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 201 vom 01.09.1999, S. 2 215 Manfred Herrmann, Sozialreferent bei der Degussa AG Frankfurt: „Psychosoziales Handeln im Unternehmen - Ein Plädoyer für die Umsetzung bekannter Fakten“ - Personalftihrung 7/1996, S. 552; in diesem Sinne auch Edward Learner, Universität of California in Los Angeles anläßlich der interna­ tionalen Konferenz am Kieler Institut für Weltwirtschaft - Bericht von Stefan M. Golder: „Führt die Globalisierung zu Arbeitslosigkeit?“ - Neue Zürcher Zeitung vom 22.07.1998; vgl. hierzu auch Manfred Klier: „Die Zukunft der Arbeit“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1999 216 Harald Schwarz: „Der Wettbewerb als Domestike“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 150 vom 03./04.07.1999, S. 25 zu entsprechenden Forderungen des Präsidenten des deutschen Bundeskartell­ amtes Dieter Wolf und des europäischen Wettbewerbskommissars Karel Van Miert; die Amerikaner wollen auch nicht „Weltpolizei“ spielen, sondern bauen nach Aussage des Chefs der Anti-Trust Abteilung im US-Justizministerium auf bilaterale Abkommen. 217 DaimlerChrysler Präsident Thomas T. Stallkamp - Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 6 vom 09./10.01.1999, S. 24 218 Thomas A. Stewart: „Ein wahres Kraftwerk - Die Globalisierung von General Electric ist viel­ leicht das wichtigste Erbe, das Jack Welch nach 19 Jahren als Chef hinterlassen wird“ - Handels­ blatt/Karriere vom 17./18.12.1999, S. K 4

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weil auch die Manager global operierender Unternehmen keine bindungslosen Wesen sind, so schaden sie mit diesem „Standortnationalismus“ als einer Form des „Partikularismus“ nur den Unternehmen.219 Maßgeblich bestimmen jetzt also allein diejenigen, die den betriebswirtschaftli­ chen Nutzen, letztlich die Erträge und Ergebnisse dabei erringen. So könnte in diesem Sinne der prognostizierte massive Rückgang bezahlter Erwerbsarbeit sogar dazu fuhren, daß es dann für die Unternehmen leichter sein wird, ohne Rücksicht auf die Wünsche und Erwartungen der Arbeit nachsuchenden Men­ schen die wenigen Arbeitsverhältnisse zu vergeben und die Beschäftigten unter dem ständigen Druck des jederzeitigen Arbeitsplatzverlustes zu fuhren. Alles das ist nicht grundsätzlich neu, aber in seinen immer deutlicher erkennbaren Ausma­ ßen und seiner Veränderungsdynamik atemberaubend.

Wo bleiben die Menschen? Ein solches offenbar ausschließlich von ökonomischen Bedingungen diktiertes und abhängiges Zukunftsszenario - der Altkanzler Helmut Schmidt sprach im Hinblick auf die allein auf Aktionäre und ihren Profit orientierte Mentalität von „amerikanischem Raubtierkapitalismus“220 - macht Angst, weil es soziale und menschlich negative Auswirkungen befürchten läßt. Nur woher kommen die Ängste und Widerstände und wie kann ihnen glaubwürdig begegnet werden? Sie haben durchaus zahlreiche rationale, aber wohl noch mehr emotionale Gründe. Was die rationale Seite anbetrifft, so zeigt sich das plastisch an einer ganzen Reihe von längst stattfindenden Ereignissen und ihren sichtbaren Auswirkungen. Vor allem das derzeit praktizierte, hemmungslos und ausschließlich ökonomisch begründete Übermaß, die mangelhafte Ausbalancierung von ökonomischen und sozialen Erfordernissen sind es, die nicht stimmen und Angst machen. Wenn etwa Fusionen oder Untemehmenszusammenschlüsse immer mehr auch im Wege einer „feindlichen Übernahme“ angestrebt werden, ist das geradezu Ausdruck einer ausschließlich ökonomisch begründeten Vorgehensweise, einer auch in Deutsch­ land spürbaren „wettbewerbsintensiveren Form des Kapitalismus“221, ohne daß

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Nikolaus Piper: „Heimatfragen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 201 vom 01.09.1999, S. 23 Zitiert nach Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (53); vgl. dazu auch das Buch von Uwe Jean Heuser: „Das Unbehagen im Kapita­ lismus. Die neue Wirtschaft und ihre Folgen“ - Berlin Verlag Berlin 2000 221 Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle, zit. nach Mathias Müller von Blumencron und Christoph Pauly: „Globales Monopoly“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 110 ff. (115) 220

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im „blinden Vertrauen“222 darauf andere Werte, vor allem die gewachsenen sozia­ len Schutzrechte und -interessen überhaupt noch beachtet oder als kommunikati­ onsbedürftig und gar konsensfähig angesehen werden. So wird auch der spekta­ kulär-feindlichen Übernahme von Mannesmann durch Vodafone Airtouch „nichts Gutes“ vorausgesagt, ja sogar ein Mißlingen, weil die Widerstände und Unver­ einbarkeiten zu groß sind.223 Es wäre fatal zu glauben, daß es hierbei ausschließlich um Finanzfragen und deren freizügige, marktwirtschaftliche Disposition auch über traditionelle Län­ dergrenzen hinaus ginge. Gleichwohl scheint es so, als ob die meisten der Groß­ fusionen noch immer allein unter diesem Aspekt betrieben werden, ohne die vielen anderen, für den wirtschaftlichen Erfolg und das Gelingen der Fusionen maßgeblichen und notwendigen Kriterien und Bedingungen frühzeitig zu analy­ sieren und zum Gegenstand gezielten Managements und vor allem der Führung der vielen beteiligten und betroffenen Menschen mit klaren Einzelzielen zu ma­ chen.224 Es geht nicht nur um kalkulierbare Finanztransaktionen, die von den 222

Thilo Ramm, em. Prof, für Bürgerliches und Arbeitsrecht in seinem Beitrag: „Blindes Vertrauen Das Beispiel Mannesmann und die Grenzen des Sozialstaats“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 23.11.1999, S. 10 223 Anette Kleinfeld, Wirtschaftsphilosophin bei der Bickmann & Coliegen Untemehmensberatung Hamburg - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Handelsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3; nach Feststellungen des amerikanischen Beratungsuntemehmens A.T. Kearney gehört die Vernachlässigung der Frage, ob die erworbene Firma in die Vision des Überneh­ mers passe, eine der Todsünden bei Zusammenschlüssen - Süddeutsche Zeitung Nr. 25 vom 01.02.2000, S. 25 224 Vgl. dazu auch den Bericht Marc Beise: „Der Mensch ist wichtiger als jede Zahl - Die weichen Faktoren entscheiden über den Erfolg von Fusionen und Untemehmenskäufen/Machkämpfe drohen“ Süddeutsche Zeitung Nr. 151 vom 04.07.2000, S. 27; die sieben Regeln des M&A-Geschäfts sind: 1. Klare Vision und Strategie 2. Eindeutige Führungsverantwortung festlegen 3. Synergien realistisch bewerten und ausschöpfen 4. Schnelle Erfolge anstreben , aber nicht durch Personalabbau 5. Risiken begrenzen 6. Kulturelle Unterschiede bewältigen (nicht überstülpen, sondern Identität schaffen) 7. Effektiv kommunizieren - vgl. dazu auch das „Arbeitsmodell“ (7 K Modell) von Stephan A. Jansen u. Niko Pohlmann: „Anforderungen und Zumutungen: Das HR Management bei Fusionen“ - Personalfiihrung 2/2000, S. 30 ff.; vgl. weiterhin die Erfahrungen von Hans-Gert Penzel, Zentrales Projektof­ fice Fusion: 1. Klare Strategie festlegen 2. Interessen aller Stakeholder beachten 3. Harte Entschei­ dungen zu den IT-Systemen 4. Organisationsstruktur 5. Besetzung und 6. „weiche Faktoren“/Unternehmenskultur - vgl. den Bericht von Angelika Buchholz: „Langstreckenläufer Albrecht Schmidt ist noch nicht am Ziel - Der gelungene Auftakt der Fusion wurde durch Kultur-Unterschiede der beson­ deren Art schnell zunichte gemacht“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 154 vom 07.07.2000, S. 26; außer­ dem Torsten J. Gerpott: „Personalwirtschaftliche Unterstützung von Akquisitionen“ - Personalfiihrung 5/1999, S. 70 ff.; Ralph Schlieper-Damrich: „Integration verlangt Führung - Thesen zur ,Mer­ ger-Fähigkeit*“ - Personalftihrung 2/2000, S. 40 ff. und Heinz Fischer: „Es gewinnt meistens nicht der Größte, sondern der Beste“ - Editorial zu Personalftihrung 2/2000, S. 1 ff; ein interessantes und vor allem erfolgreiches Praxisbeispiel ist auch das „Integrationsmodell“ von General Electric - vgl. dazu Thomas A. Stewart: „Ein wahres Kraftwerk - Die Globalisierung von General Electric ist viel­ leicht das wichtigste Erbe, das Jack Welch nach 19 Jahren als Chef hinterlassen wird“ - Handels­ blatt/Karriere vom 17./18.12.1999, S. K 4; vgl. auch den Vorschlag zum Vorgehen von Walter Joch­

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Finanzfachleuten üblicherweise gut beherrscht werden, sondern um all ,das übri­ ge1, dem kaum ein Augenmerk geschenkt wird und das überhaupt nicht gut be­ herrscht wird. Beispiele wie das erfolglose Engagement von BMW bei Rover225 und der Versuch um ein Zusammengehen zwischen Deutscher und Dresdner Bank226 - hier gab es nicht einmal ein überzeugendes Konzept227 - haben das nur allzu deutlich gezeigt. Deshalb überraschen die Feststellungen der amerikani­ schen Untemehmensberatung Mercer Management Consulting nicht, daß eben doch etwa die Hälfte aller Zusammenschlüsse in den neunziger Jahren Aktivver­ mögen vernichtete, statt es zu erhöhen.228 Offensichtlich gründen sich zudem bei Fusionen und Zusammenschlüssen von Unternehmen die erwarteten Synergiepotentiale eben doch in einem hohen Maße oder sogar fast ausschließlich darauf, daß Mitarbeiter entlassen werden.229 Der mann, Vors. der Geschäftsführung der Kienbaum Management Consultants GmbH: „Profilierungs­ chancen für die Personaler“ - Handelsblatt/Karriere vom 01./02.10.1999, S. K 2; vgl. auch Stefan Topp: „Die Pre-Fusionsphase von Kreditinstituten“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1999; weitere Literaturhinweise hierzu finden sich in Personalfuhrung 2/2000, S. 26 225 Vgl. dazu Dagmar Deckstein: „Potemkin läßt grüßen“ - zur „unendlichen Geschichte von mangel­ hafter Kommunikation im Unternehmen und von Managementfehlem“, zu einer von „Führungs­ schwäche“ geprägten „Monokultur“, in der das Mittelmanagement als Folge seiner „Claquersmentalität“ lieber mit dem Chef irrt als gegen ihn recht behält - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 65 vom 18./19.03.2000, S. 26; inzwischen sind die eigenen Fehler auch eingestanden worden - vgl. Karl-Heinz Büschemann: „Hauptversammlung bei BMW - Mitgift für Landrover ist noch unklar“ Süddeutsche Zeitung Nr. 113 vom 17.05.2000, S. 28; 9 Milliarden DM hat das Rover-Techtelmechtel BMW gekostet - vgl. auch Anne Goebel: „Freude am Hochfahren“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 113 vom 17.05.2000, S. L 3 226 Helga Einecke: „Bloß keine Sündenböcke - Wie Bankmanager sich aus der Blamage reden und das Scheitern ihrer Pläne begründen“ und „Zum Scheitern verurteilt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 83 vom 08./09.04.2000, S. 28 und 25; Felix Schönauer: „Ein Visionär, dem bisher die nötige Portion Glück fehlte“, spricht u.a. von „dilettantisch“ - Handelsblatt Nr. 70 vom 07./08.04.2000, S. 24; eben­ so auch Hermann Kutzer: „Das Eigentor“ - Handelsblatt Nr. 70 vom 07./08.04.2000, S. 2; der deut­ sche Bundeskanzler hat nach eigenen Worten schon „reifere Leistungen gesehen“, der SPDFraktionsvize Joachim Poß sprach von „unprofessionellem Vorgehen“, eine Meinung, dem sich der Bundesbankpräsident Emst Welteke und der Bankenexperte Wolfgang Gehrke anschlossen, und in den Kommentaren internationaler Zeitungen war von einem „Eklat“ und einem „Fiasko“ die Rede vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 82 vom 07.04.2000, S. 1; Marc Beise: „Mega-Fusion, Mega-Blamage“ Süddeutsche Zeitung Nr. 81 vom 06.04.2000, S. 25: „..kein durchdachtes Konzept, keine ordentliche Vorbereitung, keine straffe Führung, kurz Unprofessionalität auf der ganzen Linie“; auch das Verhal­ ten im Zusammenhang mit dem mißlungenen Rover-Engagement von BMW wurde von den Aktionä­ ren als „Debakel“, „Dilettantismus“ sowie „unprofessionell“ gerügt - Süddeutsche Zeitung Nr. 113 vom 17.05.2000, S. 25 227 Georg Jakobs: „Für die neue Deutsche Bank fehlt noch ein überzeugendes Konzept“ - Handels­ blatt Nr. 68 vom 05.04.2000, S. 2 228 Zitiert im Bericht von Mathias Müller von Blumencron und Christoph Pauly: „Globales Monopo­ ly“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 110 ff. (115) 229 Angelika Fritsche: „Kulturschock für die Mitarbeiter“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1; vgl. als ein herausgegriffenes Beispiel das Zusammengehen von Veba und

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Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (Ilo), Juan Somavia, hat im Vorfeld des „World Economic Forum“ 2001 in Davos darauf hingewiesen, daß in der nächsten Dekade auf der Welt 500 Millionen neuer Jobs geschaffen werden müßten. Das Jahr 2000 sei mit insgesamt 160 Millionen Arbeitslosen offen ausgewiesen, wobei sich diese Zahl gegenüber dem Vorjahr um 20 Millio­ nen vergrößert habe.230 Bei einer solchen Entwicklung und durch solche Erfah­ rungen konkretisiert sich die Sorge der Menschen aber nicht nur auf ihren Ar­ beitsplatz oder sogar ihre berufliche Existenz. Mit einem solchen Trend ist das bisher gepflegte Wertesystem des Unternehmens insgesamt bedroht.231 Es geht auch um den Bestand des gesamten Gefüges unserer demokratischen und sozial­ staatlichen Arbeits-, Wirtschafts- und gesellschaftlichen Lebensverfassung.232 Das rührt an die Summe aller Werte und Grundsätze, die die Menschen inzwischen als Besitz- und Lebensstandard auch immaterieller Natur aufgebaut haben. Und es macht Angst, wieder in eine darwinistische Welt zurückzufallen, in der nur noch das Geld über jegliche Form des Seins oder Nichtseins entscheidet. Zwar lassen sich tatsächlich durch Entlassungen weder Produktion noch Ver­ kaufszahlen, weder die Arbeitsmoral noch die Produktivität verbessern. Es gibt inzwischen viele Unternehmen, bei denen die Freisetzung von Mitarbeitern sogar zu einem regelrechten „Ausbluten“ zum Nachteil der Kunden geführt hat.233 Nicht einmal das Ziel einer schnellen Kostensenkung, der Erhöhung des Cash Flow oder des Aktienwertes wird erreicht, weil als gravierendster Fehler die ne­ gativen Auswirkungen auf die verbleibenden Mitarbeiter („survivors“) nicht

Viag: „Verschmelzung kostet 2500 Arbeitsplätze“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 301 vom 29.12.1999, S. 28; vgl. auch: „Deutsche Bank 24 baut kräftig um“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 3 vom 05./06.01.2000, S. 28 - Reduzierung der Mitarbeiter von 19200 auf 18000 geplant; „Großbanken - Fusion kostet 16 000 Stellen - Süddeutsche Zeitung Nr. 58 vom 10.03.2000, S. 25; „Beschäftigte bangen um ihre Jobs“ - Gewerkschaften rechnen bei der Großfusion der Deutschen und der Dresdner Bank mit 30 Prozent Personalabbau - Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 08.03.2000, S. 23 230 Vgl. dazu Klaus C. Engelen: „Ilo fordert soziale Leitplanken für die Weltwirtschaft“ - Handels­

blatt Nr. 19 vom 26./27.01.2001, S. 13 231 So der Fusionsexperte Max Otte von der Boston University Massachussetts, USA - zitiert nach Angelika Fritsche: „Kulturschock für die Mitarbeiter“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./ 21.11.1999, S. Vl/1; zu den Gewinnern zählen meistens Topmanager und hochqualifizierte technische Mitarbeiter - vgl. Sylvia Englert: „Anhaltende Gigantomanie - SZ-Serie: Werden Fusionen die größ­ ten Jobkiller der Zukunft sein?“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 40 vom 17./18.02.2001 (Bildung und Beruf), S. Vl/1 232 Soziologe Ulrich Beck im Interview mit Heike Littger - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 233 Franz Liebl, Inhaber des Aral-Stiftungslehrstuhls für Strategisches Marketing und Leiter des Competence Centers Strategie & Marketing an der Universität Witten/Herdecke: „Wissensmanage­ ment - eine moderne Illusion?“ - Personalfuhrung 6/1999, S. 6 ff.

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erkannt und behoben werden.234 Aber auch diese Einsicht kommt für die Unter­ nehmensleitung und alle Betroffenen dann in der Regel zu spät. Die Sorge um die derzeit schon allzu oft erlebte und immer noch wachsende Reduzierung des Menschen auf seinen Marktwert oder seine Vermarktbarkeit schafft generell schon im Vorfeld konkreter Betroffenheit die psychologische Voraussetzung fur pure Angst vor dem Verlust der eigenen Existenz als Mensch und einem Minimum auch an nichtmaterieller, individuell erhoffter Lebensquali­ tät. Die zahlreichen und atemberaubend schnell durchgezogenen Strukturverände­ rungen der Unternehmen, die Fusionen, der Wegfall traditioneller Firmenna­ men,235 der schnelle Wechsel der Jobs, der Verlust der persönlichen Beziehung im und zum eigenen Unternehmen und damit einhergehend auch der Wohnorte und privaten Beziehungen beschreiben eine Kette von Folgen und Wechselwir­ kungen, die jede Identität zerstören oder sie gar nicht mehr entstehen lassen.236 Die immer mehr geforderte oder als geradezu schon selbstverständlich unterstell­ te weltweite Verfügbarkeit der Menschen in den Unternehmen ist eine Anforde­ rung, die zunehmend auf Widerstand stößt. Auch erhalten in der globalen Ar­ beitsgesellschaft mit ihren Kommunikations- und Funktionszeiten „rund um die Uhr“, mit der Angleichung der Entwicklungsgeschwindigkeiten Fragen wie die nach der Chancengleichheit, nach einer besseren „Work-Life-Balance“, also nach

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Jeffrey E. Garten: „Nur Paranoide - über das Unternehmen der Zukunft“ - Wirtschaftswoche Nr. 46 vom 05.11.1998, S. 238; Hartmut Volk: „Warum Entlassungen meist keinen betriebswirtschaftli­ chen Erfolg bringen“ über eine Untersuchung bei mehr als 1000 amerikanischen Firmen und die Erkenntnisse des Untemehmensberaters Samuel Berner, Deloitte Consulting, Zürich - Süddeutsche Zeitung Nr. 59 vom 11./12.03.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf); allein 70 Prozent des Managements verlassen 1t. Institut für Mergers & Acquisitions in den ersten fünf Jahren nach der Fusion das Unter­ nehmen und wer bleibt ist demotiviert - vgl. Sylvia Englert: „Anhaltende Gigantomanie - SZ-Serie: Werden Fusionen die größten Jobkiller der Zukunft sein?“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 40 vom 17./18.02.2001 (Bildungund Beruf)i S. Vl/1 235 Durch die Fusion der amerikanischen Traditionsbank Bankers Trust mit der Deutschen Bank entfällt der Markenname der 1903 in New York gegründeten Bank fast komplett - vgl. Christoph Pauly: „Amerikanische Sitten“ - DER SPIEGEL 25/1999, S. 96 ff. (97) 236 Richard Sennett, New York und London School of Economics: „Der flexible Mensch“ - Die Kultur des neuen Kapitalismus“ - Siedler Verlag 1999, das zum „politischen Buch des Jahres“ ge­ wählt worden ist; vgl. ders. in dem Interview HÖR ZU Nr. 33 vom 13.08.1999, S. 118 ff.: „Wie viele Jobs verträgt das Leben?“ und SZ - Interview „Perfekt versiegelte Einheit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 79 vom 04.04.2000, S. 10; Christoph Stehr: „Immer auf dem Sprung - Mobilität macht erfolgreich. Mobilität hat aber auch ihren Preis: Private Probleme können Führungskräfte aus dem Tritt bringen“ Handelsblatt/Karriere vom 19./20.11.1999, S. Kl; zur vergleichsweisen geringen Bedeutung schema­ tischer Strukturen vgl. auch Christopher A. Bartlett und Sumantra Ghosal: „Der Einzelne zählt“ Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2000

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der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und vieles andere mehr eine neue perso­ nalpolitische Dimension.237 Der Soziologe Richard Sennett hat sich eingehend mit den angstmachenden Folgen der neuen Arbeitswelt befaßt und darauf hingewiesen, daß die durch diese Entwicklung bedingte Flexibilisierung der Arbeit238 sich unmittelbar zerstörerisch auf die Psyche des Einzelnen, auf seinen Charakter, aber auch auf die Gesell­ schaft auswirkt. Und das ist beileibe nicht nur dann so, wenn der Staat des Lan­ des, in dem die Tätigkeit ausgeübt werden soll, dazu noch bürokratische und als unwürdig oder diskriminierend empfundene Hürden aus der Vergangenheit exe­ kutiert, wie das anläßlich der Suche deutscher Firmen nach ausländischen ITExperten sichtbar geworden ist.239 Ein für die meisten Unternehmen auch heute schon ungelöstes Problem ist die adäquate Rückkehr von ins Ausland entsandten Mitarbeitern, so daß sich bereits externe Koordinierungsstellen dieses ReentryManagements unterstützend anzunehmen versuchen.240 Wie lange kann man Menschen eigentlich zumuten, nur als ökonomische, beliebig disponierbare Fak­ toren ohne jegliches persönliches und privates Leben begriffen und schlicht nur genutzt zu werden? Das groß an die Wand projizierte Bild ist klar und nicht zu übersehen: „Das Volk staunt und fragt: Welche Macht wächst da zusammen? Werden wir alle, als Mitarbeiter oder Kunden diesen Konglomeraten ausgeliefert? Das Unwohlsein wächst, und das ist nicht nur ein Faktum, sondern auch gut so. Wo viel Macht ist, bleibt Mißtrauen notwendig.“241 Welchen Schutz gibt es für die Schwachen und Minderheiten, die Erfolglosen und Nichtbesitzenden?

Vgl. dazu Monika Rühl, Beauftragte für Chancengleichheit bei der Lufthansa AG: „Globalität und Chancengleichheit: Neue Anforderungen und Trends“ - Personalführung 10/1999, S. 50 ff.; Madan Birla: „Erfolgreich arbeiten, glücklich leben“ - mvg-verlag Landsberg/Lech 1999. 238 Richard Sennet: „Der flexible Mensch - Die Kultur des neuen Kapitalismus“ - Siedler Verlag 1999; nach einer Studie des Bamberger Soziologen Manfred Garhammer - „Wie Europäer ihre Zeit nutzen: Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung“ - Edition Sigma, Berlin 1999 - arbeitete beispielsweise noch jeder vierte Befragte zu sog. „unsocial hours“, also in Schicht, Abendoder Nachtarbeit. 1995 war es bereits schon jeder Dritte; dazu auch Thomas Hübner: „Schneller essen, schneller schlafen, schneller duschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1999, S. 26 239 Vgl. z.B. den Bericht von Marianne Körber: „Wenn Manager zu Bittstellern werden - Green Card: Weltweiter Kampf um die raren Spitzenkräfte der Informationstechnologie“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 57 vom 09.03.2000, S. 27 240 Vgl. dazu Hans-Willi Nolden: „Migration verlangt Integration und Chancen für Rückkehrer - Die Koordinierungsstelle für berufliche Mobilität und Integration im Ausland unterstützt Migranten bei der Rückkehr in ihre alte Heimat“ - Personalfuhrung 5/2000, S. 44 ff.; vgl. auch Sabine Hense-Ferch: „Umgekehrter Kulturschock - Wer längere Zeit im Ausland gearbeitet hat, tut sich oft schwer damit, in Deutschland wieder Fuß zu fassen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 249 vom 28729.10.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 741 Marc Beise: „Die Gier nach Größe“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 22.10.1999, S. 4

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Daß dieses alles nicht nur ein speziell deutsches oder europäisches Angstthema ist, zeigt sich unter anderem an den Protesten und Massendemonstrationen gegen die Globalisierung anläßlich der Welthandelskonferenz in Seattle 1999242 und auch der IWF-Tagung des Jahres 2000 in Washington243 sowie nun neuerdings auch beim Wirtschaftsforum 2001 in Davos.244 Hier - ebenso wie bei den De­ monstrationen anläßlich des Treffens des Weltwährungsfonds in Prag - richtete sich der Widerstand natürlich nicht gegen „die Notwendigkeit und ... Frieden stiftende(n) Nutzen des freien Welthandels“, ganz im Gegenteil. Noch immer attestieren selbst ehemalige Generaldirektoren der Welthandelsorganisation (WTO) und ihrer Vorläuferorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsab­ kommens (GATT) Artur Dunkel, Peter Sutherland und Renato Ruggiero einen Mangel an Ausgewogenheit in der Art und Weise, wie die internationale Gemein­ schaft soziale und entwicklungspolitische Elemente des globalen Wandels hand­ habt. Die Konferenz in Seattle scheiterte letztlich daran, daß weder die Vereinig­ ten Staaten noch die Europäische Union die Anliegen der Entwicklungsländer ernst nahmen.245 Zu diesem Scheitern trugen „die Mißachtung anderer Kriteri­ en“246 bei wie Umweltprobleme, Arbeitsbedingungen, Menschenrechte und eine allzu ausschließlich ökonomisch orientierte Entwicklung der Weltordnung, ohne daß die Menschen sich auf dieser Ebene wenigstens noch als „Souverän“ demo­ kratisch verfaßter Willensbildungen einbringen können: „Das Volk ist kein Giobal Player.“247 Der vor allem in der Wirtschaft der USA noch immer dominierende Glaube, daß auch global der Markt selbstregulierend alles richten werde,248 daß Konkurse nicht lebensfähiger Unternehmen ebenso wenig wie Zusammenschlüsse und Megafusionen die Wirtschaftsordnung bedrohen, solange sie den Wettbewerb nicht maßgeblich einschränken, entspricht durchaus der ökonomischen Lehre. Aus Kreisen der Wirtschaft wird dementsprechend auch bezweifelt, ob die Öko-

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Vgl. den Bericht: „Straßenschlachten zu Beginn des WTO-Treffens in Seattle - 50 000 Menschen protestieren gegen den .globalen Kapitalismus* “ - Süddeutsche Zeitung Nr. 279 vom 02.12.1999, S. 1 243 Michaela Schiessl: „Die Dracula-Taktik - Globalisierungsgegner bereiten sich auf Proteste bei der IWF -Tagung in Washington vor. Ihr Vorbild ist Lori Wallach, die im vergangenen Jahr das WTOTreffen gesprengt hat“ - DER SPIEGEL 14/2000, S. 83 ff. 244 Thomas Kirchner: „Blitzableiter Zürich“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 23 vom 29.01.2001, S. 2 245 Vgl. den Bericht von Nikolaus Piper: „Das Papier der drei alten Herren - Ehemalige Generaldirek­ toren von WTO und GATT fordern mehr Unterstützung für den Freihandel“ - Süddeutsche ZEI­ TUNG Nr. 23 vom 29.01.2001, S. 25 246 Michaela Schiessl: „Festival des Widerstandes“ - DER SPIEGEL Nr. 48/1999, S. 193 ff. (194) 247

Stefan Ulrich: „Der aufsässige Souverän“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 280 vom 03.12.1999, S. 4 Sun-Chef Scott Mc Ncaly im Spiegel-Gespräch: „Wir Amerikaner glauben an die unsichtbare Hand des Marktes, die solche Dinge regelt.“ - DER SPIEGEL 43/1999, S. 292 ff. (294) 248

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nomie die Politik dominiere249 oder die Gefahren für die Menschen gegenüber den Chancen und Vorteilen der Globalisierung überwiegen.250 Ich bin auch ein­ verstanden mit der These des ehemaligen BMW-Chefs Eberhard von Kuenheim, daß es nicht primär um Schutzmaßnahmen geht, sondern zunächst um die Schaf­ fung von Freiräumen für jeden einzelnen, nach Möglichkeit selbst „das Spiel zu machen und zu gewinnen.“251 Aber was gilt für die Verlierer? Der Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation (Ilo), Juan Somavia, sieht jetzt schon bei vielen Gewinnern der Globalisierung „einen eklatanten Mangel an Sensibilität und Mitgefühl für die vielen Verlierer des wirtschaftlichen Wandels.“252 Zwar ist ja nicht zu bestreiten, daß Großfusionen eine wichtige Funktion haben können, um volkswirtschaftliche Ressourcen und Größen - und Verbund vorteile besser zu nutzen und althergebrachte Strukturen aufzubre­ chen.253 Auch der amerikanische Präsident Bill Clinton hat bei der Welthandels­ konferenz in Seattle keinen Zweifel an seiner Überzeugung gelassen, daß freier Handel zu mehr Wohlstand und Arbeitsplätzen führt.254 Selbst der amerikanische Zukunftsforscher Ray Hammond tröstet die Menschen, daß Ängste nicht begrün­ det seien, ganz im Gegenteil. Er prognostiziert allein als Folge der „globalen Virtualität“ mehr Fortschritt für die Menschheit, als heute noch mit den her­ kömmlichen Maßstäben vorherzusehen sind.255 In ähnlicher Weise hat auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Globalisierung der Weltwirt­ schaft“ aus der Sicht des VolksWirtschaftlers Karl-Heinz Paque' und der FDPSprecherin für Verbraucherfragen Gudrun Kopp festgestellt, die Angst vieler Bürger vor der neuen Weltwirtschaftslage sei unbegründet. Die Globalisierung 249

So etwa der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer, auf dem Jahreskolloquium der Alfred Herrhausen Gesellschaft: „Spitzenmanager sehen keine Alternative zum weltweiten Kapitalismus“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 150 vom 03./04.07.1999, S. 25; Siemens-Chef Heinrich von Pierer anl. einer vom Bayemwerk veranstalteten Diskussion im Kloster Andechs - „Die deutschen Banken sind groß genug“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 244 vom 21.10.1999, S. 26 mit der freilich nicht überzeugenden, eher ablenkenden Begründung, wenn er diese Sorge lediglich „als Schlagwort einer politischen Richtung“ abtut, „die keine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit finde“. 250 Herbert A. Henzler, Chef von McKinsey Europa: „Europa ist der Testfall“ - DER SPIEGEL

25/1999, S. 140 251 Eberhard von Kuenheim: „Ökonomie ist eine Methode des Erkenntnisgewinns“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.01 S. 24 252 Vgl. dazu Klaus C. Engelen: „Ilo fordert soziale Leitplanken für die Weltwirtschaft“ - Handels­ blatt Nr. 19 vom 26./27.01.2001, S. 13 253 Marc Beise: „Die Gier nach Größe“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 22.10.1999, S. 4; Helga Einecke: „Der Coup“ - zur Fusion der Deutschen und der Dresdner Bank - Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 08.03.2000, S. 23 254 Vgl. den Bericht: „WTO streitet bis zum Schluß“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 280 vom 03.12.1999, S. 24 255 Ray Hammond: „Alles auf Kredit“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 24./ 25.04.1999, S. I

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bringe mehr Chancen als Risiken.256 Nach UNO-Berichten sollen selbst die ärme­ ren Länder von der Globalisierung durch Wachstum profitieren.257 Richtig ist auch, daß in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland vor Jahren gab es das auch schon einmal in Schweden - auch im „totalen“ Sozial­ staat zunehmend ein Ungleichgewicht zu Lasten der ökonomischen Vernunft entstanden ist, das nicht mehr finanzierbar ist und deshalb korrigiert werden muß. Was nützen die besten sozialen Schutzregelungen, wenn die Mittel nicht erwirt­ schaftet werden können, um sie auch zu erfüllen? Erfolg bietet allemal mehr soziale Sicherheit als formales Recht, wenngleich das richtige Minimum beson­ ders als Ausgleichs- und Verteilungsschutz davon eben auch unverzichtbar bleibt. Auf der anderen Seite darf auch hier nicht alles geopfert werden, was zu einer notwendigen und akzeptablen Balance des sozialen Miteinanders auch während des Prozesses zur Erreichung ausgewogener Ergebnisse gehört. Denn nur wenn diese Balance erreicht wird sind, sind auch die Voraussetzungen dafür vorhanden, ökonomisch erfolgreich zu sein, nicht umgekehrt. In diesem Sinne empfinden Neoliberalisten zwar nicht ganz zu Unrecht die vor allem in Deutschland sehr stark ausgeprägten Reglementierungen eines teilweise geradezu erstarrten und alles andere hemmenden Arbeits- und Sozialrechts als ein viel zu weitgehendes Hindernis, um erfolgreich und auch sozial verantwortlich wirtschaften zu können. Es wird aber verkannt, daß sozialer Ausgleich nicht nur Ziel und Ergebnis, sondern auch Mittel auf dem Wege zu einer so erfolgreichen Wirtschaft ist. Der Nobelpreisträger Reinhard Selten hat mit seiner „Theorie der eingeschränkten Rationalität“ die traditionelle Wirtschaftstheorie, die nur von einem homo oeconomicus ausgeht, als unrealistisch kritisiert und gefordert, sie durch ein realisti­ scheres Bild mit menschlicher Gestalt zu ersetzen.258 Der „uralte Konflikt zwi­ schen Unternehmer- und Arbeitnehmerinteressen“, „Untemehmensfreiheit und sozialer Schutzgedanke, sind und bleiben stets mit einander verschränkt“259, wo­ bei nur der Grad der richtigen Ausbalancierung zur einen oder anderen Seite sehr verschiedenen Anschauungen unterliegt. Der Geistliche und Firmenberater Augu­ stinus Heinrich Graf Henckel von Donnersmarck kritisiert die derzeitige Situation mit der Feststellung, daß es den Verantwortlichen insoweit an Verantwortungs­ bewußtsein fehle. Er meint, daß in der Wirtschaft insoweit „sehr vieles in Unord­ nung“ geraten sei und prophezeit, daß ein Turbo-Kapitalismus bei dem der Wert 256 Vgl. den Bericht „Risiken der Globalisierung sind kontrollierbar“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 203

vom 04.09.2000, S. 28 „Firmen sehen Globalisierung als Chance“ - Handelsblatt Nr. 208 vom 27./28.10.2000, S. 13 258 Reinhard Selten in dem Interview: „Auf die Wirtschaft in NRW lauem beträchtliche Gefahren“ WELT am SONNTAG Nr. 1 vom 07.01.2001, S. 81 259 Thilo Ramm, em. Prof, für Bürgerliches und Arbeitsrecht in seinem Beitrag: „Blindes Vertrauen Das Beispiel Mannesmann und die Grenzen des Sozialstaats“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 23.11.1999, S. 10 257

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aller Dinge die Börsenwerte seien, zur „sozialen Katastrophe“ fuhren können.260 Auch der englische Historiker John Gray sieht das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit vernachlässigt und befurchtet geradezu schon eine Apokalypse.261 Deshalb ist es schon gar nicht verwunderlich, daß erst recht Marxisten wie der Philosoph Slavoj Zizek in der sogenannten „digitalen Ökonomie“ ein „Explosi­ onspotenzial“ sehen, „das vom Kapitalismus nicht zu beherrschen ist.“262 Man kann auch immer wieder darüber streiten, Vor- und Nachteile gegeneinan­ der abwägen und dabei vor allem deutlich machen, wann die alles nur zum Posi­ tiven wendenden Wirkungen eines freien Marktes dann auch zu Verbesserungen bei den einzelnen Menschen fuhren. Gleichwohl geht diese neue Freiheit einher „mit dem Verlust traditioneller Gewißheiten, standardisierter Wertvorstellungen und mit dem erzwungenen Abschied von der mühsam erkämpften relativen Gleichheit an der Wohlstandsteilhabe“, wie das die Münchner Wirtschaftsjoumalistin Dagmar Deckstein ausgedrückt hat.263 Die vorhergesagte „historische Kehrtwende in der Evolution der Arbeitsgesellschaft“, mit der ein „Zerfall des normierten, standardisierten Nachkriegsvollerwerbsverhältnisses“ einhergeht und die einem „Prinzip der Individualisierung der Arbeit“ Platz macht, eröffnet nicht nur eine Vielzahl neuer Chancen und eigenverantwortlicher Möglichkeiten, son­ dern es entstehen ebenso Verunsicherungen durch den Wegfall der traditionellen Ordnung und der die politische Teilhabe gewährenden Institution, durch immer mehr Unübersichtlichkeit und Spontaneität.264 Was also immer von der betriebsund volkswirtschaftlichen Ratio her richtig ist, die Menschen müssen auch daran glauben. Es lebt die - historisch in der sozialen Marktwirtschaft vermeintlich überwun­ dene - Sorge auf vor erneutem puren Kapitalismus und reiner Marktwirtschaft, dem „Neoliberalismus“ einer „Neuen ökonomischen Mitte“ ohne erkennbare Rücksicht auf die Menschen, wobei jeder nur noch für sich selbst verantwortlich ist und der Graben zwischen Gewinnern und Verlierern tiefer wird.265 Es ent­ spricht dieses nicht der historisch gewachsenen Wertevorstellung etwa der Euro­ 260

Zitiert nach Hans Leyendecker: „Der Staat hat kein Recht auf einen gläsernen Bürger“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 22 vom 27./28.01.2001, S. 28 261 John Gray - Interview: „Die Katastrophe ist der Alltag“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 36 vom 13.02.2001, S. 11 262 Interview mit dem Publizisten Mathias Greffrath - Süddeutsche Zeitung Nr. 262 vom 14.11.2000,

S. 10 263 Dagmar Deckstein: „Keine Angst vor der Globalisierung“ - Besprechung des Buches von Allein Mine: „Chance der Zukunft“ (Zsolnay Verlag 1998) - Süddeutsche Zeitung Nr. 264 vom 16.11.1998, S. 27 264 Vgl. Dagmar Deckstein in der Besprechung zu Ulrich Beck: „Schöne neue Arbeitswelt - Vision Weltbürgergesellschaft“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. Vl/1 265 Harald Schumann: „Die Globalisierung“ - Das Jahrhundert des Kapitalismus - DER SPIEGEL

25/1999, S. 121 ff.

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päer, die sich in dem Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“, in dem Wertekanon des deutschen Grundgesetzes ebenso wiederfindet wie in den Bestimmungen eines den lauteren Wettbewerb sichernden deutschen und europäischen Kartell­ rechts und den Schutz der Arbeitnehmerinteressen gewährenden Arbeitsrechts.266 Schon gar nicht für die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft und des Marktes spricht es, wenn gleichzeitig zu diesen Aussagen große Unternehmen und Kon­ zerne wie die deutsche Holzmann AG durch Mißmanagement oder andere Ursa­ chen veranlaßt spektakulär zugrunde gehen und das Vertrauen in die Marktwirt­ schaft untergraben.267 Hier unterscheiden sich auch schon viel zu lange die in den USA besonders von dem Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Galbraith geprägten Anschauungen deutlich von dem, was sich in Deutschland ausgehend von der Freiburger Schule eines Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard entwickelt hat, und dann - freilich auch nur gegen den erbit­ terten Widerstand der Industrie - als Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen politisch durchgesetzt werden konnte.268 Vor allem die unterstellte „Zwangsläufigkeit ökonomischer Entwicklungen und ihrer sozialen Folgen“ - etwa als subventionierte Bürgerarbeit nach dem Zerfall der „Leitidee der Vollbeschäftigung“ - 269 trägt maßgeblich zu solchen Verunsi­ cherungen bei. Es steht nicht mehr in der Macht irgendeines, diese Entwicklung zu hemmen oder nach eigenen Vorstellungen zu dirigieren.270 Allein deshalb schon wird auch der Wettbewerb von Unternehmen nie die politische Korrektur­ funktion ablösen, also keine so weit reichenden „Selbstheilungskräfte“ oder „wohltätige Wirkungen“271 entfalten können, wie das manche behaupten. „Se­ attle“, der öffentliche Meinungswandel nicht nur in Deutschland oder Europa

266 Thilo Ramm, em. Prof. Tür Bürgerliches und Arbeitsrecht in seinem Beitrag: „Blindes Vertrauen Das Beispiel Mannesmann und die Grenzen des Sozialstaats“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 23.11.1999, S. 10 267 Marc Beise: „Die Holzmann-Pleite und die Folgen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 23.11.1999, S. 4 268 Vgl. Hans Mundorf: „Die Konzentration ist wieder salonfähig geworden“ - Handelsblatt Nr. 205 vom 22./23.10.1999, S. 2; ausführlich dazu auch Klaus M. Leisinger, S. 34 ff.: „Der Markt als Treu­ händer der Moral“ 269 Arbeitsminister Walter Riester in seiner Besprechung zu dem Buch von Ulrich Beck: „Schöne neue Arbeitswelt“, Campus Verlag Frankfurt 1999 - DER SPIEGEL Nr. 13/1999, S. 60 270 Herbert A. Henzler, Chef von McKinsey Europa: „Europa ist der Testfall“ - DER SPIEGEL 25/1999, S. 141 271 So im Verhältnis zwischen Markt und Staat auch Karl Homann, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik der Universität Eichstätt - SZ-Gespräch in Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 04.02.1998, S. 32; im Ergebnis ebenso Marion Gräfin Dönhoff, S. 13 ff., S. 43 und 54 ff.

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gegen eine allein von den Unternehmen kontrollierte Globalisierung aus Anlaß der Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO), „ist erst der Anfang“.272 Selbst wenn es so sein sollte, daß der Wettbewerb auch künftig hinreichend regulierend wirkt - derzeit wird eine Gefahr noch nicht gesehen273 -, muß der Wettbewerb als solcher selbst unbedingt erhalten bleiben. Insoweit deckt sich die Grundeinstellung in Europa zwar durchaus auch mit der in den USA, die eben­ falls ein gewachsenes und wirksames „Anti-Trust-System“ zur Verfügung haben. Aber wer garantiert, daß es so bleibt oder auch übergreifend künftig tatsächlich so geschieht? Wer sorgt für die sozial und menschlich notwendigen Rahmenbedin­ gungen, wenn sich ökonomische Machtzentren herausbilden, die praktisch auch am weltweiten Markt eine Monopolstellung ausüben? Auf lange Sicht ist es schon wahrscheinlich, daß direkt oder indirekt viele von der Globalisierung profitieren können. Zumindest hat sich an der Entwicklung eines freien Welthandels in den letzten fünfzig Jahren gezeigt, daß er einer der Quellen eines steigendes Wohlstandes gewesen ist.274 Nur bleibt - was immer an der sich selbst regulierenden Wettbewerbstheorie sachlich richtig ist oder nicht die Frage des Umgangs mit den Ängsten und Bedenken vieler Menschen: Denn Angst braucht keine schlüssige Legitimation oder rationale Grundlage. Es hat deshalb keinen Sinn, unsensibel die Anforderungen an die Menschen oder die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und Deutschland - zu igno­ rieren oder gar in eitler Joumalistenmanier süffisant zu kommentieren.275 Die Unterschiede in der historischen Entwicklung von Wertentscheidungen lassen es auch keinesfalls als „naiv“ erscheinen, „einem versteinerten Arbeits- und Sozial­ recht das blinde Vertrauen auf den Unternehmer entgegenzusetzen.“276 Sie spre­ chen aber sehr dagegen, einfach amerikanische Modelle und Vorstellungen zu kopieren, auch wenn diese in sich schlüssig sein sollten und es so aussieht, als ob die global engagierten europäischen Länder keine andere Wahl haben, als dem US-amerikanischen Beispiel zu folgen.277 Marc Cooper in dem gleichnamigen Beitrag - Süddeutsche Zeitung Nr. 284 vom 08.12.1999, S. 19 273 Marc Beise: „Die Gier nach Größe“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 245 vom 22.10.1999, S. 4; Hans Mundorf: „Die Konzentration ist wieder salonfähig geworden“ - Handelsblatt Nr. 205 vom 22./ 23.10.1999, S. 2 274 Nikolaus Piper: „Ein Gespenst namens WTO - Die Demonstranten in Seattle sind schlecht bera­ ten; man sollte sie trotzdem Emst nehmen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 279 vom 02.12.1999, S. 4 275 So aber leider Peter Felixberger in seiner provokanten Besprechung des Buches von Uwe Jean

Heuser: „Das Unbehagen im Kapitalismus“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 96 vom 26.04.2000, S. 26 276 Thilo Ramm, em. Prof, für Bürgerliches und Arbeitsrecht in seinem Beitrag: „Blindes Vertrauen Das Beispiel Mannesmann und die Grenzen des Sozialstaats“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 23.11.1999, S. 10 277 So der Bamberger Soziologe Manfred Garhammer: „Wie Europäer ihre Zeit nutzen: Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung“ - Edition Sigma, Berlin 1999, zitiert nach Thomas

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Es helfen alle Argumente, die für die Marktwirtschaft sprechen, solange nichts, wie bei den Bürgern die Akzeptanz fehlt, weil sie es nicht verstehen, weil sie die kurzfristigen negativen Folgen aktuell und persönlich gegen sich gerichtet erleben oder auch sonst keinen rechten Sinn darin erkennen.278 Hier geht es allein um die subjektive Sicht und die andere Seite des gleichen Problems. Weil das so ist, müssen Politik und Wirtschaft einerseits stärker für die Chancen der Globalisie­ rung werben. Sie dürfen sich aber dabei - wie der Präsident der deutschen Sekti­ on der International Chamber of Commerce (ICC), Ludger W. Staby, forderte nicht einfach über die Widerstände hinwegsetzen, sondern müssen diese ernst nehmen.279 Auch der Präsident des World Economic Forums Davos, der Wirt­ schaftswissenschaftler Klaus Schwab hat schon gemahnt: „Die globalisierte Öko­ nomie darf nicht synonym werden mit einer frei randalierenden Marktwirtschaft, einem Zug ohne Bremsen, der Verwüstungen anrichtet.“280 Daher darf der Mensch nicht mehr allein „Objekt ökonomischer Strukturen“281 sein. Nach einer im März 1998 durchgeführten Umfrage des Instituts für Demosko­ pie Allensbach „Haben Sie schon einmal von Globalisierung gehört?“ oder „Ha­ ben Sie eine ungefähre Vorstellung, was mit Globalisierung gemeint ist?“ antwor­ teten nur 18 Prozent deutlich und klar bejahend. Gut doppelt so viele (gut 44 Prozent) verbinden damit nur ein vages Bild. Und über ein Drittel (38 Prozent) wußten damit gar nichts anzufangen. Bei den „Auswirkungen der Globalisierung auf Mensch und Gesellschaft“ erhofft sich nur ein knappes Drittel dadurch einen Hübner: „Schneller essen, schneller schlafen, schneller duschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1999, S. 26 278 Helmut Maier-Mannhart: „Banken am Pranger“- Süddeutsche Zeitung Nr. 272 vom 24.11.1999, S. 4; vgl. auch Nikolaus Piper: „Davos und Seattle“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 23 vom 29./30.01.2000, S. 4: „Es ist ein uraltes Dilemma der Marktwirtschaft: Langfristig schafft der globale Kapitalismus vergleichsweise am meisten Wohlstand für die, die an ihm teilnehmen. Kurzfristig sorgen die Umwälzungen, die er verursacht, für Härten - häufig solche, die ein Mensch allein nicht tragen kann. Der Davos-Mensch sieht den langfristigen Nutzen, der Seattle-Mensch die kurzfristigen Kosten des Wandels.“ Für den „Einwand der Ökonomen ... die WTO-Gegner kämpfen gegen ihre eigenen langfristigen Interessen oder zumindest die ihrer Kinder., stimmt eben auch: Langfristig sind wir alle tot; das Leben der Menschen auf Erden ist begrenzt. Wer das langfristige Wohl im Auge hat, darf die kurzfristige Not nicht vergessen“; vgl. ähnlich Volker Wörl: „Abschied von dem Erfolgsstück - Dass alles gut wird, ist eine dumme Verharmlosung: Internationale Fusionen und Globalisierung bedrohen die Soziale Marktwirtschaft“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 99 vom 29./30.04.2000 279 „Firmen sehen Globalisierung als Chance“ - Handelsblatt Nr. 208 vom 27./28.10.2000, S. 13 280 Zitiert nach Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (56) 281 Jürgen Rüttgers, ehern. Bundesminister für Forschung - DER SPIEGEL Nr. 32/1999, S. 19; ähnlich Nikolaus Piper: „Ein Gespenst namens WTO - Die Demonstranten in Seattle sind schlecht beraten; man sollte sie trotzdem Emst nehmen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 279 vom 02.12.1999, S. 4; vgl. ähnlich auch Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24

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Fortschritt, ein weiteres Drittel befürchtet, daß wegen Profitgier und Ellenbogen­ denken die „Menschlichkeit auf der Strecke bleibt“. Der Rest schweigt, ist unent­ schlossen oder kann sich nicht äußern.282 Eine im gleichen Zeitraum vom Institut der deutschen Wirtschaft zusammen mit der MARPLAN Forschungsgesellschaft Offenbach zur Globalisierung durchgeführten Umfrage ergab, daß noch mehr als die Hälfte der Befragten die wirt­ schaftliche Vernetzung mit dem Rest der Welt als Bedrohung für den Sozialstaat und die Beschäftigung ansieht. Nur ein Viertel betrachtet die Globalisierung da­ nach mit Zuversicht und erwartet neue Ideen, mehr Wettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze.283 Inzwischen scheint in Deutschland die Einsicht in die sich abzeichnenden Ver­ änderungen und ihre Auswirkungen auch gestiegen zu sein. Immer klarer wird dabei, daß „der einzelne ... in der modernen, international verflochtenen Wirt­ schaft mehr auf sich selbst gestellt“ sein wird, weil auf ihn immer mehr Risiken verlagert werden.284 Daraus resultiert die Forderung nach der „Bereitschaft jedes Einzelnen, Veränderungen, die durch Globalisierung und neue Technik entstehen, aktiv anzunehmen, sich darauf vorzubereiten und damit fertig zu werden. Eigent­ lich heißt es, Unternehmer seiner eigenen Fähigkeiten zu werden.“285 Wenn die Mehrheit der Menschen ihre Privatsphäre um die Arbeit herum orga­ nisiert, weil Arbeit zwar nicht der einzige, aber der wichtigste Faktor im mensch­ lichen Leben ist, werden unmittelbar Gefahren für menschliche Werte heraufbe­ schworen, die eben nicht vom einzelnen allein bewältigt werden können. Da ein zwischenmenschliches Vertrauen und darauf aufbauende Beziehungen nach allen Seiten für ihn unverzichtbar sind, kann die Vorstellung, daß jeder für sich allein verantwortlich ist, „für die meisten Menschen eine Katastrophe“ bedeuten.286 Ermöglicht werden derartige »Einsichten4 jedoch offenbar auch nur dadurch, daß sie im Einzelfall gleichzeitig mit der festen Überzeugung verbunden sind, davon persönlich nicht betroffen zu sein. Auch ist die eigene Bereitschaft, daraus für sich Konsequenzen zu ziehen und etwas zu tun, eher nicht zu sehen. Hier zeigt sich die derzeit noch dominante allgemeine Lebenszufriedenheit, die zu bewahren 282

Zitiert nach Personalfuhrung 7/98, S. 8 Vgl. „Die große Unbekannte“ - iwd des Instituts der Deutschen Wirtschaft Nr. 41 vom 08.10.1998, S. 4 ff. und dazu den Bericht: „Globalisierung als Bedrohung“ - Handelsblatt vom 08.10.1998 284 Bericht von Nikolaus Piper: „Denkmodell Globalisierung“ - Süddeutsche Zeitung vom 27.06.1998: Das gilt insbesondere nach den Aussagen der Professoren Michael Burda, Humboldt-Uni­ versität Berlin, Barbara Dluhosch, Köln sowie des Kieler Ökonomen Herbert Giersch, nach dessen Ansicht Gewinner der homo oeconomicus, Verlierer dagegen der homo sociologicus sein wird, der für sein Wohlergehen auf gesellschaftliche Bindungen angewiesen ist. 285 Untemehmensberater Roland Berger - Lufthansa Magazin 2/2000, S. 27 ff. (28) 286 Richard Sennett: „Der flexible Mensch“; vgl. ders. in dem Interview: „Wie viele Jobs verträgt das 283

Leben?“ - HÖR ZU Nr. 33 vom 13.08.1999, S. 118 ff.

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erkennbar an erster Stelle steht.287 Das gilt auch für Chefs und Manager, die zu­ mindest verbal für jede Neuerung zu haben sind, solange es für sie persönlich nicht auch ernst wird und sie loslassen müssen von ihren eigenen Kontrollzwän­ gen, ihrer Null-Fehlcr-Kultur und ihrer Angst.288 Andererseits wollen sich die Menschen zunehmend für etwas engagieren, mit dem sie sich identifizieren können und das ihnen Spaß macht.289 Dabei vermögen sie auch klar zu sagen, was sie gut oder schlecht finden. Es scheint immerhin jetzt schon ein weltweit einheitliches Phänomen zu sein, daß die junge Generation insoweit völlig zu Unrecht unterschätzt wird.290 Aber gerade die Unfähigkeit des Vorhersehenkönnens, der Mangel an Phantasie um die Chancen, die sich auftun, sind wie bei jeder Veränderung derzeit akut und bestimmen jetzt das Denken und Fühlen der Menschen und damit auch ihr Verhalten. Eine ganz andere Frage ist daher auch, welche Vorstellungen zur Globalisie­ rung jeweils in den weltweit unterschiedlichen Kulturkreisen bestehen, und ob die Menschen auch dort überall bereit sind, auf den Tag zu warten, an dem die Seg­ nungen des globalen freien Wirtschaftens in irgendeiner Weise auch sie errei­ chen. Wie wir noch sehen werden, unterscheiden sich die unterschiedlichen Kul­ turen unter anderen dadurch, daß ihre Fähigkeit und Bereitschaft, mit Unsicher­ heit umzugehen, unterschiedlich ausgeprägt ist.291 Es wird daher verständlicher­ weise immer wieder beklagt, daß gerade bei uns eine besondere Neigung besteht, die Risiken gegenüber den Chancen eher überzubetonen. Aber auch das ist ein 287

Emnid - Umfrage im Auftrag der Versicherungswirtschaft zur „Zukunftsfähigkeit der Deutschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 290 vom 15.12.1999, S. 31 288 Dagmar Deckstein: „Führen a' la Kreml“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 1 vom 03.01.2000, S. 24 unter Hinweis auf das Buch von Stan Davies und Christopher Meyer: „Das Prinzip Unschärfe. Managen in Echtzeit“; Konsequenz wird mit Recht deutlich betont von dem neuen Vor­ standsvorsitzenden von BMW, Joachim Milberg, eingeführten „Vorstand im Dialog“ - SZ-Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 143 vom 25.06.1999, S. 27; das war auch die Erkenntnis des 8. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Personalfuhrung in Wiesbaden 1999, daß es nicht so sehr an ehrgeizi­ gen Konzepten und Visionen fehlt, sondern an der Konsequenz und Ausdauer in der Umsetzung Personalführung 8/1999, S. 52, insbesondere Fritz Schuller, Hewlett-Packard - ebenenda S. 57 289 Ulrich Beck - Interview mit Heike Littger: „Wir sind alle potentielle Arbeitslose“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. Vl/1; Spaß an der Arbeit und Arbeitszufriedenheit stehen als Motivatoren speziell auch bei Führungskräften an erster und zweiter Stelle - vgl. die Befragung von Personalmanagem durch Hugo M. Kehr und Petra Bles: „Bedeutung der Führungskräfte - Motivati­ on“ - PERSONAL 11/1999, S. 571 ff. (572); gemeint ist hier nicht der „verordnete Spaß“, die „Spaß­ arbeit“ (Have fun!), sondern der Arbeitsspaß - Reinhard K. Sprenger: „Visionen? Personalentwick­ lung!“ - Personalführung 1/1992, S. 42 ff. (44); vgl. dazu auch Ian Walsh: „Let’s have fun“ - Umfra­ gen in den USA zum Verständnis dessen, was unter Spaß so alles zu verstehen ist - Personalwirtschaft 8/1999, S. 20 290 Yasuhiro Nakasone: „Japan wird gesund“ - Standpunkt - DER SPIEGEL 28/1999, S. 148 291 Geert Hofstede, S. 15 ff. und 25 ff.; vgl. Anne Maquin und Dominique Rouzies, Professorinnen für Marketing, HEC Paris: „Kulturelle Grenzen überwinden“ - Handelsblatt/Karriere und Manage­ ment Nr. 185 vom 24./25.09.1999, S. K4

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Faktum, bedingt durch unsere Kultur, eingetreten bis jetzt und heute, das durch Klagen nicht zu beseitigen ist. Jedenfalls sind die sachliche Seite und ihre Schlüs­ sigkeit einerseits und ihre Bewertung durch die Menschen verschiedener Kultur­ kreise andererseits keinesfalls deckungsgleich. Nicht die abstrakten Chancen für irgendwen in einer unbekannten Zukunft beruhigen, sondern die Angst der Men­ schen hier und heute ist ernst zu nehmen.292 Es wirkt daher wie das berühmte Pfeifen im Walde, wenn man immer nur Forderungen aufstellt und nicht wahrha­ ben will, daß Sachlogik vor dem Hintergrund der ebenso unsicheren Zeitstrecke gegenwärtige Befürchtungen nicht beseitigen kann. Der frühere BertelsmannChef Reinhard Mohn sieht die Menschen fragen: „Wie sieht denn der Kapitalis­ mus aus, der’s wirklich bringt?“293 Es entsteht mit der Globalisierung ein neues „SpannungsVerhältnis zwischen Politik und Wirtschaft“, für das es nach Meinung des ehemaligen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer noch keine Patentlösung gibt.294 Welchen Schutz gibt es also für die Schwachen und Minderheiten, die Erfolg­ losen und Nichtbesitzenden? Es ist naheliegend, daß sich bedingt durch die aktu­ ellen Ereignisse zunehmend auch die Politik herausgefordert sieht, wo immer sie noch einen politisch legitimierten Handlungs- und Steuerungsauftrag und dem­ entsprechenden Einfluß hat. Das ist innerhalb Europas dank der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union noch mehr der Fall als bei Überschrei­ tung dieser Grenzen, so daß etwa die Forderung der deutschen Bundesregierung nach einer „Richtlinie zur Abwehr feindlicher Übernahmen“ aus Anlaß der Fusi­ on der britischen Vodafone Air Touch mit der deutschen Mannesmann AG zum Schutze sozialer Interessen und Besitzstände nicht verwundert. Sie beginnt also bereits, durch einschränkende Regelungen oder Überlegungen darauf zu reagie­ ren. Vor allem soll der Bieter dazu verpflichtet werden, die Aktionäre und Arbeit­ nehmer der Zielgesellschaft über die Übernahme und deren Auswirkungen in deutscher Sprache zu unterrichten.295 292

Nikolaus Piper: „Ein Gespenst namens WTO - Die Demonstranten in Seattle sind schlecht bera­ ten; man sollte sie trotzdem Emst nehmen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 279 vom 02.12.1999, S. 4; vgl. dazu auch den stellv. Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) Kumiharu Shigehara: „Die negative Einstellung zur Globalisierung überwinden“ - Handelsblatt Nr. 6 vom 09./10.01.1998, S. 43 293 Interview - Wirtschaftswoche Nr. 25 vom 13.06.1996, S. 65; vgl. auch sein Buch: „Menschlich­ keit gewinnt“ - Verlag Bertelsmann Stiftung Gütersloh 2000 294 Interview mit Helga Einecke - Süddeutsche Zeitung Nr. 189 vom 18.08. 1999, S. 24; ebenso der englische Historiker John Gray - Interview: „Die Katastrophe ist der Alltag“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 36 vom 13.02.2001, S. 11 295 Die deutsche Bundesregierung hat eine Expertenkommission hierzu eingerichtet, die „Spielregeln“ für feindliche Übernahmen aufstellen soll - DER SPIEGEL 8/2000, S. 89; inzwischen ist dazu in Deutschland das Gesetz zur Regelung von Untemehmensübemahmen vorgeschlagen worden unab­ hängig von dem Entwurf für eine europäische Übemahmerichtlinie - Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 19.05.2000 und Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2000, Heft 25, S. XLV ff.; vgl.

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Überraschend ist auch nicht, daß dieses politische Petitum inhaltlich im Gleich­ klang mit allen deutschen politischen Parteien erfolgt, um - wie es der CDUPolitiker Jürgen Rüttgers ausdrückte - zu verhindern, „daß ein funktionierendes Unternehmen wie Mannesmann zerschlagen wird, und dann Tausende von Ar­ beitsplätzen vernichtet werden, nur weil internationale Anleger einen kurzfristi­ gen Profit machen wollen.“296 Erstmals hat sich jetzt auch eine Mehrheit der Amerikaner dafür ausgesprochen, eine weitere Liberalisierung des Welthandels nur noch bei Einhaltung von Ar­ beitsschutzstandards und Menschenrechten zu wollen.297 Selbst der amerikani­ sche Präsident Bill Clinton äußerte sein Verständnis für die Kritik an der Welt­ handelsorganisation und den Fragen von Millionen von Menschen zu den Regeln des Welthandels. Er betonte die Notwendigkeit eines freien Welthandels, warb aber insbesondere auch für die Beachtung des Umweltschutzes und grundlegen­ der Arbeitnehmerrechte298 als „berechtigte Anliegen, die ... berücksichtigt werden sollten.“299 Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan vertrat anläßlich des „Genfer Unternehmer-Dialogs“ die Auffassung, daß die Vereinten Nationen auf globale Lösungen dringen müsse, die alle fair behandeln. Zwar wäre es ein großer Fehler, die ökonomische Integration umzukehren. Jedoch könnten die Märkte nicht isoliert funktionieren.300 Für intensive Bemühungen um eine übergreifende politische Weltordnung spre­ chen auch noch weitere, sich ebenfalls ständig verändernde Rahmenbedingungen. Die Weltpolitik wird auf längere Sicht nicht mehr von der lange Jahre entschei­ denden Bipolarität der östlichen und westlichen Ideologien, auch nicht mehr primär von Macht- und Wirtschaftsinteressen, sondern von den aus unterschied­ lich gewachsenen Kulturen denkbaren Konfrontationen bestimmt werden. Weil gleiche oder ähnliche Kulturen etwas mit leichterem gegenseitigem Verständnis und Vertrauen und damit mit Identität zu tun haben, werden die Diskrepanzen zwischen den Kulturkreisen - so jedenfalls sieht es der Harvard Professor und ehemalige Berater des US-Außenministeriums Samuel P. Huntington - noch hierzu weiterhin Andreas Hoffmann: „Der Bundeskanzler hält sich bedeckt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 08.03.2000, S. 23; in Frankreich sollen feindliche Übernahmen künftig nur unter er­ schwerten Voraussetzungen möglich sein, wobei vor allem der Betriebsrat der übernommenen Firma innerhalb von zehn Tagen bei Verlust der Ausübung der Stimmrechte im Fall der Unterlassung zu informieren ist - Handelsblatt vom 18./19.02.2000; vgl. dazu auch Marc Beise: „Knigge für Fusionierer“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 01./02.07.2000, S. 25 296 Süddeutsche Zeitung Nr. 270 vom 22.11.1999, S. 1: „Politiker setzen sich für Mannesmann ein“ 297 Michaela Schiessl: „Festival des Widerstandes“ - DER SPIEGEL Nr. 48/1999, S. 193 ff. (195)

298 Süddeutsche Zeitung Nr. 280 vom 03.12.1999, S. 1 299

Vgl. den Bericht: „Straßenschlachten zu Beginn des WTO-Treffens in Seattle - 50 000 Menschen protestieren gegen den globalen Kapitalismus*“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 279 vom 02.12.1999, S. 1 300 Vgl. den Bericht: „Konzerne wollen mehr multilaterale Regeln für Globalisierung“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.09.1998

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deutlicher zum Gegenstand politischer Konflikte und Anlaß für entsprechende Lösungsbemühungen.301 Es gibt auch jetzt schon in Deutschland Anzeichen - so etwa die Diskussion um die „Leitkultur“ im Zusammenhang mit der beabsichtig­ ten Einwanderungsregelung - dafür, daß es bei den Fragen nach einer weiterhin nationalen oder eher multi- bzw. interkulturellen Entwicklung nur zum Teil um gewachsene Werte und insoweit um die derzeit bestehenden Identitäten geht.302 Auch Kulturen verändern sich und sind nicht zuletzt durch Politik und Auseinan­ dersetzung, noch mehr aber durch menschliche Kontakte auf vielen Ebenen ge­ stalt- und beeinflußbar. Alles in allem erscheint aber auch - so die Überzeugung des Tübinger politi­ schen Philosophen Otfried Höffe - eine „Weltordnung“ auf Dauer unverzicht­ bar.303 So wie bis heute auch in den nationalen oder gemeinsamen europäischen Identitäten immer Entwicklungen stattgefunden haben und weiterhin stattfinden werden, dürfte es keine Frage sein, daß dieses auf längere Sicht auch weltweit möglich sein und tatsächlich mit veränderten Inhalten stattfinden wird.304 Was davon letztlich zum gemeinsamen Gut einer formalen Ordnung gehören wird und was andererseits im Bereich nicht geregelter Meinungen, Anschauungen und Überzeugungen verbleibt, ist ebenso im Fluß wie auch bisher schon. Entschei­ dend werden dabei nicht so sehr die zu einem beliebigen Zeitpunkt ohnehin im­ mer nur punktuell feststellbaren ,Ergebnisse* sein, sondern die Bedingungen, unter denen sich dieser Prozeß insgesamt menschenwürdig und friedlich vollzie­ hen kann. Denn dieses für die nächsten Jahre auch formal zu organisieren und möglichst zu garantieren wird auf jeden Fall eine wichtige Aufgabe der Politik bleiben.

301 Samuel P. Huntington: „Wohin die Macht driftet - Weltpolitik an den Bruchlinien der Kulturen -

ein Szenario für das 21. Jahrhundert“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. I (SZ am Wochenende); ders.: „Kampf der Kulturen“ - Europaverlag 1997; vgl. auch Yasuhiro Nakasone: „Japan wird gesund“ - Standpunkt - DER SPIEGEL 28/1999, S. 148 302 Marianne Heuwagen: „Was ist deutsch? Mulitkulti, interkulturell und ,Denglisch‘: Die Debatte über die Leitkultur erfasst alle Parteien“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 252 vom 02.11.2000, S. 6 303 Otfried Höffe: „Demokratie im Zeitalter der Globalisierung“ - Verlag C.H. Beck, München 1999; ders.: „Auf dem Wege zur Weltrepublik“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 143 vom 24./25.06.2000; mit Fragen einer „Weltregierung“ oder jedenfalls „Weltinnenpolitik“ befaßt sich auch das Buch des Herausgebers der ZEIT, Theo Sommer: „Der Zukunft entgegen - Ein Blick zurück nach vom“ - Rowohlt Verlag Reinbek 1999 (Besprechung durch Catrin Bialek: „Wohin die Pendel schla­ gen“ - Handelsblatt vom 03./04.12.1999, S. G 9) 304 Wie zum Beispiel Deutschland auf der Grundlage seiner Tradition auch in Zukunft erfolgreich bestehen kann, vgl. etwa die Vorschläge von Klaus von Dohnanyi: „Im Joch des Profits“ - Deutsche Verlagsanstalt (DVA) 1997

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Unternehmen vor neuer Verantwortung Es wird also zwischen den Sorgen der Menschen und ökonomischer und kulturel­ ler Dynamik, zwischen beschwörerischer Zuversicht und offener Ratlosigkeit und trotz aller, bislang überwiegend im politischen Bereich entstehender Denkmodel­ le und Handlungsentwürfe eine weltweite politische, demokratisch legitimierte Instanz in absehbarer Zeit noch nicht geben. Und solange der Weltbürger an Lö­ sungen für die Probleme dieser Welt demokratisch legitimiert nicht mitwirken kann, wird nach Meinung des ehemaligen CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäu­ ble damit ganz grundsätzlich schon „die Fundamentierung durch mehr Werte, durch den Appell an die besseren Eigenschaften des Menschen im nächsten Jahr­ hundert noch wichtiger.“305 Das bedeutet, daß möglichst viele der jetzt scljon vorhandenen Gemeinsamkeiten aufgezeigt und bewußt gemacht werden. Ein sich in dem hier dargestellten Sinne künftig immer mehr multipolar entwikkelndes System unterschiedlicher kultureller Mischungen wirft aber nicht nur die Frage der wirtschaftlichen Existenz ganzer Nationen neu auf, sondern stellt die Unternehmen, besonders soweit sie jetzt schon weltweit agieren, in den kommen­ den Jahren vor grundsätzlich neue Aufgaben und eine neue Verantwortung. Denn die global handelnden Unternehmen sind - worauf auch der Managementexperte Fredmund Malik, St. Gallen hinweist - die einzigen Organisationen, die als Ord­ nungssysteme länderübergreifend überhaupt noch funktionieren.306 Es muß also wie auch der ehemalige Präsident der deutschen Bundesbank Hans Tietmeyer es sieht - daher bis auf weiteres versucht werden, „mit den vorhandenen Organisa­ tionen einen Bestand an gemeinsamen Transparenzregeln und Mindeststandards zu finden.“307 So steigen die Erwartungen an eine ,zähmende Kultur4 der Unternehmen als Kompensation einer nicht formal begrenzten, sozial verpflichteten, ausbalancier­ ten und kontrollierten weltweiten ,Naturgewalt Marktwirtschaft4. Diese Tatsache ist mit der hohen Verpflichtung zu einer entsprechenden Ordnungsaufgabe durch eben diese Unternehmen schon im eigenen wirtschaftenden Interesse verbunden. Mit dem „Übergang von der traditionellen sozialen Marktwirtschaft zur globalen Produktions- und Absatzwirtschaft“ verlagern sich - das beurteilt der WirtDER SPIEGEL Nr. 37/1999, S. 35 306 Fredmund Malik, Vortrag anläßlich des 7. DGFP-Kongresses (Deutsche Gesellschaft für Personalfuhrung) am 05./06. Juni 1997 in Wiesbaden - Personalführung 8/1997, S. 806 ff.; ähnlich Daniel Goeudevert: „Die Autoindustrie hat ihre Aufgabe nicht verstanden“ - SZ-Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 212 vom 14.09.1999, S. 24; auch nach Meinung des CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble werden „die Möglichkeiten staatlicher Regulierungen in der Welt der Globalisierung gerin­ ger“ - DER SPIEGEL Nr. 37/1999, S. 35 Hans Tietmeyer, ehern. Präsident der deutschen Bundesbank, in dem Interview mit Helga Einecke - Süddeutsche Zeitung Nr. 189 vom 18.08. 1999, S. 24

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schaftsethiker Josef Wieland zusammen mit vielen anderen ganz realistisch auch die bislang „staatlich garantierten und auf dem Normalarbeitsverhältnis beruhenden sozialen Sicherungen“ bis auf ein unabsehbares weiteres auf die Unternehmen.308 Diese scheinen alles das - wie die Stimmen anläßlich der Kon­ ferenz der Internationalen Handelskammer (ICC) im September 1998 in Genf gezeigt haben309 - durchaus auch so zu sehen und für sich zu akzeptieren. Aber wie soll und kann das geschehen? Die Unternehmen müssen sich fragen, ob sie ihr Handeln weiterhin so grenzen­ los und ausschließlich rational-ökonomisch begründen dürfen wie bisher.310 Denn auch für Unternehmen ergeben sich - wie am Beispiel der Fusionen dargestellt unmittelbare Nachteile durch eine zu vordergründige, kurzfristig angelegte und ausschließlich ökonomische Sicht, auch wenn es bislang nicht üblich ist, diese alle zu beziffern. Auch ist die soziale Verantwortung der wirtschaftlich erfolgrei­ chen Unternehmen mehr als nur die - in ihrer Wirksamkeit ohnehin fragwürdige - ,anreizorientierte1 Konzentration auf die bei ihnen beschäftigten Menschen als ausbaufähiger Produktionsfaktor. Es muß die Unternehmen schon nachdenklich stimmen, wenn zunehmend kriti­ siert wird, daß „Untemehmensbilanzen ... wichtiger (sind)... als die Bevölkerun­ gen, die von diesen Bilanzen abhängen“ oder registriert wird, „daß diese Wirt­ schaft sich von der Gesellschaft geschieden hat.“311 Darf der weltweite Wettbe­ werb weiterhin ausschließlich als ein wirtschaftliches Thema begriffen werden? Sind Unternehmen nur „Geldmaschinen“ oder auch „Sinngemeinschaft“?312 Von Henry Ford stammt bereits der Satz: „Ein Geschäft, das nichts als Geld verdient, ist ein schlechtes Geschäft.“313 Hier werden also den Unternehmen neue Pflichten 308

Josef Wieland - Personal fuhrung 8/1999, S. 18 ff. (20); ebenso Anette Kleinfeld, Wirtschaftsphi­ losophin bei der Bickmann & Coliegen Untemehmensberatung Hamburg - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Handelsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3 309 Vgl. den Bericht: „Konzerne wollen mehr multilaterale Regeln für Globalisierung“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.09.1998 310 Vgl. dazu etwa Thomas Hübner: „Die Schattenseiten der Flexibilisierung: Des globalen Nomaden­ seins müde“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 218 vom 21.09.1999, S. 28 mit weiteren Hinweisen/Zitaten; Susanne Beyer und Ulrike Knöfel: „Liebe in vollen Zügen“ - zur Fembeziehung als Lebensform der Zukunft - DER SPIEGEL 39/1999, S. 174 ff.; ebenso der Bamberger Soziologe Manfred Garhammer: „Wie Europäer ihre Zeit nutzen: Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung“ Edition Sigma, Berlin 1999, zitiert nach Thomas Hübner: „Schneller essen, schneller schlafen, schnel­ ler duschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1999, S. 26 311 Viviane Forrester: „Gipfel des Tragikkomischen“ - Wirtschaftswoche Nr. 9 vom 19.02.1998,

S. 174; eingehender dazu diess.: „Der Terror der Ökonomie“ 312 Arie de Geus und Bericht: „Sicherer Weg in den Tod - Unternehmen, die sich nur an Gewinn und

Wertschöpfung orientieren, sterben früh ...“ - Manager Magazin Dezember 1998, S. 192 ff.; Bespre­ chung des Buches von Geus auch - Süddeutsche Zeitung Nr. 275 vom 28./29.11.1998, S. 64 313 US-amerikanischer Industrieller (1863-1947) - zitiert nach Platow-Brief Nr. 41 vom 14.04.1998, S. 4; vgl. auch Charles Handy: „Die anständige Gesellschaft. Die Suche nach dem Sinn jenseits des

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auferlegt und abverlangt und nicht mehr nur die Umsatzsteigerung allein als das höchste Ziel begriffen,314 die sie zumindest in dieser Dimension bisher nicht zu erfüllen hatten. Aber so neu ist die Grundidee auch wieder nicht: Der ehemalige japanische Premierminister Yasuhiro Nakasone erklärte einmal eine vorüberge­ hende japanische wirtschaftliche Krise mit der Abschaffung der Moralerziehung sowie einem Wertevakuum, das nicht zur Wiederholung des Fehlers fuhren dürfe, im Zuge der Globalisierung die eigene Position ausschließlich über technologi­ sches Know-how und Wirtschaftswachstum zu definieren, so wichtig es auch sei, hier den weltweiten Anschluß nicht zu verpassen.315 In einem auch geographisch viel weiterreichenden Wirkungskreis entsteht zu­ dem ohne eine glaubwürdige soziale Bindung politisch-sozialer Sprengstoff, der je nach historischem Entwicklungsstand und Temperament unterschiedlich zu Ängsten, aber auch zu Reaktionen fuhren kann, die letztlich für die wirtschaften­ den Einheiten selbst negativ sind: „In einer feindlichen Umwelt lassen sich dau­ erhaft keine guten Geschäfte machen.“316 Der Theologe Hans Küng warnt deshalb mit Recht: „Sollte sich beim Globalisierungsprozeß als oberstes Kriterium allein das Gewinnstreben durchsetzen, muß man sich auf schwere soziale Konflikte und Krisen gefaßt machen, die gegenwärtige Stärke des Kapitals und relative Schwä­ che der Gewerkschaften sollten darüber nicht hinwegtäuschen.“317 Auch nach Meinung des amerikanischen Philosophen Francis Fukuyama spricht mehr dafür, daß eine erfolgreiche Marktwirtschaft nicht die Ursache einer stabilen Demokra­ tie ist, sondern daß die funktionierende Wirtschaftsordnung ebenso wie die De­ mokratie durch den vorgegebenen Faktor soziales Kapital determiniert wird.318 Eine funktionierende Wirtschaft hängt von stabilen Gesellschaftsordnungen ab, die von sich selbst regulierenden Märkten allein noch nicht garantiert werden. Demokratie und Wirtschaftsordnung bedingen einander, auch weltweit. Sie be­

Profitdenkens“ - Bertelsmann München 1998 und Bericht dazu in Manager Magazin Dezember 1998, S. 296; 314 Ervin Laszlo, Mitbegründer des Club of Rome: „Die klassische mechanistische Form der Unter­ nehmensfuhrung hat ausgedient“ - Handelsblatt/KARRIERE vom 05./06.03.1993, S. Kl; ebenso Richard Sennett; vgl. dcrs. in dem Interview - HÖR ZU Nr. 33 vom 13.08.1999, S. 118 ff.: „Wie viele Jobs verträgt das Leben?“ 315 Yasuhiro Nakasone: „Japan wird gesund“ - Standpunkt - DER SPIEGEL 28/1999, S. 148 316 Karl Homann, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik der Universität Eichstätt - SZ-

Gespräch in Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 04.02.1998, S. 32 317 Zitiert nach „Vom Wissenschaftler zum Weltethiker“ - Handelsblatt Nr. 54 vom 18.03.1998, S. 48 318

Vgl. den Bericht von Heinz Metzen über das Buch von Francis Fukuyama: „Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen“ - Kindler Verlag München 1995 - Manager Magazin 10/1995, S. 311

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dürfen daher der intensiven Pflege, wenn sie von den Bürgern getragen werden sollen.319 Und weil es Folgen hat, wenn die Beschäftigten als potentielle Kunden immer weniger über Mittel aus Erwerbsarbeit verfugen, müssen sich die Fragen und Aktivitäten deutlich wahrnehmbar auch auf eine „Globalisierung mit menschli­ chem Antlitz“ konzentrieren.320 Besonders in den sozial belastenden, aus Gründen berechtigter Werteerwartungen aber nicht akzeptablen Auswirkungen auf die Menschen liegen der unverzichtbare Ansatz und die Herausforderung für alle in der Zukunft, das möglichst aus eigener Kraft und mit eigenen Anstrengungen zu ändern. Ein Beispiel für noch immer nicht gelöste Probleme ist die weiter bevor­ stehende Massenarbeitslosigkeit in allen Industrieländern.321 Die Untemehmens­ kultur in diesem Bewußtsein zu verändern und weiter zu entwickeln ist deshalb auch für den ehemaligen Chef von Bertelsmann Reinhard Mohn „viel wichtiger, als auf einen zeitweiligen Kursvorteil zu setzen.“322 Schon die wachsende Europäisierung war aus allen diesen Gründen ein guter Anlaß, sich mit Untemehmenskultur zu beschäftigen.323 Es geht um die Folgen unternehmerischen Tuns für die „Umwelt, Mitwelt und Nachwelt“ und damit nicht nur um Gesinnungsethik, sondern um ein aktives verantwortungsethisches Verhalten.324 Eine interessante, makroökonomische Orientierung bieten hierfür unter anderem die acht „Maximen der Verantwortung“ - von der Demokratie als Friedensstrategie bis zur Förderung der Menschenrechte, dem Abschwören vom Nationalismus und Verhaltensweisen zu Lasten der Handelspartner, von der ver­ trauensbildenden Kommunikation bis zum länderübergreifenden Lernen und Forschen, vor allem aber zu dem intensiveren Dialog zwischen den Kulturen -, die der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog aufgestellt und aus seiner Sicht ausführlich begründet hat.325 319

Helmut Maier - Mannhart: „Banken am Pranger“ unter Hinweis auf Äußerungen des bayerischen CSU-Fraktionsvorsitzenden Alois Glück - Süddeutsche Zeitung Nr. 272 vom 24.11.1999, S. 4 320 So der Bericht zur Entwicklung 1999 der Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) in Bonn - Süddeutsche Zeitung Nr. 157 vom 12.07.1999, S. 21 Manfred Herrmann, Sozialreferent bei der Degussa AG Frankfurt: „Psychosoziales Handeln im Unternehmen - Ein Plädoyer für die Umsetzung bekannter Fakten“ - Personalfuhrung 7/1996, S. 552 322 Interview - Wirtschaftswoche Nr. 25 vom 13.06.1996, S. 65 (66) 323 Ulrich A. Wever, S. 18 324 Klaus M. Leisinger, S. 156 325 Roman Herzog: „Maximen der Verantwortung“ - Serie: Die Gegenwart der Zukunft - Perspekti­ 321

ven der Außenpolitik im 21. Jahrhundert: Im Zeitalter der Globalisierung wird sich das Verhältnis der Nationen zueinander zu einer Weltinnenpolitik entwickeln müssen - SZ am Wochenende - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 121 vom 29./30.05.1999, S. I; der Augsburger Psychologe Oswald Neuberger meint zur Bekräftigung der Kritik des britischen Managementexperten Charles Handy, wonach in dezentra­ len Organisationen die gemeinsamen Werte zum wichtigsten Ordnungsfaktor werden: „Damit erinnert er an vergangene Gesellschaftsmodelle, in denen kleine Gruppen einen bestimmten Moral- oder

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Da die Globalisierung mit allen ihren Gestaltungsaspekten immer mehr nicht nur eine organisatorische, strukturelle, technische und ökonomische, sondern auch eine personale Dimension hat, muß sich das Management dabei - besser aus Einsicht und Überzeugung als notgedrungen - auch auf die bei den Menschen geltenden Werte beziehen, wenn die damit verbundenen, durchaus positiven Er­ wartungen nicht enttäuscht werden sollen.326

Beziehungskisten Es gibt gerade und vor allem in dieser personalen Dimension einen breiten Hand­ lungsbereich, der ebenso die Ausgangslage für die Zukunft aus aktueller Sicht kennzeichnet. Trotz langer Entwicklungen und ständiger Bemühungen der Unter­ nehmen um die persönliche Pflege der Beziehungen zu diversen Partnern sind grundsätzliche Verbesserungen nicht eingetreten. Noch immer bleiben gerade hier grundsätzliche Fragen offen, erhebliche Defizite zu registrieren und damit einschneidende Probleme für die Zukunft zu lösen. Das ist angesichts der vielen Anstrengungen, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich immer wieder gemacht worden sind, durchaus erstaunlich. Denn es handelt sich nicht um neu entstande­ ne Schwierigkeiten, sondern um immerwährende Themen, derer wir nur noch nicht Herr geworden sind. Die Defizite liegen klar auf der Hand. Von der Überbe­ tonung der Sache, einem falschen, eindimensionalen und kurzfristigen Denken bis hin zu einer Fehleinschätzung dessen, was die Menschen auch emotional erwarten, kommt alles in bunter Mischung vor.

Probleme mit dem Shareholder Value Eines der Problemfelder, in denen das besonders deutlich sichtbar geworden ist, liegt noch nicht lange zurück. Nachdem man geglaubt hat, sich darauf verständi­ gen zu müssen, daß im Mittelpunkt jeder unternehmerischen Aktivität nur und letztlich der Eigentümer steht, zeigen sich manche Unternehmen nun durchaus überrascht über das, was sie damit an Ungereimtheiten und auch lautstark geäu­ ßerten Widersprüchen ausgelöst haben. Die reaktive Akzentuierung auf den ShareStandeskodex hatten ... Heute erleben wir das Gegenteil, nämlich den globalen Kapitalismus, in dem Menschen nicht mehr auf gemeinsame Traditionen oder Wertgefuge zurückgreifen können. Handy plädiert für ein familiäres Modell, das negative Folgen der aktuellen Entwicklung korrigieren soll“Wirtschaftswoche Nr. 40 vom 25.09.1997, S. 148 326 Vgl. Josef Wieland - Personalführung 8/1999, S. 18 ff. (19)

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holder war zwar in gewisser Weise fällig, denn die Vergangenheit ist mitunter zu großzügig mit der Tatsache umgegangen, daß auch auf dem Kapitalmarkt ein beachtlicher und zunehmender weltweiter Wettbewerb stattfindet. Aber als un­ mittelbare Folge einer sich daran anschließenden Geisterdiskussion um den zum Modewort verkommenen „Shareholder-Value“ sind nun auch alle die anderen wach geworden und melden sich heftig zu Wort, die an dem Unternehmen und seinem wirtschaftlichen Erfolg auf Grund ihrer jeweiligen Vertragsbeziehung und aus ihrer Sicht natürlich ebenfalls ein besonderes, aber keinesfalls immer mit den anderen identisches Interesse haben. Inzwischen ist angesichts des im Ergebnis mißverstandenen Versuchs, den Aktionär als das alleinige Ziel allen Wirtschaftens in den Vordergrund zu stellen, längst geklärt, daß es nicht nur unmoralisch, sondern auch unwirtschaftlich ist,327 das Shareholder-value-Konzept anders als ein langfristiges Führungsinstrument eines „strategischen Nutzens“ zu begreifen,328 der ja zweifellos in immer wieder unterschiedlichen Facetten mit wechselnden Akzenten im Wettbewerb der Geld­ anlagen, der Produkte und Leistungen und des Arbeitsmarktes steht. Ein Unter­ nehmen trägt aber selbstverständlich gleichzeitig auch Verantwortung gegenüber weiteren Gruppen, zu denen Kunden, Mitarbeiter ebenso wie „relevante Dritte“329 gehören. Wir werden noch sehen, daß diese Rollenverteilung eher eine künstliche und abstrakte, also für das praktische Management ungeeignete ist, denn oft ver­ bergen sich hinter den gleichen Menschen einmal der Kunde, dann wieder der Mitarbeiter und neuerdings zunehmend auch der Aktionär, die also als eine Per­ son mit dem gleichen Unternehmen in unterschiedliche formale Beziehungen treten. Diese nur nach ihren jeweiligen Rollen verschiedenen Interessenten sind als sogenannte ,Stakeholder4 nicht nur alle auch Zielgruppen des unternehmeri­ schen Handelns,330 sondern gleichzeitig Mittel und Bedingung eines erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns überhaupt. Für sie sind damit letztlich formal unter­ scheidbare Rechtsbeziehungen de facto keinesfalls ebenso trennscharf. Vor allem

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John Kay, Berater des Chefs der britischen Labour Partei - zit. nach Mario Müller: „Gentlemen bitten zur Kasse“ - DIE ZEIT Nr. 16/1996 vom 12.04.1996 328 Manfred Perlitz bei der Vorstellung einer diesbezüglichen Untersuchung im Rahmen des II. Mann­ heimer Unternehmens forums am 27./28.06.1996 - zit. nach Christian Deutsch: „Stochern im NeberWirtschaftswoche Nr. 26 vom 20.06.1996; Fredmund Malik: Was wirklich zählt, ist die Zukunft des Unternehmens. „Dafür ließen sich gewiß die Mitarbeiter gewinnen, vielleicht auch Teile der Gewerk­ schaften. Für das Ziel, Aktionäre reich zu machen, sicher nicht“ - Manager Magazin 6/1996, S. 245 ff (247); Markus Pertl, Geschäftsführer der US-Beratungsfirma Stern Steward, in dem Interview: „Nichts motiviert mehr als die Erfolgsbeteiligung“ - DIE WELT vom 08.12.1998; vgl. in diesem Sinne auch Klaus M. Leisinger, S. 97 ff. 329 Ken Blanchard u. Michael O* Connor, S. 31 330 Vgl. auch Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 255 vom 06.11.2000, S. 26

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wird ihre Meinung, die sie sich über das Unternehmen bilden, so stets auf mehre­ ren Wegen mit wechselseitiger Verwendbarkeit gespeist. Vielfach gibt es aus der Sicht der verschiedenen Rollen auch gar keinen wirkli­ chen Interessenkonflikt oder Widerspruch.331 Denn je mehr von ihnen es gut geht, um so intensiver profitieren auch die jeweils anderen früher oder später davon. Oft geht es also nur um das früher oder später. Wenn die Interessen nicht zeit­ gleich erfüllt werden können oder sich die Interessen tatsächlich einmal wider­ sprechen, beweist sich gutes Management gerade in der Ausbalancierung vieler diesbezüglicher Größen.332 Um nach der radikalen Shareholderbetonung alle wieder zu besänftigen und, weil der Schaden den Nutzen dieser gut gemeinten Diskussion wohl eher über­ stieg, die so gefährdeten Erfolgsvoraussetzungen zu erhalten, werden nun wieder neutralisierende Begriffe verwendet wie „langfristige Steigerung des Untemehmenswerts“ oder „wertorientierte Unternehmensfuhrung“.333 Inhaltlich umfassen sie offensichtlich aber auch nur die materielle Seite des erwarteten Nutzens.

Kundenorientierung - nur ein Schlagwort Im Zuge dieser Rundumbetrachtung der Stakeholder ist nun seit geraumer Zeit auch die „Kundenorientierung“ neu entdeckt oder der alte „Kunde als König“ wiederbelebt worden, wofür es zumindest in Deutschland per se schon allen An­ laß gibt. Zum einen drängt dazu der sich immer weiter verschärfende und allen spürbare Wettbewerb, der viele nach neuen oder weitergehenden Mitteln im Kampf um die Abnehmer suchen läßt. Zum anderen wird nun auch sensibler und selbstkritischer registriert, daß es gerade in Deutschland mit der Kundenorientie­ rung überhaupt nicht zum besten steht. 90 Prozent aller Ausländer - so die Fest­ stellungen der Amerikanischen Handelskammer in Frankfurt/M. - bescheinigen den Deutschen, ihren Kunden gegenüber einen eher „unfreundlichen“ Service zu praktizieren.334 Gerade auch im Vergleich zu Japan hat sich Deutschland eher den

331 Vgl. dazu Manfred Krüper, Veba AG - Personalwirtschaft 8/1998, S. 64 332 Fredmund Malik, St. Gallen, zit. nach Hans Baumann: „Auch Manager haben eine Halbwertzeit“ -

DIE WELT (BERUFSWELT) vom 10.10.1998, S. BR1 333 Barbara Bierach: „Deutsche Manager verabschieden sich vom Konzept des Shareholder Value aber nur verbal - Kein Ersatz für Gespür“ - Wirtschaftswoche Nr. 21 vom 15.05.1997, S. 112 ff.; Ulrich Pape: „Wertorientierte Unternehmensfuhrung und Controlling“ - Schriftenreihe Controlling Sternenfels Berlin: Wissenschaft & Praxis, Dr. Brauner GmbH, 1997; „Allianz AG fuhrt konzemweit Wertsteigerungskonzept ein“ - Börsenzeitung vom 09.07.1998; Thomas Jahn: „Wer schafft Wert?“ Capital 10/1998, S. 38 ff. 334 So die Darstellung in der Fernsehsendung „Panorama“ - ARD vom 24.06.1999

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Ruf einer „kundenfeindlichen Gesellschaft“ zugezogen.335 Wer kümmerte sich bislang beispielsweise schon um eine Kategorie von Kunden wie die immer zahl­ reicher werdenden und meistens nicht unvermögenden Senioren. Statt das Ange­ bot für die Älteren auszuweiten, ignorieren viele Unternehmen diesen Zukunfts­ markt 336 Ähnlich ist es in der Automobilindustrie mit den ca. fünf Milliarden Menschen, die nicht in den Industrieländern leben und auf ihre „Automobilität“ noch warten.337 Zunehmend wird daher der „Kundenfreundlichkeit“ jedenfalls verbal eine größere Aufmerksamkeit geschenkt,338 wobei es zunächst noch relativ leicht war, wieder einen neuen Begriff dafür zu schaffen und so ein bestehendes Defizit zunächst einmal nur zu beschreiben. Weniger leicht ist es hingegen, dieses auch mit konkretem Sinn und Leben zu erfüllen und Kundenorientierung glaub­ würdig zu praktizieren. Es bestehen jedenfalls noch beachtliche Zweifel, ob eine wirkliche Orientierung allein über die rege Handhabung dieses Begriffes hinaus schon tatsächlich stattfindet.339 Denn bereits über die Frage, was unter „Kundenorientierung“ jeweils konkret zu verstehen ist, besteht alles andere als Klarheit. Einen bestimmten Inhalt, opera­ tionale Ziele und Kriterien für Kundenorientierung lassen sich selten ausmachen. Was soll ein Unternehmen in Erfüllung dieser Forderung konkret tun? Zuvor stellt sich schon die Frage: Was ist das Ziel? Soll man Marketingstrategien ent­ wickeln, die noch schneller und trickreicher als die Konkurrenz den Kunden zum schnellen Kauf animieren, um sein Geld zu erhalten? Oder soll man einfach nur nett sein zum Kunden, den Kunden lieben und dieses wirklich und wörtlich „um jeden Preis“? Soll man alle seine Wünsche erfüllen, ihm die Wünsche quasi von den Augen ablesen, oder ihm schlicht nur etwas verkaufen, auch wenn er es gar nicht braucht?340 Zu allen diesen Fragen gibt es in den meisten Unternehmen 335 Helmut Laumer, Vorsitzender des Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreises in Bayern: „Sharehol­ der versus Stakeholder?“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 14 ff. (16) 336 Reinhold Böhmer u. Brigitte v. Haacke: „Sonnenblumen am Revers“ - Wirtschaftswoche Nr. 2

vom 07.01.1999, S. 32 ff.; Oliver Gehrs: „Mehr Spots, weniger Wirkung“ - DER SPIEGEL 40/1999, S. 186 ff. (188) 337 Daniel Goeudevert: „Die Autoindustrie hat ihre Aufgabe nicht verstanden“ - SZ-Interview -

Süddeutsche Zeitung Nr. 212 vom 14.09.1999, S. 24 330 Emst Zander: „Kundenorientierte Personalfuhrung“ - PERSONAL 6/1999, S. 302; kritisch zur Praxis insbesondere Jörg Staute, S. 173 ff. 339 Vgl. dazu „Die Lüge von der Kundenorientierung“ bei Jörg Staute, S. 173 ff. 340 „Kundenorientierung“ war das Schlagwort in fast allen Beiträgen des 28. Internationalen Mana­ gement Symposiums in St. Gallen - Bericht von Michael Kuntz: „Im Zerstören liegt die Kraft Schumpeter, oder: Wie Manager in diesem Zeiten voller Widerspräche agieren, um erfolgreich zu sein“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 123 vom 30./31.05.1998, S. 33; Günter Ogger: „König Kunde ange­ schmiert und abserviert“ - Knaur, 1998; Reinhard K. Sprenger: „Bodenloses Gerede - Über das falsch verstandene Bemühen der Unternehmen um Kundenorientierung“ - Wirtschaftswoche vom 27.02.1997; Klaus Backhaus: „Von Kunden und Kosten - Maximale Kundenorientierung heißt die neue Managementformel, die in Unternehmen häufig ftir ziellosen Aktionismus sorgt“ - Manager

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weder Klarheit noch überhaupt eine das gemeinsame Verständnis und damit das konkrete Handeln prägende breite Diskussion. Die Meinungen darüber, was „Kundenorientierung“ ist, sind so zahlreich wie die im Namen des Unternehmens handelnden Menschen und gehen nicht selten weit auseinander. Oft wird für dieses Thema die ausschließliche Zuständigkeit des Vertriebes reklamiert, ob­ wohl ja auch alle anderen an der Produkt- und Leistungserstellung beteiligten Funktionen im Rahmen der gesamten Prozeßkette maßgeblich Einfluß darauf nehmen, was letztlich beim Kunden ankommt. Andererseits ist man sich auch über die Person, wer denn der eigentliche Kunde ist, nicht einig. So findet sich immer wieder die gedankenlose, aber modische Gleichsetzung aller Einheiten innerhalb des Unternehmens als „interne“ Kun­ den.341 Sie steht in krassem Gegensatz zu den Wesensmerkmalen eines wirklichen Kunden, zumal interne Untemehmenseinheiten in der Regel planwirtschaftlich organisiert sind und im Rahmen der gesamten Prozeßkette zur Produkterstellung selbst einen wesentlichen Teil der gemeinsamen Verantwortung gegenüber dem wirklichen, dem marktwirtschaftlich handelnden und vor allem zahlenden exter­ nen Kunden tragen. Daraus resultieren für die internen Struktureinheiten wegen der Arbeitsteiligkeit und Prozeßorientierung in der Regel weitaus geringere Handlungsspielräume und völlig andere Handlungsmaßstäbe. Gemeint sein kann daher für die untemehmensintemen Beziehungen allenfalls ein Umgang und eine Zusammenarbeit, die wichtige Begleitelemente all dessen enthalten, was auch gegenüber einem Kunden wünschenswert ist. Intern geht es aber schlicht um Kommunikation mit allen seinen Voraussetzun­ gen und Wirkfaktoren und damit um schlüssige und effiziente Kooperation zur Erstellung einer optimalen Prozeßkette. Nach einer länderübergreifenden Haus­ halts- und Unternehmensbefragung des Marktforschungsuntemehmens Infratest Burke342 fällt die Beurteilung der „internen Servicequalität“ in Deutschland mit 56 Indexpunkten um fünf Punkte ungünstiger aus als etwa in den USA. Nur 27 Prozent der befragten Firmenmitarbeiter sind in Deutschland mit der Unterstüt­ zung ihrer Tätigkeit durch andere Abteilungen zufrieden. Besonders schlecht im Vergleich zu den USA fällt dabei die Zusammenarbeit mit der EDV, mit dem Vertrieb sowie dem technischen Service aus. Eine positive Ausnahme im Ver­ gleich läßt sich nur für die Dienste der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen feststellen.

Magazin 6/1998, S. 138 ff.: „Kundenorientierung heißt nicht, Wünsche zu erfüllen, sondern Zah­ lungsbereitschaften abzugreifen“; vgl. auch „Leere Worte“ - Manager Magazin 8/1998, S. 86 341 So Untemehmensberater Steffen Schwarz von Weismann & Cie International Management Con­ sultants Nürnberg mit seinem Beitrag: „Besser und schneller am Bau“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 85 vom 14.04.1998, S. 21; ebenso Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 84 342 Bericht in Personalfuhrung 11/1999, S. 12

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Zu einer konsequent marktwirtschaftlich organisierten wirklichen Kundenbe­ ziehung einzelner Funktionen auch innerhalb des Unternehmens, um nämlich etwa über die Steuerung der Qualität und Kosten bei der Erstellung der internen Dienstleistungen343 und damit einzelner Wertschöpfungsbeiträge durch den Preis zusätzliche Wettbewerbsvorteile in der gesamten Prozeßkette zu erwirtschaften, können sich andererseits nur die wenigsten durchringen, obwohl es dafür längst vielversprechende Beispiele gibt. Statt mit falschen Etikettierungen um sich zu werfen sollten sich viele besser eingestehen, daß sie das Potential, das auch intern in marktwirtschaftlich sich optimierenden Regelkreisen liegt, noch nicht erkannt haben. Man verfolge nur einmal die Halbherzigkeiten und „Religionskriege“, die um verschiedene Modelle wie „Profitcenter“344, „Wertschöpfungs-Center“345, „Cosfcenter“ usw. in der Praxis der Unternehmen geführt werden. Revierkämpfe dominieren,346 weil sinnvolle Gemeinsamkeiten für die eigentlichen zahlenden Kunden notgedrungen oft eine neue Machtverteilung einschließen. Alles in allem ist eine zielorientierte, sachlich konsequente und gleichzeitig adressatbezogene, beziehungsorientierte Konkretisierung der Kundenorientierung als Managementleistung selten feststellbar und wirksam. Es sind im Ergebnis jedenfalls nur selten systematische Prozesse eingeleitet worden, um je nach Pro­ dukt oder Leistung die dafür spezifischen Kunden selbst in die Klärung ihrer Erwartungen so einzubeziehen, daß sich die Unternehmen daran auch wirklich konkret - noch besser auch dauerhaft - ausrichten können. Denn zu einer wirkli­ chen Kundenbeziehung gehört die Einbeziehung des Kunden als Partner und „Bezugsperson“. Dieser Mangel mag daran begründet sein, daß die meisten Ma­ cher in der Wirtschaft hierüber zu wenig wissen und das Potential und die Chan­ ce, die darin liegt, immer noch nicht erkannt wird. Es fehlt hier oft am Rollenver­ ständnis ebenso wie am Willen. Dort wo man die Möglichkeiten erahnt, werden nicht die konkreten Ansatzpunkte gefunden, aus den Einsichten Konsequenzen zu ziehen und wirksam umzusetzen. Kundenorientiertes Beziehungsmanagement als Verhaltensweisen von Mensch zu Mensch im Auftrag und Namen des Untemeh343

Vgl. etwa Wilhelm Schmeisser und Alois Clermont: „Die interne Leistungsvereinbarung als Instrument einer kundenorientierten Personalarbeit“ - PERSONAL 3/1999, S. 124 ff. 344 Vgl. dazu speziell Hans-Wemer Butz: „Leistungsverrechnung im Profitcenter Personalabteilung“ - Personalwirtschaft 8/1999, S. 53 ff.; vgl. zu den „Centerkonzepten“ auch Ewald Scherm, Prof, an der Femuniversität Hagen: „Plädoyer für den Zentralbereich Personal - Bei der gegenwärtigen Reor­ ganisation wird Personalarbeit dezentralisiert und zunehmend auf Führungskräfte in der Linie verla­ gert. Dabei wird oft übersehen, daß viele Aufgaben effizient nur von der Zentrale erledigt werden können“ - Personalwirtschaft 8/1998, S. 30 ff. (32, 33) und ders.: „Braucht die Personalwirtschaftslehre mehr Ökonomie?“ - PERSONAL 9/1998, S. 450 ff. 345 Rolf Wunderer, Sabina von Arx u. Andre Jaritz: „Unternehmerische Ausrichtung der Personalar­ beit“ - PERSONAL 6/1998, S. 278 ff. (280) 346 Vgl. etwa Beraterin Elisabeth Sundrum in dem SZ-Interview: „Das Rädchen als treibende Kraft“ Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 24./25.04.1999, S. Vl/1 (Bildung und Beruf)

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mens, fur dessen Rechnung sich ein solches Verhalten im besten Falle auszahlt, in jedem Falle aber auswirkt, kann daher keineswegs als zufriedenstellend gelöst angesehen werden. Das ungute Fazit ist: „Der Untemehmensleiter, der stärkere Kundenorientierung proklamiert, sie aber nicht selbst lebt, wird als Phrasendre­ scher entlarvt.“347

Und immer wieder die leidige Mitarbeiterführung Ganz ähnlich trübe sieht es in dem internen Beziehungsfeld aus, in dem es bislang ebenfalls nicht gelungen ist, die Führung der eigenen Mitarbeiter so gedeihlich zu gestalten, daß von daher die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Wirtschaften gegeben sind. Zwar gibt es kaum eine Frage, die schon mehr diskutiert worden ist als die der richtigen und effizienten Führung der eigenen Mitarbeiter.348 Trotz jahrzehntelanger intensiver Bemühungen um eine mitarbeitergerechte, motivie­ rende und deshalb erfolgreiche Führung sind bislang keine merklichen Fortschrit­ te erzielt worden. Weder die immer perfektionierteren Führungs- und Personalsy­ steme und Managementtechniken haben das vermocht349 noch die vielen Schu­ lungen und Seminare.350 Oswald Neuberger, Psychologe an der Universität Augs­ burg, kennzeichnet treffend die Situation: „Der buntglänzenden Kongreßrhetorik steht... der stumpfgraue Alltag des Unternehmens gegenüber.“351 Die Misere beginnt schon damit, daß es darüber, was „Leadership“ wirklich ausmacht, noch immer kein klares inhaltliches und als selbstverständliche Ver­ pflichtung getragenes Verständnis gibt,352 das gewissermaßen von allen, die Füh­ rungsverantwortung tragen, als ,lex artis4 angesehen wird. Kein geringerer als der 347 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster: „Wer sind wir?“ - Manager Magazin 11/1998, S. 168 348 Vgl. dazu das Literaturverzeichnis am Ende. 349

„Die wenigsten Firmen sind mit den Ergebnissen von Managementtechniken zufrieden“ - Wirt­ schaftswoche Nr. 43 vom 21.10.1999, S. 140 ff.; vgl. auch Heiko Lange: „Personalpolitik - eine neue Herausforderung“ in „Personalmanagement in der Praxis“ - hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Personalfuhrung (DGFP) - Wirtschaftsverlag Bachem Köln 1995, S. 7 ff. (9); 350 Studie des Gallup-Instituts - vgl. dazu den Bericht von Dagmar Deckstein: „Kleines FührungsGeheimnis“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 53 vom 05.03.2001, S. 24 351 Handelsblatt/Karriere Nr. 15 vom 21 ./22.01.2000, S. K2 352 Brigitta Lentz: „Vom Fighten zum Führen“ - Capital 5/1999, S. 41 ff. (42); Oswald Neuberger, Psychologe an der Universität Augsburg - Handelsblatt/Karriere Nr. 15 vom 2 L/22.01.2000, S. K2; vgl. dazu auch Jack Denfeld Wood, Insead: „Was macht Menschen zu Leadern?“ - Handelsblatt/Karriere4 Nr. 215 vom 07./08.11.1997, S. K7 ff.: „Ein Streifzug durch die Geschichte zeigt erstaunliche Gemeinsamkeiten der bekannten Leade-Figuren“; Günter Sauder: „Ein neues Profil“ Personalfuhrung 12/1997, S. 1168 ff. betont die vier Schwerpunkte der Führenden von morgen: Strategische Kompetenz - Veränderungskompetenz - Soziale Kompetenz - Personale Kompetenz.

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wahrhaft nicht unerfahrene Untemehmensberater Roland Berger stellt sogar fest: „Die meisten Topmanager kennen nicht den Unterschied zwischen Leiten und Führen. Ihre angewandten Sozialtechniken halten sie für Sozialkompetenz. Denn in den menschlichen Aspekten des Führens sind die deutschen Manager nicht besonders gut ausgebildet.353 Da ist es dann sicher auch kein Zufall, sondern Bestätigung dieser Mentalität, wenn bei der aktuellen und sehr löblichen Initiative zur Förderung des Ludwig-Erhardt-Preises durch die Spitzenverbänder der deut­ schen Wirtschaft auch nur von einer Verbesserung des Managements, des Ser­ vice, der Produktqualität, der Logistik, der Kosten und des Innovationsmanage­ ments, nicht aber von der Mitarbeiterführung die Rede ist.354 Andere Berater wie Johanna Joppe von Memconsult, die die Untemehmensrealität kennen, unterstreichen das: Selbst auf der hohen Führungsebene einer Hol­ ding zeigen Vorstände eine erschreckende Unkenntnis zeitgemäßer Personal- und Organisationsentwicklungsinstrumente, so daß sie oft - wie sie anhand von Bei­ spielen aufzeigt - zu untauglichen Mitteln greifen, um beispielsweise auch die ihnen zugeordneten Divisionen wirksam zu fuhren. Sie berichtet dazu über ein Chemieuntemehmen, in dem sich ein Holdingvorstand über die Inkompetenz seiner Führungskräfte beklagte und ihm ein zufällig anwesender Berater der Top Five Consulting Unternehmen entgegenhielt: „Wissen Sie nicht, daß Sie die Füh­ rungskräfte haben, die Sie verdienen?“ Noch erstaunlicher ist, was er darauf ge­ antwortet haben soll: „Das hat mir bis jetzt noch keiner gesagt!“355 Ein anderes spektakuläres Beispiel dafür, daß die Ursachen der Probleme meistens schon ganz oben begründet liegen, ist auch der Metro-Konzem mit seinem Aufsichtsratsvor­ sitzenden Erwin Conradi, der die eigenen Manager behandelt „wie Schuljungen. In diesem Ambiente gedieh eine muntere Intrigen-Wirtschaft.“356 Auch für das mittlere Management hatte die Kommunikationsexpertin und Managementberaterin Gertrud Höhler in einer Analyse über die Untemehmens­ kultur des größten deutschen Geldhauses Deutsche Bank festgestellt: „Das mittle­ re Management hat Strategien zur Absicherung gegen aufstiegsfähige Talente entwickelt. Anpassungsbereitschaft und Unterordnung gelten als Erfolgsgaran­ tie.“357 Diese - im 18. Jahrhundert schon dem Freiherm von Knigge bewußten

353 Untemehmensberater Roland Berger - Lufthansa Magazin 2/2000, S. 27 ff. (28) 354

So v.a. Äußerungen des ehemaligen Präsidenten des BDI Hans-Olaf Henkel, zit. nach: „Manage­ ment soll verbessert werden“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 24 vom 30.01.2001, S. 21 355 Johanna Joppe, Memconsult Gesellschaft für Risiko-Management, Kutzenhausen: „Bruderkrieg im Konzern“ - Handelsblatt/Karriere vom 07./08.07.2000, S. K3 356 Sören Jensen u. Dietmar Student: „Catch & Carry“ - Manager Magazin 7/1998, S. 60 ff. 357 Zitiert nach Michael Kuntz: „Virtuosin des Beziehungsmanagements - Die scharfzüngige Kom­ munikationsexpertin Gertrud Höhler wird 60 Jahre alt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 5 vom 08.01.2001, S. 26

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und von ihm unter dem Titel „Umgang mit Menschen“ warnend aufgezeigten358 Feststellungen dürften sich leicht auf andere übertragen lassen und auch heute noch immer aktuell sein. Der Trendforscher, Autor und Untemehmensberater Charles Savage konkretisiert aus seiner Erfahrung noch immer spürbare Defizite so: „Viele Manager kontrollieren ihre Mitarbeiter und schotten sich nach unten ab. Sie wählen nur Mitarbeiter aus, die auf keinen Fall stärker sind als sie.“359 Selbst einschlägig um Verbesserungen bemühte Praktiker aus den Unternehmen geben zu: Der Mitarbeiter gilt bei den im übrigen noch immer stark dem Taylo­ rismus verhafteten Führungskräften als „verschleißbares Teil im Produktionsab­ lauf und manchmal als Sand im Getriebe.“360 Ähnlich äußert sich der Manage­ mentberater und Unternehmenskenner, Pater Athanasius Wolff: „Ein kooperativer Führungsstil wird meist nur für die obersten zwei Hierarchieebenen akzeptiert, darunter wird streng nach Taylor mit Macht regiert.“361 In Wirklichkeit werden Mitarbeiter nicht geführt, sondern als Betriebsmittel eingesetzt. So lautet auch das Ergebnis einer Untersuchung der Untemehmensbe­ ratung Oves Organisations-, Versorgungs- und Entgeltsysteme in Wiesbaden.362 Und Jürgen Fuchs von der Ploenzke AG pflichtet dem bei: „In vielen Unterneh­ men werden die Menschen behandelt wie unmündige Kinder, die von ihren kon­ trollfixierten Vorgesetzten dressiert werden.“363 Ja selbst das Denken, Lernen und Wissenserweiterungen würden vielfach vom Management boykottiert, weil und indem sie „ihre“ Mitarbeiter als Leibeigene ansehen.364 „Dumm, unmündig und fürsorgebedürftig, so mögen auch Manager ihre Mitarbeiter“ stellt die Münchner

358

Vgl. Erhard Glogowski: „Benehmen ist Chefsache“ - Handelsblatt/Karriere vom 02./03.02.2001,

S.2 359

Trendforscher, Autor und Untemehmensberater Charles Savage in dem SZ-Interview: „Das Rädchen als treibende Kraft“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 24./25.04.1999, S. Vl/1 (Bildung und Beruf); ders.: „Vom Vorstand zum Mitstand“ - Interview - Personalwirtschaft 8/1999, S. 12 ff. 04) Kari Schüttkämper, Bercichsleiter Personal bei der Linde AG Aschaffenburg anl. des Nürnberger Forums Personalfuhrung der WiSo Führungsakademie und der örtlichen Industrie- und Handelskam­ mer-Gespräch in Handelsblatt/KARRIERE Nr. 95 vom 17./18.05.1996, S. Kl 361 Zitiert nach Christoph Stehr: „Viel Kommunikation, aber wenig Verstehen“ - Personalfuhrung

Plus’98, S. 74 ff. (76) 362 „Führungsstil - überwiegend autoritär“ - Wirtschaftswoche Nr. 31 vom 23.07.1998, S. 77 363 Besonders auch angesichts der sich entwickelnden Telearbeit furchten deutsche Manager, die Kontrolle zu verlieren - vgl. Senior Consultant bei Siemens Business Service Karl-Heinz Fischbach: „Virtuelle Teams“ - Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 253 vom 03.11.2000, S. V3/12 364 Zitiert nach Dagmar Deckstein: „Raubbau am Humankapital“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 255 vom 06.11.1997, S. 31

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Wirtschafte]’oumalistin Dagmar Deckstein im Zusammenhang mit einer einschlä­ gigen Buchbesprechung des Führungsexperten Reinhard K. Sprenger365 fest. Ein typisches Beispiel für den heute noch am meisten verbreiteten Managerty­ pus repräsentiert etwa der bisherige Chef von Mannesmann, Klaus Esser, der einhellig zwar charakterisiert wird als intelligent, kreativ, ehrgeizig, eloquent, kenntnisreich und fleißig, andererseits aber im Umgang mit Menschen auch als ungeschickt, kalt, demotivierend und fuhrungsschwach gilt. Er ist „weit weg von der Gedanken- und Gefühlswelt anderer. Kaum jemand aus seiner engeren Um­ gebung kann sich erinnern, je Anflüge sozialer Kompetenz an ihm bemerkt zu haben.“366 Das Schlimmste ist, daß damit normalerweise auch die Einstellung einhergeht, gar nicht anders sein zu wollen. Die von solche Eigenschaften und Einstellungen geleiteten Verhaltensweisen prägen die Führungspraxis in den Unternehmen und ihre zweifelhaften Ergebnis­ se: „In 90 Prozent aller Unternehmen herrscht eine Mißtrauenskultur, mit der wichtige Leistungs- und Gewinnpotentiale verschenkt werden, weil es den Topmanagem an ethischem Führungsverhalten mangelt.“367 Ja es ist bereits die Rede von einem „Flurschaden, der ... durch das Verhalten vieler Unternehmensleitun­ gen angerichtet wird“ und „uns auf Jahre hinaus mit einer Hypothek belasten wird, deren Zinsen wir kaum werden bezahlen können.“368 Daß derartige Folgen etwas mit dem Beziehungsmilieu zu tun haben, ist allen Kennern, Beobachtern und Betroffenen offensichtlich, obwohl sie von den Verursachern nur selten als auf diese Ursachen zurückgehend erkannt, geschweige denn zugegeben werden. Inzwischen kann kaum mehr jemand den Blick davor verschließen, daß die Verhältnisse eher noch schlechter als besser geworden sind. Das hat seine Ursa­ chen in den aktuellen und sich für die weitere Zukunft abzeichnenden und schnell wechselnden Rahmenbedingungen, die die in Schweden lehrende amerikanische Ökonomieprofessorin Maureen Mc Kelvey so beschreibt: „Wir sind damit kon­ frontiert, daß ein fundamentaler Wandel nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Art, wie wir leben, stattgefunden hat. Erlebten frühere Generationen noch Perioden von Beständigkeit, so befinden wir uns in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Heute dauert es häufig nur noch zwei Jahre, bis ein Produkt

365 Dagmar Deckstein: „Individuen, nicht Invalide“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr5. 5 vom 08.01.2001, S. 25 zu Reinhard K. Sprenger: „Aufstand des Individuums. Warum wir Führung komplett neu denken müssen“ - Campus Verlag 2000 366 Werner Jaspert: „Im Profil“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 35 vom 12./13.02.2000, S. 4

367 Jürgen H. Lietz, Ganzheitlich - Energetische Führungsberatung Würzburg - Manager Magazin

10/1997, S. 326 368 Reinhard K. Sprenger: „Die wahre Krise“ - Capital 8/1993 vom 28.07.1993

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oder Verfahren überholt ist. Wir haben laufend Kontakt mit Neuem, und es wird ein ungeheurer Anspruch an die Lernfähigkeit der Menschen gestellt.“369 Die aktuellen Felder, auf denen die Unsicherheiten demgemäß auch laufend und immer deutlicher spürbar werden, sind zahlreiche Veränderungsprozesse, die zu managen sich für viele Führungskräfte schon als rechter Leidensweg370 erwiesen hat. Trotz sorgfältiger Vorbereitung scheitern viele Projekte schlicht im Tun.371 Denn gerade der Führungssektor wird im Gegensatz zu allen Bemühungen um die Sache unter dem Druck der „konkurrenz- und leistungsorientierten Untemeh­ menskultur“ immer mehr vernachlässigt. Trotz aller bisherigen Bekenntnisse über die „Ressource Mensch“ steht weiterhin „nicht der pflegliche Umgang mit Men­ schen ... im Vordergrund, sondern ausschließlich der meßbare Wertschöp­ fungsbeitrag des einzelnen,“372 sofern er überhaupt noch eintritt. Mitunter fragt dann einer, ob die in allen Führungsgrundsätzen seit Jahren beschworene koope­ rative Führung nur in guten Zeiten gilt.373 Auch wenn auf hoher Abstraktionsebe­ ne Einigkeit darin besteht, daß der Mitarbeiter als „Geistpotential und Mitgestal­ ter“ im Zuge der Globalisierung des Wettbewerbs ganz nach oben rückt, gibt es immer wieder Streit über den richtigen Weg und bessere Führungskonzepte. Und hoch sind im Alltag „die Barrieren der schlechten Gewohnheit“.374 Dazu kommt, daß nach Beobachtungen von Fachleuten die Unternehmen auch immer „spontaner“ ihre Chefsessel besetzen oder eine „kurz entschlossene“ Aus­ wahl treffen mit der Folge, daß viele jünger und unvorbereiteter in Führungsauf­ Maureen Mc Kelvey, Institut für Technik und sozialen Wandel der Linköping Universität in Schweden - BMW Magazin 4/1999, S. 48 ff. (50) 370 Heinz Metzen, „Leidensweg“ - Manager Magazin 11/1994, S. 279 ff.; vgl. auch Klaus J. Haller: „Keine Restrukturierung ohne vorausschauende Kommunikation“ - Handelsblatt Nr. 121 vom 26.06.1996, S. 22 371 Untemehmensberater Hans Scholten - Interview: „Das Wort Scheitern steht in deutschen Unter­ nehmen auf dem Index“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1; „Komplizierte Pyramiden von Projektgruppen sollen den Übergangsprozeß (bei Fusionen) planen, aber vor lauter Komplexität agieren diese Trupps dann so schwerfällig, daß keiner mehr weiß, wer für was verant­ wortlich ist“ - vgl. Dagmar Deckstein: „Frösche, Hasenfuße, Hasardeure“ - SZ-Management - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 105 vom 08.05.2000, S. 24 372 Oswald Neuberger, Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Augsburg - Interview in Wirt­

schaftswoche Nr. 2 vom 07.01.1999, S. 67; ebenso die Befragung der Management Akademie Bad Harzburg unter 350 Führungskräften: „Wir wollen so bleiben wie wir sind“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1; so auch der Geschäftsführer des INPUT-Instituts für Personalund Untemehmensmanagement, Paderborn, Richard K. Streich: „Führungsalltag zwischen Qual und Qualität“ - Personalführung 11/1999, S. 16 ff. (17) 373 Heinz Knebel, CONSULEKTRA: „Mitarbeiterorientierte Führung - nur für gute Zeiten gut?“ in

PERSONAL Heft 8/1993, S. 368 ff. Werner Then, Präsident der Deutschen Management Gesellschaft, Leiter des Instituts für Innovati­ on im System Arbeit an der Fachhochschule Nürnberg, Vorstandsmitglied des Bundes Katholischer Unternehmer und langjähriger Geschäftsführer der Randstad GmbH, in dem Interview mit dem AR­ BEITGEBER 23/44 - 1992, S. 916 ff.: „Forschungsgegenstand: Zukunft der Arbeitskultur“ 374

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gaben gelangen.375 So sinken trotz der erheblich steigenden Anforderungen gera­ de hierfür Erfahrung und Qualität. Gerade bei der immer härter umkämpften Rekrutierung junger Potentiale wirken sich derartige Organisations- und Füh­ rungsmängel als geradezu typischer Anlaß für Konflikte und als Förderung einer unerwünschten, schnellen Abwanderung aus.376 Aber was auch immer Berater sagen oder fehlende, schlechte oder auch nur viel zu spät eintretende Veränderungsergebnisse unwiderlegbar ausweisen, ist nur das eine. Entscheidender Beleg und permanenter Gradmesser für die gesamte Misere des Führungsverhaltens sind und bleiben allemal die Reaktion und zunehmende Kritik der Geführten selbst. Es sieht so aus, als ob der Unzufriedensheitsparameter der Beschäftigten in der deutschen Wirtschaft der einzige ist, der überhaupt noch deutlich nach oben weist, und bei dem auch weiterhin schlechte Zukunfts­ perspektiven mit dramatisch steigenden Wachstumsraten zu erwarten sind: Einer groß angelegten Meinungsumfrage von Infratest Burke377 zufolge herrscht bei Mitarbeitern insgesamt schon keine große Begeisterung für die Untemehmensziele und vor allem in den unteren Etagen des Konzerns nur „miese Stim­ mung“. Nach jüngeren Befragungsergebnissen des Münchner Geva-Instituts zum Betriebsklima sind Frust und Mangel an Motivation nicht nur die größten Hin­ dernisse der deutschen Wirtschaft, um das zu verwirklichen, was die Anforderun­ gen der Zukunft verlangen. Inzwischen sind bereits 60 Prozent der Arbeitnehmer mit dem Klima am Arbeitsplatz und mit ihrem Verhältnis zum Vorgesetzten un­ zufrieden.378 Auch die Loyalität zum Unternehmen nimmt ab und ethische Prinzi­ pien stehen signifikant noch niedriger im Kurs als in früheren Jahren.379 Der wichtigste Grund für ihre zunehmend ‘stille Leistungsverweigerung’ ist das ihnen gegenüber praktizierte Fehlverhalten der Führungskräfte. In den Wirtschaftsuntemehmen beklagen sich 70 Prozent der Mitarbeiter bitter über gravie­ rende Führungsdefizite ihrer Vorgesetzten. 380 Nach den Ergebnissen einer ande­

375 Management-Trainer Helmut Borsch, Leiter der AFW Wirtschaftsakademie Bad Harzburg GmbH und Emst Frisse, Trainer der VA-Akademie für Führen und Verkaufen in Sulzbach/Taunus - zitiert nach dem Bericht von Rita Mohr: „Jung, dynamisch - und schlecht vorbereitet“ - Süddeutsche Zei­ tung Nr. 143 vom 24./25.06.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 376 Vgl. dazu den Bericht von Jutta Greis: „Individualisten integrieren“ - Handelsblatt/Karriere vom 03./04.11.2000, S. K4 377 Vgl. „Mitarbeiterfrust und Kundenlust“ - Capital Nr. 3/1999, S. 52 378 Geva-Institut München - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 17.10.1998, S. BR1; ebenso Henner Ertel, Leiter des GRP Institut für Rationelle Psychologie in München - Wirtschaftswoche Nr. 2 vom 07.01.1999, S. 61: „Konflikte zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten gehören heute zu den größten Problemen in der Wirtschaft.“ 379 So die aktuelle Umfrage des Frankfurter Personalberaters Frank Höselbarth und der Deininger Untemehmensberatung unter 623 Führungskräften über das „Eigenschaftsprofil von Beratern und Managern in einem Sieben-Jahres-Vergleich 1993 und 2000“ - zitiert nach Dagmar Deckstein: „Der neue Jugendlichkeitswahn“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 36 vom 14.02.2000, S. 27

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ren Umfrage im oberen und mittleren Management und der Fach- und Nach­ wuchskräfte381 stehen mangelnde Führungsqualitäten der Vorgesetzten bzw. des Managements mit 75 bis 85 Prozent an der Spitze aller Ärgernisse im Büro. Er­ staunlicherweise gilt das auch aus der Sicht der Führungskräfte selbst: Nach einer Befragung von Personalmanagem382 steht der Führungsstil auch ihnen gegenüber an erster Stelle der Ursachen für deren eigene Motivationsdefizite. Die Mehrzahl der Führungskräfte - so auch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Hambur­ ger Personalberatung Dieter Strametz & Partner zusammen mit der Universität Hamburg unter mehr als 600 Führungskräften und Mitarbeitern - ist nicht in der Lage, die Zusammenarbeit der Mitarbeiter zu fordern.383 Zu dem gleichen Ergeb­ nis kommt schon eine frühere Untersuchung des Fraunhofer Instituts für Produk­ tionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin nach einer Befragung von 15 000 deutschen Arbeitnehmern.384 Konkret begründet wird die Kritik an den Vorgesetzten im einzelnen besonders damit, daß Führungskraft nie, selten oder nur manchmal den Mitarbeitern Sinn und Zweck der Arbeit vermitteln. Sie geben ihnen auch nicht das Gefühl, Kritik äußern zu dürfen. Zum weiteren kritisieren sie an den Führungskräften, daß sie eigene Fehler nicht offen zugeben. Die Hälfte bemängelt allein ein Mitspracherecht bei Entscheidungen, welche die Gruppe betreffen, die damit belastete Moti­ vation der Gruppe und das ausbleibende Wir-Gefühl. 56,6 Prozent der Befragten in der Hamburger Umfrage gab an, daß sie nicht nach ihren Stärken und Schwä­ chen, Interessen oder Zielen eingesetzt würden. Auch sonst steht ganz oben in der Kritik an den Führungskräften, daß sie zu wenig informieren, zu geringe Entwicklungsmöglichkeiten bieten und Personal abbauen. Gerade mit dem zuletzt genannten Aspekt wird den Mitarbeitern späte­ stens dann ihre ganze Verachtung zuteil, wenn sie nur noch zum Kostenfaktor degradiert werden385 oder Rationalisierungspotential sind. Tom Sommerlatte von der Untemehmensberatung Arthur D. Little bestätigt das: „Der Mitarbeiter wird

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Personalfuhrung 3/1999, S. 6; ähnlich die Fachhochschule Rheinland-Pfalz nach einer Befragung von Personalverantwortlichen in Unternehmen - vgl. den Bericht: „Abschied von der Leistung“ - FAZ vom 04.07.1995, S. 69 381 Handelsblatt Nr. 26 v. 02./03.07.1993 - EMC Medienservice KD 93-04 382

Vgl. Hugo M. Kehr und Petra Bles: „Bedeutung der Führungskräfte-Motivation“ - PERSONAL 11/1999, S. 571 ff. (573) 383 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 61 vom 13.03.1999 384 „Führungskräfte: Ungeahnte Defizite“ - Wirtschaftswoche Nr. 30 vom 16.07.1998, S. 78 385 Arie de Geus (Verfasser des Buches: „Jenseits der Ökonomie“) - Manager Magazin 12/1998, S. 192 ff. (194); auch der Konzembetriebsratsvorsitzende der ThyssenKruppAG, Dieter Kroll, macht das mangelnde „Wertemanagement von Menschen“, vor allem bei den arbeitenden Menschen, ftir die zunehmende Demotivierung verantwortlich besonders „dort, wo Kostensenkungsprogramme ihr übriges tun.“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 136 vom 15.06.2000, S. 29

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ständig seines Stolzes im Unternehmen beraubt.“386 Die wesentliche Ursache für derartige Führungs- und Motivationsprobleme und alle damit einhergehenden Konflikte scheint auch nach Ansicht des Lüneburger Professors Wolfgang Grun­ wald387 zu sein, daß „in vielen Organisationen eine uralte universelle Norm zwi­ schenmenschlicher Beziehungen verletzt wird: Das Prinzip der Wechselseitigkeit. Die hiermit verbundenen seelischen und materiellen Kosten erscheinen in keiner Bilanz.“ Kritisch wird von den Beschäftigten interessanterweise auch angemerkt, daß das Leistungsprinzip zu wenig durchgesetzt wird, indem Bequemlichkeit nicht bestraft wird.388 Dieses zeigt auch eine Untersuchung, die sich speziell an einem von der Harvard Business School entwickelten Führungsleitbild mit den Berei­ chen „Führungsqualität“ (Umgang mit Mitarbeitern), „Kooperation und Konsens“ und „unternehmerisches Denken“ orientiert.389 Mangelhaftes Führungsverhalten deckte diese Befragung von 200 Führungskräften auch bei der Einbeziehung der Mitarbeiter, dem schlechten Verkaufen vieler neuer Ideen und Projekte sowie für ihre Glaubwürdigkeit auf. Zum Führungsstil fand auch das Münchner Geva-Institut erheblichen Nachhol­ bedarf, besonders bei den so häufig eingeforderten weichen Faktoren. Die Studie bei Chefs und deren Mitarbeitern in 250 Unternehmen zeigte, daß sich Manager besonders bei der Teamorientierung, Mitarbeiterförderung und in ihrem Ein­ fühlungsvermögen gewaltig überschätzen. Für viele werden Mitarbeiter oft erst dann wirklich beachtlich, wenn sie sich untereinander nicht vertragen.390 Da Streit den Blick ablenkt, betätigen sie sich dann allenfalls als hektische ‘Betriebsmeteorologen’, als Schönwettermacher, was nicht einfach, selten wirklich pro­ blemlösend und wegen der eigenen Unbeholfenheit in solchen Dingen aber auch nicht beliebt ist. Was die von fachkundigen Beratern und Untemehmenskennem angesprochene, aber vermißte Führungsqualifikation anbetrifft, so findet sie aus der Sicht der eigenen Mitarbeiter eine nicht weniger kritische Einschätzung: Unzureichende Qualifikation der Vorgesetzten gehört mit einem Anteil von 52 bis 70 Prozent der Tom Sommerlatte von der Untemehmensberatung Arthur D. Little in dem Beitrag „Deutsche Manager sind zu träge“ - DIE WELT vom 01.11.1997, S. 15 387 Wolfgang Grundwald: „Geben und Nehmen“ - Personalwirtschaft 1/1997, S. 50 ff. 388 Vgl. Meinungsumfrage von Infratest Burke: „Mitarbeiterfrust und Kundenlust“ - Capital Nr. 3/1999, S. 52 389 Wolfgang Strasser - Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Blick durch die Wirtschaft v. 14.07.1993; ders. in Handelsblatt v. 23./24.07.1993 über seine Untersuchung bei deut­ schen Führungskräften; vgl. auch Esther Muench: „24 Stunden Unternehmer sein - Unternehmer sein kann man lernen, meint Professor Walter Kümmerle von der Harvard Business School“ - Handels­ blatt/Karriere vom 15./16.09.2000, S. K9. 390 „Streit unter Mitarbeitern“ - „Blätter für Vorgesetzte“ des Arbeitgeberverbandes Chemie e.V., Dezember 1997/ 41. Jahrgang, S. 4 ff.

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Nennungen zu dem zweitgrößten Mißstand oder ,Frustrated. Ein großes Defizit in der Qualifikation trifft übrigens auch für alle anderen Mitarbeiter zu,391 so daß mancher Konflikt auch dort seine Ursache hat, ohne daß diese entsprechend auf­ gegriffen und offen thematisiert wird. Aus alledem resultieren Fehler in und bei der Führung, die mit 75 Prozent den überwiegenden und damit entscheidenden Anteil ausmachen und entsprechend auf die Unzufriedenheit der Geführten durchschlagen.392 Insgesamt gesehen sind es besonders die von der persönlichen Einstellung her geprägten und verhaltensorientierten Mißstände, die spürbar frustrieren, die sich zusehends negativ entwickeln und schlechte Emotionen oder ungute Stimmungen bewirken, weil sie das persönliche und menschliche Umfeld belasten. Wenn er­ kennbar schon die Vorgesetzten sich nicht mehr mit dem Üntemehmen identifi­ zieren und nur noch ihren persönlichen Präferenzen nachgehen, haben sie auch kein Interesse mehr an ihren Mitarbeitern. Dabei sind gleichzeitig manche sonsti­ ge, verstandesgemäß erkenn- und vermittelbare Rahmenbedingungen wie guter Gesamterfolg und Ertragslage ja oft gar nicht so schlecht verlaufen, als daß von da her nicht aller Anlaß wäre, positiv gestimmt und zufrieden zu sein. An einigen typischen Beispielen wird vielleicht schnell erkennbar, was hier eigentlich so fatal ist und die tägliche Praxis bestimmt: Es hat mit Führung nichts zu tun, wenn der Führende selbst nicht weiß, was er will, oder wenn er sich nur - manchmal in stündlichem Wechsel - aus opportuni­ stischen Gründen situativ daran ausrichtet, was der eine oder andere seiner Obe­ ren, mit denen er gerade gesprochen hat und von denen er selbst abhängt, von ihm erwartet. Noch schlimmer ist es, wenn es sich nur eine vermeintliche Erwartung handelt, weil er auch noch die Scheu hat, es im Zweifel oder zur Vermeidung von Mißverständnissen einmal ausdrücklich zu klären. Führung ist auch nicht erkennbar, wenn der Chef nach der unverhohlen prakti­ zierten, ausschließlich selbsterhaltenden Devise „Divide et impera!“393 nach Be­ lieben Aufgaben oder Aufträge wie Brotkrumen zuteilt und dann schließlich keiner der Geführten mehr weiß, welche Aufgaben er nun wirklich hat, wofür er verantwortlich ist und was die anderen jeweils tun. Auch Außenstehende wissen nicht mehr, an wen sie sich in welcher Sache verbindlich wenden können. Dazu gibt es dann auch noch eine listige, scheinbar rationale Erfindung, die offenbar 391

Vgl. z.B. auch die Umfrage des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung im Mai 1999, wonach 60Prozent aller Betriebe über unzureichende Qualifikation klagen. In den Schulen, Hochschulen und der Berufsausbildung würden Fähigkeiten für die berufliche Praxis nicht genügend vermittelt. Neben den eigentlichen Berufskenntnissen fehlten zunehmend Teamfähigkeit, Sprachgewandtheit, Kompe­ tenz und Verantwortungsbewußtsein. Selbst bei Abiturienten und Akademikern seien erschreckende Mängel beim Schreiben und Rechnen festzustellen - KI (Sozialpolitische Kurzinformation) des Arbeitgeberverbandes der Versicherungsuntemehmen in Deutschland 3/2000, S. 4; kritisch zur Schule in diesem Sinne auch Florian Langenscheidt: „Unser größtes Kapital“ - Capital 8/2000, S. 222 392 So Andreas Lukas - Personalwirtschaft 2/1998, S. 51 ff. (52)

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jeden Zickzackkurs und alle unberechenbaren Variationen rechtfertigt. Es ist die zunächst schlüssig klingende Begründung, auch andere müßten einmal Gelegen­ heit haben, im Interesse ihrer Weiterentwicklung die Aufgaben zu wechseln oder von anderen zu übernehmen. Ob dazu auch gehört, daß dieses ohne Rücksicht auf Fähigkeiten, Erfahrungen und Kenntnisse ausschließlich nach dem schnell wech­ selnden und sachlich nicht nachvollziehbaren, geschweige denn ausdrücklich kommunizierten Belieben des Vorgesetzten erfolgt, ist nochmals eine andere Frage. Es wird dabei jedenfalls eines verkannt: Der Versuch, auf diese Weise eine nicht zielgerichtete oder planmäßige Personalentwicklung zu betreiben, ist nicht nur fachlich absurd, sondern pflegt in der Regel den anderen, den davon negativ Betroffenen - seien es nun Mitarbeiter oder Kunden - auch überhaupt nicht zu interessieren. Und mit dem Ergebnis eines solchen scheinbaren Führungsverhal­ tens sind sie ebenso wie alle anderen auf gar keinen Fall zufrieden. So betreibt man nur Distanzierung, nicht Identifikation. Auch von Professionalität keine Spur! Führung ist es auch nicht, wenn der dafür Verantwortliche zwar ein Ziel hat, es aber nicht vermittelt, seine wahren Ziele nicht offenlegt, sich also nicht persön­ lich akquirierend, wahrnehmbar bei einzelnen dafür einsetzt, um offen und ver­ trauensvoll Gemeinsamkeiten zu klären und zu schaffen. Eine Führungskraft gibt ihre Ziele auf, wenn sie schlicht - meistens schweigend - akzeptiert, was andere wollen. Und da schon ‘ganz oben’ jeder gern nur das macht, was er selbst will, ohne sich mit seinen Kollegen zu koordinieren, bauen sich bewußt und noch mehr unerkannt bleibende Zielkonflikte als Ausfluß man­ gelnder Kommunikation kaskadenhaft zu einem betriebswirtschaftlichen Kostenund negativen Effizienzfaktor allergrößter Ordnung auf mit der Folge, daß durch die ungeklärten Ziel- und Handlungsbedingungen dauerhaft und sinnlos Zeit und Kapazität verbraucht und vergeudet werden. Leider erscheint auch das Ergebnis solcher Defizite nirgendwo als Zahl oder Geldwert, sonst wäre es längst Gegen­ stand intensiver Korrekturbemühungen. Das reine Gegenteil von kooperativer Führung ist eine die Kooperation total mißverstehende Neigung zur „Basisdemokratie“ fast schon nach dem Muster eines „Rätesystems“ in der Absicht, damit jeglichen Ärger vermeiden zu können: Nicht die Führungskraft entscheidet jetzt nach Zielmaßstäben, qualitativer Bewer­ tung und Gewichtung der Beiträge und persönlichen Auswirkungen, sondern die Meinungen der „Basis“ - also die Führungsadressaten selbst - entscheiden letzt­ lich, manchmal sogar mittels Abstimmung auf quantitativer Mehrheitsbasis. Viele Führungskräfte verstehen und realisieren nicht die Gratwanderung zwischen 393

„Teile und herrsche!“ - Dieser Ausspruch soll auf den französischen König Ludwig XI. (1423 1483) zurückgehen - vgl. Georg Büchmann: „Geflügelte Worte“ - Droemer Knaur, München/Zürich 1959/1978.

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dieser Form der allein auf Mehrheiten abgestellten Partizipation, die keine Füh­ rung ist, weil sie die Führung selbst an ,Beschlußgremien4 abgibt, und einem kooperativen Führungsstil, der die inhaltliche Akzeptanz eines sachlich richtigen und möglichst viele überzeugenden Standpunktes durch seine Qualität und eige­ nes wertschätzendes Verhalten herstellen soll. Führung ist schließlich auch nicht vorhanden, wenn man in entscheidenden Augenblicken den Berater von außen benötigt, um sich über sogenannte Mana­ gement Audits von diesem sagen oder helfen zu lassen, welche der eigenen Füh­ rungskräfte oder Manager den Anforderungen genügen oder nicht. Darin liegt geradezu das Eingeständnis mangelnder Steuerungseffizienz: „Hier werden die Führungskräfte auf den Prüfstand gestellt - von externen Beratern. In den eigenen Reihen scheint keine Kompetenz für die Selektion und Einschätzung von Füh­ rungspotential vorhanden zu sein. Das macht Angst und diszipliniert, von Ent­ wicklung keine Spur.“394 Statt „bei allem und jedem nach externen Beratern zu rufen“, sollten Führungskräfte künftig vielmehr „wieder selbst handeln“ meint auch Siemens-Chef Heinrich von Pierer.395 Anforderungen an eine Position wer­ den nur dann erfüllt, wenn sie typischen kritischen Situationen gerecht werden. Keiner benötigt ,Schönwetterkapitäne4. Dennoch verlangen gerade diese kriti­ schen Anforderungen an Führungskräfte immer wieder nach externer Hilfe: „Im­ mer mehr Vorstände und Aufsichtsräte wollen es wissen ...!“396 Inzwischen scheinen die vielen dadurch angerichteten Flurschäden und unakzeptablen »Er­ gebnisse4 nun immerhin doch dazu geführt zu haben, daß sich dieses Instrument vielleicht mehr und mehr zu einem hoffentlich sinnvollen Personalentwick­ lungsinstrument unter starker Einbindung des Unternehmens und mit hoher Ak­ zeptanz durch die Betroffenen fortbildet.397 Und natürlich und vor allem ist individuelle Führung von Menschen nicht iden­ tisch mit kurzfristiger kollektiver Planung398 und deren mechanistische Umset­ zung als „Implementierung“. Viele scheinen das wirklich nicht zu wissen, ja nicht einmal zu ahnen. Sie nennen Führung, was Stäbe, Projektgruppen und Arbeits­ teams sich ausdenken, und was dann als allgemeine Richtlinie oder als flächen­ deckende Entscheidung wie ein Rasenmäher über das Geschehen walzt, allenfalls

Bemd Wildenmann: „Kompetenzdefizit in der oberen Führungsebene“ - Personalwirtschaft 5/1998, S. 74 395 „Ende eines Softies“ - DER SPIEGEL 43/1999, S. 142 396 Brigitta Lentz: „Manager auf dem Prüfstand - Management Audits“ - Capital 1/98, S. 60 ff; Klaus Leciejewski: „Das Management-Audit hat viel von seinem Schrecken verloren“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 145 vom 31.07./01.08.1998, S. K2 397 Klaus Leciejewski: „Das Management-Audit hat viel von seinem Schrecken verloren“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 145 vom 31.07./01.08.1998, S. K2 398 Ebenso Johanna Joppe, Memconsult Untemehmensplanung und Controlling GmbH Kutzenhausen: „Management ist nicht gleich Planung“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 130 vom 10./11.07.1998, S. K2

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noch nachgehalten in Kennzahlen und Statistiken. Deshalb gelten die Deutschen auch nach Meinung des gerade hier oft mißverstandenen Reengineering-Guru Michael Hammer als „Weltmeister in Sachen ,Generalstabskonzept*, demzufolge Pläne zentral von den besten Köpfen ausgearbeitet werden und die Ausführung dieser Pläne den »Frontkämpfern* obliegt.“399 Solche Art »Planung als operativer Führungsersatz* bzw. als »kollektive Steuerung individueller Ziele* ist ein Fehl­ verständnis richtiger und notwendiger wirklicher Planung und mit so vielen Män­ geln und Nachteilen behaftet, daß sie nicht das Papier wert ist, auf dem sie steht:



Schon die Planungsinhalte sind regelmäßig viel zu sehr nur auf Teilaspekte, insbesondere etwa die Reduzierung von Kosten und nicht auf Ergebnisse bzw. unternehmerische Gesamtszenarien oder die Mitarbeiter anreizenden Handlungspotentiale bezogen. Damit richten sich die Ziele gleichzeitig schon von Anfang an auch gegen die Mitarbeiter als Kostenfaktoren. Mitarbeiter, von denen man etwas erwartet, dürfen aber nicht Kostenfaktor sein,400 son­ dern müssen als Vermögenswert behandelt werden, die sogar auch Anleger veranlassen können, ihr Geld in attraktive Arbeitgeber zu investieren.401 Nicht mehr die alten Kategorien Umsatz oder Gewinn pro Mitarbeiter sind die richtigen Maßgrößen, sondern allein die Wertschöpfüng bezogen auf das eingesetzte Kapital nach Abzug einer marktüblichen Verzinsung.402 Nicht selten fehlt es bei den reinen Kostenbetrachtungen auch schon an einer Diffe­ renzierung nach laufendem Aufwand und Investitionskosten, so daß die Be­ schäftigten nicht einmal mehr als investive Träger innovativer Wertschöp­ fungen gesehen und behandelt werden. Zu den falschen Inhalten einer solchen Planung gehört auch die in der Pra­ xis vorherrschende Überschätzung der technischen Komponenten wie Auf­ bau- und Ablauforganisation. Es entstehen hierbei rationale, kopfgesteuerte Analysen und Organisationsmodelle, die nichts zu tun haben mit denen, für

Zitiert nach Dagmar Deckstein: „Wer wirklich gut ist, ist zu schade zum Führen“ - SZManagement - Süddeutsche Zeitung Nr. 80 vom 06.04.1998, S. 26 400 Besonders kritisch wegen der damit verursachten Glaubwürdigkeitslücken Reinhard K. Sprenger: „Die wahre Krise“ - Capital 8/1993 vom 28.07.1993; ebenso Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24; als besonders problematisch erweist sich ein solches vordergründiges Ziel bei Fusionen, wie der Chef der amerikanischen Beratungsfirma A.T. Kearney vor dem Weltwirtschaftsforum 2000 in Davos berichte­ te - Süddeutsche Zeitung Nr. 25 vom 01.02.2000, S. 25 401 Reinhard K. Sprenger: „Spaß oder Fluchtgedanke“ - Wirtschaftswoche Nr. 39 vom 23.09.1999, S. 202 ff. 402 Felix Barber, Senior Vice President der Untemehmensberatungsfirma Boston Consulting, zitiert bei Dagmar Deckstein: „Workonomics: Der Mensch zählt“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 229 vom 04.10.1999, S. 26

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die sie gedacht sind, und mit „menschlichen Netzwerken“ und persönlicher Kommunikation.403



Planung ist darüber hinaus verdichtet-abstrakt, rein sachlich-rational und aufwendig. Was den Erstellungsaufwand anbetrifft, so steigt dieser leicht in Dimensionen, für die schon Teile der eigentlichen Realisierung oder Umset­ zung hätten bewerkstelligt werden können, obwohl als Grund für eine inten­ sive Planung oft gerade Kapazitätsengpässe oder Kosten genannt werden, so daß man besonders genau und sorgfältig, d.h. besonders aufwendig planen müsse. So finden deshalb schon im Rahmen des Planungsprozesses oft ab­ strakte „Revierkämpfe“ und „Religionskriege“ statt, die meist in keinem be­ triebswirtschaftlich mehr vertretbarem Verhältnis stehen zu dem angestrebten Ziel und dem eigenen Anspruch, dabei Kosten und Kapazitäten sparen zu müssen.



Planung ist allgemein und daher in ihrer Adressierung zunächst anonym. Niemand - außer wenigen Planungsbeteiligten - fühlt sich individuell ange­ sprochen, schon gar nicht persönlich relevant einbezogen. Planung übergeht die meisten Führungskräfte, weil sie diese erst als Ergebnis unterschiedslos wie alle anderen anspricht, also einebnet, und sie nicht schon bei ihrer Ent­ stehung in ihrer speziellen Rolle beachtet und fordert. Planung als Durchgriffsmechanik und Ersatz der individuellen persönlichen Führung durch Kommunikation degradiert und diskreditiert die Führung geradezu, macht sie überflüssig oder Führungskräfte zu reinen Vollstreckern, was deren Selbst­ verständnis keinesfalls entspricht. Das ist so erstaunlich, daß man sich fragen muß, wozu Führungskräfte überhaupt eingesetzt und bezahlt werden. Es de­ motiviert zudem nichts mehr, als wenn Menschen ihre Ressourcen nicht ein­ bringen, und behindert Veränderung und Bewegung mehr, wenn sie dabei auch keine Fehler machen dürfen.404 Nichtfachleute, externe Berater und für das Ergebnis nicht verantwortliche entfernte Funktionen planen und kontrol­ lieren Fachleute und diejenigen, die in der Linie die konkreten Verhältnisse kennen und die eigentliche Geschäftsverantwortung tragen. Sie planen ein „Soll“ und stellen das „Ist“ fest. Ihr Anspruch an die anderen geht schon von

Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24 404 Untemehmensberater Hans Scholten in dem Interview: „Das Wort Scheitern steht in deutschen Unternehmen auf dem Index“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1

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daher über ein Erreichen des Plans, also einen „Dienst nach Vorschrift“ nicht hinaus, obwohl dieser die Wirtschaft Millionenbeträge kostet.405



Planung in diesem Sinne bedarf daher auch immer der zusätzlichen „Imple­ mentierung“ oder „Umsetzung“, der Übertragung der Denkergebnisse der ei­ nen in die Köpfe der anderen. Und hier kommt nun die Stunde der Wahrheit, denn hier liegt das eigentliche Problem. Da die meisten Führungskräfte und Mitarbeiter von den Planem und Controllern nicht individuell mit ihren Wis­ sens- und Wollenspotentialen einbezogen, sondern nur noch mit den Ergeb­ nissen der Planung konfrontiert werden,406 stellen sie sich oft nicht nur gegen die Planungsinhalte, sondern noch mehr gegen die darin zum Ausruck kom­ mende Art ihrer Behandlung, die geringe Anerkennung ihrer Person und ih­ rer Rolle, auch wenn sie es nicht immer sogleich erkennen lassen. Eine dem­ entsprechende Reaktion bleibt nicht aus. Gerade die besten Kräfte werden wie bereits oben am Beispiel von Fusionen aufgezeigt - so auf Dauer sogar aus dem Hause getrieben. Die anderen setzen Abwehrverhaltensweisen ein, warten ab, bauen Verteidigungslinien nun auch gegen die Planungsinhalte auf oder betreiben eine Politik dagegen, anstatt produktiv die Probleme zu lösen.407 Planung ist insoweit menschenfem, ist Taylorismus im Ablauf, überwie­ gende „Fremdbestimmung“ in der Sache, Ignoranz in allen übrigen die Men­ schen in ihren Verhalten bestimmenden Punkten und schon als solche alles in allem mehr Umsetzungshindemis als deren Erleichterung. „Am Ende wun­ dert man sich in deutschen Vorstandsetagen, daß alle alles verstanden haben - aber sich nichts ändert.“408



405

Es kommt noch hinzu, daß sich auch viele ungeplante Formen der Selbstorganisation von Gruppen - der Untemehmensberater Hans Schol­ ten nennt sie „Trampelpfade“, die sehr wohl funktionieren - nicht analy­

Friederike Invernizzi: „Reden hilft - Frustrierte Mitarbeiter, die Dienst nach Vorschrift machen, kosten die Wirtschaft Millionenbeträge. Die Unternehmen können gegensteuem, indem sie ihren Managementstil transparent machen“ - Handelsblatt vom 07./08.04.2000, S. K6 406 Umfrage der Management Akademie Bad Harzburg unter 350 Führungskräften: „Wir wollen so bleiben wie wir sind“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23.724.10.1999, S. Vl/1; vgl. auch Hans Eschbach: „Das Ende der Machtspielchen“ - Handelsblatt/Karriere vom 11./12.02.2000, S. K 1 407 Für das Beispiel von Fusionen Prof. Max Otte, Boston University, Massachussetts (USA) anl. des Tages der Weiterbildung, veranstaltet von dem Universitätsseminar der Wirtschaft (USW) auf Schloß Gracht, Erfstadt - zit. nach dem Bericht von Veronika Renkes: „Fusionspartner spielen Titanic“ Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1 408 Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24

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sieren, planen und kontrollieren lassen.409 Oder wie „rentabel“ ist bei­ spielsweise Kommunikation?410 Daher wird Mißtrauen transportiert, wenn man glaubt, über eine perfekte und differenzierte Planung dennoch alles „sicherstellen“ und „in den Griff bekommen“ zu müssen. Es ist schon berechtigt, wenn gerade den deutschen Unternehmen eine „ausge­ prägte Controllermentalität“ nachgesagt wird, die sie daran hindert, ihre Wachstumspotentiale richtig zu nutzen. Auch aus diesem Grunde kom­ men immer wieder auch Wettbewerbsfähigkeit und Wertsteigerung zu kurz.411 Im Unternehmen hat also eine allzu dominante Plan- und Projektwirtschaft die gleichen verheerenden Folgen wie in der Volkswirtschaft auch: Sie ist aufwendig, ressourcenzehrend, unvollständig, unflexibel, in ihrer Wirkung einmalig oder befristet und - weil menschenverachtend - auch ineffizient. Aus diesen Gründen ist die allzu große Betonung der Planung - manche sprechen kritisch von dem „Führen a' la Kreml“412 - gegenüber einer richtigen Führung der Menschen schlicht falsch. Eine Planungsmentalität in dieser Ausprägung ist das genaue Gegenteil von Führung und damit oft gleichzeitig das Eingeständnis, daß es mit der Führung nicht klappt oder man ihr nicht traut. Für diese Haltung gibt es dann noch ein weiteres, untrügliches Indiz: Immer wenn eine zusätzliche, teure, allen­ falls nur extrinsisch motivierende Bezügeerhöhung oder Bonusregelung auch noch die Geneigtheit verbessern und die Identifikation der Mitarbeitern mit den Planzielen wieder herstellen helfen soll, die ohne ein solches Vorgehen nie verlo­ ren gegangen wären, läuft etwas entscheidend falsch. Man muß feststellen, daß wir uns am „Ende des »Konstruktivismus4 in der Personalfuhrung befinden.413

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Untemehmensberater Hans Scholten in dem Interview: „Das Wort Scheitern steht in deutschen Unternehmen auf dem Index“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23-/24.10.1999, S. Vl/1 410 Andreas Lukas: „Es ist schon erstaunlich, daß so wenig nach der Rentabilität der Kommunikation gefragt wird.“ - Personal Wirtschaft 7/1998, S. 66 411 So Fritz Kröger, Vice President bei der US-Consultingfirma A.T. Kearney - Handelsblatt Nr. 180 vom 17./18.09.1999, S. K4 412 Dagmar Deckstcin: „Führen a' la Kreml“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 1 vom 03.01.2000, S. 24 unter Hinweis auf Stan Davies und Christopher Meyer: „Das Prinzip Unschärfe. Managen in Echtzeit“ 413 Heinz Knebel, Consulectra Untemehmensberatung Hamburg, in dem gleichnamigen Beitrag PERSONAL Heft 2/1999, S. 80 ff.; vgl. auch Ervin Laszlo in dem Beitrag von Birgit Böllinger: „Die klassische mechanistische Form der Untemehmensftihrung hat ausgedient“ - Handelsblatt/KARRIERE vom 05./06.03.1993, S. Kl; vgl. auch Thomas Sattelberger: „Wissenskapitalisten oder Söldnerheer? Personalarbeit in Untemehmensnetzwerken des 21. Jahrhunderts“ - Gabler Verlag Wiesbaden 1999

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Das ist fatal angesichts der immer noch richtigen Erkenntnis, daß letztlich alles vom Management abhängt.414 Wer die Verantwortung für die Zielerreichung gleich den Führungskräften im Rahmen vertrauensvoller Vereinbarungen überantworten würde, könnte den Wegfall des Planungsgigantismus schon einmal als erste und größte Ersparnis verbuchen. Dabei soll freilich nur der falschen Akzentuierung, nicht jeglicher Beseitigung stabsmäßiger Vorklärungen - vor allem auch als „strategische Pla­ nung“415 - das Wort geredet werden. Das eigentliche Gewicht, der Wirkmecha­ nismus für die Zielerreichung liegt nicht mehr in bürokratischen Aktivitäten wie der Planung und dem darauf aufbauenden Controlling,416 sondern allein in der individuellen partizipativen Zielvereinbarung. Der Publizist Henry Joe Heibutzki hat richtigerweise darauf aufmerksam gemacht, daß „unsere Sehnsucht nach Steuerbarkeit und Normierung ... in den letzten Jahrzehnten die Unternehmen zu karitativen Veranstaltungen, die Manager zu Funktionären und den Mitarbeiter zum sozialen Untertan ... (hat) degenerieren lassen ... Kein Markt, kein Produkt, kein Prozeß wird mehr dauerhaft berechenbar sein.“417 Die zielgerichtete Ent­ wicklung und Umsetzung von Vorhaben findet daher allein statt als laufender persönlicher Prozeß zwischen den beteiligten Menschen, weil und wenn sich die verantwortlichen Führungskräfte und Mitarbeiter für ihre jeweiligen Ziele auch ,als eigene* ins Zeug legen. Wer wirklich auch noch die Reste jeglicher Motivation seiner Führungskräfte zertrümmern möchte, der richte für alles und jedes Projekt- und Beraterteams ein, die häufig immer aus den gleichen Personen bestehen, alle Reviere und „abge­ schottete Abteilungen“418 in ihren Partikularinteressen - oft jedoch nur als stille, ineffiziente und teure Beisitzer - angemessen repräsentieren und für alle anderen denken und handeln. Für die Vollstreckung der Ergebnisse bedarf es dann noch­ 414

Ferdinand Piech, VW-Vorsitzender - Interview mit der Süddeutschen Zeitung Nr. 4 vom 07.01.1999, S. 24; vgl. auch Jochen Schein, CREDO Consulting GmbH München - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 197 vom 28.08.2000, S. 24; Management in diesem Sinne bedeutet, Wis­ sen in Nutzen und in Ergebnisse zu transformieren - vgl. Fredmund Malik: „Angelernte Manager - In den meisten Organisationen entscheiden Manager über den Erfolg. Doch eine ordentliche Ausbildung für ihre Tätigkeit gibt es nicht“ - Handelsblatt/Karriere vom 02./03.03.2001, S. K3 415 Vgl. - auch zu div. Planungsfehlem - Henry Mintzberg: „Die Strategische Planung“ - Carl Hanser Verlag München 1995 416 Hier liegt einer der entscheidenden Gründe dafür, weshalb das traditionelle Bild der Controller überholt ist. Zu anderen wichtigen Gründen vgl. Hans Eschbach: „Das Ende der Machtspielchen“ Handelsblatt/Karriere vom 1 l./l2.02.2000, S. K 1; vgl. dazu auch Jörg Puma, Universität Augsburg: „Management Controlling“ - besprochen von Dagmar Deckstein: „Von Menschen und Maschinen“ SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 13 vom 18.01.1999, S. 22 417 Henry Joe Heibutzki: „Globalsystematisierte Leitbildpoesie“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 228 vom 05.10.1998, S. 24 418 Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24

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mals besonderer „Implementierungsteams“ oder „Beauftragter“, womit das glei­ che leidige Spiel von neuem beginnt und was den Demotivationseffekt besonders bei den Führungskräften erneut vergrößert und seine insgesamt verheerenden Wirkungen noch verstärkt. Die dadurch vermittelte Botschaft und vernichtende Aussage an alle „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an die sehr geehrten Damen und Herren“ lautet stets: Immer, wenn es wirklich darauf ankommt, brau­ chen wir euch eigentlich nicht! Nicht wenigen der praktizierten Führungsstile liegt die Vorstellung und Füh­ rungstradition zugrunde, daß der Mensch im Unternehmen nichts anderes ist als eine mechanische ‘Funktion’ in einem Ablaufgefuge und Wirkungszusammen­ hang, bei dem oben gestellt und unten - im übrigen Unternehmen - alles dement­ sprechend reagiert und natürlich „optimal“ funktioniert. Es gilt das ’Hampel­ mann-Prinzip’ mit dem Unterschied zu dem Kinderspielzeug, daß bei diesem unten gestellt, aber dabei ebenso der ganze Körper automatisch in vorgefertigten Abläufen reagiert. Und so ist es leider nicht falsch, wenn noch immer festgestellt wird: „Für den typischen deutschen Manager ist das Unternehmen kein lebendi­ ger Organismus mit selbständigen, zu eigenem Denken fähigen Mitarbeitern, sondern eine Maschine, die auf Knopfdruck zu funktionieren hat. Jedes Teil die­ ser Maschine hat eine klar definierte Aufgabe zu erfüllen, wenn alle Teile das tun, was ihnen der Konstrukteur aufgetragen hat, dann funktioniert der Motor zufrie­ denstellend.“419 Damit fehlt es in der Management- und Führungspraxis vor allem an Respekt und ehrlicher, menschlicher Achtung im Miteinander. Die Möglichkeiten und Mittel der Mitarbeiter, sich gegenüber persönlichen Mängeln und demotivierenden oder gar unerlaubten Verhaltensweisen wirksam zu wehren, sind minimal. Wer seine Vorgesetzten um Beistand bittet, wird allzu oft hingehalten und mit Versprechungen abgespeist, deren Einhaltung nie beab­ sichtigt ist.420 Die stets genannte, aber selten praktizierte formale Beschwerde entpuppt sich nach aller Erfahrung schnell als sogenanntes „3F-Rechtsmittel“: Formlos, fristlos und fruchtlos! Die Menschen haben dabei längst als festen Be­ standteil der „real existierenden“ Führungskulturen wahrgenommen, daß auch hierbei „eine Krähe der anderen kein Auge aushackt.“ Vorgesetzte pflegen sich gegenseitig zu schützen, zu beschwichtigen, herunter zu spielen, notfalls sich zu ganzen Seilschaften des Unvermögens zusammen zu schließen - und zwar um so mehr, je schwächer und unfähiger sie sind, aber nicht die Probleme zu lösen oder gar selbst einmal untereinander einen Konflikt einzugehen. Es herrscht insoweit ein merkwürdiges gegenseitiges Einverständnis auch und gerade zwischen Vor­ gesetzten verschiedener Hierarchiestufen - übrigens auch um so mehr, je höher 419

Günter Ogger: „Nieten in Nadelstreifen: Deutschlands Manager im Zwielicht“ - Droemer Knaur Verlag München 1992, S. 168 420 Vgl. Erhard Glogowski: „Benehmen ist Chefsache“ - Handelsblatt/Karriere vom 02./03.02.2001, S.2

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ihre Hierarchiestufe ist. Auch dieses negative Vorbild ist oft nichts anderes als das sogenannte „Bossing“, also ein die eigene Existenz sicherndes „Mobbing“ von oben mit allen dafür typischen, den verdeckten, indirekten und unehrlichen Begleiterscheinungen, und macht nicht hoffnungsfroh. Da mögen dann schon eher die Versuche erfolgversprechend sein, die sich ernsthaft mit der „Führung des Chefs von unten“ befassen,421 wenn die Mitarbeiter nicht auf ganz andere Reaktionen ausweichen können. Die mit der wachsenden Unzufriedenheit der Beschäftigten korrelierenden Folgen sind kaum meßbar, aber sehr real vorhanden. Vielleicht ist es daher zu­ nächst nicht überraschend, daß ihre innere Einstellung in den Unternehmen nun auch deutlicher in Form krimineller Energie am Arbeitsplatz - und im Gegensatz zu dem kriminellen Handeln von Topmanagem, wo Überheblichkeit und Machtgehabe die Hauptwurzel darstellen422 -, hier als Indiz für abnehmende Loyalität, mangelnde Identifizierung und zunehmende Distanz ihren geäußerten Ausdruck finden. Hierbei verwirklichen sich vor allem fehlende emotionale Ver­ bundenheit, ständige Unzufriedenheit mit dem Job und der Situation am Arbeits­ platz sowie Protest gegen ungerechte Behandlungen. Vom Verschwinden ganzer Lagerbestände über vorsätzliche Sachbeschädigung bis zu Schwarzarbeiten wäh­ rend angeblicher Krankheiten reichen die rächenden Verhaltensweisen gegen das eigene Unternehmen, die nach Einschätzung von Fachleuten „enorm zugenom­ men“ haben. Es soll spezielle Untersuchungen geben, die den Zusammenhang derartiger krimineller Handlungen mit dem Führungsverhalten der Vorgesetzten auch klar nachweisen.423 Aus alledem resultieren für das Unternehmen erhebliche Kosten. Betriebswirt­ schaftlich noch gravierender ist jedoch, daß jeder vierte Arbeitnehmer längst „innerlich gekündigt“ hat.424 Nach neueren Feststellungen425 trifft das sogar schon

Rolf Wunderer, Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen: „Füh­ rung des Chefs - .Führung von unten* durch sachliche Begründung und Freundlichkeit“ - Personalfiihrung 2/1997, S: 148 ff.; Gabriele Stöger: „Wie führe ich meinen Chef? - Erfolgreiche Kommuni­ kation von unten nach oben“ - Orell Füssli Verlag Zürich 1999; ein ähnliches Modell, in dem der Geführte zum Führer wird, ist das der „Undercover-BWL“, mit dem vor allem „politische Vorgesetz­ te“ (Betriebspolitiker) zum Nutzen einer wieder wirtschaftlich ausgerichteten Steuerung des Gesche­ hens ausgebremst werden können - vgl. dazu Johanna Joppe, Memoconsult Gesellschaft für Risiko­ management in Kutzenhausen: „Dem Betriebspolitiker das Rechnen beibringen“ - Handels­ blatt/Karriere vom 07./08.01.2000, S. K3 422 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 87 423 Vgl. auch das Interview von Martina Brückner mit Rechtsanwalt Gernot Müller-Dalhoff, dem Mitautor - zusammen mit Andreas Eisenkolb - des Buches: „Tatort Betrieb“, Haufe Verlag - Perso­ nalführung 10/1999, S. 4 ff.; ebenso Birte Siedenburg: „Jeder nimmt sich, was er kann. Diebstahl, Betrug und Unterschlagung im Unternehmen“ - Campus Verlag Frankfurt 1998 424 Der Ausdruck stammt von dem kürzlich verstorbenen Gründer und Leiter der Führungsakademie Bad Harzburg, Reinhard Höhn; zur Aussage selbst die Wissenschaftler der Fachhochschule Rhein­

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auf rund ein Drittel der Beschäftigten in deutschen Unternehmen zu, wobei auslö­ sende Faktoren neben der Unzufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit eben der unkooperative Führungsstil von Vorgesetzten, mangelhafter Informationsfluß oder fehlendes Gerechtigkeitsempfinden bei Vorgesetzten sind. Bestätigt wird dieser Anteil und Trend vor allem durch eine Studie der Bergischen UniversitätGesamthochschule Wuppertal: Danach hat mehr als 30 Prozent der Belegschaften in deutschen Unternehmen innerlich gekündigt und beschränkt ihr Engagement auf das Notwendigste. Auf Grund meiner eigenen Beobachtungen in der Praxis, die sicherlich nicht repräsentativ sind, kann ich dem aber zumindest auch nicht widersprechen. Vor allem in Großunternehmen gibt es erstaunliche Nischen, sich unerkannt so zu verhalten oder zu verstecken, ohne daß dieses irgend jemand wirklich bemerkt. Bemerkenswert dabei ist allenfalls ein Vergleich etwa zu den USA, wonach dort zwar der Anteil der Unzufriedenen gegenüber Deutschland mit 34 Prozent sogar bei 41 Prozent liegt. Andererseits sind dort immerhin 21 Prozent der Mitarbeiter als sogenannte Erfolgsgaranten - also diejenigen, auf denen letztlich die Leistungen und Ergebnisse beruhen - zufrieden, während in Deutschland nur 18 Prozent zu dieser Gruppe gehören.426 Nach anderen, aber ebenfalls neueren Feststellungen sollen inzwischen sogar weit mehr als 50 Pro­ zent der Mitarbeiter demotiviert oder bereits in die innere Kündigung gegangen sein,427 weil sie längst resigniert haben oder erleben, daß sie nichts bewegen kön­ nen. Besonders alarmierend ist, daß Dienst nach Vorschrift nicht nur an der Basis stattfindet, sondern über alle Hierarchien bis hinauf zur Chefetage reicht.428 Selbst in den höchsten Kreisen gelingt es Chefs - wie im spektakulär veröffentlichten Beispiel der Bahn AG - immer wieder und mitunter sehr schnell, durch ihr Ver­

land-Pfalz nach einer Befragung von Personalverantwortlichen in Unternehmen - vgl. Bericht: „Ab­ schied von der Leistung“ - FAZ vom 04.07.1995, S. 69 425 Zu dem Ergebnis eines Anteils der inneren Kündigung von 31 Prozent kommt die Düsseldorfer Diplompsychologin und Inhaberin des Instituts für Organisationsdiagnostik Anja Krenz nach einer Befragung - Personalfuhrung 1/98, S. 5 und Personalfuhrung 5/98, S. 48 ff. 426 Stand: Frühjahr 1999 - vgl. Bericht - Personalfuhrung 11/1999, S. 12 427 Nach Ansicht des Münchner Psychologen Dieter Frey ist es sogar jeder zweite Arbeitnehmer, der seinen Job innerlich gekündigt hat - Der Volks- und Betriebswirt (dub), 5/1998 (Sept./Okt.), S. 30; ders. in Dresden aufgrund seiner Befragung von 3000 Arbeitnehmern aus Maschinen- und Schiffbau, Autoindustrie, Pharmazie und Versicherungen - Süddeutsche Zeitung Nr. 216 vom 19./20.09.1998, S. 12; vgl. auch Friederike Invernizzi: „Reden hilft“ - Handelsblatt vom 07./08.04.2000, S. K 6, wonach der Wormser Fachhochschullehrer Ulrich Krystek aufgrund von Befragungen der Personal­ verantwortlichen (warum diese?) lediglich „rund ein Viertel“ der Arbeitnehmer von der inneren Kündigung betroffen sieht. 428 Wirtschaftswoche Nr. 51 vom 11.12.1997, S. 141; ebenso Charles M. Savage, Untemehmensbera­ ter und Buchautor: „Vom Vorstand zum Mitstand“ - Interview mit Roland Karle - Personalwirtschaft 8/1999, S. 12 ff. (14)

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halten alle oder besonders diejenigen gegen sich aufzubringen, auf die sie am meisten angewiesen sind.429 Und wo stehen die auf allen Ebenen so intensiv und vielfältig gescholtenen Führungskräfte selbst? Nicht immer ehrlich gemeint ist die von manchen, sich selbstkritisch und sarkastisch gebenden Chefs geäußerte „Sorge“, ob nicht jede ihrer Abwesenheiten eher zu einem deutlichen Produktivitätsschub fuhrt, weil die Mitarbeiter nun endlich einmal ohne hinderliche ‘Führung’ selbstmotiviert das tun können, was sie für sinnvoll und richtig halten. Aber damit hat es oft auch schon sein Bewenden. Nach ihrem traditionellen eigenen Verständnis muß die bisweilen unvermeidliche Abwesenheit der Führungskräfte immer nur ‘in Kauf genommen werden’, während sie nach realer Erwartung der Mitarbeiter und rich­ tigem Führungsverständnis oft ein wahrer Segen ist, der - wenn sich Führungs­ verhalten nicht anders darstellen kann - geradezu zum Normalfall erhoben wer­ den sollte. Obwohl unter der emotionalisierten Überschrift „Haß auf den Chef ‘ gerade wie­ der ein dementsprechendes Fazit mit der Aussage gezogen worden ist - „viele Vorgesetzte ahnen gar nicht, wie mies sie in den Augen ihrer Mitarbeiter sind“ 430 wollen viele von ihnen die Realitäten und ihre eigene Rolle nicht sehen oder wahrhaben. Im übrigen halten sie solche Meinungen immer leicht durch andere Ursachen für erklärbar. Für die meisten sind sie jedenfalls kein Anlaß, sich selbst zu ändern. Unbeeindruckt selbst angesichts solcher klaren Ergebnisse glauben sie weiterhin, sie könnten alles, nur weil sie jahrelang als Schönwetterkapitäne auf der Brücke standen, ohne in diesem Bereich je gefordert worden zu sein. Erst wenn es dann wirklich darauf ankommt und die See rauh wird, zeigt sich, wer sein Geschäft beherrscht und seine Rolle spielen kann. Oft ist es dann aber zu spät - sowohl für die Einsicht als auch für eine Wende. Es ist ebenso erschreckend zu beobachten, wie fassungslos Führungskräfte andererseits davor stehen, daß auch gut gemeinte materielle Leistungen des Un­ ternehmens als vermeintliche „Anreize“ hieran im Grunde nichts zu ändern ver­ mögen. Nichts gegen gute materielle Leistungen und eine monetäre Beteiligung 429

„Bahn AG - Kein Anschluß - Wie gelingt es einem Vorstandschef, sich so schnell so viele Kriti­ ker zu schaffen?“ - „Er stößt fast alle vor den Kopf* - „ Das einzige Tor des Vorstands war ein Eigen­ tor der Betriebsräte“ - Manager Magazin 10/1998, S. 17 ff. 430 Claudia Reischauer - Wirtschaftswoche Nr. 2 vom 07.01.1999, S. 60 ff.; ähnlich auch die alle arbeitenden Menschen ansprechenden Schlagzeilen in der Boulevard-Presse, hier am Beispiel der Münchner tz vom 27.03.2000: „Der Chef ist schuld“, freilich unter Bezugnahme auf die Untersuchun­ gen, Umfrageergebnisse und Auswertung von Fachliteratur des Frankfurter Psychologen Dieter Zapf mit der Unterzeile: „Psychoterror am Arbeitsplatz: In 70 Prozent der Fälle machen die Vorgesetzten mit“; die Hauptproblemfelder für Mobbing auch seitens des Chefs liegen hiernach im Öffentlichen Dienst, aber auch im Kreditgewerbe und im Gesundheits- und Sozialsektor; vgl. dazu auch: Christine Kreuzer: „Mobbing, Bullying, Bossing aus juristischer Perspektive“ - Personalführung 2/2000, S. 56 ff.; zu Machtmißbrauch und Mobbing vgl. auch Klaus M. Leisinger, S. 159 ff.

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der Mitarbeiter an Leistung und Erfolg! Aber in der Regel fuhrt patriarchalische Großzügigkeit nicht zur Kompensation klar ansprechbarer Übel in der Beziehung, sondern nur dazu, daß der alte Frust nunmehr auf entsprechend höherem Kosten­ niveau fortbesteht, weil er in seinen wahren Ursachen nicht erkannt und von da her therapiert worden ist. So wird einem ungelösten Problem nur noch ein weite­ res - Kostenanstieg ohne etwas zu ändern - hinzugefugt. Geld ist in diesem Zu­ sammenhang nichts anderes als Ausdruck der großen und weit verbreiteten Hilf­ losigkeit. Wer so handelt, hat die unzufriedenen Mitarbeiter nur vorübergehend ruhig gestellt und die eigene Unfähigkeit zu fuhren wieder nur für eine gewisse Zeit mit einer Art Schmerzensgeld zugekleistert. Danach besteht der alte Frust auf höherem Kostenniveau weiter fort. Dieses Vorgehen erfreut sich unter Führungs­ kräften gleichwohl weiter Verbreitung und allgemeiner Anerkennung. Personal­ leute können ein Lied über derart unkeusche Erwartungen der Wunderheilung an sie singen. Alle diese Tatsachen müssen nicht nur nachdenklich stimmen, sondern erfor­ dern eigentlich schon zwingend einen neuen, bei den Ursachen der Probleme ansetzenden ehrlichen Neubeginn. Andere konzeptionelle Lösungen sind auch nicht in Sicht. Denn viele der sogenannten neueren Beiträge zu Führung und Zusammenarbeit leben noch immer davon, daß sie aus durchsichtigen Gründen gern versuchen, alles bisher Dagewesene und Gesagte als unsinnig zu verwerfen und dafür eine neue, endlich ‘wirklich maßgebliche’ Komponente zu präsentie­ ren. Das ist noch verständlich, soweit kommerzielle Beraterinteressen im Vorder­ grund stehen und werbewirksam ausgelebt werden.431 Aber richtig ist es deshalb nicht. Die meisten Managementtheorien entschwinden den Augen der neugieri­ gen, aber immer wieder enttäuschten Praxis ohnehin genau so schnell wie sie gekommen sind.432 Andererseits war nicht alles falsch, was da bislang über viele Jahre und Jahr­ zehnte so gelehrt und vorgestellt worden ist. Viele dieser tradierten Modelle ha­ ben in Teilen etwas Richtiges zum Ausdruck gebracht. Nur in der üblicherweise gepredigten Ausschließlichkeit ist keines der Konzepte eine die vielschichtige Praxis befriedigende Lösung geworden. Sie konnte es auch nie werden. Das Ge­ schäft des Managers ist eine äußerst vernetzte, sehr komplexe und daher auch komplizierte Angelegenheit, bei der nur eines ganz falsch ist: Der Glaube an Patentrezepte, an eindimensionale oder monokausale Lösungen und an mechani­ 431

So begünstigen die häufigen Trend- und Modewechsel in der Managementlehre auch nach Mei­ nung des BDU-Präsidenten Jochen Kienbaum die großen Beratungsuntemehmen - „Untemehmensbe­ rater wachsen weiter“ - Handelsblatt Nr. 240 vom 10./11.12.1999, S. 23; vgl. auch Dagmar Deck­ stein: „Wie die Moden in die Welt kommen“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 168 vom 24.07.2000, S. 24 432 Ebenso Martina Brückner: „Die entscheidende Rolle des Kopfes an der Spitze“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 17./18.11.1995, S. K2

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stisches oder instrumentelles Denken und Handeln.433 Das gilt in vielerlei Bezie­ hung, aber auch und vor allem bei der Führung von Mitarbeitern. Diese werden noch immer nur ,gemanaged‘ und in Wahrheit nicht geführt. Vor allem wurden die tradierten Ansätze und Modelle zu wenig gelebt. Wer ständig Forderungen und Konzepte aufstellt, an die er sich selbst für alle sichtbar nicht hält, vermittelt eine verhängnisvolle ‘Doppelbotschaft’. Entscheidend für das tatsächliche Verhalten der nachgeordneten Manager und Führungskräfte sind dann weniger die offiziell verkündeten, rationalen Lösungskonzepte als die soge­ nannten „heimlichen Spielregeln“, die ungeschriebenen, aber tatsächlich prakti­ zierten Gesetzmäßigkeiten im Unternehmen, die jeder als die wahren und ver­ bindlichen Regeln erlebt, und die er deshalb den verlautbarten vorzieht.434 Es herrscht eine Schattenkultur, die den Reden und Ankündigungen eine Verhaltens­ praxis der Manager folgen läßt, die sie stets widerlegt. Für den amerikanischen Professor of Business Administration Warren Bennis gilt: „Wer meint, mit Me­ mos verschicken und dem Aufhängen neckischer Schilder ‘Unser wichtigstes Kapital: Unsere Mitarbeiter’ oder ‘Der Kunde ist König’ sei es schon getan - weit gefehlt.“ Für Bennis gilt einzig und allein das biblische Motto: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen - oder wie er sagt: „Handlungen sprechen lauter als Worte. Im Grunde scheidet sich an dieser Stelle die Spreu der ManagementTechnokraten vom Weizen der Führungspersönlichkeit.“435 Kaum einer der Urheber solcher Diskrepanzen aber merkt auch hier, was er auslöst. Wenn das tatsächliche Verhalten als maßgeblich, die Worte dagegen als unverbindlich gewertet werden, bleiben sie buchstäblich in den Wind gesprochen. Sie stellen sich als pures Geschwätz heraus mit der Folge, daß auch künftiges Reden jetzt schon getrost als solches eingestuft werden kann. Diese Verhaltens­ weisen sind aber so stark verbreitet, daß sie sich negativ summieren und im Un­ ternehmen verheerende Wirkungen haben, ohne daß sich die meisten dieser Ursa­ chen, aber auch ihrer Folgen bewußt sind.

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Studie der Stuttgarter Untemehmensberatung Management Partner zusammen mit INSEAD, dem größten internationalen Managementinstitut für Untemehmensführung in Europa in dem Bericht von Martina Brückner: „Die entscheidende Rolle des Kopfes an der Spitze“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 17./18.11.1995, S. K2; auf der anderen Seite das als „Rezeptbuch“ überschriebene Dar­ stellung von Peter von Windau und Michael Schumacher: „Strategien für Sieger“ - Heyne Verlag München 1999; vgl. auch „Zehn Regeln, die die Zukunft sichern“ von Uwe Böning, Böning Consult Frankfurt - Handelsblatt/Karriere vom 26./27.05.2000, S. K 2, wobei keinesfalls gesagt sein soll, daß es nicht jeweils um beherzigenswerte Inhalte geht! 434 Peter Scott-Morgan/Arthur D. Little: „Die heimlichen Spielregeln - Die Macht der ungeschriebe­ nen Gesetze im Unternehmen“ - Campus Verlag Frankfurt/New York, 2. Aufl. 1995; vgl. Bericht darüber in Manager Magazin 6/1994, S. 174 ff. 435 Dagmar Deckstein: „Die richtigen Dinge tun, nicht nur die Dinge richtig tun“ - Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1998

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Das wirklich verräterische, aber auch schädliche Element aller solcher Verhal­ tensweisen ist der Verzicht auf die konsequente Verfolgung des als notwendig und richtig erkannten Weges. „Es sind die Schönfärber, die versuchen, die Schwierigkeiten durch positive Aspekte zu überdecken ... Nur wer hinschauen kann, auch das Negative sehen kann, das Nichtgewollte, das Unangenehme, das Tabu und den Waffenstillstand, ist wirklich zur Verantwortung bereit.“436 ‘Kom­ men Sie mir bitte nicht mit Fakten!’ ist eine oft zur Kennzeichnung dieser Erfah­ rung, aber auch als sichtbare Abwehr gebrauchte Persiflage. ‘Konsequenz’ ist demzufolge auch der unangenehmste Einwand, mit dem man schnell die meisten dieser Führungskräftedarsteller in arge Verlegenheit bringen kann. Damit wird deutlich, daß das wahre Ziel des eigenen Verhaltens oder der persönlichen Ent­ scheidung schon feststehen, bevor man weiß, was und warum man in der eigentli­ chen Sache etwas tut. Mehr vordergründiger Opportunismus um kleiner schneller Erfolge willen, für die es nicht mehr als einen flüchtigen Beifall gibt, als eine wirklich substanzielle Befriedigung über das tatsächlich Erreichte bestimmen die Realität. Welch ein wirtschaftliches Potential könnte daraus erwachsen, wenn alle diese Spielereien nachhaltig verändert oder wenigstens tendenziell beeinflußt und umgekehrt wer­ den könnten! Weil eine solche, auf Konsequenz drängende Mahnung aber für die meisten auch existenzbedrohend ist, haben sie eine eindrucksvolle und gut vorfuhrbare Abwehrlinie dagegen entwickelt, nämlich Konsequenz einfach als Man­ gel an Flexibilität und situative Anpassungsfähigkeit zu diskreditieren. ,Seien Sie doch flexibel!‘ ist die meistgebrauchte, aber unglaubwürdige und ebenso nutzlose Abwehr. Da richtig verstandene Flexibilität in der Tat auch ein wichtiges Erfor­ dernis der Zukunft ist, gibt es nichts Geeigneteres, als damit jetzt auch an unge­ eigneter Stelle sozial anerkannt und beifallsheischend damit zu kontern. Die Vorbildfunktion der Vorgesetzten ist also auch in ihrem Zusammenspiel von persönlicher und sachlicher Autorität gestört.437 Es scheint daher, als ob es trotz aller verabschiedeten Führungsgrundsätze so etwas wie ein heimliches Ein­ verständnis aller Führungskräfte gibt, daß man solche Broschüren zwar braucht, dann aber „in der Praxis“ natürlich alles ganz anders ist.438 So gibt es auch von der nächsthöheren Führungslinie her kaum ein Führungs-Controlling. Und andere betriebswirtschaftliche Controller oder gar Revisionen haben sich traditionell 436

Rudolf Mann: „Der Vorgesetzte als Vertrauensperson“ - Handelsblatt vom 04.09.1996 Manfred Herrmann, Sozialreferent bei der Degussa AG Frankfurt: „Psychosoziales Handeln im Unternehmen - Ein Plädoyer für die Umsetzung bekannter Fakten“ - Personalfuhrung 7/1996, S. 552 ff. (553) 438 Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24; „Das aufgeblähte Manager - Ego ist der größte Feind des Wandels in den traditionellen Unternehmen“ wird eine Beraterin zitiert - Dagmar Deckstein: „Führen a' la Kreml“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 1 vom 03.01.2000, S. 24 437

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noch nie fur dies Thema interessiert, geschweige denn »Systeme4 entwickelt und eingesetzt, die diesem Zweck dienen. Sie fühlten sich insoweit schlicht nicht zuständig. Lediglich aus Haftungsgründen finden sich mitunter Versuche und Ansätze auch dazu, die wenigstens einen justiziablen Maßstab für gravierende Fehler abgeben. Interessant, aber in diesem Zusammenhang wenig versprechend, ist insoweit die Forderung nach der Formulierung von „Grundsätzen ordnungs­ gemäßer Unternehmensfuhrung (GoU)“,439 die sicherstellen sollen, daß auch der Topmanager ‘lege artis’, also nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft han­ delt, wie das ja auch Ärzten und Juristen aus haftungsrechtlichen Gründen abver­ langt wird. Die Frage bleibt, ob sich dadurch tatsächlich auch bei der Führung in der Praxis etwas verbessert. Aber weil das alles so einfach nicht ist, ist der Bedarf nach wie vor groß und die auftauchenden Versuche nach einfachen Lösungen und Angebote, die den Men­ schen schnell einleuchten, weiter zahlreich. Aber sie bewirken nichts. Entschei­ dend sind nicht neue Theorien oder Instrumente, keine Systeme oder Techniken, sondern ein anderes Rollenverständnis gegenüber früher, das „Persönlichkeiten“ mit entsprechenden Eigenschaften und veränderten Grundüberzeugungen, Ein­ stellungen und Verhaltensweisen einschließt. Das entspricht zwar noch keines­ falls dem herrschenden Verständnis in der Praxis, zeigt aber, wie weit die meisten noch von einem grundlegenden Wandel hin zu einer effizienten und gleichzeitig menschlich akzeptablen Führung entfernt sind. Wir werden darauf noch ausführ­ licher zurückkommen.

439 Axel von Werder - DER BETRIEB (DB) Heft 44 vom 03.11.1995, S. 2177 ff. sowie Axel von Werder, Werner Maly, Klaus Pohle u. Gerhard Wolff: „Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmens­ leitung (GoU) im Urteil der Praxis“ - Der Betrieb (DB) 1998 (Heft 24) vom 12.06.1998, S. 1193 ff.; die Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft GmbH in Bad Harzburg plädiert heute daher für einen „Baukasten“ als „modulares System“, um auf die individuellen Bedürfnisse eines einzelnen Unternehmens eingehen zu können - vgl. dazu Gespräch mit Wolfgang Bornträger in Handelsblatt/KARRIERE Nr. 183 vom 20./21.09.1996, S Kl; Jürgen Hauschildt (Universität Kiel): „Nur Lippenbekenntnisse - über den innerbetrieblichen Widerstand gegen Innovationen“ - Wirtschaftswo­ che Nr. 46 vom 05.11.1998, S. 150

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Nun also Werte? Im Zusammenhang mit dem Begriff der Untemehmenskultur haben wir schon gesehen, daß dabei auf gemeinsame Werte der Mitglieder einer Gemeinschaft Bezug genommen wird. Die Untemehmenskultur baut auf Werten auf.440 Eine der „Haupterkenntnissse“ der Forschungsarbeit über Erfolgsfaktoren exzellenter Unternehmen war daher auch die Forderung:441 „Machen Sie sich Gedanken über ihr Wertsystem! Werden Sie sich darüber klar, wofür Ihr Unternehmen steht. Auf welchen Teil Ihrer Arbeit sind alle im Unternehmen am meisten stolz? Versetzen Sie sich um zehn oder zwanzig Jahre in die Zukunft: Worauf würden Sie mit der größten Befriedigung zurückblicken?“ Forschen wir also etwas tiefer und befassen uns mit den Grundlagen. Auch hier ist schon gar nicht immer so klar, was unter Werten zu verstehen ist, oder nach­ zuvollziehen, was jeweils der eine oder andere darunter versteht. Denn es herrscht insoweit zumindest in der Praxis bereits eine verwirrende Begriffsvielfalt. Auch im Hinblick einmal auf ihre Entstehung oder ein anderes Mal auf ihre Wirkung kommen laufend weitere, darauf abgestellte begriffliche Differenzierungen hinzu. Ihnen ist damit jeweils ein spezielles, insgesamt betrachtet sehr unterschiedliches Verständnis zugeordnet. Es scheint damit so, als ob Werte auch deshalb leicht in aller Munde geführt werden, weil inzwischen jeder dazu seine ganz persönliche, ihm gerade passende und im Ergebnis beliebige Perspektive hat und auch - ohne daß dieses irgendwelche schnell sichtbare Konsequenzen hat - haben kann.

Werte als menschliche Perspektive Damit sei nun hier der Versuch gemacht, den Wertebegriff etwas genauer auszu­ loten, zu beschreiben und sowohl in seinem Inhalt als auch in seiner Funktions­ weise konkret und damit auch operational zu bestimmen. Wenn schon „Werten“ eine Funktionalität zugemessen wird, erscheint es erforderlich, deren Wirkungs­ weisen und Ursachen zu kennen, nicht nur, um sie nachvollziehen, sondern vor allem auch dementsprechend auf sie eingehen oder gestalten zu können.

440 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 65 441

Thomas J. Peters u. Robert H. Watermann, S. 321

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Zum Wertebegriff Unter „Werten“ im philosophischen Sinne versteht der Jesuitenpater und Unter­ nehmensberater Rupert Lay „allgemein anerkannte Normen über das Wünschba­ re“.442 Das ist mit anderen Worten, etwa denen des Wissenschaftlers Karl Berkel, alles das, „was unser Leben bereichert, in materieller, sozialer, geistiger, ästheti­ scher oder religiöser Hinsicht.“443 Für den Philosophen Nikolaus Lobkowicz sind Werte die Grundlage für Beurteilungen und Einschätzungen, „Vorstellungen davon ... , was wertvoll ist. u444 Der Organisationsanthropologe und Experte für interkulturelles Management Geert Hofstede definiert Werte mehr als „... Gefühle mit einer Orientierung zum Plus- oder zum Minuspol hin. Sie betreffen: böse-gut, schmutzig-sauber, häßlich-schön, unnatürlich-natürlich, anomal-normal,445 para­ dox-logisch, irrational-rational“ und in diesem Sinne Ausdruck der „Neigung, bestimmte Umstände anderen vorzuziehen.“446 Werte geben die Gründe dafür an, warum die Beschaffenheit von Personen, Sachen oder Zuständen etwa als „ange­ nehm, schön, edel“ positiv geschätzt oder auch als negativ („Unwert“) „bewertet“ werden:447 In der Psychologie - hier besonders in der Motivationspsychologie als der ei­ gentlich zuständigen und kompetenten Bezugsdisziplin für Werte - drückt man sich noch etwas spezieller aus: Bei den Werten „geht es darum, was psychologisch das Erleben und Verhalten steuert“, also um ,Motivatoren*, d.h. wissenschaftlich gesprochen „um ein interaktionales Konstrukt der Werthaftigkeit oder Valenz von Dingen oder Personen, das sich aus der Interaktion ... von Personen, die Ziele haben, mit Umwelten, die diese Ziele sind oder zu ihnen führen, konstituiert.“448 Schon diese unterschiedlichen Formulierungen lassen nicht immer sogleich erkennen, ob sie inhaltlich - im Kem oder nur in Nuancen - deckungsgleich sind. Werte sind jedenfalls - das ist eindeutig - nicht objektive Eigenschaften und At­ tribute von Menschen oder Sachen selbst im physischen oder charakterlichen Sinne, obwohl diese als Gegenstand und Ergebnis einer selektiven Auswahl oft

442

Rupert Lay: „Kultur und Unkultur im Unternehmen“ - Personalftihrung 8/1999, S. 48 443 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 44 444

Nikolaus Lobkowicz: „Zur philosophischen Problematik des Wertewandels“ in „Wertewandel Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 167,168 445 Der korrekte Gegensatz zu anomal (gr. anhomalos) wäre »ungleichmäßig*, zu normal aber ,unnormar im Sinne von »irregulär*, nicht der Norm entsprechend. 446 ° Geert Hofstede, S. 9 447 dtv-Lexikon 1971 4g

Arne Stiksrud in Asanger/Wenninger: „Handwörterbuch der Psychologie“, S. 848

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als der eigentliche „Wert“ bezeichnet werden.449 Sie sind vielmehr Maßstäbe und Ausdruck der subjektiven Beziehung der Menschen zu dem, was sie betrachten. Sie sind „Gesichtspunkte oder Perspektiven, die eine Person, Gruppe oder Orga­ nisation bevorzugen, weil sie hoffen, durch sie ihre Existenz zu erhalten oder zu steigern.“450 Die „Wertung“ stellt eine „Beziehung her zwischen dem psychologi­ schen Objekt (Wertgegenstand) und dem Subjekt (der wertenden Person)“ her.451 Kurzum: Werte sind von den Menschen und den ihnen innewohnenden jeweiligen Anschauungen nicht zu trennen. Man kann durchaus die Meinung vertreten, daß es sich in dieser Definition eigentlich nicht um Werte, sondern lediglich um „Stellungnahmen“ zu etwas handelt, was als Wert „etwas Einheitliches und Zeitloses“ mit einem „unbeding­ ten normativen Anspruch“ versehen, dennoch aber „höchst unterschiedlich und ambivalent“ ist.452 Nur liegt bei der Betonung des normativen Charakters ein anderer Wertebegriff zugrunde, der wohl eher schon hinüber in die Begrifflichkeit von Moral oder Ethik reicht, wie ja ohnehin nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch auch diese Begriffe nicht immer klar unterschieden, sondern mitunter sogar bedeutungsgleich verwendet werden.453 In der Sache gibt es wohl keinen Dissens. Denn auch in dieser Definition ist richtigerweise die Frage zu stellen, worauf sich solche normativen Maßstäbe und Ansprüche gründen und inwieweit sie eben tatsächlich auch allgemein anerkannt werden. Darauf werden wir noch zurückkommen. An den Werten - auch diese Feststellung trifft stets zu - orientiert sich sodann die Moral.454 Nach der Definition des großen Brockhaus ist Moral im modernen Sprachgebrauch die Sammelbezeichnung für die als verbindlich akzeptierten ethisch-sittlichen Normen des Handelns und der Werturteile, der Tugenden und Ideale einer bestimmten Gesellschaft. In der „Moral“ einer Gemeinschaft kommt also einmal zum Ausdruck, welche Werte dort tatsächlich gelten.455 So gibt es hiernach eben durchaus auch eine „Ganovenmoral“ oder eine wechselnde „Steu­ ermoral“ als Kennzeichnung für das, was tatsächlich mehr oder weniger, von den einen oder anderen als Gruppierung wirklich anerkannt wird. Auf der anderen Seite verbindet sich mit der Moral neben dem Ist- auch ein normativer SollAspekt. Moral bezeichnet auch die in einer Gemeinschaft notfalls erzwingbaren

449

Arne Stiksrud in Asangcr/Wenninger: „Handwörterbuch der Psychologie“, S. 848 Karl Berkel unter Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche in Berkel/Herzog, S. 44 451 Arne Stiksrud in Asangcr/Wenninger: „Handwörterbuch der Psychologie“, S. 849 452 Klaus M. Leisinger, S. 14, 15 450

453

Vgl. zur begrifflichen Differenzierung Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 43 ff. Klaus M. Leisinger, S. 13 455 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 43 454

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Normen.456 Sie ist beispielsweise als demokratisch generiertes und legitimiertes Minimum niedergelegt in Gesetzen. Die „Ethik“ hingegen fragt danach, wo die Werte ihrerseits begründet werden. Insoweit kann die Aussage von Karl Berkel „Werte sind das Herz der Ethik“ nämlich als »Pumpstation* und motorisch lenkende Funktion - auch umgekehrt werden in „Ethik ist das Herz der Werte“, also die inhaltlich maßgebliche und letztlich lebensentscheidende oberste Instanz. Denn auch nach Berkels Meinung bezeichnet „Ethik ... die methodisch geleitete Besinnung, die philosophische Reflexion auf diese faktisch geltende Moral.“ Wenn die Moral von der Gemein­ schaft ein bestimmtes Verhalten fordert, fragt die Ethik, worauf sich diese Forde­ rung gründet.457 Die Moral muß sich danach also auch an ethischen Grundsätzen, an „allgemeingültigen Werten und Normen“458 messen lassen. Wenn die Moral das eigene Verhalten nicht ständig hinterfragt, kann es unethisch sein, nur mora­ lisch - eben etwa in einer „Ganovenmoral“ - zu leben.459 Da sich die Moral auf Werte bezieht, diese Werte aber etwas mit den jeweils lebenden Menschen („Wertungen“) zu tun haben, ist es sinnvoll, sich im folgen­ den gleich und unmittelbar mit diesen beiden Polen zu befassen. Das sind die Herkunft oder Entstehung der Werte, damit auch der Einfluß und die Bedeutung der Ethik, und sodann die Anerkennung der Werte, aber nicht nur inhaltlich, son­ dern vor allem als Prozeß, der maßgeblich ist für das, was die Menschen dann tatsächlich inhaltlich verwirklichen und leben. In diesem Spannungsfeld zwischen tatsächlichem Sein und dem daraus mehr oder weniger ableitbaren, erwünschten oder anerkannten Soll bewegt sich stets die gesamte Diskussion - unter welchem Titel auch immer, also natürlich auch das hier behandelte Thema. Die im Hinblick auf die Veränderbarkeit der Untemehmenskultur von manchen kritisch getroffene Unterscheidung zwischen Werten und Praktiken - schon an­ derweitig ist zwischen Grundüberzeugungen, welche die Untemehmensphilosophie widerspiegeln und den praktischen Überzeugungen, die die tägliche Arbeit bestimmen,460 oder auch wie hier zwischen Werten und Moral unterschieden worden - mag einen graduellen Erkenntniswert im Sinne einer Systematisierung und ihres Verständnisses haben. Zum anderen stellen sich jedoch auch Praktiken definitorisch oft mehr oder weniger dar als Konventionen, Bräuche, Gewohnhei­ ten, Sittenkodex, Traditionen oder Gepflogenheiten, die stets als Teil der Kultur Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 43 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 88 und 131; ähnlich Klaus M. Leisinger, S. 18 458 Klaus M. Leisinger, S. 14, 15 457

459

So treffend James Hillmann, amerikanischer Psychologe und Schriftsteller - Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 4 vom 28.01.2000, S. 20 460 Stanley M. Davis - zitiert bei Ulrich A. Wever, S. 125; ähnlich unterscheidet Edgar H. Schein, S. 29 ff. die „Ebenen der Kultur“ als Ausdruck unterschiedlicher Sichtbarkeit und bewußter Intensität wie „Artefakte“, „bekundete Werte“ und „Grundprämissen“.

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begriffen worden sind und nicht als deren ,aliud*.461 Auch ist für den einzelnen Menschen eine solche abstrakt-generelle, aber im Konkreten unscharfe Differen­ zierung von Wertnormen in eine „tiefere zugrundeliegende Ebene“ und bei­ spielsweise einen Sittenkodex für sein situatives Verhalten kaum nachzuvollzie­ hen, zumal sich dessen Bewertung und Bedeutung immer aus verschiedenen Herkunftsebenen speist und im Ergebnis als eine unterschiedliche Mischung aus vielem ohnehin jeweils ganz individuell darstellt und gewichtet. Daher kann un­ abhängig von den einzelnen Menschen gar nicht entschieden werden, aus welcher wertestiftenden Region oder Organisation sich jeweils Grundüberzeugungen gebildet haben und auf welche Gegenstände und Inhalte sie sich beziehen. Unmöglich erscheint von daher auch generell zu sagen, wie intensiv, gefestigt oder änderbar sie sind, oder ob sie auf andere übertragbar sind. Überzeugungen sind zunächst einfach da in einer ungeahnten Vielfalt und unterschiedlichen Wir­ kung. Und sie bestimmen das Verhalten der Menschen in einer ganz einmaligen Weise. Sie orientieren sich neben der jeweiligen persönlichen Beziehung und Situation allein an einer für sie ganz individuell geltenden Wertemischung, woher auch immer sie mit welchem Gewicht beeinflußt worden ist. Aber hilfreicher ist eine solche Differenzierung für die praktische Handhabung nicht. Kein Mensch würde in der Praxis ernsthaft damit beginnen, nach einer solchen Unterscheidung zunächst mögliche Ansatzpunkte zu sortieren. Für eine gestaltende, handhabbare Verbesserung der Identität von Menschen mit dem Unternehmen erscheint eine allzu begriffliche Differenzierung auch zu mechanistisch. Schließlich erschweren solche Unterscheidungen eher das Verständnis eines ohnehin nicht einfachen Themas nur unnötig weiter, so daß man mit einer alten östlichen Weisheit nur festzustellen kann: „In jeder Systematisierung wird Ethik Zwecken untergeordnet. Dadurch verliert sie die ihr eigentümliche unabhängig leitende Funktion, und ebendies ist, wie Laotse es ausdrückt, der Beginn des Abstiegs.“462 Übertragen auf den ökonomischen Sektor - aus dem der Wertebegriff ursprüng­ lich herkommt - kennzeichnen Werte damit zunächst einmal auch die Bedeutung, die Gütern, Waren oder Dienstleistungen für die Bedürfnisbefriedigung der Men­ schen beigemessen wird. Dabei kann man einen an den Kosten oder der Knapp­ heit orientierten objektiven betriebswirtschaftlichen Wert von einem seiner Ver­ wendung und seinem Nutzen nach vom jeweiligen Kunden bestimmten subjekti­ ven persönlichen Wert unterscheiden.463 Primär oder sogar ausschließlich um den materiellen Wert geht es beispielsweise bei der bislang propagierten, sogenannten Geert Hofstede, S. 253 unter Hinweis auf Edward B. Taylor, der die Praktiken im vorigen Jahr­ hundert als Teil der Kultur erkannte: „Kultur ist diese komplexe Gesamtheit, die Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Bräuche und viele andere Fähigkeiten und Gewohnheiten umfaßt, die der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat.“ 462 Herbert Mainusch - Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11 463 Bertelsmann Lexikon und dtv-Lexikon 1971

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„wertorientierten Untemehmensführung“ im Sinne der wirtschaftlichen „Wert­ schöpfung“ zugunsten des Eigentümers und Aktionärs oder auch anderer Bezie­ hungspartner. Maßstab ist hierfür in der Regel der Gewinn - ausgedrückt in der Dimension Geld. Nun reicht aber die absolute Wertgröße ,Geld‘ offensichtlich nicht aus, um stets eine allseits befriedigende und damit abschließend gültige Bewertung vorzuneh­ men. Ist es - und aus wessen Sicht - wertvoll, wenn ein Unternehmen „Milliar­ dengewinne“ macht, die aber dennoch nicht ausreichen, um den Aktionären eine wettbewerbsfähige Rendite für ihr eingesetztes Kapital zu zahlen? Sind die glei­ chen Milliardengewinne als absoluter Betrag für sich genommen andererseits nicht schon Anlaß genug, daß auch die Arbeitnehmervertreter mit ebendieser Begründung ihren „gerechten Anteil“ fordern? Wie reagiert die unmittelbar an diesen Beträgen nicht partizipierende Öffentlichkeit, wenn der Preis für die Ge­ winnerzielung eine zunächst nicht rechenbare Umweltbelastung oder sonstige Ressourcenverwendung etwa zu Lasten der nächstfolgenden Generation, des Einsatzes und der Ausbeutung von Kindern, also der nicht menschengerechten und damit,artgerechten* Behandlung der Beteiligten ist? Wie wirkt auch nur ein zweifelhaftes kaufmännisches Verhalten auf ethisch oder religiös begründete Anschauungen? Auch materielle Werte in absoluten Beträgen bedürfen zu ihrer Bewertung als „Beurteilungsmaßstäbe“464 der Ergänzung um eine immaterielle Sicht, zum Beispiel das Prinzip der Gerechtigkeit. Dazu kommen weitere, höchst subjektive und individuelle Wertmaßstäbe. Die oben bereits zitierten Wertekriterien „Stolz“ und „Befriedigung“ reichen in emo­ tionale Ebenen hinein. Können von da her gesehen die an den Untemehmensergebnissen unmittelbar Interessierten mehr stolz darauf sein, wenn es in aussichts­ los erscheinender Situation gleichwohl gelungen ist, das Unternehmen noch ein­ mal vor dem Konkurs zu retten oder eher darauf, statt einer Milliarde wie im Vorjahr nunmehr zwei Milliarden auszuschütten? Unter welchen Rahmenbedin­ gungen ist das eine oder andere zustande gekommen? Wie war der Anteil, die Rolle und die Motivation des einzelnen dabei? Wie sind sie dabei behandelt, in ihre Rolle gewürdigt und anerkannt worden? Wie haben sie sich dabei gefühlt? Es wird höchste Zeit, nicht mehr nur „sachlich“ zu bleiben. Um auch allen diesen nichtmateriellen und emotionalen subjektiven Dimensionen individueller Wert­ schätzung gerecht zu werden, soll daher hier die Rede sein von einer dieses alles als wesentlich mitumfassenden „werteorientierten Untemehmensfiihrung.“ In welche Richtung die Bewertungen im einzelnen weisen, steht freilich - wie die Beispiele zeigen - nicht immer von vornherein fest. Es ist dieses auch eine Frage der Entstehung, der Akzeptanz, der Validität sowie der Dauerhaftigkeit der Werte in der jeweiligen - damit ebenfalls werteprägenden oder priorisierenden 464

Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 13

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aktuellen Beziehung und Situation. Was insgesamt betrachtet bei den Werten sofort auffallt, ist nun aber doch, daß schon im sprachlichen Unterschied zur Kultur eines Unternehmens, seinen Zielen und Leitbildern die Rede nicht mehr nur von diesem selbst ist, sondern von seinen Beziehungspartnem, also vielen einzelnen Menschen. Werte erfordern damit eine grundsätzliche Änderung der Blickrichtung.

Entstehung der Werte Wie wir schon bei der Untemehmenskultur gesehen haben, bilden sich Werte und Anschauungen mehr oder weniger aus ethischen Grundwerten als gemeinsame Moral in Gemeinschaften. So gibt es Dinge, die für viele und darum „allgemein“ einen Wert haben, „weil man sich darauf geeinigt hat, ihnen einen Wert beizumessen.“465 Der Amerikaner Edgar Schein spricht hierbei von „gemeinsa­ men Prämissen“, die eine das System stabilisierende Funktion haben.466 Ebenso ist es auch umgekehrt, wenn eine Anzahl von Individuen auf die Entfaltung des eigenen Willens zugunsten der Institutionalisierung auch in Form gemeinsamer Oberziele verzichtet.467 In diesem Sinne sind Werte geradezu das Wesenselement für eine Gemein­ schaft: „Ohne einen Grundkonsens im Ethos droht jeder Gemeinschaft früher oder später das Chaos oder eine Diktatur, und einzelne Menschen werden ver­ zweifeln.“468 Da sich Gemeinschaften wiederum soziologisch auf verschiedener wenn man so will - »hierarchischer* Ebene bilden - von der kleinsten Einheit der engeren Familie über Verwandtschaften, Vereine, Unternehmen, ganze Branchen über Verbände und Interessenvertretungen, Parteien, dem Staat bis hin zu über­ staatlichen Gemeinschaften und schließlich der gesamten Menschheit -, gibt es allein von daher stets auch verschiedene Werteebenen, deren Einfluß untereinan­ der auf die jeweils anderen oder auch einzelne Menschen verschieden intensiv ist, so daß unterschiedliche Wertinhalte und Wirkungen auch auf die nächstfolgenden Generationen in diesen Gemeinschaften ausstrahlen. Die Anschauungen entwikkeln sich durch Reflexion auf die Rahmenbedingungen, welche die jeweilige Zeit als für sich typisch oder auch nur als Reaktion auf die vorangegangene Zeit cha-

465

Ray Hammond, amerikanischer Zukunftsforscher und Prof, für Mikrobiologie und Biochemie: „Alles auf Kredit“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 24./25.04.1999, S. I 466 Edgar H. Schein, S. 230

467

Edmund Heinen: „Untemehmenskultur als Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre“ in Heinen/Fank, S. 35 468 Hans Küng: „Arbeit und Lebenssinn angesichts von Wertewandel und Orientierungskrise“ abgedruckt im Handelsblatt Nr. 233 vom 02./03.12.1994

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rakterisieren , letztlich wie auch die Moral als „evolutionäres Ergebnis der histo­ rischen Erfahrungen der Menschheit mit sich selbst.“469 Neben den soziologischen Ebenen gibt es Unterschiede, die mehr geographisch bedingt sind. Dabei haben über viele Jahrhunderte auch insoweit ganz verschie­ den wirkende Lebensbedingungen und Einflußfaktoren aus dem jeweiligen ethni­ schen und religiösen Lebenskreis Anschauen wachsen und tradieren lassen, wel­ che die in verschiedenen Kontinenten und Ländern lebenden Menschen in ihrer Erziehung und damit auch in ihrem Denken, Fühlen und Handeln unterschiedlich geprägt und zu unterschiedlichen Kulturkreisen geführt haben. Daher sind Werte überwiegend multilokal entstanden, abhängig von international verschiedenen Umständen und Bedingungen, also in wesentlichen Elementen zu einem bestimmten Vergleichszeitpunkt nicht einheitlich. Länderkulturen in diesem Sinne stehen meist für ganze „Wertebündel“.470 Selbst dort, wo sich gar nicht die Werte an sich wesentlich unterscheiden, wie das verblüffenderweise auch zwischen den asiatischen und den westlichen oder ame­ rikanischen Wertesystemen der Fall ist, gibt es höchst unterschiedliche Gewich­ tungen und Prioriäten.471 Als grundlegende, die eigene Existenz sichernde oder stabilisierende Orientierungsmaßstäbe für das gesamte staatliche, kulturelle, wirt­ schaftliche und soziale Miteinander finden sie ihren Ausdruck in der Sprache und den Sitten und bilden die Basis der jeweiligen formulierten Verfassung und Rechtsordnung, in entsprechenden Regelungen oder offiziellen Verlautbarungen. In unserer engeren christlich-abendländischen Kultur472 wirken sich als offiziell geltende, im Prinzip anerkannte Werte die zehn Gebote der Bibel ebenso aus wie die einzelstaatlichen Rechtsordnungen473 bis hin zu überstaatlichen Abkommen, vor allem soweit sie nachvollziehbar Verhaltensregeln zu einem menschlichen, gedeihlichen und lauteren Miteinander - auch im Wirtschaftsleben - mit den formalen Mitteln des Staates vorgeben und sanktionieren. Das sind nicht nur die 469

Rupert Lay, S. 11; vgl. ders. zur „Ausbildung moralischer Normen durch das Internalisieren sozialer Strukturen“ S. 33 ff. 470 Konsumforscherin Helene Karmasin in dem Interview: „Sehnsucht nach dem Zaubertrank“ - DER SPIEGEL 40/1999, S. 170 471 Vgl. dazu die Gegenüberstellung bei John Naisbitt: „Megatrends Asien“ - Signum Verlag Wien 1995, S. 146 ff. unter Bezug auf David I. Hitchcock 472 Vgl. dazu zehn Thesen des Bundesvorsitzenden des Bundes katholischer Unternehmer e.V. (BKU) in Köln, Werner Then: „Als Christen haben Unternehmer besondere Fähigkeiten und Aufgaben“ Personalfuhrung 9/1999, S. 14 ff. 473 Alfred Verdross: „Die naturrechtliche Basis der Rechtsgeltung“ in „Recht und Moral“ - Texte zur Rechtsphilosophie, Reclam Stuttgart 1987/1990, S. 42 ff. (46): „Diese notwendige Verknüpfung von Recht und Moral bedeutet aber nicht, daß sich Recht und Moral decken. Sie bedeutet nur, daß das positive Recht von einzelnen moralischen Normen abhängig ist. Diesen Ausschnitt der Moral nennt man in der Regel das ,Naturrecht*“; dazu auch Gustav Radbruch: „Gesetzliches Unrecht und überge­ setzliches Recht“, ebenda, S. 46 ff..

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aus abendländischer Historie entstandene Anerkennung der allgemeinen Men­ schenrechte in den völkerrechtlichen Konventionen474 und in der jeweiligen Ver­ fassung, sondern auch einfache Gesetze, die sich mit dem lauteren Wettbewerb, mit dem Verbot von Bestechungen und sonstigen auch strafrechtlich bewehrten unerlaubten Verhaltensweisen bis hin zu Themen befassen, wie sie durch beson­ ders in der Neuzeit typischen kriminellen Verhaltensweisen akut geworden sind.475 Werte in diesem Sinne beschränken sich jedoch nicht nur auf das offizielle Reglement, die konstituierte Legalität, an die der Staat bei Verstößen Sanktionen knüpft. Diese formalen Ausprägungen sind allenfalls Ausdruck des teilweise über mehrere Generationen sozial anerkannten oder als für die Existenz der Gemein­ schaft notwendig angesehenen Minimums. Noch weitergehend resultieren Werte aus der lebendigen Anschauung der aktuellen Ereignisse und einer Schlußfolge­ rung dessen, was der eigenen Existenzsicherung der gerade lebenden Gemein­ schaft dient, von da her menschlich anständig ist, was man tun darf und was nicht, auch wenn damit nicht sogleich eine staatliche Strafe droht. Darunter lie­ gend gibt es bis zu einem gewissen Grade immer auch die eine Gemeinschaft inoffiziell prägenden oder auch nur unausgesprochen kennzeichnenden Gemein­ samkeiten im Denken und Fühlen, die als „Zeitgeist“ viele Menschen und die offizielle Wertordnung476 beeinflussen. Unabhängig von ihrer - auch rechtlich - durchsetzbaren allgemeinen Konkreti­ sierung in einer Gemeinschaft setzen bereits die Erziehung und das soziale Mit­ einander der Menschen in dem Umfeld, in dem sie aufwachsen und leben, die entscheidenden Bedingungen, ebenso wie persönlich erfahrene Grenzen und damit werteprägende Maßstäbe für die jeweils nachfolgende Generation. Aus allen den beschriebenen Faktoren und Rahmenbedingungen folgen spezielle „Wertvorgaben ... , in die ein Mensch im Laufe seines Lebens hineinsozialisiert wurde.“477 Diese deshalb von Rupert Lay als „primäre Sozialisation“478 bezeich­ nete frühe Prägung als Kind begründet so bereits in Familie, Schule und Umge-

474

Ausgehend von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN legten die im Europarat vereinten Staaten Westeuropas am 04.11.1950 mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Mindeststandards für die „klassischen Menschenrechte“ wie Recht auf Leben, Freiheit, Meinungsfreiheit, das Verbot von Folter oder Sklaverei und die Garantie eines fairen Justizverfahrens fest - vgl. u.a. Stefan Ulrich: „Schutzschild des Abendlandes“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 254 vom 04./05.11.2000, S. 6 und ebenda zur nicht immer leichten Durchsetzbarkeit das Interview mit dem ehemaligen Präsidenten des Gerichtshofs für Menschenrechte, Rudolf Bernhardt: „Bei Russland sehe ich schwarz“. 475 z.B. GeldwäscheG 476 Konrad Redeker: „Zeitgeist und Wertordnung“ - Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1999 (Heft 50) S. 3687 ff. 477 Rupert Lay, S. 24 478 Rupert Lay, S. 34

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bung sehr verschiedene moralische Normen,479 sofern die Menschen davon über­ zeugt sind, daß sie sinnvoll sind. Auf diese Weise ist über viele Generationen und Regionen hin inzwischen „ein Kanon“ mit einem nicht nur im weitesten Sinne humanistischen, sondern gerade­ zu humanen Kem entstanden, „dessen Werte das Gespräch durch die Jahrhunder­ te bestimmten, weil dieselben Bezugspunkte für jede menschliche Existenz gal­ ten.“480 Denn vor allem die mit der Erhaltung und Sicherung der individuellen Existenz des Menschen verbundenen Bedürfnisse erzeugen die Grundwerte, die in ihrem tiefsten Inneren allen Menschen zu eigen sind, auch wenn sie vorüber­ gehend einmal unter der Forderung „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“ keine offizielle Anerkennung genießen. Zu diesen menschlichen Bedürfnissen gehört insbesondere die jedem Menschen geschuldete, weil existenzsichemde und auch deshalb seine Würde ausmachende individuelle Wertschätzung und Beachtung. Deren Bedeutung und Gewicht als Maßstab für alles menschliche Verhalten hat der Arzt und Psychotherapeut Wolf Büntig treffend so charakterisiert: „Beach­ tung ist ein menschliches Grundbedürfnis wie Hunger oder Durst oder das Be­ dürfnis nach Vitamin C.“481 Hieraus erklärt sich: Werte folgen natürlichen menschlichen Bedürfnissen und existentiellen Zwecken.482 Der Zukunfts- und Bewußtseinsforscher John Horman sieht in der Beantwortung der Zuwendung auch die Aktivierung der eigenen fundamentalen Bejahung und Selbstakzeptanz „das in unserer heutigen Gesellschaft so nötige Gegengift zu Misstrauen, Zynis­ mus und Raffgier.“483 Dahinter steht der von Friedrich Nietzsche so betonte „en­ dogene Zweck ... , sich selbst zu erhalten, zu stabilisieren und - wenn möglich in die soziale Umwelt zu expandieren ... Diese Zwecke bestimmen die Werte und Unwerte ..., ihre Wichtigkeit und Dringlichkeit.“484 Dieses zu verstehen und anzuerkennen ist einer der wesentlichen Schlüssel nicht nur im Umgang mit Menschen überhaupt, sondern weist die relevanten Ansatzpunkte auf, die auch im Wirtschaftsleben den „Faktor Mensch“ aufschlüs­ seln und erklären. So zeigt sich derzeit - für viele ebenso überraschend wie er479

* Geert Hofstede, S. 252

480

Prof. Friedrich Prinz, Deisenhofen - Leserbrief zu Joachim Kaiser: „Winnetou oder die Wald­ steinsonate“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 249 vom 27.10.1999, S. 15 481 Beitrag in dem Programmheft des Zentrums für individuelle und soziale Therapie e.V. (ZIST), Penzberg - Dezember 1993; ebenso Dorothee Echter unter Bezug auf den Wissenschaftler Georg Franck: „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ - 1998 unter dem „Stichwort: Aufmerksamkeit“ - Han­ delsblatt/Karriere vom 19./20.01.2001, S. K2 482 Johannes Messner: „Die Natur des Menschen als Grundlage des Sittengesetzes“ in „Recht und Moral“, Texte zur Rechtsphilosophie - Reclam Stuttgart 1987/1990, S. 96 ff. 483 John Horman: „Scorecard fürs eigene Leben“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 244 vom 23.10.2000, S. 27 484 « Rupert Lay, S. 19; vgl. in diesem Zusammenhang auch Gary S. Baker: „Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens“ - 1992

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staunlich - gerade bei den jungen, angeblich so coolen, sachorientierten und technisch dominanten IT-Spezialisten neben anderen Faktoren besonders auch ein die Integration erschwerender und die Harmonie störender Mangel an persönli­ cher Beachtung durch die Unternehmen. Wie u. a. die Unternehmensberaterin Betty Zucker aus Zürich und der Freizeitforscher Horst W. Opaschowski in neue­ ren Studien wieder festgestellt haben, erwartet gerade auch die junge Generation individuelle, kontinuierliche Aufmerksamkeit sowie eine Bestätigung ihrer Ar­ beitsleistungen und ihrer Person.485 Insoweit kann auch der in den Wissenschaften herrschende Streit, ob die Werteinschätzungen und Sittlichkeitskriterien von Natur angeboren und deshalb allen Menschen gemeinsam sind oder nur durch subjektive Erfahrung und formale oder auch überzeugende Erziehung zu einem übergeordneten religiösen oder sittlichen Maßstab erworben wurden,486 jedenfalls für das eigene praktische Verhalten dahingehend beantwortet werden, daß zwei­ fellos für maßgebliche Teilbereiche ein „sowohl als auch“ gilt. Was nun speziell die Unternehmen und Manager in der Wirtschaft anbetrifft, so gestalten auch sie die Wertewelt und die Bedürfnisstruktur der Menschen teils direkt, teils indirekt mit und wirken so intern und extern auf die Wertebildung der Menschen mit ein.487 Ihre Legitimation gründet sich nicht auf einen demokrati­ schen Konsens, sondern auf das wirtschaftliche Interesse, also ebenso wie bei den Menschen auf das existenzsichemde Beachtetwerden. Das bedeutet auch Abhän­ gigkeit von anderen. Ihr Mittel sind sehr wohl wirtschaftliche Macht und Einfluß, nicht aber formale Sanktionen. Daher gelten auch für sie innerhalb einer ver­ gleichbaren kulturellen oder wirtschaftlichen Rahmenordnung die gleichen Grundwerte, so daß sie sich von daher zunächst kaum unterscheiden.488 Aber ihr weitergehender faktischer Einfluß findet laufend statt, teils bewußt, teils unbe­ wußt über lange Zeit mit unterschiedlichen Wirkungen, die auch von dem jewei­ ligen Entwicklungsstadium des Unternehmens abhängen.489 Man muß zu den Einflußnahmen unabhängig von Produkten, Werbung, ja auch sichtbare Einwir­ kungen auf die Politik und öffentliche Meinungsbildung usw. vor allem auch den praktizierten Stil, die Methoden und Umgangsformen des im Wirtschaftsleben handelnden Geschäftspartners und das Bemühen um Lauterkeit in der Wirtschaft rechnen, wie das bereits dargestellt wurde. In gleicher Weise geht jedoch auch Einfluß aus von Verhaltensweisen, die traditionell als unlauter gelten, aber als 485 Vgl. dazu den Bericht von Jutta Greis: „Individualisten integrieren“ - Handelsblatt/Karriere vom 03./04.11.2000, S. K4 486 Vgl. dazu die anschauliche Darstellung von Nikolaus Lobkowicz: „Zur philosophischen Problema­ tik des Wertewandels“ in „Wertewandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraus­ setzungen unserer Demokratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 167 dR7 Ulrich A. Wever, S. 159 ff.; Edgar H. Schein, S. 20 sowie S. 229 ff. 488 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 71 489 Vgl. dazu besonders Edgar H. Schein, S. 235 ff. und 309 ff.

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Folge eines ,mörderischen4 Wettbewerbs sich immer mehr durch das eigene In­ teresse zu legitimieren scheinen und so - jedenfalls gemessen an traditionellen Werten - eine negative Vorbildfunktion übernehmen. Vielen Unternehmen ist diese schwierige Rolle auch für die weitere Entwick­ lung inzwischen sehr wohl bewußt, wobei die Sorge der Allgemeinheit wächst, daß mehr noch als von den demokratisch kontrollierten politischen Institutionen von ihnen künftig die maßgebliche „strukturelle Gewalt“ institutionalisierter wirtschaftlicher Systeme ausgeht, welche die einzelnen Menschen bedrängt und gefährdet, wie wir das oben schon dargestellt haben. Auch daraus resultiert, daß die zwangsläufige Mitwirkungsfunktion der Unternehmen an der Werteentwick­ lung einer zunehmenden und auch qualitativ steigenden Verantwortung unter­ liegt, wohin auch immer sie inhaltlich fuhrt.

Individualität der Wertmaßstäbe und ihrer Ausprägungen Schon die Entstehungsgeschichte der Werte und ihrer Maßstäbe macht deutlich, daß sie individuell sehr unterschiedlich verlaufen kann. Daher können die Werte auch ihrem Inhalt nach sehr verschieden sein. Obwohl sie einerseits von den Einflußfaktoren der jeweiligen Gemeinschaftsebenen490 und deren Rahmenbedin­ gungen abhängen sowie ihrer unterschiedlichen Intensität, wirkt eben doch ande­ rerseits auch die jeweilige Lebenssituation des einzelnen Menschen maßgeblich darauf ein. Die aus alledem resultierende Individualität der Werte bezieht sich somit immer auf einzelne Menschen, die dann auch aus ihren spezifischen Wert­ haltungen und Normen heraus agieren.491 Werte zu berücksichtigen bedeutet „nach einer mehr als 1500 Jahre alten Defi­ nition ..„jedem das Seine zu geben - „suum cuique tribuere“. Eine so verstande­ ne Individualität ist nicht von vornherein gut oder schlecht, so daß hierbei eine falsche, moralisch geprägte Polarisierung entstehen darf. Denn Tatsache bleibt zunächst, daß die Menschen ein eigenes, selbstbestimmtes Leben fuhren wollen. Der Untemehmensberater Reinhard K. Sprenger sagt: „Sie wollen, daß ihre Be­ dürfnisse beachtet werden.“492 Was aber ist ,das Seine4? Hier geht es um die immerwährende „Wiederkehr der Kinderfragen“, die Fragen nach dem Glück und dem Lebenssinn, die seit Jahr­ hunderten die Philosophen beschäftigen und deren immer wieder andere Beant­ 490

Anders gemeint sind die „Ebenen der Kultur“ bei Edgar H. Schein, S. 29 ff. als Ausdruck unter­ schiedlicher Sichtbarkeit und bewußter Intensität. 491 Edmund Heinen: „Untemehmenskultur als Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre“ in Heinen/ Fank, S. 35 492 Interview mit Christoph Stehr: „Flachdenker bevorzugt“ - Handelsblatt/Karriere vom 22./ 23.09.2000, S. K2

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wortung nicht an ein gemeinsames Ende gelangen will.493 Gemeint sind als Min­ destrahmen immer die berechtigten Erwartungen eines jeden, also die Erwartun­ gen, deren Berechtigung von der Gesellschaft anerkannt ist.494 Denn trotz aller grundsätzlichen Individualität der Anschauungen haben mehrere Menschen in Gemeinschaften unter einheitlichen Rahmenbedingungen oder Zeitfaktoren eine von allen anerkannte gemeinsame Lebensgrundlage, wie wir das entsprechend der jeweiligen kulturellen Prägung bereits gesehen haben. Das gilt auf einem relativ hohen Abstraktionsgrad für den Staat und die Gesellschaft sowie sehr viel kon­ kreter für den Beruf und die Familie. In ihrer Funktion als stabilisierendes Ele­ ment der eigenen Existenz durch die Gemeinschaft müssen derartige moralische Regelsysteme nach Meinung des Göttinger Wissenschaftlers Günther Patzig daran gemessen werden, „ob sie auch wirklich zum Wohlergehen der Menschen beitragen.“495 Soweit sich in Gemeinschaften, in Staat und Gesellschaft oder auch in einem Unternehmen gemeinsame Werte als Moral gebildet haben, sind sie als allgemei­ ne oder gruppenspezifische Grundsätze andererseits nicht davon abhängig, daß jeder einzelne in der Gemeinschaft in jeder Situation diese Werte für sich und sein konkretes äußeres Verhalten auch gelten läßt, geschweige denn für sich in­ nerlich als richtig und wegweisend akzeptiert. Selbst dort, wo allgemein geltende Werte ihre innere Legitimation in der eigenen Existenzsicherung als Mensch dem „menschlichen Überleben“496 - finden, sind sie zwar insoweit vom Grunde her einheitlich, aber in ihren Ausprägungen doch wieder individuell, weil sich die Möglichkeit der Realisierung an der individuellen Lebenssituation und den vor­ handenen unterschiedlichen Gegebenheiten orientiert, so daß sie auch nur in ei­ nem jeweils unterschiedlichen Profil aktuell oder wirksam sind. Es scheint zwar mitunter so, als ob die Sensibilität der Menschen gegenüber vielen als Unrecht empfundenen Erscheinungsformen auch in der Politik gewachsen ist. Gleichzeitig haben aber gleichwohl auch „moralische Ignoranz“ und „Egoismus“ in der Ge­ sellschaft zugenommen.497 Rupert Lay zieht aus alledem mit Recht das Resümee, daß inzwischen jede individuelle Perspektive „nicht mehr an die Erwartung ge­ bunden ist, daß sich alle oder doch eine Vielzahl der Mitbewerber um Nutzenop­ timierung ebenfalls an die Normen ebenderselben Moral halten.“498 Das gilt für 493 Johannes Saltzwedel: „Wiederkehr der Kinderfragen“ - DER SPIEGEL 8/2000, S. 296 ff. 494

Karl Homann, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik der Universität Eichstätt - SZGespräch - Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 04.02.1998, S. 32 495 Günther Patzig, Universität Göttingen, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft für Analytische Philosophie“ in München - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46 496 Rupert Lay, S. 11 497

Hans Leyendecker: „Politiker wie du und ich“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 266 vom 18./ 19.11.2000, S. 4 498 Rupert Lay, S. 15

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ethische Grundwerte, welche die generellen Wege und Zielrichtungen aufzeigen sollen, ebenso wie für Normen, die den Weg dorthin selbst verbindlich regeln. Die darin enthaltene „formale Sollensethik“ entspricht keinesfalls immer den tatsächlich anerkannten Werten als „materiale Seinsethik“.499 Man spricht hier begrifflich auch von „Haltungen“, die die persönlichen Werte und moralischen Überzeugungen des Individuums ausdrücken.500 Aus ähnlichen Gründen stehen Werteje nach Gemeinschaftsebene und konkre­ tem Inhalt nicht selten schon selbst in eklatantem Widerspruch zueinander, auch wenn das nicht immer sofort sichtbar wird oder andererseits sogar kämpferisch ausgetragen wird. Dafür gibt es genügend, aber auch den Kem einer Gemein­ schaft berührendes Anschauungsmaterial. Angesehene Wissenschaftler und Prak­ tiker aus Jurisprudenz, Politik und Philosophie haben beispielsweise gerade er­ neut auf die „Widersprüche zwischen Verfassungstext, Verfassungsverständnis und Verfassungswirklichkeit“ sowie die zunehmende „Erosion des Rechtsbe­ wußtseins in der Bevölkerung wie in den Amtseliten“ hingewiesen.501 Denn unser Verfassungsstaat verlangt nur „Befolgung“, nicht „Zustimmung“. Er stellt auf „äußeres Verhalten“ ab, nicht auf „Gesinnung“.502 Bei derartigen Widersprüchen verschiedener moralischer Werteebenen muß sich also der einzelne Mensch ge­ gebenenfalls für die eine und damit zwangsläufig gegen eine andere entscheiden - im Denken allemal, aber mitunter auch im Handeln. Dabei kommt einem Ausbrechen aus der gemeinsamen Wertewelt stets eine die Beziehung zu dieser Gemeinschaft tangierende Bedeutung zu. Daraus folgt für die so Handelnden etwa, daß ihr Bedürfnis, sich in einer Welt gleichgesinnter Mitmenschen geborgen zu fühlen und damit persönliche Sicherheit zu verschaf­ fen, einen Bruch und eine Enttäuschung erleidet. Andererseits erleichtert der oft notgedrungen hohe Abstraktionsgrad der genormten Wertvorstellungen ihr ge­ dankenloses, schnelles Unterlaufen. Er suggeriert eine größere Unverbindlichkeit, bedingt daher die Notwendigkeit der ständigen und überzeugenden, aber schwie­ rigen und häufig unterlassenen Konkretisierung in der Praxis und im Alltag. Wer

499

So die Unterscheidung bei Karl Berkel in Berkel/Herzog, S.46 und 76; vgl. auch Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb - Am Ende des Jahrtausends steckt die Gesellschaft in einer tiefen Krise. Der Konsens darüber, was gut und was böse ist, schwindet, in der Politik spielt das Gemeinwohl kaum mehr eine Rolle, in der Wirtschaft dominiert der Eigennutz. Sind die Deutschen ein Volk ohne Moral?“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. 500 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 76 501 Andreas Püttmann in der Einleitung zu „Wertewandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 8 sowie die folgenden Einzelbeiträge dazu in diesem Buch. 502 Josef Isensee, Vortrag anl. des Deutschen Juristentages 1996: „Bundesverfassungsgericht - quo vadis?“, abgedr. in dem Sammelband „Wertewandel - Rechtswandel“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 97

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kennt nicht den Spott: „Wir halten unsere Prinzipien so hoch, daß wir im Alltag bequem und erhobenen Hauptes darunter hindurch gehen können!“ Das alles gilt für die Frage, welche Bedeutung eine übergeordnete Ethik hat, ebenso wie für - von wem auch immer - offiziell »verordnete4 Werte, die einem speziellen Interesse und damit einer nur einseitig wünschenswerten Vorstellung entspringen. So läßt sich beispielsweise auch nur schwer ermitteln, ob und gege­ benenfalls zu welcher Zeit zu den obersten Wertmaßstäben aller Kulturkreise der gesamten Menschheit die gleichwohl als „allgemein“ bezeichneten Menschen­ rechte gehören, zumal ihnen mit einigem Recht vorgeworfen wird, daß sie sich eben nicht in einem entsprechenden Auseinandersetzungsprozeß weltweit histo­ risch gebildet haben, sondern der westlichen Kultur entstammen und von daher der Menschheit insgesamt zugeordnet worden seien.503 Noch immer gelten auch aus diesem Grunde die allgemeinen Menschenrechte ihrem eigenen weltumfas­ senden Anspruch zuwider im praktischen Leben und als Quelle der Orientierung für Detailfragen insgesamt zu wenig.504 Man wird sich alles in allem dem ernüchternden Fazit nicht entziehen können, daß sich bislang alle Hoffnungen „auf eine allgemein akzeptierte Grundlage für ethisches Verhalten“, auch auf der Basis eines „religiösen Absolutum“ oder im Sinne eines „Weltethos“ nicht erfüllt haben.505 Rupert Lay hat daran erinnert, daß schon seit der Aufklärung ein kollektiver Konsens über die gemeinsame Werte­ ordnung nicht mehr vorhanden ist. Heute verfügt jeder einzelne über wechselnde Wertvorstellungen, Einstellungen, Interessen und Bedürfnisse:506 „Es gibt kaum mehr allgemein anerkannte politische, ökonomische, soziale, kulturelle Werte, die sozialverträglich durchgesetzt werden, weil sie von moralischen Normen reguliert werden.“507 Andere sprechen daher im Ergebnis auch von „einer Art situativer Ethik, nach der alles immer ,von den gegebenen Umständen4 abhängt.“508 Was genau so aussieht, hat seinen inneren Grund aber vielleicht doch eher darin, daß die Menschen individuell grundverschieden sind und dementsprechend auch unterschiedlich auf selbst gleichartige äußere Lebensbedingungen reagieren. Es gilt als eines der größten Verdienste des Heidelberger Professors für Präventive

503 Geert Hofstede, S. VI (Vorwort zur deutschen Ausgabe); zum Konflikt zwischen allgemeinen Menschenrechten und der „Dauerbereitschaft zum Krieg“ vgl. auch Michael Birnbaum: „Moral tut gut, Vernunft besser“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 222 vom 25./26.09.1999, S. 4 504 Rupert Lay, S. 13 m. Anm. 6 505 Herbert Mainusch - Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11 506 Rupert Lay auf dem Kongreß „Wertewandel und Werteverlust in der Wirtschaft“ - Bericht von Sibylle Nagler-Springmann: „Neue Chefs braucht das Land“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 110 vom 15./16.05.1999, S. Vl/1 507 Rupert Lay: „Kultur und Unkultur im Unternehmen“ - Personalfilhrung 8/1999, S. 48 508

Andreas Püttmann in der Einleitung zu „Wertewandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 8 und 9

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Medizin am Europäischen Zentrum fur Frieden und Entwicklung, Ronald Grossarth-Maticek, schon vor langer Zeit den Blick auf eine solche „systemische Sichtweise“, d.h. den Zusammenhang zwischen den jeweiligen menschlichen Eigenschaften und der konkreten Situation gelenkt zu haben.509 Ob und ggf. wie dieser „extreme Individualismus“, wonach sich jeder seine eigene Werthierarchie zurechtlegt, überwunden werden muß510 entscheidet sich zweifellos an der Fähigkeit, Grundwerte und Grundüberzeugungen, die vielen Menschen über viele Generationen hindurch gemeinsam wichtig waren, als »gül­ tige* Werte immer wieder neu mit den Menschen von heute zu diskutieren, damit auf ihre Lebenssituation zu konkretisieren und zu exemplifizieren. Und was wäre schlimm daran, wenn sich dabei die aktuelle inhaltliche Ausprägung als zeit- und situationsbezogene Variante von anderen und früheren unterscheidet, sofern nur die Kemsubstanz nicht verloren geht? Es könnte sich als hilfreich erweisen, allein als Folge dauerhafter, wertschätzender, wenn auch mühsamer Auseinanderset­ zungsprozesse in den vielfältigen menschlichen Beziehungen damit immer wieder einen neuen tragfähigen Status zu suchen, auch zu finden und eine allzu abstrakte und deshalb unergiebige Wertediskussion endlich einmal obsolet werden zu las­ sen. Dabei kann darauf vertraut werden, daß alle Beteiligten sich erneut und schnell wieder auf so aktualisierte, quasi wiederbelebte gemeinsame Grundwerte verständigen können, weil die eigentliche Auseinandersetzung sich dem einzel­ nen Menschen zuwendet und mit der ohnehin viel schwierigeren Anwendung auf seine individuelle Lebenssituation beschäftigt. Man wird sich aber auch und besonders dann Wertanschauungen stellen und sich mit ihnen beschäftigen müssen, wenn sie nicht allgemein anerkannt sind, sondern als kulturfremde Störung oder Einmischung empfunden werden. Denn solange auch die Meinungsfreiheit als ein Wert anerkannt und als Ausdruck des Respekts und der Beachtung des jeweils anderen praktiziert wird, erfordert die Dringlichkeitsregel: Beziehungsstörungen haben Vorrang!511 Denn besser gegen­ über vorgegebenen oder absoluten, nur auf dem Papier stehenden »Scheinwerten4 sind offene und kritische Diskussionen über und um sie - manchmal geradezu unvermeidlich. So wie in unserem freiheitlichen staatlichen Gemeinwesen Kritik „gemeindienlich“ und „staatstragend“ - ja das eigentliche »»Lebenselixier“ - ist,512

Dagmar Deckstein: „Autonomie trainieren“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 261 vom 13.11.2000, S. 26 in ihrer Besprechung des Buches von Ronald Grossarth-Maticek: „Autonomie­ training“ - Verlag de Gruyter 2000 510 So als offene Frage Nikolaus Lobkowicz: „Zur philosophischen Problematik des Wertewandels“ in „Wertewandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demo­ kratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 183 511 Vgl. dazu Friedemann Schulz von Thun, Bd. 1, S. 131 ff. 512 Josef Isensee, Vortrag anl. des Deutschen Juristentages 1996: „Bundesverfassungsgericht - quo vadis?“, abgedr. in dem Sammelband „Wertewandel - Rechtswandel“, Resch Verlag Gräfelfing 1997,

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gilt das auch innerhalb und außerhalb wirtschaftlicher Gemeinwesen wie Unter­ nehmen.

Werte und Verhalten Jeder Wandel, jede Anpassung an sich wechselnde Anforderungen findet nur dann statt, wenn das Verhalten der Menschen sich verändert. Dieses wiederum setzt zwar ein gewandeltes Denken voraus.513 Werte sind zwar die Maßstäbe für die denknotwendigen Bewertungen. Daraus resultierende Urteile fuhren jedoch noch nicht automatisch zu einem entsprechenden Verhalten, sondern zunächst nur zu Meinungen. Ein Gesinnungswandel allein vermag jedoch nichts. Ebenso* wie Ethik und Moral haben aber auch die sie tragenden Werte ihren Sinn nicht allein darin, sie für sich zu haben, allenfalls darüber zu reden, sondern natürlich nur in dem entsprechenden Handeln. Das fuhrt uns zu der Frage, wann Werte praktische Konsequenzen und Auswirkungen für das konkrete Verhalten der Menschen haben, sie sich also in Handeln umsetzen. Verhalten hat - so ist bekannt - im wesentlichen zwei Wurzeln: Das sind ein­ mal die „im Prozeß der evolutionären Menschwerdung erworbenen uralten Ver­ haltensprogrammierungen, die in einem durchaus bemerkenswerten Ausmaß auch das Verhalten des modernen Menschen nach wie vor mitsteuem ... Die andere Seite ... stellt das im Verlauf der Ontogenese, das heißt der Individualentwicklung erworbene Verhalten dar.“514 Wenn Menschen handeln, dann suchen ihre über diese Wurzeln gespeisten Wertvorstellungen darin auch soweit wie möglich ihren konkreten Ausdruck. Jedes menschliche Streben bemüht sich, Wertegehalte zu verwirklichen.515 Dabei haben alle Menschen angeblich drei Lebensziele:516 Etwas erreichen, „... etwas S. 98; Jörg Staute, S. 57 betont die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der herrschenden Untemehmenskultur. 513 Reiner Chrobok, Leiter der Gesellschaft für Organisation (GfurO) e.V., Bonn: „UE=OE+PE+CO Von der Organisations- zur Untemehmensentwicklung“ - Personalftihrung 10/1999, S. 12 514 Hartmut Volk: „Wenn archaisches Verhalten und erworbenes Verhalten plötzlich auf Neues trifft Mit Gebrauchsanweisungen fürs Gehirn Unheil vermeiden“ - Handelsblatt Nr. 5 vom 06./07.01.1994, S. G 8 (Report) m. w. Nachweisen 515 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 65; diese Prämisse liegt auch der Göttinger Vergleichsstudie zu

den Lebenszielen deutscher, französischer und amerikanischer Führungskräfte zugrunde - vgl. Bericht von Karin von Bismarck und Sylvia-Maria Schröder: „Manager als Sinnstifter“ - Personalwirtschaft 7/1997, S. 31 ff. 516 Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 26, 27; ähnlich die Ergebnisse der Studie von Psephos, Institut für Wahlforschung und Sozialwissenschaft GmbH: „Zeitbudgets und Lebensplanung unter jungen berufstätigen Akademikern“ - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 205 vom 22./ 23.10.1999, S.K1

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sein zu wollen“ („Sein durch Tun“), sodann: Verbinden, durch Beziehungen „die Vielfalt des Lebens zu erfahren ..., unsere Zeit und unsere Talente in unsere Be­ ziehungen mit Freunden, Familienmitgliedern und anderen einzubringen“ („ist beziehungsorientiert“, „auf das Sein durch Zusammensein gerichtet“), zuletzt integrieren, d.h. die beiden ersten Ziele zu verschmelzen, sie in „Verhalten umzu­ setzen, daß sie für Menschen, Prinzipien und Verpflichtungen forderlich sind, die uns am meisten bedeuten.“ In ähnlicher Weise hat neuerdings Hans-Georg Häusel in seinem Buch - „Think Limbic! Die Macht des Unbewußten nutzen für Motiva­ tion, Marketing, Management“ - vor der überheblichen Vorstellung gewarnt, wir könnten alle unsere Entscheidungen auf einer rationalen, vernünftigen Basis tref­ fen, weil in uns allen noch tief das „archaische Gefühlserbe aus den fernen Tagen der Wildbeuterzeit“ steckt.517 Man kann es durchaus so ausdrücken. Dabei wollen die meisten Menschen nicht nur „sozialverträglich“518 handeln, sondern überhaupt durch Verhalten aktiv und sichtbar ein Grundbedürfnis betätigen, das im übrigen auch allein nur in der Lage ist, die erforderliche existentielle Beachtung zu vermitteln und auf sich aufmerksam zu machen. Entgegen einer immer noch verbreiteten Ansicht, nur Mangelzustände würden zu entsprechender Verhaltensaktivierung führen, ist es nach heutiger Auffassung in der Psychologie vor allem die „intrinsische Motiva­ tion“, also das „sich selbst belohnende“ Verhalten, das eine Aktivierung bewirkt. Diese statt durch Defizite im Wohlbefinden ausgelöste, vor allem auf „Wach­ stum“ gerichtete Motivation gilt heute als „spezifisch menschlicher Wesenszug“ und als „Inbegriff aller Bestrebungen, sich als kompetent und als sich selbst be­ stimmend zu erfahren.“519 Nun führen jedoch nicht alle Werte allein schon zu einem entsprechenden akti­ ven Handeln. Nach dem Erkenntnisstand der „Erwartungswert-“ oder „Anreiz­ theorien“ etwa zu der Frage, für welche Handlungsaltemative und warum sich der Mensch jeweils entscheidet, bedarf es für ein Tätigwerden nicht nur der „Motiv­ ziele“ oder der „Vorstellungen von dem, was wünschenswert ist“.520 Es muß vielmehr - so der Münchner Organisationspsychologe Lutz von Rosenstiel - noch die reale Möglichkeit oder zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit hinzukom­ men, diese Wertvorstellungen für sich auch tatsächlich realisieren zu können. Die Psychologie - hier also speziell auch als „Moralpsychologie“ - sagt, daß sich das 517 Hans-Georg Häusel: „Think Limbic! Die Macht des Unbewussten nutzen für Motivation, Marke­

ting, Management“ - Haufe Verlag Freiburg 2000 sowie die Besprechung von Michael Gestmann: „Thronsturz des Großhirns - Was Motivation, Marketing und Management wirklich bestimmt“ Süddeutsche Zeitung Nr. 267 vom 20.11.2000, S. 27 518 So Rupert Lay: „Kultur und Unkultur im Unternehmen“ - Personal Führung 8/1999, S. 48 519 Hans Thomae in Asanger/Wenninger: „Handwörterbuch der Psychologie“, S. 464 520 Lutz von Rosenstiel, S. 47 ff. (70); vgl. auch Edmund Heinen: „Untemehmenskultur als Gegen­ stand der Betriebswirtschaftslehre“ in Heinen/Fank, S. 38 und Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S. 13

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Verhalten dafür entscheidet, wo das Produkt aus dem Wert der Ergebnisse und der Wahrscheinlichkeit, es erreichen zu können, am größten ist.521 Es entspricht dieses dem allgemeinen „Motivationsmodell“, wonach Motivation im Zusam­ menspiel personaler und situativer Faktoren entsteht und so die Richtung, Intensi­ tät und Ausdauer des Verhaltens bestimmt.522 Die dementsprechende Einschät­ zung einer beruflichen Situation durch ein Individuum und die Reaktion darauf ergeben beispielsweise die „Einstellung zur Arbeit.“523 Rupert Lay spricht in diesem Zusammenhang auch von der „ökonomischen Moral“ und sagt: „Wir wollen uns ... von der Vorstellung freimachen, daß Men­ schen anders als über eine Aufwands-Ertrags-Kalkulation zu moralischem Ver­ halten veranlaßt werden könnten.“524 Dafür gilt dann die von ihm so definierte Formel: „Mit welchem Minimum an psychischem, sozialem, emotionalem, finan­ ziellem Aufwand kann ich (wenigstens langfristig) ein Optimum an psychischem, sozialem, emotionalem, finanziellem Ertrag »erwirtschaften4. “525 Hierbei ist von der Prämisse auszugehen, daß „die angemessene Handlungsweise für Menschen in proaktiven Formen der Problembewältigung“526 liegt. Auch das bedeutet, daß Werte von Menschen nur nach Maßgabe ihrer Reali­ sierbarkeit zur Richtschnur ihres konkreten Handelns gemacht werden. Selbst klassische Betriebswirtschaftler wie Edmund Heinen haben erkannt: Nur wenn also zusätzliche geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden und die Reali­ sierung der Wertvorstellungen damit in greifbare Nähe gerückt ist, wirken indivi­ duelle Werthaltungen als „treibende, auslösende, kreative Elemente“, ohne die auch eine Betriebswirtschaft als „sinnhaft konstituiertes Gebilde“ nicht denkbar ist.527 Geschaffen oder erfüllt werden können derartige Rahmenbedingungen, die eine Verwirklichung der Werte möglich erscheinen lassen, letztlich wiederum nur individuell in und durch Beziehungen mit einzelnen Mitgliedern, eventuell noch mit Repräsentanten einer Gemeinschaft. Alle Versuche, statt dessen anonym den objektiven Wert von Sachen zu beschwören oder Ziele der Gemeinschaft gleich­ zeitig und kollektiv an deren Mitglieder zu adressieren, müssen danach fehlschlagen. Proklamationen, Appelle oder nur argumentative Darstellungen mögen sach­ 521 Lutz von Rosenstiel, S. 47 ff. (53) 522 Hugo M. Kehr und Petra Bles: „Bedeutung der Führungskräfte-Motivation“ - PERSONAL 11/1999, S. 571 523 Peter Cappelli: „Gute Miene zum harten Job machen“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 11 vom

16./17.01.1998, S.K8 524 Rupert Lay, S. 15 525 Rupert Lay, S. 16 526 Edgar H. Schein, S. 299 527 Edmund Heinen: „Untemehmenskultur als Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre“ in Heinen/ Fank, S. 34

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lieh so überzeugend und vorteilhaft sein wie auch immer. Sie lassen die individu­ elle Beachtung des Individuums vermissen, sind daher auch zu deren Kompensa­ tion ungeeignet und sprechen - immer wieder auch zum Erstaunen ihrer Verfas­ ser - eigentlich niemanden wirklich an.528 Abzulehnen wegen der damit verbundenen finalen, respektlosen und inhumanen Intention sind auch alle Methoden und Tricks, die einseitig Einfluß zu nehmen versuchen oder in die subjektiv wertorientierte Entscheidungsfreiheit des anderen - angeblich wertfrei oder sogar unwürdig - eingreifen, mögen sie auch - wie die aus Amerika zu uns überkommene sogenannte „neurolinguistische Programmie­ rung (NLP)“ 529oder sogenannte motivatorische Großveranstaltungen530 - zu­ nächst durchaus gewisse Wirkungen in der erwünschten Weise haben. Es ist schlicht unmoralisch, unter dem Feigenblatt des „Lernens“ Einfluß zu nehmen mit Methoden, die „direkt auf das Gehirn“ einwirken, die bei den Menschen le­ diglich eine Veränderung in der „Sichtweise“ bestimmter Dinge herstellen, das Denken und die Befindlichkeit verändern und damit auch das Verhalten von au­ ßen her „beeinflussen“ oder gar manipulieren. Um das Erreichen der ehrlichen Werteerwartungen möglich zu machen, bedarf es eines Prozesses in mehreren Schritten. Da auch umgekehrt die tatsächlichen, beobachtbaren Verhaltensweisen und menschlichen Handlungen die wirklich vorhanden, „gelebten“ Werte531 am ehrlichsten sichtbar machen, ermöglichen sie zunächst einmal zu erkennen, wo der einzelne derzeit steht. Sichtbar wird auch, inwieweit Reden und Tun, verbales Wollen und tatsächliches Verhalten einander entsprechen oder sich widersprechen. Das Vorleben ist gegenüber dem bloßen Reden stets der überzeugendere Ausdruck dessen, was jemand wirklich anstrebt. Wir haben bereits im Zusammenhang mit der Führungskritik darüber gesprochen. Auf dieser Ausgangsbasis gründet sich der weitere Prozeß: Welche Werte lie­ gen dem beobachteten, individuellen Verhalten tatsächlich zugrunde? Inwieweit decken sie sich mit denen, die den Untemehmenszielen zugrunde liegen oder die 528

Vgl. zur Erfolglosigkeit mancher Appelle auch Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 214 ff.; ähnlich die Kritik an einem dementsprechenden Verhalten von Holdingvorständen zur Führung von Gesellschaften über Hausmitteilungen, Incentives, Besprechungen oder einfach nur Seelenmassage von Johanna Joppe, Memconsult Gesellschaft ftir Risiko-Management, Kutzenhausen: „Bruderkrieg im Konzern“ - Handelsblatt/Karriere vom 07./08.07.2000, S. K3 529 Vgl. Hartmut Volk: „Wenn archaisches Verhalten und erworbenes Verhalten plötzlich auf Neues trifft - Mit Gebrauchsanweisungen fürs Gehirn Unheil vermeiden“- Handelsblatt Nr. 5 vom 06./ 07.01.1994, S. G 8 (Report) m. w. Nachweisen und Bärbel Schwertfeger: „Neues Selbstbewußtsein setzt neue Energie frei“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 06./07.03.1898, S. K2 530 Elke Goschmann: „Die Motivationsgurus“ - zu den „spektakulären Großinszenierungen“ der

Trainer Emile Rateiband und Jürgen Höller, EURO 08/98, S. 88 ff.: „Alle Gefühle auf Erfolg pro­ grammieren: Wer nicht positiv denkt, ist selber schuld“ 531 Vgl. Lovro Mandac, Vorstandsvorsitzender der KaufhofWarenhaus AG, Köln: „Untemehmensethik will gelebt werden“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 1

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von den Kunden, Vorgesetzten und Kollegen verfolgt werden? Allein hierüber Klarheit zu erhalten erfordert die allseitige vertrauensvolle Bereitschaft zum offe­ nen Gespräch. Offenheit und Vertrauen ist am ehesten zu erwarten und möglich im Dialog - wörtlich gesprochen unter zwei einzelnen Menschen. Gelingt hier eine Klärung, schließt sich die Frage an: Was müßte sich nach den gemachten Erfahrungen an sachlichen und persönlichen Bedingungen, Verhaltensweisen und in Beziehungen ändern, um den wahren - besser den ge­ meinsamen - Werteerwartungen so zu entsprechen, daß sie durch eigenes Verhal­ ten zu realisierbaren Werten4 werden. Ein solcher dialogischer Prozeß macht selbst schon während seines Ablaufs wie bei der individuellen Ontogenese deut­ lich, inwieweit die Erreichbarkeit der Werteerwartungen durch Verhalten dadurch voraussichtlich weiter gefordert oder behindert werden wird, und beeinflußt damit seinerseits ,als solcher4 die Werteentwicklung. Denn jeder einzelne Prozeßschritt entscheidet selbst als „Erwartungswert44 und erneuter Prüfstein darüber, ob sich die ursprüngliche Realisierungserwartung schrittweise bestätigt oder - und das ist enttäuschend und hat Folgen - eher nicht. Dieser Versuch einer Prozeßanalyse soll freilich nur dem Verständnis dienen, denn in der Praxis laufen die Dinge dann tatsächlich viel weniger sequentiell ab als hier dargestellt, also eher simultan und vielfältig vernetzt. Es ist damit prak­ tisch auch noch sehr viel schwieriger. Daher empfiehlt sich ein solches analyti­ sches Konzept nicht unbedingt als praktisches Rezept für ein richtiges Führungs­ verhalten, um die vielfach geforderte Erweiterung der Handlungsspielräume der Mitarbeiter, ihr „Empowerment44 und damit die Verbesserung des Umfeldes, in denen sie sich entfalten können,532 zu erreichen. Es tut sich auf jeden Fall derjeni­ ge leichter, der schon aufgrund seiner Persönlichkeit glaubwürdig, dialogfähig und insoweit sozial kompetent ist, und - wie bei der Sprache - nicht mehr Buch­ staben und Wörter zusammensetzt, sondern einfach überzeugend spricht und sich ohne taktisch nachzudenken, gewissermaßen natürlich und selbstverständlich auch so verhält.

Wertewandel und Kultur der Beweglichkeit Gegen eine nur statische Behandlung der Werteorientierung spricht aber noch ein weiteres: Was einmal war, muß nicht immer so bleiben. Zwar gelten die in jungen Jahren einmal erworbenen Einstellungen oft für ein ganzes Leben. Das zeigt sich auch in den Untemehmenskulturen, wo sich tief verwurzelte Werte im Hinblick auf Veränderungsnotwendigkeiten mitunter als sehr zählebig erweisen und „spie-

532 Klaus Kuhnle: „Leidenschaft für die Arbeit“ - Editorial - Personalführung 8/1998, S. 1

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lend“ und auf lange Zeit Reorganisationen und Fusionen überleben.533 Dennoch: Nach dem altbekannten Satz des griechischen Philosophen Heraklit „Panta rei“ oder dem inhaltsverwandten lateinischen „Tempera mutantur et nos mutamur in illis!“534 fließt alles wie in einem großen Strom ständig weiter und verändert sich, gleichzeitig damit aber auch uns. Es wachsen besonders in den jungen Generatio­ nen stets neue Vorstellungen nach. Unsere Erkenntnisse und unser Handeln be­ dürfen daher der ständigen Anpassung an die sich wandelnden Gegebenheiten. Damit einhergeht auch der sogenannte „Wertewandel“ 535 als dynamische Prä­ gung der jeweils geltenden Wertordnung „im Wechselspiel mit Akzeptanz und Zeitgeist“.536 Es ändern sich laufend die Erwartungen und Wertmaßstäbe zu dem, was als wertvoll gilt, ihrem Inhalt und ihrer Dringlichkeit nach. Besser sollte man deshalb von einem ,Einstellungswandel‘ oder einem ,Bewertungswandel‘ spre­ chen.537 Diese Einsicht wird von sogenannten „Kulturpessimisten“ mitunter sorgenvoll kommentiert und als Tatsache bestritten, weil sie für die Ewigkeit festhalten möchten, was ihrer Ansicht nach ohnehin nie mehr besser werden kann und des­ halb als absolut oder zeitlos gilt. Aber der Respekt vor einer großen kulturellen Vergangenheit ebenso wie der vor der nachfolgenden Generation erfordern den Optimismus, an eine immerwährende „Auferstehung“ der Kultur auch dann zu glauben, wenn diese dann einmal auch ganz anders aussieht. Der ständige dialek­ tische Abgleich zwischen Erfahrungen und Wünschen, dem Sein und dem Sollen läßt sich nicht aufhalten, weil jeder Mensch persönlich für sich selbst und jede neue Generation als für ihre Zeit dazu herausgefordert dieses im Ablauf des Le­ bens so erfährt. Es findet sich darin auch wieder das „immerwährende Bedürfnis nach Ausdruck, das Eindruck macht.“538 Und daraus resultiert der Wandel. Hermann Simon, Untemehmensberater - zitiert nach Angelika Fritsche: „Kulturschock für die Mitarbeiter“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 269 vom 20./21.11.1999, S. Vl/1 534 „Alles fließt“ und „Die Zeiten verändern sich, und wir mit ihnen!“ - Der lateinische Vers soll von dem Kaiser Lothar I. (795 - 855) stammen, der in Jan Grüters „Dilitiae Poetarum Germanorum“, Bd. 1 Frankfurt 1612 überliefert wurde - vgl. Georg Büchmann: „Geflügelte Worte“ - Droemer Knaur Verlag München/Zürich 1977/1978, S. 97 535 Vgl. auch Rolf Kübel, S. 15 ff. und Walter Jaide: „Wertewandel“ - Verlag Leske u. Budrich 1983; Helmut Klages: „Werte und Wandel“ - Campus Verlag 1992; vgl. über den steten Wandel der Einstel­ lung der Menschen speziell zur Arbeit den Historiker Hermann Glaser und den Zukunftsforscher Matthias Horx - Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 40 vom 17./18.02.2001 (Bildung und Beruf), S. Vl/1 sowie ebenda Annette Jensen: „Vom Götterfluch zum Menschenrecht“ 536 Konrad Redeker: „Zeitgeist und Wertordnung“ - Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1999

(Heft 50) S. 3687 ff. (3688) 537 Ebenso Nikolaus Lobkowicz: „Zur philosophischen Problematik des Wertewandels“ in „Werte­ wandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie“ Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 167 538 Joachim Kaiser: „Winnetou oder die Waldsteinsonate“ - Serie „Die Gegenwart der Zukunft“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 234 vom 09./10.10.1999, S. I

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Im Nachhinein noch gut zu verfolgen ist die Entwicklung des Wandels in den Einstellungen, welche jeweils die junge Generation im Nachkriegsdeutschland genommen hat. Sie verlief von der skeptischen fünfziger über die antiautoritäre achtundsechziger Generation, die Yuppies der achtziger Jahre bis hin zur der weniger homogenen pragmatischen neunundneunziger Jugend, die sich sehr früh erwachsen, unideologisch, individuell und auf sich selbst gestellt gibt.539 Der neuesten Shell-Jugend-Studie zufolge kümmern sich die Jugendlichen „weniger um starre Prinzipien und hehre Ideale, sondern gleichen ihre Ziele immer wieder aufs Neue mit der Realität ab und mixen sich in Reaktion auf ihre unmittelbaren Lebensumstände ihren eigenen ,Wertecocktail‘. Insoweit regiere Pragmatis­ mus.“540 Sie folgen damit einem allgemeinen Trend, wonach die Menschen sich selbst die ethischen Prämissen aus den verschiedenen historischen Beständen „kombinieren“. Sie „basteln sich daraus Patch-work-Ethiken“, die im praktischen Alltag ein Durchkommen ermöglichen.541 Inzwischen sind nach Ansicht der ame­ rikanischen Trendforscherin Dee Dee Gordon auch Narzissmus und Coolness wieder „out“. Eine neue Begeisterung erobert die Welt. Das Lebensgefühl der „New Power Generation“ sei pragmatisch und kompromißlos, authentisch und sinnlich. Unabhängigkeit sei wichtig, aber auch Phantasie, das Träumen und Spiritualität haben ihren Platz.542 Sie sucht eine „Arbeit ohne Demütigungen“, eine Führung und Zusammenarbeit, die den Respekt vor der Person und der Wür­ de freier Menschen in einem freien Land entspricht.543 Dabei sind sie - so sieht es der Soziologe Werner Fuchs-Heinritz - durchaus „fit für die Zukunft“, „zuver­ sichtlich und überzeugt von der eigenen Leistungsfähigkeit“ und „entschlossen, die Herausforderungen - die sie »realistisch4 vor sich sehen - zu meistem.“544 539

Vgl. dazu Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg und Reinhard Mohr: „Die jungen Milden“, teils unter Bezugnahme auf eine aktuelle EMNID-Umfrage unter mehr als 1000 Jugendlichen - DER SPIEGEL 28/1999, S. 94 ff.; vgl. ähnlich die Studie von Psephos, Institut für Wahlforschung und Sozialwissenschaft GmbH: „Zeitbudgets und Lebensplanung“ unter jungen berufstätigen Akademi­ kern - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 205 vom 22./23.10.1999, S. K 1; vgl. dazu auch Peter Cappelli: „Gute Miene zum harten Job machen“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 11 vom 16./17.01.1998, S. K 8 540 Bericht über die „13. Shell-Jugend-Studie: Generation der Realisten“ - Personalführung 5/2000, S. 10 541 Klaus Podak: „Giebt cs auf Erden ein Maaß?“ - Die Zehn Gebote, die aus dem Christentum kommende Moral - und die Schwierigkeiten mit der Ethik nach dem Tod Gottes - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22./23./24.04.2000 (SZ an Ostern) 542 Vgl. die Aussagen des Meinungsforschers Arthur Fischer im Rahmen der Shell - Jugendstudie zitiert bei Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (66) sowie Süddeutsche Zeitung Nr. 91 vom 18.04.2000, S. 14 543 Werner Then: „Führungsverhalten im Wertewandel“ - Der Arbeitgeber Nr. 7/37 - 1985, S. 258 544 Werner Fuchs-Heinritz, Lehrstuhl für Soziologie an der Femuniversität Hagen - zitiert nach dem Bericht über die „13. Shell-Jugend-Studie: Generation der Realisten“ - Personalführung 5/2000, S. 10; vgl. in ähnlichem Sinne die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung über die „Zukunftsvisio­

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Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Umfrage des Meinungsinsti­ tuts „Imas“ in Österreich mit dem Ergebnis, daß sich die österreichischen Eltern ihre Kinder heute „gesund, gebildet und sparsam“ wünschen, nicht unbedingt als „höflich, gehorsam und anpassungswillig“. Am Ende der Skala stehen dann erst „Toleranz gegenüber Ausländem und Asylanten“ und „Opferbereitschaft für andere“. Diese Erziehungsideale weichen deutlich von denen vor 25 Jahren ab. In Österreich gibt es einen „lebhaften Wertewandel“ weg von überkommenen Nor­ men hin zu Erfolgsorientierung, Härte und Ehrgeiz.545 In einem eindrucksvollen Beitrag anläßlich eines Kolloquiums der AlfredHerrhausen-Gesellschaft hat der Theologe Hans Küng546 einmal in den wesentli­ chen Zügen die Entwicklung der deutschen Gesellschaft insgesamt veranschau­ licht: Sie vollzog sich seit der „Aufbauphase und Restauration der Industriege­ sellschaft nach 1945“ über das „Wirtschaftswunder“, das weniger ein Wunder als die „Arbeitsbesessenheit der Deutschen“ als Lebensphilosophie mit dem Ethos der Leistung war, über die jugendliche Gegenkultur der 60er Jahre“ und die „politisch orientierte Kulturrevolution der 68er-Generation“ sowie die vorüberge­ hende Illusion der „Freizeitgesellschaft“547 hin zur derzeitigen „Spaß- und Erleb­ nisgesellschaft“. Dabei hat er deutlich gemacht, daß in einer Gesellschaft, in deren Zentrum nicht mehr die Arbeit, sondern das immer neue Erleben, nicht der Gebrauchswert der Dinge, sondern ihr Erlebniswert wichtiger sind und die Ab­ wechslung zum Prinzip erhoben wird, durch den immer schneller werdenden Wechsel der Angebote ein „habitualisierter Hunger“ entsteht, der keine Befriedi­ gung mehr zuläßt. Auch der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr sieht die steigende Unzufriedenheit als Folge des Hedonismus, wobei jede Be­ dürfnisbefriedigung nur zu neuen Wünschen fuhrt. „Am Ende dieses Steige­ rungswahns stehen Erlebnisunfähigkeit, Langeweile und Blasiertheit, von der der Soziologe Georg Simmel schon vor hundert Jahren sprach. Der ,Genussmensch ohne Herz4, den Max Weber voraussah, hat das Dauergefuhl, etwas zu verpassen. Und das fuhrt zu ständiger innerer Unruhe, man zappt sich durchs Leben, geht auf Disko-Touren, betreibt Kino- und Partyhopping, immer auf der Jagd nach neuen Fast-Food-Erlebnissen, nach der schnellen Nummer.“548

nen der jungen deutschen Wirtschaftselite“ von PricewaterhouseCoopers, Frankfurt/M.: „Selbstkriti­ sche junge Elite“ - Handelsblatt/Karriere vom 01./02.09.2000, S. K4 545 Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 14 546

„Arbeit und Lebenssinn angesichts von Wertewandel und Orientierungskrise“ - abgedruckt im Handelsblatt Nr. 233 vom 02./03.12.1994 547 Vgl. auch Sigrid Flenger: „Flexible Arbeitszeiten, erlebnisorientierte Freizeit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 25 (ENN) vom 01.02.2000, S. 2 548 Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr in dem Interview: „Der Genussmensch ohne Herz“ - DER SPIEGEL 49/2000, S. 188 ff. (196)

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Die Folge aus alledem ist - so weiter Hans Küng - eine Orientierungskrise, die derzeit nicht nur in Europa oder in den USA festzustellen ist, sondern die welt­ weit zu einem Orientierungsvakuum, d.h. zu einem Sinn-, Werte- und Normenva­ kuum geführt hat. Viele Menschen „wissen nicht mehr, nach welchen Grundop­ tionen sie die täglichen kleinen oder großen Entscheidungen ihres Lebens treffen sollen, welchen Präferenzen sie folgen, welche Prioritäten sie setzen, welche Leitbilder sie wählen sollen.“549 Andererseits sind „viele Menschen gar nicht fähig, ohne irgendwelche Leitplanken ihren Weg zu finden.“550 Zwar bekannten sich im Jahre 1994 noch eine deutliche Mehrheit zu den zehn Geboten der Bibel.551 Inzwischen dürfte das aber immer weniger der Fall sein. Nach der erwähnten Untersuchung in Österreich wird nur noch von jedem fünften „Frömmigkeit und christlicher Glaube“ als Wert erwähnt.552 Immer mehr führen die wachsenden Ungewißheiten der voraussichtlichen Entwicklungslinien der Zukunft dazu, daß - so die Meinung des Berliner Wissenschaftssoziologen Mei­ nolf Dierkes - Ordnung ab- und Chaos zunimmt: In fast allen Bereichen der Ge­ sellschaft schreite die Erosion fundamentaler und jahrzehntealter Hintergrundge­ wißheiten, Erfahrungsmuster, Denkfiguren und Entscheidungsraster immer ra­ scher fort und bewirke einen so gravierenden Orientierungsverlust, „daß die Zu­ kunft zunehmend als ein schwarzes Loch erscheint, das jeden Hoffnungsschim­ mer auf Gestaltbarkeit aufschluckt.“553 Vor allem die junge Generation muß mit einer „Werteverwirrung“ zurecht­ kommen, in der klare Maßstäbe für Recht und Unrecht, gut und böse usw. kaum noch erkennbar sind. Dabei scheinen diese Maßstäbe - abgekoppelt von Politik, Lebenseinstellung, Religion und Kultur - nach Ansicht des amerikanischen De­ mokratietheoretikers John Rawls noch die einzigen zu sein, die überhaupt zu einem übergreifenden Konsens verbunden werden könnten.554 Wir stehen mit Hans Küng vor einem „Weltproblem“, das nach einer Neuorientierung sucht, ohne daß sich dafür ein Patentrezept abzeichnet. Assoziiert wird die derzeitige Entwicklung der Veränderungen, die oft unter verschiedenen Aspekten als einma­ lig empfunden wird, die es jedoch nach subjektivem Erleben in ähnlicher Weise 549

Hans Küng - zitiert nach Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (52) 550 Hans Küng - Spiegelgespräch: „Leitplanken für die Moral“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 70 551 Vgl. die Allensbach-Umfrage 1994 - zitiert bei Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (62); vgl. auch Klaus Podak: „Giebt es auf Erden ein Maaß?“ - Die Zehn Gebote, die aus dem Christentum kommende Moral - und die Schwierigkeiten mit der Ethik nach dem Tod Gottes - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22./23./24.04.2000 (SZ an Ostern) 552 Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 52 vom 04.03.1999, S. 14 553 Zit. nach Klaus Franke: „Ende aller Träume“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 102 ff. (103) 554

Zitiert nach Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (52)

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schon immer gegeben hat, zudem mit speziellen Nachteilen: Beklagt wird einer­ seits der Rückgang bzw. Verfall traditioneller „Pflicht- und Akzeptanzwerte“ und andererseits die Zunahme der „idealistischen Gesellschaftskritik“, des „Hedonis­ mus und Lustprinzips“ und des „Individualismus“.555 Vom Institut für Demosko­ pie in Allensbach war schon 1975 ein signifikanter Schwund traditionell „bürger­ licher Werte“ festgestellt worden.556 Insbesondere „Tugenden wie Fleiß und An­ stand“ haben aus heutiger Sicht an Stellenwert eingebüßt.557 Im Sinne solcher Feststellungen rechnet der Münchner Wirtschaftspsychologe Dieter Frey zu der ersten Kategorie speziell die Disziplin, Gehorsam und Pflicht­ erfüllung, Selbstbeherrschung und Pünktlichkeit, zur zweiten hingegen den Ge­ nuß, Abenteuer und Abwechslung sowie das Ausleben emotionaler Bedürfnisse. Zu einer aus seiner Sicht dritten Kategorie gehören die Emanzipation von Autori­ täten und die Partizipation sowie schließlich zur einer letzten die Kreativität, Spontaneität, Selbstverwirklichung bis hin zum puren Egoismus, Eigenständig­ keit, Ungebundenheit und Autonomie.558 Es scheint vielen so, als sei das Werte­ system - auch das der meisten Unternehmen - allein auf die „niedrigste Werteka­ tegorie Geld“ gebaut.559 Damit feiert die schon vor über hundert Jahren von Oscar Wilde getroffene Feststellung aktuelle Wiederauferstehung: „Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert.“560 Das schließt dann auch eine Mentalität ein, die von der Steuerhinterziehung bis hin zu Versiche­ rungsbetrügen ein dementsprechend verändertes Verhalten nach sich zieht.561 Auffallend ist derzeit jedenfalls in der Tat eine „unglaubliche Häufung von kri­

555 Ähnlich auch Marion Gräfin Dönhoff, S. 7 (Vorwort) 556 Elisabeth Noelle-Neumann: „Werden wir alle Proletarier?“ - Zürich-Osnabrück 1978 557 Günther Patzig, Universität Göttingen, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft für Analytische Philosophie“ in München - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46 558 Dieter Frey - Prof, und Leiter des Instituts für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der LudwigMaximilians-Universität in München in einem Skript für eine Veranstaltung der Gesellschaft für Personalfuhrung (DGFP) am 25726.11.1997 in München. 559 Diese Beurteilung gab es auch schon vor über hundert Jahren: Theodor Fontane läßt eine seiner Figuren im „Stechlin“ sagen, daß er sich entschieden habe „um des Schlechtesten willen, was es überhaupt gäbe, um des Geldes willen“ - 19. Kapitel am Anfang, zit. nach Deutscher Bücherbund, Theodor Fontane, Zweiter Band, Stuttgart Hamburg, 1955, S. 619; kritisch gegenüber dem „egomanen Größenwahn“ von Managern verbunden mit der Forderung nach einem Verhaltenskodex auch Alt­ bundeskanzler Helmut Schmidt in seinem Buch: „Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral“ Deutsche Verlagsanstalt 1998 - Besprechung in Handelsblatt Nr. 198 vom 14.10.1998, S. 64 560 Zitiert nach - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 272 vom 25726.11.2000; S. I 561 Siehe dazu die Umfrageergebnisse des Bundes der Steuerzahler und die Studie der Kölner Gesell­ schaft für wirtschaftspsychologische Forschung und Beratung Psychonimics - zitiert bei Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (60)

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mineller Energie“ auch in Kreisen der Untemehmensrepräsentanten, die so lange kein Beispiel hatte.562 Inzwischen ist die Entwicklung - so beobachtet der Münchner Soziologe Ulrich Beck - geprägt durch weitere grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft hin zu mehr „Individualisierung, Digitalisierung und Globalisie­ rung“563, und nochmals verstärkt - das registriert auch der Münchner Wirt­ schaftspsychologe Lutz von Rosenstiel - sich dabei der Wandel von den traditio­ nellen „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ hin zu den sogenannten „postmaterialisti­ schen Werten“ der „Selbstentfaltung.“564 Eine Parallele dieser politik- und sozi­ alwissenschaftlichen Erkenntnisse zur berühmten Bedürfnispyramide des Psycho­ logen Maslow565 ist unverkennbar. Zu dieser Entwicklung gehört also auch, daß die „Sicherung und Mehrung von Selbstachtung als höchste Belohnung und die Minderung und Gefährdung der Selbstachtung als erheblich aufwandsmehrende Bestrafung“566 angesehen werden. Auch „Verhaltensweisen wie Toleranz oder der Schutz von Minderheiten”, scheinen wieder „mehr Ansehen als früher”567 zu genießen. Ein zwar traditioneller, jetzt aber wieder verstärkt angemahnter Wert ist auch der von mehr sozialer Gerechtigkeit,568 wobei die Maßstäbe dafür, was ge­

562 Helmut Maier-Mannhart: „Spitzenmanager im Zwielicht“

- Süddeutsche Zeitung vom

18.12.1997; gerade ist ein Spitzenmanager der VEBA auch zu 33 Monaten Haft wegen Untreue und verschiedener anderer Delikte verurteilt worden - Süddeutsche Zeitung Nr. 29 vom 13./14.02.1999, S. 29 563 Ulrich Beck: „Schöne neue Arbeitswelt - Vision Weltbürgergesellschaft“ - Campus Verlag Frankfurt 1999 - dazu Dagmar Deckstein - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. Vl/1 564 Lutz von Rosensliel, S. 47 ff. (70) unter Hinweis auf die Einteilung von H. Klages: „Wertorientie­ rungen im Wandel“ - Campus Verlag Frankfurt/M. 1984; vgl. auch Ulrich A. Wever, S. 25 ff.; vgl. dazu besonders das Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Ronald Inglehart: „The Silent Revolution“, Princeton 1977, sowie auch Nikolaus Lobkowicz: „Zur philosophischen Problematik des Wertewandels“ in „Wertcwandel - Rechtswandel - Perspektiven auf die gefährdeten Voraussetzungen unserer Demokratie“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 167, 168 565 Vgl. dazu Lutz von Rosenstiel, S. 47 ff. (58) 566 Rupert Lay, S. 18 567 Günther Patzig, Universität Göttingen, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft für Analytische Philosophie“ in München - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46 568 Zum Verständnis dieses „sozialdemokratischen Grundwertes“ der Vize vorsitzende der SPD und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen Rudolf Dreßler in einem Leserbrief Süddeutsche Zeitung Nr. 192 vom 21./22.08.1999, S. 40: Richtig ist seine Definition als „gesellschaft­ lich gebundener“ Grundwert, problematisch jedoch seine offensichtlich ausschließlich wahltaktisch begründete Ablehnung einer Rangordnung gegenüber Werten wie „Leistung“ und „Eigeninitiative“; vgl. dazu auch das Titellhema: „Die Gerechtigkeitsfalle“ - DER SPIEGEL 37/1999, S. 96 ff. sowie Carolin Emcke und Ulrich Schwarze: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (51): „Selbst Sozialdemokraten schieben den Begriff wie eine heiße Kartoffel vor sich her, obgleich sich doch darin eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre verbirgt: das Aufrechterhalten einer Solidargemeinschaft, die ihre innere kulturelle und soziale Vielfalt aushält, ohne zu zerbrechen“; vgl. auch zur Diskussion eines neuen Grundsatzprogramms mit einer grundlegenden Abkehr vom

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recht ist, sich ebenfalls laufend verändern. Gerade bei allen den vielen Umfragen und Äußerungen zu diesem Begriff erscheint jedoch stets der Vorbehalt ange­ bracht, daß es sich dabei um eine der vielen Phrasen handelt,569 mit denen immer nur medienwirksam und wichtigtuerisch verbal jongliert, nicht jedoch ehrlich eine konkrete Situation oder Beobachtung beschrieben oder gar ein konkretes Ziel angestrebt wird. Bei alledem stoßen wir zunehmend auf das Phänomen der „abknickenden Wachstumskurve“. Das bedeutet, daß ähnlich dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens der Wert eines Gutes sinkt, sobald es im Überfluß vorhanden ist. Die zunächst parallel verlaufende Relation zwischen steigender Lebenserwartung und wachsendem Bruttosozialprodukt fällt von einer bestimmten Größe an aus­ einander. Das heißt, daß die Lebenserwartung nun trotz weiter wachsenden Brut­ tosozialprodukts nicht mehr ansteigt. Übertragen und im Sinne des amerikani­ schen Sozialwissenschaftlers Ronald Inglehart bedeutet das: In der postmodernen Gesellschaft wird die dominierende Wertschätzung ökonomischer Sicherheit und des Wirtschaftswachstums abgelöst von der Lebensqualität, weil die Freiräume geschaffen worden sind, den individuellen Lebensstil selbst wählen zu können.570 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn sich nun erstmalig seit 1968 wie das Sigmund-Freud-Institut Frankfurt in einer Erhebung ermittelt hat - der Individualismustrend wieder umzukehren scheint und erste Veränderungen ab­ zeichnen weg vom „Ego-Trip“ wieder hin zu mehr „sozialer Offenheit und Gesel­ ligkeit“.571 Dagegen steht nun freilich andererseits, daß vor allem als Folge des intensiven, freien Wettbewerbs und seinen technisch und ökonomisch begründeten Heraus­ forderungen die Antworten wieder ausschließlich wirtschaftlich begründet wer­ den und mit der Forderung nach mehr und auch persönlicher Flexibilisierung und traditionellen Gerechtigkeitsbegriff der Sozialdemokratie „SPD-Spitze plädiert für neuen Gerechtigkeitsbegriff ‘ - Süddeutsche Zeitung Nr. 97 vom 27.04.2000, S. 5 569 Vgl. dazu Karl Hugo Pruys: „Die deutsche Phrasenparade - 99 Allgemeinplätze“ - Bouvier Ver­ lag Bonn 1998, S. 38 570 Vgl. dazu den Beitrag „Reich macht nicht glücklich“ zur Besprechung des Buches von Ronald Inglehart: „Modernisierung und Postmodemisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel“ - Campus Verlag Frankfurt./M. - New York 1998 - Der Volks- und Betriebswirt (vub) 571998 (Sept./Okt.) S. 25; Madelyn Hochstein, Trendforscherin und Mitgesellschafterin der DYC Inc. - Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung: „Wir werden uns wirklich Zeit für unsere Kinder nehmen“ - BMWMagazin 3/1999, S. 92 ff. (94); ähnlich auch die Studie von Psephos, Institut für Wahlforschung und Sozialwissenschaft GmbH: „Zeitbudgets und Lebensplanung“ unter jungen berufstätigen Akademikern - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 205 vom 22./23.10.1999, S. Kl; vgl. zur Kritik an den Hypothesen Ingleharts Arne Stiksrud in Asanger/Wenninger: „Handwörter­ buch der Psychologie“, S. 84 9 ff., die jedoch im Ergebnis tatsächlich eine „Suggestivwirkung“ der Aussagen - wohl mehr als Folge eines „epochal-säkularen Entwicklungs-Optimismus“ - nicht be­ streitet (S. 850). 571 Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 17 vom 22./23.01.2000, S. 16

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Serviceorientierung „alte Werte der sozialen Gerechtigkeit, des Gruppenkonsen­ ses und der kulturellen Identität“ erneut in Frage stellen, wie sich das etwa in der Diskussion um die Sonntagsarbeit oder Öffnung der Geschäfte am Sonntag ge­ zeigt hat.572 Unerwartet schnell sind die Unternehmen durch die neuen „Mega­ trends“,573 also die demographischen und technischen Veränderungen, die wach­ sende Internationalisierung der Wirtschaft, die globale Ressourcennutzung und ebensolche Umwelteinflüsse, die Änderungen der Wertemuster und starke syste­ mische Rationalisierungen, das Niederbrechen hierarchischer Strukturen bis hin zum Wachsen des Dienstleistungsbereichs, in eine Phase des „Turbokapitalis­ mus“ geraten, auf die sie mit der Rückkehr zu einer eher rauhen Untemehmens­ kultur antworten.574 Viele Führungskräfte der Wirtschaft akzeptieren offenbar auch, daß „die klassi­ sche Moral - die endogene Moral, die das Christentum im Abendland eingebracht hat - heute auf viele Fragen keine Antwort mehr weiß“, so daß sie von da her nicht mehr wissen, wie sie sich wirklich sozialverträglich verhalten sollen. Es gilt die „Ethik, die auf den eigenen Nutzen zielt.“575 Wenn damit auch individueller Opportunismus und „Ellenbogengesellschaft“ einhergehen sowie der Drang zu materiellen Zielen nicht nur ungebrochen ist, sondern zu steigen scheint mit der Folge zunehmender Korruption und einer Moral, die auf der Strecke bleibt,576 dann ist dieses nur scheinbar ein Widerspruch. Da Geld die einzige Größe ist, die keinen Grenznutzen kennt, bedeutet mehr Geld stets auch größeren Einfluß, mehr Macht und natürlich auch soziale Sicherheit.577 Damit ist der Wohlstand ,um 572 „Vgl. „Kampf um den Sonntag“ - DER SPIEGEL Nr. 32/1999, S. 22 ff. (23); ebenso der Bam­ berger Soziologe Manfred Garhammer: „Wie Europäer ihre Zeit nutzen: Zeitstrukturen und Zeitkultu­ ren im Zeichen der Globalisierung“ - Edition Sigma, Berlin 1999, zitiert nach Thomas Hübner: „Schneller essen, schneller schlafen, schneller duschen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1999, S. 26 573 Vgl. dazu die so bezeichneten Bestseller des Trendforschers John Naisbitt wie „Megatrends“,

Megatrends 2000“, „Megatrends Frauen“ und „Megatrends Asien“ - Signum Verlag Wien; vgl. zu diesem Terminus auch Manfred Herrmann, Sozialreferent bei der Degussa AG Frankfurt: „Psychoso­ ziales Handeln im Unternehmen - Ein Plädoyer für die Umsetzung bekannter Fakten“ - Personalfuhrung 7/1996, S. 552 ff. (553) 574 Jörg Staute, S. 58 ff. 575 Rupert Lay: „Gut abgesichert“ - Interview mit Barbara Bierach - Wirtschaftswoche Nr. 34 vom 15.08.1996, S. 65; ebenso eine Untersuchung schon aus dem Jahre 1986 zum Ethos von Führungskräf­ ten - zitiert bei Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 83 576 Vgl. Heribert Ostendorf: „Bekämpfung der Korruption als rechtliches Problem oder zunächst

moralisches Problem?“ - Neue Juristische Wochenschrift (NJW) Heft 9 1999, S. 615 ff.; vgl. auch die neuerliche Affäre um den Vorstandsvorsitzenden der Bayerischen Beamtenversicherung, der wegen verschiedener krimineller Verhaltensweisen der Untreue, Erpressung und Steuerhinterziehung ver­ dächtigt und verhaftet wurde - „Der Club der alten Herren“- Süddeutsche Zeitung Nr. 192 vom 21./22.08.1999, S. 24 577 Rupert Lay: „Gut abgesichert“ - Interview mit Barbara Bierach - Wirtschaftswoche Nr. 34 vom 15.08.1996, S. 65

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jeden Preis* die entscheidende Voraussetzung, die es überhaupt erst zu erlauben scheint, sich postmaterialistische Werte leisten zu können. Der Wertewandel hat aber noch eine weitere, nicht weniger wichtige Dimensi­ on: Unabhängig von ihren jeweiligen Inhalten unterliegt auch die Verbindlichkeit und der Grad der Anerkennung, die materiellen oder immateriellen, ökonomi­ schen oder menschlichen Werten beigemessen wird, einem ständigen und deutli­ chen Wandel. Ein für die bundesdeutsche Gesellschaft wichtiges Beispiel dazu ist Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Akzep­ tanz578 seiner Entscheidungen als oberste, insoweit auch moralische Anstalt im sich wandelnden Rechtsbewußtsein seiner Bürger. Das drückt sich jetzt oft in deutlich geäußerter Ablehnung, Schelte und Kritik aus, wie es das bislang so nicht gegeben hat. Der Grund dafür liegt nicht so sehr in dem jeweiligen Inhalt der Entscheidungen selbst, obwohl ein „Trend zur Minimalisierung der Grund­ rechte entgegen dem Verbot der Antastung ihres Wesensgehalts“ durch die stän­ dige Überschreitung zulässiger Grenzen bei der erforderlichen „Abwägung“579 von Gütern dafür Anlaß genug gibt. Der Theologe Hans Küng beschreibt viel­ mehr die „Grunderfahrung ungezählter Menschen: Wir haben ungezählte Geset­ ze, Programme, Pläne, aber zu wenig innere Bereitschaft der Menschen, sich an Werte und Normen selbst zu binden, die mehr sind als bloße Regeln zur eigenen Lustmaximierung. Kurz: Wir haben sehr viele Vorschriften, aber zu wenig Ethos.“580 Noch näherliegend ist der damit auch zusammenhängende Zweifel, ob „die immer mehr verfeinerte Grundrechts-Judikatur mit ihren Vorbehalten und Abwägungen für die Bürger, die sie existentiell angeht, überhaupt noch versteh­ bar ist.“581 Die »unmoralischen* Protestverhalten gegenüber einer als zu hoch empfundenen Abgabenlast machen das ebenso deutlich wie die schwerfälligen staatlichen Be­ mühungen um wirklich grundlegende politische Reformen. Wenn dem offiziellen Staat und seinen Äußerungen als Folge des „Zerfalls der Wertmaßstäbe“ längst die Anerkennung durch die Bürger versagt wird - und Beispiele dafür gibt es von der Schwarzarbeit bis zur Steuerhinterziehung, vom Steuerbetrug über Preisab­ sprachen582 bis zu Bestechungen und Korruption583 heute mehr denn je -, dann 578

Grundsätzlich dazu H.L.A. Hart: „Akzeptanz als Basis einer positiven Rechtsordnung“ in „Recht und Moral“ - Texte zur Rechtsphilosophie, Reclam Stuttgart 1987/1990, S. 50 ff. 579 Vgl. etwa den Leserbrief von Stephan Rixen, Bonn - Süddeutsche Zeitung Nr. 191 vom 20.08.1999, S. 10 580 Hans Küng: „Arbeit und Lebenssinn angesichts von Wertewandel und Orientierungskrise“ abgedruckt im Handelsblatt Nr. 233 vom 02./03.12.1994 581 Josef Isensee in seinem ausgezeichneten Vortrag insgesamt hierzu anl. des Deutschen Juristenta­ ges 1996: „Bundesverfassungsgericht - quo vadis?“, abgedr. in dem Sammelband „Wertewandel Rechtswandel“ - Resch Verlag Gräfelfing 1997, S. 103 582 „Vgl. z.B. „Kartellskandal um BASF und Roche ist nur die Spitze des Eisberges“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 116 vom 22./23.05.1999, S. 25: Nach Aussage des US-Ministeriums für Justiz sind

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genügt es auch für ein Unternehmen nicht, sich allgemein zu bestimmten Werten und ihre Einhaltung nur zu bekennen. Bekennt sich eine Bank im Interesse ihrer Kunden tatsächlich - oder nicht? - dazu, daß Gelder ins Ausland transferiert werden, um an dem deutschen Fiskus vorbei Steuern zu sparen? Die Worte allein wären wohl eindeutig, aber das diesem entgegenstehende Verhalten war es auch.584 Die Gesellschaft ist damit eine Gemeinschaft voller Brüche und Wider­ sprüche geworden, so daß - wie auch die Diskussion um eine angebliche „Leit­ kultur“ gezeigt hat - es immer schwieriger wird, „typisch deutsche“, also die hiesige Gemeinschaft prägende Eigenarten zu finden und auf sie zu bauen.585 Es ist bei Werten so ähnlich wie bei Wertpapieren. Nicht der nominale Wert an sich erfährt eine Veränderung durch Zeitablauf, sondern seine Einschätzung und Akzeptanz. Werte genießen ein verändertes „Ansehen“586 und stehen unterschied­ lich hoch im Kurs. Sie gewinnen oder verlieren, teils unabsichtlich („Verlust“), teils freiwillig („Wegwurf*).587 Es findet ein lebhafter Handel damit statt und niemand kann zu einem bestimmten Zeitpunkt mit Sicherheit sagen, bei wem sich gerade welcher Wert als besonders erstrebenswert oder auch weniger attraktiv abzeichnet. Im Gegensatz zu den Wertpapieren fehlt es jedoch auch noch an der Transpa­ renz einer Börsennotierung. Es ist oft ein schleichender Prozeß, der nicht wahr­ genommen oder in Kauf genommen wird.588 Der Trend zu und das Bedürfnis nach Meinungsumfragen machen diese Lücke besonders deutlich. Was wann konkret wirklich gilt, welche Werteorientierungen gerade praktisch sind, ist nicht „gegen ein Dutzend weiterer Firmen ... wegen ähnlicher Verstöße ebenfalls Ermittlungen im Gan­ ge ...“ SRI Vgl. Christian Fälschlc: „Moral am Ende“ - Capital 11/1995, S. 188 ff. mit dieses erstaunlich belegenden Befragungsergebnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach bei Führungskräften 584 Vgl. dazu die vielfältigen Untersuchungen gegenüber deutschen Großbanken, wie sie lange Zeit am Beispiel besonders der Dresdner Bank die Spalten der Presse beherrschten - zuletzt u.a. Ermitt­ lungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung gegen den Aufsichtsrats­ chef der Commerzbank, Dietrich-Kurt Frowein, das Vorstandsmitglied Erich Coenen und zwei Gene­ ralbevollmächtigte, nachdem bereits kurz zuvor entsprechende Ermittlungsverfahren gegen die Deut­ sche Bank, ihren Chef Rolf Breuer und fünf aktive und ehemaligen Vorstände eingeleitet worden waren; den Ermittlungsbehörden liegen mittlerweile 223 Selbstanzeigen von Deutsch-Bänkem vor DER SPIEGEL 25/1999, S. 93; vgl. zu den „Sitten im einst honorigen Bankgewerbe“ auch Peter Bölke, Felix Kurz und Wolfgang Reuter: „Die ehrenwerte Gesellschaft“ - DER SPIEGEL 13/1999, S. 84 ff. 585 „Lebe wohl, alte Bundeskegelbahn“ - DER SPIEGEL 52/1999, S. 78 ff. 586 Günther Patzig, Universität Göttingen, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft für

Analytische Philosophie“ in München - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46 587 Vgl. zu dieser Unterscheidung Herbert Mainusch: „Nicht das Gute, nicht das Böse - Uber die Vorzüge der altchinesischen Lehre des Tao gegenüber ethischen Zielsetzungen“ - Frankfurter Allge­ meine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11 588 Lovro Mandac, Vorstandsvorsitzender der Kaufhof Warenhaus AG, Köln: „Untemehmensethik will gelebt werden“ - Personalftihrung 8/1999, S. 1 ff. (2)

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aus den Regeln oder einer selbstdefinierten oder nur hochabstrakt festgestellten offiziellen Kultur abzulesen, sondern nur aus dem tatsächlichen Verhalten jedes einzelnen. Das ist bei den Unternehmen nicht anders als im Staat, wenn er Gesetze erläßt. Auch hier bleibt ohne die konkrete Ermittlung von Fakten und die transparente Feststellung von Tatsachen „vielfach dunkel“, ob und inwieweit sich der Mitarbeiter/Bürger der untemehmerischen/gesetzgeberischen Zielsetzung „verpflichtet fühlt, sie in sein Verhalten übernimmt, ihr ausweicht oder sie konterkariert.“589 Und da Verhalten in einer Gemeinschaft nichts Einseitiges, sondern immer auch Reaktion auf das Verhalten anderer ist, ist die Variabilität der Wertekonkretisie­ rung nicht nur fast unendlich groß, sondern überhaupt eine abhängige Größe. Als Folge all dieser Entwicklungen und der zunehmenden Verunsicherungen zeigt sich ein auffallender Trend von Vertrauens- und Identitätskrisen, denen vor allem die Großorganisationen unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, seien es nun die politischen Parteien, die Gewerkschaften oder die Kirchen. Sie geben Antwor­ ten auf Fragen, die niemand stellt und stellen sich nicht den Fragen, die vor der Haustüre liegen - so kennzeichnete u.a. der Geistliche und Firmenberater Augu­ stinus Heinrich Graf Henckel von Donnersmarck das Problem speziell der Kir­ chen.590 Und gleiches überträgt sich auch auf die Großunternehmen. Sie alle ent­ wickeln sich mehr und mehr zu anonymen, bürokratischen und schwer steuerba­ ren seelenlosen Gebilden, die keine persönliche Zuwendung an die Menschen mehr vermitteln: Statt daß sich - wie erhofft - über die Call-Center die Kontakte verbessern, sitzen die Menschen wartend am Telefon, werden über technische Ansagen vertröstet oder nur schleppend - und mit sich wiederholender, ausdau­ ernder Zwischenmusik - weitervermittelt, geraten an unkundige und uninteres­ sierte Gesprächspartner ohne kundenbezogene Vorkenntnisse und -informationen von Vorgesprächspartnem, auf die man sich bezieht. Kurzum die Geschichte vom armen „Buchbinder Wanninger“, der sich in den telefonischen Armen der Krake Großunternehmen verfing, feiert mit verbesserter Technik perfekt organisierte heilige Urstände.591 In der Praxis zeigt sich so an vielen Stellen oft ein „Blendwerk“, „Mogelpakkungen“ und „Lockvögel“, die nicht Vertrauen schaffen, sondern immer mehr Mißtrauen: „Habgier wird als gesundes Profitstreben legitimiert und Faulheit stellt sich als Kräfteökonomie dar.“ Weil derartige Erscheinungsformen stark 589

Konrad Redeker: „Rechtsethologie - Wirkungsforschung zum Recht“ - Neue Juristische Wochen­ schrift (NJW) Heft 23/ 1999, S. 1686 ff. 590 Zitiert nach Hans Leyendecker: „Der Staat hat kein Recht auf einen gläsernen Bürger“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 22 vom 27./28.01.2001, S. 28 591 Zur „Telefonkultur“ vgl. auch Thomas Hübner in seiner Besprechung und mit Hinweis auf die kritischen Anmerkungen des Buches von Fredmund Malik: „Führen, Leisten, Leben“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 134 vom 13.06.2000, S. 30

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eskalieren, traditionelle Maßstäbe für das menschliche Miteinander verloren ge­ hen,592 laufen die Menschen mehr und mehr davon oder zeigen ihre Abwehr deutlich bei Wahlen und ähnlichen Ausdrucksformen. Kleine und mittelständische Unternehmen sind hier in einer noch vergleichs­ weisen besseren Situation, weil ihre Mitarbeiter eher noch als Individuen re­ spektiert und damit auch eine „Synchronisation zwischen Untemehmenszielen und persönlicher Lebensplanung“ erreicht wird. Mittelständische Unternehmen richten sich „an das Individuum und nicht an eine verwaltbare, gleichgeschaltete, in Prozent an Wählerstimmen auszudrückende Masse.“593 Zur Charakterisierung der Entwicklung neuer „Wertemuster und Bewußtseins­ dimensionen“ hat insbesondere der Wissenschaftler Diether Gebert eine grund­ sätzliche Unterscheidung vorgenommen, indem er eine „geschlossene“ von einer „offenen Gesellschaft“ unterscheidet, sie jeweils in ihren Wesenselementen cha­ rakterisiert und zeigt, wie wir uns etwa durch steigenden Wettbewerbsdruck ten­ denziell von der einen zur anderen bewegen. Auch Gebert macht deutlich, daß sowohl eine offene wie eine geschlossene Gesellschaft ihre Vor- und Nachteile hat. Das dadurch bewirkte „Dilemma“ oder die „Doppelnachfrage nach zwei attraktiven, aber partiell inkompatiblen Welten“ ist nicht von vornherein lösbar.594 Das bedeutet andererseits, daß hier eine permanente Herausforderung besteht, die richtige Balance zu finden. Da es überwiegend keine ein für alle Mal festge­ legten Werte mehr gibt, bedarf es nicht mehr nur der „richtigen“ Entscheidung über Wert und Unwert, sondern eines mühsamen, nur durch aktive Anstrengun­ gen zu bewältigenden Prozesses des respektvollen, ehrlichen Dialogs mit den Menschen. Wichtiger als statische Ergebnisse und dauerhafte Vereinbarungen ist es, Prozesse des Miteinanders zu ermöglichen und zu erleichtern, die den laufen­ den Veränderungen flexibel und akzeptabel Rechnung tragen können. Ebenso wie die Werte entstehen und sich Kulturen bilden, lassen sie sich auch weiter entwikkeln und verändern. Auch Rupert Lay spricht in diesem Sinne - und ähnlich wie Diether Gebert von der Notwendigkeit einer offenen Moral, die zu sozialverträglichem Verhalten anleitet, daher zur Erhaltung und Entfaltung eigenen und fremden personalen Lebens interaktionistisch abläuft und wegen ihrer Ökonomie auch eine hohe

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So und Zitate von Otto Burgmer, Lindenthal Institut Köln: „Untemehmenskultur basiert auf Vertrauen“ - Personalfuhrung 10/1997, S. 936 (937) 593 Zitate von Peter Barth, Geschäftsführer der Lohmann GmbH & Co KG und Präsident der Arbeits­ gemeinschaft selbständiger Unternehmer: „Das Individuum im Mittelpunkt“ - Personalfuhrung 10/1999, S: 1 594 „Vom Umgang mit Mißtrauen und Vertrauen“ - Teil - Bericht vom 7. DGFP-Kongreß 1997 in Wiesbaden in Personalfuhrung 8/1997, S. 735 ff.; zu den Gefahren eines geschlossenen Systems auch Ilse Hantschk.

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Akzeptanz und Verbreitung verspricht.595 Besonders treffend hat das auch Klaus Podack von der Süddeutschen Zeitung einmal so formuliert: „Dieses alles, das miteinander und durcheinander besteht, sich umwälzt und entwickelt, bestimmt eine Wirklichkeit, die immer wieder durch moralische Kommunikation geordnet werden muß. Das moralische Vorgehen verändert sich dabei ständig. Man kann das, paradox, auch so formulieren: erst die moralische Kommunikation produziert Moral. Sie besteht nicht mehr aus festen Grundsätzen, sondern vollzieht sich, anfällig für Irrtümer, eben als moralische Kommunikation, in der bewährte Sätze vorkommen und immer wieder der Überprüfung und Neuformulierung unterwor­ fen werden.“596 Im Hinblick auf eine „Sollensethik“ dominiert daher von den unterschiedlich möglichen und propagierten Ansätzen jedenfalls in der Praxis der Wirtschaftsuntemehmen aus guten - hier dargestellten - Gründen die von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas schon frühzeitig vorgeschlagene und von Horst Steinmann und Albert Löhr aufgenommene „Diskurs- oder Konsensethik“597 mit ihrer vor­ rangigen Koordination menschlichen Handelns. Das bedeutet nicht, daß nicht auch die „ökonomische Ethik“ (Homann) mit ihren „Rahmenbedingungen“ und „Spielregeln“ und die „Institutionenethik“ (Ulrich) eine wichtige Rolle spielen.598 Nur wirken sie nicht als primäre und positive, sondern allenfalls als »negative Anreize4 oder - noch besser - als ,Korrektive4. Unternehmen, die sich an diesem Diskurs nicht beteiligen, sind - so richtigerweise die These 40 des längst fälligen „Clue Train Manifests“ über eine neue Untemehmenskultur im digitalen Zeital­ ter599 - dem Tod geweiht. Denn mit einer weltweit vorhandenen und genutzten Vernetzung stehen erneut Veränderungen bevor, die zu ahnen geschweige denn zu bewältigen den meisten Menschen noch die Phantasie fehlt. Bei einem solchen Ansatz wird sich herausstellen, was zudem jeden Optimis­ mus rechtfertigt: „Moral muß nämlich gar nicht von einem Nullpunkt aus be­ gründet und dann in die Gesellschaft eingeführt werden. Sie liegt in durch die Geschichte bestimmten und fragmentierten Teilen immer schon vor. Jeder weiß durch die Formen seiner Sozialisation ungefähr, was dort, wo er lebt, für gut und für böse, für gerecht und für ungerecht, für richtig und für falsch im Umgang mit 595

Rupert Lay, S. 12 ff. und 43 ff. zu den Postulaten an eine neue Moral, S. 91 ff. zu einigen Grund­ sätzen einer offenen Moral. 596 Klaus Podak: „Giebt es auf Erden ein Maaß?“ - Die Zehn Gebote, die aus dem Christentum kommende Moral - und die Schwierigkeiten mit der Ethik nach dem Tod Gottes - Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22./23./24.04.2000 (SZ an Ostern) 597 Vgl. Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 48 und 58; ebenso Charles M. Savage, Untemehmensberater und Buchautor: „Vom Vorstand zum Mitstand“ - Interview mit Roland Karle - Personalwirtschaft 8/1999, S. 12 ff. 598 Vgl. Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 53 und 54 599

Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls u. David Weinberger: ’’Das Cluetrain-Manifest“, S. 20; vgl. auch die Intemetadresse www.cluetrain.com

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anderen Menschen gehalten wird. Dabei ist es erst einmal gleichgültig, ob sich der einzelne an diese ihm irgendwie implantierten Regeln hält. Denn er weiß, wie andere Mitglieder seiner Gesellschaft sein Handeln bewerten, diese Bewertung ausdrücken und spürbar machen werden.“600 Auch die jetzt als Wegweiser für die Zukunft propagierten 95 „reformatorischen“ Thesen des Clue Train Manifests zeigen nur allzu deutlich, daß viele traditionelle Werte wieder gewinnen werden und sich als zutiefst menschliche Bedingungen nahezu als immergültig erweisen.

Werteorientierung als unternehmerisches Leitbild Wenn es nun gelingen soll, das derzeitige weltweite Wertevakuum - wie Hans Küng es beschrieben hat - zu füllen, dann haben die Unternehmen schon im eige­ nen Interesse hierbei einen wesentlichen Beitrag zu leisten, um allmählich ein gemeinsames Weltethos mitentwickeln zu helfen, welches sich über alle Kulturen und Religionen als „Grundkonsens bezüglich bestehender verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen“, als das für ein Zu­ sammenleben notwendiges Minimum an gemeinsamen sittlichen Werten, Idealen und Zielen601 bilden könnte. Sie sind gewissermaßen der Kem der Identität einer Weltgesellschaft und damit zugleich der Rahmen und Raum auch für ein gedeih­ liches Wirtschaften. Der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer kann sich jedenfalls gut vorstellen, daß in diesem Sinne Christen mit Konfuzianem und Buddhisten etwa über den Begriff der Menschenrechte sprechen können.602 Schon die Konferenz oder das Parlament der Weltreligionen in Chicago am 04. Septem­ ber 1993 hat dazu in einer „Erklärung zum Weltethos“ erste hoffnungsvolle An­ sätze aufgezeigt. Inhaltliche Grundlage eines solchen Weltethos könnte etwas sein, was „Wirtschaftlichkeit nicht ignoriert, doch auf Humanität zielt, das Lei­ stung und Selbstverwirklichung bejaht und doch zugleich Verantwortung und Selbstverpflichtung einschließt.“603 Dieses möglichst bald zu erreichen ist dring­ lich, weil die Entwicklung rasant fortschreitet. Mehr noch als die uns jetzt so sehr beschäftigende Globalisierung, der Umweltschutz, die Überbevölkerung oder gar Klaus Podak: „Giebt es auf Erden ein Maaß?“ - Die Zehn Gebote, die aus dem Christentum kommende Moral - und die Schwierigkeiten mit der Ethik nach dem Tod Gottes - SZ an Ostern Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22./23./24.04.2000 601 Vgl. zu Hans Küng insoweit auch Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (66) und Hans Küng im Spiegelinterview - DER SPIEGEL 51/1999, S. 70 ff. (71) 602 Hans-Georg Gadamer im Interview mit Thomas Sturm - DER SPIEGEL 8/2000, S. 305 603 Hans Küng: „Arbeit und Lebenssinn angesichts von Wertewandel und Orientierungskrise“ -

abgedruckt im Handelsblatt Nr. 233 vom 02./03.12.1994

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das Hinausdrängen des Menschen aus der Biosphäre werden die Schaffung künst­ licher Intelligenz und unsere selbst gelenkte Evolution die entscheidenden Grund­ lagen für die denkbare Zukunft der Menschheit sein. Unsere Nachkommen wer­ den sich daher auch mehr noch als wir damit beschäftigen müssen, was es über­ haupt bedeutet, menschlich zu sein.604 Damit ist auf die Frage, ob sich ein Unternehmen überhaupt diesen Werteaspek­ ten oder gar einer Ethikdiskussion stellen sollte, schon eine grundsätzlich beja­ hende Antwort gegeben worden. Dennoch gibt es dazu und zu den immer wieder geäußerten Zweifeln, ob und welcher „Handlungsbedarf* besteht, nicht nur in der Praxis höchst unterschiedliche Meinungen.605 Wenn freilich der Eindruck richtig ist, daß die Entwicklung zu einer »wertlosen* Gesellschaft gerade in der Wirt­ schaft selbst schon am weitesten fortgeschritten ist, weil hier der Konsens, daß der Mensch, seine Würde und sein Wohlergehen das Maß aller Dinge sein sollte, trotz aller gegenteiliger Bekundungen am nachhaltigsten geschwunden ist,606 dann sollten sie sich unbedingt mit folgenden einfachen Tatsachen vertraut ma­ chen und beschäftigen: Jedes Unternehmen hat eine irgendwie geartete Firmenphilosophie. Dahinter verbirgt sich mehr als nur die Summe seiner Aufgaben und Ziele. Es ist zugleich eine „Sammlung von Werten.**607 Der Grad der Identifikation mit dem Unterneh­ men auf Grund übereinstimmender Wertvorstellungen, das heißt auch die Wahr­ scheinlichkeit oder gar Gewißheit der Menschen, sich selbst in dem, was das Unternehmen tut und wie es sich darstellt, wiederzufinden, sind die entscheiden­ den Kriterien für die Akzeptanz unternehmerischer Ziele und Antriebsgrößen zum dementsprechenden Einsatz oder Verhalten. Corporate Identity bleibt daher ein Vermögenswert für jedes Unternehmen, dem gar nicht genügend Aufmerk­ samkeit gewidmet werden kann.608 So der amerikanische Biotechnologie-Professor Gregory Stock: „Wir spielen Gott“ - BMW Magazin April 2000, S. 8 605 Vgl. Thesen dazu mit abwägender Bewertung bei Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 37 ff. und S. 79 606 Carolin Emcke und Ulrich Schwarz: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/1999, S. 50 ff. (52); nach Meinung des Theologen Hans Küng hat sich in der Wirtschaft das Motto: Eigen­ nutz geht vor Gemeinnutz voll durchgesetzt - vgl. das Spiegelinterview - DER SPIEGEL 51/1999, S. 70 ff. (71) 607 So der Benediktinerpater Athanasius Wolff - vgl. den Bericht von Christoph Stehr: „Viel Kom­

munikation, aber wenig Verstehen“ - Personalftihrung Plus’98, S. 74 ff. (76, 77); vgl. dazu konkret die Umfrage und Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft - Marion Hüchtermann und Werner Lenske: „Wettbewerbsfaktor Untemehmenskultur“ - Beiträge zur Gesellschafts- und Bildungspolitik 168 (7/1991)- Deutscher Institutsverlag Köln 1991 608 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11/1998, S. 168; vgl. auch Heiko Lange: „Perso­ nalpolitik - eine neue Herausforderung“ in „Personalmanagement in der Praxis“, hrsg. von der Deut­ schen Gesellschaft fur Personalfiihrung (DGFP), Wirtschaftsverlag Bachem Köln 1995, S. 7 ff. (12); auch nach Meinung des ehemaligen BMW-Chefs Eberhard von Kuenheim gehört die Frage von

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Das Unternehmen schafft oder verhindert - wie dargestellt - maßgeblich selbst die Rahmenbedingungen im Sinne der Erwartungswerttheorien, die motivieren oder demotivieren. Sie tun das meistens noch unbewußt, lassen also einen erheb­ lichen Einflußbereich ungenutzt. Nur wenn es und alle seine Führungskräfte diese Aufgabe bewußt auf sich nehmen und Werteorientierung zum Kem von Führung und Management wird, entsteht auch eine Untemehmenskultur mit wirtschaftlich relevanter Koordinations-, Integrations- und Motivationsfunktion.609

Beziehung vor Inhalten Unternehmen treten im Wirtschaftsverkehr als »Personen* auf. Damit erweisen sie sich nicht nur als Personen im juristischen Sinne, sondern auch in dem der Er­ kenntnistheorie als „Subjekte, die etwas wollen“.610 Produktersteller und Lei­ stungserbringer, Vertragspartner und Gewährleister für Mängelbeseitigung ge­ genüber dem Kunden sind stets die Unternehmen als Gesamtheit. Sie werden von außen insoweit als personelle Einheit, eben als ein Beziehungspartner betrachtet und verhalten sich oft auch vergleichbar natürlichen Personen. Ein Unternehmen hat in der Außensicht Eigenschaften, Fähigkeiten und vor allem einen Ruf. Was liegt also näher, als im folgenden einmal nicht die Organisation und Systeme, Kapital und Technik, sondern die Personen des Unternehmens zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen, die für die Beziehungen des Unternehmens und auch ihren betriebswirtschaftlichen Wert maßgeblich sind? In dem Dreiecksverhältnis zwischen Kunden, Mitarbeitern und dem personifi­ zierten Unternehmen als Spannungsfeld vollzieht sich ein wesentlicher Teil des­ sen, was den täglichen unternehmerischen Alltag ausmacht. Und dort konkretisie­ ren und kumulieren sich auch die praktischen Probleme. Erstaunlicherweise sind schon diese wenigen Selbstverständlichkeiten in vielen Unternehmen, vor allem in Großorganisationen, aber keinesfalls präsent. Sie bestimmen nicht das allge­ meine Bewußtsein und fuhren schon gar nicht zu dementsprechenden klaren Handlungsschwerpunkten und konsequenten Verhaltensweisen. Man macht sich über diese Beziehungsaspekte zwischen Menschen, die ihnen innewohnenden Ausgangspunkte, Spannungsfelder und dort begründete Folgen für die wirtschaft­ lichen Ergebnisse eigentlich überhaupt viel zu wenig Gedanken.

richtig oder falsch, also die von Werten, nicht zu den Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft. Trotzdem müßten sich die Unternehmen ihr stellen - vgl. seinen Beitrag: „Ökonomie ist eine Methode des Erkenntnisgewinns“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.01 S. 24 609 Vgl. zu diesen Funktionen im einzelnen Rainer Herzog in Berkel/Herzog, S.23 ff. 610 Christiane Schildknecht, Universität Konstanz, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft

für Analytische Philosophie“ in München - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46

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Es ist wohl inzwischen schon hinreichend deutlich geworden, daß Werte als Kompaß der Verhaltensorientierung stets die Sicht der Handelnden, hier also der Beziehungspartner des Unternehmens als Kunde oder Mitarbeiter beschreiben, auf deren Verhalten das Unternehmen setzt oder angewiesen ist.611 Sie sind daher die primären Adressaten des unternehmerischen Handelns.612 Wenn Kunden nur bei ihm kaufen, Mitarbeiter in seinem Sinne wirken sollen, muß sich das Unter­ nehmen vorrangig dafür interessieren, welche Wertvorstellungen in der Gestal­ tung dieser Beziehungen auf beiden Seiten jeweils wirklich zugrunde liegen und das Verhalten von innen heraus steuern. Werteorientierte Führung ist daher stets eine „Reflexionskultur“, wie das Panta­ leon Faßbender von der Untemehmensberatung Dr. Wieselhuber in Wiesbaden nennt, die schon vor einigen Jahren einmal in einer Studie613 ermittelt hat, von welchen Werten sich deutsche Manager - vor allem Geschäftsführer und Vor­ stände - tatsächlich leiten lassen. Auch hier zeigte sich - parallel zur Gesamtge­ sellschaft - keineswegs ein Werteverfall, sondern der oben bereits festgestellte Wertewandel mit dem Schwerpunkt hin zur Selbstverwirklichung und der Wei­ terentwicklung der eigenen Persönlichkeit, wobei die Sekundärtugenden wie Fleiß, Einsatzbereitschaft und Pünktlichkeit immer mehr in die zweite Reihe geraten. Aber zunehmend sind Manager auch bereit, sich von anderen einen Spiegel vorhalten zu lassen, auch wenn die Studie noch keine eindeutigen Ergeb­ nisse darüber liefern konnte, daß sich diese Haltung dann auch im Handeln der deutschen Unternehmer schon durchgesetzt hat. Es kann daher bei konsequenter, glaubwürdiger und auch etwas bewirkender Werteorientierung des Unternehmens schon vom Sinn und Zweck her nicht zuerst um die Beschreibung der eigenen Kultur oder von abstrakten oder modischen Werten als einem virtuellen Zustand nach der Devise gehen: „Wer wir sind?“ oder „Was wir wollen?“ Vorrangig ist nicht die eigene Sicht und Wunschwelt des Unternehmens und damit die Frage, wie es die Dinge selbst am liebsten hätte. Es ist nicht ergiebig, einfach nur zu proklamieren, welchen Werten das Unternehmen folgen will, um die vielen einzelnen Beziehungspartner damit einseitig, pauschal und zu einem für sie willkürlichen Zeitpunkt zu konfrontieren. Auch eine „Kodi­ fizierung“ als „Absichts- und Willenserklärung“ mit anschließender sogenannter 611 Ähnlich auch das Ergebnis des Kongresses der Heinz Goldmann Foundation und der CSC Ploenz-

ke Untemehmensberatung am 03./04.03.2001 in Wiesbaden unter Beteiligung der „Big Shots“ der deutschen Wirtschaft, man müsse sich für die Bedürfnisse der Menschen interessieren - vgl. den Bericht von Dagmar Deckstein: „Vom Verwalter zum Sinnstifter“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 53 vom 05.03.2001, S. 24 612 Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 255 vom 06.11.2000, S. 26 613 Vgl. den Bericht von Alexander Freisberg: „Von welchen Werten sich deutsche Manager leiten lassen - Mehr Offenheit, weniger Autorität“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 125 vom 03./04.07.1998, S. K2

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„Kommunikation“614 - jeder in der Praxis weiß, was das tatsächlich bedeutet - ist nicht zuletzt wegen der Darstellung normativer Selbstverständlichkeiten, der fehlenden Unterscheidung zu anderen Unternehmen, ihrer Einseitigkeit in der Entstehung und der kollektiven Vermittlung mit Rupert Lay eher als eine Form und Versuch „domestizierender Moral“615 zu entlarven und damit zu verwerfen: „Nicht ein Regelwerk legt das Fundament der Untemehmenskultur, sondern die Menschen und ihr täglicher Umgang miteinander - ob es sich um Mitarbeiter handelt, um Kunden oder um Geschäftspartner.“616 Der „Königsweg“ heißt direk­ te Kommunikation.617 Nur wenig sinnvoller ist es auch, sich insoweit am Markt zu orientieren, also einmal zu schauen, was die anderen, insbesondere die Hauptwettbewerber tun. Denn auch das fuhrt in der Regel nur zu der aktionistischen Neigung, daß einer vom anderen abschreibt und ihn dabei verbal noch zu übertrumpfen sucht, ohne daß das irgendeine praktische Auswirkung hätte. Praktische Beispiele für ein solches Vorgehen gibt es leider in großer Zahl. Es bleibt ein modischer Pauken­ schlag mit viel Lärm. Zwar ist es möglich, im Nachhinein große Trends zu erfas­ sen, die für die Anschauungen der jeweiligen Zeitgenossen auch unterschiedlicher Kulturkreise bestimmend sind, und sie mit zur Grundlage eigenen Handels zu machen. Werteorientierung als verhaltenssteuemde Kommunikation bedeutet aber nicht in erster Linie, Werte wie ein reines Sachthema zu generieren, vor­ zugeben oder beschwörend als beispielhaft an die Wand zu malen oder sich nur zur allgemeinen Wertordnung zu bekennen.618 Denn es gibt - wie wir gesehen haben - vielfältige Diskrepanzen im Denken der einzelnen Menschen angesichts einer steigenden und sich schnell wandelnden Interessen- und Erwartungsvielfalt, gerade auch was die Anerkennung traditioneller Werte und staatlicher Wertord­ nungen anbetrifft. Wahre Untemehmensprofile entstehen auf alle diese Weisen nicht. Dieses alles hier nochmals voranzustellen und zu betonen erscheint aber notwendig, weil in der Praxis allzu sehr die Vorstellung herrscht, daß es zunächst und vor allem die 614

So wohl zu verstehen Josef Wieland - Personalfuhrung 8/1999, S. 18 ff. (20) 615 Rupert Lay, S. 16 616 So das Ergebnis einer Plenardiskussion anläßlich der Veranstaltung „Planspiele zur Untemeh­ menskultur“ des Zukunfts forums der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth - siehe den Bericht von Hans-Herbert Holzamer: „Ideengebäude auf dem Prüfstand“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 71 vom 25./26.03.2000, S. Vl/1 617 So auch das Ergebnis des Kongresses der Heinz Goldmann Foundation und der CSC Ploenzke Untemehmensberatung am 03./04.03.2001 in Wiesbaden unter Beteiligung der „Big Shots“ der deut­ schen Wirtschaft - vgl. den Bericht von Dagmar Deckstein: „Vom Verwalter zum Sinnstifter“ Süddeutsche Zeitung Nr. 53 vom 05.03.2001, S. 24 618 Gemeint im Sinne allgemeiner gesellschaftlicher Verantwortung z.B. die Aussage des AllianzChefs Henning Schulte-Noelle in dem Interview - Capital 6/1999, S. 132: „Unser Unternehmen fühlt sich dieser Gesellschaft und ihrem Wertesystem verpflichtet.“

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eigenen Wertvorstellungen des Unternehmens seien, die es nur zu definieren und zu veröffentlichen gelte. Die Unfähigkeit auch vieler sonst vernünftiger und vor­ ausschauender Manager, einmal von sich selbst und der tatsächlichen oder ver­ meintlich eigenen Bedeutung zu abstrahieren oder sich von ihrer „neurotischen Selbstbezogenheit“619 zu befreien, ist geradezu erschreckend. Es ist daher alles das Papier nicht wert, wenn es bei einer solchen einseitigen Plakatierung bleibt. Anders ausgedrückt: Schreiben Sie auf, was sie wollen! Lassen Sie Ihre Stäbe sich etwas ausdenken, machen Sie sich narzißtisch etwas vor oder geben Sie in Anzeigen reklamehaft vollmundig an: Es hat keinen praktischen Effekt. Sie kön­ nen sich den Aufwand und diese Mühe auch einfach sparen!620 Die Unternehmen befinden sich insoweit aber offensichtlich in - wenn auch / nicht bester, so doch - zeitgemäßer Gesellschaft. Angesichts der Verkennung beziehungsrelevanter WirksamkeitsVoraussetzungen ist es immer wieder rührend zu verfolgen, wie auch sonst in Staat und Gesellschaft, von politischen Parteien, ja selbst in Kirchen und ähnlich engagierten Kreisen und Institutionen einseitig und „prinzipienorientiert“ versucht wird, einen wo auch immer begründeten Wer­ tekanon als quasi absolut geltend zu verkünd(ig)en und seine Beachtung und Einhaltung zu fordern, andere in diesem oder eigenen Sinne zu belehren und noch häufiger seine Nichtbeachtung stets als Grund allen Übels zu beklagen. Allenfalls wird einmal der Versuch gemacht, diese Übel mit den Instrumenten des formellen Rechts oder der Macht - dann meistens dennoch auf Dauer erfolglos - zu be­ kämpfen. Mit dieser Feststellung sei zur Beruhigung mancher keine Vorwegdis­ kreditierung bestimmter Wertinhalte verbunden, sondern nur die Hilflosigkeit aufgezeigt, mit der alle dann letztlich angesichts der ausbleibenden Ergebnisse resignieren, weil sie die Menschen in Wahrheit nicht mehr oder noch immer nicht erreichen. Aus alledem wird verständlich, daß »prinzipienorientierte Untemehmensethik* einerseits und eine von der persönlichen Beziehung dominant geprägte, insoweit auch »pragmatische Wirtschafts- und Untemehmensethik4 andererseits zu ganz verschiedenen Ergebnissen fuhren. Die Beziehung allein sorgt dafür, die Wün­ sche und Wertmaßstäbe all derer einbeziehen zu können, ja sie als Menschen und Partner zu beachten und damit in ihrer Existenz zu stabilisieren, die man hinter einem Untemehmesziel oder -produkt stehend wissen möchte. Zwar gehört es zu einem dialogischen Kommunikationsprozeß, dabei auch die eigenen Standpunkte zu offenbaren, um dem anderen gewissermaßen als Angebot für die Maßstäbe, an denen man sich messen lassen will, eine Orientierung zu ermöglichen. Man kann 619 Vgl. These 79 des ClueTrainManifests - vgl. Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger: „Das Cluetrain Manifest“, S. 25 620 Mit These 74 des ClueTrainManifests könnte man auch sagen: „Gegen diese Werbung sind wir immun. Die könnt Ihr vergessen.“ - vgl. Rick Levine, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger: „Das Cluetrain Manifest“, S. 24

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dieses Angebot auch aktiv „vermarkten“,621 also dafür werben und in seinem Sinne argumentieren. Aber als absolut gültig betrachtet und für das konkrete Verhalten bestimmend werden sie dadurch noch nicht. Ein fruchtbarer Dialog erfordert stets den für den Partner erkennbaren Verzicht auf Superioritätsansprüche wie Macht, Druck oder die Maßgeblichkeit der eige­ nen Moral. 622 Ein offener Dialog und ein wertschätzendes Gespräch setzt - so treffend der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer - die grundsätzliche Einstellung voraus, daß der andere Recht haben könnte.623 Entscheidend ist daher der permanente, individuelle und in diesem Sinne respektvolle offene Dialog, um konkret und gezielt mit den einzelnen Menschen durch beziehungsrelevantes Tun und Verhalten die tatsächliche Wertekongruenz zu klären und durch ihre Vergrö­ ßerung die Werteerfüllung zu erreichen. Im Bereich der Mitarbeiterführung hat sich beispielsweise gezeigt, daß auch für Führungskräfte selbst bei den Instrumenten zur Unterstützung ihrer Aufgaben und für ihre eigene Motivation aus ihrer Sicht deshalb regelmäßige Feedbackgesprä­ che an erster und demgegenüber die Gestaltung der Untemehmenskultur erst, aber immerhin noch überdurchschnittlich an 9. Stelle von 23 Rangplätzen ste­ hen.624 Nur so sind im Konfliktfalle Kompromisse zu schließen und tragfähige Reformen umzusetzen.625 Aus diesen Gründen rangieren auch im Bereich der Untemehmensethik richti­ gerweise „prozedurale Aspekte“ und das dafür erforderliche „Reflexionspotenti­ al“, also eine Sensibilisierung zunächst vor möglichen Inhalten, der Prozeß vor dem Ergebnis.626 Werteorientierung ist deshalb in erster Linie die konkrete Ge­ staltung von Beziehungsprozessen, also die „Interaktion“627 unter und zwischen Menschen. Es ist dieses zudem längst aus vielen anderen Bereichen bekannt, wie 621 Vgl. in diesem Sinne Hans-Gert Penzel u. Bernd Ratzke: „Die virtuelle Bank im Merger - Eine Organisation im Übergang“ - Personalfiihrung 2/2000, S. 22 ff. (28) 622 Klaus M. Leisinger, S. 120 ff. - „Mehr Dialog wagen“ (S. 125) 623 Hans-Georg Gadamer im Interview mit Thomas Sturm - DER SPIEGEL 8/2000, S. 305 624

Vgl. zu einer Befragung von Personalmanagem Hugo M. Kehr und Petra Bles: „Bedeutung der Fühmngskräfte-Motivation“ - PERSONAL 11/1999, S. 571 ff. (574) 625 Vgl. zu dieser Unterscheidung die Berliner Philosophin Annegret Stopzcyk - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Handelsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3 626 So das gemeinsame Verständnis anläßlich des interdisziplären Kolloquiums „Ethik in Organisa­ tionen“ in Landau/Pfalz, veranstaltet vom Fachbereich Psychologie der Universität Koblenz-Landau (Gerhard Blickle) und dem Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE) - vgl. den Bericht in Personalfuhrung 6/1996, S. 539; ebenso Anette Kleinfeld, Wirtschaftsphilosophin bei der Bickmann & Collegen Untemehmensberatung Hamburg - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Han­ delsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3 und der Kölner Untemehmensberater Matthias Lauk: „Sich erst um das Zwischenmenschliche kümmern, dann um die Sachaufgaben“ - vgl. Rita Mohr: „Risikofaktor Chefsessel“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 186 vom 14./15.08.2000, S. 24 627 Rupert Lay, S. 12, 13

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der Wissenschaftler Frederic Vester einmal festgestellt hat: „Wichtiger als die Dinge selbst sind deren Beziehungen zueinander.“628 Es gibt hierzu auch eine interessante Parallele in den Weisheiten des Taoismus, dessen Kembegriff oder prinzip „Tao“ im allgemeinen mit „Sinn“, nicht selten im Westen aber auch mit „Der Weg“ wiedergegeben wird. Gemeint ist nicht der Weg, den der Mensch mit dem Fuß geht („Lu“), sondern der Weg, den man mit dem Kopf geht, „der an ein Ziel fuhrt, die Richtung, den gewiesenen Weg. Es bedeutet gleichzeitig auch ,reden1 und ,leiten*.“ Dieser Weg hat einen „Sinn“.629 Daraus folgt für eine praktische Handlungskonsequenz nun zweierlei: Zuerst müssen Unternehmen erkennbar und erlebbar für ihre Beziehungspartner den Kontakt zu ihnen aufnehmen, um mit ihnen überhaupt ins Gespräch zu kommen. Zum weiteren müssen die Unternehmen aktuell und konkret, das heißt auch situa­ tionsspezifisch herausfinden und klären, welche inhaltlichen Erwartungen und Ausprägungen es für jede dieser unterschiedlichen Beziehungen gibt, an denen die Partner ihr Handeln ausrichten, weil es für sie ein subjektiver Wert mit hoher Geltung ist, den sie zu diesem Zeitpunkt zu realisieren glauben. Es ist unvermeid­ lich, sich im Sinne einer sorgfältigen Diagnose der eigenen Situation und der konkret geltenden Bedingungen unmittelbar bei der jeweiligen Zielgruppe der Beziehung selbst und persönlich dafür zu interessieren, wie sie darüber denkt. Erst dann - eingebettet in die Beziehung und den Dialog - stellt sich die Frage der Wertinhalte selbst, die hierbei eine Rolle spielen. Sofern die Einsicht überwiegt, daß Unternehmen auf Dauer besser fahren, wenn sie sich im Umgang mit den Ressourcen der Natur und bei der Erstellung und dem Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen konsequent an den sie umge­ benden Beziehungen orientieren, müssen sie sich als erstes auch Klarheit darüber verschaffen, wo angesichts der schnellen Veränderungen in den Wertinhalten bei den Menschen einerseits und der Bedeutung der sonstigen, notwendigen Rah­ menbedingungen ganz speziell für sie und ihre Verhältnisse die wirksamen An­ satzpunkte liegen, auf die sie Einfluß nehmen können. Vor allem der schnelle Wandel und die mehrfach erwähnte grundsätzliche Orientierungslosigkeit ma­ chen ein Mindestmaß an vorvereinbarter Gemeinsamkeit immer mehr unmöglich. Sie lassen damit nicht nur die traditionell-ritualisierte Geborgenheit vermissen, sondern erfordern um so mehr zumindest kurzfristig die Kenntnis der konkreten

628 Frederic Vester in der Fernsehsendung „Münchner Runde“ des BR 3 vom 12.12.1999, 20.15 Uhr unter Hinweis auf sein Buch: „Denken, lernen, vergessen!“ 629 Richard Wilhelm in seinen Übersetzungen („Sinn“) sowie S. 133 ff. („Tao heißt Weg“); vgl. ebenso Herbert Mainusch - Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 277 vom 28.11.1998, S. 11; eine Fortsetzung dieser taoistischen Ansätze findet sich heute in der Falun-Gong-Lehre, die auf die ständi­ ge, schrittweise moralische Verbesserung des Menschen zu den „höchsten Eigenschaften ... Wahrhaf­ tigkeit, ... Barmherzigkeit, ... Nachsicht...“ zielt - dazu Edeltraut Rattenhuber: „Im Bauch dreht sich das Rad des Gesetzes“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 166 vom 22.07.1999, S. 2

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Partner und der Rahmenbedingungen, aus der heraus die Situation gemeistert werden kann. Auch in der sich anschließenden, möglichen Auseinandersetzung über die Wertinhalte ist das Unternehmen nicht von vornherein die letzte Entscheidungs­ instanz, sondern ein mitgestaltender, wertebildender Partner, der sich mit seinen Vorstellungen einbringt, damit seine eigene Sicht laufend zur Diskussion stellt, sich aber auch korrigieren lassen muß und dieses auch rechtzeitig tut. Das ist noch keineswegs selbstverständlich. Der Arbeitswissenschaftler Bernhard von Mutius macht mit Recht darauf aufmerksam, daß der durchweg operationalisier­ ten und meßbaren wertorientierten Untemehmensführung die Werteorientierung als bislang noch kaum operationalisierte und meßbare Größe gegenübersteht, obwohl in der heutigen ökonomischen Welt mit ihrer Tendenz zur Atomisierung immer klarer die Beziehungswerte die Produktwerte schlagen: „Die immaterielle Werteentwicklung wird zur Voraussetzung für die materielle Wertsteigerung“.630 Aus der Sicht der Unternehmen verbessern sich damit gleichzeitig die Erfolgskri­ terien, weil nicht allein die Konzentration auf betriebswirtschaftliche Kennwerte als „traditionelle Erfolgsindikatoren“ das Unternehmen qualifizieren, sondern „Motivationen und Erwartungen der Menschen“ sowie die ihnen zugrundeliegen­ den Wertvorstellungen in das „Organisationsverhalten“ der Unternehmen einbe­ zogen werden müssen.631 Der Prozeß selbst hat auf die Wertinhalte und ihre Veränderungen einen starken Einfluß, weil er als Ergebnis intensiver Kommunikationen bei allen Beziehungsteilnehmem immer wieder neue Einsichten vermittelt. Nur durch aktive Förde­ rung und Pflege der persönlichen Beziehungen, durch Einbeziehung der Betroffe­ nen, durch Intensivierung der Kommunikation und der Umgangsformen werden die Inhalte sichtbar und als Veränderungen gestaltbar.632 Natürlich bleibt das Unternehmen - ausgehend von dem, was es ermittelt oder an ehrlichem Konsens erreicht hat - letztlich frei zu entscheiden, ob es allen diesbezüglichen Werteer­ wartungen seiner Kommunikationspartner inhaltlich folgen will, weil sie auch den eigenen, vertretbaren Wertvorstellungen entsprechen, oder - notfalls auch um den Preis des Abbruchs der Beziehung - darauf verzichtet. So wie mit dem Mit­ teilen von Erwartungen zwar auch Erwartungen auf deren Erfüllung geweckt werden, gehört zu einem unternehmerischen Persönlichkeitsbild auch, Erwartun­

630 Vgl. den Bericht über das vom Fraunhofer Institut Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) im November 1999 unter seiner Organisation veranstaltete Symposium: „Leadership - Führen in eine neue Zeit“ - Personalfuhrung 1/2000, S. 11 631 Ken Blanchard u. Micheal 0‘ Connor, S. 8 und 9 632 Untemehmensberater Hans Scholten - Interview: „Das Wort Scheitern steht in deutschen Unter­ nehmen auf dem Index“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1; Umfrage der Management Akademie Bad Harzburg unter 350 Führungskräften: „Wir wollen bleiben wie wir sind“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 246 vom 23./24.10.1999, S. Vl/1

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gen einmal nicht zu erfüllen, denn - so karrikiert der Augsburger Psychologe Oswald Neuberger ganz richtig: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Hier bedarf es dann freilich oft mühsamer und zeitaufwendiger Begrün­ dungsarbeit, und trotzdem bleibt unsicher, ob sie überhaupt gelingt.633 Aber nur als Ergebnis solcher Prozesse erst entstehen die Werte, die zu haben mit „Leucht­ türmen in stürmischer See“ verglichen werden, die ähnlich diesen erprobterweise für Weitsicht, Verläßlichkeit, Sicherheit und Orientierung stehen.634 In diesem Sinne rät auch der Wirtschaftsethiker Karl Homann dazu, die „Werte­ diskussion ... zu vertiefen“ statt sie zu beenden. Es sollte hierbei aber nicht bei verbalen Bekenntnissen bleiben, sondern die Fragestellung einschließen, „unter welchen Bedingungen die Menschen, ... auch Unternehmer ... im Normalbetrieb der Gesellschaft die Werte auch leben können.“635 Denn bei wechselseitiger Ak­ zeptanz der Wertmaßstäbe geht es sodann um die Frage, wie die Rahmenbedin­ gungen für deren Verwirklichung im Unternehmen selbst verbessert werden kön­ nen, und ob und wo es dazu noch nicht ausgeschöpfte Ansatzpunkte und Mög­ lichkeiten gibt, damit sie konsequent und glaubwürdig erschlossen werden. Eine solche Sicht und Einsicht zur laufenden Gestaltung eines wirksamen Wer­ teleitbilds ist für viele Unternehmen und ihre Topmanager dennoch neu, minde­ stens jedoch ungewohnt, und stellt für sie in der Regel eine völlig andere Heraus­ forderung dar. Neu sind vor allem ihre Priorisierung, die erforderliche Konse­ quenz sowie der zunächst damit verbundene, nur indirekt Ergebnisse zeitigende Aufwand. Es gibt viele Gründe und verständliche, zumindest nachvollziehbare Erklärungen, warum das bislang alles anders und dennoch richtig oder ausrei­ chend war. In der Praxis findet sich insoweit leider auch nur ein geringes Wissen und Pro­ blembewußtsein, wenngleich schon viel hierüber geschrieben worden ist, und alle immer mehr von der Notwendigkeit „sozialer Kompetenz“ - manche auch von „Beziehungsintelligenz“ - sprechen. Sie alle handhaben dabei gern und mehr auch hier einen modischen Begriff, als daß sie sich über ihren Inhalt und Bedeu­ tung im klaren sind. Wenn sich überhaupt nach langen Jahren der Vermittlungs­ versuche von Verständnis und Wissen hierüber eine Meinung gebildet hat, dann ist es allenfalls die, daß entsprechende Fachleute hier „Tricks“ - medizinisch betrachtet Salben und Pflaster - parat halten, mit denen eingegriffen werden kann, wenn die Dinge nicht so glatt laufen, wie man sie sich von der Sache her vorgestellt hat. Daß es hierbei aber um den Kem der erfolgreichen Lösungen in 633 Professor für Psychologie und Personalwesen an der Universität Augsburg, Oswald Neuberger in „Stichwort: Beurteilung“ - Handelsblatt/Karriere vom 10./11.11.2000, S. K2 634 Lovro Mandac, Vorstandsvorsitzender der Kaufhof Warenhaus AG, Köln: „Untemehmensethik will gelebt werden“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 1 635 Karl Homann, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik der Universität Eichstätt - SZ-

Gespräch in Süddeutsche Zeitung Nr. 28 vom 04.02.1998, S. 32

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der Sache selbst geht, daß es keine Alternative dazu gibt, die von der Sache her „richtigen Dinge“ - oder wie der Telekom-Chef Ron Sommer auch sagt636 - „die wahren Themen des Untemehmenslebens“ auch „richtig zu tun“, ist noch keines­ falls herrschende Einsicht bei den verantwortlichen, überwiegend noch immer sehr technokratisch denkenden und handelnden Managern in Industrie und Wirt­ schaft.637 Das über lange Zeit eingefleischte, traditionelle Denken mag erklären, daß es selbst diejenigen nicht durch konsequentes Tun beherzigen, die es eigent­ lich schon besser wissen. Wer also nur deshalb weiterhin dabei bleiben möchte, muß hier nicht mehr weiter lesen. Er soll alles weiter so machen wie bisher. Nur hat das keine nachhaltigen Veränderungen zur Folge. Für alle anderen erfordert es jedoch einen Wandel ihres eigenen Denkens und Handelns, den sie bislang allzugern immer nur anderen zugemutet haben. Wer im Lichte dieser Erkenntnisse ein Unternehmen fuhren will, sollte nicht nur die eige­ ne, wahre Kultur und ihre aktuellen Prämissen kennen, sondern die Merkmale einer „lernenden Kultur“638 begreifen und sich in ihr bewegen. Diese „Offenheit“ sich zu schaffen ist eine der wenigen Handlungslinien, die zu beherzigen und als Instrument des Wandels zu kultivieren auch einem Unternehmen jederzeit zur Verfügung steht.639 Ob es in einer sich immerwährend wandelnden Welt bestehen kann, hängt auch nach Überzeugung des Professors für Information Management und Strategie am Institute for Management Development (IMD), Donald A. Marchand, nicht zuletzt von der Informationskultur ab, womit er umschreibt, wie Informationen gesammelt, verwaltet, weitergegeben und genutzt werden.640 Und Reinhard K. Sprenger meint: Die Aufgabe guter Untemehmensführer ist es, „die Auseinandersetzung über Werte im Fluß zu halten.“641

636 Joachim Dors und Donata Riedel: „Sommer warnt vor Gobalisierungshysterie“ - Handelsblatt Nr.

19 vom 26./27.01.2001, S. 13 637 Patricia Pitcher: „Das Führungsdrama - Künstler, Handwerker und Technokraten im Management“ - Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1997; Patricia Pitcher in dem Interview von Hans-Herbert Holzamer unter der Überschrift „Management verlangt viele Talente“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 61 vom 14./15.03.1998, S. I (Bildung und Beruf); Dagmar Deckstein: „Die richtigen Dinge tun, nicht nur die Dinge richtig tun“ - Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1998 über die Unterscheidung von Technokraten und Führungspersönlichkeiten. 638 Vgl. dazu Edgar H. Schein, S. 293 ff. (297) 639 Vgl. in diesem Sinne auch Jörg Staute, S. 201 ff. (202); bei General Electric fuhrt die Idee, daß Mitarbeiter insbesondere ihren Vorgesetzten gegenüber offen sein können, dazu, daß diese mehr von ihren Mitarbeitern verlangen können - vgl. Thomas A. Stewart: „Ein wahres Kraftwerk“ - Handels­ blatt/Karriere vom 17./18.12.1999, S. K 4; vgl. als ein Praxisbeispiel das Vorwerk - Konzept, darge­ stellt von Wolfgang Bahlmann und Manfred Piwinger: „Von der Informationspolitik zur Kommunika­ tionskultur“ - Personalfuhrung Plus’98, S. 36 ff. (38) 640 Donald A. Marchand: „Information ist Basis für Zukunft“ - Serie „Mastering Management“ Folge 25: Informationsmanagement - Handelsblatt/Karriere Nr. 6 vom 09./10.01.1998, S. K6 641 Reinhard K. Sprenger - zit. in Capital 5/1999, S. 46

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So bietet sich ihnen mit einer ausgeprägt-dialogischen „Werteorientierung“ nicht nur ein alternatives, sondern auch inhaltlich ganz anderes, dynamisches Leitbild an: Statt nur Inhalte der Prozeß, statt festgefugter Prinzipien respektvolle Offenheit, statt Erstarrung in den überholten Werten Aktualität und Wirksamkeit gegenüber den neuen Anforderungen. Wenn auch die Wirtschaft immer schon mit daran gemessen wurde, ob sie ein Minimum an gesellschaftlichen Werten und übergeordneter Moral zu beachten bereit und in der Lage ist, erschließt sich ihr erst über eine konsequente Werteorientierung als Kem eines gezielten, aktiven Managements auch betriebswirtschaftlich eine spürbar neue Dimension. Und wer hierbei immer noch seine Schwierigkeiten hat, möge sich damit trösten, daß „An­ passungen in den Überzeugungssätzen und Prämissen von Untemehmensleitem“ wenigstens dazu beitragen, auch „die Erschütterungen aufgrund von Veränderun­ gen bei externen oder internen Interessengruppen ... (zu) bewältigen“.642

Die sachliche und die emotionale Ebene Mit der Aufnahme von Kontakten zu Geschäftspartnern oder mit der Einstellung von Mitarbeitern treten die Unternehmen ebenso wie eine natürliche Person zu einer anderen Person nicht mehr nur in eine rechtliche oder in eine sachliche, sondern trotz ihrer Anonymität als juristische Person in eine menschliche Bezie­ hung. Wir kommen damit zu dem Kembereich jeder Beziehung zwischen Men­ schen, nämlich zu der Kommunikation - im besten Fall Jenseits von Therapie und Psychologie“.643 Vielen ist schon die einfache Tatsache nicht bewußt oder selbstverständlich, daß jede Kommunikation zwischen Personen mindestens eine rationale sachliche und eine emotionale Komponente oder - nach Paul Watzlawick - einen „Inhaltsund einen Beziehungsaspekt“ hat.644 Alle Beziehungen laufen mindestens auf diesen beiden Ebenen ab, von denen wie bei einem Eisberg der rationale, aber kleinere Teil („Kopfebene“) sichtbar oberhalb des Wassers, der viel größere, 642 Edgar H. Schein, S. 239 643

Annegret Stopzcyk, Philosophin aus Berlin - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Handelsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3 644 Vgl. unter Bezugnahme auf Paul Watzlawick den Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 13; er selbst unterscheidet neben dem „Sachaspekt“ und dem „Beziehungs­ aspekt“ noch den „Selbstoffenbarungsaspekt“ und den Appellaspekt“, also insgesamt vier Aspekte; vgl. zu den „Axiomen der Kommunikation“ (frei nach Watzlawick) auch Bernd-Uwe Kiefer: „Erfah­ rungsaustausch: Personalbeurteilung versus Mitarbeitergespräch“ - PERSONAL 4/1996, S. 216 ff. (218): 1. Mann kann nicht nicht kommunizieren! 2. Kommunikation hat eine Inhalts- und eine Bezie­ hungsebene! 3. Kommunikation ist symmetrisch oder asymmetrisch! 4. Kommunikation ist komple­ mentär! 5. Nonverbale Signale in der Kommunikation sind glaubwürdiger als (abweichende) verbale!; ähnlich dazu Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 31 ff.

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bedeutendere Teil („Bauchebene“) aber unsichtbar unter dem Wasser liegt. Der größere Teil bestimmt zweifellos das Wesen des Eisbergs,645 wobei auch nicht erkennbar wird, wie groß und wie beschaffen er tatsächlich ist. Weil dieser aber nur zu ahnen ist, beschäftigen sich viele lieber nur mit der sichtbaren, aber kleine­ ren Spitze des Eisbergs. Die Kommunikation auf der Sachebene beginnt in aller Regel damit, daß ein bestimmter Inhalt, also Fakten, Meinungen und rational begründete Argumente einem anderen übermittelt werden, dieser also schlicht , informiert* wird. Auf dieser Ebene herrschen Sachlichkeit und Sachverstand, Logik und Beweisbarkeit. Es ist dieses überwiegend die Welt der klaren, „harten Faktoren“ und einer Denkmechanik, die schon unsere Ausbildung geprägt und unser weiteres Denken und Kommunizieren entsprechend den jeweiligen fachlichen Inhalten entschei­ dend beeinflußt haben. Auch die Führung von Unternehmen folgt - wenn über­ haupt mit Zielen - ganz überwiegend nur diesen Kriterien. Es wird sachlich gere­ det und argumentiert, über Inhalte monologisiert, informiert und Sachziele be­ schworen. Es dominieren die rationalen, allein an die Vernunft und intellektuelle Einsicht appellierenden Überredungskünste. Im Vordergrund steht voller Stolz über die inzwischen praktizierte Bereitschaft zur offenen Informationspolitik das ständige Hämmern mit Inhalten, die permanente einseitige Übermittlung einer Nachricht bis hin zu wahren, aber nicht mehr wahrnehmbaren Überflutungen. Und wenn diese dann doch einmal wegen ihres Inhalts auch die Gemüter bewe­ gen sollte, folgt sogleich der disziplinierende Appell: Wir wollen doch bitte sach­ lich bleiben! Es ist wohl eher als historische Ausnahme anzusehen, daß einmal der Überbrin­ ger einer Nachricht automatisch auch für ihren Inhalt verantwortlich gemacht und - weil diese negativ war - geköpft wurde. Auch wenn entsprechende Neigungen heute noch nicht ganz ausgestorben sind, so wollen doch zwei Menschen, die sich als Beziehungspartner gegenüber stehen, normalerweise und regelmäßig auch voneinander erfahren, wer der jeweils andere eigentlich ist, weil sie nicht ganz zu Unrecht davon ausgehen, daß von ihren jeweiligen persönlichen Interessen und Eigenschaften ganz maßgeblich abhängt, ob sie sich wirklich mit dem überbrach­ ten Inhalt identifizieren, und wie sich die weitere Beziehung von daher gestalten wird. Wichtig für jede menschliche Beziehung ist insoweit auch die Kenntnis und Beachtung der Rollen, welche die Beteiligten innehaben. Sie sind ein Teil der zur Bewertung des überbrachten Inhalts hilfreichen sachlichen Information.646 Nun hatten wir ja oben schon gesehen, daß das Verhalten einer Person sich nicht nur von dem Inhalt dessen leiten läßt, was allgemein als richtig oder sogar Friedemann Schulz von Thun in dem Interview mit Thomas Höfer: „Laß uns drüber reden!“ Personal fuhrungPlus ’98, S. 12 ff. (13) 646 Vgl. ähnlich auch der Professor für Psychologie und Personalwesen an der Universität Augsburg, Oswald Neuberger in „Stichwort: Beurteilung“ - Handelsblatt/Karriere vom 10./11.11.2000, S. K2

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von ihr selbst als vernünftig, einsichtig oder als sachlich wertvoll angesehen wird. Viele schon haben erfahren, was man mit dem Satz zusammenfassen kann: Ob­ wohl alle alles verstanden haben, ändert sich nichts.647 Nicht allein der Inhalt der Botschaft und die sachliche Interessenlage der Rolle, sondern erst die Person ihres Darstellers gestaltet maßgeblich die Spielregeln und Rituale, die eine Bezie­ hung in ihrem wechselseitigen Verhalten positiv oder bei Mißachtung negativ beeinflussen. Entscheidend ist die Besetzung der Rolle durch einen konkreten Menschen und die Frage, wie sie diese als Darsteller auffaßt und gestaltet. Denn aus beiden Elementen, der jeweiligen Aufgabenstellung und dadurch bedingten Interessenlage einerseits sowie der persönlichen Art und dem individuellen Stil der Kommunikation andererseits erst resultiert die Möglichkeit, konkret einschät­ zen zu können, wie sich die Beziehung insgesamt darstellen wird. Nur so läßt sich - vorsichtig beginnend - erahnen, was von dem anderen zu erwarten ist und wie hoch der Grad der Gemeinsamkeiten und damit die Chancen sind, die eigenen Vorstellungen über diese Beziehung voraussichtlich erfüllt zu bekommen oder auch nicht. Der Mensch ist seiner Natur nach - weder in seiner »Besetzung4 als Kunde noch als Mitarbeiter - keinesfalls nur ein rationaler Einzelgänger. Ganz im Gegenteil. Schon sein individuelles Bedürfnis nach Beachtung erfordert soziale Beziehungen und Kontakt zu den Mitmenschen. Sonst existiert er nicht. Zum menschlichen Überleben gehören zwangsläufig soziale und emotionale Bindungen.648 Der Mensch ist insoweit auch grundsätzlich aufgeschlossen und als Beziehungspart­ ner ansprechbar. Für die Bewertung dieser Beziehungen hat er jedoch seine eige­ nen Maßstäbe. Das daran gemessene ,Wie‘ der Beziehung entscheidet darüber, ob sie fruchtbar wird. Erst in der konkreten Situation und mit einer konkreten Person wird deutlich, in welches System der einzelne eingebettet ist und als dessen Teil der Hamburger Psychologe Friedemann Schulz von Thun spricht von dem „Aufeinander-Bezogen-Sein“649 - er auch nur seine eigene Identität gewinnt. Damit sind wir nun schon mitten in der Beziehungsebene angelangt. Der Ablauf jeder persönlichen Beziehung, ihre Dynamik und Ergiebigkeit ist unabhängig vom jeweiligen Sachinhalt schon sehr komplex und folgt einer Reihe von Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die über den Anlaß und die Sache der Beziehung hinaus die beteiligten Personen und Partner als solche unmittelbar in ihrem Miteinander betreffen. Und tatsächlich wird die Neugier auf den Partner als Person im Hin­ blick auf seine Einstellungen und seine Erwartungen durch sein eigenes Verhal­ ten, durch die Art der Kommunikation auch schnell erfüllt.

Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24 648 Rupert Lay, S. 11 649

Friedemann Schulz von Thun, Band 3, S. 14

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Sehr anschaulich hat Friedemann Schulz von Thun die verschiedenen Aspekte der Kommunikation mit seinem „Quadrat der Nachricht“ aufgezeigt: Neben der reinen Nachricht, also dem ausdrücklich erklärten Sachinhalt der Mitteilung, kommt gleichzeitig immer auch zum Ausdruck, wie der Sender zum Empfänger steht und was er von dem anderen hält. Die Nachricht hat zudem einen Appell­ charakter, indem sie versucht, den anderen in einer bestimmten Richtung zu be­ einflussen. Darüber hinaus offenbart der „Sender“ auch stets etwas über sich selbst.650 Drei der genannten Aspekte gehen also über den eigentlichen sachlichen Infor­ mationsgehalt - die Spitze des Eisbergs - hinaus. Sie betreffen nicht mehr deren Inhalt, obwohl er der Kommunikationsgrund oder -anlaß war, sondern die Betei­ ligten als Menschen und ihre ‘unsachliche4 Beziehung zueinander: „Die bloße Nachricht bekommt eine zusätzliche Beziehungsseite.“651 Alle sachlichen Äuße­ rungen, Ziele, Maßnahmen und rational initiierte Verhaltensweisen erreichen Menschen, die völlig unabhängig davon individuell und persönlich ganz unter­ schiedlichen Werten folgen, die sich zudem je nach wechselnder Situation und im Verlaufe der Zeit schnell weiter verändern, also nicht stabil sind. Das gilt auch für die Beziehungspartner »Unternehmen4 selbst, die sich in unterschiedlichen „Le­ benszyklusphasen“ befinden. 652 Überdies sind die Motive bei den Adressaten der Nachricht ihrer Stärke nach unterschiedlich ausgeprägt. Der sachliche Gehalt der Information trifft also auf eine persönliche Wertewelt, die Beurteilungsmaßstab ist für die Einschätzung und künftige Weiterentwicklung der Beziehung gerade mit diesem Partner.653 Die Qualität der Beziehung entscheidet damit stets ganz unmittelbar über den Grad der Identifikation der so angesprochenen Menschen mit dem, was überwie­ gend einseitig und appellhaft über ihnen ausgegossen wird. Das Verhalten orien­ tiert sich dabei - wie oben im Zusammenhang mit der verhaltenssteuemden Wir­ kung der Werte schon grundsätzlich angesprochen - an dem „Ideal der Stimmig­ keit“, das Friedemann Schulz von Thun als „doppelte Übereinstimmung mit mir selbst als auch mit dem Charakter der Situation“, als „authentisch und situations­ gerecht“ kennzeichnet.654 Damit ist der Kem dessen, was die Beziehung generell aus- und wichtig macht, hinreichend erklärt: Wichtiger als die Sache ist dem Menschen stets seine individuelle Anerkennung und existenzsichemde Bestäti650 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 13, 14 und 25 ff. und in Band 2, S. 19 ff.; ders. auch in dem Interview mit Thomas Höfer: „Laß uns drüber reden!“ - PersonalfuhrungPlus ’98, S. 12 ff. 651 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 156 ff. 652 Vgl. Theo Siegert: „Humankapital: Erfolgsmessung und Partizipation“ , 52. Betriebswirtschafter­

tag der Schmalenbach-Gesellschaft vom 28.-29. September 1998, Vortrag und Beitrag in der Ta­ gungsunterlage, S. 15 ff. 653 Unternehmensberaterin Renate Hauser - zit. nach Handelsblatt Nr. 221 vom 16.11.1998, S. 43 654 Friedemann Schulz von Thun, Band 3, S. 13

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gung durch eine seinen individuellen Werten und Maßstäben entsprechende Be­ ziehung. Nur der einzelne Mensch, der dahingehend beachtet wird und demge­ mäß im übertragenen Sinne wirklich ,eine Rolle spielt*, wird in seiner Existenz gewürdigt und gestärkt. Deshalb sind auf der anderen Seite alle Vorstellungen von einer Konditionie­ rung des Individuums durch einebnend und gleichmacherisch wirkende Bedin­ gungen ebenso falsch wie unökonomisch. Rupert Lay hat eindringlich auf die destruktiven Folgen einer derartig „domestizierenden Moral“ hingewiesen.655 Alle Formen und Versuche der totalen Kollektivierung der Menschen sind nicht nur „historisch“ gescheitert, sondern vor allem deshalb, weil sie der menschlichen Natur zuwider laufen. So bleibt dann auch das die laufenden Führungsentschei­ dungen ständig prägende Übermaß an rationalen Erwartungen der Unternehmen, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche Vernunft gründen, gegenüber seinen Beziehungspartnem eine nicht ausrottbare Illusion. Sie steht auch im Wider­ spruch zum eigenen rationalen Denken der Unternehmen insoweit, als hier ein Aufwand praktiziert wird, dem kein auch nur annähernd gleichwertiger Nutzen gegenübersteht. Viele erkennen inzwischen zwar schon, daß die Wirkungen ausbleiben. Sie ziehen daraus aber die falschen Schlußfolgerungen. Sie erhöhen laufend ihren Einsatz auf der rationalen Ebene und merken nicht, daß dort nicht das Problem liegt. Denn Beziehungen sind vor allem persönlich determiniert. Beziehungen mobilisieren nicht mehr nur den kühlen Verstand, sondern vor allem die Gefühle und das Gemüt. Nicht der sachliche Gehalt der Nachricht ist daher am wichtig­ sten, sondern die Art und Weise, wie der Sender dabei mit dem Empfänger um­ gegangen ist, wie er ihn angesprochen, behandelt oder mißhandelt hat.656 Nach Einschätzung des Direktors des Frankfurter Instituts für Wirtschaft und Politikbe­ ratung, Rajan Malavija, ist beispielsweise der Erfolg bei Verhandlungen zu 80 Prozent allein auf die Beziehungsebene zurückzuführen, die es deshalb nach dem „Harvardkonzept“ immer zuerst zu klären gilt.657 In den letzten Jahren hat besonders der Verfasser des Bestsellers „Emotionale Intelligenz“ Daniel Goleman658 mit der von ihm so bezeichneten Anforderung 655 Rupert Lay, S. 16 656 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 13 und 156 657 „Strategie und Taktik des Verhandelns“ - Bericht über ein Praxisseminar - Personal Führung 5/2000, S. 96 658 Daniel Goleman: „Emotionale Intelligenz“ - Deutscher Taschenbuch Verlag 1997; ders. „EQ2 Der Erfolgsquotient“ - Carl Hanser Verlag München 1999 und dazu auch das Karriere-Gespräch: „Ohne EQ taugt auch ein IQ-Überflieger nicht zur Führungskraft“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 232 vom 29./30.11.1996, S. Kl; Gunther Olesch: „Emotionale Intelligenz: Erfolgsfaktor im Personalma­ nagement“ - Personal Führung 10/1999, S. 66 ff.; vgl. auch das Interview mit Daniel Goleman: „Emo­ tionale Kompetenzen kann jeder erwerben“ - Personalwirtschaft 8/1999, S. 28 ff. sowie Robert K. Cooper und Ayman Sawaf: „Emotionale Intelligenz für Manager“ - Heyne Verlag, München 1997;

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und Eigenschaft diesen wichtigen Teil jeder Beziehung in das allgemeine Be­ wußtsein gehoben. Er rechnet hier die folgenden „fünf Säulen“: Selbstreflexion oder Selbstbewußtsein, Selbststeuerung oder -kontrolle, Motivation, Empathie oder Einfühlungsvermögen, um die emotionale Befindlichkeit anderer zu verste­ hen, und soziale Kompetenz, Beziehungen oder Teams aufzubauen und zu fuh­ ren. Er hat damit aber nicht nur wichtige Beziehungsaspekte beschrieben, sondern auf Grund weltweiter Untersuchungen herausgefunden, daß sich leistungsstarke Mitarbeiter von weniger erfolgreichen Mitarbeitern besonders durch die auf emo­ tionalen Fähigkeiten basierenden Kompetenzen wie Flexibilität, Vertrauenswür­ digkeit, den Drang, etwas erreichen zu wollen und die sogenannte Teamfähigkeit unterscheiden. Er bewertet diese Fähigkeiten sogar als doppelt so wichtig wie kognitive oder technische Fähigkeiten, was zudem um so bedeutsamer wird, je höher jemand in der Hierarchie eines Unternehmens aufsteigt.659 Goleman ist trotz der großen Beachtung, die er damit in der Praxis erfahren hat, inzwischen - besonders von dem Augsburger Organisationspsychologen Oswald Neuberger - erheblichen Angriffen ausgesetzt worden, weil seine Erkenntnisse wissenschaftlich zweifelhaft und mit aus der wissenschaftlichen Literatur ohne Rücksicht auf ihre empirische Umwelt lieblos herausgerissenen Erkenntnissen untermauert worden seien. Manche Kritiker haben das auch als „Pop-Psychologie“ belächelt,660 andere bestreiten überhaupt einen Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Wirtschaft, der Unternehmen und des Managements.661 Aber aus dem gleichen Grunde, wie es falsch ist zu glauben, daß man alles, was nicht meß­ bar ist, man auch nicht managen könnte,662 ist nicht schon alles, was wissen­ schaftlicher Sorgfalt, Erkenntnissen oder Beweisführungen im Detail (noch) nicht entspricht, deshalb irrelevant oder schlicht nicht vorhanden. Was soll andererseits die nicht weniger nebulöse Kritik Neubergers, bei Goleman sei die „dionysische Emotionalität einfach ausgeblendet“ und „die Impulsivität domestiziert“?663 Stefan F. Gross: „Beziehungsintelligenz. Talent und Brillanz im Umgang mit Menschen“ - mi-verlag Landsberg 1997; Jürgen Alexander Lehmann: „Erfolgreich durch emotionale Intelligenz“ - Personal­ wirtschaft 11/1998, S: 50 ff.; Claude Steiner: „Emotionale Kompetenz“ - C. Hanser, München 1997; Fritz Stemme: „Die Entdeckung der Emotionalen Intelligenz“ - Goldmann, München 1997 659 Vgl. insbesondere Interview mit Daniel Goleman: „Emotionale Kompetenzen kann jeder erwer­ ben“ - Personalwirtschaft 8/1999, S. 28 ff. 660 Christian Göldenboog: „Gefühlvoll nach oben - Daniel Goleman schlachtet emeut die Emotionale Intelligenz aus“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 60 vom 13./14.03.1999, S. II 661 So Fredmund Malik: „Kein Bumout“ - Handelsblatt/Karriere vom 10./11.11.2000, S. K 4 662 Vgl. dazu die These der Harvard-Professoren Robert Kaplan und David Norton: „If you can’t measure it, you can’t manage it“ - zit. bei Ulrich Grothius: „Nach allen Seiten“ - Wirtschaftswoche Nr. 42 vorn 14.10.1999, S. 234 ff. 663 Vgl. zu den Zitaten und der Kritik von Oswald Neuberger den Bericht von Sebastian Poliwoda: „Rüge für den Pilzesammlcr“ - Die Diskussion „Emotionale Intelligenz: Sicherer Weg zum Erfolg oder Abzocker-Worthülse?“ im Rahmen des MBA-Studienganges „Untemehmensfuhrung“ der Uni­ versität Augsburg - Süddeutsche Zeitung Nr. 162 vom 17./18.07.1999, S. 61

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Goleman spricht ja nicht nur von Emotionalität, sondern von einem intelligenten Umgang mit ihr. Die Praxis kann ihrerseits mit einer derartigen Kritik nichts anfangen. Denn diese Kritik schlägt sich selbst mit dem, was sie kritisiert, auch wenn zuzugeben ist, daß die amerikanische Manier, ein komplexes, manchmal auch „diffuses Thema ... auf ein Fünf-Punkte-Konzept zu bringen“,664 manches auch wieder allzu sehr vereinfacht. Für die Menschen, die in der höchst komplexen Realität stehen, ist die Darstellung Golemans alles andere als inhaltsleer. Vielleicht ist das einer immer noch vorwiegend speziell und nicht ganzheitlich orientierten wissen­ schaftlichen Fakultät,665 die natürlich auch strengen wissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet ist, schwerer zugänglich. Damit sei hier nicht einem billigen und ohnehin falschen Gegensatz von Theorie und Praxis das Wort geredet. Die Praxis hat aber gegenüber der Wissenschaft einen ganz entscheidenden Vorteil: Nach langjähriger Erfahrung steht den meisten Menschen die ganze Komplexität in ihrem Wirkungsgeflecht deutlich vor Augen. Mehr als in jeder modellhaften Theorie gelingt es denen, die überhaupt noch etwas wahmehmen, zu sehen und damit auch vorauszusagen, wo, wann und wie sich tatsächlich etwas bewegt, wenn an einer beliebigen Stelle ,gedreht* oder etwas verändert wird. Es gibt eine Empirik, die nicht nur Realität, sondern auch deswegen beachtlich ist, weil die Menschen etwas für wahr halten. Das gilt besonders für den Bereich, den die sogenannte emotionale Intelligenz umfaßt. Dabei ist Goleman sicherlich weniger ein Erfinder von Neuerungen als jemand, der ein weithin bestehendes und erlebtes Defizit aktuell in das allgemeine Be­ wußtsein gerückt hat, was längst als solches erkannt und dennoch immer wieder nur einer angeblich allein seligmachenden kognitiven Sachlichkeit geopfert wur­ de. Auch der erfahrene Managementberater Rupert Lay stellt dazu fest: „Viele Manager leiden unter emotionaler und sozialer Verarmung.“666 „Emotionale Ma­ gersucht“, das „Prinzip der versiegelten Seelen“ und „Gefühlszensur“ bergen nach Ansicht von Gertrud Höhler, Professorin für Literatur und Germanistik und Beraterin in Wirtschaft und Politik, erhebliche Risiken für das Unternehmen und seine Leistungen. Die Beziehung zu Kunden und Mitarbeitern bleiben schwach

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Rainer Niemeyer, Berater bei Kienbaum Executive Consultants - zitiert nach Judith Reicherzer: „Karriereknick für Gefühlsnieten - Deutschlands Personalwirtschaft entdeckt ein Thema - Chefs brauchen richtigen EQ“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 35 vom 12./13.02.2000, S. 25; kritisch insoweit auch Fredmund Malik: „Angelernte Manager - In den meisten Organisationen entscheiden Manager über den Erfolg. Doch eine ordentliche Ausbildung für ihre Tätigkeit gibt es nicht“ - Handels­ blatt/Karriere vom 02./03.03.2001, S. K3 665 Dagegen mit Recht der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl in dem SZInterview: „Die Zukunft liegt zwischen den Fachgebieten“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 134 vom 13.06.2000, S. V2/12 666 Rupert Lay in dem Interview: „Ruf nach Weisheit“ - Manager Magazin 1/1998, S. 200 ff. (202)

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und unzuverlässig.667 Und wenn diese Mängel nicht kompensiert und menschli­ che Emotionalität nicht auch vorausschauend positiv eingesetzt werden können, so spüren es die Menschen bitter an den Folgen ihres Nichtkönnens. Oft wissen die Unternehmen gar nicht, wie viel an sozialer Kompetenz die Mitarbeiter sich längst im Laufe ihres Lebens und auch durch Freizeitbetätigun­ gen erworben haben,668 die sie zwar nicht immer bei ihren beruflichen Aufgaben einsetzen können, die sie aber gegenüber ihren Vorgesetzten überlegen macht und befähigt, vieles sensibel aufzunehmen. Diese Empfindungen und Erfahrungen der Menschen mögen auch erklären, warum Goleman mit seinen allein in Deutsch­ land verkauften 750 000 Exemplaren669 einen so großen Anklang fand. In der Sache deshalb klarer Punktsieg für Goleman: Manager müssen als Führungskräfte mit Emotionen umgehen können, wenn Führung keine einseitige Aufgabe, son­ dern ein dialogischer Prozeß ist, der sich mit der Handhabung und Lenkung be­ faßt.670 Insoweit besteht sicher auch Konsens mit allen seinen Kritikern. Aus der Praxis läßt sich nur bestätigen: Der Mensch ist eben doch ein großer Sack mit vielen Eigenschaften und Ausprägungen, der - je nach wechselnder Situation - um so erfolgreicher ist, je mehr davon er in geeigneter Weise schnell, flexibel und zielgerichtet aktivieren kann. Aber Erfolg ist eben auch nicht immer nur etwas Bestimmtes, vor allem wenn man es immer wieder nur auf einen will­ kürlich gesetzten Zeitpunkt bezieht. Es bedarf auch dafür einer neuen Bewertung nach wechselnden Bedingungen und Maßstäben. Insoweit können selbst Rück­ sichtslosigkeit und Ellbogen, Taktieren, Manipulieren, Arroganz, Mobbing und latent kriminelle Energie für einen „Führungserfolg“ sorgen - freilich nur kurzfri­ stig und in der Regel mit um so nachteiligeren Langzeitfolgen. Emotionale Intelligenz in diesem Sinne ist eine durch viel Erfahrung, Siege und Niederlagen erworbene, besonders ausgeprägte eigene Fähigkeit, die nicht mit dem klassischen Intelligenzbegriff identisch, aber dennoch für das persönliche Überleben entscheidend ist. Hans Böhm, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) bestätigt das aus seiner Sicht: „Unter­ nehmerische Grundorientierung, persönliches Format, Sozialkompetenz und Fairneß im zwischenmenschlichen Umgang sind allemal wichtiger als Studien-

667 Gertrud Höhler: „Wider die emotionale Magersucht“ - Personalfuhrung 2/1998, S. 12 ff. 668 Gerhard Raab, Wirtschaftspsychologe aus Ludwigshafen - Süddeutsche Zeitung Nr. 30 vom

06./07.02.1999, S. 22 669 Christian Göldenboog: „Gefühlvoll nach oben - Daniel Goleman schlachtet erneut die Emotionale Intelligenz aus“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 60 vom 13./14.03.1999, S. II 670 Werner Opgenoorth, Beiersdorf AG - Personalfuhrung 2/1998, S. 1; vgl. auch A. Ivey: „Führung durch Kommunikation - Zwischenmenschliche Kompetenz als Schlüssel zum unternehmerischen Erfolg“; für den Hofoldinger Untemehmensberater Wolfgang Strasser gehören dazu neben klaren Ziel Vereinbarungen und Jahresgesprächen vor allem auch Interviews und individuelleTests - vgl. „Testverfahren als Monitoring für Spitzenleistungen“ - Personalführung 271998, S. 52 ff (55, 56)

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richtung und Zeugnisse“.671 Und wenn insoweit der „Geist des Hauses“ nicht stimmt, bleiben auch die betrieblichen Leistungen aus. Denn mehr als alle soge­ nannten Managementmodelle bestimmt er die „Umgangsqualität“ und seine Entwicklung.672 Ein wichtiger Bestandteil im emotionalen Miteinander sind daher auch die Umgangsformen, die den Werteerwartungen der Menschen entsprechen müssen. Entgegen einer derzeit noch weit verbreiteten Neigung, auch sie einfach aus ei­ nem anderen Kulturkreis - vorwiegend den USA - zu übernehmen oder traditio­ nelle Formen des gegenseitigen Respekts im Interesse einer schnellen und funk­ tionierenden Sachlichkeit nur als hinderlichen Ballast zu vernachlässigen, be­ kommen sie jetzt wieder zunehmende Bedeutung. Viele spüren, daß man hier nicht etwas ignorieren oder funktional beseitigen kann, was einem zutiefst menschlichen Bedürfnis entspricht. Ansatzpunkte in der betrieblichen Praxis gibt es hierfür mehr als genug: Werbung und Darstellung nach außen, kollegiales oder verordnetes Duzen? Erwartete oder freiwillig praktizierte Kleidung? Tonalität und Darstellungsebene, andere und weltweit einheitliche Sprache oder nur ge­ meinsame inhaltliche Bezeichnung, dieses aber in der Sprache des jeweiligen Landes? Medien, optischer Auftritt? Zeigt das alles Distanz zum Unternehmen oder vermittelt es sichtbar Identifikation? Wir werden hierauf bei der Mitarbeiterfuhrung noch einmal zurückkommen. Maßgeblich und Richtschnur für Inhalte und Beziehungspflege bleibt noch immer die berühmte Formel und „goldene Regel“ aus der Bergpredigt, die längst als ein „Schatz der Menschheit“673 gilt und unter dem Reim populär geworden ist: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das fug auch keinem andere zu!“ Man kann es auch positiv sagen: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen

Hans Böhm, Hauptgeschäftsfuhrer der Deutschen Gesellschaft fur Personalfuhrung (DGFP) Süddeutsche Zeitung Nr. 58 vom 09./10.03.1996, S. Vl/1; ders. aaO, Personalfuhrung 4/1996, S. 267; auch ein hoher Intelligenzquotient macht noch keine Karriere. Wichtiger für den beruflichen Erfolg ist die sogenannte „praktische Intelligenz“ (n. Robert J. Sternberg, Yale-Universität, USA) - zit. nach DIE WELT (WELT der Wissenschaft) vom 04.05.1996, S. 9; vgl. auch die kritische Besprechung des Buches von Thomas Knipp: „Der Machtkampf* durch Reinhard Blomert: „Ein Machtkampf zwischen elitären Egos - Der Niedergang der Metallgesellschaft: Eine Geschichte von Raffzähnen ohne soziale Kompetenz“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 117 vom 23./24.05.1998, S. 30; ebenso für die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit - zum Beispiel bei Verhandlungen - Rajan Malavija, Direktor des Instituts für Wirtschaft und Politikberatung Frankfurt/M.: „Strategie und Taktik des Verhandelns“ - Bericht über ein Praxisseminar - Personalfuhrung 5/2000, S. 96 672 Hartmut Volk: „Der Ton bestimmt die Leistung“ - Bericht über die Beratungserfahrungen von Thomas Weegen von der Münchner Untemehmensberatung Coverdale Team Management und über die preisgekrönte Arbeit von Claudia Groß von der SIEMENS AG, Braunschweig, zur „Einführung einer neuen Form der Zusammenarbeit mit dem Ziel permanenter Leistungsverbesserung“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 28.02.1998, S. BR1 673 Hans Küng - Spiegelinterview - DER SPIEGEL 51/1999, S. 70 ff. (72)

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behandelt werden wollt.“674 Das ist pure Orientierung am Beziehungspartner als Maßstab für eigenes Handeln. Der Philosoph Immanuel Kant hat aus dieser indi­ viduellen Maxime seinen weitergehenden, die Allgemeinheit betreffenden kate­ gorischen Imperativ entwickelt: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“675 Nicht ,das eine oder das andere*, sondern ,das sowohl als auch* sind der Schlüssel zu vielem! Nicht emotionale Intelligenz statt klaren rationalen Denkens - so wiederum die Sorge vieler Praktiker -, sondern beides muß ausgewogen zusammenkommen. Denn es gibt zwischen der Sachebene und der emotionalen Ebene auch einen Zusammenhang. Wer ein gutes, zuverlässiges Produkt erstellt, das ,für sich* spricht, läßt damit auch etwas über seine Einstellung, seinen Cha­ rakter und seine Werthaltung erkennen. Auch wer glaubwürdig, einfühlsam und dauerhaft solide Waren oder Dienstleistungen produziert, schafft sich damit einen Ruf, der auch die emotionale Seite der Beziehung beeinflußt oder prägt, also Sympathie erzeugt oder verhindert. Und umgekehrt kann natürlich auch eine gute Leistung durch einen zweifelhaften „Selbstoffenbarungsaspekt“ als unecht er­ scheinen und durch einen nur Druck auslösenden „Appellaspekt“676 das genaue Gegenteil erreichen. Der Zusammenhang der Beziehungsseite mit dem Inhalt ist sogar so eng, daß daraus eine für viele unglaubliche, aber wichtige Einsicht folgt: Selbst eine etwa im Verteilungskampf inhaltlich oder distributiv nicht herstellbare Gerechtigkeit kann geradezu durch eine prozedurale Beziehungspflege ersetzt werden, wenn und weil sie die persönliche Anerkennung sichert. Die respektvolle Einbeziehung der Menschen in das Geschehen ermöglicht oft schon als solche eine Akzeptanz in der Sache selbst dann, wenn sie ganz oder in Teilen eigentlich gegen ihre In­ teressen verstößt. Sie erlaubt inhaltliche Kompromisse, weil die Zufriedenheit über offene Verfahrensweisen die Zumutungen in der Sache überlagert.677 In diesem Sinne ist eine störungsfreie Beziehungsebene Voraussetzung für eine

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Matthäus 7,3 (ähnlich Lukas 6,3) in der Übersetzung „Die gute Nachricht - Das Neue Testament in heutigem Deutsch“ - Bibelanstalt Stuttgart 1967 und 1971, S. 23 und 153 675 dtv-Lexikon Band 9 (1967); vgl. auch Walther Killy: Literaturlexikon, Band 2, S. 18 (global S. 10361): „Handle nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, daß sie ein allge­ meines Gesetz werde“ oder Carolin Emcke und Ulrich Schwarze: „Tanz ums goldene Kalb“ - DER SPIEGEL 51/2000, S. 50 ff. (52) mit der Version: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz­ gebung gelten könnte.“ Dieser kategorische Imperativ entstammt Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. 676 Vgl. zu diesen Begriffen Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 14 und Band 2 S. 20, 21 677 So auch das Ergebnis des Kolloquiums zur „Ethik in Organisationen“ in Landau/Pfalz, veranstaltet vom Fachbereich Psychologie der Universität Koblenz-Landau (Gerhard Blickle) und dem Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE) - Bericht in Personalfuhrung 6/1996, S. 539

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effiziente Bearbeitung von Sachproblemen.678 Dieses gilt für alle Menschen und alle menschlichen Beziehungen, auch oder gerade wenn diese sich von der Inter­ essenvielfalt ansonsten sehr unterscheiden. Hieraus wird nun noch deutlicher, warum die These vom Vorrang der Beziehungs- und Kontaktpflege gegenüber den sachlichen Inhalten ihre tiefe Berechti­ gung hat. Der Mensch ist zwar zu beidem fähig und bereit: Er kann sich die ratio­ nale Vernunft ebenso zu eigen machen wie soziale Bedürfnisse aus eigenem Wunsch durch vertrauensvolle Beziehungen selbständig erfüllen. Beides gehört zu seinem Wesen. Er ist für beides grundsätzlich selbst motiviert, bedarf also nicht der Dressur oder Verführung. So ist auch die ökonomisch begründete „neue“ Eigenverantwortung nichts, was der Mensch nicht mit seinen ureigenen Erwartungen und Wünschen in Übereinstimmung bringen könnte. Ganz im Ge­ genteil. Erfolgreiche Unternehmen setzen deshalb längst auf die wertschätzende Eigenverantwortung ihrer Mitarbeiter.679 Das gelingt um so mehr, je stimmiger die Beziehung im übrigen ist.

Beziehungsstörungen Wegen der überragenden Bedeutung der Beziehungsebene läßt sich schon hinrei­ chend erahnen, welche mißlichen Folgen nun auch Störungen in der Beziehung mit sich bringen. Die Ursachen können ganz verschiedenartig sein, je nachdem, wie bei jeder der Ebenen oder vier Beziehungsaspekte etwas nicht richtig läuft.680 Sehen wir uns zunächst einige - in der Praxis häufig vorkommende - Probleme bereits auf der Sachebene an. Trotz zunehmender Bemühungen und Übungen - ja sogar der durchaus fest­ stellbaren Fortschritte gegenüber früher - überhaupt Sachziele zu definieren, zu formulieren und zur Grundlage der Kommunikation zu machen, gibt es hierbei noch beachtliche Defizite. Nicht selten fehlt es an konkreten, verständlichen oder nachvollziehbaren Beschreibungen einfacher Ergebnisbeiträge auf allen hierar­ chischen Ebenen und damit an der nur so herstellbaren inhaltlichen Orientierung. Da ist statt dessen oft nur allgemein die Rede von ökonomischer Vernunft und 678 Rajan Malavija, Direktor des Instituts für Wirtschaft und Politikberatung Frankfurt/M.: „Strategie und Taktik des Verhandelns“ - Bericht über ein Praxisseminar - Personalfuhrung 5/2000, S. 96 679 Prof. Daniel Muzyka von INSEAD anläßlich der Studie der Stuttgarter Untemehmensberatung Management Partner zusammen mit INSEAD, dem größten internationalen Managementinstitut für Unternehmensfuhrung in Europa in dem Bericht von Martina Brückner: „Die entscheidende Rolle des Kopfes an der Spitze“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 17./18.11.1995, S. K2; als ein hilfrei­ cher Leitfaden für die, die sich hier weiterentwickeln wollen, ist zu empfehlen Jürgen Heckel: „Frei sprechen lernen“ - A 1 Verlag GmbH, München, 2. Aufl. 680 Eingehend dazu Friedemann Schulz von Thun, Band 1: „Störungen und Klärungen“.

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den Folgen betriebswirtschaftlicher und technischer Rationalität, also von sach­ lich-inhaltlichen Anforderungen, die angeblich so vom Markt und Wettbewerb her begründet sind. Bestenfalls wird noch appellarisch festgestellt, was vor allem geschehen müsse. Derartig hochabstrakte Situationsbeschreibungen sind in dem, was sie ansprechen, zwar selten falsch oder gar zu widerlegen. Es spricht auch für das „Prinzip Selbstverantwortung“,681 daß sie flexibel gehalten sind. Nur wer zieht die Konsequenzen aus der inzwischen von dem Nobelpreisträger Reinhard Selten klar erkannten „Theorie der eingeschränkten Rationalität“ und seiner Kri­ tik an dem Menschenbild der traditionellen Wirtschaftstheorie eines reinen ,homo oeconomicus4, der durch eine menschlichere Gestalt ersetzt werden muß?682 Im Ergebnis schaffen sie jedoch aus verschiedenen Gründen keinen individuellen Handlungsbezug: Zum einen kann hier das Problem schon darin liegen, daß die Untemehmensziele den berechtigten, aber unausgesprochenen Erwartungen der Beziehungspartner widersprechen und damit - nur noch für die Adressaten selbst erkennbar - in einem sachlichen Zielkonflikt verbleiben. Zum anderen bewirken solche Ziele auch wegen ihrer zu geringen, untemehmensbezogenen Spezifizierung, wegen ihrer zufälligen Auswahl und Aneinanderreihung, in ihrem hohen Grad an Unver­ bindlichkeit und der unklaren operationalen Konsequenzen letztlich gar nichts. Auch als Summe sind sic dann nur zufällig synergetisch oder zielgerichtet. Denn jeder macht weiterhin, was er will oder aus der Sicht seiner Aufgabe für richtig hält. So werden Ziele und Sachinformationen noch immer mehr gestreut nach der Devise „Wen es angeht!“, als ob damit die Funktion der Nachricht verbessert oder der Grad der Identifikation erhöht würde. Genau das Gegenteil ist der Fall. Viele hören gar nicht mehr zu. Oft entsteht sogar der Eindruck, daß der allgemei­ ne Wunsch der Führungskräfte und Mitarbeiter nach immer mehr Informationen nur dem Zweck dient, sich zu vergewissern, daß man selbst jedenfalls nicht davon betroffen ist. Erst recht gilt das für die inzwischen rapide steigende Informations­ flut, wie sie nicht zuletzt - statt über Führungskräfte in persönlichen Gesprächen - nun immer mehr anonym durch die EDV-Technik auf alle massenhaft hernieder regnet. Die dadurch bewirkte und mit einem gewissen Recht gefeierte informa­ tionelle Gleichheit und Unabhängigkeit aller hat eine Kehrseite, wenn sie sich als bloßer Ersatz individueller Zielvereinbarungen herausstellen. Noch komplizierter wird es, wenn dann doch einmal versucht wird, die Dinge inhaltlich zu konkretisieren. Denn das geschieht regelmäßig nicht nur an der falschen Stelle - durch Detailvorgaben zum Verhalten statt zum Ergebnis. Es Vgl. dazu das gleichnamige Buch von Reinhard K. Sprenger - Campus Verlag Frankfurt/M., 8. Auflage 1998. 682 Reinhard Selten in dem Interview: „Auf die Wirtschaft in NRW lauem beträchtliche Gefahren“ WELT am SONNTAG Nr. 1 vom 07.01.2001, S. 81

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kommt auch schnell zu Verständnisschwierigkeiten in der Sache, weil jeder eine andere Sprache spricht. Die Beherrschung der eigenen Muttersprache als immer noch wichtigstes Kommunikationsmittel683 und der präzise Umgang mit der Spra­ che ist schon lange nicht mehr jedermanns Sache, vor allem wenn die Neigung dominiert, durch allerlei eitle Metaphern und Verbrämungen auf akustische und mentale Effekthascherei mehr zu setzen als auf einfache funktionale Verständ­ lichkeit.684 Das beginnt mit der Vielzahl von unklaren Begriffen oder „Worthül­ sen“ wie „Kundenorientierung“ oder „Mitarbeiterorientierung“, deren spezifi­ scher Inhalt und dessen Verständnis eigentlich gerade in der jeweiligen Bezie­ hung überprüft und dann dementsprechend konkretisiert werden muß, aber nicht wird,685 und endet nicht selten damit, daß selbst offen erkennbare Zielkonflikte in der Sache nicht oder nicht überzeugend aufgelöst und transparent gemacht wer­ den, zu wessen Lasten gelöst werden sollen. So wird leider auch in den oben bereits kritisch besprochenen schriftlichen „Untemehmensvisionen“ und „Werteprogrammen“ in einer alles vernebelnden begrifflichen Beliebigkeit teils von Zielen, teils von Werten gesprochen, die schon ein sachlich-inhaltliches Nachvollziehen dessen unmöglich machen, was da eigentlich von der Sache her gemeint und wer angesprochen ist.686 Aus Gründen terminologischer Klarheit sollte man endlich den Bereich der sachlichen, eigentli­ chen „Untemehmensziele“ einmal vom Begriff der „Untemehmenswerte“ deut­ lich absetzen. Denn die immer häufiger proklamierten „Untemehmenswerte“ haben in Wahrheit oft mehr den Charakter von Vorgaben und „Bedingungen“, unter denen die Untemehmensziele erreicht werden sollen, auch wenn sie in die­ sem Sinne selbständige Teilziele, Neben- oder Unterziele sein können und häufig auch nur sind. Es handelt sich dabei mehr um einseitig vorgegebene Meßgrößen

683 Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle in dem Bericht von Christine Burtscheidt: „Botschafter des

Wettbewerbs“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 39 vom 17.02.2000, S. L4; vgl. dazu auch Peter Dausend: „Oh, my dear! - Australische Sprachforscher enthüllen: Das Sprachniveau der Queen rutscht immer mehr ab“ - DIE WELT vom 21.12.2000 (www.welt.de - S. 1); kritisch und mit Beispielen für die Amerikanisierung der deutschen Sprache sowie zur Unkenntnis sogar vieler Germanisitik-Studenten auch Prof. Lutz Götze, Leserzuschrift (neben weiteren) - Süddeutsche Zeitung Nr. 17 vom 22.01.2001, S: 15; vgl. dazu auch die Forderung des Berliner Innensenators Eckart Werthebach nach einem Sprachschutzgesetz, um die nach seiner Ansicht kulturschädliche Amerikanisierung der deut­ schen Sprache und die Entstehung von Parallelgesellschaften zu verhindern - „Sprachliches Rein­ heitsgebot“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 17 vom 22.01.2001, S. 11 684 Vgl. dazu auch Barry Sanders: „Der Verlust der Sprachkultur“ - Fischer Verlag 1994 zu dem „wertvollsten kulturellen Kapital“. 685 Ein Versuch dazu ist der Beitrag von Annette Nagel: „Mitarbeiterorientierung als Erfolgsfaktor“ Personalwirtschaft 5/1998, S. 55 ff. über eine Studie der Universität Saarbrücken. 686 Wenig differenziert in diesem Sinne ist der sogen. Wertekatalog bei Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 116, wo Sachziele wie „Finanzielles Wachstum“, „Qualität“ und „Werte“ im engeren Sinne unterschiedslos aufgefuhrt werden.

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fur die Zielerreichung, an denen Produkte, Dienstleistungen, Verhaltensweisen und Prozesse ausgerichtet werden sollen. An beiden Aspekten, der sachlichen Klärung der Zielrichtung und Ergebnisse überhaupt und der Verständlichkeit mangelt es also in der Praxis so oft, daß die Intransparenz der Untemehmensziele bei den Ursachen für Motivationsdefizite der Führungskräftc unmittelbar hinter dem Führungsstil und dem zu geringen Feedback bereits an dritter Stelle steht. 687 Mitunter würde freilich allein die Nachfrage nach den Erwartungen, aber auch ihre Verständlichkeit oder Richtig­ keit klären können. Beide beziehungsorientierte Wege werden hingegen aus oft unverständlicher Scheu viel zu wenig genutzt. Eine dominante und einseitig vor­ gegebene bloße „Aufgabenorientierung“ kann zwar in einem stabilen wirtschaft­ lichen und wettbewerbsmäßigen Umfeld ohne jedes Risiko sein. In einem kom­ plexen und turbulenten Umfeld führt jedoch die Mißachtung der Beziehung schnell zur Nichterfüllung der Aufgabe, so daß „langfristig auch die Bewahrung intakter Beziehungen größeres Gewicht besitzt als eventuelle kurzfristige Fehl­ schläge“.688 Das ist nicht nur in den Unternehmen so, sondern überall in unserer Gesell­ schaft. Auch die Politik lebt sehr stark von inhaltlichen Unschärfen und die Me­ dien verstärken das negatives Vorbild schlagzeilenhaft.689 Die Hamburger Psy­ chologen Reinhard Tausch und Friedemann Schulz von Thun haben deshalb im Interesse funktionierender Kommunikation ein Verständlichkeitskonzept entwikkelt, das auf den Säulen „Einfachheit“, „Gliederung/Ordnung“, „Kürze/Prägnanz“ und „zusätzliche Stimulans“ durch anregende Stilmittel beruht.690 An diesen Kri­ terien gemessen ließe sich allein auf der Sachebene vieles deutlich verbessern, wenn das nicht aus ganz anderen Gründen - ebenso wie in der Politik - in Wahr­ heit gar nicht ehrlich gewollt ist. Alle diese Schwächen in der Sachebene wirken sich freilich nicht nur dort selbst, sondern auch auf die persönliche Beziehung negativ aus. Entweder ent­ steht eine solche gar nicht erst, weil pauschal angesprochene Adressaten den Mangel an individueller Beachtung und Wertschätzung ihrer Person sofort und unmittelbar registrieren. Es fehlt an der Individualisierung der Nachricht. Dazu kommen oft Störungen als Folge von Überschneidungen und Vermischungen 687 Vgl. die Ergebnisse einer Befragung von Personalmanagem durch Hugo M. Kehr und Petra Bles: „Bedeutung der Führungskräfte - Motivation“ - PERSONAL 11/1999, S. 571 ff. (573) 688 Edgar H. Schein, S. 305 689

Auf die Frage, ob Politiker Vorbilder sein müssen, sagte der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog: „In einer Demokratie ist es ein bißchen viel verlangt, daß das Volk ausgerechnet Leute wählt, die ihm moralisch haushoch überlegen sind. Das scheint mir eine etwas übertriebene Erwartung an die Demokratie zu sein. Trotzdem ist es so, daß der Bürger hinlänglich Sicherheit haben muß, daß es in seinem Staat korrekt zugeht.“ - vgl. Interview mit Heribert Prantl - Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 08.03.2000, S. 9 690 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 12, 13 und 140 ff.

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zwischen der sachlichen Ebene und der emotionalen Ebene, so daß die eine stets intensiv auf die andere einwirkt. Deswegen ist es nicht immer einfach, aber wichtig zu erkennen, wo die Ursa­ chen für Störungen wirklich begründet sind. Man erlebt in der Praxis immer wie­ der, daß versucht wird, Störungen, die ihre Ursache in der Beziehung haben, allein auf der Sachebene zu beheben, weil das Beziehungsproblem nicht analy­ siert und erkannt wurde oder aus Unkenntnis nicht richtig damit umgegangen wird. Ein Beispiel dafür bietet etwa die Haltung des Chemieuntemehmens Hoechst zu seinen Aktionären aus Anlaß des beabsichtigten Zusammenschlusses mit der französischen Chemiefirma Rhone-Poulenc. Auf der maßgeblichen Ak­ tionärsversammlung, bei der die Aktionäre ihre Zustimmung zu der Fusion ertei­ len sollten, ging es diesen gar nicht mehr um eine inhaltliche Diskussion, also die Vor- und Nachteile eines solchen Zusammenschlusses. Im Vordergrund standen vielmehr die Begleitumstände, vor allem ihre eigene Rolle als Aktionäre. Mehrere Vertreter von Aktionärsvereinigungen kritisierten, daß die Entscheidung „prak­ tisch schon gefallen (sei), bevor abgestimmt wurde bzw. die Geburt der neuen fusionierten Aventis „bereits beschlossene Sache“ sei. Die Hauptversammlung diene nur noch der Wahrung der Form. Darüber hinaus wurde Kritik geübt an der Vernachlässigung des Streubesitzes und am Verlust von Aktionärsrechten durch die Ansiedlung der neuen Aventis in Straßburg, wofür einer der Aktionärsspre­ cher „intensiven Beifall“ erntete.691 So blieb einerseits für das Unternehmen das Gefühl, nicht,verstanden4 worden zu sein, obwohl es nur an der erforderlichen Beachtung der Partner fehlte. Diesen ging es nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um ihre Rollen, ihr unter­ schiedliches Gewicht, ihren Einfluß und damit ihrer Anerkennung und Existenz. Es hatte für Hoechst keinen Sinn mehr, ihren Aktionären nochmals die Ansied­ lung des neuen Unternehmens in Straßburg von der Sache her zu begründen. Das wurde nicht mehr erwartet, wenn eine solche Verstärkung der Sachargumente auch immer wieder - natürlich vergeblich - zu vermeintlichen Lösung des Kon­ flikts versucht wird. Statt die Verletzung der Beziehung zu registrieren wird als Gegenreaktion auf rationaler Ebene weiter argumentiert, Druck ausgeübt, gedroht und beschworen, obwohl hier gar nicht das Problem liegt. Im konkreten Beispiel wurde damit eine ohne weiteres vermeidbare Beziehungsstörung nur zur zusätzli­ chen Erschwerung für die Sache. Wer seine Partner nicht mehr als solche würdigt und sie ernst nimmt, riskiert stets ein Problem auch in der Sache, mag diese noch so richtig und von der Ratio­ nalität her sogar überzeugend sein. Angesichts der Wichtigkeit und vermuteten Dominanz der Sache ist vielen nicht verständlich, warum gerade von der Bezie­ hungsebene so einschneidende Wirkungen auf das Erreichen entscheidender 691

„Hoechst-Eigner machen den Weg frei“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 161 vom 16.07.1999, S. 27

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Vorhaben und Ziele ausgeht. Viele Führungskräfte erleben erbitterten Widerstand durch ihre Mitarbeiter in der Sache immer wieder zu ihrem eigenen unverständli­ chen Erstaunen, obwohl dieser geradezu als sicheres Indiz dafür zu werten ist, daß es primär nicht um die Sache geht, sondern allein um die Folgen der die Mit­ arbeiter verachtenden, und daher für diese existenzbedrohenden Beziehung. Hier werden in der Sache - mit dem Mittel des sachlichen Widerstandes oder man­ gelnder Kompromißbereitschaft - oft Gegenrechnungen präsentiert für viele Miß­ achtungen und persönliche Verletzungen aus der Vergangenheit, bei denen es dafür keine Gelegenheit gab. Hier scheitern dann besonders die „kontrollorien­ tierten Unternehmen“, die ihre Mitarbeiter „zu Faulheit, Selbstschutz und Egois­ mus“ erzogen haben, wenn sie nicht mehr in einem stabilen Umfeld stehen, son­ dern dieses turbulenter wird.692 Aber in unserer so rational geprägten Welt, in der eben die „emotionale Magersucht“ immer noch ein anerkanntes Qualitätsmerkmal für Spitzenpositionen und das „Prinzip der versiegelten Seelen“ Karrierebegleiter ist,693 kommen viele nicht auf die wahren Ursachen. Zu wechselseitigen Auswirkungen führen auch andere, beziehungsspezifische Hürden. Die Menschen reagieren verständnislos, wenn Zeitmangel oder knappe Termine als Gründe für nicht stattfindende Gespräche nur vorgeschoben werden. Sie empfinden es als Mißachtung, wenn nicht weniger selten nur die Eitelkeit oder verdeckte Motive des ,Senders* keinen Widerspruch dulden, so daß auch deshalb Gespräche als entbehrlich angesehen werden. Als besonders negativ wirkt sich die Beeinflussung anderer durch einen Verhaltensstil und seine Intensi­ tät aus, die mehr oder weniger eine „Lenkung oder Bevormundung“ beinhalten.694 Es gibt dafür vor allem in der Politik sehr anschauliche Beispiele, weil dieser Aspekt dort - sehr im Gegensatz zu den Unternehmen, wo Gängeleien geradezu erlaubt zu sein scheinen - meist sofort offen angesprochen wird. Das Gefühl der Bevormundung, gegen die sich beispielsweise die asiatischen Staaten bei der ihnen zugeteilten Geltung der Menschenrechte wehren, begründet eine der Hauptschwierigkeiten bei der Überwindung der Unterschiede zwischen fernöstlichem und westlichem Wertesystem. Dabei geht es in der Tat weniger um die Inhalte. Asien möchte einfach seine Werte selbst bestimmen.695 Gerade dann, wenn man für den materiellen Gehalt der Menschenrechte eintritt, rechtfertigt diese Einstellung zur Sache nicht die Vernachlässigung der Beziehung, indem man sich - wie im Kosovo-Krieg - über als Völkerrecht hinwegsetzt und unab­ hängig von einer Einschaltung der Vereinten Nationen den Krieg beginnt. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat u.a. auf dem 94. Deutschen Katho-

692 Edgar H. Schein, S. 301 693

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Gertrud Höhler: „Wider die emotionale Magersucht“ - Personalfuhrung 2/1998, S. 12 ff. Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 162 u. 163 Vgl. John Naisbitt: „Megatrends Asien“ - Signum Verlag Wien 1995, S. 145, 147 ff.

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likentag im Juni 2000 in Hamburg mit Recht und eindringlich davor gewarnt, diesen Mangel an Toleranz - gemeint ist die Beziehungstoleranz im hier vertrete­ nen Sinne - und Respektlosigkeit gegenüber anderen Völkern zu wiederholen. Er stieß dabei auf erheblichen Widerstand, der - und hier lag eben wieder auch das typische Mißverständnis - nur und allein mit der Sache selbst begründet wurde: Es gebe keine Toleranz gegenüber Folterungen von Menschen usw. Aber das war auch nicht gemeint. Ähnliches konnte man bei der humanitär geprägten sachlichen Kritik der west­ lichen Welt gegenüber den Russen im Tschetschenienkrieg erleben. Die Russen konterten diese Vorwürfe nur beziehungsorientiert als unerwünschte „Einmi­ schung in innere Angelegenheiten“ - übrigens in einem insoweit nicht unerwarte­ tem Schulterschluß mit China. Inzwischen hat der neue russische Präsident Putin sich aber bereit erklärt, alle Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen und zu ahnden, die - auf welcher Seite auch immer - im Tschetschenienkrieg begangen worden sind. Es ging ihm also offensichtlich auch hier nicht um den Inhalt. Jetzt ist es seine eigene Entscheidung. Und sie bezieht sich wieder auf die Sache. Es ist eine sehr verbreitete, aber eben doch falsche Meinung, daß ein gutes Ziel jedes Mittel rechtfertigt. Denn unabhängig von sachlich anerkannten Rechtsinsti­ tuten wie Notwehr oder auch Nothilfe unter Beachtung des Prinzips der Verhält­ nismäßigkeit auch in der Weltpolitik umfassen die gewählten Mittel nicht not­ wendigerweise auch einen Umgangsstil, der vom berechtigten Sachziel nicht mehr zwingend gedeckt wird. Kaum eine schwierige, auch gegen andere gerichte­ te Sache verlangt es, diesen anderen - und schon gar nicht Dritte - auch noch in ihrer Rolle als Menschen und Persönlichkeiten zu erniedrigen. So löst man be­ stenfalls ein Problem, indem man ein neues aufreißt. Besonders heikel ist es, wenn ein solches Verhalten die Wertewelt negativ tangiert, auf die man sich selbst aus gutem Grund glaubt stützen zu können. Das eigentliche Anwendungsfeld für Bevormundungen oder mangelnde Wert­ schätzung in der Praxis der Unternehmen ist das formal-dominante Vorgesetz­ tenverhalten gegenüber den eigenen Mitarbeitern, die sich auch in ständigem Reden äußern. Wir haben das oben schon behandelt. Je höher der Mensch in der Hierarchie aufsteigt und je älter er wird, um so mehr verspürt er die Neigung696 und vermeintlich hat er durch seine äußere Stellung auch die Legitimation -, vor allem nur noch selbst zu reden und sich wortreich zu allen Fragen abschließend zu äußern. Wer die Macht hat, nutzt sie auch, um das Wort an sich zu reißen. Keiner wagt, ihn zu unterbrechen, mag das Gesagte auch noch so abwegig, dumm oder ‘von keinerlei Sachkenntnis getrübt’ sein. Und unter dem selbst gesetzten 696 Rita Mohr mit Beispielen aus der Praxis in ihrem Bericht: „Frust am Konferenztisch - Meetings

sollen keine Show sein“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 293 vom 20./21.12.1997, S. I; ebenso Peter Frie­ derichs, HypoVereinsbank in dem Beitrag von Horst Peter Wickel: „Barocker Auftritt am Konferenz­ tisch“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 213 vom 15.09.1999, S. 48

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Druck, immer zu allem etwas sagen zu müssen, ist das nicht so selten. Es scheint etwas Wahres daran zu sein, wonach Gott demjenigen, dem er ein Amt übertra­ gen hat, auch den dazu gehörigen Verstand gegeben hat. Daran gibt es jedenfalls im Selbstbild der Betroffenen überhaupt keinen Zweifel.697 Und sie sagen es auch ständig auf ihre Weise - unverhohlen und unüberhörbar. Zwar könnte man meinen, daß es für Manager nicht wichtig ist, reden zu kön­ nen. Sollen sie doch vor allem entscheiden und handeln.698 Weit gefehlt! Eine Führungskraft ‘fuhrt vor allem das Wort4, ob sie es nun kann oder nicht, und viele erkennt man überhaupt nur noch daran, daß sie als erste das Wort ergreifen und dann nicht wieder loslassen. Die sich täglich wiederholenden Beispiele für solche verbalen Attitüden in der Praxis werden nur noch dadurch ärgerlicher,699 daß es sie auf allen Ebenen gibt, die ja alle ihre Chefs mit vergleichbaren Ambitionen haben. Dabei dominiert stets ihr persönliches Eigeninteresse. Auch Machtkämpfe werden so ausgetragen.700 Schon das oberste Gremium spielt gern dieses Spiel, wenn auch dessen Chef nur noch den „Eindruck“ macht, als ob er seine Kollegen anhören und mit ihnen diskutieren würde. Diesen Vorwurf erhob beispielsweise schriftlich der freiwillig aus dem Leben geschiedene Ex-Daimler-Benz Finanz­ vorstand Gerhard Liener gegenüber Konzemchef Edzard Reuter.701 Entgegenste­ hende Beispiele bestätigen nur als rühmenswerte Ausnahme diese Regel: So wurde dem Manager des Jahres 1996, Henning Schulte-Noelle, Vorstandsvorsitzender der Allianz AG, selbst von Insidern als besonders positiv attestiert, daß er zuhören kann und die Leute ausreden läßt.702 Die Mitarbeiter reagieren entsprechend: „In Umfragen gaben die Angestellten ... kund, daß die Vorgesetzten nicht (nur) zu viel sprechen und schlecht zuhören, sondern auch sach- und ergebnisorientiertes Arbeiten verhindern, weil sie Selbst-

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So die Erfahrung des Beraters Heinz Werner Lüders, Forst/Bruchsal aus Coachinggesprächen vgl. Brigitta Lentz: „Gute Manager - gute Rollenspieler“ - Capital 1/1999, S. 67 698 So Mark Wössner anläßlich der Verleihung des Cicero - Rednerpreises 1998 an ihn in Bonn Süddeutsche Zeitung - SZ-Management - Nr. 211 vom 14.09.1998, S. 24 699 81 Prozent der Befragten sind unzufrieden mit Organisation und Ablauf von Besprechungen - vgl. Rainer Nocht 1t. Studie des Beratungs- und Trainingsuntemehmens „Strategie-Forum“ Hannover in dem Bericht von Michael Gestmann: „Meetings: Die modernen Zeitkiller“ - SZ-Management Süddeutsche Zeitung Nr. 89 vom 19.04.1999, S. 26 700 Untemehmensberater Ferdinand van Koolwijk - SZ-Interview - Süddeutsche Zeitung Nr. 213

vom 15.09.1999, S. 48 701 Manager Magazin 1998, S. 172; vgl. auch die zehn Tips von Microsoft-Chef Bill Gates, in denen es u.a. heißt: „Packen Sie selbst mit an. Das letzte, was Mitarbeiter wollen, ist ein Chef, der nur redet“ - Wirtschaftswoche Nr. 49 vom 27.11.1997, S. 156; gelobt wird dagegen die Streitkultur im Vorstand der Allianz AG - Manager Magazin 12/1996, S. 52 ff (57) 702 Manager Magazin 12/1996, S. 52 ff (57); vgl. auch Diane Bone: „Richtig zuhören - Mehr errei­ chen“ - New Business Line Kommunikation - Wirtschaftsverlag Carl Ueberreuter

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darstellungen herausfordem.“703 „Wenn sie durch Dauer-Besprechungen, Sitzun­ gen und Präsentationen ihre eigene Bedeutung zu betonen versuchen, sich dabei gegenseitig in Schach halten, ohne wirkliche Kontrolle auszuüben, ist die Ord­ nung charakterisiert, die in deutschen Konzernen herrscht.“704 Genau umgekehrt jedoch könnte es sein: „Zu 80 Prozent sollte der Mitarbeiter reden, nur zu 20 Prozent spricht der Chef.“705 Auf die Frage, inwieweit eine auch nur versuchte Bevormundung eine sachliche Berechtigung hat und sich von daher legitimiert, kommt es für die Folgen in der Beziehungsebene überhaupt nicht an. Es ist dieses das „Minenfeld“ respektlosen und verächtlichen Verhaltens den anderen gegenüber, in das dennoch oft aus unsensibler Eitelkeit706 und Arroganz, aus rollenspezifischen Imponiergehabe und persönlichem Machtgetue ausschließlich mit rationalen Sachbegründungen hin­ eingetreten wird, ohne das diejenigen, die sich so verhalten, die dadurch eingetre­ tenen Beziehungsstörungen noch als von ihnen selbst verursacht reflektieren. Fehler im respektvollen Umgang lassen sich grundsätzlich nicht durch das Sach­ interesse legitimieren. Man kann das zwar alles dennoch so machen. Und viele Unternehmen unterscheiden sich von den schlechten politischen Beispielen in keiner Weise. Nur muß man verstehen, was dabei abläuft und was es bewirkt. Das erkennbare Interesse oder Desinteresse für die Rolle und Person des ande­ ren hat eine die Beziehung selbst und damit auch die Sache beeinflussende Wir­ kung. Vielleicht ist es doch wert, darüber nachzudenken, ob man den Sachgehalt dessen, für den man eintritt, nicht auf eine beziehungsschonendere, respektvollere und deshalb auch sachlich wirksamere Weise erreichen kann. Die Sache und die Beziehung stehen nicht von vornherein zwangsläufig in einem unauflösbaren Zielkonflikt. Im Gegenteil: Je besser und vertrauensvoller eine Beziehung ist, um so eher lassen sich auch schwierige Meinungsunterschiede oder Sachkonflikte lösen. Eine weitverbreitete Variante der Vermischung von sachlicher und emotionaler Ebene in der Beziehung besteht schließlich darin, daß ausgehende, nicht mehr vorhandene Sachargumente nun zu einem gezielten Mißgriff in das Verächtlich­ machen der Person des anderen verfuhren. Hier ertönt dann zu Recht die schieds­ richterliche Mahnung, man möge doch sachlich bleiben. Ein solches ausschließ­ lich die Beziehung mißachtende Verhaltensweise ist nun unzweifelhaft und für 703 Rita Mohr: „Die gebändigte Quasselbude - Tricks und Tips für die Konferenz und ihre Moderato­ ren“ (Meetings leicht gemacht/Teil II) - Süddeutsche Zeitung Nr. 297 vom 27.12.1997, S. 35 704 Reinhard Blomert in der Besprechung des Buches von Thomas Knipp: „Der Machtkampf* Süddeutsche Zeitung Nr. 117 vom 23./24.05.1998, S. 30 705 Hajo Bentzien, Overath bei Köln: „Wer hört die Signale?“ - SZ-Management - Süddeutsche

Zeitung Nr. 294 vom 20.12.1999, S. 24 706 „Eitelkeit ist ein schlechter Ratgeber“ - so VW-Chef Ferdinand Piech in dem SZ-Interview Süddeutsche Zeitung Nr. 283 vom 07.12.1999, S. 26

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jeden ersichtlich das genaue Gegenteil von menschlichem Respekt und persönli­ cher Wertschätzung. Es ist die bewußte, existentielle Bedrohung des Partners, der diese Bezeichnung ehrlicherweise schon längst nicht mehr rechtfertigt. Sie zielt unmittelbar auf das menschliche Bedürfnis nach Beachtung, damit letztlich auch nach „Selbstachtung“ oder der Erhaltung eines „Selbstwertgefühls“, die zu re­ spektieren sind,707 weil es für jedes Individuum nicht nur positive Gefühle aus­ löst, sondern als Lebewesen existentielle Bedeutung hat. So zeigt sich, daß bei allem ökonomischen Egoismus und sachlicher Rationalität die Beziehung dann in schweres Fahrwasser gerät, wenn gleichzeitig die soziale Anerkennung berührt wird.708 Die in dem eigenen Verhalten zum Ausdruck kommende Einstellung zum ande­ ren - wenn man schon ein Bild vom anderen hat, ohne überhaupt richtig zu ihm hinzusehen - und das Menschenbild im allgemeinen ebenso wie in der speziellen Beziehung entscheiden darüber, ob dem Bedürfnis des anderen nach Beachtung und Wertschätzung entsprochen wird oder nicht. Ein die Beziehung positiv ge­ staltendes Verhalten erfordert ein Menschenbild, das „an das grundlegend Gute und Wandelbare“ und das „Verlangen nach Überleben und Verbesserung“ im Menschen glaubt.709 Und es erfordert - worauf die Unternehmensberaterin Ger­ trud Höhler richtigerweise hinweist - die Zulassung der Emotionen und Gefühle, schon um den jeweils anderen richtig und vollständig zu erfassen, damit falschen Entscheidungen zu entgehen und nicht nur Verbündete bei denen zu finden, die an dem gleichen Defizit reduzierter emotionaler Intelligenz leiden.710 Sämtliche Überschneidungen der sachlichen und emotionalen Ebenen, die re­ spektlos und aus Unkenntnis oder mangelnder Sensibilität erfolgen, verstärken die Beziehungsstörung insgesamt und führen damit auch nicht zur Beseitigung der Störung als Lösung.711 Sie führen im Wiederholungsfall zu einer unterschied­ lich vermittelten „Wert“-schätzung nicht im konkreten Geschäft, sondern in der gesamten Partnerbeziehung. Umgekehrt entscheidet der Grad der Übereinstimmung als Ergebnis gelungener Kommunikationsprozesse über die erreichten Identifikationen und dabei nicht zuletzt auch über die Ausprägung einfacher menschlicher Sympathie. Dabei führt - wie wir oben schon gesehen haben - die wertschätzende, den Partner beachten­ de Einbeziehung allein schon oft zu einer Zufriedenheit, daß selbst ein in der 707 Vgl. Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 97; vgl. hierzu auch den Arzt und Psychotherapeu­

ten Wolf Büntig - Beitrag in dem Programmheft des Zentrums für individuelle und soziale Therapie (ZIST) - Penzberg, Dezember 1993 708 Wilhelm Vossenkuhl, Universität München, anl. der internationalen Tagung der „Gesellschaft für Analytische Philosophie“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 215 vom 18.09.1997, S. 46 709 Edgar H. Schein, S. 301 710 Gertrud Höhler: „Wider die emotionale Magersucht“ - Personalfuhrung 2/1998, S. 12 ff. (13) 711 Eingehend mit vielen Beispielen dazu Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 198 ff.

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Sache nicht herstellbarer Konsens leicht dadurch ersetzt werden kann.712 Die in einer offenen Beziehung zum Ausdruck kommende Beachtung stabilisiert den anderen, macht ihn insoweit frei und gleichzeitig auch souverän. Sie öffnet die Bereitschaft zum Austausch, zum Kompromiß in der Sache, ja sogar zur Akzep­ tanz eines ganz anderen Ergebnisses.

Interessen Vielfalt der Stakeholder Was nun die persönlichen Beziehungen und die Kontakte zu den Menschen an­ geht, sollte sich ein Unternehmen zunächst eingehend Gedanken über seine spe­ ziellen Partner, mit denen es regelmäßig in Beziehung steht, und damit über die vielfältige personelle Zielrichtung seiner Werteorientierungen machen. Denn was für ein Unternehmen wünschenswert ist und welche Erwartungen es erfüllen soll, kann aus der Sicht verschiedener Beteiligter sehr differieren.713 Zu den Partnern eines Unternehmens gehören typischerweise nicht nur Eigen­ tümer oder „shareholder“, sondern auch weitere „stakeholder“, die sich nach Rolle und Beziehungszweck unterscheiden. Es sind regelmäßig und in erster Linie die Kunden - hierfür gibt es schon die richtungsweisende Kennzeichnung „Kundenorientierung“ -, sodann die Lieferanten,714 Banken, Versicherer, nicht zuletzt aber auch die eigenen Führungskräfte und Mitarbeiter - verbal herausge­ stellt als „Mitarbeiterorientierung“ die in unterschiedlicher Weise an den Er­ gebnissen des Unternehmens partizipieren. Da jedes Unternehmen darüber hinaus je nach Art und Geschäftszweck inhaltlich speziell geprägte Geschäftsbeziehun­ gen hat, ist es unvermeidlich, bei der eigenen Orientierung auch nach diesen zu unterscheiden. So wie das spezifische Werteprofil der einzelnen Partner ihr Den­ ken und Verhalten bestimmt, treten sie gegenüber dem Unternehmen auf, auch wenn sie allein zur materiellen Sicherung ihrer eigenen Existenz in vielerlei Be­ ziehung immer auch von dem sozialen Gesamtgefüge abhängig sind. Ihre Interessenvielfalt bedeutet für jedes Unternehmen, das ihr gerecht werden soll, je nach Zahl der einbezogenen Partner ein „magisches Dreieck oder Vier-

712 So ein Ergebnis des Erfahrungsaustauschs, der im März 1996 verschiedene Disziplinen aus Theo­ rie und Praxis auf Einladung des Fachbereichs Psychologie der Universität Koblenz-Landau (Prof. Gerhard Blickle) und des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik (DNWE) zusammen führte - vgl. den Bericht: „Verantwortung statt Untemehmensethik?“ - Personalfuhrung 6/1996, S. 539 713 Vgl. dazu auch Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 65 ff. und Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es

allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 255 vom 06.11.2000, S. 26 714 Vgl. zur zunehmenden Gefährdung der Zuliefererautonomie in der weltweiten Entwicklung bei­ spielsweise Helmut Laumer, Vorsitzender des Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreises in Bayern: „Shareholder versus Stakeholder?“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 14 ff. (16)

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eck“715, was sich immer wieder aktuell konkretisiert, wenn es mindestens einmal jährlich mit dem Geschäftsabschluß im Sinne eines ausgewogenen Stakeholder­ managements auf einen Termin hin zu synchronisieren ist. Denn daß die Konzen­ tration auf den Shareholder Value allein zu kurz greift, haben wir oben schon gesehen. Der Erfinder des Begriffes vom „Shareholder-Value“ selbst, der Ameri­ kaner Alfred Rappaport, hat betont: „Wer den Eigentümerwert wirklich steigern will, braucht motivierte und gut bezahlte Mitarbeiter, zufriedene Kunden und Lieferanten sowie Kreditgeber, die an den Erfolg glauben. Man kann den Unter­ nehmenswert nicht maximieren, ohne gleichzeitig im Sinne der übrigen Gruppen zu handeln.“716 Ebenso vertrat der Vorstandssprecher der Dresdner Bank gegen­ über seinen Aktionären zwar klar das Ziel, einen Mehrwert für sie zu schaffen. Er machte aber auch den Vorbehalt, daß dieses nur erreichbar sei, wenn die drei anderen Ziele der Kundenzufriedenheit, der Mitarbeitermotivation und ein Bei­ trag zur positiven Entwicklung des gesellschaftlichen Umfeldes gleichzeitig er­ füllt würden.717 Was für die sachlichen Ziele zutrifft gilt, auch für die Gestaltung der Beziehun­ gen. Man kann nicht der einen Partnerrolle gegenüber ganz anders auftreten als gegenüber allen anderen. Es gibt hierbei so etwas wie eine rollenübergreifende Glaubwürdigkeit, die auch eine Frage des Charakters und damit der Persönlich­ keit des Unternehmens ist. Nicht selten handelt es sich bei den verschiedenen Rollenträgem um dieselben Menschen, die einmal als Kunde, dann wieder als Mitarbeiter und zunehmend als Aktionär in einer Person auftreten. Immer häufi­ ger wird ein Unternehmen auch in der Zukunft im weltweiten Wettbewerb und 715 Vgl. auch Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süd­

deutsche Zeitung Nr. 255 vom 06.11.2000, S. 26 716 Alfred Rappaport in seinem 1986 erschienenen Buch (2. Auflage und Neuauflage: „Shareholder Value“ - Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart 1999) über das Konzept des ‘Shareholder value* - hier zit. nach Mario Müller: „Gentlemen bitten zur Kasse“ - DIE ZEIT Nr. 16/1996 vom 12.04.1996; vgl. außerdem Torsten Riecke, „Auf der Suche nach einem neuen Leitbild - Unternehmer zwischen der Pflege des Shareholder value und sozialer Verantwortung“ - Handelsblatt v. 17.04.1996; der deutsche Bundespräsident Herzog regte als deutsche Antwort auf diese Diskussion an: „Nicht nur anonyme Aktionäre, sondern auch persönlich motivierende, integrierende Mitarbeiter - Marktwirtschaft“ Frankfurter Rundschau vom 22.06.1996; Roland Berger in SZ-Interview: „Shareholder value begün­ stigt nicht nur Aktionäre“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 133 vom 12.07.1996.; Reinhard Mohn: „Wer den Vermögenswert der Anteilseigner maximieren will, hält Kapital ftir den wichtigsten Produktions­ faktor. Schon längst ist der wichtigste Faktor aber die Führung - die Führung von Menschen und komplexen Systemen.“ - Wirtschaftswoche Nr. 25 vom 13.06.1996, S. 65; „Das Konzept des Share­ holder-Value braucht einen deutschen Anstrich“ - DIE WELT vom 01.03.1997, S. 23: „Seit Mitte des letzten Jahres fordern auch amerikanische Politiker, Gewerkschaften und einige Großaktionäre, bei der Verfolgung des Shareholder-Value-Konzepts nicht die Interessen der Mitarbeiter, der Standortge­ meinden oder des Umweltschutzes zu vernachlässigen“; Nestle'-Präsident Helmut Maucher in „Big is beautiful“ - Ein ZEIT-Gespräch mit Dietmar H. Lamparter und Fritz Vorholz - DIE ZEIT vom 09.07.1898 717 Bericht: „Dresdner will magischem Viereck gerecht werden“ - Börsenzeitung vom 16.05.1998

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Beziehungsgeflecht selbst gleichzeitig Lieferant, Partner und Wettbewerber einer anderen Firma sein. Das gilt um so mehr für den Fall, daß Veränderungen in einem derart „atmenden Unternehmen“ in Richtung geringerer Fertigungstiefe und vernetzter Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen zu mehr Fluktuation fuhren, die Mitarbeiter sich also nicht mehr nur als solche mit „ihrer Firma“ iden­ tifizieren,718 weil sie statt dessen nun als deren Geschäftspartner oder Kunden auftreten. Das alles hat zur Folge, daß die Maßstäbe der jeweiligen Rollenerwartung auch aus den Erfahrungen der jeweils anderen Rollen mitgeprägt werden, so daß im Geschäftsleben allgemein anerkannte Werte wie Fairness, Verantwortung und Vertragstreue als übergeordnete Richtgrößen allen gegenüber in gleicher Weise gelebt werden müssen.719 Nur so läßt sich auch vermeiden, daß überhaupt erst ein Konflikt entsteht zwischen Ökonomie und Moral.720 Eine andere Frage ist es, in welcher Reihenfolge eine insoweit einheitliche Werte- und Kommunikationsbasis jeweils zu erfüllen ist, so daß sich im allseitigen Verständnis aus ihrem funktiona­ len Zusammenwirken stets auch eine sinnvolle Prozeßkette ergibt. Sinnvoll und notwendig ist jedenfalls stets eine ausgewogene Betrachtung aller Beziehungen, weil sowohl die Interessen der Zielgruppen selbst sich überlagern, als auch die Prozesse von der Erstellung bis Abnahme von Produkten und Leistungen inei­ nandergreifen, und nur ihre gleichzeitig Berücksichtigung die Voraussetzungen für den Erfolg schafft. Partnerorientierung erfordert nicht nur ein diese verschiedenen Beziehungen umfassendes Verständnis, sondern auch ein sie ausbalancierendes Management. Ein solches , Stakeholdermanagement*721 auch formal einzurichten und zur primä­ ren Drehscheibe aller Außenwirkungen zu machen ist heute eine der entscheiden­ den Führungsaufgaben und -leistungen überhaupt. Es gibt deshalb beispielsweise 718

Delphi-Studie: Befragung von mehr als 2000 Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwal­ tung im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung durch das Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung in Karlsruhe (ISI) - IT.Services. 8-9/1998, S. 16 ff. (17) 719 7 Vgl. Josef Wieland - Personalführung 8/1999, S. 18 ff. (19) 720 Vgl. dazu auch Volker Wörl: „Gut und Böse als Managementprobleme in Deutschland und Ame­ rika“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.2001, S. 24 in seiner Besprechung der weiterführen­ den Dissertation von Bettina Palazzo: „Interkulturelle Untemehmensethik: Deutsche und amerikani­ sche Modelle im Vergleich“ - Gabler Edition Wissenschaft im Deutschen Universitätsverlag 721 Der Arbeitswirtschaftler Hans-Jörg Bullinger, Fraunhofer Institut Arbeitswirtschaft und Organisa­ tion (IAO) spricht von der „integrierten Unternehmensfuhrung“ bzw. einem „Kongruenzmanagement“ - Bericht über ein Symposium „Leadership - Führen in eine neue Zeit“ vom November 1999 - Perso­ nalfuhrung 1/2000, S. 11; vgl. auch zur „ganzheitlichen Betrachtung“ und für ein „Gleichgewicht“ Reiner Chrobok, Leiter der Gesellschaft für Organisation (GftirO) e.V., Bonn: „UE=OE+PE+CO Von der Organisations- zur Untemehmensentwicklung“ - Personalführung 10/1999, S. 12 ff. (13) sowie Martin-Niels Däfler: „Die Kunst, es allen recht zu machen“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 255, 06.11.2000, S. 26, der von „Interessengruppen- oder Zufriedenheitsmanagem“ spricht.

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auch kaum mehr gewichtige Gründe, dem Zusammenwachsen interner und exter­ ner Rechnungslegung gegenüber Widerstand zu leisten.722

Vielfalt der Kulturkreise Wenn wir oben im Zusammenhang mit der Globalisierung als einer alles bestim­ menden neuen Dimension darauf hingewiesen haben, welche Faktoren inzwi­ schen weltweit mobil und damit standortunabhängig geworden sind, dann bleiben demgegenüber auch einige übrig, die noch auf längere Sicht immobil bleiben, die sich jedenfalls nicht mit Sofortwirkung wie beispielsweise Informationen oder Kapital von einer Stelle des Globus auf eine beliebige andere transferieren lassen. Dazu gehören nicht nur die ohnehin immobilen fossilen Rohstoffe, sondern vor allem die Menschen mit ihren historisch gewachsenen kulturellen Rechts- und Wertesystemen, ihr Denken und Können, ihre Kreativität und ihre Fähigkeiten im Miteinander. Diese alle bilden bis auf weiteres Standortfaktoren, die zunächst weiterhin auch im traditionellen Wettbewerb der Regionen stehen und sich allen­ falls allmählich über zunehmende Kontakte, Vernetzungen und auch eine aktive Politik verändern. In diesem Sinne wird eine regional gewachsene Kultur de facto zunächst immer die „Leitkultur“723 für die dort lebenden Menschen sein, auch wenn sie nicht zwanghaft zum Hindernis für kulturelle Weiterentwicklungen in der Zukunft erhoben wird und sich auch tatsächlich immer weiter verändert. Die Interessen und Erwartungen, Lebensziele und Werte sind - wie wir oben bei der „Hierarchie der Gemeinschaften“ schon gesehen haben - besonders dann nicht von vornherein deckungsgleich, wenn die Menschen einem anderen oder gleichzeitig auch nur dem übergeordneten Kultur- oder Sprachkreis angehören. Deshalb bedürfen die Regionen besonderer Beachtung und Pflege. Zwar sind auch zwischen diesen unterschiedlichen Kulturen viele Gemeinsamkeiten zu ent­ decken. Man kann weltweit ohne weiteres davon ausgehen, daß es viele Merkma­ le nicht nur in einer Kultur gibt, sondern diese auch in anderen Kulturen zu finden sind.724 Dafür sprechen auch die Befragungsergebnisse des internationalen Beratungsuntemehmens Gemini Consulting bei über 10 000 Mitarbeitern in 13 Län­ dern, bei denen in allen vier untersuchten Regionen - USA, Europa, Rußland und 722

In diesem Sinne ausdrücklich Jürgen Weber, Professor an der Wissenschaftlichen Hochschule ftir Untemehmensfuhrung in Vallendar - zitiert nach Hans Eschbach: „Das Ende der Machtspielchen“ Handelsblatt/Karriere vom 1 l./l2.02.2000, S. K 1 723 Vgl. so zu der aktuellen Diskussion in Deutschland Wolf Lepenies: „Kultur statt Politik“ - Süd­ deutsche Zeitung Nr. 249 vom 28./29.10.2000, S. 4 724 Lung Yingtai, Schriftstellerin und Sinologin: „Erben alter Hochkulturen - Die »asiatischen Werte* - gibt es sie?“ - DER SPIEGEL 24/1999, S. 148; vgl. dazu auch Lutz W. Richter: „Internationale Untemehmensethik“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1997

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Japan - ungeachtet der kulturellen Unterschiede fünf Kriterien an vorderster Stelle rangieren: Der Einklang von Privat- und Berufsleben, die Freude an der Arbeit, Zukunftssicherheit, gutes Einkommen sowie angenehme Kollegen.725 Im Hinblick auf die Unterschiede sind jedoch Zielkonflikte zu managen und glaub­ würdig zu vertreten. Vom Vorgehen unterscheidet sich das nicht grundsätzlich von dem, was gegenüber den verschiedenen Stakeholdem zu beachten ist. Es gibt gerade in dem Bereich der interkulturellen Kompetenz inzwischen eine stark steigende Nachfrage, dem schnell ein Angebot folgt, das noch sehr auf Selbstüberschätzungen beruht. So neigen gerade in der Wirtschaft eher amerika­ nische Unternehmen, obwohl sie sich - wie auch oben bereits festgestellt - schon früher als die Europäer mit „Interkulturellen Trainings“ befaßten,726 dazu, aus der eigenen Sicht und Vorstellungswelt alle ihre in den verschiedensten Ländern täti­ gen Einheiten zentralistisch auszurichten und nicht primär nach der Wertewelt der dort lebenden Menschen.727 Auch der der englische Historiker John Gray spricht von dem Versuch Amerikas, sein Modell der übrigen Welt aufzudrängen, und in gewisser Weise sei das auch schon gelungen.728 Hier wiederholt sich ein Problem im praktischen Vorgehen, das wir schon bei der Aufstellung von untemehmensweiten Wertekatalogen und dem Irrglauben an die Wirkung ihrer einseitigen Propagierung kritisch erörtert haben. Denn die Nachfrage nach diesem impera­ tiven Typus von interkultureller Kompetenz ist in Wahrheit wieder sehr gering. Bei dem weltweit größten Einzelhandelsuntemehmen Wal-Mart ist es berühmt und üblich, daß die Mitarbeiter am Morgen unter rhythmischem Klatschen einen gemeinsamen „Wal-Mart-Schrei“ ausstoßen, um sich den „Kick für den Arbeits­ 725 Vgl. den Bericht: „Hohe Unzufriedenheit am Arbeitsplatz“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 228 vom

02.10.1998, S. 24 726 Jeannette Goddar: „Japanische Fettnäpfchen erkennen - Geschäftsbeziehungen scheitern häufig an kulturellen Unterschieden: Interkulturelle Trainings helfen, sich in der globalisierten Arbeitswelt zurecht zu finden - nützlich sind sie nur, wenn sie auf KlischeeVorstellungen verzichten“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 291 vom 16.12.1999 (Beilage Unterricht & Weiterbildung); vgl. auch Gudrun Schulz: „Qualifizierung ohne Grenzen? Trainings werden international“ - Personalfuhrung 5/2000, S. 52 ff.; Ruth Kuntz-Brunner: „Auf den richtigen Tonfall kommt es an - Crosscultural-Training ergänzt die Sprachkurse für Top-Manager“ - Handelsblatt/Karriere vom 01./02.12.2000, S. K8 727 So hat das Unternehmen IBM elf Leadership-Kompetenzen als Anforderungsprofil für ihre Füh­ rungskräfte als weltweit einheitliches Konzept und als Beurteilungsgrundlage entwickelt - vgl. den Bericht von Klaus Doerr: „Personalfuhrung im Zeitalter der Globalisierung“ - Personalftihrung 8/1999, S. 61 ff. (62); kritisch insoweit auch Thomas Aleweld u. Carsten Hölscher: „Aktienoptions­ pläne bei unterschiedlichen Untemehmensstrategien“ - PERSONAL 5/1999, S. 228 ff.; kritisch am Beispiel der „Vergütungsexzesse nach amerikanischer Art“ auch Jochen Brandhoff: „Anreizkompati­ ble Stock Option-Pläne“ - PERSONAL 5/1999, S. 222 ff. (225); Christian Scholz, Universität des Saarlandes in dem Interview: „Wissen über die Landeskultur ist ein Erfolgsfaktor“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 6 ff. sieht hierin den Stil von „Kulturkolonialisten“, der für die nicht selten faszinierten „Übernehmer“ jedoch zum Verlust der eigenen, erfolgreichen Identität fuhrt. 728 John Gray - Interview: „Die Katastrophe ist der Alltag“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 36 vom 13.02.2001, S. 11

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tag“ zu holen. Bei den Mitarbeitern in den deutschen Filialen scheint das jedoch weniger anzukommen, so daß die Leitung, die nach eigener Bekundung „auf Respekt vor jedem einzelnen Arbeitnehmer“ Wert legt, die Zeremonie gleichwohl nicht beendet, sondern auf einmal im Monat reduziert hat. Zweifel an der aufrich­ tigen Mitarbeiterorientierung sind auch angebracht, wenn der Leiter gleichzeitig zum Ausdruck bringt: „Die tägliche Versammlung mit Cheer ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Motivation“.729 Da haben wir es also! Es geht nur um ihn selbst. Gleichzeitig nennt man diese Mitarbeiter nicht mehr „Angestellte“, was sie ja ehrlicherweise sind, sondern „Associates“, also Partner, was sie bei solchen Ritualen keinesfalls sind und allein durch ein solches Etikett auch nicht werden. Es gibt zu diesem, typisch amerikanischen Unternehmens-Denken eine Ent­ sprechung in der Politik: Auch bei den Bemühungen um die Durchsetzung der Menschenrechte oder der Sozialstandards der Internationalen Arbeitsorganisation als besondere potentielle Konfliktbereiche730 neigen die Amerikaner und auch amerikanische Unternehmen eher dazu, vor dem Hintergrund und zur Durchset­ zung ihrer eigenen Wertewelt Sanktionen zu ergreifen, als sich unter Respektie­ rung der dort jeweils geltenden Verhältnisse aktiv und einvernehmlich um Lö­ sungen zu bemühen. Diese politische Haltung zeigt aber auch immer wieder, wie sehr die USA schon durch den Versuch isoliert sind, aufgrund ihres dominanten Selbstverständnisses sich als mächtig und rechtschaffen zu brüsten und aller Welt die Allgemeingültigkeit amerikanischer Prinzipien, Verhaltensweisen und Institu­ tionen als etwas zu predigen, das die anderen Völker übernehmen müßten.731 Die Parallelen zu großen Unternehmen, die zu ähnlichen, global vereinnahmen­ den Verhaltensweisen und missionarischem Eifer neigen, mag jeder selbst ziehen. So erscheinen zwar die aus amerikanischer Sicht festgestellten acht unternehme­ rischen Erfolgsmerkmale732

• •

729

Primat des Handelns, Nähe zum Kunden,

Vgl. den Bericht von Martin Hammer: „Schreien, bis die Motivation stimmt“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 220 vom 23.09.1999, S. L6 und von Norbert Sturm: „Eine Hauptversammlung als Party Give me a W,A,L,M,A,R,T“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 128 vom 05.06.2000, S. 31; kritisch auch Tanja Baum, Inhaberin der „Agentur für Freundlichkeit“ in Köln - zitiert nach dem Bericht von Stefan Weber: „Mehr Mut zur Freundlichkeit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 43 vom 21.02.2001, S. 24 730 Klaus M. Leisinger, S. 57, 58 nennt hier vor allem alle Diskrimierungen, Kinderarbeit, Gefange­ nenarbeit und Korruption. 731 Samuel P. Huntington: „Wohin die Macht driftet - Weltpolitik an den Bruchlinien der Kulturen ein Szenario ftir das 21. Jahrhundert“ - SZ am Wochenende - Süddeutsche Zeitung Nr. 66 vom 20./21.03.1999, S. I 732 Thomas J. Peters u. Robert H. Waterman, insbes. S. 36 ff.

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Freiraum fur Unternehmertum, Produktivität durch Menschen, sichtbar gelebtes Wertsystem, Bindung an das angestammte Geschäft, einfacher flexibler Aufbau und eine straff-lockere Führung.

wegen ihres hohen Abstraktionsgrades zunächst auch plausibel und sogar interna­ tional nachvollziehbar.733 Denn sie beschreiben naheliegende Selbstverständlich­ keiten, die schon nach der Art ihrer ausfüllungsbedürftigen Formulierung immer irgendwie richtig sind, deren konkrete Ausgestaltungen und Einflußwirkungen aber eben offen gelassen werden. Unklar und deshalb zweifelhaft bleibt vor al­ lem, inwieweit sich hinter diesen anscheinend über alle Kulturen einheitlich gel­ tenden Aspekten nicht letztlich doch sehr unterschiedliche kulturelle Bedingun­ gen verbergen, die unterschiedliche Ausprägungen bedingen, spezielle Akzentu­ ierungen erfordern und damit dementsprechend auch zu höchst unterschiedlichen Handlungskonsequenzen fuhren. Was und wie das dann jeweils konkret ist, bleibt offen. Solche Merkmale sind von daher nur bedingt brauchbar. Wenn es tatsächlich so sein sollte, was auch in vielen Beiträgen anläßlich des 8. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Personalfuhrung 1999 in Wiesbaden zum Ausdruck kam, daß sich so oder ähnlich die Art und Weise der Mitarbeiter­ führung zunehmend im amerikanischen Sinne verändere, weg von der unmittelba­ ren personenbezogenen Führung von Mitarbeitern durch Führungskräfte hin zu einer weltweit einheitlichen „Verhaltenssteuerung ... durch strukturelle Führung“, also wieder „mittels detaillierter Personal- und Führungssysteme“,734 dann kann diesem erneuten Unverständnis von der begrenzten Wirksamkeit von Systemen, dem Widerspruch zur Rolle des einzelnen Menschen in der Wirtschaft und zur Beachtung und zum Respekt vor seiner Persönlichkeit nur die allerschlechteste Prognose zuteil werden. Im übrigen sind diese amerikanischen „Leitlinien“ späte­ stens dann doch ganz falsch, wenn sie sich auch einmal gegen amerikanische Unternehmen selbst richten, wie das im Beispiel von DaimlerChrysler geschah. Hier reagierten die Amerikaner verständlicherweise höchst empfindlich gegen­ über dem Zentralismus aus Stuttgart und fühlten sich sogar in ihrem Nationalstolz

Vgl. die Hinweise von Helmut Hagemann und Herbert Henzler im Vorwort zur deutschen 7. Auflage von Thomas J. Peters und Robert H. Waterman, S. 10 und 11 734 Bericht über den 8. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Personalfuhrung 1999 in Wiesbaden Personalfuhrung 8/1999, S. 52 ff. (56); abzulehnen ist auch die Vorstellung, man könne unterschiedli­ che Kulturen (hier am Beispiel von Fusionen) nicht „verschmelzen“, müsse daher „die klare Entschei­ dung für eine der beiden“ treffen. Diese »mechanistischen Machervorstellungen* verkennen überhaupt, wobei es hierbei und in welchem Zeitrahmen geht - vgl. Angela Brunmöhler: „Woran Fusionen scheitern“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 30 vom 07.02.2000, S. 26

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verletzt, als der oberste Chef von Chrysler durch einen Deutschen ersetzt wur­ de.735 An der ebenso stark von den Amerikanern favorisierten Shareholder-Kultur hat sich gezeigt, daß vieles in anderen Kulturkreisen aufgrund anderer Wertvorstel­ lungen ganz anders gesehen werden kann und jedenfalls derzeit auch noch gese­ hen wird. So betont etwa Japan eine stärkere Trennung zwischen Management und Aktionären und damit die Konzentration auf langfristige Untemehmensstrategien statt auf kurzfristige Aktionärsinteressen oder auch ein „humanes Vorge­ hen“ gegenüber den Mitarbeitern statt einer „Hire-and-Fire-Mentalität.“736 Stets sind es die jeweiligen Lebensziele und Werte, welche die Basis der Zielverwirkli­ chungsstrategien abgeben.737 In Deutschland scheinen die Autonomie des Mitarbeiters und damit verbunden auch eine größere und konsequentere Erfolgsbeteiligung die Faktoren zu sein, in denen wir uns derzeit sehr von den Amerikanern unterscheiden.738 Manche mei­ nen sogar, daß Deutsche und Amerikaner in ihrer Mentalität so unterschiedlich seien, wie sie unterschiedlicher nicht sein können: Während die Deutschen als bedächtig und qualitätsorientiert gelten, stehen die Amerikaner eher in dem Ruf, nach vorne zu stürmen und eher auch aufgeschlossen für Neues zu sein.739 Ande­ rerseits gibt es wieder mehr Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Ameri­ kanern als etwa zwischen Deutschen und Franzosen.740 Auch unterscheiden sich 735 Walter Pfaeffle: „Schock in Auburn Hills - Konzem-Chef Schrempp verletzt mit dem Rauswurf

von US-Managern den Nationalstolz“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 264 vom 16.11.2000, S. 25 736 Yasuhiro Nakasone: „Japan wird gesund“ - Standpunkt - DER SPIEGEL 28/1999, S. 148; vgl. dazu auch und ebenso Helmut Laumer, Vorsitzender des Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreises in Bayern: „Shareholder versus Stakeholder?“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 14 ff.; allerdings findet inzwischen auch hier ein Wandel statt - vgl. Helmut Rack: „In neuem Licht - Plötzlich stehen statt der Beschäftigten die Aktionäre im Mittelpunkt. Rendite diktiert das Handeln. Erstmals legen die Unternehmen transparente Bilanzen vor. Das Land wird westlicher - und für Investoren interessanter“ - Manager Magazin 8/1999, S: 100 ff. 737 Vgl. hierzu etwa die Göttinger Vergleichsstudie zu den Lebenszielen deutscher, französischer und amerikanischer Führungskräfte - Bericht von Karin von Bismarck und Sylvia-Maria Schröder: „Ma­ nager als Sinnstifter“ - Personalwirtschaft 7/1997, S. 31 ff. 738 Wolfgang Jäger, Vorsitzender der Geschäftsführung der Oracle Deutschland GmbH, München anläßlich seines Beitrags zur Veranstaltung „Planspiele zur Untemehmenskultur der Hanns-SeidelStiftung in Wildbad Kreuth - vgl. den Bericht von Hans-Herbert Holzamer: „Ideengebäude auf dem Prüfstand“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 71 vom 25./26.03.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 739 Karl-Heinz Büschemann: „Grenzen der Globalisierung“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 264 vom 16.11.2000, S. 4; zu den unterschiedlichen kulturhistorischen Voraussetzungen vgl. auch Volker Wörl: „Gut und Böse als Managementprobleme in Deutschland und Amerika“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.2001, S. 24 in seiner Besprechung der dazu noch weiterführenden Dissertation von Bettina Palazzo: „Interkulturelle Untemehmensethik: Deutsche und amerikanische Modelle im Ver­ gleich“ - Gabler Edition Wissenschaft im Deutschen Universitätsverlag 740 Interview mit dem französischen Kommunikationswissenschaftler Jacques Pateau: „Seltsame Alchemie - Deutsche und französische Manager verstehen sich kaum“ - Manager Magazin 12/1996,

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beispielsweise die Tschechen trotz ihrer geographischen Nähe in ihren Einstel­ lungen zu Strukturen, Hierarchien und organisationalen Regeln fundamental von den Deutschen.741 Von daher gesehen spricht zwar in der Tat einiges dafür, daß die Amerikaner jedenfalls de facto eine gewisse „Vorbildfunktion“ für die Deut­ schen haben und behalten werden, was das Lernen und die Übernahme von Füh­ rungseinstellungen anbetrifft,742 auch wenn dann einzelne Beispiele - wie etwa bei der Opel AG - das Gegenteil zu belegen scheinen.743 Selbst für das geeinte Europa waren die Amerikaner - wie eine Umfrage der London Business School zur Überraschung ihrer Initiatoren Mauri Peiperl und Saul Estrin ergeben hat744 besser vorbereitet als die Europäer selbst. Andererseits sind schon die sozialen und damit die kulturellen Rahmenbedingungen doch sehr verschieden. Sogar zwischen deutschen und britischen Unternehmen gibt es schon signifi­ kante Unterschiede, weil die Briten anders denken und sprechen. Auch die spani­ sche Kultur ist ganz anders als die italienische,745 deutsche oder britische.746 Da­ von wiederum verschieden erfordert das Arbeitsumfeld in Rußland mit seinem S. 268 ff.; vgl. zu Frankreich speziell auch das Buch des Seminardozenten für interkulturelles Mana­ gement und Autor Norbert J. Breuer: „Frankreich für Geschäftsleute“ - Campus Verlag Frankfurt/m. 1996 - besprochen von Christoph Stehr: „Französische Manager schätzen complicite - Handels­ blatt/Karriere Nr. 176 vom 12./13.09.1997, S. K 2; vgl. speziell zum Umgang zwischen Deutschen und Franzosen auch Wolfgang Häg: „Artigkeiten am Telefon - Fehler in der Kommunikation können schnell als Kriegserklärung verstanden werden“ - Handelsblatt/Karriere vom 12./13.01.01, S. K4; zum Verhalten bei Geschäftsessen Wolfgang Häg: „Nicht abbeißen“ - Handelsblatt/Karriere vom 19./20.01.2001, S. K3 sowie ders.: „Auf den ersten Blick nicht kompatibel - Nach der ersten ge­ schäftlichen Begegnung mit Franzosen fragt sich mancher deutsche Manager, ob er die richtigen Kulturfuhrer gelesen hat“ - Handelsblatt/Karriere vom 09./10.02.2001, S. K2 741 Vgl. dazu eingehend Sylvia Scholl-Machl und Ivan Novy‘: „Perfekt geplant oder genial improvi­ siert?“ - Personalfuhrung 5/2000, S. 36 ff.; diess. unter dem gleichen Titel - Rainer Hampp Verlag München und Mering 2000 742 Göttinger Vergleichsstudie zu den Lebenszielen deutscher, französischer und amerikanischer Führungskräfte - Bericht von Karin von Bismarck und Sylvia-Maria Schröder: „Manager als Sinnstif­ ter“ - Personalwirtschaft 7/1997, S. 31 ff. (35) 743 Stefan Menzel: „Alle Jahre wieder“ - Handelsblatt Nr. 14 vom 19./20.01.2001, S. 14 zu den Problemen mit dem selbstherrlichen und kritikunfähigen Führungsstil des amerikanischen Vorstands­ vorsitzenden Robert Hendry. 744 „Studie zur interkulturellen Kompetenz von Topmanagem - Herausforderung Europa“ - Handels­ blatt/Karriere Nr. 235 vom 04./05.12.1998, S. K 2 745 Vgl. hierzu speziell die Studie des Instituts für Romanische Sprachen der Wirtschaftsuniversität Wien im Auftrag der Europäischen Akademie Bozen in dem Bericht von Hans-Herbert Holzamer: „Noch immer regiert das Klischee - Wie deutsche und italienische Manager einander wahmehmen und wie unterschiedlich sie Geschäfte machen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 167 vom 22./23.07.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 746 Christian Scholz, Universität des Saarlandes in dem Interview: „Wissen über die Landeskultur ist ein Erfolgsfaktor“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 6 ff.; ebenso der Allianz-Chef Henning SchulteNoelle in dem Interview: „Die nächste Fusionsphase bei den Banken kommt europaweit“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 146 vom 28.06.2000, S. 27

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noch unterentwickelten Managementwissen, seinem hohen Bildungsstand, aber traditionellen Verhaltensmustem noch vor Kenntnissen und Erfahrungen eine reife Persönlichkeit mit Kulturbewußtsein, Lemoffenheit, Geduld und Tole­ ranz.747 Insgesamt gesehen empfindet ein griechischer, italienischer oder franzö­ sischer Manager - so glaubt die französische Managementberaterin und Coach in Deutschland und Asien Dana Schuppert zu wissen748 - einen deutschen als kalt, „denn sie sind einfach warmherziger“. Wenn sich Unternehmen international wirklich werteorientiert verhalten wollen („Corporate Behaviour“), dann geht das nicht ohne Bedacht darauf zu nehmen, inwieweit weltweit verschiedene Kulturkreise auch für das Wirtschaften ein ganz unterschiedliches Umfeld geschaffen haben, in dem die Menschen tatsächlich denken und fühlen.749 „Ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit gesellschaftlicher Werteorientierungen und individueller Wünsche und Bedürfnisse lassen sich weder neue Märkte für die eigenen Produkte gewinnen noch die Mitarbeiter übernommener Unternehmen dafür, auch unterm Dach des neuen Firmenkon­ strukts ihr Bestes zu geben.“750 Es kann nicht das Anliegen sein, die Kulturen in anderen Regionen primär im Sinne des eigenen, selbst definierten Untemehmensinteresses und -Verständnisses angleichen oder überhaupt verändern zu wollen, sondern sich vielmehr - wie Siemens-Chef Heinrich von Pierer gesagt hat751 - „in allen Ländern als konstruktiver Teil der Gesellschaft (zu) verhalten“. Denn Be­

Zu diesem Ergebnis kommt die Personalvermittlungsagentur Amrop International nach einer Befragung von 35 Geschäftsführern multinationaler Konzerne aus den USA und Europa - Personal­ führung 12/1999, S. 10; ebenso Agnus Cassens, Vorstand der Deutschen Shell AG, hin: „Discover the Value of Differences!“ - Editorial in Personalfuhrung 5/1999, S. 1 748 Karriere-Gespräch mit Dr. Dana Schuppert über Führung und Werte im Management: „Es muß bei Managern ein moralisches Koordinatensystem geben“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 102 vom 29730.05.1998, S. Kl 749 Agnus Cassens, Vorstand der Deutschen Shell AG, hin: „Discover the Value of Differences!“ Editorial in Personalfuhrung 5/1999, S. 1; ebenso Christian H. Molsen - Rütgers AG: „Global handeln und provinziell denken?“ - Editorial - Personalfuhrung 11/1998, S. 1; vgl. dazu auch Stephanie Schmidt: „Kostspielige Mißverständnisse - Wer die kulturellen Eigenarten seiner ausländischen Geschäftspartner nicht kennt, kann folgenschwere Fehler machen“ und das Interview mit dem briti­ schen Gründer eines entsprechenden internationalen Beratungsuntemehmens, Richard Lewis: „Oft interessiert man sich erst für die Kultur eines anderen, wenn es schon zu spät ist“ - beides in Süddeut­ sche Zeitung Nr. 138 vom 16./17.06.2000, S. Vl/1; ein gutes Beispiel hierfür ist auch der Niederlän­ dische Aegon Versicherungskonzem mit seinem Vorsitzenden Kees Storm - vgl. den Bericht von Susanne Bergius: „Nicht alle über einen Kamm - Der Aegon-Konzem akzeptiert die nationalen Eigenheiten seiner internationalen Mitarbeiter und nimmt dafür auch Nachteile in Kauf* - Handels­ blatt/Karriere vom 12./13.01.01, S. K4 750 So auch ein Ergebnis des Kongresses der Heinz Goldmann Foundation und der CSC Ploenke Untemehmensberatung am 03704.03.2001 in Wiesbaden - vgl. den Bericht von Dagmar Deckstein: „Vom Verwalter zum Sinastifter“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 53 vom 05.03.2001, S. 24 751 Interview Joachim Dorfs mit Heinrich von Pierer: „Wir müssen uns überall konstruktiv verhalten Handelsblatt Nr. 19 vom 26727.01.2001, S. 13

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vormundung und Dominanz machen Angst, nicht kooperativ.752 Der hierin zum Ausdruck kommende Mangel an Respekt vor dem anderen schafft zudem Miß­ trauen mit der Folge, daß sich die Menschen fremd bleiben, die doch zusammen arbeiten und erfolgreich miteinander wirken sollen.753 Ein vernünftiges Ziel ist es vielmehr, die tatsächlich vorhandenen und wirkenden kulturellen Unterschiede für den gemeinsamen Erfolg fruchtbar zu machen.754 Es ist dieses eine Heraus­ forderung nicht nur zwischen Unternehmen in verschiedenen Ländern, sondern zeigt sich als konkretes Problem längst auch in den Unternehmen, die heute schon mit einer international zusammengesetzten - also beispielsweise schwerpunktmä­ ßig aus türkischen Arbeitnehmern bestehenden - Belegschaft im Inland arbeiten und diese fuhren müssen.755 Die Problemlösung erfordert sie zu verstehen, zu respektieren und sich positiv partnerschaftlich auf sie einzustellen.756 Der Respekt vor anderen gebietet Zurückhaltung, Gewährenlassen, Nichteinmischung, Ver­ trauen und die Anerkennung anderer Denk- und Verhaltensweisen nicht als besser oder schlechter, nicht als höher- oder minderwertig, sondern schlicht als andersar­ tig. Das allein ermöglicht ein als wertschätzend erlebtes, gedeihliches Miteinan­ der, für gemeinsame Strategien und Vorgehensweisen.

752 Ähnlich Uwe Böning, Topmanagementberater und geschäftsfuhrender Gesellschafter von Böning Consult, Frankfurt, zum Stichwort „Interkulturelle Kompetenz“ - Handelsblatt vom 28./29.01.2000, S.K2 753 Karl-Heinz Büschemann: „Grenzen der Globalisierung“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 264 vom 16.11.2000, S. 4 754 Michael Müller, Personalleiter DaimlerChrysler Aerospace Airbus GmbH, Toulouse - zit. nach Klaus Doerr: „Personalfuhrung im Zeitalter der Globalisierung“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 61 ff. (64) Vgl. dazu Anne Dietrich, Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Türkei­ studien e.V., Essen: „Interkulturelle Konflikte am Arbeitsplatz - Führungskräfte der Wirtschaft sind unzureichend auf den Umgang mit zunehmend internationalen Belegschaften vorbereitet“ - Personal­ fuhrung 5/2000, S. 26 ff. 756 Rajan R. Malaviya, Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Politikberatung, Frankfurt/Neu Delhi - Personalfuhrung 8/1995, S. 630; Klaus M. Leisinger, S. 173, 174; der bisherige Chef des amerikanischen Teils von DaimlerChrysler lobte in seiner Abschiedsrede die inzwischen eingetrete­ nen Synergieeffekte, das perfekte Team von deutschen und amerikanischen Managern, sagte aber auch, daß es niemals eine einheitliche Kultur geben werde - Süddeutsche Zeitung Nr. 22 vom 28.01.2000, S. 28; vgl. zur Unterstützung der Wissensvermittlung z. B. Claudia Wessel: „Der hartnäkkige Herr Wang - Wie Siemens-Manager lernen, mit chinesischen Geschäftspartnern zu verhandeln“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 84 vom 10.04.2000, S. L2 und die ebenfalls bei Siemens entwickelten und eingeführten Bausteine „Online Benimm- und Business Informationen, die zusammen mit dem Poly­ glott Verlag erarbeitete Trainingseinheit „Siemens Qualifizierung und Training (SQT)“ und den Online Knigge „Global Visitor“ - Personal Führung 10/1999, S. 6; im Ergebnis so auch Bettina Palaz­ zo: „Interkulturelle Untemehmensethik: Deutsche und amerikanische Modelle im Vergleich“ - Gabler Edition Wissenschaft im Deutschen Universitätsverlag, zit. in der Besprechung von Volker Wörl: „Gut und Böse als Managementprobleme in Deutschland und Amerika“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 12 vom 16.01.2001, S. 24

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Die festgestellten Unterschiede fordern dazu heraus, sich für die jeweils aktuel­ len und konkreten Profile der Kulturen und dort geltenden Wertmaßstäbe zu in­ teressieren. Interessant und hilfreich dabei - weil aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen präzise und valide ermittelt - sind die von dem Niederländer Geert Hofstede aufgezeigten „Dimensionen nationaler Kulturen“ oder „universel­ len Werte“.757 Hiernach lassen sich typische Unterschiede in den jeweiligen Na­ tionalkulturen nach den folgenden, freilich stets noch ausfüllungsbedürftigen Kriterien ermitteln, so daß an ihnen die eigene Verhaltensorientierung entlang geführt werden kann:



Zeitorientierung: Wieviel Zeit wird benötigt, eine Beziehung aufzubauen? Hier geht es auch um das „Gefühl von Unmittelbarkeit“ in einer Kultur, wo­ bei Asiaten beispielsweise eine größere Energie für die ganze Beziehung, nicht nur für einen konkreten Vertrag aufwenden und damit auch eine länge­ re Zeitorientierung haben als die westlichen Kulturen, in denen man , schnel­ ler zur Sache kommt*. Während beispielsweise die Deutschen und Schweizer als besonders zcitbewußt und pünktlich gelten, haben auch die Afrikaner da­ zu ein ganz anderes Verhältnis.758



Abneigung gegen Unsicherheit:759 Welche Rolle und Bedeutung spielt Si­ cherheit und wie geht man damit um? Wo immer man nicht so gut mit Unsi­ cherheit umgehen kann wie in Deutschland, muß alles festgelegt werden. Unsicherheit gilt hier als eine größere Bedrohung als anderswo.760 Sicherheit war geradezu auch in der Politik das „Schlüsselwort“ in der deutschen Nach­ kriegszeit. Dieses Kriterium betrifft hier also die Unterschiede bei der Aus­ räumung von Unsicherheiten, die das Geschäft und seinen Abschluß bela­ sten, die Toleranz gegenüber mangelnder Eindeutigkeit und das Vermeiden von Risiken in einer von dem Soziologen Ulrich Beck gerade als „Weltrisi­

757 Geert Hofstede, S. 15 ff., S. 25 ff. und S. 285 ff. („Interkulturelle Begegnungen“); vgl. unter Bezugnahme auf Hofstede auch Anne Maquin und Dominique Rouzies, Professorinnen für Marketing, HEC Paris: „Kulturelle Grenzen überwinden“ - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 185 vom 24./25.09.1999, S. K4; vgl. zur Anwendung dieser Dimensionen auf Vergütungsstrukturen auch Thomas Aleweld u. Carsten Hölscher: „Aktienoptionspläne bei unterschiedlichen Untemehmensstrategien“ - PERSONAL 5/1999, S. 228 ff. (230); vgl. auch Konsumforscherin Helene Karmasin in dem Interview: „Sehnsucht nach dem Zaubertrank“ - DER SPIEGEL 40/1999, S. 170 ff. 758 Klaus M. Leisinger, S. 171 759 Geert Hofstede, S. 151 ff. 760 So für die Gestaltung von Vergütungssystemen Thomas Aleweld u. Carsten Hölscher: „Aktienop­ tionspläne bei unterschiedlichen Untemehmensstrategien“ - PERSONAL 5/1999, S: 228 ff. (230)

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kogesellschaft“761 bezeichneten Gegenwart, so daß die Bemühungen um die Bedürfnisse und Wünsche des Kunden unterschiedlich ausfallen.



Akzeptieren von ungleicher Macht („Machtdistanz“): Wieviel Ungleichheit wird in der Beziehung erwartet und hingenommen? Hierzu gehören Statusund Hierarchiefragen bei der Herstellung von Kontakten. Wie sehr dominie­ ren Position oder persönliche Leistung?



Maskulin gegenüber feminin:762 Gemeint ist, wie sehr entweder Leistungen und Besitz (maskuline Werte) oder gesellschaftliches Umfeld oder Hilfsbe­ reitschaft anderen gegenüber (feminine Werte) im Vordergrund stehen.



Individualismus gegen Kollektivismus:763 Diese Kriterien beziehen sich auf den Grad der Unabhängigkeit, Freiheit oder Gruppenzugehörigkeit des ein­ zelnen Menschen, dem Schwerpunkt also, aus dem der einzelne Mensch sein Selbstwertgefühl bezieht. So dürfte es für die germanischen und angelsäch­ sisch geprägten Länder wie auch Deutschland interessant sein, daß sie in ei­ ner Matrix mehr dem Quartal aus Individualistisch mit geringer Machtdistanz zuzurechnen sind als romanisch geprägte Länder in Europa - hier größere Machtdistanz - oder gar die Ostasiens und Lateinamerikas mit einem noch stärker ausgeprägtem Kollektivismus.764 Andere rechnen die Deutschen hier vor allem im Vergleich zu den USA - eher noch zu den „kollektiven Ländern“765, was schon zeigt, wie schwierig es ist, Tradition und Historie, laufenden Wandel und Zukunftsperspektiven zu erfassen und nach allen Sei­ ten als unveränderliche Größe für konkretes Planen und planorientiertes Handeln anzusetzen.



Man kann auch noch die Dimension „Prozeß- versus Ergebnisorientierung“ hinzufügen, die etwas darüber aussagt, ob in einem Unternehmen der Prozeß, also die Art und Weise, wie eine Aufgabe erledigt wird, besonders betont wird und wichtig ist oder nur das Ergebnis zählt. Während sich das eine durch Konsistenz, Genauigkeit und Detailorientierung auszeichnet, ist das

761 Beide Zitate von Jürgen Leinemann, Gerd Rosenkranz, Rüdiger Scheidges und Alexander Smoltc-

zy: „Die Hysterie der Anständigen“ - DER SPIEGEL 49/2000, S. 22 762 Geert Hofstede, S. 107 ff. 763 Geert Hofstede, S. 63 ff. 764

Vgl. dazu die Matrix bei Geert Hofstede, S. 71 765 Thomas Aleweld u. Carsten Hölscher: „Aktienoptionspläne bei unterschiedlichen Unternehmens-

Strategien“ - PERSONAL 5/1999, S: 228 ff. (230)

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andere eher spontan und flexibel und betrachtet eher auch Fehler als Mög­ lichkeit, daraus zu lernen.766 Noch immer klafft „eine breite Lücke zwischen dem, was Forscher empirisch bewiesen haben, und dem, was von einem typischen Verkäufer erwartet wird“ und damit auch Gegenstand von „Interkulturellen Trainings“ sein kann.767 Wie eine Studie der Universität Bochum bei 100 Führungskräften gezeigt hat, stehen auch den deutschen Managern noch immer der unbeirrbare Glaube an die Überle­ genheit eigener kultureller Werte und Normen“ im Wege.768 Besonders die schon bei der deutschen Wiedervereinigung als abstoßend erlebte „Besserwisserei“ nervt ausländische Mitarbeiter in höchst negativer Weise.769 Nun gibt es aber keine grundsätzliche Überlegenheit der einen Kultur gegen­ über der anderen. Und es gibt auch keinen wissenschaftlichen Nachweis darüber, daß bestimmte Werte per se zu einem Wirtschaftsboom fuhren, wie das zeitweilig den „asiatischen Werten“, die es als solche, als allen Asiaten gemeinsame oder einheitliche auch nicht gibt, nachgesagt wurde.770 Von daher gilt immer der Grundsatz für beide Seiten, daß die fremde Art genau so viel taugt wie die eigene und diese sogar noch um eine Dimension bereichern kann.771 Andererseits haben nicht alle kulturspezifischen Sitten und Gebräuche „moralische Relevanz“,772 so daß ihre Respektierung normalerweise ohne Konflikte mit den eigenen Werten auch ohne weiteres möglich ist. 766 Vgl. Thomas Aleweld u. Carsten Hölscher: „Aktienoptionspläne bei unterschiedlichen Untemehmensstrategien“ - PERSONAL 5/1999, S. 228 ff. (230) 767 Anne Maquin und Dominique Rouzies, Professorinnen für Marketing, HEC Paris: „Kulturelle Grenzen überwinden“ - Handelsblatt/Karriere und Management Nr. 185 vom 24./25.09.1999, S. K4; unterschiedliche Meinungen von Personalverantwortlichen verschiedener Unternehmen ergaben sich auch für die Durchführung der „interkulturellen Trainings“ bei dem vom Institut für Wirtschaft und Sprachen (IWS) und SIETAR Deutschland e.V. veranstalteten „Interkulturellen Forum China-Japan“ Mitte September 1999 in Hamburg - vgl. den Bericht in Personalfuhrung 11/1999, S. 8; vgl. auch Gudrun Schulz: „Qualifizierung ohne Grenzen? Trainings werden international - Die Organisation und Durchführung grenzüberschreitender Trainings konfrontiert alle Beteiligten mit zahlreichen Schwierigkeiten“ - Personalführung 5/2000, S. 52 ff.; vgl. auch Elisabeth Marx: „Vorsicht Kultur­ schock. So wird Ihr beruflicher Auslandseinsatz zum Erfolg“ - Campus Verlag Frankfurt/M. 2000 und die Besprechung von Stephanie Schmidt - Süddeutsche Zeitung Nr. 22 vom 27./28.01.2001, S. 63 (Bildung und Beruf) 768 Wirtschaftswoche Nr. 46 vom 06.11.1997, S. 208 769

Alexander Busch: „Verdammte Besserwisser“ - Handelsblatt/Karriere vom 02./03.06.2000, S. Kl am Beispiel Brasiliens. 770 Lung Yingtai, Schriftstellerin und Sinologin: „Erben alter Hochkulturen - Die »asiatischen Werte* - gibt es sie?“ - DER SPIEGEL 24/1999, S. 148 771 Wolfgang Häg: „Auf den ersten Blick nicht kompatibel - Nach der ersten geschäftlichen Begeg­ nung mit Franzosen fragt sich mancher deutsche Manager, ob er die richtigen Kulturführer gelesen hat“ - Handelsblatt/Karriere vom 09./10.02.2001, S. K2 772 Klaus M. Leisinger, S. 58

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Es geht grundsätzlich darum, sich mit Respekt auf die fremden Kulturen einzu­ stellen, auch wenn man sich in der Forschung andererseits einig ist, „daß man seine eigene Verhandlungsstrategie nicht völlig verändern sollte, um sich der Kultur des Verhandlungspartners anzupassen.“773 Jedenfalls schon gar nicht ist es damit getan, schnell bestimmte Typisierungen zu erlernen und sich damit nur Klischees anzueignen. Ideal wäre es, wirklich länderspezifische Kompetenzen zu erwerben - am besten in jungen Jahren schon durch Auslandspraktika774 - oder auch einen „Generalschlüssel für interkulturelles Verhalten“ an die Hand zu be­ kommen, wenn man einmal verstanden hat, „wie eine Kultur funktioniert.“775 Als freundlich wird es jedoch allemal empfunden, wenn man seinen Gesprächspart­ ner, seien es Kunden, Mitarbeiter oder Aktionäre in seiner eigenen Muttersprache anreden kann,776 auch wenn derart umfassende Sprachkenntnisse nicht von jedem so ohne weiteres auch erbracht werden können. Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder hat gemeint: „Wer eine Fremdsprache lernt, zieht den Hut vor einer anderen Nation.“777 Das zu tun hat sich beispielsweise der amerikanische Vorstandsvorsitzende der Opel AG, Robert Hendry, mit den entsprechend nach­ teiligen Folgen strikt geweigert.778 Und wenn sich andererseits aus Gründen der internationalen Kommunikation die Verständigung in Englisch empfiehlt und zur weltweiten Gruppenidentifikation auch die Bildung einheitlicher Begriffe,779 so Ebenso auch Christian Scholz, Universität des Saarlandes in dem Interview: „Wissen über die Landeskultur ist ein Erfolgsfaktor“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 6 ff.; auch für Japan gilt beispiels­ weise als wichtigste Regel für Deutsche: Bleib Du selbst! - Manager Magazin 11/1998, S. 333; „Ein Geschäftsmann sollte seine Identität bewahren, die ja eng mit der eigenen Nation verknüpft ist“ Richard Lewis: „Oft interessiert man sich erst ftir die Kultur eines anderen, wenn es schon zu spät ist“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 138 vom 16./17.06.2000, S. Vl/1 774 Kirsten Niemann: „Wen interessiert schon Deutschland - Viele Unternehmen legen großen Wert auf Auslandsaufenthalte - besonders schätzen sie berufsbezogene Praktika“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 240 vom 16./17.10.1999, S. Vl/2 (Bildung und Beruf); als Anlaufstellen und für Informationen bieten sich an die Carl Duisberg Gesellschaft (CDG), Köln, der Deutsche Akademische Austausch­ dienst (DAAD), speziell für Handwerker die Stiftung für wirtschaftliche Entwicklung und berufliche Qualifikation (sequa), das Bundesarbeitsministerium (Internet: www.eurogate2000.de) und natürlich die weltweit tätigen Unternehmen selbst. 775 So die Münchner Professorin für Interkulturelle Kommunikation Juliana Roth - zitiert nach Jean­ nette Goddar: „Japanische Fettnäpfchen erkennen“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 291 vom 16.12.1999 (Beilage Unterricht & Weiterbildung) 776 Michael Seeber, Liftanlagenhersteller aus Südtirol in dem Interview: „So korrekt wie manche

glauben, sind deutsche Unternehmer in Wahrheit nicht“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 167 vom 22./23.07.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf) 777 Zitiert nach „Worte zum Samstag“ - Süddeutsche Zeitung vom 07./08.05.1077 778 Stefan Menzel: „Alle Jahre wieder“ - Handelsblatt Nr. 14 vom 19./20.01.2001, S. 14 779

Steven L. Herman: „Babel wird kommen“ - Wirtschaftswoche Nr. 2 vom 07.01.1999, S: 114; so wurde beispielsweise auf der deutschen Hauptversammlung der Allianz AG am 12.07.2000 in Mün­ chen die englische Bezeichnung Allianz Group für den deutschen Geschäftsbericht moniert, die als einheitlicher, gemeinschaftsbildender Begriff durchaus beibehalten, aber dennoch in der jeweiligen

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können sie dennoch einem breiteren Empfängerkreis auch immer in der Sprache des Heimatlandes dargebracht werden. Dieses Verstehen des jeweils anderen - auch als einzigartiges Individuum vor dem Hintergrund seiner nationalen und regionalen Kultur780 - hängt im übrigen ganz wesentlich davon ab, sich selbst zu erkennen und zu verstehen, weil ja jeder in einer gewissen Weise durch seine eigene Kultur bereits „mental programmiert“ ist.781 Das beginnt bei der grundsätzlichen Einstellung zu Ausländem,782 bei den Pauschalbewertungen und Stereotypen783 über andere und endet nicht zuletzt bei den gewachsenen Neigungen, sich und die eigenen Errungenschaften gegenein­ ander abzugrenzen. Vieles, was davon inzwischen sogar politische Themen erster Ordnung sind, entspringt auch egoistischem Denken wie Habgier, Besitzstand oder einem leeren Dünkel, bloßem Unwissen oder mangelnder Sensibilität, die alle unbegründet, unmenschlich und als Einstellung, Eigenschaften und Verhalten änderungsbedürftig sind. Während in vielen Ländern der Welt eine erwärmende Offenheit, selbstverständliche Gastfreundschaft, ein respektvoller Umgang unter­ einander die reichen und traditionsreichen Länder „Mores lehren“ könnten, be­ mühen wir uns allenfalls darum, mit Geld und durchaus beachtlichen finanziellen Spenden für diverse Zwecke uns ein besseres Gewissen zu kaufen. Die normale, menschliche Unvoreingenommenheit, alles das, was Kommunikation und Begeg­ nung wirklich ausmacht, sind bei uns in einer Weise verkümmert, die uns nicht stolz machen kann. Sind wir wirklich nicht mehr in der Lage, uns noch anders als nur ökonomisch zu verstehen? Dagegen steht im besten Sinne eine untemehmenskulturelle Vielfalt, die als wohlverstandene, menschlich respektvolle „Diversity“ durch „kombinierte Unter­ schiedlichkeit“784 von einer Vielzahl von Meinungen, Einstellungen, Denk- und Lösungsansätzen, Wahrnehmungen, Werten und Lebenserfahrungen zum Wohle Sprache des Empfängers übersetzt - wenn nicht sofort mehrsprachig verfaßt - werden könnte; auf der anderen Seite hat sich der Sprachenverlust durch diese Entwicklung schon sehr beschleunigt - vgl. „Rote Listen bedrohter Sprachen?“ - Interview mit der Linguistin Vera Szöllösi-Brenig - Süddeutsche Zeitung Nr. 169 vom 25.07.2000, S. V2/8. 780 Michael Müller, Personalleiter DaimlerChrysler Aerospace Airbus GmbH, Toulouse - zit. nach Klaus Doerr: „Personalführung im Zeitalter der Globalisierung“ - Personalführung 8/1999, S. 61 ff. (64) 781 Geert Hofstede, S. 2 („Kultur als mentale Programmierung“); ebenso die Erfahrung von Michael Müller, Personalleiter DaimlerChrysler Aerospace Airbus GmbH, Toulouse - zit. nach Klaus Doerr: „Personalfuhrung im Zeitalter der Globalisierung“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 61 ff. (64) 782 Nach der neuesten 13. Shell-Jugendstudie sind mit 27 Prozent mehr als ein Viertel der Jugendli­ chen in Deutschland „hoch ausländerfeindlich“ eingestellt, davon überproportional in den neuen Bundesländern - Süddeutsche Zeitung Nr. 72 vom 27.03.2000, S. 6 und Personalfuhrung 5/2000, S. 10 783 Uwe Böning, Topmanagementberater und geschäftsfuhrender Gesellschafter von Böning Consult, Frankfurt, zum Stichwort „Intcrkulturelle Kompetenz“ - Handelsblatt vom 28./29.01.2000, S. K 2 784 Christian Scholz, Universität des Saarlandes in dem Interview: „Wissen über die Landeskultur ist ein Erfolgsfaktor“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 6 ff. (7)

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aller nur profitieren kann.785 Sie nicht künstlich oder mit Zwang zu beseitigen, sondern als kulturelle Vielfalt und Bereicherung anzuerkennen und mit der Be­ reitschaft zu verbinden, die eigenen Kräfte mit anderen zu teilen, fuhrt erst trotz aller Technik und des vielen Wissens zu dem, was man immer als Solidarität bezeichnet, wobei man nach Meinung des Präsidenten des Club of Rome Ricardo Diez Hochleitner786 jedoch in Wirklichkeit „Liebe“ meint. Das Instrument dafür ist der ständige respektvolle Dialog.787 Eine ganz andere Frage ist es, wie sich die jeweils gewachsenen und derzeitig noch feststellbaren kulturellen Unterschiede gerade auch im Hinblick auf die zunehmenden menschlichen und wirtschaftlichen Kontakte ihrerseits weiter ent­ wickeln und auch aufgrund überall schnell zugänglicher Informationen und zu­ sammenwachsender Interessen nach und nach immer mehr aufeinander zu bewe­ gen werden, womit in vielen Bereichen durchaus zu rechnen ist. Die faktische Europäisierung könnte sich alsbald auch weltweit als ein Modell dafür erweisen.

Persönlichkeit Im Zuge der Kommunikation gibt jeder neben der sachlichen Nachricht dem anderen auch eine kleine „Kostprobe“ seiner Persönlichkeit preis. Damit wird diese beziehungsrelevant. Der „Selbstoffenbarungsaspekt“ führt in den zwischen­ menschlichen Beziehungen neben den akzeptablen Inhalten immer wieder nur zu einer Frage, nämlich der nach seiner „Echtheit (Authentizität)“,788 damit nach der eigenen Identität. Worauf kann ich mich bei meinem Gegenüber wirklich verlas­ sen? Natürlich bedarf es der vielen, immer mehr steigenden intellektuellen Eigen­

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Agnus Cassens, Vorstand der Deutschen Shell AG, hin: „Discover the Value of Differences!“ Editorial in Personalfuhrung 5/1999, S. 1; ebenso Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle in dem Inter­ view: „Die nächste Fusionsphase bei den Banken kommt europaweit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 146 vom 28.06.2000, S. 27, indem der sich ebenfalls kritisch zur einfachen Übertragung amerikanischer Gesellschaft- und Wirtschaftsmodelle stellt und dafür plädiert: „Die besten Traditionen unseres Modells müssen mit den besten des amerikanischen verbunden werden, um ein neues, zukunftsträch­ tiges europäisches Modell zu schaffen.“ 786 Interview: „Die Jugend macht uns Hoffnung“ - BMWMAGAZIN 2/2000, S. 40 ff. (42); der Club

of Rome hat angekündigt, seinen nächsten Bericht unter dem Titel zu veröffentlichen: „10 000 kultu­ relle Identitäten - eine Zivilisation“. 787 Vgl. dazu Dirk Ulrich Gilbert: „Konfliktmanagement in international tätigen Unternehmen - Ein diskursethischer Ansatz zur Regelung von Konflikten im interkulturellen Management“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1998 788 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 13, 14; ders. behandelt dieses ausführlicher noch in Band 2 unter dem Titel „Quadrat der Nachricht“, S. 19 ff.; ders. auch in dem Interview mit Thomas Höfer: „Laß uns drüber reden!“ - PersonalfuhrungPlus ’98, S. 12 ff.

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schäften und emotionalen Fähigkeiten einschließlich ihrer Weiterentwicklung.789 Aber worauf kann ich sonst noch bauen auch in der Zukunft? Wie zuverlässig trägt das, was ich höre und sehe? Decken sich Worte und Verhalten? Was habe ich überhaupt gehört und gesehen - habe ich mich nicht getäuscht und bin dann enttäuscht?

Charakter und Glaubwürdigkeit Wenn ein Unternehmer immer mehr auch die moralische Qualität seiner Ent­ scheidungen vor den Betroffenen und sich selbst zu verantworten hat790 und er erkennt, daß Unternehmen, die ausschließlich gewinnorientiert handeln und auch in der Geschäftswelt gültige Werte wie Aufrichtigkeit, Integrität, Fairneß und Kooperation nicht respektieren, vor großen Problemen stehen, dann müssen sie im Zuge der Kommunikation zunächst mit überzeugenden „Zielerklärungen“ arbeiten, in denen sie ihre Verpflichtung für eine oder mehrere Gruppen zum Ausdruck bringen.791 Als hierfür wünschenswerte Grundhaltungen der Beteiligten gilt heute allgemein nach Karl Berkel das folgende „Viergespann“:792

• • • •

Loyalität (verpflichtet und kritisch) Verantwortlichkeit (sich und anderen gegenüber) Glaubwürdigkeit (fürsorglich und wahrhaftig) Kompetenz (effizient und effektiv)

Der Berater Günter Sauder ergänzt dieses teilweise mit der „personalen Kompe­ tenz“, die bei ihm ausdrücklich noch zusätzlich neben der „sozialen Kompetenz“ steht, also vor allem Charakter, Vertrauensfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Fähig­ keit zum Dienen.793 Gerade insoweit vergleicht der Mönch und Autor Pater Jo­ hannes aus dem Kloster St. Bonifaz in München und Andechs die Führung in 789

August-Wilhelm Scheer, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Saarbrücken und Gründer der IDS Scheer AG: „Stichwort: Untemehmerpersönlichkeit“ - Handelsblatt/Karriere vom 24./25.11.2000, S.K10 790 Stephan Wittmann, St. Gallen: „Ethik in der Personalentwicklung - Ansätze zur Förderung mora­ lischer Kompetenz“ - PERSONAL 1/1996, S. 32 ff.; vgl. dazu auch die zehn Thesen des Bundesvor­ sitzenden des Bundes katholischer Unternehmer e.V. (BKU) in Köln, Werner Then: „Als Christen haben Unternehmer besondere Fähigkeiten und Aufgaben“ - Personalfuhrung 9/1999, S. 14 ff.; ebenso der Theologe Hans Küng: „Globalisierte Finanzmärkte brauchen Regeln“ - Handelsblatt Nr. 124 vom 30.06./01.07.2000, S. 7 791 Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 32 792 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 77 793 Günter Sauder: „Ein neues Profil“ - Personalführung 12/1997, S. 1168 ff. (1172,1173)

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einem Unternehmen mit der alten Regel des Benedikt von Nursia, mit deren Im­ plementierung Unternehmen heute ein „Heidengeld“ verdienen könnten.794 Auch die französische Managementberaterin Dana Schuppert betont die Bedeutung des Charakters und der Glaubwürdigkeit, weil sie die Persönlichkeiten ausmachen, an die sie glaubt.795 Führungskräfte sollen also „Persönlichkeiten“ sein.796 Ohne diese Anforderungen an die Persönlichkeit - so meint der Personalgeschäftsführer von IBM, Klaus Kuhnle797 - ist jemand beispielsweise als Führungskraft fehl am Platze. Je nach begrifflich unterschiedlichem Ansatz überschneiden sich die Kriterien auch, die eine Persönlichkeit ausmachen. Die hierbei jedoch allseits für unver­ zichtbar gehaltene Glaubwürdigkeit ist dabei stets Ausdruck des Vertrauensschut­ zes. Vertrauen muß geschützt, das heißt es darf nicht enttäuscht werden, weil es sonst verloren geht und ersetzt wird durch ein alles nur noch blockierendes Miß­ 794

Stephan Zöller: „Was Mönche und Manager verbindet“ - Besprechung des Buches von Johannes Claudius Eckert: „Dienen statt herrschen. Untemehmenskultur und Ordensspiritualität: Begegnungen - Herausforderungen - Anregungen“ - Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart 2000 - Süddeutsche Zei­ tung Nr. 5 vom 08.01.2002, S. 24 795 Karriere-Gespräch mit Dr. Dana Schuppert über Führung und Werte im Management: „Es muß bei Managern ein moralisches Koordinatensystem geben“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 102 vom 29./30.05.1998, S. Kl 796 So die u.a. die Selbsteinschätzung bei 164 Topmanagem der 100 größten Versicherungsuntemehmen - befragt von Christoph Netta, Untemehmensberatung Heidrick & Struggles, München - Capital 5/1999, S. 26; vgl. auch L. M. Hofmann u. K. Linneweh: „Erfolgsfaktor Persönlichkeit“ - Manage­ menterfolg durch Persönlichkeitsentwicklung - C.H. Beck Verlag München 1997 sowie Bernd Wil­ denmann: „Die Persönlichkeit des Managers“ - Verlagsgruppe Hogrefe & VAP, Göttingen 1999; auch Roland Berger, Geschäftsführender Gesellschafter des Münchner Beratungsuntemehmens Ro­ land Berger & Partner fordert „Persönlichkeiten“ als Voraussetzung für Topmanager im KARRIEREGespräch - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 195 vom 10./11.10.1997, S. Kl; Jürgen B. Mülder, Begrün­ der der Personalberatungs-GmbH Mülder & Partner: „Heute sind Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit gefragt“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 18.10.1997, S. BR 1; Reinhard Mohn: „Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß Intelligenz, Ausbildung und Fachwissen nur dann weiterführend sind, wenn sie von einer angemessenen Prägung der Persönlichkeitsstruktur begleitet werden“ in „Frei von Hochmut - über die Eitelkeit bei Managern“ - Wirtschaftswoche Nr. 47 vom 13.11.1997, S. 134; die Untemehmensgruppe Ravensburger steigt in ein neues Geschäftsfeld ein, indem sie über ihre Ravens­ burger Akademie Trainings für Führungskräfte anbietet, „die den Geist befreien sollen“. Die Teilneh­ mer können dabei u.a. spielend ihre Persönlichkeit, ihre geistige Flexibilität und ihre soziale Kompe­ tenz entwickeln oder unter Beweis stellen - vgl. Wirtschaftswoche Nr. 51 vom 11.12.1997, S. 141; vgl. dazu auch Klaus M. Leisinger, S. 145 ff.: „Die »ideale* Führungspersönlichkeit“; Peter Friede­ richs: „Trumpfkarte Personalentwicklung“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 11 vom 15.01.2001, S. 26; ohne konkrete Antwort dazu Rupert Lay: „Charakter ist (k)ein Handycap - Persön­ lichkeit als Chance“, Urania Verlag Berlin 2000 (dazu auch die Besprechung von Ingrid Brunner Süddeutsche Zeitung Nr. 122 vom 27./28.05.2000, S. Vl/1 - Bildung und Beruf) 797 Klaus Kuhnle: „Leidenschaft für die Arbeit“ - Editorial - Personalfuhrung 8/1998, S. 1; vgl. auch Rita Mohr: „Verschwommene Persönlichkeit - Manager von heute: Hin- und hergerissen zwischen Tradition, Moderne, Anspruch und Wirklichkeit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 181 vom 08./09.08.1998, S. Vl/1 (Bildung und Beruf)

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trauen. Gerade die Glaubwürdigkeit scheint aber - wie der Professor für Business Administration an der Universität von Südkalifomien, Warren Bennis, in seinem Buch: „Menschen fuhren ist wie Flöhe hüten“798 beschreibt - bei den Entschei­ dungsträgem in der Wirtschaft und Politik derzeit auf dem Nullpunkt angelangt zu sein. Zur Persönlichkeit zählt last not least noch eine Eigenschaft, die so ganz und gar nicht in unsere moderne, egoistische und medienbestimmte Welt zu passen scheint, die sich jedoch als ganz wesentlich in den Vordergrund schiebt und von dem ehemaligen Automobilmanager Daniel Goeudevert so gekennzeichnet wird: „Vom Management verlangt dies ein erhebliches Maß an Bescheidenheit - eine Tugend, an der, so furchte ich, heute auf den Chefetagen ein besonderer Mangel herrscht. Ein bescheidener Manager soll Stellung beziehen, aber er soll nicht überreden, sondern erklären, und er soll ein Vorbild sein. Er muß aufrichtig mit und zu sich selbst sein und auf jegliche Attitüden verzichten können - vor allem, wenn er von der jungen Generation respektiert werden will“.799 Diese Aufrichtig­ keit zunächst mit sich selbst schafft persönliche Identität, inneres Gleichgewicht und damit die Voraussetzung dafür, selbst angstfrei offen für andere zu sein. Bescheidenheit als Persönlichkeitsmerkmal eines Chefs - das ist auch das Er­ gebnis eines Forschungsprojekts von Jerry Porras an der Stanford Business School - ist die entscheidende Größe und das Kriterium für Erfolg überhaupt. Führerschaft ist keine Status-, sondern eine Charakterfrage. Integrität, Zivilcoura­ ge und Persönlichkeit sind daher in Zukunft wichtiger als Charisma: „Der »autori­ täre Held4, der im Alleingang mit überlegenem Charisma ein Unternehmen führt, ist ein Auslaufmodell. Er wird vom »Förderer des Wandels4 abgelöst - so lautet jedenfalls das Ergebnis eines Kolloquiums der Managementberatung Arthur D. Little im französischen Evian.800 Sie folgt auch hier unter anderem „Kemwerten“ wie Qualität, Ehrlichkeit, Kundenorientierung und offener Kommunikation.801

Campus Verlag 1998; vgl. dazu auch Ausschnitte unter dem Titel: „Dukatenzähler in einem winzigen Orbit“ - Personalführung 9/1998, S. 12 ff. 799 Daniel Goeudevert: „Wie ein Vogel im Aquarium“ - zit. nach Wirtschaftswoche Nr. 41 vom 03.10.1996, S. 138 800 Vgl. Handelsblatt/Karriere Nr. 57 vom 21 ./22.08.1997, S. Kl; ebenso Bernhard von Mutius, Fraunhofer Institut Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) - Bericht über ein Symposium „Lea­ dership - Führen in eine neue Zeit“ vom November 1999 - Personalfuhrung 1/2000, S. 11; zur eher betonten Rolle des „Charisma“ vgl. auch „Leadership“ - Blätter für Vorgesetzte des Bundesarbeitge­ berverbandes Chemie - April 1998, S. 1 ff. 801 Dagmar Deckstein: „Erfolg durch Bescheidenheit“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 44 vom 23.02.1998, S. 24; so auch der amerikanische Professor of Business Administration Warren Dennis, zitiert nach Dagmar Deckstein: „Die richtigen Dinge, nicht nur die Dinge richtig tun“ Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1998

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In ähnliche Richtung weisen auch deutsche Untersuchungen,802 die vor allem bei Eigentümer-Unternehmern „tendenziell stärkere Ausprägungen“ in den Merk­ malen „Gelassenheit/Bescheidenheit, Identifikation und Verantwortungsgefühl“ nachgewiesen haben. Wie schließlich auch eine weitere Untersuchung über den Untemehmenserfolg bei fünf deutschen mittelständischen Unternehmen gezeigt hat, kommt in diesem Sinne starken Führungspersönlichkeiten eine große Bedeu­ tung für den Untemehmenserfolg zu. Entscheidend sind danach „Leitpersonen, die in der Lage sind, Kräfte in Bewegung zu setzen“803 mit Eigenschaften und Fähigkeiten, die als »Schlüssel für alles* mit Selbstdisziplin und Selbstmanage­ ment zu tun haben.804 Denn nur gegenüber sich selbst fordern die eigenen Postulate Wahrheiten ab. Alle diesbezüglichen Eigenschaften sind Kriterien einer Prüfliste und beginnen mit dem Wort „Selbst-...“:

• • • • • • • • • 802

Selbsteinschätzung Selbstkritik und SelbstReflexion805 Selbsterkenntnis Selbstdisziplin Selbständigkeit, Selbstvertrauen Selbstbewußtsein, Selbstbehauptung, Selbstverantwortung,

Alexander Schieffer (Geschäftsführer der Dr. Schieffer & Co Gesellschaft für Untemehmensfuhrung und -entwicklung mbH, München): „Persönlichkeitsprofil und Wirkung erfolgreicher oberster Führungskräfte“ - PERSONAL 12/1997, S. 632 ff (633); vgl. dazu auch Alexander Schieffer: „Lea­ dership is learned“ - Personalwirtschaft 7/1998, S. 18 ff. 803 Studie der Stuttgarter Untemehmensberatung Management Partner zusammen mit INSEAD, dem größten internationalen Managementinstitut für Unternehmensfuhrung in Europa in dem Bericht von Martina Brückner: „Die entscheidende Rolle des Kopfes an der Spitze“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 46 vom 17./18.11.1995, S. K2; ebenso Heinrich von Pierer: „Anforderungen an das Personalma­ nagement der Zukunft und seine Integration in den Management-Prozeß“ in der Praxis“, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) - Wirtschaftsverlag Bachem Köln 1995, S. 345 ff. (354) 804 Ebenso Gabi Pömer: „Die Kunst, sich selbst zu fuhren“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 174 vom 31.07.2000, S. 22 u.a. mit Hinweis auf den „Management-Guru“ Peter F. Drucker: „Die Kunst, sich selbst zu fuhren, ist die Schlüsselqualifikation des 21. Jahrhunderts“; vgl. dazu auch die Initiative „Wege zur Selbst GmbH“, also zur Förderung zum „Selbst-Unternehmer“ mit Selbstbewußt­ sein, Selbstorganisation, Eigenständigkeit und Eigeninitiative - Bericht von Chris Löwer: „Sich selbst vermarkten“ - Handelsblatt/Karriere vom 24./25.03.2000, S. K6; vgl. auch T. Wörz und E. Theiner: „Erfolg durch Selbstmanagement“ - Vandenhoeck & Ruprecht 1999 805 So auch der Geschäftsführer des INPUT-Instituts für Personal- und Untemehmensmanagement, Paderbom, Richard K. Streich: „Führungsalltag zwischen Qual und Qualität“ - Personalfuhrung 11/1999, S. 16 ff. (17)

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Selbstzuschreibung von Erfolgen und Mißerfolgen.806

Für die Selbstzuschreibung hilfreich ist die Fähigkeit zum „positiven Denken“. Das bedeutet - wie der US-Psychologe Martin Seligmann feststellt - eine positive Grundeinstellung als sogenannte „Attribution“, also ein „Erklärungsmuster, mit dem ein Mensch seine Erlebnisse interpretiert“, nicht hingegen etwa die Fähig­ keit, alles nur in einem unreflektierten Optimismus zu sehen.807 Gemeint ist also nicht die Verdrängung unangenehmer Dinge und Wahrheiten, sondern deren ehrliche aktive und konstruktive Überwindung 808 und das zielorientierte Eröffnen neuer Handlungsmöglichkeiten. Neuerdings hat die Untemehmensberatung Boston Consulting Group den Kata­ log der „Selbst...“-Eigenschaften noch um eine weitere vermehrt, nämlich die „Selbstentdeckung“. Vor dem Ausgangspunkt der Einsicht, daß strategisches Denken nicht mehr allein Chefsache oder Berateraufgabe ist, also nicht mehr das alte und delegationsfeindliche „Selbermachen“ weiterfuhrt, sondern „nur durch Selbstentdeckung ... es jedem Mitarbeiter möglich“ (wird), „die Zukunft selbst zu besuchen. Strategisch fuhren heißt, die Mitarbeiter in die Selbstentdeckung zu begleiten.“809

So treffend Klaus Ladensack: „Untemehmenswandel und Selbstmanagement - Orientierung in einer veränderten Arbeitswelt“ - Betriebsberater (BB) Heft 51/52 vom 18.12.1997, S. 2646 ff.; nach den eigenen Untersuchungen des hier zitierten Autors seien vor allem Selbsterkenntnis und SelbstReflexion wenig entwickelt, werden daher nicht hinreichend praktiziert. Er bietet praktikable Empfeh­ lungen zur Selbsteinschätzung (aaO, S. 2647, Tabelle 1); ebenso Lutz von Werder, praktischer Philo­ soph und Leiter des Hochschuldidaktischen Zentrums der Berliner Alice-Salomon-Fachschule - zitiert nach Chris Löwer: „Abteilung Ethik“ - Handelsblatt/Management und Karriere vom 14./15.01.2000, S. K3 807 Vgl. dazu den Bericht von Johanna Joppe: „Gleiche Fähigkeiten, vierfache Leistung“ - Süddeut­ sche Zeitung Nr. 122 vom 27./28.05.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf); für eine positive Grundein­ stellung plädiert auch Uwe Böning, Böning Consult Frankfurt - Handelsblatt/Karriere vom 26./ 27.05.2000, S. K 2 808 Klaus Ladensack: „Untemehmenswandel und Selbstmanagement - Orientierung in einer veränder­ ten Arbeitswelt“ - Betriebsberater (BB) Heft 51/52 vom 18.12.1997, S. 2646 ff. - hält auch ftir das positive Denken ( S. 2647, Tabelle 2) und für den Umgang mit Mißerfolgen (S. 2648, Tabelle 3) Empfehlungen bereit; siehe auch Günter Scheich: „Positives Denken macht krank“ - Personalfuhrung 9/1998, S. 4; ders. mit gleichnamigem Titel - Eichbom Verlag 1998; vgl. dazu auch: „Sind Sie ein Optimist?“ - Blätter für Vorgesetzte des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie e.V. 42. Jg. 7/1998, S. 5 ff. 809 Vgl. den Bericht von Dagmar Deckstein zu dem Strategiebuch der Boston Consulting Group (Bolko v. Oetinger: „Das Boston Consulting Strategie-Buch“ - Econ Verlag Düsseldorf 2000) unter der Überschrift: „Denkt mal endlich wieder“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 251 vom 31.10./01.11.2000, S. 33

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Die in allen diesen Eigenschaften eines wirksamen - auch trainierbaren „Selbstmanagements“810 zum Ausdruck kommende Überzeugung von und die Einstellung zu Werten, die dann auch die Beziehung und das Verhalten zu ande­ ren Menschen maßgeblich bestimmen, prägen das Menschenbild. Echtheit mit sich selbst ist Wertmaßstab für die Glaubwürdigkeit gegenüber dem anderen und schafft persönliche Identität auch mit dem Partner. Laotse sagt: „Darum: Wer in seiner Person die Welt ehrt, dem kann man wohl die Welt anvertrauen. Wer in seiner Person die Welt liebt, dem kann man wohl die Welt übergeben.“811 Schon die richtige Gesinnung wird hier also zu einem ökonomischen Faktor. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Rechtsphilosophen stellen fest, daß nichts so ent­ scheidend für den Stil eines Rechtszeitalters sei wie die Auffassung vom Men­ schen, an der es sich orientiert.812 Sollte dieser für das Recht aufgestellte Satz auch für den ökonomischen Bereich seine Gültigkeit haben? Es kann kein Zwei­ fel bestehen, daß alles das, was seit einigen tausend Jahren etwa aus der Führung von Menschen im militärischen Bereich bekannt ist,813 was an Idealen und Tu­ genden immer wieder beschworen wird, weil sie überall im menschlichen Mitein­ ander die gleiche Rolle spielen, und was aus den Botschaften der christlichen Lehre, der Aufklärung und des Humanismus überliefert ist, also die Grundele­ mente ethischen menschlichen Seins und ihre Weiterentwicklung letztlich auch das Geheimnis des wirtschaftlichen Erfolges ist.814

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Vgi. zu einem wissenschaftlich fundierten Selbstmanagementtraining den Leiter der Projektgruppe Selbstmanagement am Institut für Wirtschaftspsychologie der Universität München, Hugo M. Kehr: „Strategien der Selbstüberlistung: Motivation und Willen trainieren“ - Personalfuhrung 12/1998, S. 52 ff. sowie den Bericht darüber von Hartmut Volk: „Strategie - Aus Absichten werden Taten: Trai­ nieren Sie Willensstärke“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 28.11.1998, S. BR1; vgl. auch Dag­ mar Deckstein: „Autonomie trainieren“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 261 vom 13.11.2000, S. 26 in ihrer Besprechung des Buches von Ronald Grossarth-Maticek: „Autonomietrai­ ning“ - Verlag de Gruyter 2000 811 Laotse: „Tao te king“ von Richard Wilhelm, S. 53 812 Gustav Radbruch: „Der Mensch im Recht“ - Heidelberger Antrittsvorlesung - Göttingen 1961, S. 9; vgl. auch Peter Cappelli: „Gute Miene zum harten Job machen“ - Handelsblatt/Karriere Nr. 11 vom 16./17.01.1998, S. K 8: „Der Erfolg eines Unternehmens hängt wesentlich davon ab, welche Einstellung die Mitarbeiter zur Arbeit haben. ,Power* steckt in fast jedem Menschen, sie muß nur geweckt werden. Dies ist eine Aufgabe, der sich bereits Elternhaus und Schule, später dann die Unter­ nehmen zu stellen haben.“ 813 Dieter Wellershoff: „Führen - Können, Wollen, Verantworten“ - Bouvier Verlag Bonn 1997: Führen braucht nach seiner Meinung die Verbindung von Charakter, Einstellung, professionellem Können, Beherrschung des methodischen Handwerkszeugs und Verantwortungsbewußtsein - vgl. auch das KARRIERE-Gespräch mit Dieter Wellershoff - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 57 vom 21 ./22.03.1997, S. Kl. 814 „Frust statt Lust - Pfleglicher Umgang mit dem Personal fordert den Untemehmenserfolg“ BERUFSWELT vom 13.01.1996; ebenso der Theologe Hans Küng: „Globalisierte Finanzmärkte brauchen Regeln“ - Handelsblatt Nr. 124 vom 30.06./01.07.2000, S. 7; vgl. beispielsweise auch Iven

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Es ist hinreichend belegt, daß sich erfolgreiche Manager von weniger erfolgrei­ chen deutlich in diesen Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden. In einer Studie sind frühere Chefs, heutige Mitarbeiter und ,Untergebene* von hundert Vor­ standschefs befragt worden, was den Unterschied zwischen den am besten bewer­ teten und den anderen Topmanagem ausmacht. Am häufigsten wurden mit 33 Prozent eine starke Persönlichkeit, mit 26 Prozent Kompetenz im Job, mit 22 Prozent die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen sowie Flexibilität und ethische Grundsätze genannt: „Sie zeichnen sich durch persönliche Charakteristika, Wert­ haltungen, Fertigkeiten und Verhaltensweisen aus und setzen sie ein, um sich abzuheben. Es sind jene Attribute, die Leader von Managern unterscheiden.“815 Alle solche Werte als „innere Werte“ zu haben, sich zu diesen Werten zu be­ kennen und das auch offen zu sagen ist freilich nur das eine. Unverzichtbar ist immer auch das selbstbindende Bekenntnis, diese „weichen Faktoren“ neben den rationalen Elementen bei der Lösung aller anstehenden, virulenten Probleme und offenen Fragen einzubeziehen, sie also nicht abstrakt und isoliert zu behandeln. Diese Werte dann auch tatsächlich zu befolgen, die Werte anderer konkret zu respektieren, das Handeln im Tagesgeschäft nach ihnen auszurichten und dieses nicht dem Zufall zu überlassen, kurzum sie als bindende Normen zu beachten und zu leben mit der Folge, daß auch Veränderungen nicht stattfinden, wenn sich die gelebten Werte nicht ändern,816 ist immer noch einmal etwas ganz anderes. Die eigenen, auf menschliche Persönlichkeit abzielenden Eigenschaften und Charaktermerkmale geben sichtbar Beispiel und schaffen Vertrauen durch das überzeugende Tun. Es gehört zum Vorbild, daß es tradierte Werte bestimmt und darstellt817 und durch eigenes Handeln all das Gesagte bestätigt und glaubwürdig vorlebt.818 Allein auf die wahre, authentisch praktizierte Einstellung kommt es Graf von Reventlow: „Neue Wege der Bonitätsprüfung - Das Kreditgespräch als Instrument zur Beurteilung der Untemchmerpersönlichkeit“ - Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels 1992 815 Bob Goffee und John Hunt: „Topmanager sind nur so gut wie ihr Team“ - Handelsblatt/ KARRIERE Nr. 97 vom 22./23.05.1998, S. K5; der amerikanische Professor of Business Administra­ tion Warren Dennis: „Nach wie vor wird in zu vielen heutigen Organisationen zu viel gemanagt und zu wenig geführt.“ Oder: „Führende tun die richtigen Dinge, Manager machen lediglich die Dinge richtig“ zitiert nach Dagmar Deckstein - Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1998 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11/1998, S. 168 817 Otto Burgmer, Lindenthal Institut Köln: „Untemehmenskultur basiert auf Vertrauen“ - Personal­ führung 10/1997, S. 936 818 Wolfgang Grunwald - Personalfuhrung 2/1996, S. 95; ders. in io Management Zeitschrift 64 (1995) Nr. 1/2, S. 73 ff (75); dieses „Vorleben“ ist auch Bestandteil erfolgreicher Führung nach den 10 Kemthesen der Gewinner bei der Analyse der Erfolgsstrategien von 500 deutschen Weltmarktfuhrem - Manager Magazin 2/ 1996, S. 86 (88); vgl. auch das Umfrageergebnis des Instituts für Demo­ skopie in Allensbach bei Führungskräften, wonach 82 bis 84 Prozent der Meinung sind, daß an Füh­ rungskräfte insoweit strengere moralische Maßstäbe angelegt werden müssen als an Normalbürger dargestellt in Capital 11/1995, S. 188 ff (194); Thomas Scheffold u. Hans Hohenstatt: „Die wichtige

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also an. Denn glaubwürdiger als bei allen Manipulationsversuchen kommt die wahre Persönlichkeit - andere sprechen schlicht von den „menschlichen Qualitä­ ten“819 - in den vielfältigen tatsächlichen Verhaltensweisen zum Ausdruck, aus denen der Beziehungspartner auf die Einstellung und deren glaubwürdige konse­ quente Umsetzung seine Rückschlüsse zieht: „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“820 Alles zusammen aber macht erst die wahre Persönlichkeit aus, die etwas zu bewegen vermag. Angesichts solcher Erkenntnisse kommen selbst die größten, mit dem Mythos der „Kaderschmiede des US-Kapitals“ umwehten und mit dem Anspruch nach Ausbildung von Führungspersönlichkeiten ausgestatteten Business Schools wie Harvard in Bedrängnis, deren Absolventen sich nicht gerade durch Bescheiden­ heit auszeichnen. Und daß dieses nur die Kehrseite eines in die Persönlichkeit übergegangenen Selbstvertrauens sei und deren Absolventen offen und empfäng­ lich bleiben für Einsichten,821 ist von vielen, die mit einem derart anspruchsvollen Erwartungshintergrund in der Praxis begonnen haben, schon oft genug widerlegt worden. Dabei gab es längst Zeiten, wo dieses schon selbstverständlich und als prägend sichtbar war: Zu denken ist nur an die Generation vieler Nachkriegsmanager wie des ehemaligen Bosch-Konzemchefs Hans Lutz Merkle, der als Verfechter eines „moralischen Kapitalismus“ galt822 und mit seinem persönlichen Stil maßgeblich auch das Unternehmen prägte. „Auch in einem Wirtschaftsuntemehmen ist die Firmen-Tradition Grundlage für die Untemehmenskultur. Sie wird bestimmt vom persönlichen Stil und der geistigen Haltung ihres Führungsgremiums und über­ Vorbildrolle der Führungskräfte“ am Beispiel des Qualitätsmanagements - Handelsblatt Nr. 107 vom 07.06.1993, S. 12; Werner Siegert: „Führungskräfte nur durch ein gutes Vorbild glaubwürdig“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.03.1995; Heinz Knebel: „Vorbild ist wieder ‘in’, Hanne­ mann, geh voran!“ in „Ungereimtes aus der Führungspraxis“ - PERSONAL 5 / 1995, S. 243; dem Porschechef Wendelin Wiedeking ist die Glaubwürdigkeit das wichtigste Führungsmerkmal - zu­ gleich Basis ftir Visionen und Vorbildfunktion - vgl. Wirtschaftswoche Nr. 38 vom 12.09.1996, S. 78; Fredmund Malik: „Führen bedeutet Vorbild und Beispielhaftigkeit. Schon kleine Unkorrektheiten wirken ftir ihn in der Gesellschaft negativ ‘desastros’“ in „Geistige Viren blockieren“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 26.07.1997, S. BW1; ders. in „Der Virus im Kopf* - Personalführung 8/1997, S. 806 ff (807) bezeichnet Glaubwürdigkeit und Vertrauen als die wichtigsten Voraussetzungen ftir Führung. 819 Klaus M. Leisinger, S. 141 ff. (142) 820

Erich Kästner: „Moral“ in „Was nicht in euren Lesebüchern steht“ - hrsg. v. Wilhelm Rausch, Fischer Taschenbuch Verlag, S. 130; vgl. als Praxisbeispiel für ein konsequentes Emstnehmen der Mitarbeiter und seine Umsetzung über alle Ebenen den Bericht über die Kaufhof AG von Daniela Kuhr: „Motivieren statt mobben“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 23 vom 29./30.01.2000, S. 52 821 So die Eigensicht der Harvard Business School (HBS) in Boston - vgl. dazu Christoph Mohr: „Simply the best - Bescheidenheit ist nicht gerade das Kennzeichen von Harvard-Absolventen. Doch muß nicht Arroganz sein, was dahinter steckt“ - Handelsblatt/Karriere und Management vom 16./17.06.2000, S. Kl R72 DIE WELT vom 27.09.2000, S. 13 anläßlich des Nachrufs zu seinem Tode.

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trägt sich auf alle Führungsebenen.**823 Der Kem des praktizierten Vorbilds liegt also darin, insoweit wieder persönliche Verantwortung zu tragen,824 zumal wenn man gleichzeitig die zunehmende Selbstverantwortung aller übrigen für notwen­ dig hält und einfordert.825 Besonders bei Zielkonflikten verschiedener miteinander streitender Werte, die eine verhaltensorientierte Entscheidung erzwingen, zeigt sich deutlich, ob deren Auflösung sachlich und menschlich beispielhaft gelingt und zum Nachfolgen einlädt. Der Kem der Untemehmensidentität besteht daher nicht in gut entwickelten und ausgelegten Corporate-Design-Paketen, bei denen das Sein vom Schein kaum mehr zu unterscheiden ist und Ethik sich oft nur als Ästhetik entpuppt.826 Kem der Untemehmensidentität ist nicht die äußere Hülle, sondern der gelebte Aus­ druck gelernter Werte und Normen. Respekt vor und würdevoller Umgang mit den Menschen muß bei aller inhaltlicher Auseinandersetzung und Interessenver­ schiedenheit stets ein Ziel und die Basis eines entsprechend praktizierten Kom­ munikationsprozesses bleiben. Je schneller sich das Marktumfeld ändert, um so mehr bleibt Glaubwürdigkeit gefragt in dem, wofür ein Unternehmen nachweis­ lich steht. Das gilt um so mehr, als sich Eigenschaften und Verhaltensweisen, die „gelebten“ Werte, denen Kunden und Geschäftspartner vertrauen, nicht so schnell verändern und wechselnden Erfordernissen anpassen lassen.827 Dabei besteht weitgehend Einigkeit darin, daß alle diese Postulate zur Persön­ lichkeit in ihrer Summe kaum real vorkommen können und in einer Person mit­

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Otto Burgmer, Lindenthal Institut Köln: „Untemehmenskultur basiert auf Vertrauen“ - Personal­ führung 10/1997, S. 936 824 Reinhard K. Sprenger, „Das Prinzip Selbstverantwortung“ - Campus Verlag Frankfurt/M., 8. Auflage 1998; George Turner: „Moral und Ethik bleiben in Deutschland ausgeklammert, wenn es um die Verantwortung für falsche Entscheidungen geht - Persönliche Fehlleistungen müssen wieder sanktioniert werden“ - Handelsblatt vom 18.06.1996, S. 2; eine ganz entscheidende Rolle spielt die Vorbildfunktion (auch der Top-Manager als Motor) bei Veränderungs- und Lernprozessen, vgl. „Wie Unternehmen lernen - Erfahrungen und Einsichten von Managern“ - ein Bericht von Meinolf Dierkes und Birte Raske - Manager Magazin 7/1994, S. 142 ff (149); vgl. auch „Verantwortung statt Unter­ nehmensethik?“ - Bericht über ein interdisziplinäres Kolloquium zur „Ethik in Organisationen“ in Personalfuhrung 6/1996, S. 539; ebenso der Theologe Hans Küng: „Globalisierte Finanzmärkte brauchen Regeln“ - Handelsblatt Nr. 124 vom 30.06./01.07.2000, S. 7 825 Reinhard K. Sprenger in „Wider das Jammern“: „Ich kann nicht auf der einen Seite von Vorbil­ dern reden und mich auf der anderen Seite nach Selbstverantwortung sehnen. Vorbilder produzieren nun einmal Kopien, Imitate.“ - Manager Magazin 3/1995, S. 208 ff. (210) 826 Otto Burgmer, Lindenthal Institut Köln: „Untemehmenskultur basiert auf Vertrauen“ - Personal­ führung 10/1997, S. 936 827 Ebenso Helten/Müller - VW Heft 22/1998, S. 1564 ff.; ebenso „Ethik in der Wirtschaft: Nur in Sonntagsreden?“ - Interview mit dem Personal- und Finanzvorstand und Mitglied im internationalen European Business Ethics Network (EBEN) Michael Heinrich der Müller Weingarten AG - Personal­ fuhrung 5/1999, S. 4 ff. unter Hinweis auf den früheren Sprecher der Deutschen Bank AG Alfred Herrhausen: „Wir sollen sagen, was wir denken, und tun, was wir sagen.“

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einander vereinbart werden.828 Trotzdem werden bei der Besetzung maßgeblicher Positionen die Erwartungen an Erfolge immer deutlicher oder von manchen sogar ausschließlich an die Persönlichkeitsstruktur eines Managers gebunden.829 So nehmen die Bemühungen zu, die Persönlichkeit schon bei der Einstellung genau­ er unter die Lupe zu nehmen und danach auszuwählen. Es geht wohl in erster Linie doch um die Ergebnisse der Erziehung, die gemachten Erfahrungen und damit die Frage der inneren Einstellung, den persönlichen Erkenntnis- und Reife­ grad, den jemand erreicht hat und mitbringt oder noch anstrebt. Dafür und für alle anderen bleiben dann noch Trainings, ihre Persönlichkeit weiter zu entwickeln,830 auch wenn man sich dabei eingestehen muß, daß „Persönlichkeitstrainings nicht zur ‘Reihenschluckimpfung’ im Management geeignet“ sind.831 Schließlich geht es bei alledem auch um das ‘Berufsethos’.832 Vielen Berufen ist das bekanntermaßen traditionell zu eigen, den Ärzten - auch wenn es zuneh­ mend Anzeichen eines Verfalls gibt833 - und den Geistlichen, aber auch vielen anderen mehr, vor allem soweit sie sich mit Menschen befassen. Gibt es auch für Manager und besonders für Führungskräfte so etwas wie Berufsethos, oder stehen 828

Wolfgang Buch, Gesellschafter und Geschäftsführer der Topos Personalberatung GmbH Hamburg und Stuttgart, zit. nach Hans Baumann: „Heuern geschieht meist aus dem Bauch - Charisma kann fachliche Mängel relativieren, aber fachliche Stärken nicht eine defizitäre Persönlichkeit“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 29.11.1997, S. BRI 829 Klaus Aden, Partner der Kienbaum Personalberatung, in dem Bericht: „Höhere Fluktuation von Managern - Die Beletage wird immer häufiger durch Direktsuche besetzt“ - DIE WELT (BERUFS­ WELT) vom 10.01.1998, S. BRI 830 Ruth Lemmer: „Aufklärung tut dringend not - Manager gehen sorgloser mit ihrer Psyche um als mit ihrem Auto“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 41 vom 27./28.02.1998, S. Kl; so bietet z.B. auch die IBM Global Services Education & Training, Stuttgart, ein berufsbegleitendes Studienseminar unter dem Titel „Unternehmen Persönlichkeit“ an, wobei die Frage offen bleibt, inwieweit Charakter einerseits und Konditionierung andererseits hier miteinander vereinbart werden oder der Charakter gar verändert, oder nur durch Regiehinweise und Erlebnisse besser ‘vermarktet’ werden können; vgl. auch „Mitarbeiterfuhrung kann man lernen“ - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 11 vom 16./17.01.1998, S. K2 über Persönlichkeitstrainings und ihre Wirkungen. 831 Ruth Lemmer - Handelsblatt/KARRIERE Nr. 41 vom 27./28.02.1998, S. Kl im KARRIERE-

Gespräch mit Thomas Sattelberger von der Deutschen Lufthansa AG: „Die Zufriedenheit der Seminarteilnehmer ist kein Merkmal für Güte“; Bärbel Schwertfeger: „ISO-Test für die Psyche Persönlichkeitstrainings haben Konjunktur. Aber längst nicht alle sind zu empfehlen“ - Wirtschafts­ woche Nr. 10 vom 26.02.1998, S. 138 ff.; vgl. auch Walter Simon, Leiter des Innovationsteams für Produktion und Wirtschaft GmbH in Bad Nauheim mit Hinweise auf verdächtige Methoden in „Enttarnen Sie die Psychoscharlatane“ - DIE WELT (BERUFSWELT) vom 25.04.1998, S. BRI 832 Vgl. auch Artur Wollert: „Untemehmenskultur - Führen - Führungsethik“ - Personalmanagement in der Praxis, hrsg. Deutsche Gesellschaft f. Personalfuhrung, Wirtschaftsverlag Bachem Köln, S. 139 ff.; Stephan Wittmann: „Ethik in der Personalentwicklung - Ansätze zur Förderung morali­ scher Kompetenz“ - PERSONAL 1/1996, S. 32 ff. 833 Vgl. zu den vielen Skandalberichten von Herzklappenhandel bis zu betrügerischen Abrechnungen bei den Krankenkassen auch Carsten Holm: „Ende eines Traumberufs“ - DER SPIEGEL 29/1999, S. 38 ff.

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sie den Berufspolitikern gleich, denen nach vielen bekannten Umfragen nur eine geringe gesellschaftliche Wertschätzung ihres Berufes zuteil wird, oder denen schon viel zu oft ein ideeller Wertemaßstab abhanden gekommen ist? Die überall bei den Menschen im Unternehmen lauernde Frage nach der eige­ nen persönlichen Wertschätzung, und - besonders wenn sie ausbleibt - nach der Beförderung oder LeistungsVergütung, wird freilich immer wieder gern, schnell und leichtfertig nur mit schönen Worten beantwortet und trostbringend verspro­ chen. Ähnlich ist es mit vielen Ankündigungen - etwa in der Werbung und Öf­ fentlichkeitsarbeit - nach außen, wenn auch von Kunden und anderen Interessen­ ten die Frage gestellt wird, ob man den bisherigen Äußerungen und Ankündigun­ gen wirklich Glauben schenken darf. So gibt es einen starken Trend zu Schönfär­ bereien und -redereicn, zu medienwirksamen Selbstdarstellungen und zu dem ständigen »guten Aussehen4. Das „allgegenwärtige Phänomen der Selbstoffenba­ rungsangst“ fuhrt nicht selten zu „Selbstdarstellungs- und Angstabwehrtechni­ ken“, die als „Selbstverbergung“ oder „Imponier- oder Fassadentechniken“ viel Energie verbrauchen, ohne daß sie deren wahren Probleme und Problemursachen beseitigen.834 Mehr und mehr verbreitet solche Art Schauspielerei aber auch Mißtrauen, ja geradezu Ärgernisse. Man mag schon gar nicht mehr hinschauen und hinhören. Im Gegensatz zu den Bemühungen und Erwartungen vieler Unternehmen und deren Manager liegt das Heil nicht darin, immer noch trickreichere Formen zu suchen und zu trainieren. Denn sie verhindern als verschleiernde oder sonst bela­ stende Darstellungsübungen die Ausbildung einer authentischen, ehrlichen und glaubwürdigen Persönlichkeit. Überall lauem aber auch Fallen und Mißverständnisse,835 die das eigene Verhal­ ten schnell in Mißkredit bringen können, auch wenn man das gar nicht will. Schon ein eigener Standpunkt zu bestimmten Fragen, der nicht von der Allge­ meinheit oder einer Gemeinschaft geteilt wird, isoliert seinen Verfechter schnell und stellt ihn ins Abseits. Andererseits kann auch der mangelnde Mut zu einer eigenen Ansicht als Opportunismus gegenüber den „Gleichgesinnten“ oder schlichter nur als Bedürfnis nach Geborgenheit gewertet werden. Allein der Verdacht, der sich an ein bestimmtes Verhalten heften kann, ist dabei schon schädlich. Besonders Verhaltensweisen, die die Lauterkeit und damit das betriebliche Vorbild in Frage stellen, sind zahlreich und schnell, auch arg- und sorglos praktiziert. 8^4

Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 99 ff. So machte der Konzemchef von ThyssenKrupp, Gerhard Cromme, für den kräftigen Kursrück­ gang der eigenen Aktie um 15 Prozent nicht nur „Verluste von mehreren hundert Millionen DM“ verantwortlich, sondern erklärte sie auch mit „Mißverständnissen und Ungeschicklichkeiten“, was immer damit gemeint war - „Wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 136 vom 15.06.2000, S. 29 835

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Zu denken ist etwa an eine allzu starke Vermischung von privaten und betrieb­ lichen Angelegenheiten oder gar die Verwendung betrieblicher Ressourcen zu privaten Zwecken, die Annahme oder Nutzung von auch harmlos erscheinenden Vorteilen und Zuwendungen und nicht zuletzt die Verflechtung persönlicher Beziehungen im betrieblichen und privaten Bereich, wozu sich vor allem Topma­ nager durchaus im betrieblichen Interesse oft regelrecht verpflichtet fühlen. Priva­ te Treffen, Sportveranstaltungen oder auch die Beziehungen der jeweiligen Ehe­ frauen untereinander sind keine harmlose, auch nicht nur private Angelegenhei­ ten, selbst wenn sich manche der Betroffenen nicht vorstellen können oder wol­ len, daß sie nun gerade auf die Dinge verzichten sollen - wie jetzt auch in be­ stimmten Kreisen und ihrer Exklusivität verkehren zu können, die nun gerade Ausdruck des mühsam erreichten persönlichen Status sind. Nur entstehen hier nach außen hin schnell Vermutungen, daß manche Dinge eben nicht „mit rechten Dingen zugehen“, nicht sachgerecht, nicht berechenbar und damit nachvollzieh­ bar eingefädelt werden, sondern vorrangig mit Rücksicht auf Personen, denen man sich tatsächlich oder vermeintlich verpflichtet fühlt und von denen „eine Hand die andere wäscht.“ Die Politik hat hierzu mit Parteispendenaffäre und Sponsering, mit Flugdiensten und Annahme von Zuwendungen gerade mehr als ausreichend Anschauungsmate­ rial geboten mit der Folge, daß sie praktisch in ihrer eigentlichen Funktion und politischem Handeln fast schon zum Erliegen kam. Nicht minder erstaunlich und für viele überraschend dabei war, wie uneinheitlich die Meinung zu dem war, was verboten und erlaubt, rechtlich oder moralisch verwerflich, eine Frage der persön­ lichen Ehre836 oder einfach nur eine Ungeschicklichkeit oder Dummheit ist. Hier entlarvte und bewies sich die heute vorherrschende „individuelle Moral“, von einer mangelnden Ethik ganz zu schweigen. Und es zeigte auch, wie wenig die Menschen in ihrem täglichen, ausschließlich und unmittelbar auf den Profit aus­ gerichtetem Wirken tatsächlich davon bestimmt werden. Deshalb kommt Füh­ rungskräften insoweit eine ganz besondere Verantwortung zu einem wohl be­ dachten, sensiblen und von moralischen Kriterien bestimmten disziplinierten Eigenverhalten zu. Das entspricht auch einem Umfrageergebnis des Instituts für Demoskopie in Allensbach bei Führungskräften, wonach 82 bis 84 Prozent der Meinung sind, daß an Führungskräfte insoweit strengere moralische Maßstäbe angelegt werden müssen als an Normalbürger.837 Je unklarer der Inhalt dessen ist, was gemeinsame Werte sind, desto notwendiger und vorrangiger ist der behutsa­ me Umgang damit. Hier zunächst einmal überhaupt die erforderliche Sensibilität zu entwickeln und - statt mit diesen Dingen auch noch zu renommieren - sich im 836 Vgl. insbesondere dazu den erhellenden Beitrag von Klaus Podak: „Die Ehre ist - die Ehre“ Süddeutsche Zeitung Nr. 21 vom 27.01.2000, S. 17 sowie Hans Leyendecker: „Politiker wie du und ich“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 266 vom 18./19.11.2000, S. 4 837 Dargestellt in Capital 11/1995, S. 188 ff (194)

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Zweifel eher für die optisch unbedenkliche Alternative zu entscheiden, ist eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft, die auch konsequent beherzigt werden sollte. Je sicherer zu bestimmten Dingen die Wertegemeinschaft angenommen werden darf, um so wichtiger ist es, sie dann auch sichtbar zu praktizieren. Denn hier wird Vertrauen organisiert oder - und das immer mehr - bereits im Vorfeld verspielt. Ein im Wettbewerb wirksamer guter Ruf bzw. Sympathie brauchen lange Zeit, bis sie aufgebaut sind, und gehen schnell verloren, wenn die Distanz zwischen organisierter Selbstdarstellung und tatsächlichem Verhalten zu groß wird. Ehrliche Stimmen, die das alles offen ansprechen, tun sich schwer angesichts der Phalanx einer einvernehmlich breiten Übung. Sie sind noch selten, aber stark geprägt von den Erfahrungen der Realität im Ergebnis einmütig. Es kann nach alledem aber keinem Zweifel mehr unterliegen, daß Unternehmen ebenso wie ihre Repräsentanten besonders Entwicklungsbedarf bei der Ausbildung ihrer Persönlichkeit haben. Es ist dieses ein Betätigungsschwerpunkt, der derzeit so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit erfährt oder nennenswerte Rolle spielt. Und wenn somit die „Glaubwürdigkeit ... das Zauberwort der Untemehmenskommunikation“838 ist, erfordert Vorbild auch das Sanktionieren persönlicher Fehllei­ stungen, bei denen bislang allzu oft Moral und Ethik ausgeklammert blieben, so daß Amt und Verantwortung in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit auf ein kaum noch feststellbares Minimalniveau gesunken sind.839

Persönlichkeitsentwicklung des Unternehmens Wenn wir nun nochmals einen Blick zurückwerfen auf das Unternehmen als formal handelnde Person, warum sollte dann alles das, was für die Persönlichkeit eines einzelnen Menschen gilt, nicht auch für ein Unternehmens insgesamt als Partner zutreffen? So ist in der Tat anerkannt, daß sich die Aspekte der Wirklich­ keit des Menschen, also in ihrer materiell-biologischen Bedeutung (Aufgaben und Ziele), ihrer sozialen oder seelischen Komponente (Menschen und Beziehungen) sowie ihrer personalen und ideellen Seite (die Repräsentation von Werten, Nor­ men für Handlungen, Entscheidungen in Beziehungen sowie Haltungen, also das Leitbild), auch auf Organisationen übertragen lassen.840 Wesensmerkmale und Eigenschaften, Einstellungen und Wertmaßstäbe sowie die daraus resultierenden 838

Ruth Lemmer: „Alles eine Frage der inneren Einstellung - Moderne Informationsmedien können ein Mitarbeitergespräch nicht ersetzen“ - Handelsblatt Nr. 221 vom 16.11.1998, S. 43 839 George Turner: „Persönliche Fehlleistungen müssen wieder sanktioniert werden“ - Moral und Ethik bleiben in Deutschland ausgeklammert, wenn es um die Verantwortung für falsche Entschei­ dungen geht mit Hinweisen auf diverse Praxisbeispiele - Handelsblatt vom 18.06.1996, S. 2 840 Karl Berkel in Berkel/Herzog, S. 62 ff.

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Verhaltensweisen sind bei ihnen ebenso verschieden wie bei natürlichen Men­ schen. Zwar sind auch hier allgemein angewandte Rituale und übergreifende Spielre­ geln notwendig als Orientierung und Element der Sicherheit. Sie als Wegweiser und zur schnellen Verständigung zu haben ist ebenfalls ein menschliches Bedürf­ nis im allgemeinen ,Straßenverkehr des Miteinanders4. Sie bilden einen Rahmen, der wie ein Geländer leitet, und dessen Einhaltung die hohe Wahrscheinlichkeit für sich hat, dafür gesellschaftlich nicht diskriminiert und ins Abseits gestellt zu werden.841 Aber individuelle Persönlichkeiten schaffen sie nicht. Studien haben gezeigt, daß Unternehmen, die viele Jahre nach ihrer Gründung noch bestehen, keinesfalls nur nach reinen ökonomischen Vorgaben geführt wer­ den, sondern in jeder Beziehung flexible, lebendige Einheiten mit einer Persön­ lichkeit sind, die es ihnen erlaubt, sich harmonisch zu entwickeln.842 Gemeint sind hierbei nicht nur die „Kemwerte“ (core values) im Rahmen eines langfristi­ gen Untemehmenszwecks - also etwa Qualität, Ehrlichkeit, Kundenorientierung, offene Kommunikation -, die hierfür eigentlich selbstverständlich, aber dennoch nicht in gleicher Weise und in vergleichbarer Gewichtung schon bei allen Unter­ nehmen vorhanden sind.843 Die Persönlichkeit eines Unternehmens ist weit dar­ über hinaus vor allem Ausdruck gemeinsam gelebter Werte, die Identifikationen auch dort schaffen, wo es die Anonymität und mangelnde Zuwendung eines gro­ ßen Unternehmens zu überwinden gilt. Sie macht so das Unternehmen „unver­ wechselbar“,844 auch sympathisch, und fordert damit im besten Sinne die Bezie­ hungen. Dabei geht es in der täglichen Praxis - wie Beispiele zeigen - nicht immer gleich um die großen, auch christlich geprägten Werte zum Menschsein wie etwa „eigenverantwortete Freiheit des Menschen“, „dialogisch-partnerschaftliche Füh­ rungskultur“, „Selbstentfaltung“ und „Selbstverantwortung“, „Gemeinwohlorien­

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Vgl. in diesem Sinne auch die Münchner Unternehmensberaterin Dorothee Echter: „Stichwort: Routine-Design“- Handelsblatt/Karriere vom 1 l./l2.08.2000, S. K2 842 Arie de Geus unter Bezugnahme auf eine Shell-Studie - Manager Magazin 12/1998, S. 192 ff. (193) 843 Vgl. die Untersuchungen des Prof. Jerry Porras, Standford Business School - zitiert nach Dagmar Deckstein: „Erfolg durch Bescheidenheit“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 44 vom 23.02.1998, S. 24 844 Klaus Backhaus, Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnolo­ gien an der Universität Münster - Manager Magazin 11/1998, S. 168; auch der Benediktinerpater Athanasius Wolff sieht die Identitätsnot und die Unsicherheit der Menschen als Folge des Wer­ teverlustes - vgl. den Bericht über die Ergebnisse einer Tagung im Kloster Maria Laach - Personal­ führung 9/1997, S. 916 ff (917)

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tierung“ usw.,845 sondern zunächst nur um ganz banale Dinge - die „systemstabi­ lisierenden Sekundärtugenden“ im Sinne Rupert Lays846 - wie „Pünktlichkeit“, „Teamwork“, die „sorgfältige Vorbereitung von Sitzungen und Unterlagen“, „ausgeprägtes Wissen über die Kunden und Eigeninitiative“, „Ehrlichkeit“, „Auf­ richtigkeit“ und „Informationsoffenheit.“847 Man kann hierzu sicher die jeweils geltenden „heimlichen Spielregeln“ zählen.848 Ein Unternehmen definiert sich somit nicht nur über sein „Haben“, sondern um auch hier mit Rupert Lay zu sprechen - auch über sein „Sein“849 Kern und vordringliche Aufgabe einer den Partner wertschätzenden, insoweit werteorientierten Untemehmenskultur ist daher die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit mit der Ausbildung entsprechender Charaktermerkmale und Eigenschaften als individuelles Unternehmen. Wesensmerkmale der Untemehmenspersönlichkeit sind zwar nicht einer kurzfristigen Veränderung, wohl aber einer Entwicklung grundsätzlich zugänglich. Werteerziehung ihrerseits hat eine inhaltliche und eine Beziehungsseite. Der Wertmaßstab ist mit dem Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun die „Stimmigkeit“ der Gesamtsituation aus der inneren Verfassung, der Zielsetzung, der Rollcnbeziehung und der äußeren Situation. In diesem Sinne wird zum eigentlichen Lemziel der Organisations- und Persönlichkeitsentwick­ lung die „Authentizität“850 Es gilt also nicht nur für natürliche Personen, sondern auch für Unternehmen die Devise: „Sei du selbst!“ Und das bedeutet ganz im Gegenteil zu den häufig anzutreffenden Fassadenarbeiten, sich selbst zu erken­ nen, sich selbst nichts vorzumachen und hellhörig zu werden für die eigene In­ nenwelt. Zur Klärung der Frage „Wer bin ich?“ und damit aktueller Selbster­ kenntnis müssen immer wieder Nachforschungen angestellt werden.851

Vgl. dazu zehn Thesen des Bundesvorsitzenden des Bundes katholischer Unternehmer e.V. (BKU) in Köln, Werner Then: „Als Christen haben Unternehmer besondere Fähigkeiten und Aufgaben“ Personalfiihrung 9/1999, S. 14 ff. 846 Rupert Lay, S. 22 847

„Metallgesellschaft auf der Suche nach einer neuen Kultur“ - Süddeutsche Zeitung vom 10.10.1995; vgl. auch Josef Wieland in „Eine Herausforderung an 200 Jahre deutscher Denkkultur“ KARRIERE-Gespräch in Handelsblatt/KARRIERE Nr. 138 vom 19./20.07.1996, S. Kl; der ehemali­ ge Vorstandssprecher der Deutschen Bank Wilfried Guth bekennt sich zu Werten wie „Geradheit“ und „Fairness“, zur „Zusammengehörigkeit“ und „Weltoffenheit“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 153 vom 07.07.1999, S. 26 848 Peter Scott-Morgan/Arthur D. Little: „Die heimlichen Spielregeln - Die Macht der ungeschriebe­ nen Gesetze im Unternehmen“ - Campus Verlag Frankfurt/New York, 2. Aufl. 1995; vgl. Bericht darüber in Manager Magazin 6/1994, S. 174 ff. R40 Rupert Lay, S. 11 sowie in Wirtschaftswoche Nr. 34 v. 15.08.98, S. 65 850 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 121 und 123 ff. 851 Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 216 ff.

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Das Unternehmen kann dabei entsprechend dem Vorschlag von Friedemann Schulz von Thun, der alle die genannten Aspekte aufgreift, zur Entwicklung sei­ ner eigenen Persönlichkeit und der seiner Mitarbeiter an drei Punkten ansetzen, die dann miteinander verbunden werden:852



Der erste Ansatz erfolgt am Individuum, also jeder „bei mir selber“. Da die Persönlichkeit, die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die Einstellungen und der Charakter des Unternehmens von seinen Mitarbeitern verkörpert werden - sie sind es, die die Kundenerwartungen erfüllen müssen -, ist ent­ scheidend, inwieweit sie als die handelnden Personen mit ihrer natürlichen Persönlichkeit und individuellen Authentizität das Bild und die Persönlich­ keit des ganzen Unternehmens prägen bzw. verkörpern.



Der zweite Ansatz umfaßt die Art des Miteinanders innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Angesichts dieser unvermeidlichen Notwendigkeiten zur Differenzierung in vielen von der Individualität geprägten Beziehungen be­ steht auch ein gegenläufiges Bedürfnis, sich nämlich wieder den Gemein­ samkeiten zuzuwenden und zu fragen, ob es denn solche überhaupt gibt und wo. Trotz aller Interessengegensätze und historisch gewachsener kultureller Unterschiede bietet sich dabei an zu klären, ob nicht der Mensch selbst und seine Natur eine Basis dafür abgeben, solche Gemeinsamkeiten zu finden, sie als Orientierungsgrundlage über alles zu erkennen und als Persönlichkeits­ werte des Unternehmens zu beherzigen. Damit der Kunde oder Mitarbeiter das Unternehmen auch entsprechend seiner eigenen Wertevorstellung erlebt, vollzieht sich die Persönlichkeitsent­ wicklung notgedrungen nicht davon isoliert, sondern in einem laufenden Kontakt mit- und zueinander. Friedemann Schulz von Thun spricht von ei­ nem „therapeutisch-existentiellen Prozeß“, der die Auseinandersetzung mit den „beiden großen Hindernissen“ enthält, nämlich den gesellschaftlichen Verhältnissen „um mich herum“ und „in mir selbst“.853 Die Zahl der „Werte­ konflikte“ in der alltäglichen Praxis ist nicht gering854 und bedarf der ständi­ gen Bearbeitung im Dialog und im persönlichen Kontakt zu dem anderen. Auch insoweit müssen sich die Mächtigen einmal herablassen, selbst initiativ werden und nicht darauf zu warten, daß sich die anderen melden. Dann ist es oft zu spät. Hier gilt nichts anderes als auch sonst zwischen Menschen. Das aktive Zugehen auf den anderen, allein der Versuch dazu ist bereits Beach­ tung und wird auch so gewertet. Gelebte Werte sind nicht Vorgaben und Be­

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Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 19 ff. Friedemann Schulz von Thun, Band 1, S. 124 854 Ken Blanchard u. Michael O’ Connor, S. 123

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vormundungen, sondern faire und glaubwürdige Auseinandersetzung „ohne Berührungsängste“. Und nur wer auch dieses vorlebt, zeigt wahre Führungs­ kompetenz.855 So findet dann letztlich eine überzeugende „Werteerziehung“ statt.856 Dieser Ansatz deckt sich im übrigen auch mit dem Angebot und den me­ thodischen Hilfestellungen einiger professioneller Berater, die den Zusam­ menhang menschlicher Beziehungen im Anschluß an die Familienaufstellun­ gen von Bert Hellinger auch in Organisationen und Unternehmen als ein „Sy­ stem“ verstehen, das man personell aufstellen und damit erfahrbar machen kann. „Systemische Strukturaufstellungen“ fuhren zur Lösung von Bezie­ hungsproblemen, indem sie diese bewußt machen und schon dadurch als Pro­ blem verschwinden lassen.857



Der dritte Ansatz bezieht sich auf die institutioneilen Bedingungen, den „Zu­ ständen“ also, „unter denen die Menschen zusammenkommen.“ Hierbei geht es um eine Vielzahl von strukturellen, technisch-organisatorischen und sy­ stemischen Fragen einschließlich ihrer zahlreichen Ungereimtheiten und Wi­ dersprüche.

In der Praxis der Unternehmen sind die verantwortlich handelnden Menschen jedoch oft weit von solchen Vorstellungen entfernt, auch wenn viele sich immer wieder klagend über die negativen und belastenden Wirkungen der eigenen, un­ geklärten Befindlichkeit auslassen. Den meisten ist dieser gesamte Beziehungs­ aspekt, seine innere Begründung und die sich daran knüpfenden Folgen wenig vertraut oder gar im Rahmen des eigenen Agierens bewußt. Allein mit sachlichen Argumenten ist das auch nicht zu vermitteln, selbst wenn es jemand ernsthaft versuchen wollte, was ja mitunter verzweifelt geschieht. Eine Erkenntnis wurde schon als ziemlich feststehend prophezeit: „Wenige Jahre vor der Jahrtausendwende geht das Zeitalter des Managers, so wie er sich 855

Lovro Mandac, Vorstandsvorsitzender der Kaufhof Warenhaus AG, Köln: „Untemehmensethik will gelebt werden“ - Personalfuhrung 8/1999, S. 1 ^Geschäftsführer des INPUT-Instituts für Personal- und Untemehmensmanagement, Paderborn, Richard K. Streich: „Führungsalltag zwischen Qual und Qualität“ - Personalfuhrung 11/1999, S. 16 ff. (17) 857 Vgl. dazu den Bericht von Dagmar Deckstein: „Wenn sich nach der Aufstellung der Erfolg ein­ stellt - Das Unternehmen auf einen Blick: Eine neue Führungsmethode eröffnet neue Perspektiven der Wahrnehmung von Mitarbeitern“ - Süddeutsche Zeitung Nr. 160 vom 15.07.1999, S. 26; Gunter Weber: „Die Bildsprache einer Aufstellung prägt sich wie eine Metapher intensiv ein“ - Interview Süddeutsche Zeitung Nr. 149 vom 01./02.07.2000, S. Vl/1 (Bildung und Beruf); ebenda auch Sibylle Nagler-Springmann: „Wer richtig steht, der versteht - Die Technik der Systemischen Aufstellung will Konflikte im Betrieben und Organisationen anschaulich machen“ und diess.: „Wie sich Hindernisse fühlen - In einem Seminar über Systemische Aufstellungen spielen die Teilnehmer auch abstrakte Elemente“ m.w. Hinweisen zu entsprechenden Angeboten

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über viele Jahrzehnte entwickelt und verstanden hat, zu Ende.“858 Ob es dann so sein wird, daß nicht nur mit Peter Drucker der Begriff des Managers zu begraben ist, oder nur mehr „Weisheit und Kompetenz“ gelten wie bei den Eingeborenen­ stämmen, mag dahinstehen.859 Richtig ist: „Die bewußte Anpassung an die evolu­ tionäre Dynamik ist der einzige Weg, unser Überleben zu sichern:“860 Es fehlen in Wahrheit auch nicht die Ideen, die Modelle oder Strategien, sondern wenn über­ haupt nur der Wille zur Veränderung.861 Und wenn er vorhanden ist, muß er ge­ äußert werden, sichtbar und für andere nachvollziehbar. Ein strategisches Mana­ gement, welches sich dabei schon der eigenen Untemehmenskultur nicht bewußt ist und seine künftige Strategie nicht an wahren Persönlichkeitskriterien orien­ tiert, wird - davon war schon der Betriebswirtschaftler Edmund Heinen überzeugt - ebenso auf Widerstände stoßen wie wenn es die von ihnen ausgehenden Wir­ kungen nicht berücksichtigt.862 Damit ist es unvermeidlich, jede Untemehmensstrategie durch ein Untemehmenskonzept zu unterlegen, das neben den klassischen sachlichen Komponenten der Kemkompetenzen, Zielmärkte und Organisation von vornherein auch die Berücksichtigung der ‘stakeholder’-Erwartungen, die entsprechende Kommunika­ tion und die Frage einbeziehen: „Welche Untemehmenskultur mit welchem Typ von Mitarbeitern kann die Strategie optimal unterstützen?“863 Es ist die Basis für das notwendige Vertrauen, macht glaubwürdig und lädt in jeder Beziehung zum Mittun, auch zum Abschluß von Verträgen und Bindungen ein. Werteorientierung in diesem Sinne ist keine Kür für die Unternehmen. Die Tatsachen, die für jede Beziehung über die sachliche Rationalität hinaus maßge­ bend und deshalb für ein erfolgreiches Wirtschaften ausschlaggebend sind, unter­ liegen nicht der Wahl ihrer Existenz, sondern allenfalls der Freiheit ihrer Beach858

Renate Hauser: „Manager in der Krise - die Chance für persönliches Wachstum“ - Personalführung 11/1996, S. 930: „Der dominante Macher“ und „Funktionärsdasein des Managers“ haben ausge­ dient. 859 Dagmar Deckstein: „Unter Jägern und Sammlern“ - SZ-Management - Süddeutsche Zeitung Nr. 299 vom 27.12.1999, S. 24 mit entspr. Zitaten o