Hegels Aktualität: Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit 9783846750827, 9783770550821, 377055082X

Hegel zu lesen ist (wieder) an der Zeit. Bei ihm lässt sich lernen, was Vernunft von postmetaphysischen Tendenzen ihrer

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Hegels Aktualität: Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit
 9783846750827, 9783770550821, 377055082X

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Johann Kreuzer (Hrsg.) Hegels Aktualitat

Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

HEGELFORUM

herausgegeben von

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT MICHAEL QUANTE ELISABETH WEISSER-LOHMANN

Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

Johann Kreuzer (Hrsg.)

Hegels Aktualitat Uber die Wirklichkeit der Vemunft in postmetaphysischer Zeit

Wilhelm Fink Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

Gedruckt mit freundlicher Untersttitzung der Universitat Oldenburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet tiber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Aile Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfliltigung und Ubertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch aile Verfabren wie Speicherung und Dbertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bander, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrticklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, Mtinchen (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jtihenplatz I, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, Mtinchen Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schoningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5082-1

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lNHALT

JOHANN KREUZER

Einleitung... ... .............. ... ................... ..................... ............... ....... .. ..............

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LUDWIG SIEP

Anerkennung in der Phiinomenologie des Geistes und in der praktischen Philosophie der Gegenwart. .. ... ..................... .... .. ............... .. ... ............... ......

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MICHAEL QUANTE

Hegels Kritik an der szientistischen Philosophie des Geistes. Eine Analyse der beobachtenden Vemunft..................................................

35

Diskussion.................................................................................................... 56 ULRICH RUSCHIG

Randglossen zur ,Bewegung des Begriffs" .................................................

67

Diskussion.................................................................................................... 83 MYRIAM GERHARD

ZUR ,Revolution der Philosophie durch ihre Zuriikftihrung auf Logik" ..... 93

CLAUS-ARTUR SCHEIER

Hegels Nihilismus Zur Matrix der Modeme ................................................ 109

TILOWESCHE

Hegel und die W ahrheitstheorien der Gegenwart............... ....................... .. 121

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INHALT

WALTER JAESCHKE

Wer denkt metaphysisch? ............................................................................ 151 Diskussion und Abschluj3diskussion ............................................................ 178

Register........................................................................................................ 193

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EINLEITUNG

Der folgende Band dok:umentiert die Beitrage und Ergebnisse einer Arbeitstagung, die am 7. und 8. Dezember 2007 an der Carl von Ossietzky Universitat in Oldenburg unter dem Thema ,1st Hegel ein toter Hund? Ober die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit" stattfand. 1 Die Frage, ob Hegel ein ,toter Hund" sei, war natiirlich eine rein rhetorische Frage, und natiirlich sollte die Antwort auf diese Frage lauten: N ein! - er ist es nicht. Dabei einte alle Teilnehmer freilich auch die Annahme, daB es im Sinne dieser Antwort falsch ware, es sich mit ihr zu einfach zu machen. Hegels philosophische Nachwirk:ung ist von vielerlei Konjunkturen gezeichnet. Dazu gehorten etliche Phasen, in denen die distanzlose Obernahme des Hegelschen Instrumentariums fiir den Versuch, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen, dazu fiihrte, daB Hegel in den jeweiligen Folgephasen unter die Rader des Zeitgeistes geriet. Grund genug, es sich mit der Antwort, daB er kein toter Hund sei, nicht zu leicht machen, und zu priifen, in welcher Hinsicht - und fiir welche Aspekte des Werks - diese Antwort gilt. Die Oberzeugung, daB er es nicht ist, gilt es zu konkretisieren durch die Themenstellungen, die klaren oder wenigstens umreiBen, inwiefern Hegels Denken im Hinblick auf den Gegenstandsbereich der Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit zur Diagnose wie Aufk:larung beitragen kann und ihm insofern lebendige Aktualitat zukommt. Dies im Kontext des beginnenden 21. Jahrhunderts zu tun, ist Sinn wie Absicht der folgenden Beitrage. Gerade hier scheint ein Zuriickkommen auf Hegels Vernunftanspruch von hoher ErschlieBungskraft und insofern an der Zeit zu sein. Am Ende des 20. Jahrhunderts sieht sich das Selbstverstandnis wie der Anspruch philosophischer Reflexion dem ,Ende der groBen Erzahlungen' auf der einen, naturalistischen Reduktionsprogrammen auf der anderen Seite gegeniiber. Einher geht das mit dem vermeintlichen Triumph restlos tauschwertlichen Mustern folgender UrteilsmaBstabe, die den Erfolg oder das Gelingen gesellschaftlichen Zusammenlebens wie gesellschaftlicher Selbstverstandigung den Kriterien der Verwertbarkeit unterwerfen zu konnen meinen. ,Postmetaphysik' wird bier zum Fanal einer Ratio allseitiger Niitzlichkeit und jenes , Unternehme dich selbst', fiir das auch und gerade die Selbstreflexion faktischer Lebenszusammenhange Bedeutung allein im Hinblick auf einen zu messenden Output, d. h. nach dem MaBstab des , Tauschwerts' solcher Selbstreflexion hat. Die Selbstinstrumentalisierung der Vernunft scheint zu ihrem postmetaphysischen Endspiel zu werden. Mit der funktional notwendigen Instrumentalisierung ist 1

Aus thematischen GrUnden ist der Beitrag von Tilo Wesche, der bei der Tagung nicht vorgetragen wurde, erganzt.

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JOHANN KREUZER

freilich die Instrumentalisierbarkeit dessen, was Vemunft heiBt, zum integralen Moment gesellschaftlicher Selbstreproduktion geworden. Das hat Auswirkungen ftir den Begriff ihrer Wirklichkeit, hat aber auch Auswirkungen ftir das VersHindnis dessen, was im Kontext gesellschaftlicher Selbstreproduktion unter materiellen Produktivkraften zu verstehen ist - wenn die Deutung und Auffassung faktischer Lebenszusammenhiinge (und sei es in den Schwundstufen und Versatzstiicken, die in der Intemalisierung von Zwiingen bestehen) anfangt, zu diesen Produktivkriiften zu geh6ren. Lassen sich und wie lassen sich die sich daraus ergebenden Veranderungen nicht bloB beschreiben, sondem auch begreifen? Urn diese Frage zu beantworten, ist das begriffliche Instrumentarium, das sich bei Hegel findet, auBerordentlich attraktiv. Er war einer der ersten, der die Bedeutung des materiellen Produktionsprozesses und Selbstreproduktionsprozesses ftir die Konstitution gesellschaftlichen Zusammenlebens erkannt und analysiert hat. Was , Wirklichkeit der Vemunft' heiBt, ist im Sinne des genitivus obiectivus wie des genitivus subiectivus zu lesen. Das laBt sich bei und mit Hegellemen - darin griindet seine ,Aktualitat'. Bekanntlich spielt die rhetorische Frage nach dem ,toten Hund Hegel' auf eine Formulierung von Karl Marx an. Im Nachwort zur 2. Auflage des Kapitals schreibt Marx, er babe die ,Hegelsche Dialektik" zu ,einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war." Nun aber, dreiBig Jahre spiiter, gefielen sich diejenigen, die ,im gebildeten Deutschland das groBe Wort ftihrt[en], darin, Hegel zu behandeln [ ... ] wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, niimlich als ,toten Hund' ." Deshalb bekenne er sich jetzt ( 1873) ,offen als Schuler jenes groBen Denkers" und dessen Methode, die ihrem ,Wesen nach kritisch und revolutioniir" sei. 2 ,Kritisch und revolutioniir': in einem soziokulturellen Umfeld, in dem das Gelingen vergesellschafteten Daseins nach dem Muster von Input und Output gemessen wird und die Wissenschaft zum Dienstleister solcher ,Revolutionen' wird, die sich in der Produktion jeweiliger benchmarks und deren rationaler Evaluation bemessen, gilt es an diese Verkniipfung zu erinnem. - Marx selbst hatte iibrigens einigen Anteil an jenen Entwicklungen, gegen die er dreiBig Jahre danach (1873) wettert. So heiBt es in der Deutschen Ideologie: ,Da, wo die Spekulation aufhort, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung [ ... ] des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen von BewuBtsein h6ren auf, wirkliches Wissen muB an ihre Stelle treten."3 Deutlich wird, daB die Wendung zu den ,facts' der positiven Wissenschaften, die den Eingang in selbstverschuldete Unmiindigkeit bedeutet, wenn sie zum priiskriptiven Methodenparadigma verallgemeinert wird, nicht neu ist, sondem zur Signatur des 19. Jahrhunderts geh6rt. Im Obergang vom 20. zum 21. Jahrhundert freilich hat sie eine Auspriigung erhalten, die 2 3

Vgl. K. Marx, Das Kapital, Berlin 18 1972, S. 27 f. K. Marx I F. Engels, Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 27.

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EINLEITUNG

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Marx' Wort von der ,Naturalisierung des Menschen' eine Zielrichtung verliehen hat, die sie bei ihm schwerlich gehabt haben dtirfte. Gegen den Eingang in die selbstverschuldete Unmtindigkeit positivistischer Reduktionismen, die schon und gerade im 19. Jahrhundert die Verhexungen des Geistes mit naturalistischen Mitteln auszutreiben suchten - das ist gerade in jiingster Zeit in reprasentativer Weise dokumentiert worden4 - , wird Hegel von Marx aufgerufen. Ein solches Zurtickkommen auf Hegel dtirfte zu Beginn des 21. nicht weniger angezeigt sein als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Denn gerade die Verhexungen einer sich zum funktionalen Dienstleister depotenzierenden Vemunft bedtirfen der Vemunft im Sinne von Aufklarung, soll sich wirkliches Wissen nicht in den Schwundstufen sich selbst depotenzierender Vemunft erschopfen. ,Wirkliches Wissen': mit dem doppelten Anspruch, wirklich zu wissen wie Wirkliches zu wissen, gelangt der eigentliche Titel der durch die folgenden Beitrage dokumentierten Arbeitstagung: ,;Ober die Wirklichkeit der Vemunft in postmetaphysischer Zeit" in den Blick. Nattirlich fragt man sich, was dieses Adjektiv ,postmetaphysisch" heiBen soll. Zu konzedieren ist zum ersten, daB es ein irrlichtemdes Adjektiv ist, und zum zweiten, daB es nicht zuletzt auch aus anktindigungsstrategischen Grunden eingesetzt wurde. Denn was klingt besser als solche ,Post- ... Komposita' (auch wenn sie schon auf dem besten Weg sind, durch die Neuro-Strich-Komposita abgelost zu werden)? Seit der Rede von Postmodeme gefallt sich der Zeitgeist des letzten Vierteljahrhunderts in ihnen: Sie klingen gut, diese Post-Komposita- denn sie implizieren, daB man a) schlauer ist als das mit dem Prafix ,Post-, Versehene und daB man b) die Lektion daraus gelemt hat. Kann man schlauer sein als diejenigen Gestalten der Selbstreflexion kultureller Erfahrung, die man als metaphysische zum einen meint bezeichnen zu konnen, wei! man sich zum anderen anmaBt - gelegentlich auch aus Unkenntnis -, sie hinter sich gelassen zu haben? Vor den groBen Erzahlungen, die man mit der Rede von Metaphysik verbindet, beugen wir spatestens seit Kant das Knie nicht mehr. Aber sind sie deswegen vorbei? Und: in vermeinter Postmetaphysizitat vor den Facts des Vorfindlichen oder den Regelkreisen okonomischer Notwendigkeiten das Knie zu beugen sei es in der empiristischen oder der naturalistischen Variante -, ist szientifischer Animismus, der seine eigenen, nicht weniger als die vermeintlich verabschiedeten ,metaphysischen' Voraussetzungen hat: Der Status quo soB als naturgegebenes Datum eingefriedet, durch dienstleistendes Wissen perfektioniert und der Storenfried Metaphysik ausgegrenzt werden.

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Vgl. Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Hg. v. K. Bayertz, M. Gerhard u. W. Jaeschke. Bd. 1: Der Materialismus-Streit, Bd. 2: Der DarwinismusStreit, Bd. 3: Der lgnorabimus-Streit, Hamburg 2007.

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Hegel hat diese Ausgrenzung des metaphysischen als eines ,abstrakten" Denkens vor etwas mehr als zweihundert Jahren antizipiert oder auch zeitdiagnostisch - am Beginn des Industriezeitalters - registriert: ,Denken? Abstrakt? - Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So bore ich schon einen vom Feinde erkauften Verrater ausrufen, daB bier von Metaphysik die Rede sein werde. Denn Metaphysik ist das Wort, wie abstrakt und beinahe auch Denken das Wort ist, vor demjeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonlauft." 5 Hegels Diagnose war kurz zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Hohe ihrer Zeit. Sie wares in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts emeut - ,Metaphysik" werde, so leitet Adorno 1965 seine Vorlesung zu Begriff und Problemen der Metaphysik ein, ,geradezu als ein Schimpfwort gebraucht, das gleichsinnig sein soll mit eitlem Spekulieren, mit bloBer Gedankenspinnerei und Gott weiB was fur anderen Lastem [ ... )'"' - und sie ist es derzeit und nicht weniger. Besinnung- die Formen der Selbstreflexion, deren Wert nicht quantifizierbar ist und die sich auch nicht sofort in Alltagspraxis umsetzen lassen - wird im BewuBtseinsstand, der sich im Kompositum ,Postmetaphysik' artikuliert, durch die MaBgabe vermeinter Relevanz - sei es die gesellschaftliche, sei es die existentiell-unmittelbare, sei es die methodologisch-wissenschaftstheoretische - wie vermeintlicher Effizienz ersetzt. Relevanz, Effizienz, die Bindung an einen durchs Denken zu erbringenden Output: das sind Stichworte ftir jene brave new world, die sich metaphysikfrei als die beste aller jenen diinkt, die nach den MaBgaben der Niitzlichkeit funktioniert. Es ist die Niitzlichkeit, die im Koordinatensystem gesellschaftlicher Relevanz und Akzeptanz zur unausgesprochenen Interaktionsnorm und zum unausgesprochenen Interaktionsregulativ wird. Interaktionsnormen wie -regulative freilich sind genau das, was man, nicht zuletzt mit Hegel, metaphysische Grundeinstellung nennen kann und als Grundeinstellungen zu analysieren hat, will man die empirisch erscheinende Realitat begreifen und nicht bloB zur Kenntnis nehmen. Relevanz, Effizienz, Niitzlichkeit: das sind die Indikatoren einer sich durchrationalisiert - metaphysischer Grillen entschlagen - habenden Vemunft. Hegel hat in der Phiinomenologie des Geistes die Gestalt einer sich zu allseitiger Niitzlichkeit durchrationalisierenden Vemunft folgendermaBen charakterisiert: ,Wie dem Menschen alles niitzlich ist, so ist er es ebenfalls, und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinniitzlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen. So viel er fur sich sorgt, gerade so viel muB er sich auch hergeben fur die Andem, und so viel er sich hergibt, so viel sorgt er fur sich selbst, eine Hand wascht die andere. Wo er aber sich

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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ,Wer denkt abstrakt?", in: Theorie-Werkausgabe, Bd. 2, Frankfurt/M. 1970, S. 575. Vgl. T. W. Adorno, Metaphysik. Begriffund Probleme (1965), hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1998, S. 9.

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EINLEITUNG

befindet, ist er recht daran, er niitzt andern und wird geniitzt."7 Geltung, vielleicht sogar Exzellenzgeltung hat nur, wer andere nutzt und von anderen geniitzt wird: 1st das, urn beim Nachsten zu bleiben - nicht genau jene Niitzlichkeit, auf deren Prokrutesbett derzeit die Geisteswissenschaften gelegt werden? - ist das, allgemeiner formuliert, nicht jene Substruktur des BewuBtseins, die seine Praxis zum Instrument der Quantifizierung aller Lebensbereiche und Verwertbarkeit zum MaBstab wie zum Zerrbild verniinftigen Tuns werden laBt? Doch auch die sich zum Trupp des Niitzlichen machende Gestalt des BewuBtseins ist eine Form der Vernunft- eine vielleicht nicht verniinftige, aber eine Gestalt ihrer Wirklichkeit. Sie sollte deshalb, gerade mit Hegel, kein AnlaB zum Lamentieren sein. Aus der Analyse des Gegebenen allein vermag die Kritik an ihm zu erwachsen. Die Frage nach der ,Wirklichkeit der Vernunft' ist somit doppelter Natur: sie fragt nach den Formen, die wir als Gestalten einer jeweils produzierten Realitat vorfinden - und sie fragt danach, was die Vernunft als das, was wirklich verniinftig ist oder ware, in sich findet. Hegel hat nun mit guten Grunden darauf hingewiesen, daB die Wirklichkeit der Vernunft sich nicht darin erschopfen kann, es jeweils besser als die vorhandene Realitat zu wissen. , Wirkliches Wissen' ist ein Wissen der gegebenen (wenn man so will: objektiv oder dinglich vorhandenen) Wirklichkeit. Sieht man statt dessen ,die Gegenwart fiir ein Eitles" an, tiber das die Reflexion ,hinaus ist und es besser weiB", so ist solches Reflektieren nicht nur selbst ,eitel', sondern ein Teil der unbefriedigten Gegenwart. 8 Und Hegel priizisiert, ,daB die Philosophie, weil sie das Ergriinden des Vemiin.ftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwiirtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist, das Gott weiB wo sein sollte [ ... ]." Denn die ,unendlich mannigfaltigen Verhaltnisse [ ... ],die sich in dieser AuBerlichkeit [ ... ] bilden, dieses unendliche Material und seine Regulierung ist nicht Gegenstand der Philosophie. Sie mischte sich damit in Dinge, die sie nicht angehen; guten Rat dariiber zu erteilen, kann sie sich ersparen; Platon konnte es unterlassen, den Ammen anzuempfehlen, mit den Kindem nie stillezustehen [... ], ebenso Fichte die Vervollkommnung der PaBpolizei his dahin, wie man es nannte, zu konstruieren, daB von den Verdachtigen nicht nur das Signalement in den PaB gesetzt, sondern das Portrat darin gemalt werden sollte.''9 An diese Vorwegnahme eines vernunftperfektionierten Dberwachungsstaates ist weniger deshalb zu erinnern, weil Hegels Befiirchtungen durch die nachfolgenden Entwicklungen in drastischer Weise iiberholt worden sind. Zu erinnern ist an seine Befiirchtung vielmehr deshalb, weil sie aus einem diagnostischen Befund folgt. Dieser Befund gilt der ,metaphysischen' Struktur der ,Zwiespaltigkeit des Lebens", die den Menschen in der ,Mo7

Vgl. Hegel, Phiinomenologie des Geistes, hrsg. v. H.-F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg

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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Theorie-Werkausgabe Bd. 7, S. 25. Vgl. ebd., S. 24 f.

1988,

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s. 371.

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deme' zu einem ,Amphibienwesen' werden liiBt, das sowohl in der (deskriptiv) zur Kenntnis zu nehmenden Welt wie in dem Wissen, was dieser Welt gegentiber (priiskriptiv wie kritisch) zu fordem ist, zu leben hat. Was Hegel in diesem Zusammenhang kritisch zu Fichtes Vervollkommnungsabsicht gesellschaftlicher Selbstkontrolle anmerkt, gilt der Tendenz der Vemunft, nichts der eigenen Herrschaft entzogen sein zu lassen. 10 Hegel war einer der ersten, der diese Dialektik aufkliirerischer Vemunft als Zwiespalt ihrer Wirklichkeit benannt hat. Die Aufspaltung der Erfahrungswirklichkeit in das, was ist, und das, was als Seinsollendes davon getrennt und zugleich gewuBt wird, ist ebenso unbefriedigend wie die ,entzweite' Realitiit, die sich darin ausdrtickt. Die damit angesprochene Kritik an einem Vemunftkonzept, das es sich ,einfacher' macht, indem es die Wirklichkeit der Vemunft auf Kritik beschriinkt, kann im Hinblick auf den Begriff der Wirklichkeit der Vemunft bei Hegel (als Kritik am Kantschen Vemunftkonzept und) als bekannt unterstellt werden. Ebenso unterstellt werden kann der Hegelsche Anspruch, die Entgegensetzungs- und Entzweiungsstrukturen, die zur metaphysischen Signatur der Neuzeit gehoren, durch das BewuBtmachen ihrer Genealogie dadurch zu ,tiberwinden', daB sie dem Begreifen zugiinglich gemacht werden. Zu fragen aber bleibt, ob die angesprochene ,amphibische' Aufspaltung sich dadurch tiberwinden liiBt, daB die Versohnung der Erfahrungswirklichkeit im Begreifen der Antagonismen der gegebenen Realitiit ebenso wie der Entzweiung zwischen dem moralischen Sollen und dem faktischen Sein sich in einem ,Insichgehen" erschopft, dem die facta bruta der Geschichte nur abgetane AuBerlichkeit sind. Dafiir optiert Hegel am SchluB der Phiinomenologie des Geistes mit der Bindestrich ,ErInnerung" und dem ihr impliziten (neuplatonischen) Pathos, daB ,Geist' in der Rtickkehr zu sich selbst bestehe - einer Rtickkehr, in der die Formen seiner EntiiuBerung getilgt und zu jener ,Schiidelstiitte" werden, auf der er einerseits thront und ohne die er andererseits ,das leblose Einsame ware". 11 N attirlich greift Hegels Argument, daB das, was als das Andere des Geistes gedacht wird, ein durch den Geist als sein Anderes Gedachtes ist. Aber kann das 10

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Der ,modeme Verstand" bringe ,im Menschen diesen Gegensatz hervor, der ihn zur Amphibie macht, indem er nun in zwei Welten zu Ieben hat, die sich widersprechen, so daB in diesem Widerspruch nun auch das Bewul3tsein sich umhertreibt und, von der einen Seite heriibergeworfen zu der anderen, unfahig ist, sich fiir sich in der einen wie in der anderen zu befriedigen. Denn einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bediirfnis und der Not bedriickt, von der Natur bedriingt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren GenuJ3 verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, bliihenden Wirklichkeit und lost sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Wiirde nun allein in der Rechtlosigkeit und MiBhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat." Hegel, Vorlesungen iiber die Asthetik (Ill. Begriff des Kunstschiinen. 3. Zweck der Kunst), in: Theorie-Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt/Main 1970, S. 80/81. Vgl. Phiinomenologie des Geistes, a. a. 0., S. 530/31.

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EINLEITUNG

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heiBen oder kann sich das darin erschopfen, daB die Formen und Gestalten, in denen die Produktivitat des Geistes durch die und in Formen der Verdinglichung iiberhaupt erst faBbar wird, sich auf die Funktion einer ,Schadelstatte' reduziert finden, aus der der Geist sich zuerst durch Er-Innerung zuriickzieht, urn sie dann in sich wieder aus ihr erstehen zu lassen? Wohl kaum. Nicht indem sie sich aus Formen der Verdinglichung zuriickzieht, sondem indem sie sich in ihnen erkennt - sich in und nicht gleichsam aus den Formen ihrer EntauBerung ,erinnert' -, begreift sich die Vemunft in ihrer Wirklichkeit als Geist. ,Verdinglichung' stellt daftir keine bloBe AuBerlichkeit dar. Was Hegel im Herr-Knecht-Kapitel der Phiinomenologie erklart, gilt gerade auch fiir die Wirklichkeit der Vemunft: erst in der Annahme ,knechtischer' Verdinglichung realisiert sich jene Struktur, die Geist ist, wirklich. 12 Eine Theorie der Verdinglichung wird damit zu einem integralen Moment sich in ihrer Wirklichkeit begreifender Vemunft. Fiir eine Auffassung des Geistes, die das Moment der Notwendigkeit seiner Verdinglichung anerkennt, gibt es - darauf kann hier freilich nur hingewiesen werden - Vorgaben bei Hegels Jugendfreund Holderlin. Er hat als erster erkannt, daB die Konzeption einer mentalen Innenwelt, die es unabhangig von ihrer Objektivation in Zeichen gabe, ein logisches Unding ist. Aus der Einsicht, daB das, was Geist heiBt, der EntauBerung oder Verdinglichung durch und in Zeichen bedarf, folgert er die ,Verfahrungsweise des poetischen Geistes". Zu deren zentraler Forderung wird es, ,eine Erinnerung zu haben". 13 Eine Erinnerung ,zu haben' heiBt nicht bloB zu erinnem. Erinnem ist ein Akt der Verbindung - seiner logischen Struktur nach jene reproduktiv-produktive Synthesis, die Kant als den hochsten Punkt aller Transzendentalphilosophie bezeichnet hat. Hegel hat zu der daraus folgenden Einheit des ,Ich denke" notiert, daB sie zu ,den tiefsten und richtigsten Einsichten" gehOre, die sich in der Kritik der reinen Vernunft fanden. 14 Einheit ist aber immer die Einheit von Unterschiedenem - was als Einheit gedacht (gemeint, gefiihlt, erfahren, erlitten ... ) wird, setzt das von ihr Unterschiedene nicht nur voraus, sondem bedarf seiner, urn selbst mitgeteilt werden zu konnen. Begreifen laBt sich die Beziehung-auf-sich in der Beziehung-auf-anderes, die Erinnem bedeutet, nicht inwendig: nicht dadurch, daB eine mentale Bindestrich-Innenwelt ,Er-Innerung' der Schadelstatte der Geschichte entgegengesetzt wird. Was Beziehung-auf-sich in der Beziehung-aufanderes heiBt, bedarf der Objektivierung oder- in der Formulierung Holderlins der ,empirischen Individualisierung durch die Wahl eines auBeren Objekts' .15 Es 12

13

14

15

Vgl. ebd., S. 132-137. Vgl. F. Hii1derlin, ,Wenn der Dichter einmal des Geistes miichtig ist...", in: J. Ch. F. Hiilderlin, Theoretische Schriften, mit einer Einl. hg. v. J. Kreuzer, Hamburg 1998, S. 39-62 (zur Forderung, ,eine Erinnerung zu haben" vgl. ebd. S. 49; zum Terminus ,Verfahrensweise des poetischen Geistes" vgl. insbes. ebd., S. 46 ff.). Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, zit. nach: Theorie-Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt!M. 1969, S. 254. Vgl. Hiilderlin, ,Wenn der Dichter einmal des Geistes miichtig ist ... ",a. a. 0., S. 52.

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bedarf der Verdinglichung. Die Einheit, die Erinnem konstituiert, gibt es nur, indem und insofem es an einem Objekt in seiner uneinholbaren Differenz zu eben diesem Objekt bewuBt wird. Was Erinnem ist, wird im ,Machen von Zeichen' produktiv. In diesem Sinn ist es der Schltissel zum Universum kultureller Symbolisierungsleistungen. 16 Doch zurtick zu Hegel.- Was Wirklichkeit der Vemunft heiBt, HiBt sich bei ibm Iemen. Die folgenden Beitrage verdeutlichen das jeweils in exemplarischer Weise. Das sachliche Spektrum, das dabei angedeckt wird, stellt zugleich den Aktualitatsgehalt, d. h. die wirklichkeitserschlieBende Kraft und damit die Lebendigkeit des Hegelschen Denkens unter Beweis. Was sich im folgenden iiber Anerkennung, uber die Analyse der beobachtenden Vemunft, was sich iiber eine (aus) der ,Bewegung des Begriffs' folgende materialistische Dialektik oder die Revolutionierung philosophischer Reflexion durch die Transformation der Logik von einem Kanon zu ihrem Organon, was sich iiber die dieser Transformation implizite ,Matrix der Modeme' zum einen und ihren Bezug zu den Wahrheitstheorien der Gegenwart zum anderen ausgefiihrt findet, was es schlieBlich bedeutet, daB das ,Ende der Metaphysik' das philosophiegeschichtliche Datum ist, von dem gerade Hegel ausgeht - all dies belegt, daB die Aktivierung von Hegels Vemunftkonzept an der Zeit ist. Dies gilt urn so mehr - ein zweiter Verweis auf Holderlin sei abschlieBend erlaubt -, wenn dieses Vemunftkonzept mit den Denkmotiven verbunden wird, die Hegel mit seinem Jugendfreund ursprtinglich teilte. Letzterem ist es erspart geblieben, jenen Kotau vor den realiter gegebenen Formen der Wirklichkeit zu machen, der sich zweifelsohne beim spaten Hegel zeigt. Dabei geht es nicht urn das Phantasma des intransingenten Schonheitskunders, den Hegel als ,hartes Herz" angesprochen hat, das die Kommunikation verweigere. Eher ist an das zu denken, was Holderlin im Riickblick auf das in der gemeinsamen Zeit in Frankfurt wieder temporar mogliche direkte Gesprach mit Hegel notiert und programmatisch festgehalten hat: nur das sei ,die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle sezt, zur Wahrheit wird. [ ... ] Aber hiezu ist schneller Begriff am nothigsten." 17 Hegel scheint im Hinblick darauf, was dieser ,schnelle Begriff' vermoge, harmoniebedurftiger gewesen zu sein, als es Holderlin war. So spricht er im eben erwahnten Passus der Phiinomenologie des Geistes vom ,Brechen des harten Herzens", das sich mit der vorhandenen Wirklichkeit zu 16

17

Vgl. zum Ganzen ausfiihrlicher J. Kreuzer, ,Zeichen machende Phantasie. Uber ein Stichwort Hegels und eine urspriingliche Einsicht Holderlins", in: Zeitschrift for Kulturphilosophie 2 (2008/2), Hamburg 2008, S. 253-278. V gl. Holderlin, Theoretische Schriften, a. a. 0., S. 18. - Zur Allusion auf den § 49 der Kritik der Urteilskraft (Kants Bestimmung des asthetischen Geistes als eines Vermogens, ,das schnell voriibergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen, und in einen Begriff (der eben darum original ist und zugleich eine neue Regel eroffnet, die aus keinen vorhergehenden Prinzipien oder Beispielen hat gefolgert werden konnen) zu vereinigen, der sich ohne Zwang der Regeln mitteilen laBt [... ]") vgl. ebd., S. 121.

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,versohnen" habe, und sagt an dieser entscheidenden Schaltstelle dieses Buchs, daB die ,Wunden des Geistes heilen, ohne daB Narben bleiben." 18 Diesen Optimismus wird man - gerade wenn man sich Hegels wirklichkeitsgesattigtem Geistbegriff anschlieBt - spiitestens nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht aufrecht erhalten konnen. Davon aber bleibt der methodische Anspruch der Wirklichkeit der Vemunft, den zur Sprache zu bringen Hegels Programm war, unberiihrt. Ober die Perspektiven dieses Anspruchs geben die folgenden Beitriige beredte Auskunft. Dank gebiihrt der Universitatsgesellschaft Oldenburg ftir die finanzielle Unterstiitzung der Tagung, dem Akademie Verlag ftir die Abdruckgenehmigung des Beitrags von Ludwig Siep (zuerst erschienen im Sonderband 21 der Deutschen Zeitschrift for Philosophien: Anerkennung. Hrsg. v. Hans-Christoph Schmidt am Busch u. Christopher F. Zum, Berlin 2009) und dem Suhrkamp Verlag ftir die des Beitrags von Michael Quante (zuerst erschienen in: Hegels Phiinomenologie des Geistes - Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlilsse/werk der Moderne. Hrsg. v. Klaus Vieweg u. Wolfgang Welsch, Frankfurt/M. 2008). Teile der Diskussion lieBen sich in publikationswiirdiger Form mitschneiden; ftir das EinversHindnis, das gesprochene Wort abzudrucken, danke ich den Beteiligten. Fiir die Bearbeitung der Texte am PC, die Erstellung der Register und insbesondere ftir die Transkription der Diskussionsmitschnitte gilt der Dank Christine Zunke. Oldenburg im November 2009,

JOHANN KREUZER

18

Vgl. Phiinomenologie des Geistes, a. a. 0., S. 438-442.

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LUDWIG SIEP

ANERKENNUNG IN DER PHANOMENOLOGIE DES GEISTES UND IN DER PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE DER GEGENWART

Der deutsche Begriff der ,Anerkennung"' gewinnt seit der Philosophie Fichtes zentrale philosophische Bedeutung. Fichte versteht darunter das wechselseitige Verhaltnis selbstbewusster Individuen, die urn der moglichen Freiheitsausiibung der anderen willen ihre eigene Handlungsfreiheit begrenzen. 2 Tun sie das regelmaBig nach einem allgemeinen Gesetz, dann befinden sie sich in einem Rechtsverhaltnis, dem nach Fichte einzig moglichen wechselseitigen Verhaltnis von Individuen als vemiinftiger Sinnenwesen. Ohne ein zumindest gelegentliches Ereignis der wechselseitigen Anerkennung oder zumindest der freien Aufforderung zu selbstbestimmtem Handeln konnen sie sich iiberhaupt nicht ihrer selbst als Individuen bewusst werden. Fichte hat diese Theorie in seiner Jenaer Rechtsphilosophie von 1796/97 und seiner wenig spater (1798) verOffentlichten Sittenlehre weiter ausgebaut, aber im Wesentlichen auf Rechtsverhaltnisse und Beziehungen gegenseitiger moralischer Achtung beschrankt. Nur wenige Jahre spater hat Hegel an derselben Universitat den Begriff Anerkennung und die Grundlagen der Fichteschen Konzeption aufgenommen und bedeutend erweitert. In den Jenaer Schriften zur Geistphilosophie konzipiert er eine Theorie der Anerkennung als einer ,Bewegung",' die eine Reihe von Stufen sowohl der individuellen Bewusstseinsbildung wie der menschlichen Kulturgeschichte umfasst. Es handelt sich nach Hegel urn einen teleologischen Prozess, der bei ungestortem Verlauf ein Individuum zum Bewusstsein seiner vemiinftigen Subjektivitat und seiner Stellung in einer vemiinftig verfassten Rechts-, Staats- und Kulturgemeinschaft bringen kann. In der menschlichen Kulturgeschichte umfasst er eine Reihe von Stufen der Herrschaft, der Organisation von Arbeit, Moral, Recht,

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Der franzosische Begriff reconnaissance scheint, wie die Uberlegungen Ricoeurs zeigen, umfassender zu sein als das deutsche ,,Anerkennung". Vgl. P. Ricoeur, Parcours de Ia reconnaissance. Trois etudes, Paris 2004. ldentifizieren und Wiedererkennen werden im Deutschen kaum unter diesen Begriffsubsumiert. Vgl. dazu meine Rezension des Ricoeur-Buches: Der Lange Weg zur Anerkennung. Im Erscheinen in DZfphF. Zur Anerkennung bei Fichte vgl. u. a. E. Diising, lntersubjektivitiit und Selbstbewusstsein. Koln 1986, sowie L. Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/Miinchen 1979, Kap. I, I. Von der ,Bewegung des Anerkennens" spricht Hegel in der Phiinomenologie des Geistes: G. W. F. Hegel, Phiinomenologie des Geistes, hrsg. v. H. Wessels et al., Hamburg 1988, S. 128.

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Staat und Kultur, die in den Rechts- und Sozia1verhii1tnissen des modemen europiiischen Verfassungsstaats der nachrevo1utioniiren Zeit gipfe1t. Hegels bekanntester Text zum Thema Anerkennung ist das Se1bstbewusstseinskapite1 der Phiinomenologie des Geistes von 1807. Im Folgenden werde ich aber auf die Phiinomenologie als ganze eingehen. In einem ersten Teil soll Begriff, Theorie und Funktion der Anerkennung in diesem Buch erliiutert werden. Im zweiten Teil werde ich auf modeme Versuche einer Weiterentwicklung der Theorie der Anerkennung eingehen.

I. Anerkennung in der Phanomenologie des Geistes Die Phiinomenologie des Geistes hat bekanntlich eine doppelte Funktion in Hegels System: Sie ist zum einen eine Hinfiihrung und ein negativer, die Altemativen widerlegender Beweis der Richtigkeit dessen, was Hegel den Standpunkt der Spekulation nennt. Es handelt sich dabei urn eine ,geistmonistische" Position, nach der alle Wirklichkeit, sowohl der Natur wie der Kultur und des Denkens, ein Prozess des ,Zusichkommens", d. h. des sich Entfaltens und Reflektierens einer vemiinftigen Struktur ist. Diese Struktur liisst sich auf ein holistisches System von Bedeutungen zuriickfiihren, die in reiner Form in der Wissenschaft der Logik dargestellt werden konnen. Auch in Bezug auf Anerkennung unterscheidet Hegel in der Phiinomenologie den Begriff und die konkreten Gestalten des Selbstbewusstseins und des Geistes, die der Bewegung des Anerkennens zugehoren. Der Be griff wird zu Beginn des Selbstbewusstseinskapitels exponiert. Die Bewegung macht wiederum einen teleologischen Prozess aus, der in der Phiinomenologie iiber verschiedene Stationen des Scheitems und der dadurch ausgelosten dialektischen Erfahrungen zur realisierten Anerkennung im Geist, letztlich im absoluten Wissen fiihrt. Hegel gebraucht den Begriff Anerkennung aber nur an wenigen ,Gelenkstellen" des Selbstbewusstseins- und des Geistkapitels. Fiir die allgemeine Struktur der Anerkennung in der Phiinomenologie scheinen mir die folgenden Grundziige maBgeblich: 1. Hegel erweitert die von Fichte analysierte Struktur der wechselseitigen Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen urn eine hoherstufige Anerkennung zwischen Individuen und Gemeinschaftsformen bzw. sozialen Systemen und Institutionen. Dieses Anerkennungsverhiiltnis entwickelt sich zwischen ,lch" und ,Wir". Es ist dem inter-individuellen einerseits als Grundlage vorausgesetzt - so konnte z. B. ohne eine Integration in eine Primiirgruppe wie die Familie individuelles Bewusstsein nicht adiiquat ausgebildet werden. Zum anderen sind aber ohne die Anerkennung zwischen Individuen bestimmte Gemeinschaftsformen und der Vollzug eines ,Wir-BewuBtseins" nicht moglich. Wechselseitiges Voraussetzen ist nach Hegels Wesenslogik ja kein logischer Zirkel, sondem eine Struktur sich selbst organisierender und explizierender Verhiiltnisse. Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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2. Hegel versteht die Anerkennungsrelationen aufbeiden Ebenen als dialektisch in dem Sinne, dass jede Seite die andere zugleich setzt (impliziert) und negiert (sich selbst durch ihre Vemeinung konstituiert). Diese fUr sich widerspriichliche Struktur muss durch eine zunehmende Differenzierung der Beziehung tiberwunden werden, in der die Begriffe und Relationen in komplexere tiberfiihrt werden, die sowohl die Ein- wie die Ausschlussbeziehungen enthalten. In Bezug auf die interpersonalen Verhaltnisse nennt Hegel das in der Phiinomenologie eine ,doppelsinnige" Beziehung. Sie besteht darin, dass jedes selbstbewusste Wesen in gewisser Weise seine Identitiit in einem anderen selbstbewussten Wesen hat, dem es Bewusstseinseigenschaften zuschreibt und das ihm seine eigenen bestiitigt, aber dieses ,,Anderssein" seiner selbst auch negieren muss. Es muss sich durch Ausgrenzen wiedergewinnen und das andere dadurch zugleich ,frei entlassen". Das ist nicht allein durch eigenes Handeln moglich, vielmehr muss der Andere den gleichen Prozess fUr sich bzw. ,durch es selbst" vollziehen. Hegel nennt das den Doppelsinn des Tuns, ,ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein" (128). 4 Und das noch einmal in einer ,gedoppelten" Weise: das Tun der Aufhebung muss sowohl ein Tun gegen sich und den anderen wie ein Tun des einen und des anderen sein. Selbstbewusstsein verlangt, sich im anderen und in Absetzung vom anderen zu erkennen, und dies durch wechselseitige (kognitive und emotionale) Zuwendung und Befreiung. 3. Diese Struktur, die nicht nur fUr die ,Ich-Anderer", sondem auch fUr die ,Ich-Wir"-Beziehung gilt, wird aber in der Phiinomenologie nicht systematisch an Formen des Geistes dargestellt, sondem im Prozess der ,Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins" entwickelt. Der besteht ja darin, dass die Welt- und Selbstverstandnisse, die in der menschlichen Kultur- in Religion und Kunst, Moral und Wissenschaft - aufeinander teils zeitlich gefolgt sind, teils systematisch zu unterscheiden sind, einseitige Thesen tiber die wahre Realitat und das ihr adaquate menschliche Wissen enthalten. Zu diesen einseitigen Bewusstseinsgestalten gehoren auch eine Ftille sozialer Beziehungen, die Anerkennung zu realisieren versuchen, sich dabei aber in (praktische) Widerspriiche verwickeln. Ich gehe hier nur kurz auf die bekannten Stufen des Kampfes urn Anerkennung und der Herrschafts-Knechtschaftsbeziehung ein.' Ihre Funktion in der Phiinomenologie besteht darin, die ontologische These des Selbstbewusstseins zu erproben, dass die wahre Realitat keine gegenstandliche, sondem die des Selbstbewusstseins bzw. des Ftirsichseins selber ist. Diese Erprobung hat wiederum zwei Momente: Zum einen muss das selbstbewusste Individuum die Bedeutung des reinen ,Ftirsichseins" gewissermaBen im ,Innenverhaltnis" 4

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Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich in den folgenden Abschnitten auf die in Anm. 3 zitierte Ausgabe der Phiinomenologie des Geistes. Vgl. dazu ausfiihrlicher L. Siep, ,Die Bewegung des Anerkennens in He gels Phiinomenologie des Geistes" in: D. Kohler u. 0. Poggeler (Hrsg.), G. W F. Hegel, Phiinomenologie des Geistes. Berlin 22006, S. 107-127. Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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bestatigen. Das heiBt, es muss zeigen, dass ihm dieses Selbstbewusstsein alles, das iibrige Dasein dagegen - im Konfliktfalle - nichts bedeutet. Und zweitens muss man diesen Beweis einem anderen gegeniiber fiihren, der bloB zur Bestatigung dieser ,Freiheit" des ersten Individuums da ist. Hegel folgt nun dem Verfahren der Phiinomenologie, wenn er diesen Versuch der Bestatigung scheitem und in das Gegenteil des Intendierten bzw. dessen ,Verkehrung" umschlagen lasst. Er zeigt das zunachst auf der Seite desjenigen, der im Kampf sein Selbstbewusstsein wirklich iiber das Leben gesetzt hat und daher ,Herr" geworden ist; dann auf der Seite des durch Furcht urn sein Leben Gescheiterten, zum Knecht Gewordenen. Das Scheitem bzw. die Umkehrung trifft fiir beide Seiten zu, aber wahrend es beim Herm in der Aporie endet, weder unabhangig zu sein noch eine freie Anerkennung erzwingen zu konnen, fiihrt es beim Knecht zu einer ersten Form der Bestatigung der Freiheit des Selbst in dem ihm gegeniiberstehenden Anderen, dem bearbeiteten Ding und dem Herm. Die Bearbeitung der Natur enthalt aber nur die Voraussetzung, nicht die GewiBheit einer Erfahrung der Freiheit. Wie Hegel zu Beginn des nachsten Abschnittes sagt (137), trennt der Knecht (,das dienende Bewusstsein") noch zwischen der Vergegenstandlichung seines selbstandigen Tuns in den bearbeiteten Dingen und dem Freiheitsbewusstsein, das er im Herm vor sich hatte. Der eigentliche Schritt zur ,neuen Gestalt des Selbstbewusstseins" (ebd) wird durch den analysierenden Philosophen eingeleitet, der erkennt, dass die Einheit der heiden Momente des freien Selbstbewusstseins und seiner Herrschaft iiber die Dinge in einem Selbstbewusstsein liegt, fiir das die eigentliche Realitat der Dinge in ihrer gedanklichen Form oder in den Begriffen besteht (ebd). Dieser ontologischen These entsprechen in der Bildungsgeschichte des Geistes die antiken Philosophien, vor allem des Stoizismus und Skeptizismus. Die ,praktische" Gestalt des Geistes, die diesen Philosophien entspricht, wird aber in der Phiinomenologie von 1807 erst viel spater, in der Abhandlung des romischen Rechts erortert. Hegel hat die Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen in der Phiinomenologie unter diesem Terminus zunachst nicht weiter verfolgt. Das bedeutet aber nicht, dass die Anerkennungsbeziehung in den anderen Kapiteln nicht vorkame. Sie steht aber unter dem Primat des eigentlichen Themas der Phiinomenologie, der Aufhebung des ontologischen und erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen Bewusstsein und Gegenstand sowie individuellem und allgemeinem Selbstbewusstsein bzw. Geist. Dafiir stellt Hegel zwei Prozesse in den Vordergrund: Zum einen die zunehmende ,Subjektivierung" der Wirklichkeit in Begriffen der Vemunft und einer im erkennenden und handelnden Subjekt ,zu sich kommenden" objektiven gedanklichen Ordnung (Abschnitt ,Beobachtende Vemunft"). Zum anderen die Erhebung des Prinzips der selbstbewuBten Individualitat und Personalitat zum MaBstab sozialer Ordnungen (Gestalten der praktischen Vemunft, Vemunftkapitel B) sowie zum Inhalt dessen, was als letzte, absolute Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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Wahrheit gilt (Geist und Religion). Auch diese Prozesse konnen als Stufenfolge der Anerkennung des Ich im Wir und umgekehrt verstanden werden. Die ,praktische" Anerkennung des individuellen Selbstbewusstseins durch andere Individuen, auch durch die soziale Ordnung und die Aktivitat des Gemeinwesens, reicht dafiir nicht aus. Das Selbstbewusstsein will sein Wesen auch in einem von den zufalligen Individuen unabhangigen Subjekt anerkannt wissen. Dem entspricht der religiose Be griff eines absoluten geistigen Wesens, das die Individuen anerkennt bzw. ,liebt". Auch tiber die Verehrung eines jenseitigen, ,ganz anderen" Selbst geht die Bewegung des Anerkennens aber noch hinaus. Das individuelle Bewusstsein will sich mit diesem Gott vereinigen. Das Christentum lehrt daher einen Prozess der Trennung und Wiedervereinigung Gottes und des Menschen. In seiner nach-reformatorischen Entwicklung hebt es die Jenseitigkeit dieses Gottes auf und ,versohnt" ihn mit den Menschen in der religiosen und sittlichen Gemeinschaft. 6 Deren vollendete rechtliche und staatlich-institutionelle Form wird in der Phiinomenologie anders als in der fiiiheren und spateren Philosophie des Geistes - zwar nicht systematisch erortert, aber sie wird in der kritischen Form der Behandlung der antiken Sittlichkeit und des entfremdeten Geistes der Neuzeit schon sichtbar. Am Ende dieser Abhandlung im Vemunft- und Geistkapitel steht wieder eine praktische Form des Anerkennens, die Beziehung zwischen Gewissen und moralischem Gemeinwesen. Wenn die Moralitat in der Autonomie des Gewissens besteht, kann sie jederzeit mit den allgemeinen moralischen MaBstaben in Konflikt geraten. Die verschiedenen Konstellationen dieses Konfliktes, die Hegel im Abschnitt tiber die Moralitat diskutiert, fiihren aber zu einer ,Versohnung" in Form eines wechselseitigen Verzichtes. Das auf sein Gewissen pochende Individuum muss die Einseitigkeit und den moglichen Irrtum seiner Entscheidung bekennen. Auf der anderen Seite muss das allgemeine moralische Bewusstsein die Gewissensentscheidung, selbst in ihrer Nonkonformitat und ,Bosheit", als notwendiges Moment des Geistes anerkennen. Gewissen und allgemeine Gesetzlichkeit sind anerkannt als zwei Momente eines Geistes, der sich in der individuellen Entscheidung konkretisiert und fortentwickelt. Wenn der ,daseiende Geist" dieses Gemeinwesens sich in seinem ,Gegenteile", der ,absolut in sich seienden Einzelheit" selber ,anschaut", ist dies ein ,gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist" (441 ). Dieser ist in der hOchsten Form der christlichen Religion ja der Geist in der Gemeinde, die in wesentlicher Hinsicht eine solche der moralischen Bildung und Versohnung ist. Der Hinweis im Schlusskapitel (518 f.) auf die Entsprechung zwischen dieser Gestalt der MoraliHit und der vollendeten (durch Reformation und Aufklarung gelauterten) christlichen Religion lasst vermuten, dass Hegel die Anerkennung als Form des moralischen Geistes vor allem in 6

Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopiidie der philosophischen Wissenschaflen im Grundrisse, 3. Aufl. 1830, § 552 (hrsg. v. F. Nicolin u. 0. Poggeler, Hamburg 1959, S. 434).

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Formen religiOser MoraliHit am Werk sieht. Die religiose Gemeinde ware dann das primare Medium der wechselseitigen Korrektur von Offentlicher Moral und privatem Gewissen. Dass diese vemiinftige Religiositat aber nur in einem berufsstandisch gegliederten, rechts- und sozialstaatlich verfassten Staat moglich ist, hat Hegel in seinen geistphilosophischen Schriften seit 1805 entwickelt. Man kann allerdings bezweifeln, dass die Anerkennung von ,Ich" und ,Wir" dabei der in ihrem Begriffvorgezeichneten symmetrischen Struktur entspricht. 7 II. Anerkennung in der praktischen Philosophie der Gegenwart. Der Begriff der Anerkennung war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer lebhaften philosophische Debatte. 8 Nicht nur Interpretationen des Deutschen Idealismus kreisen urn dieses Thema, sondem auch systematische Weiterentwicklungen etwa bei Charles Taylor, Axel Honneth oder jiingst Paul Ricoeur. Ich unterscheide im Folgenden drei Themenkomplexe: 1. Anerkennung als wechselseitiger Respekt zwischen autonomen Personen, im Anschluss an die Kantische und Fichtesche Moral- und Rechtsphilosophie. Dieses Thema der Bedingungen und Grenzen der Beziehung zwischen autonomen Personen, vor allem in Kontexten der Abhangigkeit und der asymmetrischen Kompetenzverteilung, beschaftigt auch die modeme angewandte Ethik. 2. Anerkennung in einem sozia1psycho1ogischen und bewuBtseinstheoretischen Kontext der Bildung von Identitat oder Authentizillit. Dieses Thema hat Jiirgen Habermas in seinen Studien zu den sozia1psycho1ogischen und gesellschaft1ichen Bedingungen von person1icher Identitat zuerst mit dem Begriff der Anerkennung und der idealistischen Tradition in Verbindung gebracht. Sein Schuler Axel Honneth hat diese Linie weiter ausgezogen. 3. Anerkennung zwischen Gruppen verschiedener Weltanschauungen und Kulturen in einem multikulturellen Gemeinwesen. Dabei geht es iiber die rechtliche Duldung hinaus urn die Integration sowohl der Gruppe wie des individuellen Gruppenmitgliedes in eine Gesamtidentillit. Man kann mit dem anspruchsvollen Hegelschen Begriff von einer Anerkennung des lch im Wir als einer Art von ,Versohnung" sprechen. In dieser Richtung zielen vor allem Arbeiten von Charles Taylor. Zum Schluss mochte ich auf meinen eigenen Versuch zuriickkommen, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie aufzufassen und meine heutige Sicht die Grenzen dieses Versuchs umreiBen. 7

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Zu einer solchen Hegel-immanenten Kritik vgl. meine Anm. 2 genannte Untersuchung, Kap. V,2. Vgl. dazu auch Ch. Halbig, Art. ,Anerkennung", in: Handbuch Ethik, Hrsg. v. M. Diiwell, Ch. Hiibenthaler, M. Werner, 2 Stuttgart 2006, S. 303-307.

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( 1) Viele moderne Theorien des wechselseitigen Respekts zwischen Personen, der oft auch mit dem Begriff ,Anerkennung" wiedergegeben wird, gehen den Weg von Fichte zu Hegel gewissermaBen zuriick. Anstatt wie Hegel in den konkreten Beziehungen der Liebe, des Kampfes, der Herrschaft oder auch in den Gemeinschaftsformen der Familie, des Berufes, des Staates einen Prozess der Aufstufung und der Erftillung von Anerkennung ausfindig zu machen, wird die basale Anerkennung des Anderen als Ursprung unabweisbarer Anspriiche auf Achtung (self-originating claims, second-personal authority etc.)9 als MaBstab aller sozialen Beziehungen betrachtet. Liebe, famiWire oder staatliche Fi.irsorge fiihren in dieser Sicht zum Paternalismus eines Bevormundens, das sich an Werten und Institutionen orientiert, urn die vermeintlich ,irrational en" Wi.insche des Anderen zu i.ibergehen. Uberlegungen dieser Art haben heute einen besonderen Platz in Diskussionen der angewandten Ethik, vor allem der Medizinethik. In diesem Bereich hat sich ja ein sozialer Paradigmenwechsel vollzogen: von einer asymmetrischen Beziehung des paternalistischen Arztes zu seinem inkompetenten Patienten hin zur symmetrischen Beziehung zwischen autonomen Partnern. Entscheidend war dafiir das Prinzip des ,informed consent" des Patienten zu therapeutischen MaBnahmen oder medizinischen Versuchen. Ahnliches hat sich aber auch in der Erziehung und im Arbeitsverhaltnis abgespielt. Die Theorie des Respekts oder der moralischen und rechtlichen Anerkennung besagt, dass die Einstellung des Respekts vor der Autonomie anderer Personen grundsatzlich von emotionalen Beziehungen und Bewertungen ihrer Wi.insche und Griinde getrennt werden mi.issen. So muss man in der Medizin u. U. auch den Verzicht der Angehorigen von bestimmten Religionen auf lebenserhaltende MaBnahmen respektieren, selbst wenn dadurch der arztliche Heilauftrag undurchfiihrbar wird. 10 Oder in der Erziehung: Bei ,Religionsmi.indigkeit" oder Volljahrigkeit miissen die Eltern Entscheidungen respektieren, die in ihren Augen das leibliche W ohl oder das ewige Seelenheil des Jugendlichen gefahrden. Dass der Respekt vor Personen sich in Rechtsbeziehungen auBert, die allein an den eigenen, rechtlich zulassigen Interessen und Gesichtspunkten der beteiligten Personen orientiert sind, wird auch von Hegel nicht bestritten. Die Frage ist nur, ob die Anerkennung in den verschiedenen Sozialverhaltnissen und Institutionen von einem gleich bleibenden MaBstab rationaler Beziehung zwischen Personen her beurteilt werden muss und kann, oder ob solche ,abstrakt"-rechtlichen Beziehungen our eine Form der Anerkennung sind, die 9

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Vgl. T. M. Scanlon, What we owe to each other, Cambridge (Mass.)/London 1999; St. Darwall, ,The Value of Autonomy and Autonomy of the Will", in: Ethics, 116 (January 2006), s. 263-284. Zur Debatte urn Autonomie und informierte Zustimmung in der modemen Medizinethik vgl. auch R. R. Faden u. T. L. Beauchamp (eds. in collaboration with N.M.P. King), A History and Theory of Informed Consent (Oxford 1986) und M. Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt 2002, Kap. 5. Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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durch andere, komplexere und den ganzen Menschen umfassende Formen ergiinzt werden miissen. Fur das Letztere kann man auch aufgrund der erwiihnten Beispiele aus der Medizin und der Erziehung argumentieren: Die Anerkennung des anderen als mundigem Patienten kann ohne die durch Wohlwollen, Hilfsbereitschaft und Fursorge gepriigte Haltung des Arztes nicht gelingen. Sie muss am Verbot der Missachtung oder Manipulation der Wunsche des Patienten seine Grenzen haben - einschlieBlich des Sterbewunsches. Aber der Respekt muss seiher mit einer emotionalen Achtung des Anderen verbunden sein. Und er muss eingebunden sein in andere emotional-vemunftige Beziehungen, die die Lebensgeschichte und die Eigenschaften der Institution und der Gruppe - also etwa eines Krankenhauses oder Pflegeheimes - beriicksichtigen und integrieren. Das Gleiche gilt fiir die ,Erziehungsumgebung" eines Menschen, also eine Familie, Lebensgemeinschaft oder Erziehungseinrichtung. Dass schlieBlich im Berufsleben die Nicht-diskriminierung sich nicht allein auf den grundsiitzlichen rechtlichen und moralischen Respekt reduzieren liisst, sondem eine Fulle von anderen Bedingungen hat - von der Gestaltung der riiumlichen Umgebung uber die emotionale Rucksichtnahme und die Bereicherung durch kulturelle Verschiedenheit - ist Gegenstand vieler Einsichten und Auseinandersetzungen im Rahmen der Antidiskriminierungspolitik. In der konkreten Erorterung dieser Probleme musste beantwortet werden, ob die wechselseitige Anerkennung von Personen oder Vemunftwesen rein als solcher mehr als eine Verbotsgrenze sein kann. Selbst wenn man fiir eine Entfaltung konkreter Anerkennungsformen eine gestufte Theorie im AnschluB an Hegel benotigt, ist allerdings noch nicht gesagt, dass Anerkennung eine teleologische Struktur hat, so dass man die notwendigen Stufen und die erfiillte Form von Anerkennung in kleineren und groBeren Gemeinschaften definitiv angeben konnte. (2) Die zweite hier zu diskutierende Richtung der Aneignung der Anerkennungstheorie geht ebenfalls auf eine Entwicklung in den interpersonalen Beziehungen zuriick, die sich seit Hegel sicherlich verstiirkt hat: Es geht urn die Bedingungen der Selbstverwirklichung im Sinne der Unverwechselbarkeit oder der Unvertretbarkeit des Individuums. Seit Herder und der Romantik man denke an Friedrich Schlegel oder Kleist - bekommt die Frage nach der individuellen Selbstfindung und -darstellung eine Bedeutung, die uber die iilteren Ideale der Erfiillung gesellschaftlicher Pflichten oder der Erringung des ewigen Seelenheils durch die Nachfolge Christi hinausgehen. Die Obertragung des kunstlerischen Genieideals auf die Moral, die ,antiburgerlichen" Ideale des 19. und 20. Jh., die existenzphilosophische Ablehnung des ,Man" zugunsten der Eigentlichkeit und die gegenwiirtigen ,Hausse" der Begriffe Selbstverwirklichung und Authentizitiit setzen eine Linie fort, die Interpreten wie

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Charles Taylor, Jiirgen Habermas oder Richard Rorty ausfiihrlich und teils kritisch- vor allem Taylor- interpretiert haben. 11 Da bei Fichte und Hegel Anerkennung auch Bedingung des Bewusstseins der eigenen Individualitat ist, wurde immer wieder Anerkennung auch als Bedingung der Bildung eines unverwechselbaren, unvertretbaren, authentischen Selbst verstanden. Fiir Fichte ist das nur teilweise richtig - namlich insofem er dem Gewissen eine besondere Bedeutung bei der Erkenntnis der eigenen Bestimmung zuschreibt. Sie bleibt aber in den Grenzen einer allgemeinen Pflichtenlehre. Das gilt auch noch fiir Hegel, der dem Gewissen und der Ubertragung des Geniebegriffs auf die Moral noch skeptischer gegeniibersteht. In der Phiinomenologie hat er aber gezeigt, dass die Anerkennung der Einzelheit des Gewissens, auch in seiner moglichen Abweichung von den sozialen Regeln, zum Geist eines Gemeinwesens gehOrt. Eine solche Abweichung verleiht allerdings keine Rechte und setzt die Gesetze nicht auBer Kraft. Auch im sozialen Leben der Berufe und Institutionen hat der Einzelne umso mehr ,Wirklichkeit", wie er den Geist dieser Einrichtungen und der ihr zugrunde liegenden ,Verfassung" eines Volkes in sein Verhalten aufnimmt und bewusst vollzieht. Dazu kann allerdings auch eine Aktualisierung dieser Regeln und eine Art ,schopferischer Interpretation" gehoren. 12 Die Auflosung der standischen Gesellschaft, die Pluralisierung der Wertesysteme und der Zweifel an einem umfassenden und linearen Fortschritt der Vemunft in der Geschichte haben das Ideal der ,Bildung" des Individuums zu einem vollgiiltigen Standesmitglied und Staatsbiirger verblassen lassen. In modemen Sozialisationstheorien wird zwar die Pragung durch gesellschaftliche Verhaltens- und Wertmuster betont, aber zugleich in einer Bindung an die eigene Bestimmung, die personlichen starken Wertungen (Taylor) oder die Entscheidung zu dem, was einem pers6nlich etwas bedeutet (Frankfurt), 13 das eigentliche Ziel der Personlichkeitsentwicklung gesehen. Das geht bis zum Ideal der individuellen Selbsterfindung etwa bei Richard Rorty 14 • Wenn das individuelle Selbstbewusstsein von der Anerkennung durch andere abhangt, dann ist diese auch eine Bedingung der Selbstfindung und 11

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J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M., 1985; Ch. Taylor, Sources of the Self, Cambridge 1989; ders., The Malaise of Modernity, Concord 1991 (dt. Das Unbehagen an der Moderne, iibers. v. J. Schulte, Frankfurt 1995; R. Rorty, Contingency, irony, and solidarity, Cambridge 1988 (dt. Kontingenz, Ironie und Solidaritiit, iibers. v. Ch. Kriiger, Frankfurt 1992). Zu den romantischen Quellen und kulturgeschichtlichen Ausprligungen des modemen Individualitlitsbegriffes vgl. auch J. Friichtl, Das unverschiimte Jch. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt 2004. Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie § 207 und L. Siep, ,Was hei13t Aufhebung der Moralitlit in Sittlichkeit?" in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Jdealismus, Frankfurt!M. 1992, s. 217-239. Vgl. Ch. Taylor, ,Was ist menschliches Handeln?" in: ders., Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, iibers. v. H. Kocyba mit einem Nachwort von A. Honneth, Frankfurt 1992, S. 9-51; H. Frankfurt, The importance of what we care about, Philosophical Essays. Cambridge 1988. R. Rorty, Contingency, irony and solidarity (vgl. o. Anm. 11 ). Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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Selbstverwirklichung. Aber zweifellos kann ein Subjekt, das auf seiner Autonomie und der Wiirde und Gleichheit von Personen besteht, nicht jeden Selbstentwurf tolerieren oder gar durch positive Bestatigung unterstiitzen. Auch die Freiheit, die eigene Bestimmung zu finden, muss sich nach allgemeinen Regeln einschrlinken lassen. Es kann aber soziale Regeln und Einrichtungen geben, die dem Spielraum solcher Suche mehr Raum geben als andere. Fur Hegel etwa war Voraussetzung fiir die Entwicklung eigener Flihigkeiten und die Suche nach einem Platz im sozialen Gefiige die biirgerliche Gesellschaft mit freier Berufswahl und Gewerbefreiheit, gebunden nur an den Nachweis von Qualifikation und Kompetenz. Der Streit dariiber, ob der Markt und seine okonomischen Gesetze zu den giinstigen Bedingungen der Anerkennung individueller Besonderheit gehort, ist his heute auch politisch virulent. Die einen verweisen auf die groBen Moglichkeiten des ,pursuit of happiness" in diesem System, oder auch auf die stlindige Individualisierung der Bediirfnisbefriedigung - etwa mit der ,on demand" Produktion. Die anderen betonen die rigiden okonomischen Gesetze, die Uniformierung der Lebensweisen in der globalisierten Wirtschaft und die Zwlinge etwa der Informations- und Verkehrstrukturen fiir die Lebensweisen. Die Wahl von Lebenspllinen hlingt eben nicht nur davon ab, dass sich der Staat aus der Bevormundung der Selbstverwirklichung zuriickzieht, sondem auch, welche Lebensweisen in einer effizienten, hoch technisierten Gesellschaft iiberhaupt noch moglich sind. Vor allem aber hat die Effizienz dieser Strukturen zu einem strikten Leistungswettbewerb und zu einer Selektion von Fahigkeiten und von Leistungsbereitschaft gefiihrt, die Anerkennung auf die Belohnung ftir und den Respekt vor Erfolgen reduziert, die mit betriebswirtschaftlichen Kriterien zu messen sind. Man braucht nur an die Leistungs-, Selektions- und Anerkennungskriterien modemer Untemehmen, aber auch von Bildungseinrichtungen zu denken, urn zu sehen, dass die Elemente der ,Familiensittlichkeit", d. h. der leistungsunabhlingigen Unterstiitzung, emotionalen Zuwendung und Respektierung aus den Marktgesellschaften zu verschwinden drohen. Anerkennung der individuellen Unverwechselbarkeit und Integritlit, auch bei Menschen, die unter den herrschenden Leistungskriterien eher als ,Versager" gelten, erfordert nach wie vor Verhaltensweisen und ,Gruppenidentitliten", die, wie bei Hegel die Familie und die Korporation, den Anerkennungskriterien der biirgerlichen Marktgesellschaft entgegengesetzt sind. Axel Honneth hat versucht, solche Kriterien in einer an Hegel anschlieBenden, aber auf modeme Sozialpsychologie gestiitzten Weise zu systematisieren. Die drei ,Muster intersubjektiver Anerkennung", die er so herausarbeitet, sind ,Liebe", ,Recht" und ,Solidaritlit". Der Begriff der Liebe kntipft an Hegel an, umfasst aber aile ,Freundschaften" und Verwandtschaftsbeziehungen, insofem sie ,aus starken Gefiihlsbindungen zwischen wenigen Per-

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sonen bestehen" (153). 15 Wie in Hegels ,Familie", aber moglicherweise auch in anderen Partnerschafts- und Freundschaftsformen, erfiillen sie das Bediirfnis nach Hilfe und Unterstiitzung ohne Vorleistung und mit ,affektiver Zustimmung und Ermutigung" (ebd. ). Auch in den Beziehungen des modernen Rechts ist nach Honneth eine Offentliche Anerkennung des Individuums als Person mit bestimmten Fahigkeiten der moralischen Autonomie, der elementaren Bildung und des Geltendmachens sozialer Anspriiche enthalten. Vor allem wenn man die Theorie der verschiedenen Generationen von Grundrechten (liberale Freiheitsrechte, politische Grundrechte, soziale Wohlfahrtsrechte) 16 akzeptiert (188), dann liegt im Status des Rechtssubjektes, auch wenn es von sozialer Wertschatzung unabhiingig ist, eine ,Chance zur Ausiibung von Selbstachtung" durch die offentlich anerkannte Fahigkeit des Einklagens von Rechten und der ,Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung" (195). Urn diesen Status kommt es daher in modernen Gesellschaften auch zu einem ,Kampf urn Anerkennung" von sozialen Gruppen. 17 Wiihrend Liebe und Recht den Individuen Selbstvertrauen und Selbstachtung verleihen sollen, geht es bei der Solidaritiit urn Selbstschiitzung durch die soziale Wertschatzung der anderen. Obwohl diese Wertschiitzung dem Individuum in seiner Besonderheit gelten, ist sie doch in der Regel gebunden an ,ein Gefuhl des Gruppenstolzes", das darin besteht, Mitglied einer Gruppe zu sein, deren Leistungen fur die gesamte Gesellschaft wertvoll sind und als solche anerkannt werden (208). Auch diese Anerkennung muss von der Gruppe und mit der Gruppe erkampft werden. Honneths drei ,Kriterien" fur die soziale Anerkennung von Individuen in ihrer unverwechselbaren Individualitiit bzw. Identitat sind an Hegels Formen der Sittlichkeit angelehnt, sollen aber durch empirische sozialwissenschaftliche Erkenntnisse der Gegenwart abgesichert werden. Was offen bleibt, ist der Grund, weshalb unabhiingig von Hegels System gerade eine solche Trias die vollstiindigen oder jedenfalls entscheidenden Bedingungen enthalten soll. 18 15

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A. Honneth, Kampf urn Anerkennung, Frankfurt/M. 1992 (Seitenzah1en im fo1genden Text beziehen sich auf dieses Buch). Vgl. T. H. Marshall, Sociology at the Crossroads, London 1963. N. Fraser macht dagegen kritisch geltend, dass die Konzentration auf die Frage der Anerkennung von Identitiiten die Gefahr der Marginalisierung materieller Verteilungsprobleme und der ,Reifizierung" von Gruppenidentitiiten (zu Lasten der Mitglieder) mit sich bringt. N. Fraser, ,Rethinking Recognition" in: New Left Review, May-June 2000, S. 107-120. Vgl. dies., ,Social Justice in the Age of Identity Politics: Redistribution, Recognition, Participation" in: N. Fraser, A. Honneth, Redistribution or Recognition, London/New York 2003. S. 7-109. Honneth bemiiht sich in seinenjiingeren Forschungen urn empirische Bestiitigungen fiir diese Formen. In seinem Buch Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt 2005, Kap. III, versteht er unter Riickgriff auf Tomasello Anerkennung als die empathische oder ,libidinose" Einnahme der Perspektive Anderer im Kleinkindalter (ca. 9 Monate ), die fiir die Erkenntnisentwicklung notwendig sei (vgl. M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des mensch/ichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, iibers. v. Jiirgen SchrOder, Frankfurt/M. 2006). AuBerdem werden am Frankfurter lnstitut fiir Sozialforschung die Bedingun-

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Offen bleiben ferner die Bedingungen einer Gesellschaft, die notwendige oder zumindest bereichernde Beitrage von Individuen und Gruppen zu einer ,gemeinsamen Praxis" identifizieren und anerkennen kann. Man muss dazu schon einen ,kommunitaristischen" Ansatz verfolgen, nach dem das soziale Leben das Tun und Werk aller ist, dessen Lasten und Verdienste nach gemeinsamen Kriterien zuerkannt werden konnen. Aber selbst dann ist noch unklar, worin im Besonderen die Beitrage zu dem gemeinsamen Werk liegen. Es bedtirfte einer Einigung tiber Spharen der Gerechtigkeit im Sinne Walzers oder tiber die Art der notwendigen oder allgemein wtinschenswerten offentlichen und kommunalen Gtiter. 19 In einer modernen Gesellschaft, in der das ,System der Bedtirfnisse" sich in immer schnellerer Entwicklung befindet, stellt das ein schwer losbares Problem dar, zumal umstritten ist, ob es ein die besonderen Systeme umfassendes Gesamtsystem ,Staat" oder ,Gesellschaft" tiberhaupt noch gibU 0 Sinkt deren Bedeutung, dann steigt die der sozialen Gruppen selber fiir die ,ldentitat" und ,Selbstachtung" ihrer Mitglieder. Zur Anerkennung zwischen Individuen sowie zwischen ,Ich" und ,Wir" kommt dann die zwischen den Gruppen hinzu, sei es im Rahmen einer gemeinsamen politischen Kultur oder in einer offenen multikulturellen Gesellschaft. Das ist Gegenstand einer dritten Stromung der modernen Anerkennungstheorie. (3) Nach Charles Taylor besteht eine Spannung zwischen den beiden ersten gerade besprochenen Themen, · der Anerkennung der universal en Gleichheit von Moralsubjekten und Rechtspersonen einerseits und andererseits der ihrer

,unverwechselbaren Identitat" (28), die sich ,in Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen" (27) herausbilde. 21 Denn die erste Form wird ermoglicht durch eine Politik des ,Universalismus" bzw. der ,Gleichheit", die zweite erfordert eine ,Politik der Differenz" (27, 29). Minderheiten, deren Gruppenidentitat durch ethnische, religiose, historische, oder sprachliche ZugehOrigkeit bestimmt wird, oder Angehorige traditionell diskriminierter Geschlechter mtissen in pluralistischen, toleranten und demokratischen Rechtsstaaten zum

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gen und Storungen der Selbstachtung und sozialen Wertschiitzung in der modernen Erwerbsgesellschaft untersucht. Vgl. dazu K. Droge: ,Gruppenexperiment", in: A. Honneth I Institut fiir Sozialforschung (Hrsg.): Schliisseltexte der kritischen Theorie, Wiesbaden 2006, S. 259263. sowie S. Neckel I K. Droge: ,Die Verdienste und ihr Preis: Leistung in der Marktgesellschaft", in: A. Honneth (Hrsg.): Befreiung aus der Miindigkeit. Paradoxien des gegenwiirtigen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2002, S. 93- 116. Wiihrend der erste Ansatz einen sehr weiten Begriff von Anerkennung verwendet, ist der zweite auf eine partikulare soziale Situation bezogen. Vgl. M. Walzer, Spheres of Justice, dt. Sphiiren der Gerechtigkeit, iibers. v. H. Herkommer, Frankfurt 1998; J. L. Waldron, ,Can communal goods be human rights?", in: Ders., Liberal Rights- Collected Papers 1981-1991, Cambridge I New York I Oakleigh 1993 S. 339-369; L. Siep, Private und offentliche Aufgaben, MUnster 2005. Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1997. Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt 1992 (Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf dieses Buch).

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Gegenstand einer ,differenzierenden Praktik" (30) gemacht werden. Sie kann darin bestehen, Gruppenrechte einzuraumen, aber auch Individuen unter besondere Pflichten zu stellen (z. B. ihre Kinder eine bestimmte Schule besuchen und eine bestimmte Sprache erlemen zu lassen). 22 Dadurch wird prima facie sowohl das Prinzip der Gleichbehandlung aller Burger wie das autonomer Individualrechte, z. B. Elternrechte, verletzt. Die Spannung kann nach Taylor nur durch Abwagungen zwischen der ,Wichtigkeit bestimmter Formen von Gleichbehandlung", vor allem der Garantie individueller Abwehrrechte einerseits, und der ,Wichtigkeit des Uberlebens einer Kultur" andererseits gelost werden (56). Dazu sind in einem modemen Rechtsstaat geeignete Institutionen geschaffen worden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Bestehen einer Vielzahl von Kulturen in einem Gemeinwesen iiberhaupt als ein Wert und ein Recht verstanden wird. 23 Allein auf individuelle Rechte, wie das Recht auf freie Religionsausiibung, ist das nicht zu begriinden. Es gehort dazu vielmehr eine bestimmte Tradition der liberalen Demokratie, die darin besteht, das Zusammenspiel oder zumindest das faire Nebeneinander von verschiedenen Kulturen als einen intrinsischen Wert zu begreifen. Zu einer solchen Form der Anerkennung eines positiven kulturellen Pluralismus gehoren aber weitere Voraussetzungen, darunter die Bestimmung des Kulturbegriffs und der GroBe und Dauer einer Kultur, die Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung haben soli. Nach Taylor gehoren zu solchen Kulturen nicht die ,,kulturellen Milieus innerhalb einer Gesellschaft oder auch kurze Phasen innerhalb der Entwicklung einer Kultur" (63). Aber welche Phasen sind relevant und wie viele Menschen miissen an der Wiederbelebung einer Kultur interessiert sein, urn ihr den Status einer offentlich anzuerkennenden und in MaBen sogar positiv zu diskriminierenden Gruppe zuzugestehen? Hier wird man vermutlich aufHonneths ,Kampfum Anerkennung" zuriickgreifen miissen: Die Mitglieder einer kleinen kulturellen Gruppe miissen sich politisch den rechtlichen Status erkampfen, der sie zu offentlichen Leistungen und zu gesetzlichen MaBnahmen ihrer Erhaltung qualifiziert. Fraglich ist, ob dieser Prozess einen teleologischen Verlauf nimmt und zu einem vollendeten Abschluss kommen kann, wie Hegel das von dem Erfah22

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Man muss allerdings auch die Zugehorigkeit von Individuen zu verschiedenen kulturellen Stromungen und die Freiheit der Auswahl zwischen ihnen respektieren. Vgl. dazu A. Sen, Identity and Violence. The Illusions of Destiny, New York I London 2006. Die Angewiesenheit der Individuen auf Gruppen und ihre Traditionen ist zudem je nach Gesellschaftsform verschieden. In modernen Einwanderungsgesellschaften llisst sich auch eine zentripetale Tendenz der frei gewiihlten Isolierung feststellen. Vgl. M. Walzer, Uber Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998. Der Eigenwert kultureller Mannigfaltigkeit muss nicht bedeuten, dass jede Kultur sich auf dem gleichen Niveau der kiinstlerischen Leistungen oder der moralischen und rechtlichen Angemessenheit befindet. Darauf weist Taylor in Kap. V seiner Oberlegungen zum Multikulturalismus zu Recht hin (a. a. 0. S. 56-71) - auch wenn man sich vor Eurozentrismus hiiten so lite.

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rungsprozess behauptet, den die Phiinomenologie rekonstruiert. Es konnte stattdessen Errungenschaften der kollektiven Erfahrung geben, fiir deren Revision wir uns keine guten Grtinde mehr denken konnen. Irreversible Erfahrungen dieser Art, auf denen z. B. der modeme Rechtsstaat oder das staatliche Gewaltmonopol gehOren, erlauben es aber nicht, die Geschichte als einen in sich notwendigen Prozess zu verstehen, in dem geschieht, was geschehen muss. Man kann sich also nicht mit der Geschichte in einer Weise versohnen, wie das dem Stoiker, dem von der Heilsgeschichte iiberzeugten christlichen GHiubigen oder eben dem Hegelschen Philosophen moglich war. Statt weitere Anslitze der Annerkennungstheorie zu erortem abschlieBend noch einige Bemerkungen zu meiner eigenen Beurteilung ihrer Aufgaben und Grenzen. In meinem Buch iiber Hegels Theorie der Anerkennung24 hatte ich die Frage nach der systematischen Fruchtbarkeit des Prinzips Anerkennung fiir die praktische Philosophie auch bezogen auf den Aspekt von Kriterien fiir gerechtfertigte und notwendige soziale Institutionen. Das ,Prinzip Anerkennung" sollte auf die historisch entstandenen Institutionen in einer Weise angewendet werden, die Rawls ,Reflexionsgleichgewicht" nahe kommt. 25 Das bedeutet, dass sich mit diesem Kriterium begrtinden lassen muss, weshalb wir Institutionen wie ,familienlihnliche Solidargemeinschaften", Grundrechte sichemde Rechtsordnungen, bestimmte Formen des Sozialstaates etc. zur Erfiillung der Bedingungen von Anerkennung brauchen - und dartiber hinaus eine Extrapolation dessen, was in den gegenwlirtigen Institutionen fiir diese Aufgabe noch fehlt. Heute scheint mir, dass die praktische Philosophie vor Aufgaben steht, von denen fraglich ist, ob sie sich noch im Rahmen des ,Prinzips Anerkennung" losen lassen. Davon mochte ich drei nennen: 1. Wenn man Vollstlindigkeit der Bedingungen der Jdentitiitsbildung oder der menschlichen Vergesellschaftung nicht mehr beanspruchen kann, benotigt man vor allem im Blick auf die angewandte Ethik statt Prinzipien Rahmenvorstellungen, die zu bestimmten Formen von Autonomie und Anerkennung in unterschiedlichen sozialen Kontexten konkretisiert werden konnen - vor allem was Einheit und Abstufung emotionaler, kognitiver und voluntativer Beziehungen angeht. Man muss dabei fiir die Erfahrung neuer Formen oder Bereicherungen von Anerkennung offen bleiben. Aber solche Formen miissen mit dem ,Rahmen" und seiner Konkretisierung in den bisherigen sozialen Beziehungen kompatibel sein, auch wenn bestimmte Formen gesellschaft-

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L. Siep. Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (o. Anm. 2). Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1973, S. 20 ff., 48-51, und ders., Political Liberalism, New York 1993, S. 28, 95-97; vgl. auch S. Hahn, Uberlegungsgleichgewicht(e), Freiburg I Munchen 2000.

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licher Anerkennung iiberholt sein konnen. 26 Bei dieser Methode kann man sich an einem abgeschwachten, nicht-teleologischen Holismus in der Hegelschen Tradition orientieren- aber auch an anderen nicht-deduktiven Verfahren wie dem erwahnten Ralws'schen Reflexionsgleichgewicht. 2. Eine analoge, aber umfassendere Rahmenvorstellung ist fur die pluralistische Gesellschaft erforderlich. Die Anerkennung kulturgeschichtlich entstandener Lebensformen und die rechtlichen und politischen MaBnahmen ihrer Stabilisierung benotigen cine Begriindung der Werte des Pluralismus, die nicht allein auf Individualrechte und Anerkennungsbeziehungen zuriickgefuhrt werden kann. Nach welchen MaBstaben etwa soll der aktiven Religionsfreiheit heute Grenzen gesetzt werden - was die Zahl und GroBe religioser Gebaude, die Gerausche der Kirchenglocken oder des Gebetsrufes, die rituellen Weisen alltaglicher Handlungen wie des Schlachtens von Tieren oder des Tragens von Kleidung usw. angeht? Toleranz im Sinne des wechselseitigen Ertragens, Anerkennung der gleichen Anspriiche und wechselseitige Wertschiitzung sind dafiir Voraussetzung. Aber es gehOrt dazu auch die Vorstellung cines sozialen Kosmos, in dem iiberlieferte Mannigfaltigkeit von Lebensformen, gerechte Verteilung der Entfaltungsmoglichkeiten und das Gedeihen der Individuen in ihrer individuellen und kulturellen Identitat gefdrdert werden. Welche Einschrankungen ihrer offentlich wahmehmbaren Lebensweise sind Gruppen welcher GroBe zumutbar? Wie wichtig sind fur alle die religiosen Riten einer Gruppe im Verhiiltnis zu gemeinsamen offentlichen Giitem wie Stille, gemeinsame Tagesund Wochenrhythmen, gemeinsame Erziehung, Offentliche Symbole und Denkmaler usw.? Wie verhiilt sich iiberhaupt die Geschichte einer Gruppe zur staatlichen oder- bei Staatenbiinden- auch iiberstaatlichen Geschichte?27 Hier brauchen wir nach meiner Auffassung die Konzeption einer ,wellordered society", die iiber Rawls'sche Gerechtigkeitsprinzipien ebenso hinausgeht wie fiber Anerkennungsbeziehungen zwischen Individuen und Gruppen (,Ich" und ,Wir"). 28 Man kann dabei an eine holistische Zuordnung der Kultursphiiren im Sinne der Hegelschen Philosophic des Geistes denken aber ohne deren starke systematische Voraussetzungen. Es geht urn eine gesellschaftliche Verstandigung iiber die Gewichtung von Werten, die bis zur Frage nach Vereinbarkeit unterschiedlicher Begriffe menschlichen Lebens reicht - man denke an den Streit iiber den Anfang und die erlaubten Weisen 26

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Wie schon bei Hegel der Kampf urn Ehre oder heute traditionelle Formen berufsstiindischer Anerkennung. Zur kulturellen Versohnung, etwa zwischen griechischen und tiirkischen Zyprioten, vielleicht auch zwischen Basken und den iibrigen Ethnien Spaniens, gehort wesentlich die selbstkritische Auseinandersetzung mit historischen Erinnerungen und ,Gediichtniskulturen", die allein auf der Gegnerschaft zu der jeweils anderen Gruppe und ihrem Selbstbild beruhen. Zur Idee der ,well-ordered-society" vgl. J. Rawls, Political Liberalism (o. Anm.25) S. 35-40. Auch die bier vorgeschlagene Idee mu/3 die "distributive dimension" enthalten, auf der N. Fraser besteht (s. o. Anm. 17).

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der Beendigung des menschlichen Lebens (Embryonenforschung und Sterbehilfe ). Philosophen konnen die dartiber gefiihrten politischen Kampfe nicht durch apriori-Entscheidungen ertibrigen. Aber sie konnen Rahmenvorstellungen und Kriterien einer wohlgeordneten pluralistischen Gesellschaft und des moglichen bzw. ertraglichen Umfanges von Konsens und Dissens entwickeln. Dazu werden auch Vorschlage tiber die Gewichtung Offentlicher Gtiter wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Unterhaltung, Kunst etc. gehOren, ohne die Freiheit privater und Gruppenpraferenzen widerrechtlich einzuschranken. 29 Es fragt sich, ob dazu die Konzeption der Anerkennung ausreicht. 3. Die praktische Philosophie braucht solche Rahmenvorstellungen des wohlgeordneten Ganzen mit der Moglichkeit zur Konkretisierung in Wissenschaft und Gesellschaft heute auch fiir die Natur. Denn wir stehen sowohl in Hinsicht auf den menschlichen Korper wie die auBermenschliche Natur vor grundsatzlichen Optionen. Es geht urn die Einstellung zu Nattirlichkeit tiberhaupt und zum Naturerbe in der Natur- und Kulturgeschichte. Gentechnologie, Klonierung und die Techniken des ,human-machine-interface" (elektronische Implantate im MikromaBstab) lassen die biotechnische ,Neuerfindung" des Menschen und eine tief greifende Veranderung der Natur in Reichweite gelangen.30 Urn fiir diese Optionen normative Kriterien zu entwickeln, gentigen die interpersonalen Rechte und Anerkennungskriterien nicht - auch nicht in ihrer diskursethischen Transformation oder im Neopragmatismus (J. Habermas, R. Brandom31 ). Die heutigen Debatten tiber den Einsatz der Gentechnologie und des Klonierens in der Pflanzen- und Tierzucht sowie in den Techniken der menschlichen Fortpflanzung und der Verbesserung seiner Fahigkeiten- dem sog. Enhancement - konnen nicht allein mit MaBstaben der zwischenmenschlichen Pflichten und Rechte, auch nicht der Bedtirfnisse nach Anerkennung, aufgeklart oder gar orientiert werden. Es entwickeln sich aber bereits interkulturelle Konsense tiber Prinzipien des Umganges mit der auBermenschlichen Natur - wie die Nachhaltigkeit, die Erhaltung der Biodiversitat, Begriffe der tiergerechten Haltung usw. -, die von Vorstellungen des Wertvollen undErhaltenswerten am ,Naturerbe" gepragt sind. Sie mtissten in der praktischen Philosophie expliziert, auf ihre Konsistenz, ihre Konsequenzen und ihre Grtinde hin tiberprtift werden. Auch in Bezug auf den biotechnischen Umgang mit dem Menschen gibt es z. T. interkulturelle Konsense, vor allem was die Ablehnung genetischer Veranderung oder des reproduktiven Klonens im Interesse privater oder gar 29

Vgl. dazu o. Anm. 22.

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mann (Hrsg. ), no body is perfect. BaumajJnahmen am menschlichen Korper- Bioethische und asthetische Aufrisse, Bielefeld 2006, S. 21-42. Zu Brandoms Aneignung von Hegels Anerkennungslehre vgl. R. B. Brandom, ,Selbstbewusstsein und Selbstkonstitution", iibers. v. D. Schweickard, in: Ch. Halbig, M. Quante, L. Siep (Hrsg.), Hegels Erbe, Frankfurt!M. 2004, S. 46-77.

30 Vgl. dazu L. Siep, ,Die biotechnische Neuerfindung des Menschen" in: J. S. Ach, A. Poll-

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Offentlicher ,,Ztichter" angeht. Auf der anderen Seite stehen ungelOste Konflikte hinsichtlich der ,liberalen Eugenik", die sich auf die Interessen der zuktinftigen Kinder oder die reproduktive Freiheit der Eltem beruft. 32 Urn hier Grenzen und MaBsUibe zu etablieren, kommt der Konzeption der Anerkennung durchaus Bedeutung zu - etwa fiir die Fragen: Wie steht es mit der Chancengleichheit in einer Gesellschaft gesteigerter Unterschiede menschlicher Fahigkeiten, vor allem wenn der Zugang zu solchen Verbesserungen von privater Kaufkraft abhlingt? Wie steht es mit den Moglichkeiten der Kommunikation und der ,Berechenbarkeit" des Verhaltens, wenn die Emotionen und Leistungen eines ,verbesserten" Menschen und ihr sprachlicher und korperlicher Ausdruck zunehmend schwerer zu verstehen und nachzuvollziehen werden? Auch hier scheint mir aber tiber die Anerkennung hinaus eine gemeinsame Vorstellung von den Werteigenschaften der (bisherigen) menschlichen und auBermenschlichen Natur notwendig zu sein. Urn dazu einen konkretisierbaren Rahmen zu entwickeln muss man die Beschrankung der neuzeitlichen Ethik auf interpersonale Beziehungen tiberwinden33 und die Idee einer moglichen wohlgeordneten Naturals MaBstab des menschlichen Handelns entwickeln. Eine solche Idee kann allerdings weder an einem notwendigen (,ewigen") Kosmos orientiert sein, noch an einer stabilen Schopfung oder einem zeitlosen ,mundus intelligibilis". 34 Es muss sich urn eine regulative Idee fiir einen ,moglichen" Kosmos als gemeinsame Aufgabe handeln. Sie ist aber kein ideales Postulat, sondem ,deskriptiv" konkretisierbar durch die ,guten" Eigenschaften der in der Evolution entstandenen Natur (einschlieBlich des menschlichen Korpers). Allgemeine Grundztige dieser Idee lassen sich einer Semantik der Moralsprache und einer Hermeneutik der evaluativen Weltbilder (Kosmos, Schopfung etc.) entnehmen. Zu deren Grundstrukturen gehoren Mannigfaltigkeit und gerechte Verteilung der Entwicklungschancen fiir Formen, Arten und Gruppen, sowie Gedeihen und Wohlergehen der Individuen aufverschiedenen Stufen der Scala naturae. Die weitere Konkretisierung ergibt sich aus einem Prozess kulturgeschichtlicher Erfahrung mit Weltbildem, Normen und Institutionen. An dieser Stelle kann man an eine nicht-teleologische ,Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins" in der Nachfolge Hegels ankntipfen. Was als Resultat dieses Prozesses am ,Naturerbe", auch dem des menschlichen Kor32

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Vgl. dazu A. Buchanan, D. W. Brock, N. Daniels, & D. Wikler, From Chance to Choice, Cambridge University Press 200 I. Allerdings nicht im Sinne einer postmodemen Uberwindung der Subjektivitat. Vielmehr muss die neuzeitliche Idee der Subjektivitiit als Grundlage der Freiheitsrechte und Anerkennungsbeziehungen im Hegelschen Sinne ,aufgehoben" werden in ein umfassenderes Ganzes der ,Stellung des Menschen im Kosmos". Vgl. L. Siep, ,Die Aufhebung der Subjektivitat in der Konkreten Ethik" in: Ethikbegriindungen zwischen Universalismus und Relativismus, hrsg. v. K. Engelhard u. D. H. Heidemann, Berlin I New York 2005, S. 253-274. Vgl. zum Folgenden L. Siep, Konkrete Ethik, Frankfurt 2004. Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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pers, erhaltenswert ist und was dagegen zum Zwecke der Leidensbekampfung modifiziert werden kann, muss natur- und kulturgeschichtlichen Erfahrungen entnommen und in offentlichen Diskursen konkretisiert und vereinbart werden. Dieses Erbe darf nicht durch eine Konzeption verleugnet werden, die einerseits ,Realitat" auf naturwissenschaftlich Erfassbares reduziert und andererseits Werte allein als Projektionen privater Wiinsche auf eine wertfreie Natur versteht. Als Folge davon konnte namlich das fiir viele Werte unseres Selbstverstandnisses und unserer Gesellschaftsordnungen konstitutive natiirliche Erbe durch eine Technologie der radikal wunschangepassten Natur oder durch eine grenzenlos ,verbessemde" Medizin abgeschafft werden. In einer solchen Konzeption der praktischen Philosophie als ,Konkrete Ethik" kommt der Anerkennungstheorie fiir die sozialen Beziehungen weiter eine wichtige Funktion zu. Wenn aber die Beziehung des Menschen zur Natur in das Zentrum der praktischen Philosophie gehOrt, muss man bezweifeln, dass ,Anerkennung" ihr umfassendes Prinzip sein kann.

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,DIE VERNUNFT [ ... ]

UNVERNUNFTIG AUFGEFASST":

HEGELS KRITIK DER BEOBACHTENDEN VERNUNFT

Die Frage konnte eigentlich so gestellt werden: Wie hangt, was uns wichtig ist, von dem ab, was physisch moglich ist? (Ludwig Wittgenstein) Der Abschnitt ,Beobachtende Vemunft" ist einer der umfangreichsten der Phiinomenologie des Geistes und z.B. doppelt so lang wie der viel beachtete, dem Selbstbewusstsein gewidmete vierte Teil. Dennoch gehOrt er zu den am wenigsten kommentierten, interpretierten und produktiv aufgenommenen Passagen dieses wirkmachtigen Buches. Es sind zwei Biindel von Grunden, die sich fur diese relative Missachtung anftihren lassen: Erstens behandelt Hegel im Abschnitt ,Beobachtende Vemunft" naturphilosophische und naturwissenschaftliche Theorien seiner Zeit.' Diese stehen, zumindest auf den ersten Blick, dem eigentlichen Generalthema der Phiinomenologie und dem aus heutiger Sicht attraktiven Modell einer sozial und historisch ausgelegten Theorie des Geistes fern. Die Probleme, mit denen Hegel sich hier beschaftigt, liegen nicht nur zum groBen Teil auBerhalb dessen, was die meisten Interpreten der Phiinomenologie interessiert. Sie beziehen sich auf Fragen und Theorien, die uns heute nur noch wenig vertraut sind. Es scheint, dass Hegels generelles philosophisches Programm der Phiinomenologie gerade in diesem Abschnitt wenig Verankerung in dem von ihm untersuchten Gegenstandsbereich findet. An der systematischen Tragfahigkeit des Gesamtwerkes interessierte Interpreten suchen daher eher in anderen Teilen dieses Buches Argumente fur Hegels Versuch, eine Notwendigkeit in der Abfolge aller unserer epistemischen Projekte auf dem Wege zum absoluten Wissen aufzuweisen. Zweitens diskutiert Hegel mit den naturwissenschaftlichen und -philosophischen Konzeptionen seiner Zeit einen Gegenstandsbereich, der fur viele aus heutiger Sicht iiberholt ist. Von diesem Verdacht sind nicht nur die einzelnen Disziplinen wie etwa die Physiognomik oder die Schadellehre betroffen, denen Hegel ausfuhrliche Aufmerksarnkeit schenkt. Die ganze Idee

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Eine ausfiihrliche Darstellung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des Topos ,beobachtende Vernunft" findet man in Moravia, Sergio, Beobachtende Vemunft: Philosophie und Anthropologie in der Aujkliirung, Miinchen 1973.

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einer Naturphilosophie ist in den letzten 200 Jahren in Misskredit geraten. 2 Wer sich der Phanomenologie zuwendet, urn aus Hegels Diskussion der materialen Gegenstiinde (und nicht aus der Gesamtkomposition des Werkes) philosophisch Gewinn zu ziehen, hat prima facie gute Griinde, nicht gerade in der beobachtenden Vemunft nach systematisch anschlussfahigen Einsichten Hegels zu suchen. Wenn in diesem Beitrag dennoch Hegels Diskussion der Psychologie, der Physiognomik und der Schadellehre auf ihre systematische Relevanz befragt wird, dann miissen diese Schwierigkeiten ausgeraumt werden. Bei diesem Versuch werde ich auf He gels Auseinandersetzung mit den diversen Konzeptionen der ,Beobachtung der Natur" (187) nicht eingehen, sondem mich auf seine Erorterung derjenigen ,Wissenschaften' beschranken, die sich mit dem Mentalen beschaftigen. Da es mir im Folgenden nur darum geht, die Tragweite von Hegels Einwanden gegen die ,beobachtende Vemunft' mit Bezug auf das Mentale zu priifen, werde ich keinen Versuch untemehmen, die begrifflich-logische Struktur, mittels derer Hegel die unterschiedlichen Modelle in eine Entwicklungssequenz einordnet, zu rekonstruieren oder auf ihre sachliche Plausibilitat hin zu befragen. Es geht in diesem Beitrag nicht urn das Beweisziel der Phiinomenologie als Ganzer, sondem urn Hegels Kritik der Psychologie, Physiognomik und Schadellehre. Mein Ziel ist es, Hegels Analyse der Argumenttypen und Erklarungsstrategien dieser ,Wissenschaften' auf ihre systematische Brauchbarkeit hin zu befragen. Natiirlich kann auch eine solche eingeschrankte Untersuchung nicht umhin, sich iiber den systematischen Ort des untersuchten Abschnitts im Gesamtrahmen der Phanomenologie Klarheit zu verschaffen. Deshalb werde ich die Passagen, mit denen Hegel den Teil ,GewiBheit und Wahrheit der Vemunft" (178) und den Abschnitt ,Beobachtende Vemunft" (185) eroffnet, analysieren, urn die ftir die weiteren Ausftihrungen relevanten Voraussetzungen von Hegels Argumentation zu ermitteln (1.). Die folgenden Abschnitte haben dann Hegels Behandlung der Psychologie (2.) sowie der Physiognomik und der Schadellehre (3.) zum Gegenstand. AbschlieBend werde ich einige Anschlussfragen formulieren, die sich aus unseren Befunden ftir die Beschaftigung mit Hegels Philosophie des Mentalen ergeben (4.).

1. Der Ort der beobachtenden V emunft im Gesamtgang der Phanomenologie Die ,beobachtende Vemunft" bildet den ersten Abschnitt des ftinften Teils der Phiinomenologie. Hegels Analyse des Selbstbewusstseins als philosophisches Prinzip und empirisches Phanomen im vierten Teil hat ,die Wahrheit der Ge2

Vgl. dazu Quante, Michael, ,Ein stereoskopischer Blick?", in: Philosophie und Neurowissenschaften, hg. v. Dieter Sturma, Frankfurt am Main 2006, S. 124-145.

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wiBheit seiner selbst" (152) zu Tage gefdrdert. Sie besteht darin, dass die Grundstruktur des erstpersonlichen Selbstbezugs vom ungliicklichen Bewusstsein zum Objekt seiner epistemischen Einstellung gemacht wird. Damit ist die Grundstruktur der Vemunft erreicht, die nach Hegel darin besteht, dass das Selbstbewusstsein sich nun ,seiner selbst als der Realitiit gewiB" (178) ist. Als Vemunft unterstellt es, ,daB alle Wirklichkeit nichts anders ist, als es" (ebd.). Die ontologische Grundhaltung der Vemunft ist laut Hegel ein ,Idealismus" (ebd. ); klarer ist es, diese Position als Rationalismus zu klassifizieren, da die grundlegende ontologische These der Vemunft die Strukturidentitat von Denken und Sein behauptet. Damit ist weder ein lediglich epistemischer oder subjektiver Idealismus, der eine Dualitat von Denken und Sein voraussetzt, noch etwa gar ein Mentalismus gemeint, der die grundlegende ontologische Substanz als mental (z. B. Sinnesdaten o.a.) bestimmt. 3 Mit dieser Gewissheit geht ein grundlegender Wandel der Einstellung des Selbstbewusstseins zur Wirklichkeit einher. In den vorherigen Gestalten ging es ihm ausschlieBlich urn seine Selbstbehauptung und darum, ,sich fur sich selbst auf Kosten der Welt oder seiner eigenen Wirklichkeit [ ... ] zu retten und zu erhalten" (ebd.). Nun ,schlagt sein bisher negatives Verhaltnis zu dem Anderssein in ein positives urn" (ebd). Als Vemunft kann das Selbstbewusstsein die Selbstandigkeit der Wirklichkeit ,ertragen" (ebd.) und sich ihr in einer erkennenden Haltung theoretischer Neugierde zuwenden: Die Vemunft ,entdeckt" die Welt als ihre ,neue wirkliche Welt, die in ihrem Bleiben Interesse fiir es hat" (178 f.). Diese rationalistische Konzeption theoretischer Neugierde, die der Vemunft damit eingeschrieben ist, liegt zu Beginn nur als Gewissheit, nicht aber in Wahrheit vor. Dies liegt daran, dass die Vemunft zu Beginn ihrer Entwicklung als neue Gestalt des Bewusstseins ihren eigenen Werdegang ,im Riicken und vergessen" (180) hat. Es fehlt die Erfahrung des Selbstbewusstseins, die allein eine Rechtfertigung der ontologischen und epistemologischen Pramissen der Vemunft liefem konnte. Indem diese neue Gestalt in Form der beobachtenden Vemunft ,unmittelbar als Vemunft auftritt", ist sie nur ,die GewiBheit jener Wahrheit" (ebd.) des Selbstbewusstseins. Es wird des gesamten Durchlaufs durch die drei Gestalten der Vemunft bediirfen, damit diese Gewissheit auch zur ,Wahrheit der Vemunft" (178) werden kann. Als beobachtende partizipiert die Vemunft zwar an der ontologischen und epistemologischen Grundlage der Vemunft, allerdings nur in Form einer evidenten, fiir sie selbst nicht thematisierbaren Voraussetzung (vgl. 185 f.). Innerhalb des Hegelschen Modells einer sich selbst explizierenden Subjektivitat ist eine solche unmittelbare Gewissheit ein Mangel an Vermittlung und damit einerseits der Grund dafiir, dass der Vemunft eine als unabhangige Realitiit vorausgesetzte Welt gegen3

Vgl. dazu Brandom, Robert, Tales of the Mighty Dead, Cambridge 2002; Halbig, Christoph, Objektives Denken, Stuttgart I Bad Cannstatt 2002; Jaeschke, Walter, ,,Zum Begriff des Idealism us", in: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig u. a., Frankfurt am Main 2004, S. 164-183; sowie Quante, Michael, ,Reconceiling Mind and World", in: Southern Journal of Philosophy 40 (2002), s. 75-96.

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tibersteht. Andererseits treibt dieser Mangel die Vemunft dazu, sich ihrer Gewissheit zu versichem und fiir sich die Annahme der Strukturidentitat von Denken und Welt zu verifizieren.

1.1. Zwei Arten von Schwierigkeiten Anders als die anderen heiden Gestaltungen der Vemunft, die Hegel im zweiten und dritten Abschnitt behandelt, verbleibt die beobachtende Vemunft sowohl auf der epistemischen Stufe der Gewissheit als auch innerhalb einer rein passiven methodologischen Haltung. Der Gang der Argumentation, den Hegel im Abschnitt ,Beobachtende Vemunft" entfaltet, ist aus unterschiedlichen Grunden nicht Ieicht nachzuvollziehen. Hegel selbst gibt folgenden knappen Oberblick: ,Das Tun der beobachtenden Vemunft ist in den Momenten seiner Bewegung zu betrachten, wie sie die Natur, den Geist, und endlich die Beziehung beider als sinnliches Sein aufnimmt und sich als seiende Wirklichkeit sucht" (187). Damit sind die drei Kapitel ,Beobachtung der Natur" (ebd.), ,Die Beobachtung des Selbstbewusstseins in seiner Reinheit und seiner Beziehung auf auBre Wirklichkeit; logische und psychologische Gesetze" (226) und ,Beobachtung der Beziehung des Selbstbewusstseins auf seine unmittelbare Wirklichkeit; Physiognomik und Schadellehre" (233) umschrieben. Dartiber hinaus nennt Hegel mit seiner Bemerkung, dass die beobachtende Vemunft ihr Objekt ,als seiende Wirklichkeit sucht" (187), ein wichtiges Strukturelement, wodurch sich die beobachtende Vemunft von den heiden anderen Gestalten der Vemunft unterscheidet. Es sind zwei Arten von Schwierigkeiten, die Hegels Text unserem Interpretationsbemtihen entgegensetzt. Auf der einen Seite mtissen wir aufgrund unserer Erkenntnisinteressen stets drei Dimensionen von Hegels Argumentation auseinander halten. Erstens gilt es, die kompositorischen Aspekte seines Gedankengangs, die sich dem Gesamtanliegen der Phiinomenologie verdanken, von den auf das Mentale bezogenen Argumenten zu unterscheiden. Zweitens mtissen wir Hegels Analyse des Selbstverstandnisses der beobachtenden Vemunft und Hegels Kommentare tiber dieses Selbstverstandnis auseinander halten. Und drittens mtissen wir zwischen Hegels Bestimmung des Mentalen, wie es sich fiir die beobachtende Vemunft selbst (im Rahmen ihrer eigenen Vorgaben) darstellt, und seinen eigenen Annahmen tiber das Wesen des Mentalen differenzieren. Denn es liegt auf der Hand, dass Hegels Bestimmung der Grenzen und der Reichweite der Analyse, welche die beobachtende Vemunft vom Mentalen liefert, von seinen eigenen Pramissen hinsichtlich des Wesens des Mental en abhangt. Die argumentative Struktur von Hegels Analyse der beobachtenden Vernunft bringt zusatzlich eine zweite Art von Schwierigkeiten mit sich. Das eine Problem liegt darin, dass Hegel in der Einleitung des Abschnitts ,Beobachtende Vemunft" ( 185) die Grundstruktur der beobachtenden Vemunft angibt, Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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wesentliche Elemente dieser Grundstruktur dann aber erst im Rahmen seiner Diskussion von Theorien tiber die ,Beobachtung der Natur" (188) expliziert. Da ich in diesem Beitrag auf Hegels Behandlung dieser Konzeptionen nicht eingehe, werde ich seine dort zu findenden Aussagen in die folgende Darstellung der Grundstruktur der beobachtenden Vemunft integrieren. Das andere Problem, welches ich vorab noch kurz ansprechen mochte, besteht darin, dass Hegel aufgrund der Gesamtintention der Phiinomenologie die im zweiten und dritten Kapitel der beobachtenden Vemunft diskutierten Konzeptionen als eine V erfallsgeschichte darstellt. Innerhalb des Gesamtargumentationsganges der Phiinomenologie stellt das Vemunftkapitel eine W eiterentwicklung gegentiber den Gestalten des Bewusstseins und Selbstbewusstseins dar. Das ontologisch hOhere Prinzip des Rationalismus geht zu Beginn allerdings mit zwei Defiziten einher: mit der epistemologischen Unmittelbarkeit der Gewissheit auf der einen und mit der methodologischen Grundhaltung reiner Passivitat auf der anderen Seite. Beide Defizite werden im zweiten und dritten Abschnitt des Vemunftteils der Phiinomenologie tiberwunden. Die beobachtende Vemunft aber bleibt durchgangig mit diesen heiden Unzulanglichkeiten behaftet. Nun gibt es auch im Abschnitt ,Beobachtende Vemunft" eine begrifflichlogische W eiterentwicklung. Einerseits gliedert Hegel diesen Abschnitt nach den Gegenstandsbereichen Natur, Geist und Relation zwischen heiden; andererseits gibt es in den uns interessierenden Kapiteln eine feinstufige Abfolge von Konzeptionen. Diese stellen keine Hoherentwicklung, sondem im Gegenteil eine Verfallssequenz dar. Hegel mochte zeigen, dass sich die beobachtende Vemunft im Rahmen ihrer eigenen V orgaben immer weiter vom W esen des Mentalen entfemt (und ihm zufolge auch entfemen muss), his sich am Ende eine Grundauffassung des Mentalen herauskristallisiert, die eine grundlegende Konversion erzwingt. Hegel schreibt mit Bezug auf die Schadellehre: ,Damit scheint aber auch die beobachtende Vemunft in der Tat ihre Spitze erreicht zu haben, von welcher sie sich selbst verlassen und sich iiberschlagen muB; denn erst das ganz schlechte hat die unmittelbare Notwendigkeit an sich, sich zu verkehren." (257)

Das Scheitem des Versuchs der beobachtenden Vemunft, eine befriedigende Konzeption des Mentalen zu entwickeln, fiihrt, so Hegels Behauptung, zur Preisgabe der passivischen Methodologie, sodass als nachste begriffliche Formation die ,Verwirklichung des vemlinftigen SelbstbewuBtseins durch sich selbst" (263) folgen kann. In der nun folgenden Analyse spielt die begrifflich-logische Tiefenstruktur, die Hegel seiner Analyse der beobachtenden Vemunft insgesamt unterlegt, keine Rolle. Zwar werden wir die Psychologie, Physiognomik und Schadellehre in der Reihenfolge behandeln, in der Hegel sie diskutiert. Auf die Frage, ob sich zwischen diesen Konzeptionen selbst noch einmal eine erhellende begriffliche Entwicklung ausmachen lasst, werde ich aber nicht eingehen.

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1.2. Die Grundstruktur der beobachtenden Vemunft Hegel streicht zwei charakteristische Merkmale der beobachtenden Vernunft heraus. Erstens stellt sie ihre Beobachtungen kontrolliert selbst an, indem sie methodologisch vorgeht und die Erfahrungen systematisiert (185). Der Anspruch, den die beobachtende Vernunft dabei an ihre Daten erhebt, ist, dass sie ,wenigstens die Bedeutung eines Allgemeinen, nicht eines sinnlichen Diesen haben" (187). Dieses Allgemeine wird von der beobachtenden Vernunft als ein unabhiingiges Sein vorausgesetzt, welches es zu entdecken und ,zu finden" (189) gilt. In diesem fundamentalen Sinne bleibt sie als theoretische Einstellung passiv, weil sie sich eine bloB aufnehmende Rolle zuschreibt. Nach Hegel ist sie zwar aktiv, indem sie im Erkennen der Dinge deren ,Sinnlichkeit in Begriffe" (187) transformiert, oder indem sie ,das Wesentliche und Unwesentliche" (189) unterscheidet. Weil die beobachtende Vernunft darauf aus ist, die Verniinftigkeit der Dinge als gegenstiindliches Sein zu erkennen, verkennt sie nach Hegel nicht nur ihre aktivische, konstitutive Funktion, sondern ihr entgeht auch, dass die Struktur, welche sie in der Wirklichkeit entdeckt, im Grunde ihre eigene ist (vgl. 138, 34-36).< Das Ziel der Vernunft, ihre eigene Wesensverfasstheit in den Dingen als seiend zu entdecken, treibt sie dazu, dieses Sein in eine Allgemeinheit zu transformieren, deren Elemente notwendig aufeinander bezogen sind. Die beobachtende Vernunft sucht, und das ist das zweite charakteristische Merkmal, ,nach dem Gesetze und dem Begriffe" ( 191) der Wirklichkeit, wobei sie diese aufgrund ihrer Voraussetzungen ,a1s seiende[r] Wirklichkeit" (187) zu begreifen versucht. In der Erkenntnis gesetzmiiBiger Zusammenhiinge meint die beobachtende Vernunft daher, ,etwas Fremdes zu erhalten" (193). Gesetze sind ihr zufolge die allgemeine, verniinftige Struktur, welche die Erscheinungen ordnet. Allgemein sind sie, weil in ihnen nicht das konkrete Vorkommnis relevant ist, sondern die Art des Vorkommnisses. In Gesetzen stehen allgemeine Eigenschaften in Zusammenhiingen und nicht einzelne Dinge, was Hegel so ausdriickt: Die Vernunft ,befreit die Priidikate von ihren Subjekten." (195) Zugleich miissen diese Zusammenhiinge notwendig sein, damit man von Gesetzen sprechen kann (vgl. 146, 5-9). Damit enthiilt der Begriff des Gesetzes, den auch die beobachtende Vernunft teilt, eine interne Spannung. Einerseits sollen die Bestandteile der Gesetze voneinander unabhiingig bestehende Entitiiten sein, andererseits zugleich in einem notwendigen Zusammenhang stehen, wodurch ihre Selbstiindigkeit jedoch partiell negiert ist. 5 4

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Auf dieses Selbstmissverstlindnis fiihrt Hegel auch das ,Schwanken" (190) der beobachtenden Vemunft hinsichtlich des ontologischen Status modaler Bestimmungen zuriick. Hegels Begriff des Gesetzes ist nicht auf Kausalgesetze beschrankt; diese werden vielmehr auf einer bestimmten Stufe der intemen Entwicklung der beobachtenden Vemunft als spezielle Prasupposition derselben erst eingefiihrt. Hegel kennt daneben auch modale Beziehungen zwischen Eigenschaften (bzw. Universalien), deren Modalitat weder kausale noch analytische Notwendigkeit meint (vgl. 198).

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Dieses interne Defizit begriindet in Hege1s System die Grenze des Gesetzesbegriffs und damit auch die Grenze der Reichweite nomologischer ErkHirungen. 6 Dariiber hinaus gibt es zwei Inadaquatheiten dieser Erklarungsstrategie, die den spezifischen Prasuppositionen der beobachtenden Vemunft geschuldet sind: ,Dem beobachtenden BewuBtsein ist die Wahrheit des Gesetzes in der Erfahrung als in der Weise, daB sinnliches Sein ftir es ist" ( 191 ). Gesetze werden deshalb zum einen zu Objekten hypostasiert, deren Notwendigkeit aus den Dingen abgeleitet und nicht auf die Begriffsnatur der Vemunft zuriickgeftihrt wird. Dies ftihrt zum Induktionsproblem, da endlich viele beobachtete lnstanzen nicht hinreichen, die intendierte Allgemeingiiltigkeit des Gesetzes zu begriinden (vgl. 193). Damit wird die Giiltigkeit des Gesetzes auf , Wahrscheinlichkeit" ( 193) reduziert, sodass die mit dem Geltungsanspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit erhobene Geltung der Gesetze als , Wahrheit" (ebd.) verfehlt werden muss. 7 Zum anderen stellen Gesetze, weil sie auf das Allgemeine hinter den Erscheinungen abzielen, immer auch Abstraktionsleistungen dar. So geht es der beobachtenden Vemunft darum, ,reine Bedingungen des Gesetzes zu finden" (194). Da sie dabei ihre eigene Aktivitat nicht erkennt, sondem sich als rein Aufnehmend begreift, entsteht eine Kluft zwischen dem konkreten Vorkommnis in seiner Partikularitat und dem in Gesetzen ausdriickbaren Allgemeinen: ,Der Vemunftinstinkt geht in seinen Versuchen darauf, zu fin den, was unter diesen und jenen Umstanden erfolge. Das Gesetz scheint hierdurch nur urn so mehr in sinnliches Sein getaucht zu werden; allein dies geht darin vielmehr verloren" (194 f.).

Gemessen an den epistemologischen und ontologischen Pramissen der beobachtenden Vemunft ftihrt dies zur Frage, ob solche Gesetze iiberhaupt realistisch gedeutet werden diirfen oder, urn eine Formulierung von Nancy

Cartwright aufzugreifen, ob diese Gesetze ,liigen'. 8 lnsgesamt kommt die Vemunft zu der Auffassung, dass die Realitat als zu beobachtendes AuBeres ,nur Ausdruck des Inneren ist" (202). Damit erfasst sie den Begriff des Gesetzes selbst, der Hegel zufolge den wesensmaBigen, ,inneren" Zusammenhang der Erscheinungen (des ,AuBeren) meint. Zugleich 6

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Wenn ich von den Grenzen nomologischer Erkliirungen spreche, muss zum einen bedacht werden, dass fur Hegel teleologische Erkliirungen sowohl echte Erkliirungen als auch von hOherer philosophischer Dignitiit sind, wei! der Zweckbegritf intern komplexer ist als der Kausal- und der Gesetzesbegritf, welche von der beobachtenden Vemunft verwendet werden; zum Gesetzesbegritf bei Hegel vgl. Bogdany, Armin, Hegels Theorie des Gesetzes, Freiburg 1989. Die szientismuskritischen Aspekte von Hegels Diskussion des Gesetzesbegritfs im Abschnitt ,Kraft und Verstand" (107-137) werden diskutiert in Redding, Paul, Hegel's Hermeneutics, Ithaca 1996, S. 88-98. Hegel kritisiert an dieser Stelle auch die Vorstellung, durch eine ErhOhung der Wahrscheinlichkeit konne man sich der Wahrheit niihem; zwischen heiden besteht ihm Zufolge ein kategorialer Unterschied (vgl. 193). Vgl. Cartwright, Nancy, How the Laws ofPhysics lie, Oxford 1983.

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miissen, so die Vorgabe der beobachtenden Vemunft, das Innere und das AuBere, obwohl notwendig aufeinander bezogen, selbstandig gegeneinander bleiben und ,ein auBeres Sein und eine Gestalt haben" (203). Denn auch das Innere wird von der beobachtenden Vemunft als ,Gegenstand oder selbst als Seiendes und fur die Beobachtung vorhanden gesetzt" (ebd.). Damit sind die allgemeinen Voraussetzungen expliziert, mittels derer die beobachtende Vernunft sich dem Mentalen zuwendet. 2. Beobachtende Psychologie und Hegels Konzeption des Mentalen Hegel beginnt seine Diskussion der Behandlung des Mentalen durch die beobachtende Vemunft mit der Bemerkung, dass nur das Selbstbewusstsein ein geeigneter Gegenstand fur die impliziten Erkenntnisziele der beobachtenden Vemunft sein kann, denn sie ,findet diesen freien Begriff, dessen Allgemeinheit die entwickelte Einzelheit ebenso absolut in ihr selbst hat, nur in dem als Begriff existierenden Begriffe selbst" (227). GemaB ihren methodologischen Vorgaben sucht die beobachtende Vemunft nach Gesetzen des Mentalen: Zum einen versucht sie das Selbstbewusstsein ,in seiner Reinheit" (226) zum Gegenstand zu machen und sucht nach logischen Gesetzen. Zum anderen richtet sie sich auf die Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Umwelt, urn psychologische Gesetze zu formulieren. Hegels Behandlung dieser heiden epistemologischen Projekte der beobachtenden Vemunft ist, verglichen mit seiner Diskussion von Physiognomik und Schadellehre, relativ knapp. Sie ist vor allem deswegen wichtig, weil seine Kritik einige seiner eigenen zentralen Pramissen beziiglich des Mentalen offenbart. 2.1. Logische Gesetze? Auf konkrete Versuche der beobachtenden Vemunft, mit ihren Mitteln Gesetze des Denkens oder der Logik zu entdecken, lasst Hegel sich nicht im Detail ein. Sie versucht zum einen, diese Gesetze als ein ,ruhiges Sein von Beziehungen" (227) dem Denken als der tatigen Ausiibung dieser Gesetze gegeniiberzustellen. Damit aber verfehlt sie die aktivische Verfasstheit des Selbstbewusstseins: ,In ihrer Wahrheit, als in der Einheit des Denkens verschwindende Momente, miissten sie als Wissen, oder denkende Bewegung, nicht als Gesetze des Wissens genommen werden" (228). Hegel wendet sich damit gegen die Reifizierung der Gesetze und den Fehler, Selbstbewusstsein als Ding zu konzipieren. Wissen und Denken sind seinen Ausfuhrungen zufolge als praktische Vollziige zu verstehen, nicht als be-

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obachtbares, statisches Sein. 9 Dariiber hinaus kritisiert Hegel, dass die beobachtende Vemunft aufgrund ihrer Gesetzeskonzeption Grundelemente des Denkens postulieren muss, d. h. ,eine Menge abgesonderter Notwendigkeiten, die als ein fester Inhalt an und fur sich, in ihrer Bestimmtheit, W ahrheit haben sollen" (227). Damit wird die holistische Verfasstheit des Selbstbewusstseins verfehlt, die Hegel zufolge darin besteht, dass die unterscheidbaren Elemente oder Aspekte des Mentalen durch ihren Zusammenhang konstituiert sind. Der Gehalt, die Bedeutung oder die Funktion solcher mentaler Einheiten Hisst sich nur erfassen, wenn man sie als Moment des Selbstbewusstseins versteht. Ein solcher Zusammenhang ist nur hermeneutisch zu erschlieBen und sperrt sich deshalb den methodologischen und ontologischen Voraussetzungen der beobachtenden Vemunft. Hegels Einwand gegen die Moglichkeit logischer Gesetze ist, ahnlich dem Argument, welches Donald Davidson 10 gegen psychophysische Gesetze vorgebracht hat, von ,allgemeiner Natur" (229). Daher eriibrigt sich in Hegels Augen eine detaillierte Analyse der verschiedenen Madelle der beobachtenden Vemunft, weil sie auf einem Kategorienfehler beruhen, der sich in einer epistemologisch-methodologischen Inkommensurabilitat manifestiert. 11 2.2. Psychologische Gesetze? Da Selbstbewusstsein, so Hegels Pramisse, ,das Prinzip der Individualitat" (ebd.) ist, muss das Erklarungsziel der beobachtenden Vemunft ein individuelles Selbstbewusstsein in seiner spezifisch individuierten Verfasstheit sein (vgl. 230). Und weil es, so Hegels zweite Pramisse, ,in seiner Realitat, tuendes BewuBtsein" (228) ist, muss seine aktivische Verfasstheit erkllirt werden. Die beobachtende Vemunft, welche das Selbstbewusstsein in seiner Reinheit mit den ihr zu Verfiigung stehenden Mitteln nicht zu fassen bekommt, versucht deshalb nun, es uber seine Interaktion mit der Umwelt zu erklaren. Die psychologischen Gesetze formulieren dabei zwei gegensatzliche Einflussrichtungen: Einerseits wird das Selbstbewusstsein als passiv angenommen, 9

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Dieser Fundamentaleinwand ist auch ein zentrales Element von Hegels spiiterer Kritik an unzuliinglichen Theorien des Mentalen in seiner Theorie des subjektiven Geistes in der Enzyklopiidie von 1830 (vor allem § 389); vgl. dazu Halbig, Objektives Denken, a.a.O.; Quante, Reconceiling Mind and World, a.a.O. und Quante, Michael, ,Die Natur: Setzung und Voraussetzung des Geistes", in: Subjektivitiit und Anerkennung, hg. v. Barbara Merker u.a. Paderbom 2004, S. 81-10 I sowie Wolff, Michael, Das K6rper-Seele-Problem: Kommentar zu Hegels Enzyklopiidie (1830), § 389, Frankfurt am Main 1992. Vgl. Davidson, Donald, Actions & Events, Oxford 1980, vor allem Kapitelll. Ludwig Siep hat vorgeschlagen, Hegels Kritik im Sinne eines Antipsychologismus der Logik zu verstehen, wie er spiiter auch von Frege oder Husser! formuliert worden ist. Meine Analyse ist damit vereinbar, hat aber den Vorteil, dass sie nicht den ontologischen Status der vom Antipsychologismus postulierten Entitiiten kliiren muss (Siep, Ludwig, Der Weg der Phiinomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 2000, S. 135).

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welches Einfltisse der Umwelt ,in sich zu empfangen" (229) und seiner Urnwelt ,gemaB zu werden" (ebd.) hat. Andererseits wird das Selbstbewusstsein als aktiv aufgefasst, welches danach strebt, seine Umwelt ,sich gemliB zu machen" (ebd.).' 2 GemliB ihrer methodologischen Vorgaben ist die ,beobachtende Psychologie" (ebd) darauf angewiesen, das Selbstbewusstsein zu modularisieren, indem es ,mancherlei Vermogen, Neigungen und Leidenschaften" (230) entdeckt. Aufgrund ihres Bemtihens, individuelle Selbstbewusstseine in ihrer Aktivitat zu erklaren, bemerkt die beobachtende Psychologie jedoch selbst ,bei der Hererzahlung dieser Kollektion" (ebd.), dass die Einheit des Selbstbewusstseins so nicht befriedigend zu fassen ist. AuBerdem st6Bt sie auf die Diskrepanz, dass sie diese Module des Mentalen als ,tote ruhende Dinge" (ebd.) konzipiert, wlihrend sie sich ihr zugleich als ,unruhige Bewegungen zeigen" (ebd.). 2.3. Hegels Konzeption des Mentalen Auch Hegels Einwand gegen die Moglichkeit psychologischer Gesetze ist fundamentaler Natur, sodass er sich wiederum nicht auf Details der beobachtenden Psychologie einlassen muss: ,Was auf die Individualitat EinfluB und welchen EinfluB es haben soll - was eigentlich gleichbedeutend ist - hangt darum nur von der Individualitat selbst

ab" (231 ).

Einerseits wird das bestimmte Individuum in seiner individuellen Beschaffenheit als Resultat der Umwelteinfltisse begriffen; andererseits verhalt es sich aktiv, interpretierend und umgestaltend zu seiner Umwelt. In dieser Aktivitlit ist, so Hegels Einwand, die spezifische Individualitat eines Selbstbewusstseins bereits wirksam. Die konkreten Einwirkungen der Umwelt auf ein individuelles Selbstbewusstsein resultieren aus der spezifischen Verfasstheit des individuellen Selbstbewusstseins, sodass es unmoglich ist, die individuelle Ausprligung des Selbstbewusstseins durch den Einfluss seiner Umwelt zu erklliren. Die beobachtende Psychologie kommt daher, so Hegels Fazit, nicht tiber allgemeine Aussagen hinaus, die ein konkretes Selbstbewusstsein in ,dieser bestimmten Individualitat" (ebd.) nicht erfassen, sondern lediglich ,das unbestimmte Wesen derselben" (ebd.) zum Ausdruck bringen k6nnen. 13 Hegel zieht aus diesem Befund eine methodologisch bedeutsame Konsequenz: Die 12

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Hegel versteht hier unter Umwelt die soziale Welt von ,vorgefundenen Gewohnheiten, Sitten und Denkungsart" (229). Seine Einwande lassen sich aber auch auf die Versuche der Teleosemantik iibertragen, die das Mentale als Anpassung und Gestaltung einer biologisch-evolutiv gefassten Umwelt zu erklaren versucht; vgl. dazu Millikan, Ruth, Language. Thought and Other Biological Categories, Cambridge 1984. Das Schicksal des Versuchs innerhalb der kausalistischen Handlungstheorie, kausale Handlungsgesetze zu formulieren, kann als gegenwartiges Beispiel fiir diese Schwierigkeit genommen werden.

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bestimmte Individualitiit eines Selbstbewusstseins ist ,nur aus diesem selbst zu begreifen" (232). Damit ist eine verstehende, auf Sinnzusammenhange angelegte Interpretation als adaquate Erklarungsstrategie gefordert, die der aktivischen und holistischen Verfasstheit des Selbstbewusstseins und seiner ,Freiheit" (ebd.) Rechnung tragt. 14 Dariiber hinaus sind Hegels Einwande deshalb fiir seine eigene Konzeption des Mentalen von Wichtigkeit, weil er die Funktion der sozialen Umwelt als konstitutives Element des individuellen Selbstbewusstseins anerkennt: ,Wenn diese Umstiinde, Denkungsart, Sitten, Weltzustand iiberhaupt nicht gewesen ware, so ware allerdings das Individuum nicht geworden, was es ist; denn diese allgemeine Substanz sind aile, welche in diesem W eltzustande sich befinden" (231 ). 15

Beachtet man den Kontext, in dem Hegel seine Konzeption des Mentalen entfaltet, lassen sich zwei nahe liegende Missverstiindnisse vermeiden. Zum einen kann Hegels Forderung, das individuelle Selbstbewusstsein ,nur aus diesem selbst" (232) zu begreifen, nicht als Vorschlag, das Mentale durch den singular erstpersonlichen Zugang zu erfassen, gewertet werden. Die methodologisch-solipsistische Konzeption einer introspektiven Psychologie verlangert nur die Defizite der beobachtenden Psychologie, weil sie die soziale Verfasstheit des Mentalen nicht beriicksichtigt und damit wesentliche Voraussetzungen der beobachtenden Vemunft ungepriift iibemimmt. Auf der anderen Seite kann Hegels Kritik am methodologischen Solipsismus der introspektiven Psychologie nicht als Behaviorismus interpretiert werden, da Hegel auch diejenigen methodologischen und epistemologischen Pramissen der beobachtenden Vemunft kritisiert und zuriickweist, die Behaviorismus und introspektive Psychologie teilen. 16 Unsere Analyse lasst dagegen Hegels eigene

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Entscheidend ist hierbei zu bedenken, dass Hegels Begriff der Freiheit nicht im Sinne einer agent causality gemeint ist, sondem als Offenheit fur die rationalen Strukturen der (sozialen) Umwelt; vgl. hierzu Pippin, Robert, ,Naturalness and Mindedness: Hegel's Compatibilism", in: The European Journal of Philosophy 7 (1999), S. 194-212 und Pippin, Robert, ,Taking responsibility. Hegel on Agency", in: Subjektivitiit und Anerkennung, hg. v. Barbara Merker u.a., Paderbom 2004, S. 67-80. Auf diesen Aspekt der sozialen Verfasstheit des Mentalen stellt Pinkards Diskussion dieser Abschnitte in erster Linie ab (Pinkard, Terry, Hegel's Phenomenology: The Sociality of Reason, Cambridge 1994, S. 89). Eine genauere Bestimmung von Hegels These, dass das Mentale sozial konstituiert ist, findet sich - allerdings mit Bezug auf Hegels spatere Theorie des objektiven Geistes- in: Quante, Michael I Schweikard, David: , ... die Bestimmung der lndividuen ist, ein allgemeines Leben zu fiihren'. La struttura metafisica della filosofia sociale die Hegel", in: Quaderni Di Teoria Sociale 5 (2005), S. 221-250. In diesem Punkt besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen Hegels und Wittgensteins Konzeption des Mentalen; vgl. zu letzterer Ter Hark, Michel, ,Wittgenstein und Russell iiber Psychologie und Fremdpsychisches", in: Wittgenstein fiber die Seele, hg. v. Eike von Savigny I Oliver R. Scholz, Frankfurt am Main 1995, S. 84-106.

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Konzeption einer sozial-extemalistischen Konzeption des Mentalen sichtbar werden. 17 3. Physiognomik und Schadellehre Die beobachtende Psychologie muss also aus kategorialen Grunden scheitem, sodass die beobachtende Vemunft bei ihrem Versuch, das Mentale zu erklaren, auf die physische Unmittelbarkeit des individuellen Selbstbewusstseins als moglichem Erklarungsgrund zuriickgeworfen wird, welche ,den Gegensatz des Fursichseins und des Ansichseins in ihrer absoluten Vermittlung getilgt enthalt" (233).

Hegel diskutiert mit der Physiognomik und der Schadellehre zwei zu seiner Zeit aktuelle Forschungsprojekte dieser Art. Obwohl beide aus heutiger Sicht in vielen Aspekten als obsolet gelten miissen, sind Hegels Einwande weiterhin von systematischer Relevanz, da seine Kritik auf fundamentale Prasuppositionen dieser Konzeptionen zielt, die bis heute wirksam geblieben sind. Vor allem in seiner Behandlung der Physiognomik versucht Hegel, die unterschiedlichen Varianten dieser Konzeption in eine begriffliche Entwicklungssequenz zu bringen, an deren Ende notwendig die Schadellehre stehen muss. Da ich diese dem Beweisziel der Phiinomenologie geschuldete Dimension der Hegelschen Argumentation in diesem Beitrag nicht verfolgen mochte, werde ich die fiinf Hauptstadien dieser Entwicklung kurz nebeneinander stellen. AnschlieBend wird Hegels Kritik an der Physiognomik, die er im Kern als die Handlungstheorie der beobachtenden Vemunft begreift, analysiert. Dabei trage ich die Elemente von Hegels eigener Handlungstheorie, die sich seiner Kritik an der Physiognomik entnehmen lassen, zusammen, urn das Bild von Hegels sozial-extemalistischer Konzeption des Mentalen zu vervollstandigen.

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Fiir das Verstiindnis meiner Argumentation sind drei Kliirungen bzw. Ergiinzungen wichtig: Erstens wird im Folgenden nicht behauptet, dass Hegels sozial-extemalistische Konzeption des Mentalen als Argument gegen den Szientismus vorausgesetzt wird. Es finden sich zum einen von dieser Konzeption unabhiingige Einwiinde, und zum anderen gewinnt Hegels sozial-extemalistische Konzeption im weiteren Verlauf erst ihre voile Kontur. Zweitens darf Hegels sozialer Extemalismus beziiglich des Mentalen nicht mit dem letztlich an behaviouristischen Vorgaben orientierten Modell des Geistes identifiziert werden, das Donald Davidson entworfen hat. Hegels sozialer Extemalismus ist vielmehr genuin sozial in dem Sinne, dass er von der Teilnehmerperspektive des Wir (oder des Geistes) aus entwickelt wird; vgl. Quante/Schweikard, La struttura metafisica, a.a.O. Und drittens vertritt Hegel neben dem sozialen Extemalismus auch einen ontologischen Extemalismus mentaler Zustiinde, der den Dualismus von Denken und Welt zuriickweist; vgl. dazu Quante, Reconceiling Mind and World, a.a.O. und Halbig, Objektives Denken, a.a.O. Aus diesem Grunde ist Hegels Konzeption auch nicht der Gefahr ausgesetzt, zu einem ,frictionless spinning in the void' zu werden, in dem das Denken nur in sich oder sozialen Sphiiren kreist und den Kontakt zur Welt nicht herstellen kann.

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AbschlieBend komplette ich das Bild durch eine Analyse von Hegels Kritik der Schiidellehre. 3.1. Variationen tiber ,Innen" und ,,AuBen"- funfGegensatze Die Grundidee, nach Hegel sogar der Begriff des Gesetzes als solches, besteht in dem Gedanken, dass eine Reihe von AuBerem seine Bedeutung durch ein Inneres erhiilt, welches darin erscheint. Aufgrund der weiteren methodologischen und epistemologischen Vorgaben der beobachtenden Vemunft mtissen das Innere und AuBere nicht nur selbstiindig gegeneinander und zugleich notwendig aufeinander bezogen sein, sondem beide mtissen auch als Sein aufgefasst werden. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Hegel fiinf Gegensiitze von Innerem und AuBerem, die in der Physiognomik formuliert werden. Jedes dieser Gegensatzpaare hat zum Ziel, von einem beobachtbaren AuBeren aus ein Selbstbewusstsein in seiner konkreten Individualitiit zu erkliiren. Die Position des Inneren nimmt bei den ersten vier Anliiufen der Physiognomik die Tiitigkeit des Subjekts mittels eines Organs (paradigmatisch die Hand oder der Mund) ein. Das AuBere dagegen wird aufgrund der Unzuliinglichkeiten der Vorstufenjeweils modifiziert (vgl. 234). 18 Beim ersten Gegensatz ist das AuBere als die ,Tat als eine von dem Individuum abgetrennte Wirklichkeit" (235) bestimmt. Das sich im Handeln ausdrtickende Innere erscheint dieser Konzeption zufolge im vom Individuum geschiedenen Handlungsresultat. Hegel kritisiert an diesem Erkliirungsmodell, dass es die Voraussetzungen der Physiognomik zweifach verletzt. Zum einen gewinnt das im AuBeren vergegenstiindlichte Innere in der vom Individuum abgel6sten Tat eine Eigenstiindigkeit, der gegeniiber sich das Individuum nicht mehr behaupten kann (in dieser Hinsicht verliert das Innere die geforderte Selbstiindigkeit gegeniiber dem AuBeren). Gerade wegen dieses Defizits kann das Individuum sich zum anderen auch kritisch reflektierend zur Tat verhalten, indem es sich auf seine Absicht zurtickzieht und von der objektiven Bedeutung der Tat distanziert: ,Das Tun also, als vollbrachtes Werk, hat die doppelte, entgegengesetzte Bedeutung, entweder die innere Individualitiit und nicht ihr Ausdruck oder als AuBeres eine von dem Innem freie Wirklichkeit zu sein, welche ganz etwas anderes ist als jenes." (ebd.)

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Hegels Darstellung dieser Weiterentwicklung der Modelle der Physiognomik (233 ff.) ist trotz ihrer Komplexitiit vereinfacht. Das lnnere und das AuBere sind nach Hegels Verstiindnis Reflexionsbegriffe; eine Bedeutungsverschiebung des einen zieht daher immer auch eine Bedeutungsverschiebung des anderen nach sich. Wenn ich richtig sehe, thematisiert Hegel bei den ersten vier Gegensiitzen die Weiterentwicklung des lnneren nicht, sondern beschriinkt sich auf die Seite des AuBeren.

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Zur Behebung dieses Defizits muss ein Inneres gefunden werden, ,wie es noch, aber sichtbar oder aul3erlich, an dem Individuum selbst ist" (ebd.). Versucht man nun, dies der zweite Gegensatz, die au13ere Gestalt des Individuums qua ,ruhendes Ganzes" (236) an die Stelle der Tat zu setzen, so ergibt sich eine zu schwache Relation zwischen Innerem und AuBerem - die eines bloB konventionellen, nicht in der Sache selbst verankerten ,,Zeichen" (ebd.). Eine solche ,willkiirliche Verbindung" (ebd.) ergibt aber nach den eigenen Vorgaben der Physiognomik ,kein Gesetz" (ebd. ), weshalb Hegel folgert, dass auf diese Weise der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht zu erfullen ist (vgl. 234). Aus der Beschaffenheit der Hand das Schicksal des Individuums zu prognostizieren, bleibt ebenfalls eine zufallige Verbindung und die Physiognomik so eine ,von andem schlechten Kiinsten und heillosen Studien" (236). Daher ist auch die Konstruktion des dritten Gegensatzes, bei dem die aul3ere Beschaffenheit des fraglichen Organs der Tatigkeit zur Erscheinung des Inneren, d. h. der besonderen Individualitat, erklart wird, nicht befriedigend. Weder die Ziige der Hand, noch ,Klang und Umfang der Stimme" (238) noch die ,Handschrifft" (ebd.) konnen als Ausdruck der Individualitat aufgefasst werden, weil das Individuum sich zu diesen Merkmalen reflexiv verhalten und sie sogar bewusst einsetzen kann. Diese Fahigkeit zur Selbstinterpretation, Hegel nennt es die ,Aeul3erung als Reflexion iiber die wirkliche Aeul3erung" (ebd.), erklart, weshalb die au13eren Merkmale, welche von der Physiognomik herangezogen werden, in deren Perspektive nicht angemessen erfasst werden konnen. Als Ausdruck absichtlichen Handelns sind sie nur einer verstehenden Interpretation zuganglich, nicht aber der Perspektive der beobachtenden Vemunft.' 9 Mit der Fahigkeit zur ,inneren' reflexiven Kommentierung des eigenen Tuns und der eigenen Tat kommt ein Charakteristikum absichtlichen Handelns zum V orschein, welches im vier!en Gegensatz verwendet wird. Die innere Reflexion iiber die eigene Tat als ,wirkliche Aeu13erung" (ebd.) muss selbst eine beobachtbare, aul3ere Seite haben. Die Mimik soll zum Ausdruck bringen, ob eine Aussage ernst gemeint ist oder nicht (so Hegels Beispiel fur diesen Zusammenhang). Auch dies ist jedoch aus zwei Grunden unter den Voraussetzungen der beobachtenden Vemunft inadaquat: Weil die Mimik ,in die Bestimmung des Seins herunter" (239) fallen muss, steht sie wieder nur in einer bloB konventionellen Relation zur bestimmten Individualitat und kann von dieser beliebig eingesetzt werden: Diese Aul3erung ihres Inneren ist fur das bestimmte Individuum deshalb ,ebensowohl ihr Gesicht als ihre Maske, die sie ablegen kann" (240). In dieser Moglichkeit ist der Unterschied von Absicht und Wille auf der einen und Tat auf der anderen Seite vorausgesetzt (vgl. ebd.). Indem die Physiognomik daraus ihrenfonften Gegensatz erzeugt, ist sie, wie Hegel im Folgenden ausfuhrt, zur Handlungstheorie geworden. 19

Dies ist der systematische Gewinn, den Macintyre (Macintyre, Alasdair, ,Hegel on faces and skulls", in: The Phenomenology of Spirit Reader, hg. v. Jon Stewart, Albany 1998, S. 213224) aus seiner Interpretation dieser Passagen zieht.

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3.2. Die ,verkehrten Verhaltnisse" der Physiognomik Aus diesem vierten Gegensatz ist nach Hegel eigentlich folgende Konsequenz zu ziehen: ,Die Individualitat gibt dasjenige Insichreflektiertsein auf, welches in den Ziigen ausgedriickt ist, und legt ihr Wesen in das Werk" (240). Die Verfeinerungen der Modelle der Physiognomik lassen erkennbar werden, dass diese , Wissenschaft' auf das Grundproblem der Handlungstheorie gestoBen ist: ,Der Gegensatz, auf welchen dies Beobachten geraten, ist der Form nach der Gegensatz von Praktischem und Theoretischem, beides namlich innerhalb des praktischen selbst gesetzt, - von der sich im Handeln (dies im allgemeinsten Sinne genommen) verwirklichenden Individualitat und derselben, wie sie in diesem Handeln zugleich daraus heraus, in sich reflektiert, und es ihr Gegenstand ist" (ebd. ).

Die von Hegel angedeutete Losung ist mit den Prasuppositionen der beobachtenden Vemunft jedoch nicht vereinbar. Vielmehr ,widerspricht sie dem Verhaltnisse, welches von dem Vemunftinstinkte, der sich auf das Beobachten der selbstbewuBten Individualitat legt, in Ansehung dessen, was ihr Inneres und AuBeres sein soli, festgesetzt wird." (ebd.)

Wahrend Hegel in seinem theoretischen Rahmen die Konsequenz akzeptieren kann, muss die beobachtende Vemunft die von ihr entdeckte Grundstruktur absichtlichen Handelns ,nach demselben verkehrten Verhaltnisse auflnebmen], worin er sich in der Erscheinung bestimmt" (ebd.). Die Behauptung ist also, dass eine im Paradigma der beobachtenden Vemunft verbleibende Handlungstheorie die Struktur der Erscheinung iibemimmt und nicht in der Lage ist, sie begrifflich adaquat zu bestimmen. Diese ,verkehrte' Handlungstheorie wird von Hegel dann folgenderrnaBen skizziert: ,Fiir das unwesentliche AuBere gilt ihm die Tat selbst und das Werk, es sei der Sprache oder einer befestigteren Wirklichkeit, - fiir das wesentliche Innere aber das Insichsein der Individualitat. Unter den heiden Seiten, welche das praktische BewuBtsein an ihm hat, dem Beabsichtigen und der Tat - dem Meinen iiber seine Handlung und der Handlung selbst - wahlt die Beobachtung jene Seite zum wahren Innem". (ebd.)

Aufgrund ihrer Pramissen kann diese Handlungstheorie in der Tat nur das AuBere sehen, von dem aus auf das wesentliche Innere, welches das beobachtbare Ereignis allererst zu einer Handlung macht, geschlossen wird. Die vorausgesetzte Unaufhebbarkeit der Differenz von innerer Absicht und auBerem Handlungsereignis fiihrt dazu, dass das Merkmal der Absichtlichkeit, wodurch eine Handlung sich von bloBen Naturvorgangen unterscheidet, als eine getrennte GroBe konzipiert wird, auf die in der Beobachtung des Vorgangs geschlossen werden kann und muss: Handlungen sind Hegel zufolge Gegenstande im intersubjektiv zuganglichen Raum und in diesem Sinne dem Indivi-

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duum in seiner privaten Innerlichkeit auch auBerlich. Die beobachtende Vemunft jedoch fasst diese ,Sichtbarkeit als Sichtbarkeit des Unsichtbaren" (241 ). Und weil ihr das Innere als das Wesentliche gilt, das sich im AuBeren Ausdruck verschafft, wird die Absicht des Handelnden zum wesentlichen Merkmal. Da die von der realisierten Handlung abgetrennte Absicht mit der durch den sozialen Kontext bestimmten Tat nicht notwendig zusammenpasst, stellt die Absicht eine theoretische GroBe dar, welche epistemologisch nicht zuganglich und in diesem Sinne ,gemeintes Sein" (ebd.) ist. Auch die Handlung wird so ein ,gemeintes Dasein" (ebd.), weil sie dieser Theorie zufolge durch das Selbstverstandnis des Individuums konstituiert ist, nicht aber durch den sozialen Deutungsraum. Aus diesem Grunde kann es auch keine Gesetze geben, in denen Absichten und die durch diese Absichten wesentlich konstituierten Handlungen im fiir Gesetze erforderlichen Bedingungsverhaltnis stehen. 20 Da Absichten epistemisch unzulassige Schltisse auf etwas prinzipiell nicht Beobachtbares voraussetzen, sind sie im Rahmen der beobachtenden Vemunft gar nicht sinnvoll konzipierbar, sondem beliebige Konstrukte. Und weil die Handlung durch diese Konstrukte allererst - in Differenz zu der Deutung der Tat im sozialen Raum - konstituiert werden, sind auch letztere keine beobachtbaren Entitaten. Die Handlungstheorie, die meint, Handlungen seien beobachtbare Ereignisse, durchschaut ihre eigenen konstitutiven Interpretationsleistungen, durch welche Ereignisse allererst zu Handlungen werden, nicht. Und sie versteht auch nicht, dass es die von ihr unterstellte Konzeption von Innen und AuBen ist, durch welche Absichten zu einer nur erschlieBbaren, prinzipiell privaten Art von Entitaten gemacht werden.

Hegels lasst keinen Zweifel daran, dass seiner Auffassung nach die im sozialen Raum stehende Tat das ,wahre Sein des Menschen" ist, worin die ,Individualitat wirklich" ist, weil das handelnde Individuum auf diese Weise ,das Gemeinte in seinen beiden Seiten aufhebt" (242). Gegen die Versuche der Physiognomik, aus dem beobachteten Handlungsereignis auf die eigentliche Absicht des handelnden Subjekts zu schlieBen, setzt Hegel, dass ein Individuum sich tiber die wahre Bedeutung seines Handelns tauschen kann und erst die Realisierung in einem sozialen Raum zeigt, was den ,Charakter der Tat" (243) ausmacht. Anders als die von der beobachtenden Vemunft vorausgesetzte Konzeption von Innen und AuBen voraussetzt stellt die Vergegenstandlichung der Absicht in der Tat also keine uni.iberwindbare Kluft dar: ,Die Gegenstandlichkeit verandert nicht die Tat selbst, sondem zeigt nur, was sie ist" (ebd.). Die Identitatsbedingungen fiir Handlungen sind durch soziale MaBstabe und Kontexte festgelegt, nicht durch die privaten Perspektiven des agierenden Subjekts auf sein eigenes Tun. Damit ist der eigentliche Ort der Handlungstheorie der objektive Geist, da sich nur in einer ethischen und rechtlichen 20

Dies schlieBt lediglich eine fiir die Gesetze notwendige Beziehung zwischen Typen aus. Die Frage, wie sich konkrete mentale Episoden zu beobachtbaren Ereignissen verhalten, ist damit noch nicht beantwortet.

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Praxis die Regeln ermitteln lassen, unter welcher Beschreibung sich den Subjekten Taten zuschreiben lassen, unter welchen Beschreibungen sie verantwortlich sind oder, aufgrund ihrer subjektiven Perspektive, Entlastung und Entschuldigung in Anspruch nehmen konnen. 21 Filr diese soziale Dimension der Wirklichkeit ist die beobachtende Vernunft aufgrund ihrer Pramissen jedoch blind, so dass sie tiber die Erklarung von Handlungen nicht zu ihrem Ziel kommt, die bestimmte Individualitat eines Subjekts zu erklaren. 3.3. Schiidellehre Da die beobachtende Vernunft die bestimmte Individualitat tiber das Handeln nicht zu fassen bekommt, bleibt Hegel zufolge noch die These zu priifen, ,daB die Individualitat an ihrer unmittelbaren, festen, rein daseienden Wirklichkeit ihr Wesen ausspreche" (244). Nun soli nicht mehr die auBere Seite der Tatigkeit Aufschluss tiber die Beschaffenheit eines individuellen Subjektes geben, sondern seine unmittelbare physische Existenz. Mit der Schadellehre, die Hegel bier vor Augen hat, wird eine Wissenschaft diskutiert, die prima facie obsolet ist, da man versuchte, aus Eigenschaften des Schadels auf spezifische mentale Eigenschaften des Subjekts zu schlieBen. Dennoch ist Hegels Auseinandersetzung aktuell, da er in seiner Kritik fundamentale Prasuppositionen dieser Konzeption aufdeckt, die auch in der heutigen Philosophie des Mentalen wirksam sind. Aufgrund ihrer Prasuppositionen muss die Schiidellehre die Relation zwischen Mentalem und Physischem als ,Verhaltnis des Kausalzusammenhangs" (ebd.) begreifen und deshalb die ,geistige Individualitat [ ... ] als Ursache selbst leiblich sein" (245). Die beobachtende Vernunft findet im Gehirn und Rtickenmark den leiblichen Sitz der geistigen Individualitat. Die gesuchte Relation findet die Schadellehre deshalb in der Kausalbeziehung zwischen dem Gehirn und Rtickenmark, welche als das ,korperliche Ftirsichsein des Geistes" (247) aufgefasst werden, sowie Schadel und Rtickenwirbelsaule, welche als ,das feste ruhende Ding" (ebd.) gelten. 22 An dieser Stelle macht Hegel, das ist einer der bedeutenden Punkte in seiner Kritik an der Schadellehre, darauf aufinerksam, dass dem Gehirn in der Schadellehre eine Doppelrolle zugeschrieben wird, sodass eine grundlegende Ambivalenz entsteht. Einerseits ist das Gehirn selbst als bloBes Objekt - ,ein Sein fur anderes, Dasein" (246) - gedacht. Als ein solches ,totes Sein" kann es jedoch nicht mehr, wie andererseits gefordert, ,Gegenwart des Selbstbewusstseins" (ebd.) sein. Hegel weist uns darauf hin, dass wir zwischen den 21

22

Vgl. dazu Pippin (Pippin, Robert, ,Hegels Praktischer Realismus. Rationales Handeln als Sittlichkeit", in: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig u.a., Frankfurt am Main 2004, S. 295323) und Quante (Quante, Michael, Hegel's Concept ofAction, Cambridge 2004). Hegel beschriinkt sich, wie auch meine Darstellung, auf die Rolle des Gehirns.

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funktionalen Aktivitiiten des Gehims und dem Gehim als einem physischen Korper unterscheiden miissen. In ersterer Lesart wird der Tatigkeitscharakter des Mentalen wieder eingefangen, aber die Differenz zur beobachtenden Psychologie geht verloren. In letzterer Lesart bildet die Schiidellehre zwar eine echte Alternative zur psychologischen Auffassung des Mentalen. Es ist aber, wie Hegel betont, nicht zu sehen, wie das Gehim als ,totes Sein" mit der bestimmten Individualitat explanatorisch erhellend verbunden sein soiL In dieser Ambivalenz manifestiert sich der Zielkonflikt der Schiidellehre, die ,ein aber nicht eigentlich gegenstiindliches Sein" (245) des Mentalen sucht. In seiner Kritik an den kausalen Gesetzen zwischen Gehim und Schadel weist Hegel auf eine weitere Ambivalenz dieser Konzeption hin, die sich in einer zweiten Doppelrolle des Gehims als ,animalischer Teil" und als ,Sein der selbstbewuBten Individualitiit" (250) manifestiert. Diese Doppelrolle kann dazu verleiten, dass man dem Gehim Eigenschaften oder Leistungen mittels mentaler Pradikate zuschreibt, die man dabei lediglich im iibertragenen Sinne verwendet. Die Gefahr ist dann, dass man spiiter diesen metaphorischen Gebrauch nicht mehr durchschaut und zu dem Fehlschluss verfiihrt wird, es wiirden ein- und demselben Objekt biologische und mentale Eigenschaften zugeschrieben. Dies kann dann in der Folge den Verdacht niihren, es handele sich hierbei urn zwei Beschreibungsarten eines Gegenstandsbereichs (seien es Aktivitaten, Eigenschaften oder Zustiinde des Gehims). Wenn man sich die Ambivalenz der Rolle des Gehims in diesem Kontext verdeutlicht hat, verlieren diese Annahmen ihre Plausibilitat. 23 Der Aufweis der ersten Ambivalenz ist wichtig, weil Hegels Einwiinde nun nicht mehr nur als Kritik an Kausalrelationen zwischen Gehim und Schadel gelesen werden miissen, sondem sich iibertragen lassen auf Konzeptionen, in denen ein Kausalzusammenhang zwischen funktionalen und physischen Zustanden des Gehims behauptet wird, wobei erstere dann mit dem Mentalen identifiziert werden. Damit wird Hegels Analyse fiir die gegenwartige Philosophie des Mentalen relevant, die sich am Geist-Gehim-Verhiiltnis abarbeitet. Aufgrund der intemen Spannung halt Hegel es nicht fiir moglich, informative Zusammenhange zwischen der das Mentale erfassenden funktionalen Ebene und der physischen Ebene des Gehims herzustellen. Auf letzterer fehle die intentionale Bedeutungsdimension, durch welche das Mentale charakterisiert ist - die physische Beschaffenheit hat nicht ,den Wert eines Zeichens" (251 ). Letztlich bleibt daher nur eine ,begrifflose, freie priistabilierte Harmonie [ ... ] iibrig und notwendig" (252), die nichts mehr erkliirt. 24 In diesem Zusammenhang weist Hegel auf einen Zusammenhang hin, der in der gegenwartigen Philosophie des Mentalen ebenfalls eine wichtige Rolle 23 24

Hegel selbst weist, mit Bezug auf den Schadel, auf einen solchen Missbrauch von Priidikaten hin (247 f.). Hegels Charakterisierung triffi: auf die Relation der global supervenience zu, die eine notwendige, aber explanatorisch nicht erhellende Abhiingigkeitsbeziehung der Gesamtheit aller mentalen Eigenschaften von der Gesamtheit aller physischen Eigenschaften behauptet.

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spielt. Da das Gehim in seiner Doppelrolle die interne Strukturiertheit des Geistes abbilden muss, liegt die Idee einer funktionalen Modularisierung des Gehims (qua funktionaler Einheit) als eine ,seiende Gliederung" (246) nahe. Dieser entspricht dann auf der Ebene des Gehims (qua physischem Objekt) die Vorstellung einer Lokalisation bestimmter Arten mentaler Vorgange in bestimmten Himregionen (vgl. 248). Die Art der Modularisierung, dies Hegels auch fiir heutige Debatten wichtiger Hinweis, wird von der Theoriebildung in der Psychologie abhangen. Der Anschein einer erfolgreichen Explanation des Mentalen im Rahmen der beobachtenden Vemunft, so lasst sich Hegels Bemerkung (ebd.) verstehen, wird erzeugt durch das Zusammenspiel von beobachtender Psychologie und der Schadellehre, weil darin zwei inadaquate Konzeptionen des Mentalen Hand in Hand greifen und sich wechselseitig verstarken. Eine wirkliche Erklarung der wesentlichen Eigenschaften des Mentalen ist, so Hegels Fazit, im Rahmen der beobachtenden Vemunft nicht zu erreichen. 25 Im Endeffekt lauft der Ansatz der Schadellehre auf eine uninformative Identitatsbehauptung zwischen Mentalem und Physischem hinaus, welche selbst ,der rohe Instinkt der selbstbewussten Vemunft" (257) als unbefriedigend ansehen muss. Die Vemunft verlasst deshalb das Paradigma der beobachtenden Vemunft und versucht auf anderen Wegen, das Wesen des Mentalen und damit sich selbst zu begreifen. 4. Die Aktualitat von Hegels Diskussion der beobachtenden Vemunft Die naturwissenschaftlich-philosophischen Theorien des Mentalen, die Hegel in der Phiinomenologie diskutiert hat, sind ohne Zweifel historisch iiberholt. Dennoch hat sich gezeigt, dass Hegels Kritik an ihnen auch heute noch von systematischer Relevanz ist, weil zentrale Voraussetzungen der beobachtenden Vemunft his heute in den naturwissenschaftlich orientierten Philosophien des Mentalen wirksam sind. AuBerdem werden in dieser Kritik die Grundziige von Hegels eigener Konzeption des Mentalen sichtbar, wie er sie spater in seiner Theorie des subjektiven und objektiven Geistes entfaltet hat. Die naturwissenschaftliche (,beobachtende") Erforschung des Mentalen, die heute durch Kognitionswissenschaften und Himforschung betrieben wird, kann, wenn Hegel richtig liegt, das Wesentliche des Mentalen nicht erfassen, auch wenn diese Perspektive fiir manche Aspekte unserer Existenz als Subjekte mentaler Episoden angemessen ist. Vor allem aber muss Hegels Kritik 25

Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Hegel weder eine Lokalisationstheorie noch die Existenz kausaler Relationen zwischen Mentalem und Physischem aus begriftlichen Griinden ausschlieBt (vgl. 251 ). Er ist allerdings der Meinung, dass sich auf diese Weise weder gesicherte Erkenntnisse gewinnen lassen (250) noch die wesentlichen Aspekte des Mentalen in den Blick kommen. Die Frage, wie sich mentale Verursachung in Hegels Handlungstheorie integrieren llisst, erortere ich in Quante, Hegel's Concept ofAction, Cambridge, a.a.O., 177-185.

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verstanden werden als Absage an den selbstauferlegten Zwang der Philosophie des Mentalen, in ihrem Vorgehen die Ontologie, Epistemologie oder Methodologie, die der beobachtenden Vernunft eingeschrieben ist, zu ubernehmen oder nachzuahmen. Eine solche Imitation der naturwissenschaftlichen Theorien des Mentalen ftihrt nicht nur nicht zu groBerer Wissenschaftlichkeit, sondern verfehlt den sozial-externalistischen und sich nur in der verstehenden Teilnehmerperspektive erschlieBenden Charakter des Mentalen als eine Tatigkeit bzw. als unsere Lebensform. Hegels Rekonstruktion des Verhaltnisses von Mentalem und Physischem in reflexionslogischen Figuren hat diesbezuglich ein problemaufschlieBendes Potenzial, welches den dem Grundverstandnis der beobachtenden Vernunft nahe stehenden Metaphern des ,Raums der Gesetze" und des ,Raums der Griinde" nicht eignet. 26 Hegel lehnt entschieden die Vorstellung ab, dass sich die Philosophie allgemein und die Philosophie des Mentalen im speziellen den Vorgaben der Naturwissenschaften unterordnen muss. Er beharrt damit auf der Eigenstandigkeit und hoheren Dignitat einer philosophischen Analyse des Mentalen.27 Dennoch hat er sich permanent mit naturwissenschaftlichen Theorien und empirischen Befunden auseinandergesetzt und seine eigene Theorie des Mentalen dazu in Beziehung gesetzt. Die Frage ist also, wie man das Verhaltnis alltaglicher, naturwissenschaftlicher und philosophischer Auffassungen zueinander in Hegels System denken muss. Ohne Zweifel ist Hegels eigene Konzeption des Mentalen im spateren System stringenter entfaltet als in der Phiinomenologie. In einer Hinsicht jedoch scheint mir das Grundanliegen der Phiinomenologie geeigneter zu sein, eine Antwort auf diese Frage zu entwickeln. Im spateren System werden ,Natur" und ,Geist" zwar als Reflexionsbegriffe eingefiihrt, doch das semantische Wechselspiel findet nur statt zwischen der Natur- und der Geistphilosophie. 28 Weil die Relation der empirischen Wissenschaften zu heiden Systemteilen ungeklart ist, lassen sich fiir unsere Frage hier wenige Erkenntnisse gewinnen. In der Phiinomenologie dagegen haben aile epistemologischen Projekte einen Beitrag zu leisten auf dem Weg des Bewusstseins zum absoluten Wissen. Daher sind die Erfahrungen, die wir innerhalb der naturwissenschaftlichen Analyse des Mentalen

26

27 28

Vgl. dazu Quante, Michael, ,Schichtung oder Setzung? Hegels reflexionslogische Bestimmung des Natur-Geist-Verhiiltnisses", in: Hegel-Studien 37 (2002), S. 107-121. Vgl. fiir eine allgemeine Diskussion des Verhiiltnisses von alltiiglicher, naturwissenschaftlicher und philosophischer Deutung des Mentalen auch Quante, Michael, ,Manifest versus Scientific Worldview: Uniting the perspectives", in: Epistemologia 23 (2000), S. 211-242. Vgl. dazu Quante, Hegel's Concept ofAction, a.a.O.

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tiber uns selbst machen, konstitutiver Bestandteil einer philosophisch angemessenen Konzeption unserer selbst als mentale Subjekte. Dieser Frage nachzugehen bedeutet, die Spuren zu ermitteln, welche die beobachtende Vemunft in einer begrifflich adaquaten Philosophie des Mentalen hinterlasst. Sie aufzuspiiren ware allerdings Thema eines anderen Beitrags.

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Diskussion ZuhOrer (Name nicht bekannt): 1st die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft seiner Zeit - Stichwort Schadellehre - nicht bei Hegel in der Phanomenologie bloB ein Mittel, urn mit ihr eine Stufe zur Entwicklung der Selbsterkenntnis des Subjekts darzustellen? Michael Quante (M.Q.): Ich habe an einer Stelle gesagt: Das Gesamtbeweisziel der Phanomenologie des Geistes blende ich aus. Ich habe aber nicht gesagt, was das Gesamtbeweisziel der Phanomenologie des Geistes ist. Ich kann mit Ihnen erst mal d'accord gehen und sagen: Es geht urn angemessene Selbsterkenntnis des SelbstbewuBtseins. Das ist, wiirde ich sagen, erst mal eine plausible Deutung. Und dann gibt es verschiedene Modelle, mit denen das sozusagen angelegt wird und die Schadellehre ist ein Versuch, eine Selbsterkenntnis in einem bestimmten Setting zu machen. Und die Pramisse ist, daB man das SelbstbewuBtsein als ein Objekt versucht zu erkennen, das ist das Erkenntnisziel, und Hegel halt das auch fi.ir einen notwendigen Zwischenschritt, denn in dem Scheitem dieses Projektes erfahrt das sich selbst erkennende Ich, daB es sich im Wesentlichen in den praktischen Vollziigen und nicht in den Naturvorgangen erfassen muB. Das kann aber nur erreicht werden iiber das Ergebnis eines Lemprozesses und eines Scheitems. Jetzt bin ich auf der Makrostruktur. Was ich dagegen versucht habe, ist zu sagen: Schadellehre ist relativ obsolet, Himforschung a la Singer und Roth ist relativ in, urn es mal ganz platt zu sagen. Konnte man jetzt nicht sagen, was der Hegel da macht, das Gesamtprogramm der Phiinomenologie, das ist obsolet und die Kritik an der Schadellehre ist vollig veraltet, weil diese Wissenschaft ja keiner mehr betreibt. Was ich glaube, ist: Hegel hat sehr tief gesehen, warum es attraktiv ist, einerseits so eine naturalistische Erforschung des Mentalen zu betreiben und warum sie andererseits an prinzipielle Grenzen stOBt. Und darin hat er Einwande formuliert. Ich habe die ganzen FuBnoten auf die analytische Philosophie des Geistes weggelassen, ich kann Ihnen also zu jeder dieser von Hegel kritisierten Figuren, die da auftauchen, Positionen aus der gegenwartigen Philosophie des Geistes zeigen, die genau das als ihr Forschungsprogramm betreiben. Das ist also iiberhaupt nicht weg, sondem wird zum Beispiel am Massachusetts Institute Of Technology (MIT) mit zwei Millionen Dollar jahrlich als Frontforschung der Philosophie des Geistes betrieben. Und ich finde den Hegel deswegen interessant, weil er auf einer fundamentalen Ebene Probleme aufwirft in dieser Erforschung des Mentalen, die gesehen werden miissen und die man hiiufig nicht mehr wahmimmt, weil etwas, wovor er auch wamt, immer vorausgesetzt wird: daB namlich Philosophie nur dann wissenschaftlich ist, wenn sie sich den Methoden und der Basisontologie und der Erklarungskonzeption der Naturwissenschaften anpaBt. Und weil Hegel das wagt - zu sagen: das hat seine

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Grenzen - kann man daraus eine Menge Iemen. Und zwar konnte man Hegels Kritik an Fodors Modularismus und an Searls brain-theory schreiben, weil den allen die V orstellung eigen ist: Mentales wird als ein Ding aufgefaBt; das ist, glaube ich, die Funktion dieses Kapitels. Aber mich hat eben nicht so sehr interessiert, warum das in dem Gesamtgang wichtig ist, sondern warum dieses Arrangement auch eine massive und aufschluBreiche Kritik an dem Projekt Philosophic des Geistes, das wir in der Gegenwart haben, erlaubt. Das war mein Erkenntnisinteresse, das ist komplementar zu Ihrer Vorstellung. Ludwig Siep (L.S.): Ja, Herr Quante, ich stimme fast allem zu, [M.Q.: Das ist gefahrlich.] was sie identifizieren als sozusagen Hegelsche Kritik - antizipierte Kritik - an modernen Theorien. Aber es fallt sehr viel schwerer, finde ich, in modernen Termini zu sagen, wie Hegels eigenes Modell dazu aussieht. Das habe ich mich jetzt wahrend Ihres Vortrags immer gefragt, fiir die Hauptprobleme. Das erste war: Gesetzliches, Allgemeines und Individuelles. Wo ist bei Hegel der Ansatzpunkt, das Individuelle so ernst zu nehmen, wie es eigentlich sein mtiBte, nach dieser Kritik. Man wird da eher an den spaten Adorno oder an Heidegger erinnert, daB die Begriffe insgesamt das je Individuelle nicht zu fassen vermogen. Nattirlich sagt Hegel, daB das Allgemeine sich so konkretisiert, daB es an das Individuelle heranreicht. Aber in welchem Kontext wird das Individuelle dann wirklich ergriffen? Selbst in der praktischen Philosophic - vielleicht im Gewissen, vielleicht im Monarchen - aber sonst spielt das Individuelle als Individuelles [M. Q.: eine untergeordnete] nicht die groBe Rolle. Dann nehmen Sie das Zweite. Was die Handlungstheorie angeht, ist es vollig tiberzeugend, daB Sie sagen, man kann weder Handlung als bloB auBerliches Ereignis, noch die Intention in der ersten Person Perspektive isolieren, sondern man muB den sozialen Deutungsraum betrachten. Und in dem sozialen Deutungsraum mtissen nattirlich die Ausdrticke des Handelnden tiber seine Intention auch ernst genommen werden, die konnen nicht wegbleiben. Aber wo passiert denn das in der praktischen Philosophic Hegels, daB das Individuum und das, was es tiber sich selbst als unverwechselbares aussagt, eingebaut wird in diesen Deutungsraum? Oder das Dritte, wo dann die Scheidung zwischen einer Gehirnbasis oder damals Schadelbasis und den mentalen Zustanden gemacht wird. Dies ist schon ein falsches Modell, aber wenn man dann fragen wtirde, wie macht es Hegel, mtiBte man die Geschichte des subjektiven Geistes schon mit der Natur anfangen. Da ist schon die Trennung einer mechanischen Natur und einer ZweckmaBigkeit nicht zutreffend. Oder zum Beispiel, was er im subjektiven Geist sagt tiber Korperliches und Geistiges, daB man auch den Korper [M.Q.: den Leib!], z.B. das Herz, wieder als Ausdruck von Temperamenten verstehen muB. Allerdings wird in der praktischen Philosophic die Leiblichkeit nur sehr indirekt tiber das Standesverhalten wieder eingefiihrt. Also, wenn man sagen Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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miiBte, was setzt Hegel als eigenes Modell dem szientifischen MiBverstiindnis entgegen, dann hat man es sehr viel schwerer, das zu formulieren. Man kann natiirlich die Konsequenz daraus ziehen, daB man ihn nur als Kritiker gebrauchen kann, daB es aber unendlich viel schwerer fallt und vielleicht auch in der heutigen Lage gar nicht mehr moglich ist, seinen eigenen Beitrag nach dieser Kritik zu formulieren. Oder ist das nur ein Ausschnitt Ihres V ortrages? M.Q.: Ich habe es mir nicht Ieicht gemacht, weil ich, wie Herr Dusing mir sagt, einen der stacheligsten Texte Hegels, der einem bei jeder hermeneutischen Umarmung wirklich weh tut, genommen habe. Aber ich habe es mir insofem Ieicht gemacht, als ich erst mal das kritische Potential gegen den antigeisteswissenschaftlichen Zeitgeist realisiert habe. Ein Horer in Jena' hat nachher gesagt, das sollte man den DFG Gutachtem fiir die Kognitionswissenschaften immer beilegen. Das ist schon klar. Das Zweite ist, was ich nicht gemacht habe, auBer anzudeuten, was ich sozial-extemalistisch genannt habe. Und die dritte Baustelle war, zu sagen: was heiBt es denn jetzt, Natur und Geist nicht zu schichten, sondem reflexionslogisch auszubuchstabieren? Das habe ich nur angedeutet. Zu dem Letzteren zuerst. Das habe ich ein biBchen angefangen auszubuchstabieren an anderer Stelle. Das ist auch in der Phiinomenologie des Geistes nicht wirklich Thema, weil die Phiinomenologie des Geistes ein anderes Programm hat. Dariiber haben wir gerade gesprochen; also da geht es urn ein anderes Problem. Das miiBte man weiter entfalten. Das heiBt zum Beispiel, daB wir nicht in Kausalmodellen denken, sondem daB wir es auf andere Weise versuchen, daB vielleicht die Ethnologie die adaquatere Wissenschaft ist oder die Anthropologie, als die Himforscher, wobei die an bestimmten Stellen ins Spiel kommen; deswegen hat Hegel sich daja auch immer daraufbezogen. Da bin ich erstens mit Ihnen einer Meinung: Das wird sehr komplex. Aber, wenn Sie sich die ganzen unbefriedigenden Modelle der Philosophie des Geistes angucken, die mit extremstem historischen oder ahistorischen Aufwand Modelle entwickeln, von denen man am Anfang und am Ende den Verdacht hat, das ist irgendwie inadaquat - und zwar nicht im Detail, sondem fundamental -, dann finde ich das Hegelsche Angebot attraktiv. Aber das ware ein eigenes Buch - mindestens ein eigenes Buch - wert. Gut, das ist die Schiene, da habe ich hier nichts, da miiBte ich einen anderen Vortrag halten. Dann haben Sie natiirlich zu Recht gesehen, ich hange an dieser sozial-extemalistischen Theorie des Mentalen. Fiir mich steht Mentales nicht fiir Eigenschaften, sondem fiir Schachziige in einem sozialen Spiel; ganz grob gesagt. Das ist in etwa so, wie man auch den spaten Wittgenstein interpretieren kann. Dieser 1

Die Tagung ,200 Jahre Phiinornenologie des Geistes" fand vom 23. his zum 28. Oktober 2006 in Jena statt, vgl.: Hegels Phiinornenologie des Geistes - Ein kooperativer Kornrnentar zu einern Schliisselwerk der Moderne, Klaus Vieweg I Wolfgang Welsch (Hg.), Frankfurt!M 2008.

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Vortrag hat auch ein Wittgenstein-Motto vorne stehen- ich lese es gem vor, weil ich das so schon finde. Wittgenstein schreibt: ,Die Frage konnte eigentlich so gestellt werden: Wie hangt, was uns wichtig ist, von dem ab, was physisch moglich ist?" Das Problem, das Wittgenstein hier anspricht, das ist, glaube ich, von der Sache her auch die Motivation, warum Hegel sich diese Schnittstelle immer wieder angeguckt hat. Das Sozial-Externale ist also jetzt die Frage. Wenn man akzeptiert, daB das Mentale eher im Rahmen sozialer Interaktion da ist, dann gibt es natiirlich gerade in der Moderne das Recht des Individuums, Privatheit etc. Was ich richtig finde an Hegel ist, zu sagen, daB der Mythos der Privatheit schon eine falsche, namlich nahezu szientistische Idee ist. DaB das Cartesianismus, ja Szientismus mit anderen Mitteln ist. Das finde ich eine geniale Diagnose. Da wollten Sie aber gar nicht hin, Sie wollten mir sagen: Was bedeutet das denn jetzt in terms of ethics und was bedeutet das fiir die Sozialphilosophie? Da wiirde ich auch sagen, wir haben da mittlerweile Gesellschaften, in denen die Privatheiten ausdifferenzierter sind, wir mehr Freiheiten haben, als Hegel das nimmt. Das ist aber eher eine Frage an eine praktische Philosophie als an die des Mentalen. Die grundlegende Deutung, daB man sich nicht in diese schlechte Opposition ,Privatheit versus Soziales' oder ,Beobachtbares versus Privates' einlassen darf, sondern ein Modell haben muB, wo das Elemente einer komplexen Struktur sind, das halte ich fiir richtig. Ich fand es immer unglaublich irritierend, daB Manfred Frank dem Hegel vorwirft, der verrat die Privatheit, und Habermas dagegen sagt: Das ist monologisch. Die machen beide den gleichen, komplementaren Fehler, die KomplexiHit von Hegels Alternative zu unterschatzen. Und da ich die heiden Varianten fiir obsolet halte, habe ich ein groBes Interesse, dem nachzugehen. Aber da kommen wir auf Ihr altes Steckenpferd: Anerkennungstheorie, SelbstbewuBtsein, soziales BewuBtsein, sozusagen theoretisch. Und: wie konnen Freiheitsrechte in einem letztlich kommunitaristischen, liberal-kommunitaristischen Modell integriert werden? DaB der Hegel mit seinen zweihundert Jahren, die er auf dem Buckel hat, da nicht auf dem neuesten Stand sein kann, ist klar. Ich glaube aber, er ist der einzige Philosoph, den ich bisher gesehen habe, der das begriffliche Potential hat, die Spannung auszuhalten, ohne in Einseitigkeiten abzugleiten. Das ware aber auch ein ganz anderer Vortrag gewesen, warum Hegel die Liberalismus I Kommunitarismus Debatte eigentlich unterlauft. Da ist er Therapeut. Er kritisiert die noch geteilten Pramissen dieser schlechten Alternativen und integriert, weil er alles in einem Wurf haben will, alle seine Antworten auf diese neuen Moglichkeiten in eine metaphysische Gesamtstruktur, wehalb ich dann auch denke: Da kommt zu viel rein und das beschadigt dann immer wieder die attraktiven Aspekte. Aber ich glaube, man muB diese Art Arbeit machen. Das wird ein sehr langer Weg.

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Johann Kreuzer (J.K.): Darf ich mich an der Stelle schnell einklinken. Michael, Du hast zu Recht gesagt, die Anerkennungstheorie, die wird ein wichtiger Punkt. Aber ich habe mir auch notiert, daB Du an einer Stelle gesagt hast, die physische Beschaffenheit habe nicht die Eigenschaft oder den Charakter eines Zeichens. Konnte man nicht sagen, daB das, was Du als Theorie, Herr Siep, was Sie moniert haben -, wenn man das als Theorie quasi positiv formulieren will, daB man dann beim Zeichencharakter ansetzen kann, bei der Frage, was die Natur des Zeichens ist, daB man dann automatisch bei der Sprache ist, und daB ich da dann Holderlin wunderbar reinpacken kann - ich wollte den hier ja immer einspielen? M.Q.: Oder den Benjamin. J.K.: Oder Benjamin. M.Q.: Da gibt es einiges, das ist schon klar. Nein, an der Stelle meint er mit dem ,hat nicht den Charakter eines Zeichens" so etwas wie: relativ zu den Pramissen der beobachtenden Vemunft funktioniert das nicht. Denn die beruht auf einem dichotomischen Denken. Klar kann man sagen: Auch der Kommunikations- und Zeichencharakter muB eine materiale Basis haben. Deswegen habe ich lieber den Benjamin genannt, weil der das starker macht. Hegel ist natiirlich nicht in dem Sinne ein abstrakter Idealist, daB er sagen wilrde, dies spiele keine Rolle .. Aber er will diese Dichotomie nicht haben. Da wir uns, glaube ich, in so vielen Bereichen daran gewohnt haben, in diesen Gegensatzen zu denken, fallt es erst einmal sehr schwer, eine philosophische Konzeption iiberhaupt nur nachzuvollziehen, die sagt: Wir milssen diese dichotomisierende Tendenz unserer Begriffspaare unterlaufen. Wir milssen immer die Anstrengung akzeptieren, nicht den Gehalt des Zeichens von dem materialen Trager zu trennen und dann zu fragen: ,Wie hiingen die denn eigentlich zusammen?', sondem von der Einheit des Phanomens ausgehen: ,Wie kommen wir auf die Aspekte?' Das ist der Unterschied urns Ganze, glaube ich. Also nicht: Wie kriege ich Dinge zusammen, sondem: Wie kriege ich Unterschiede in das Eine. Und das ist ja klar, das ist Holderlin. Zitat: ,Unterschiedenes ist gut." Aber nicht Entgegengesetztes, im Sinne von Dichotomisierung. Und da wilrde ich sagen, das ist genau der Punkt, den Hegel meint und den auch Holderlin, glaube ich, meint. Francisco Gomez (F.G.): Da war ein Obergang, den ich nicht verstanden habe. Der Ubergang von der Darstellung der Hegelschen Konstruktion: also das handelnde Individuum kann nur gesellschaftlich handeln und im Individuellen sein - zum gesellschaftlichen Raum, zu eben dem Ubergang jetzt hier mit den Zeichen: vom gesellschaftlichen Raum zum gesellschaftlichen Deutungsraum. Weil der Deutungsraum ja immer schon im Begriff unterscheidet zwischen Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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gesellschaftlicher Aktion und der Bedeutung dieser Aktion. Und mir scheint der Begriff des Hegelschen Deutungsraums immer einer zu sein, der selbst schon einer ist, der der beobachtenden Vemunft entspringt. M.Q.: Ich verstehe. Wenn man jetzt sagt: Wir haben den Deutungsraum und den gesellschaftlichen Raum, dann konnte es sein, als wiirde ich den gleichen Dualismus aufmachen zwischen den Fakten und den Interpretationen. Es ist aber kein Hegelscher Begriff, denn zum Wesen des Geistes gehOrt bei Hegel: die Deutung ist konstitutiv fur das, was ist. Und das miiBte ich, wenn ich jetzt tiber die Begriffe rede, beriicksichtigen. Ich habe einen Aufsatz mit einem Mitarbeiter zusammen verfaBt, da wird gesagt: Anerkennung als ontologische Struktur des Mentalen und des Sozialen. Und dann ist Anerkennung nicht nur eine Deutung, sondem in der Deutung ist gleichsam das Sein mit enthalten. Aber ich glaube, da werden wir einig. Das war, wenn ich das bose sage, ein biBchen lose talk. Handlungen gibt es nur im Deutungsraum, aber sie sind nicht nur Deutung, das wiirde ich gegen Hans Lenk und oder auch Gunter Abel immer sagen. Mit der Emphase, die Interpretationskonstrukte so zu betonen, ist schon ein Fehler gemacht. Den Fehler will Hegel nicht machen. Er geht immer vom Unentfalteten aus, das die Differenzierung schon in sich enthalt. Dieses Unentfaltete kann sich in der Differenzierung durch die Differenzierung wieder zusammenbringen - das ist sein Bild daftir. Und es ist nie dies, daB etwas zwei Seiten hat, die man nicht zusammenbringt. Das ist gerade das, was er vermeiden will, glaube ich; das ware fur ihn nicht interessant gewesen. H. Schneider (H.Sch.): Wiirde denn Hegels Kritik jede Art von heutiger Psychosomatik auch betreffen, denn heute hat man doch einen ganz anderen empirischen Hintergrund fur den Zusammenhang von Leib und Seele? M.Q.: Psychosomatik ist keine Philosophie. H. Sch.: Nein, aber. .. M.Q.: Nein, das ist wichtig! Das ist Hegels erster Punkt. Psychosomatik ist, wie die Himforschung, wie Kognitionswissenschaft, dann, wenn man sagt, woftir sie gemacht wird, mit welchem Zweck, fur diese Bereiche vollig in Ordnung. Also Hegel hat, wiirde ich letztlich sagen, eine instrumentalistische Deutung von solchen Konzeptionen. Wir betreiben Naturwissenschaft, urn bestimmte Erkenntnisinteressen urnzusetzen. Das ist gerade in der Phiinomenologie ein relativ starker Trend. Was er nicht will, ist, daB man das, was dort benutzt wird, im Rahmen eines philosophischen Projektes eins zu eins iibernimmt. Er mochte aber auch nicht die Eigenstandigkeit dieser epistemischen Bereiche kritisieren. Er will die Grenzen akzeptieren. Psychosomatik wiirde ihm wahrscheinlich in ganz vielen Bereichen viel angemessener vorkommen Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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als viele andere Modelle. Nur, wenn man sich anguckt, was psychosomatische Theorien sind und wenn man anfangt, mit der Brille des Philosophen sich das anzugucken, dann lost sich die Attraktivitat schnell auf, weil das namlich haufig kategoriales Tohuwabohu ist. Es kann ja etwas philosophisch-kategorial wirklich unaufgeraumt und als eine praktisch angewandte Disziplin ungeheuer erfolgreich sein; deswegen bin ich da sehr vorsichtig. Bei Psychosomatik frage ich immer: 1st da mentale Verursachung drin, ja oder nein? Und wenn da mentale Verursachung ist, dann haben wir die Kausalrelation. Und wenn gleichzeitig gesagt wird, daB das aber eine Identitat ist, dann kann das schon nicht mehr zusammenpassen. A kann nicht B verursachen, wenn A mit B identisch ist. Da gibt es maximal eins: das sich selbst verursachende Etwas, die causa sui. Die ist da nicht gemeint. Also haben wir ein fundamentales philosophisches Problem. Was nicht heiBt, daB man als Therapeut, wenn man von diesem Bild ausgeht, nicht Erfolge erzielen kann. Also, es wird eine komplizierte Geschichte werden. Wenn man eine gute philosophische Theorie hatte, die uns erlaubt, das, was die Psychosomatik an der Wirklichkeit trifft, zu rekonstruieren, ware man nahe an dem, was Hegel auch vor Augen hat. Wenn man bei der Psychosomatik sozusagen das Soziopsychosomatische mit rein nehmen konnte, also so etwas wie kulturelle Leiterfahrungen; das ist alles da angelegt. J.K.: Ich mochte noch eine Frage anhangen: Du hast an einer Stelle, so auf die Schnelle, wenn ich es richtig verstanden habe, Descartes ehrenretten wollen. Dem wird ja - wegen der res cogitans - immer was in die Schuhe geschoben. Kants wie Hegels kritische Emphase richtet sich gegen die Vorstellung von der Vemunft als einem denkenden Ding. Habe ich das richtig mitgekriegt, daB Du Descartes da an einer Stelle so ... M.Q.: Du ziehst eine zu starke Konsequenz aus meiner Bemerkung. Ich wollte nur darauf hinweisen, daB der Descartes, der in der Philosophie des Geistes grassiert, nicht Descartes ist, sondem ein Buchcover-Descartes, der mit Descartes nicht sehr viel zu tun hat. Das ist alles. Was die beste Descartesdeutung ist, da wiirde ich mich gar nicht aus dem Fenster Iehnen. Ob seine Rede von res - letztendlich eine Verdinglichungsthese - wirklich sein muB oder nicht, kann ich nicht entscheiden, denn ich kenne mich da zu wenig aus. Ich glaube, es gibt sowohl, was das Verhaltnis von Subjektivitat zu Leiblichkeit angeht bei Descartes bessere Stellen - in meinem Sinne - und schlechtere, wie auch fur mich attraktivere, prozessuale Deutungen von res, als auch starker reifizierende. Es ist nur in der analytischen Philosophie geradezu unertraglich, mit welcher Einfachheit dort iiber komplexe Positionen hinweg gegangen wird, weil man in Einfuhrungskursen die hundertfunfzigste Standardwiderlegung von X und Y hatte. Was dann dazu fuhrt, daB andere das gerade wieder verteidigen, mit dem groBten Scharfsinn, aber dann auch nur den Strohmann wieder rekonstruiert haben. Das finde ich wenig befriedigend, dagegen wollte ich Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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mich nur abgrenzen. Ich bin Ieider bei Descartes nicht kundig genug, urn Dir da jetzt wirklich Schiitzenhilfe zu leisten. J.K.: Ich wollte nur nachfragen. Ulrich Ruschig (U.R.): Ich habe zwei Nachfragen. Einmal, mir ist nicht ganz klar: Sie haben die beobachtende Vernunft quasi als theoretische Grundlage fiir das Erkennen der Naturwissenschaften genommen und haben dann das als Folie unterlegt: das sei die Kritik einer naturwissenschaftlichen Herangehensweise bei Hegels Kritik an der Schadellehre und dann bei der aus Hegel antizipierbaren Kritik an den heutigen Gehirnforschern. Meine Nachfrage an der Stelle: 1st das ein adaquater Begriff, den Hegel mit dieser beobachtenden Vernunft macht, wo Sie am Anfang diese theoretischen Dinge dazu gesagt haben, ist das wirklich ein adaquater Begriff der Naturwissenschaften? Wenn man namlich an der Stelle dies in Frage stellt, dann ist das SchOne und - was mir alles sympathisch ist und daB man die Schadellehre auch auf den Roth projizieren kann [M.Q.: Das gefallt Ihnen.] -, das ist dann nicht mehr so schon, wenn das ein falscher oder ein nicht zureichender Begriff der Naturwissenschaften ist. Das ist mein einer Riickfragepunkt. Mein anderer Punkt, der geht in die Richtung, was Herr Siep eben sagte. Sie haben an mehreren Stellen gesagt: Es bleibt da irgendwie eine Spur davon. Das ist ja erst einmal negativ, wie Sie gesagt haben- die Kritik Hegels an der Schadellehre. Aber meine Frage ist, wie durch diese Negation hindurch etwas bleiben kann oder was die Spur davon ist oder was denn da noch bleibt. Also jetzt mal bose oder polemisch formuliert: Ihre Position scheint mir zuweilen so zu sein, daB Sie sagen: Naja, fur ein gewisses Departement paBt es. M.Q.: Das sindjetzt zwei verschiedene Dinge. U.R.: Wenn wir sagen, die Leute sind in dieser Weise krank, das kann man auch kausal erklaren, fiir dieses Departement stimmt das, aber das hat mit aHem andern nichts zu tun. M.Q.: Mit den allen andern nichts zu tun, das ware ja ganz unhegelianisch; also das kann es nicht sein. U.R.: Eben, das ware ganz unhegelianisch, das ist mein Punkt, deswegen meine Riickfrage, was ist mit dieser Metapher von der Spur? M.Q.: Ja, die bezog sich auf einen ganz anderen Punkt. Aber danke, da war ich dann nicht klar genug. Also das Erste: Ich wollte nicht sagen, daB nur die Naturwissenschaften dem Modell der beobachtenden Vernunft geniigen. Ich habe nur gesagt, das ist die Grundgrammatik und dann beschaftige ich mich mit einer Disziplin. Und die beobachtende Vernunft bei der Erforschung des Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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Mentalen wird behandelt als Philosophie des Mentalen, nicht als Kognitionswissenschaft - von Hegel. Also als eine Philosophie des Geistes, deswegen glaube ich auch nicht, weil ich ja abgezielt habe auf unsere szientifstische Philosophie des Geistes, die moglicherweise ja gar nicht informiert sind, daB das SelbstversUindnis der Naturwissenschaften ein ganz anderes ist, als ihr eigenes von Naturwissenschaften. Wenn das so ist, kann ich damit Ieben. Dann habe ich hier eben was tiber szientistische Philosophen gesagt und nicht tiber die Naturwissenschaften; das ware mir sehr sympathisch. Ich kenne aber Ieider auch viele Leute, die empirisch in der Himforschung und in der Kognitionswissenschaft arbeiten, die dieses positivistische Syndrom schon haben. Es gilt nicht fiir alle Naturwissenschaftler, das ist vollig klar. Das ist auch fiir meinen Punkt nicht wichtig, weil eine bestimmte Art, Philosophie des Geistes zu betreiben, auf diesem positivistischen Modell aufruht. Darauf konnen wir uns, glaube ich, verstandigen. Hegel ware der Letzte gewesen, der den Naturwissenschaften als Naturwissenschaften Vorschriften gemacht hatte. Er wird our immer sagen: Das sind Projekte mit bestimmten Zielen und eins machen sie nicht, sie beantworten nicht philosophische Aufgaben. Und er ist, anders als zum Beispiel ein Kollege, den ich sehr schiitze, namlich Thomas Metzinger, nicht der Meinung, daB das letzte Wort der Philosophic des Geistes ist, zu sagen: Wir hOren jetzt auf, das ist ein empirisches Problem. Die Selbstverabschiedung der Philosophic: ,Das delegieren wir an andere', da sagt Hegel: Nein, es gibt eine eigene Art, Erkenntnis eigener Art haben zu wollen. Und das Erfolgsmodell Naturwissenschaften sollte uns nicht dazu verleiten, dieses Spiel nach deren Regel zu spielen. Da sind wir uns, glaube ich, einig. Der andere Punkt am Ende mit der Spur ist folgender. Ich mag eigentlich die Phiinomenologie viel weniger als die spateren W erke von Hegel, denn dieses Buch: zumindest ab Seite zweihundert wird es sehr untibersichtlich, fiir meinen Geschmack. Claus-Artur Scheier (C.A.S.): Sie werden ja noch alter. Da findet man das besser. M.Q.: Ich Ierne gem dazu. Aber der Punkt ist folgender: Es gibt ein Problem fiir mich, aber nicht our fiir mich: Wie hat Hegel sich das philosophische System und die - zum Beispiel - Naturwissenschaften zueinander vorgestellt? Ich glaube, daB man von der Anlage, wie die Enzyklopiidie ist, in der ja auch sehr viel empirisches Material, meistens in den Zusatzen, herangetragen wird, daB dort keine gute Antwort rekonstruierbar ist. Und die Chancen dafiir sind in der Phiinomenologie des Geistes vielleicht besser, weil in der Phiinomenologie des Geistes Hegels Idee, glaube ich, gewesen ist, aile moglichen Einstellungen von Subjekten zur Welt und zu sich selber als W eisen, also als epistemologische Projekte zu deuten und er glaubt auch, daB die alle etwas beitragen. Und wenn die Naturwissenschaften dazu gehoren, dann mtiBte sich das dort eigentlich klaren lassen. Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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U.R.: Nach diesem Zusammenhang hatte ich gefragt. M.Q.: Aber ich habe nicht gesagt worin der besteht. Ich habe jetzt gerade mal wieder zwanzig Seiten fUr mich so weit klarer, daB ich sie jetzt verstehe und es gibt noch so ein paar andere Abschnitte und dazwischen liegen hundert Seiten, wo ich iiberhaupt noch nicht weiB, was Sache ist. Ich glaube, daflir miiBte man Kraft und Verstand knacken. Und das ist auch nicht weniger stachelig als dies. Das ist also, was ich mit den Spuren meinte. Das ist aber eine offene Frage fUr mich. W enn ich die Phiinomenologie verteidigen wollte, daB sie wirklich etwas leistet, was die spateren Sachen nicht leisten, dann an dieser Stelle. Und das liegt an der Gesamtanlage dieses W erks. A her das ist nur eine Vermutung und ein ganz anderes Projekt.

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I. Fortschreiten im Begriffund in der Gesellschaft Eine verbreitete Auffassung, die Hegel wiederzugeben wahnt, behauptet, die ,Bewegung des Begriffs' sei nichts anderes als das Fortschreiten von einem Begriff zu dem als hOher angesiedelt resp. als konkreter verstandenen nachsten, wobei die Abfolge der so in eine Reihe gestellten Begriffe durch die als immanent deduzierbar vorgestellte Entwicklung bestimmt werde, eine Entwicklung der inneren Vermitteltheit des jeweils vorangehenden Begriffs. Aus dieser triigenden Auffassung iiber die logische Verkniipfung von Begriffen sind fatale Konsequenzen ftir das wirkliche Fortschreiten in der Gesellschaft (und/oder dessen Beurteilung) gezogen worden- was eine als hegelsch ausgegebene Politische Philosophie und Geschichtsphilosophie charakterisierte. II. Systematisch: Das Vorwartsgehen - ein Rtickgang in den Grund Als einseitig und viel zu schlicht erweist sich die gerade bezeichnete Auffassung, wenn sie mit Textstellen konfrontiert wird, in denen Hegel Bemerkungen zur wissenschaftlichen Vorgehensweise im allgemeinen macht. Dart fiihrt Hegel aus, ,daB das Vorwartsgehen [zu den in der Systematik jeweils folgenden, also logisch spateren Bestimmungen; U .R.] ein Ruckgang in den Grund, zu dem Ursprnnglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhangt, und in der That hervorgebracht wird" (Hegel, WdLSeyn, 21.57,14-16). So wird, was zuvor einseitig als lediglich lineare wissenschaftliche Fortbewegung aufgefaBt wurde, zu einem Kreis geschlossen und vermittels des Kreises zu der Einheit von vorwartsgehender Entwicklung eines Resultats und riickwartsgehendem ErschlieBen des Grundes fiir dasjenige, wovon ausgegangen wurde. Die heiden reflektierenden Bewegungen als vorwartsgehend resp. als riickwartsgehend zu bezeichnen entstammt der Vorstellung, die die Endpunkte beider auf eine Gerade projiziert. Verbindet man die Endpunkte so durch einen Kreis, daB sie am jeweiligen Ende eines Durchmessers liegen, dann stellt dieser Kreis, der in derselben Orientierung durchlaufen werden kann, die Einheit beider reflektierenden Bewegungen dar. Mit und innerhalb dieser Einheit hat sich ein Zweifaches ergeben:

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ILl. Rlickwartsgehendes ErschlieBen des Grundes Das Erste, wenn es eben als das Erste genommen wird, ist das Unmittelbare. Dieses wird in der entwickelnden Begriffsbewegung negiert und damit fortbestimmt hin zum Grund des Ersten, welcher Grund die Wahrheit (des Ersten) ist. So stelit sich heraus, daB das Erste eben nicht Unmittelbares ist, sondem in Wahrheit aus dem Grund hervorgeht. Die Entwicklung des Grundes bringt mit demselbigen ein Synthetisches- wenn man Kants Terminus bier verwendethervor. Wir wissen mehr liber das Erste, wenn dieses zugrunde gegangen ist und durch diese reflektierende Bewegung begrlindet wird. II.2. Vorwartsgehende Entwicklung des Grundes als Resultat Das Erste ist zugleich aber, wenn man den Grund als entwickeltes Resultat betrachtet, Grund fiir diese Entwicklung. Jeder Fortgang ist die Weiterentwicklung desjenigen, was zugrunde liegt und was die in jeglicher Folgeentwicklung gegenwiirtige und sich erhaltende Grundlage ist. Das Erste wird in ILl. negiert und in II.2. aufbewahrt, so daB mit ,aufheben' die Einheit von II.1. und 11.2. adaquat ausgedrlickt werden kann. Diese zunachst nur methodisch dargestelite Einheit von rlickwartsgehendem ErschlieBen des Grundes und vorwartsgehender Entwicklung des Grundes als Resultat soli ihrem Inhalt nach an zwei Modelien erlautert werden. 11.3.1. Kategorien des Seins und Rejlexionsbestimmungen Ausgehend von den zunachst unmittelbaren Kategorien des Seins entwickelt Hegel im Ersten Buch seiner Wissenschaft der Logik- der Objectiven Logik! die Reflexionsbestimmungen als deren Grund, als die ,Wahrheit des Seyns" (Hegel, WdL-Wesen, 11.241,3). So seien die Reflexionsbestimmungen vermitteltes Wissen, gewonnen durch die aus den Kategorien des Seins zurlickgehende Bewegung, eine Bewegung, die nicht nur eine den Kategorien auBerliche Reflexion sei, sondem deren Bewegung selbst (vgl. 11.241,18-20). Diese Bewegung hebt die unmittelbaren Kategorien des Seins auf und deduziert somit immanent das Wesen. Zugleich jedoch bleiben die Kategorien Grundlage fur die Entwicklung hin zum Wesen, da dieses ohne den Ausgangspunkt und ohne die diesen Ausgangspunkt aufbewahrende Entwicklung gar nicht darstelibar ist. Die wissenschaftliche Fortbewegung, die die Kategorien des Seins erklart, ist, wenn sie begriffen werden soli, ein ,Kreislauf in sich selbst" (Hegel, WdL-Seyn, 21.57,27f).

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11.3.2. Sonatenform der 1. Wiener Schule

Die Durchfiihrung im Sonatenhauptsatz ist Entwicklung, die von zwei zunachst unmittelbar genommenen und in der Exposition vorgestellten Themen ausgeht. Diese vorwartsgehende Entwicklung wird durchgefiihrt als Riickgang in den Grund- als Hinfiihrung in die Reprise, die eben nicht schlichte Wiederholung der Exposition ist, sondem das anders beleuchtete, nun von Grund auf (durch die vorwartsgehende Entwicklung) verstandene Anfangsthema (resp. die Anfangsthemen). Der zeitliche Verlauf des Horens in der Musik ist dann immer zugleich ein Vorwarts und ein Riickwarts: Der musikalische Fortgang stellt sich einerseits so dar, daB Neues- also neue variierte Formen- ins Verhaltnis zu Bekanntem, zu gerade Gehortem - also zum exponierten Thema gesetzt wird. Doch dieses Nach-vorwarts-Horen ist andererseits nicht moglich ohne Erinnem des Vergangenen, dessen man retrospektiv, gerade wahrend des VorwartshOrens, gewahr wird. Also hOrt man zugleich immer auch nach ruckwarts. Die Einheit beider ,Horbewegungen' gewinnt Gestalt in der Reprise, der erinnerten Wiederkehr des im Vergangenen exponierten Themas. Solcherart musikalische Erinnerung in der Reprise ist - zumindest in den triftigen Werken der 1. Wiener Schule - nicht schlichte Wiederholung des Anfangsthemas und damit tautologisch, sondem selbst Synthesis - Niederschlag oder Resultat einer synthetisierenden asthetischen Erfahrung. III. Umwandlung im Begriff der Wahrheit Die gerade erorterte Hegelsche Konzeption der ,Bewegung des Begriffs' evoziert eine Umwandlung im Begriff der Wahrheit. Hegel bricht mit der klassischen Lehre von der Wahrheit als der adaequatio rei et intellectus; fiir ihn ist Wahrheit ProzeB: ,Die Wahrheit ist die Bewegung ihrer an ihr selbst, jene Methode aber [Hegel meint die mathematische, in er die Bewegung erloschen ist; U.R.) ist das Erkennen, das dem Stoffe ausserlich ist" (Hegel, Phanomenologie, 9.35,32£). In diesem Hegelschen ,ausserlich" ist begriffen, daB, wenn Wahrheitswerte zu Propositionen zugeteilt werden, das Wahrheitswertzuteilungsverfahren (kurz: WWZV) in eine dritte zu Wahrheitswert und Proposition auBerliche Instanz fallt. Wahrheit, wenn hingegen begriffen als ,Bewegung ihrer an ihr selbst", wird als diese Bewegung ausgelost durch das denkende Subjekt: ,Es kommt [... ] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondem eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudriicken" (Hegel, Phiinomenologie, 9.18,3-5). Hegel erkennt, daB keine einzelne Aussage die ganze Wahrheit tiber einen Gegenstand enthalten kann, daB jedes einzelne Urteil, wenn konfrontiert mit der Sache, der es gilt, der Unwahrheit iiberfiihrt werden kann und daB deswegen zur Reflexion der Tatigkeit des Subjekts, und zwar in jener Einheit von riickwartsgehendem ErschlieBen und vorwartsgehendem Entwickeln, iibergegangen werden muB. Ergo: Wahrheit ist keine Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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Eigenschaft von Urteilen; Wahrheit ist nicht dingfest zu machen, und zwar weder als das Sich-Anmessen an eine als statisch vorgestellte Sache noch als das Festnageln einer als beweglich vorgestellten Sache; Wahrheit fallt vielmehr in die Reflexion, in die Einheit der reflektierenden Riickwarts-und-Vorwarts-Bewegung. Deswegen ist, so Hegel, ,die Meynung auf die Seite zu legen, als ob die Wahrheit etwas Handgreifliches seyn miisse" (Hegel, WdLSeyn, 21.34,20±). Wenn nun nicht auf die eine Seite res und davon getrennt intellectus auf die andere Seite gestellt werden kann und wenn unter einer solchen Bedingung die adaequatio, das Korrespondieren und Gleichstellen von Begriff und ihm gegeniibergestellter Sache nicht funktioniert, dann wird auch die auBerliche Unterscheidung von wahr und falsch aufgehoben. ,Das Wahre und Falsche gehOrt zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos fur eigne Wesen gel ten, deren eines driiben, das andre hiiben ohne Gemeinschaft mit dem andem isolirt und fest steht. Dagegen muB behauptet werden, daB die Wahrheit nicht eine ausgepragte Miinze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. Noch gibt es ein Falsches so wenig es ein Boses gibt [ ... ] Das Falsche [ ... ] ware das Andre, das Negative der Substanz, die als Inhalt des Wissens das Wahre ist. Aber die Substanz ist selbst wesentlich das Negative [ ... ] Man kann wohl falsch wissen. Es wird etwas falsch gewuBt, heiBt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz. Allein eben diese Ungleichheit ist das Unterscheiden iiberhaupt, das wesentliches Moment ist. Es wird aus dieser Unterscheidung wohl ihre Gleichheit, und diese gewordene Gleichheit ist die Wahrheit. Aber sie ist nicht so Wahrheit, als ob die Ungleichheit weggeworfen worden ware, wie die Schlacke vom reinen Metall, auch nicht einmal so, wie das Werkzeug von dem fertigen Gefasse wegbleibt, sondem die Ungleichheit ist als das Negative, als das Selbst im Wahren als solchem selbst noch unmittelbar vorhanden" (Hegel, Phiinomenologie, 9.30,25-31,5). Und einen Absatz weiter in der Phiinomenologie schreibt Hegel: ,Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes, als die Meynung, daB das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat oder auch der unmittelbar gewuBt wird, bestehe. Auf sole he Fragen: wann Casar geboren worden, wie viele Toisen ein Stadium und welches betrug u.s.f. soli eine nette Antwort gegeben werden, ebenso wie es bestimmt wahr ist, daB das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beyden iibrigen Seiten des rechtwinklichten Dreyecks ist. Aber die Natur einer solchen sogenannten Wahrheit ist verschieden von der Natur philosophischer Wahrheiten" (Hegel, Phiinomenologie, 9.31,17-24). Soweit zu den auch in gegenwartigen Logik-Kursen strapazierten ,netten' Beispielen und soweit Hegels Aufhebung der Konzeption von Wahrheit als einer adaequatio. Wenn Hegel die Korrespondenztheorie der Wahrheit verabschiedet, heiBt dies nicht, daB er darum fur eine Koharenztheorie pladierte, wie es z. B. die Oxforder Neohegelianer miBverstanden (Joachim, Bradley). Fur Hegel ist Wahrheit ProzeB, das Durchlaufen aller Momente in jener Einheit der reflektierenden Riickwarts-und-Vorwarts-Bewegung. Diese ist nur dann, wenn sie Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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idealistisch als ein in sich geschlossener Kreislauf genommen wird, in eine Koharenztheorie iiberfiihrbar. Wenn nicht- und urn das ,nicht' zu begriinden, bedarf es der im folgenden ausgefiihrten Kritik an dem ,Kreislauf in sich selbst" -, dann ist ein Begriffvon Wahrheit erreicht, der Wahrheit weder als in der Zeit verganglich (und damit prinzipiell relativierbar) noch nach ontologischer Manier als tiber der Zeit stehend, sondern als gebunden an jenen zweifachen ReflexionsprozeB und damit als mit einem Zeitkern ausgestattet begreift. Philosophische Wahrheit liegt prinzipiell jenseits von solch ,netten' Antworten auf so bedeutsame Fragen wie: 1st es wahr, daB der Schnee weiB ist? Und: Wann sind die Schwane nicht mehr weiB, sondern violett? IV. Hegels Kant-Kritik Mittels der Einheit der reflektierenden Riickwarts-und-Vorwarts-Bewegung kann ein zentrales Motiv der Hegelschen Kant-Kritik begriffen werden. Bei Kant, so erscheint es Hegel, sind Form und Inhalt, Erscheinung und Ding an sich, Natur und Geist, Notwendigkeit und Freiheit auf einander entgegengesetzte Pole gestellt, welche, so He gels Sicht auf Kant, einander unvermittelt in einem starren Dualismus und einander ausschlieBend sich gegeniiberstehen. Mittels jener riickwarts- und vorwartsgehenden Reflexion- und nur dadurchkann Hegel zeigen, daB das, was isoliert auf einem Pol zu stehen scheint, in sich vermittelt ist. Vermittlung bedeutet fiir Hegel nicht Abschleifen oder ErmaBigen des Gegensatzes und auch nicht Erfinden eines Mittleren zwischen den Polen, in welchem der Gegensatz getilgt ware, sondern das Erkennen einer reflektierenden Bewegung, welche die Vermittlung in den einander zunachst starr Gegeniibergestellten selbst aufdeckt. Freiheit ist nicht eine von der Notwendigkeit diskret abgesetzte Idee, sondern tiberhaupt nur formulierbar durch die reflektierende Bewegung, die der Notwendigkeit - genauer: der Kausalitat nach Gesetzen der Natur- auf den Grund geht. Wenn Freiheit und Notwendigkeit wechselsweise aufeinander verweisen, dann ist die Wahrheit des Dualismus der reflektierende ProzeB, der beide aufeinander bezieht. Nach Kant ist die uns gegebene Welt Erscheinung und als solche Konstitutum; die transzendentale Reflexion entdeckt, daB dieses Konstitutum nicht sein kann ohne ein Konstituens, ohne die Tatigkeit von Verstand und Vernunft. Diese transzendentale Reflexion erfaBt Hegel als von dem unmittelbar Gegebenen, namlich der Welt, ausgehender Riickgang in den Grund (in Klammern gesagt und praziser formuliert: erschlossen wird in Wahrheit die notwendige Bedingung der Welt der Erscheinungen, nicht deren zureichender Grund). Hegel fiigt hinzu, daB transzendentale Reflexion nicht vollstlindig ist, wenn das erschlieBende Riickwartsgehen zum Grund nicht zugleich auch als Entwickeln dieses Grundes als Resultat begriffen wird, als Entwickeln des Konstituens aus dem Konstitutum - das heiBt: Die konstituierende Tatigkeit von Verstand und Vernunft ist nur moglich, wenn sie als Tatigkeit von tatsachlichen Subjekten Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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in einer empirischen Welt entwickelt wird; diese Tatigkeit ist nicht Selbsterzeugung eines reinen Geistes. Damit iiberwindet Hegel die starre Entgegensetzung resp. die vereinseitigende Trennung von a priori und a posteriori. Er vermag sowohl einen kruden Empirismus als auch einen statischen Apriorismus zu kritisieren. Neben der gerade angefiihrten, allerdings lediglich skizzierten Interpretation der 3. Antinomie sei ein weiteres Beispiel dafiir prasentiert, daB ein durch die Hegelsche Kritik gestalteter Riickgang zu Kant dessen Verstandnis befordert, namlich die Paragraphen 5 und 6 der Kritik der praktischen Vernunft. lm § 5 - der transzendentalen Deduktion des freien Willens - ftihrt Kant das riickwartsgehende ErschlieBen des Grundes durch: Ausgehend von der gesetzgebenden Form der Maximen (d. i. von dieser ratio cognoscendi ausgehend) erschlieBt er die Beschaffenheit des Willens, der allein durch jene Form bestimmbar ist, schlieBt mithin zuriick auf die ratio essendi. Im § 6 - der vorwartsgehenden Entwicklung des Grundes als Resultat - begriindet Kant den im vorherigen § 5 vorausgesetzten Erkenntnisgrund: Ausgehend von dem freien Willen - vorausgesetzt ist jetzt die ratio essendi - entwickelt Kant das moralische Gesetz, das allein einen solchen freien Willen zu bestimmen tauglich ist (Kant, KpV, V.28f). Der freie Wille- ein Existierendes in empirischen Subjekten - und das moralische Gesetz - kein Empirisches, sondern ein Intelligibles, das einzige Faktum der reinen Vernunft (Kant, KpV, V.31,33)- sind innerhalb einer nach riickwarts und nach vorwarts reflektierenden Bewegung wechselsweise aufeinander zuriickverwiesen (V.29,24f)- die Vermittlung ereignet sich in den einander Gegeniibergestellten und laBt sie nur zusammen begreifen. In einer FuBnote nimmt Kant den moglichen Einwand, bei § 5 und § 6 handele es sich urn einen Zirkel, also urn einen Kreislauf in sich selbst von gegeneinander austauschbaren Begriffen, vorweg und weist auf das Synthetische dieser reflektierenden Bewegung hin, also darauf, daB ein solcher Kreislauf nicht in sich geschlossen ist. (V.4,28fi) Urn nun Hegels Kant-Kritik auf den Begriff zu bringen und damit ihre Wahrheit zu ergriinden, dazu taugt die am Anfang zitierte methodische Bemerkung Hegels. Mit dieser erweist sich seine Kant-Kritik als Einheit von zwei reflektierenden Bewegungen, namlich der Kant negierenden und so von Kant zu Hegel nach vorwarts gehenden Bewegung und zugleich der damit gesetzten nach riickwarts gehenden Bewegung, die in der Kritik an Kant auf dessen Grund fiihrt und so seine Wahrheit erkennt- kurz: die Einheit der reflektierenden Riickwarts-und-Vorwarts-Bewegung ist die Bewegung von Kant zu Hegel und dadurch zu Kant zuriick. Es ist gar nicht so, daB das, was bei Kant steht, durch die Hegelsche Kritik vernichtet ware. Kant ist die in der folgenden Entwicklung durch Hegel ,gegenwartige und sich erhaltende Grundlage", das den weiteren Bestimmungen ,durchaus immanent Bleibende". Dies erkennt man aber nur durch die Reflexion auf die Hegelsche Kritik - und insofern ist der in der Kritik enthaltene Riickgang eine Art Reprise.

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V. Hegel auf den Grund gehen Es liegt nahe, das Verfahren des riickwartsgehenden ErschlieBens des Grundes bei gleichzeitiger vorwartsgehender Entwicklung des Grundes als Resultat auf Hegel selbst anzuwenden (nachdem unter IV. Kant vermittels der Hegelschen Kant-Kritik auf den Grund gegangen wurde). Hegel, der mit der sich auf sich beziehenden Negation ein und dasselbe, namlich die Kategorie ,Negation', als Gegenstand und als Reflexion des Gegenstands zueinander in Beziehung setzt (wodurch, in Klammem sei's gesagt, etwas Synthetisches herauskommt), ware der letzte, der gegen eine solche Anwendung Einwande haben konnte. Durch diese Anwendung auf sich selbst wird etwas erkannt, was tiber den idealistischen Dialektiker hinausgeht, namlich das, was an diesem Dialektiker idealistisch ist. Zunachst, bevor diese Selbstanwendung expliziert und an Modellen erlautert wird, sollen zwei in die Augen fallende Befunde prasentiert werden, in denen die crux der idealistischen Dialektik offenkundig wird.

V.I. I. Erster Befund: Die alles in sich einbegreifende BewegungPrioritat des Geistes Zwar geht Hegels entwickelnde Logik nicht von einem ideellen Ursprung und auch nicht von reiner Identitat oder einem absoluten Subjekt aus, sondem von ,Seyn, reine[m] Seyn, - ohne aile weitere Bestimmung" (Hegel, WdL-Seyn, 21.68,19), aber die reflektierende Bewegung, die das erzeugende System von einander vermoge ihrer immanenten Widerspriiche sich entwickelnden Kategorien hervorbringt, figuriert als Leben des absoluten Geistes, worin alles einbegriffen und nichts als heterogen ausgeschlossen ist. In den bei Kant schroff einander Gegentibergestellten (Form versus Inhalt, empirische Welt der Erscheinungen versus Ding an sich, Kausalitat nach Gesetzen der Natur versus Kausalitat aus Freiheit) wird deren innere Vermittlung aufgedeckt, wodurch die Gegensatze zur Totalitat zusammengeschlossen werden. Trotz aller Einbeziehung der Wirklichkeit in diese reflektierende Bewegung (sei es in der Phiinomeno/ogie, in der Rechtsphi/osophie oder in der Philosophie der Geschichte) wird der Idealismus bei Hegel nicht verlassen. ,Die absolute Stringenz und Geschlossenheit des Denkverlaufs, die [Hegel; U.R.] mit Fichte gegen Kant anstrebt, statuiert als solche bereits die Prioritat des Geistes, auch wenn auf jeder Stufe das Subjekt ebenso als Objekt sich bestimmt wie umgekehrt das Objekt das Subjekt. Indem der betrachtende Geist sich vermiBt, alles was ist, als dem Geist seiher, dem Logos, den Denkbestimmungen kommensurabel zu erweisen, wirft der Geist sich zum ontologisch Letzten auf, auch wenn er die darin liegende Unwahrheit, die des abstrakten Apriori, noch mitdenkt und diese seine eigene Generalthesis wegzuschaffen sich anstrengt. In der Objektivitat der Hegelschen Dialektik, die allen bloBen Sujektivismus

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niederschHigt, steckt etwas von dem Willen des Subjekts, iiber den eigenen Schatten zu springen. Das Hegelsche Subjekt-Objekt ist Subjekt" (Adorno, Studien zu Hegel, 261 ). V.1.2. Zweiter Befund: Das Unstimmige wird stimmig gemacht Auffaliig bei Hegel - und auch dies ein Signum seines Idealismus -, daB die Bewegung, die alies umfaBt und einander Entgegengesetztes zur Totalitiit zusamrnenschlieBt, jegliches Unstimrnige und Nichtaufgehende letztlich doch stimmig und aufgehend macht, und zwar gerade dadurch, daB das Unstimmige in den Unterschied zum Stimmigen gesetzt und letzteres mithin als bisher Stimmiges durch das Unstimmige bestimrnt wird, wodurch das Unstimrnige zum Motor geworden ist, beides, bisher Stimmiges und dazu Unstimmiges, in den ProzeB universaler Vermittlung aufzulosen. Zuweilen geschieht dieses Das-Unstimrnige-Stimmig-Machen recht gewaltsam wie in der Rechtsphilosophie, wo Hegel zuerst die biirgerliche Geselischaft durch einander widersprechende Prinzipien charakterisiert und dann dieselbigen in der Totalitiit des Staates aufgehen liiBt. Hegels Idealismus ist nicht das letzte Wort der Weltgeschichte. Die Entscheidung dariiber, ob Dialektik idealistisch oder materialistisch sich auspriigt, liegt darin, wie jene nach riickwiirts und nach vorwiirts reflektierende Bewegung gefaBt wird. 1st dieselbige ein ,Kreislauf in sich selbst", erzeugt sie den falschen Schein einer selbstiindigen, in sich gegriindeten und gegen heteroge Antriebsmomente sich abdichtenden Entwicklung. Die transzendentale Refle-

xion - in Hegelschen Termini der Riickgang in den Grund - erschlieBt die notwendigen Bedingungen desjenigen, wovon diese Reflexion ausgeht. Doch Hegel verwandelt- ungerechtfertigterweise! - eine notwendige Bedingung in den zureichenden Grund. Nur wenn dies geliinge, ware der Kreislauf in sich geschlossen. An dem ,Kreislauf in sich selbst" und bestimrnter an der logischen Untersuchung, ob der Unterschied von notwendiger Bedingung und zureichendem Grund (hier) aufgehoben werden konne, hiingt das Schicksal der idealistischen Dialektik. Deren Scheitem soli an den folgenden drei Modelien erliiutert werden. V.2.1. Erstes Modell: Kategorienentwicklung- idealistisch Die Kategorien, die von Kant auf die transzendentale Einheit der Apperzeption zwar bezogen, aus ihr aber nicht abgeleitet sind, bediirfen eines nicht ihnen selbst zukomrnenden und nicht aus ihnen entspringenden Inhalts, urn Erkenntnis iiberhaupt zu ermoglichen. Zudem sind die Kategorien fiir Kant letztlich gegeben, niimlich aufgelesen aus den Formen der Urteile, die Kant vorfindet. Hegel geht iiber Kant hinaus, wenn er das Aufgelesen-Sein der Kategorien kritisiert und eine Entwicklung derselbigen auseinander konzipiert. Dieser Kritik soli und kann auch gar nicht widersprochen werden. Kritisiert Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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werden soH hingegen der Hegelsche Versuch, die Entwicklung der Kategorien als ein in sich geschlossenes System zu generieren. Ausgefuhrt werden kann (vgl. Ruschig, Hegels Logik, 16ff. und passim) diese Kritik idealistischer Dialektik daran, wie die Obergange in der Wissenschaft der Logik gemacht sind: Dort - in der ,,Lehre vom Seyn" - stellt Hegel eine von den Kategorien des ,Seyns" und insbesondere des ,MaaBes" ausgehende Bewegung dar, eine Bewegung, die nicht nur eine den Kategorien auBerliche Reflexion, sondern deren Bewegung selbst sei. Diese Bewegung, ausgehend von den zunachst als unmittelbar genommenen Kategorien des ,Seyns", hebe dieselbigen auf und fuhre in deren Grund zuriick. So konnen die Reflexionsbestimmungen als Grund der Kategorien oder als ,Wahrheit des Seyns" (Hegel, WdL-Wesen, 11.241,3) erschlossen werden. Umgekehrt werde, was an sich oder im Begriffe schon das Wesen sei, immanent zum Wesen hin entwickelt. Richtig daran ist, daB die Kategorien des MaBes ohne Reflexionsbestimmungen nicht bestimmbar sind. Doch die notwendige Bedingung fur die Bestimmung der Kategorien wird von Hegel ungerechtfertigterweise in den zureichenden Grund fur das Begreifen derselben verwandelt. Und nur wenn die Reflexionsbestimmungen zureichender Grund fur die Kategorien waren, IieBe aus dem dann Begriindeten (den Kategorien) der Grund (das Wesen) sich entwickeln, und der Kreislauf ware in sich geschlossen. Damit gingen die Kategorien in ihrer Entwicklung hin zu den Reflexionsbestimmungen auf und konnten in letztere aufgelost werden; das MaB ware hinreichend als die genetische Exposition des Wesens bestimmt, so wie insgesamt die ,objective Logik [ ... ] die genetische Exposition des Begriffes" (Hegel, WdL-Begriff, 12.11,25f) ausmachte. Dies hat Konsequenzen fur das Verhaltnis von systematischer Entwicklung und herangezogenem Material: Hegel erklart das von ihm im und fur den ,Fortgang" herbeizitierte Material zum lediglich illustrierenden Beispiel fur eine im Begriff gegriindete und auch unabhlingig von den Beispielen zu konstruierende Entwicklung. Dies ist falsch: Ohne die Beziehung auf das Material, d. i. fur sich genommen, scheitern die Obergange - die ,Entwicklung des MaaBes" (Hegel, WdL-Seyn, 21.326,22) kame nicht vom Fleck. Jedoch ,gehen' die Obergange gerade mit dem von Hegel zumeist in die Anmerkungen verbannten Material, das jedoch in Wahrheit konstitutiv fur die ,Entwicklung des MaaBes" ist. An den Obergangen selbst kann nachgewiesen werden, daB beide Momente des Erkennens, das riickwartsgehende ErschlieBen des Grundes fur die unmittelbar gegebenen und vorauszusetzenden Qualitaten und das vorwartsgehende Weiterbestimmen aus denselben, nicht in eins gesetzt werden konnen, weil sie jeweils heterogener Momente bediirfen. Riickgang in den Grund bedeutet in Wahrheit, das fur die Obergange wesentliche, heterogene Material zu erschlieBen, welches Hegel zur ,Entwicklung des MaaBes" zwar herbeizitiert, aber mit dem Ubergang ins Wesen zu tilgen versucht. Dieses Material gehOrt zur ,,genetischen Exposition" des Wesens. Da aber das vorwartsgehende Entwickeln, das (in der Wissenschaft der Logik) auf das Wesen und letztlich den Begriff und die absolute Idee fuhrt, damit ledigJohann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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lich auf eine notwendige Bedingung und nicht auf den zureichenden Grund zuriickgeht, ist die ,wissenschaftliche Fortbewegung" (Hegel, WdL-Seyn, 21.5 8,13) kein in sich geschlossener Kreislauf. Deswegen sind die Kategorien des Seins in den Reflexionsbestimmungen nicht dergestalt aufgehoben oder aufbewahrt, daB sie aus diesen abgeleitet werden konnten. Und insgesamt enthalt der absolute Geist deswegen nicht ,alles das", was in die Entwicklung, die ihm vorangegangen, fiel. Das fiir diese Entwicklung konstitutive Material ist nur vom Entwickelten her, mithin durch den Riickgang in den Grund fiir die Entwicklung zu erschlieBen - insoweit ist die ,umgekehrte Stellung" notig, und insofem ist das Material ,von dem Resultate als dem Principe" abhangig (Hegel, WdL-Seyn, 21.57,20-26). Aber das Material hat, da es im Resultat nicht enthalten ist, diesem gegeniiber zugleich ein Moment von Selbstandigkeit: Es kann aus der Idee bzw. aus dem absoluten Geist nicht hervorgebracht oder gesetzt werden. V2.2. Zweites Modell: Empirisches und transzendentales Ich

Was idealistische Dialektik ist und wie durch Kritik deren beider Charakteristika, des in sich geschlossenen Kreislaufs und der Glattung des Unstimmigen, Nichtaufgehenden in das und zum System, zu dem iibergegangen werden kann, was materialistische Dialektik ware, dies soU an einem weiteren Modell demonstriert werden: an dem Verhaltnis von empirischem und transzendentalem Ich. Fichte hat das Kantsche ,Ich denke, das alle meine Vorstellungen muB begleiten konnen' (Kant, Kr V, 140b, llf(B 131)) in den ,absolut-ersten,

schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens" (Fichte, Wissenschaftslehre, 1,91) transformiert und wollte damit konsequenter sein als Kant. Das ,Ich denke' ist bei Kant zwar schon als reine Identitat- unabhangig von Raum und Zeit und den Erscheinungen - konzipiert, ist aber gleichwohl (ebenso wie die auf die transzendentale Einheit der Apperzeption bezogenen Kategorien) lediglich Funktionsbestimmung, gegen deren Hypostasierung Kant anschreibt (im Paralogismen-Kapitel). Fiir Kant gibt es ein empirisches Ich, und das transzendentale, weil Funktionsbestimmung, ist fiir ihn nicht absolut, sondem verwiesen auf einen unseren Sinnen gegebenen Inhalt, ohne den Erkenntnis der Natur nicht moglich ist und ohne den auch die Erkenntnis des reinen transzendentalen Ich nicht moglich ist. Haufig spricht Kant davon, daB ,uns" etwas ,gegeben" sei (z. B.: Kant, KrV, 63,10(B33)). Auch das ,Ich denke" und die Kategorien sind fiir ihn Gegebenheiten. Die Frage ist allerdings: Wem? und: Wer ist ,uns"? DaB dem transzendentalen Ich das transzendentale Ich ,gegeben" sei, ist, wenn man auf die Bedeutungen von ,transzendental' und ,gegeben' achtet, Nonsens. Also haben wir bei Kant eine dem ,lch denke" immanente Beziehung sowohl auf die gegebenen Gegenstande moglicher Erfahrung, wenn denn die Funktionsbestimmung iiberhaupt angewandt werden, mithin Funktion sein und kraft dessen Erkenntnis ermoglichen soll, als auch auf den eigenen Ursprung des ,Ich denke", namlich auf das empiriJohann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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sche Ich, das eben auch Gegenstand in Raum und Zeit ist. Das Kantsche Konstituens ist demnach nicht absolut, sondem bedingt durch das Konstitutum und damit durch dasjenige, was durch es konstituiert wird. Wird hier nicht zum Kreis geschlossen, bleibt eine Inkonsistenz. Diese hat Kant nicht beseitigt, sondem vielmehr, sie gerade in Kauf nehmend, hartnackig daran festgehalten, das ,Ich denke" nicht zu verabsolutieren. Fichte, der vermeintliche Vollender Kants, fallt mit dem ,absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz" hinter Kant zuriick. Hegel ist gewitzigt genug zu wissen, daB das reine ,Ich denke" Resultat einer Abstraktion ist. Insofem es dieses Resultat ist, kann es, weil eben dem ProzeB des Abstrahierens geschuldet, nicht losgelOst werden von dem, wovon abstrahiert (wortlich: weggezogen) wurde. Folglich ist die Abstraktion selber bedingt. Zudem muB die Abstraktion, soll sie auf Gegenstande anwendbar bleiben, etwas von dem enthalten, worauf sie angewandt werden soll, sonst ware sie eine leere Abstraktion. Insoweit kann Hegel Fichtes ,absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz" vermeiden. Doch er liefert sich nur urn so mehr dem Idealismus aus, weil das Absolute nicht mehr jener schlechthin unbedingte Grundsatz ist, der bei Fichte nicht sich beweisen laBt, sondem die Einheit der vorwarts- und riickwartsgehenden Bewegung, die in sich geschlossen sei und alles Unstimmige in sich vereinnahmen konne. Mit dieser Einheit von mittels der Dialektik von Grund und Begriindetem zusammengeschlossenen Satzen tiberbietet Hegel Fichtes unbeweisbaren absolutersten Grundsatz. Die crux bei Hegel liegt darin, daB er, darin ungleich raffinierter als Fichte, Begriffe wie SelbstbewuBtsein, Vemunft, Geist verwendet und durch jene Nach-Rtickwarts-und-nach-Vorwarts-Bewegung das empirische, nicht in SelbstbewuBtsein, Vemunft, Geist auflosbare Moment, ohne das aber SelbstbewuBtsein, Vemunft, Geist nicht waren, in jene reflektierende Bewegung einbegreift. Mithin wird das Verhaltnis von empirischem und transzendentalem lch als zureichend durch jene reflektierende Bewegung bestimmbar begriffen.

V2.3. Drittes Modell: Das Wesen der Arbeit- vom Kopf auf die Fiij3e gestellt Was Hegel gegentiber Fichte als Fortschritt ins Feld fiihren kann: Geist sei eine erzeugende Bewegung, die alles umfasse, also nicht bloB das, was traditionell unter dem ephemer Geistigen verstanden wird, sondem auch das, was in die Abteilung Stoff, Objekte, gegenstandliche Wirklichkeit fallt, ist gerade dasjenige, was die Moglichkeit zur immanenten Kritik erOffnet. Bei Kant firmiert die erzeugende Bewegung unter dem Terminus ,Spontaneitat des Verstandes', wobei das Erzeugen als subjektive Leistung produktiv-spekulativer Vemunft dem Stoff gegentibergestellt wird. Bei Hegel ist die erzeugende Bewegung ins Objekt gewandert; Hegel entdeckt in der gegenstandlichen Wirklichkeit selbst ein Erzeugen, das nicht mehr nur das eines dem Stoff aus-

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schlieBlich gegenubergestellten Geistes ist. ,Das GroBe an der Hegelschen Phanomenologie und ihrem Endresultate - der Dialektik der NegativiUit als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist [ ... ], daB Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen ProzeB faBt, [ ... ] daB er also das Wesen der Arbeit faBt und den gegenstandlichen Menschen, den wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift." (Marx, Okonomischphilosophische Manuskripte, 574) Fur Hegel ist Gesellschaft nicht ein bloBes Faktum, nicht das auBerlich Gegenubergestellte zu Geist, sondern ist selber und das kann man ja von Hegel lernen- Geist. Die Frage ist nur: Was fiir einer? Die Antwort darauf gelingt durch Anwendung jener nach riickwarts und nach vorwarts gehenden Reflexion auf die Bewegung des erzeugenden Geistes. Der Ruckgang in den Grund dieser erzeugenden Bewegung ist Ruckgang in das, was deren Wahrheit ist, namlich die die Gesellschaft konstituierende Arbeit. Dies ist nicht eine auBerliche Zuordnung - hier der Hegelsche Geist, dort die Marxsche Arbeit, als ob ein geistiger Inhalt durch seine Zuordnung zu einer Grundlage oder einem Trager erklart werden konnte. Das dritte, in welches eine solche Zuordnung fiele und deren Wahrheit garantierte, ware seinerseits namlich von solcher Zuordnung ausgenommen (innerer Widerspruch einer wissens- oder wissenschaftssoziologischen Argumentation a la Mannheim). Vielmehr muB der Obergang durch eine reflektierende Bewegung und damit als immanente Entwicklung aufgezeigt werden: Die Wahrheit der erzeugenden Bewegung des Geistes ist die Arbeit, wodurch die Arbeit zur zentralen Kategorie fiir den Geist der Gesellschaft wird. Wie geht hier der Ruckgang in den Grund? In der Terminologie, mittels derer Geist dargestellt wird, tauchen Ausdriicke auf, die der Sphare der Arbeit entstammen: Die Tatigkeit des Verstandes, das urspriingliche Hervorbringen, die Arbeit des Begriffs. ,Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das geistlose, oder ist das sinnliche Bewuj3tseyn. Urn zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Be griff ist, zu erzeugen, hat er durch einen langen Weg sich hindurch zu arbeiten" (Hegel, Phanomenologie, 9.24,3-6). Dieses Sich-Hindurcharbeiten des unmittelbaren Geistes bestimmt Hegel in der Rechtsphilosophie als den gesellschaftlichen ProzeB der Arbeit der Bildung (vgl. dazu dort den § 187). ,Der Geist erscheint [ ... ] als der Werkmeister, und sein Thun, wodurch er sich selbst als Gegenstand hervorbringt, aber den Gedanken seiner noch nicht erfaBt hat, ist ein instinctartiges Arbeiten, wie die Bienen ihre Zellen bauen. Die erste Form [ ... ] ist die abstracte des Verstandes, und das Werk noch nicht an ihm selbst vom Geiste erfiillt. Die Krystalle der Pyramiden und Obelisken, einfache Verbindungen gerader Linien, mit ebnen Oberflachen und gleichen Verhaltnissen der Theile, an denen die Incommensurabilitat des Runden vertilgt ist, sind die Arbeiten dieses Werkmeisters der strengen Form." (Hegel, Phanomenologie, 9.373,12-20) Denken als Formung eines Materials zu begreifen, wobei Form und Materie im Denken und also Momente des Denkens sind, diese Einsicht ist gar nicht auf Hegel zu beschranken. Sie findet sich Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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auch bei Kant - und schon Aristoteles demonstriert seine universell geltende 4-Ursachen-Lehre am Modell der gegensHindlichen Arbeit. So kann, der Terminus der Bewegung des erzeugenden Geistes als Ausgangspunkt genommen, durch Riickgang in den Grund derselben die Arbeit, genauer: die gesellschaftliche Arbeit unter den Herrschaftsbedingungen einer Produktionsweise, als die Wahrheit dieser Geist-Bewegung erkannt werden. Die wissenschaftliche Argumentation muB den Grund als Resultat entwickeln, d. h. in den gerade zitierten Denkfiguren- von der Spontaneitat der Einbildungskraft bis hin zur 4-Ursachen-Lehre - aufzeigen, daB fiir sie Bestimmungen der Arbeit konstitutiv sind und nicht bloB austauschbare Beispiele zur Illustration der Denkfiguren. Das Umgekehrte, namlich von der Arbeit als Grund bzw. Grundlage auszugehen, urn durch eine Art Abstraktionsverfahren von der Arbeit zu dem Hegelschen Geist zu gelangen, dies Umgekehrte formuliert Marx so: ,Die inhaltsvolle, lebendige, sinnliche, konkrete Tatigkeit der Selbstvergegenstandlichung [so faBt Marx die Arbeit in den Okonomisch-philosophischen Manuskripten; U.R.] wird [:.. ] zu ihrer bloBen Abstraktion, der absoluten Negativitiit, eine Abstraktion, die wieder als solche fixiert und als selbsllindige Tatigkeit, als die Tatigkeit schlechthin gedacht wird." (Marx, Okonomischphilosophische Manuskripte, 585) ,Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus [ ... ] ist, daB der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaBt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tiitigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tiitige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natiirlich die wirkliche, sinnliche Tatigkeit als solche nicht kennt - entwickelt." (Marx, Feuerbach-Thesen, 5) Der Ubergang von der konkreten Arbeit zur abstrakten Arbeit und deren ,Fixierung' und Verzauberung zu einem die Subjekte unterordnenden objektiven Geist geschieht allerdings nicht von selbst; dieser Ubergang HiBt sich nicht als eine in Gedanken einfach konstruierbare Abstraktion begreifen. Denn dies unterschatzte die Triftigkeit, eben die Objektivitat dieses ,Geistes'. Also: Der Riickgang in den Grund dieses Geistes fiihrt auf den Wert - die gesellschaftliche Wirklichkeit der abstrakten Arbeit. Gleichwohl ergibt sich nicht von selbst das gesellschaftliche Wirklich-Machen der abstrakten Arbeit zu Wert aus dem Begriff der Arbeit oder gar aus der einzelnen konkreten sinnlichen Tatigkeit, sondem verweist auf dazu heterogene Momente. Insofem ist der Kreislauf nicht in sich geschlossen. Daraus folgt: W enn man erkannt hat, daB die gesellschaftliche Arbeit die Wahrheit des Hegelschen Geistes ist, so ist man damit noch nicht iiber den Objektiven Idealismus hinaus - als sei es materialistisch, schmiickte man den Hegelschen Geist kraftig aus und setzte an die Stelle blasser Abstraktionen Fleisch und Blut konkreter Arbeit. Der Idealismus ist nicht dadurch zu iiberwinden, daB die erzeugende Bewegung des Geistes in den Stoff hineinverlegt und als Bewegung der Materie ausgegeben wird, sondem dadurch, daB die rejlektierende Bewegung selbst immanent kritisiert wird, d. h. die heiden logischen Charakteristika der

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idealistischen Fassung - in sich geschlossener Kreislauf und Einziehen des Nicht-Stimmigen- als unwahr iiberftihrt werden. Wie geht das? 1st die Arbeit die zentrale Kategorie, urn Gesellschaft zu begreifen, so muB eine systematische wissenschaftliche Darstellung mit der Arbeit beginnen, und zwar konsequenterweise mit der denkbar abstraktesten Kategorie, namlich mit der abstrakten Arbeit, weil man zu Anfang moglichst wenig voraussetzen sollte - ganz analog zum Anfang mit dem ,reinen Seyn" in der Wissenschcifi der Logik. Der ProzeB der Realisation dieser abstrakten Arbeit ist die gesellschaftliche Implantierung resp. das Wirklich-Machen des Werts - und dies laBt sich, ganz Hegel-konform, darstellen in der gedoppelten Bewegung: Das Vorwartsgehen, die Entwicklung ausgehend von der abstrakten Arbeit, ist Riickgang in den Grund, mithin ErschlieBen des Grundes der abstrakten Arbeit, welcher Grund so zugleich auch als Resultat zu betrachten ist. Bestimmter: Unter der Voraussetzung der Gleichsetzung von abstrakter Arbeit und Wert kann der Be griff der unbezahlten Mehrarbeit, des Mehrwerts, entwickelt werden. Diese Begriffs-Entwicklung erweist den Mehrwert (und damit letztlich das Kapital) als den Grund, das ,Wahrhafte", ,von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhangt, und in der That hervorgebracht wird", also als den Grund fUr jene anHingliche und zunachst lediglich vorausgesetzte Gleichsetzung von abstrakter Arbeit und Wert. Indem der Mehrwert als Resultat der mit der abstrakten Arbeit beginnenden Entwicklung begriffen wird, ist der Anfang begriindet. Soweit kann Hegel folgend argumentiert werden: Das Kapital - die auf dem Globus universell gemachte kapitalistische Produktionsweise - ist ,der absolute Geist, der als die concrete und letzte hochste Wahrheit alles Seyns sich ergibt, [ ... ] als amEnde der Entwicklung sich mit Freyheit entaussemd und sich zur Gestalt eines unmittelbaren Seyns entlassend, - zur SchOpfung einer Welt sich entschlieBend, welche alles das enthalt, was in die Entwicklung, die jenem Resultate vorangegangen, tiel, und das durch diese umgekehrte Stellung, mit seinem Anfang in ein von dem Resultate als dem Principe abhangiges verwandelt wird" (Hegel, WdL-Seyn, 21.57,2025). Das entscheidende Argument der Kritik an der idealistischen Fassung jener gedoppelten Bewegung lautet: Es ist kein in sich geschlossener Kreislauf Wenn wir dasjenige, in welches die Bewegung als in ihrem Grund zuriickgeht, als Resultat betrachten, dann ist diese Entwicklung, hier die Entwicklung vom Wert zum Mehrwert, ohne ,heterogene Momente ', ohne ein fUr die Obergange wesentliches konkretes Material, nicht durchzufiihren und als entwickelter Grund auszugeben. Es ist ein Gewaltverhaltnis, das die menschliche Arbeit zur Lohnarbeit macht, das die Menschen zu erpreBbaren Arbeitskraften, die einen Wert haben, macht und das die Differenz von Wert der Arbeitskraft und Wert der Arbeit herstellt, ausdehnt und gegen die Subjekte der Produktion wendet. Abstrakte Arbeit wird namlich nicht ohne Weiteres, letztlich nicht ohne Gewalt, zum Wert als der Inkamation von abstrakter Arbeit; Wert wird nicht ohne Weiteres, nicht ohne die Beziehung auf zu abstrakter Arbeit und Johann Kreuzer - 978-3-8467-5082-7

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Wert heterogene Momente, zum Mehrwert. In der idealistischen Fassung hingegen erscheint die Verwirklichung der abstrakten Arbeit als durch den in sich geschlossenen Kreislauf gesetzt. Die ,abstrakte gesellschaftliche Arbeit verzaubert sich dem auf sie reflektierenden Subjekt. Arbeit wird ihm zu ihrer Reflexionsform, zur reinen Tat des Geistes [ ... ] Denn nichts soli auBer ihm sein" (Adorno, Studien zu Hegel, 267), alles ihm untergeordnet sein. Das, was mit Marx als idealistisches MiBversHindnis durchschaut und als Ideologie decouvriert werden kann - ,Arbeit sei die Quelle allen Reichturns', desgleichen die Rede von der ,sich selbst tragenden Investitionskultur' oder dem ,sich selbst tragenden Wachstum' - dieses idealistische MiBversmndnis ist zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kapitalismus geworden: Profit machen, urn noch mehr Profit zu machen und dafiir das Unstimmige, namlich die menschlichen Subjekte und ihre Bediirfnisse, stimmig zu machen und in den idealistischen Kreislauf einzubeziehen; ein in sich geschlossenes, globalisiertes System des Werts ( = der abstrakten Arbeit), welches immerfort Wert und Mehrwert zu produzieren sich anschickt - in einem ewigen Kreislauf des Mehrwerts, weil unaufhaltsam und immerdar Mehrwert auf Mehrwert zielen muB. Nichts duldet das globalisierte System, was als ,drauBen' verbleiben mochte; geachtet wird die Erinnerung an das, was ,drauBen' war und deswegen in Zukunft wieder sein konnte. Die Verabsolutierung der Bewegung des Werts bedeutet die Elimination dessen, was zu diesem Kreislauf unstimmig ist: das Klassenverhaltnis, jegliches bestimmte Material, was jenem Kreislauf nicht sich fiigt und sei es die kleine Hufeisennase (eine seltene kleine Fledermaus-Art). In der Kritik einer solchen Bewegung, die unwahr ist, hat Philosophie ihre Aufgabe.

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Literatur T. W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. In: T. W. Adorno: Gesammelte Schriften 5. Frankfurt 1975. (Studien zu Hegel) J. G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794). In: Fichtes Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. Band I. Berlin 1971. (Wissenschaftslehre) I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Band V. Berlin 1968. (KpV) I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 1976. (KrV) G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein (1832). In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke Band 21. Hrsg. v. F. Hogemann u. W. Jaeschke. Hamburg 1985. (WdL-Seyn) G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Zweites Buch. Die Lehre vom Wesen. In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke Band 11. Hrsg. v. F. Hogemann u. W. Jaeschke. Hamburg 1978. (WdL-Wesen) G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die Subjektive Logik oder Lehre vom Begrif!. In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke Band 12. Hrsg. v. F. Hogemann u. W. Jaeschke. Hamburg 1981. (WdL-Begriff) G. W. F. Hegel: Phiinomenologie des Geistes. In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke Band 9. Hrsg. v. W. Bonsiepen u. R. Heede. Hamburg 1980. (Phanomenologie) G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: G. W. F. Hegel: Siimtliche Werke. Jubiliiumsausgabe. Hrsg. v. H. Glockner. Siebenter Band. StuttgartBad Cannstatt 1964. (Rechtsphilosophie) K. Marx: Okonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: K. Marx, F. Engels: Werke. Ergiinzungsband. Erster Teil. Berlin 1981. (Okonomisch-philosophische Manuskripte) K. Marx: Thesen iiber Feuerbach. In: K. Marx, F. Engels: Werke. Band 3. Berlin 1969. (F euerbach-The sen) U. Ruschig: Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum , realen MaajJ". Hegel-Studien. Beiheft 37. Bonn 1997. (Hegels Logik)

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Diskussion M.Q.: Ich bin fasziniert und ein biBchen erstaunt zugleich. Fasziniert deswegen, weil Sie eigentlich zwei Vortrage in einem gehalten haben, genau das ist es auch, was mich ein biBchen verwirrt. Ich will versuchen, das ganz kurz zu sagen - sehr thetisch, weil wir uns ja auch streiten wollen. Ich sitze auch seit vielen Jahren an dem Verhiiltnis Hegel-Marx. Zu dem Punkt: Der Marxsche Arbeitsbegriff ist ohne den Hegelschen Handlungsbegriff nicht zu rekonstruieren. Deswegen ist es, wie Marx selbst wuBte, problematisch, dies zum Materialismus zu wenden. In dem Notizbuch, worin auch die Thesen zu Feuerbach stehen, gibt es eine Bemerkung von Marx: Grundkategorien der Vergegenstandlichung noch idealistisch, materialistisch umarbeiten, in Klammern: noch ausfiihren. 1 Hat er nie gemacht. U.R.: Hater nie gemacht, das habe ich vielleicht ein biBchen klarer gemacht. M.Q.: Ich wollte nur sagen, das ist die eine schlechte Nachricht, das andere Problem ist: Sie haben den spaten Marx genommen. Der friihe Marx, im Gattungsbegriff, hat den Naturbegriff an die Stelle des Geistbegriffs gesetzt; und das ist auch ein durchgefiihrter Naturalismus als Humanismus, der ist auch nicht offen, das ist nur ein anders beschriebener Kreis von Kreisen. U.R.: Eben! M.Q.: Sie miiBten also jetzt sagen, im Kapital ist irgendetwas anders und da kommen wir in schwieriges Fahrwasser. Das ist die eine schlechte Nachricht. Wobei ich voile Sympathie babe damit, die Gesellschaftskritik von Marx zu retten. Das andere Problem ist, da bin ich auch mit Ihnen einig: Die Geschlossenheitstheorie bei Hegel und diese Letztbegriindungsfigur fuhrt, wie Adorno richtig gesehen hat, zu Entmiindigungstendenzen - das akzeptiere ich mal. Das Attraktive an Hegel ist aber, daB er den subjektiven Idealismus iiberwindet, namlich indem er ganz radikal ansetzt und den Schema-Inhalt Dualismus iiberwindet als Grundlage von Skepsis. Das ist, glaube ich, das GroBe an ihm. Mit Adorno fiihren Sie aber eine Idee des Nichtidentischen wieder ein, die letztendlich darauf zuriick lauft, hier den Inhalt und dort das Schema als etwas anderes, das angeeignet werden muB, zu deuten. Das paBt ein biBchen zum spaten Marx, wo das kapitalistische System und die Natur zwei Dinge sind, das paBt aber nicht zu der Leistungsstarke, mit der Sie den Kant in Hegel aufheben, die namlich diesen Schema-Inhalt Dualismus als Aspektdualitat herabsetzen mochte. Adorno ist an der Stelle Dualist. Das 1

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Nichtidentische, das ist eine Kantische Figur, oder, wenn man es bose liest, eine Schellingsche Identitatstheorie [U.R.: Ablehnung]; ich wiirde ihn eher dualistisch deuten [U.R.: Zustimmung]. Damit verschenken Sie aber vieles, womit Sie anfangen, wenn ich das richtig sehe. Sie kriegen den Marx, glaube ich, nicht wirklich ins Boot, weil der an dieser Hegelschen Selbstexplikation des Gattungswesens Mensch durch und in die Natur hinein letztlich orientiert bleibt. Das ware mein Verdacht. U.R.: Gut, diese zwei Punkte: erst mal zu dem Marx. Ich bestreite nicht, daB es diese Zitate gibt und deshalb habe ich, sehr pointiert, das zugespitzt auf das Eine, daB ich sage: Idealistisch ist dieser Kreislauf, wenn das vorwarts gehende Entwickeln des Grundes als Resultat und das riickwarts gehende ErschlieBen des Grundes fiir den Anfang zum Kreislauf geschlossen ist. Dann ist die Kritik an der Stelle, erst mal ganz vorsichtig, das ist ja eine Minusaussage: W enn es nicht geschlossen ist, dann ist an der Stelle erst mal eine Offenheit bezogen auf das Material. Das ist der Grundgedanke, den ich versucht habe in verschiedenen Fa