Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik: Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ 9783787322060, 9783787321261

Ziel der vorliegenden Einführung ist es, den Text der "Kritik der reinen Vernunft" zu erschließen und dabei au

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Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik: Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹
 9783787322060, 9783787321261

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Norbert Fischer (Hg.)

Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1922-2126-1

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii Norbert Fischer Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Zu Kants Intentionen und zur geschichtlichen Bedeutung der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (1) | 2. Hinweise zu den Beiträgen (11) | 2.1 Zu den ›Vorreden‹ und der ›Einleitung‹ (11) | 2.2 Zur ›transzendentalen Ästhetik‹ (12) | 2.3 Zur ›transzendentalen Analytik‹ (13) | 2.4 Zur ›transzendentalen Dialektik‹ (16) | 2.5 Zur ›transzendentalen Methodenlehre‹ (18) | 3. Ausblick (20)

I. Die Vorreden und die Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft

Friedrich-Wilhelm von Herrmann Kants ›Vorreden‹ zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Wegweisung zu einer neuen Wesensbestimmung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Vorrede zur ersten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (23) | 1.1 Die schicksalhafte Wesensverfassung der reinen theoretischen Vernunft (A VII f.) (23) | 1.2 Die Aufgabe einer Selbsterkenntnis der reinen theoretischen Vernunft als deren Selbstkritik (A XI f.) (24) | 1.3 Das reine Denken der theoretischen Vernunft als das thematische Feld der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (A XIV) (26) | 1.4 Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Entwurf für die Metaphysik der Natur als das System der reinen spekulativen Vernunft (A XIX–A XXI (26) | 2. Die Vorrede zur zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (27) | 2.1 Die Revolution der Denkungsart – die kopernikanische Wende (28) | 2.2 Der sichere Gang der Metaphysik in ihrem ersten Teil durch die kritische Scheidung zwischen den Dingen als Erscheinung und den Dingen an sich – der zweite Teil der Metaphysik und die praktische Vernunft (30)

Maximilian Forschner Homo naturaliter metaphysicus. Zu Kants ›Einleitung‹ in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik (33) | 2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik (35) | 3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System (37) | 4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? (41) | 5. Die Metaphysik ›der Schule‹ und die Metaphysik des ›einfachen Menschen‹ (45)

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II. Zur ›transzendentalen Ästhetik‹

Clemens Schwaiger Kants Apologie der Sinne. Die Erfindung der ›transzendentalen Ästhetik‹ im Kontext ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1. Kants Anknüpfung an bzw. Abgrenzung von Baumgartens Ästhetik (51) | 2. Kants Apologie der Sinne und Baumgartens Verteidigung der Ästhetik im Vergleich (53) | 3. Kants Kritik an der schulphilosophischen Definition der Sinnlichkeit als Verworrenheit (55) | 4. Kants Neubestimmung der Sinnlichkeit als Rezeptivität bzw. als Vermögen der Anschauung (57) | 5. Die späte Erfolgsgeschichte des Terminus ›Sinnlichkeit‹ bei Kant (60) | 6. Kants These von der Irrtumsunfähigkeit der Sinne (62

Bernd Dörflinger Zum Begriff des Raums in Kants Vernunftkritik. Von der Form der Anschauung zur formalen Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung und These (65) | 2. Der Raum in der ›transzendentalen Ästhetik‹ (66) | 3. Das Erklärungsdefizit der ›transzendentalen Ästhetik‹: die bestimmte Raumgestalt (68) | 4. Raum als formale Anschauung – Produkt des durch Einbildungskraft synthetisierenden Verstandes (72)

Norbert Fischer Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik. Ihre Bedeutung als Anschauungsform des inneren Sinnes und als metaphysisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

1. Zur Erörterung der Zeit in der ›transzendentalen Ästhetik‹ der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (83) | 1.1 Einführung (83) | 1.2 Zu Kants metaphysischer und transzendentaler Erörterung des Begriffs der Zeit (86) | 1.3 Zu den Schlüssen aus diesen Begriffen (87) | 1.4 Zur Erläuterung (88) | 1.5 Abschließende Verteidigung (90) | 1.6 Nachträgliche Reflexion (91) | 2. Hinweise zu Kants Interpretation der innerzeitlichen Funktion der Zeit (92) | 3. Zum unbedingten Sinn von Kants Beantwortung der Frage nach dem Sein der Zeit (95)

Jürgen Stabel Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ im Lichte der modernen Physik. Einsteins Relativitätstheorie als empirisches Analogon zu Kants Raumund Zeitverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Philosophisches und physikalisches Raum- und Zeitverständnis (102) | 2. Physikalische Raum- und Zeitmessung I (103) | 3. Transzendentalphilosophische Deutung der speziellen Relativitätstheorie (108) | 4. Die dritte Analogie (113) | 5. Physikalische Raumund Zeitmessung II (116)

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III. Zur ›transzendentalen Analytik‹

Norbert Fischer Zur Aufgabe der transzendentalen Analytik der ›Kritik der reinen Vernunft‹. Mit einem Blick auf die ›metaphysische‹ und die ›transzendentale Deduktion‹ der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Die ›transzendentale Analytik‹ als Werk der Vernunft: als Produkt der prosyllogistischen Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis (126) | 2. Die Grundzüge der ›metaphysischen‹ Deduktion der Kategorien: die Einigung des gegebenen Mannigfaltigen als logische Funktion der Urteile (130) | 3. Hinführung zur Aufgabe der ›transzendentalen Deduktion‹ der reinen Verstandesbegriffe: die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit objektiver Urteile (134)

Klaus Düsing Apperzeption und Selbstaffektion in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Das Kernstück der ›transzendentalen Deduktion‹ der Kategorien . . . . . . . . . . . . 139 1. Kants Theorie der Apperzeption und der Objektkonstitution (140) | 2. Kants Theorie der Selbstaffektion (147) | 3. Schlußbetrachtung (152)

Friedrich-Wilhelm von Herrmann Kants ›transzendentaler Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹ . . . . . . . . 155 1. Zum systematischen Ort des transzendentalen Schematismus im Aufriß der transzendentalen Analytik (155) | 2. Kants Anzeige des Schematismus-Problems am Leitfaden der Subsumtion. Die transzendentalen Zeitbestimmungen als das Vermittelnde zwischen den Kategorien und den empirischen Erscheinungen (157) | 3. Schema und Bild. Die allgemeine Schema-Struktur (159) | 4. Das transzendentale Schema in der Abgrenzung gegen das reine und das empirische Schema (160) | 5. Die transzendentalen Schemata als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln. Realisierung und Restriktion der Kategorien durch die Schemata der Sinnlichkeit (164)

Maximilian Forschner Das Wesen der Erfahrungserkenntnis. Anmerkungen zu Kants ›Grundsätzen des Verstandes‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Einleitung (167) | 2. Die Axiome der Anschauung (170) | 3. Antizipationen der Wahrnehmung (171) | 4. Analogien der Erfahrung (174) | 4.1 Zur ersten Analogie (177) | 4.2 Zur zweiten Analogie (179) | 4.3 Zur dritten Analogie (181) | 5. Postulate des empirischen Denkens (182)

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Josef Simon Der transzendentale Grund der »Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Der Grund der Unterscheidung (185) | 2. Verdeutlichung der Begriffe (186) | 3. Die Bestimmung des Gegenstandes im Urteil (186) | 4. Freiheit und kausales Bestimmen (188) | 5. Der Begriff der Person (189) | 6. Modi des Fürwahrhaltens – Meinen, Glauben, Wissen (191) | 7. Der Wissensbegriff (193) | 8. ›Noumena‹ in negativer und positiver Bedeutung (194)

IV. Zur ›transzendentalen Dialektik‹

Robert Theis Kants Ideenmetaphysik. Zur ›Einleitung‹ und dem ›Ersten Buch‹ der ›transzendentalen Dialektik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Entwicklungsstadien des Projekts einer Reform der Metaphysik (200) | 1.1 ›Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte‹ (200) | 1.2 ›Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio‹ (201) | 1.3 ›Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral‹ (201) | 1.4 ›Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik‹ (202) | 1.5 ›De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis‹ (203) | 1.6 Aus dem Briefwechsel (205) | 1.7 Aus den ›Reflexionen‹ (205) | 1.8 Weitere ›Reflexionen‹ (a) (206) | 1.9 Weitere ›Reflexionen‹ (b) (208) | 2. Systematische Überlegungen (211)

Pedro Jesús Teruel Das ›Ich denke‹ als »der alleinige Text der rationalen Psychologie«. Zur Destruktion der Seelenmetaphysik und zur Grundlegung der Postulatenlehre in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Zur Destruktion der Metaphysik der Seele (215) | 1.1 Prolegomena der Destruktion: Einleitung und erstes Buch der transzendentalen Dialektik (216) | 1.2 Zum ›ersten Hauptstück‹ des ›zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik‹ in A (221) | 1.3 Bestätigung: zum neuen Text in B (230) | 2. Zur Grundlegung der Postulatenlehre (234) | 2.1 Zur Anerkennung des theoretischen Raumes für die Postulate in den ›Vorreden‹, der ›Einleitung‹ und dem ›ersten Buch der transzendentalen Dialektik‹ (235) | 2.2 Zur kritischen Öffnung im Paralogismen-Hauptstück (236) | 3. Schluß (240)

Claus Beisbart Kants ›mathematische Antinomie‹ (I): Anfang und räumliche Grenzen der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Was ist die Antinomie der reinen Vernunft? (243) | 2. Die erste Antinomie (249) | 3. Kants Auflösung der ersten Antinomie (254)

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Brigitte Falkenburg Kants ›mathematische Antinomie‹ (II): Teilbarkeit der Materie in Elementarsubstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. Der vorkritische Kant zum Atomismus (265) | 1.1 Kants Programm in der ›Allgemeinen Naturgeschichte‹ von 1755 (265) | 1.2 ›Physische Monadologie‹ (267) | 2. Die zweite Antinomie und ihre Auflösung (270) | 3. Die heutige Sicht auf die zweite Antinomie (278) | 4. Die zweite Antinomie im Zusammenhang von Kants kritischer Philosophie (281)

Maximilian Forschner Zur Antinomie der dynamischen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Über die natürliche Antithetik der rationalen Kosmologie (285) | 2. Die zwei dynamischen Thesenpaare (287) | 2.1 Der dritte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft (287) | 2.2 Der vierte Widerstreit der Antinomie der reinen Vernunft. Erläuterung der Antithesen und der jeweiligen Argumente (292) | 3. Die ›Welt‹ als Produkt des Geistes (295) | 3.1 Über die Dialektik unseres Denkens beim Widerstreit der Ideen (296) | 4. Über die transzendentale Idee einer Kausalität aus Freiheit (298) | 4.1 Transzendentale und praktische Freiheit (298) | 4.2 Naturkausalität und Freiheitskausalität als reine Betrachtungsweisen (301) | 4.3 Die Lösung des Determinismusproblems (304) | 5. Die Auflösung der vierten Antinomie (307) | 6. Zur Kritik des Kantischen Lehrstücks von den dynamischen Ideen (308)

Friedo Ricken Von der Unentbehrlichkeit der transzendentalen Theologie. Zum ›Ideal der reinen Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 1. Vom Ideal überhaupt (A 567–571/B 595–599) (314) | 2. Vom transzendentalen Ideal (A 571–583/B 599–611) (314) | 3. Von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft (A 583–591/B 611–618) (317) | 4. Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft (A 631–639/ B 659–667) (319) | 5. Von der Unentbehrlichkeit der transzendentalen Theologie (A 639–642/B 667–670) (321)

Norbert Fischer Kants Reflexion der Vernunfterkenntnis im ›Anhang zur transzendentalen Dialektik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 1. Kants Erklärung des regulativen Gebrauchs der Ideen der reinen Vernunft (326) | 1.1 Zum Unterschied zwischen transzendentem und immanentem Vernunftgebrauch (A 642–648/B 670–676) (328) | 1.2 Zur Bestimmung des immanenten Gebrauchs der Ideen der reinen Vernunft (A 648–661/B 676–689) (329) | 1.3 Zur ›Idee des Maximum‹ als Analogon eines Schemas in der Anschauung (A 662–668/B 690–696) (331) | 2. Kants

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Auslegung der ›Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft‹ (332) | 2.1 Zu den Gegenständen der Metaphysik und zur Endabsicht der Ideen (A 669– 682/B 697–710) (333) | 2.2 Zu den ›Objekten‹ der transzendentalen Ideen und den ›Fehlern der Vernunft‹ (A 682–692/B 710–722) (334) | 2.3 Zum Ergebnis der Untersuchung im Blick auf die Gegenstände der Metaphysik (A 694–704/B 722–732) (336) | 3. Kants Kritik der dogmatischen Metaphysik als Grundlegung einer kritischen Metaphysik (337)

V. Zur ›transzendentalen Methodenlehre‹

Norbert Hinske Die Rolle des Methodenproblems im Denken Kants. Zum Zusammenhang von dogmatischer, polemischer, skeptischer und kritischer Methode . . . . . . . . . . 343 1. Die grundsätzliche Bedeutung des Methodenproblems (343) | 2. Die dogmatische Methode (344) | 3. Die polemische Methode (346) | 4. Die skeptische Methode (349) | 5. Die kritische Methode in ihren verschiedenen Versionen (351)

Dieter Hattrup Das Schicksal des babylonischen Turms. Zur ›Disciplin‹ der reinen Vernunft

355

1. Die Disziplin im dogmatischen Gebrauch (358) | 2. Die Disziplin im polemischen Gebrauch (366) | 3. Die Disziplin im hypothetischen Gebrauch (369) | 4. Die Disziplin im beweisenden Gebrauch (371) | 5. Schlußbetrachtung (373)

Jakub Sirovátka Die moralische ›Endabsicht‹ der Vernunft. Zum ›Kanon der reinen Vernunft‹

375

1. ›Kanon‹ als Inbegriff der Regeln für eine ideale Proportionierung (375) | 2. Freiheit (379) | 3. Glückseligkeit in Moral und Religion (382) | 4. Das Ideal des höchsten Guts (385) | 5. Das Reich der Zwecke – eine moralische Welt (389)

Maximilian Forschner Die Stufen des Fürwahrhaltens: ›Vom Meinen, Wissen und Glauben‹. Mit einem Blick auf Kants Auslegung des Verhältnisses von Glaube und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Die Unterscheidung von Glauben, Meinen und Wissen (391) | 1.1 Das Aufklärungskonzept von Glaube (393) | 1.2 Glaube und Interesse (395) | 1.3 Vernunftglaube, Religion und Offenbarungsglaube (399) |2. Glaube und Kirche (400) | 2.1 Sichtbare und unsichtbare Kirche (401) | 2.2 Die vielen Kirchen und die eine Kirche (402) | 2.3 Der Weg zur wahren Kirche (404) | 2.4 Die christliche als Schema der wahren Kirche (205) | 2.5 Das Ideal der wahren sichtbaren Kirche als regulatives Prinzip (206)

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Siglenverzeichnis I. Siglen der Schriften Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 II. Weitere Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Vorwort

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ie vorliegende Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft ist aus den Vorträgen und Diskussionen von vier einwöchigen Seminaren zu diesem Hauptwerk der neueren europäischen Philosophiegeschichte in Kloster Weltenburg hervorgegangen (2005–2008), die der Herausgeber geplant und im ersten Jahr zusammen mit Norbert Hinske und Dieter Hattrup, in den folgenden Jahren gemeinsam mit Maximilian Forschner geleitet hat. Besonders ihnen, aber auch den weiteren Referenten und den aktiven Teilnehmern an den vier Seminaren sei herzlich gedankt. Das Ziel der Planungen war es, den Text der Kritik der reinen Vernunft zu erschließen und dabei auch unterschiedliche Interpretationsrichtungen und -haltungen zu Wort kommen zu lassen, die aber in der Auffassung übereinkommen sollten, daß dieses epochemachende Werk Kants Grundlegung einer kritischen Metaphysik sei – was vielen bis heute nicht angemessen zu Bewußtsein gekommen zu sein scheint und wegen des undogmatischen Charakters der Philosophie Kants auch eine Herausforderung bleibt. Obgleich die Kritik der reinen Vernunft nicht durchgängig als Grundlegung einer kritischen Metaphysik bedacht und anerkannt wird, entspricht diese Auslegung doch den ureigenen Intentionen Kants, die durch die verwickelte Interpretationsgeschichte aus dem Blickfeld gerückt waren und danach also wieder neu entdeckt werden mußten. Auch um dieses Zieles willen beschränken sich die meisten Beiträge nicht auf die jeweils zu kommentierenden Passagen, sondern weisen immer wieder auf Zusammenhänge im Gesamttext der Kritik der reinen Vernunft, auf Anknüpfungspunkte in früheren und späteren Werken Kants, in seinen Briefen, im handschriftlichen Nachlaß und überdies bei seinen Zeitgenossen und in der älteren und neueren Philosophiegeschichte. Im Vorfeld dieser Einführung in die Kritik der reinen Vernunft sind zwei Bände zu beachten, die dem Herausgeber den Weg zum vorliegenden Buch ebneten, das gleichsam eine Probe für deren Thesen bietet (1. Kants Metaphysik und Religionsphilosophie; Hamburg: Meiner 2004; 2. Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte; Freiburg: Herder 2005). Mehrere Autoren dieser beiden früheren Bände haben hier wiederum mitgewirkt. Begonnen haben die Weltenburger Seminare zur Kritik der reinen Vernunft 2005 mit Interpretationen derjenigen Texte dieses Werkes, die Kant aus dem Rückblick auf die Untersuchungen zu den besonderen Erkenntnisvermögen (die Gegenstand der ›transzendentalen Elementarlehre‹ sind) verfaßt hat, nämlich mit Texten aus der ›transzendentalen Methodenlehre‹ und den ›Vorreden‹. Sie wurden als Eingangstore in dieses schwierige Werk herangezogen, da erst sie die angemessene Perspek-

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| norbert fischer

tive zur Lektüre verschaffen. Und Leser dieser Einführung in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ könnten das Eingangstor – entgegen der Darbietung in diesem Band – zum Beispiel auch im Beitrag von Norbert Hinske suchen. 2006 waren dann die ›Einleitung‹ und die ›transzendentale Ästhetik‹ Thema eines Seminars; 2007 folgte die ›transzendentale Analytik‹, 2008 schloß die Reihe mit Interpretationen der ›transzendentalen Dialektik‹ und des ›Anhangs‹ zu ihr. Als leitendes Ziel Kants hatte Martin Heidegger 1929 genannt: »Begründung der ›Metaphysik im Endzweck‹, der Metaphysica specialis, zu der die drei Disziplinen Kosmologie, Psychologie und Theologie gehören«. Um diese Disziplinen »in ihrem innersten Wesen zu verstehen« und die Metaphysik als Naturanlage des Menschen in ihrer Möglichkeit und Grenze zu begreifen, werde das »innerste Wesen der menschlichen Vernunft […] in denjenigen Interessen« gesucht, »die sie als menschliche jederzeit bewegen«. Dazu wird folgende Kant-Stelle zitiert: »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in den Fragen: 1. Was kann ich wissen? / 2. Was soll ich tun? / 3. Was darf ich hoffen?«1 Diese drei Fragen hatte schon Kant auf die eine Frage bezogen (Log A 25=AA 9,25): »Was ist der Mensch?« Die Frage, was er wissen kann, stößt den Menschen auf die Begrenztheit möglichen Wissens; die Frage, was er tun soll, stößt ihn auf eine Verpflichtung, die sein natürliches Wollen als zufällig und endlich erweist; die Frage, worauf er hoffen darf, stößt ihn – zumal seine Hoffnung über die innerweltlich erreichbaren Ziele hinausreicht – auf seine Bedürftigkeit. Dabei tritt in allem die Endlichkeit des Menschen hervor, dem die ins Unendliche weisenden Fragen der Metaphysik, der Moral und der Religion insofern natürlich sind, als er sich in ihnen als Wesen der Fraglichkeit und einer unbestimmten Transzendenz erfaßt.2 Einige Bemerkungen seien zur formalen Gestaltung des vorliegenden Buches vorausgeschickt. Kant wird nach dem Text der Akademie-Ausgabe zitiert, weil ihr als vollständigster Ausgabe der Schriften Kants ein gewisser Vorrang zukommt, obwohl sie bei den Werken die Orthographie aus ihrer Entstehungszeit nach 1900 enthält, die keine Verbindlichkeit beanspruchen kann. Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft werden ohne Werkkürzel mit der Originalpaginierung von A (erste Auflage 1781) und/oder B (zweite Auflage von 1787) belegt, die in mehrere Ausgaben aufgenommen ist (z. B. in AA und WW). Zitate aus den beiden anderen Kritiken (Kritik der praktischen Vernunft = KpV; Kritik der Urteilskraft = KU) werden mit

1

Alle Heidegger-Zitate aus KPM 206 (vgl. auch 207); zitiert wird dort A 804 f./B 832 f. Zu Heideggers späterer Einschätzung der Bedeutung seines Kant-Buches vgl. Die Überwindung der Metaphysik, bes. 101. 2 Die Frage, warum sich »die drei Fragen […] auf die vierte ›beziehen‹« lassen (KPM 215), beantwortet Heidegger so, daß in den drei Fragen »ein Können, Sollen und Dürfen der menschlichen Vernunft in Frage« stehe (KPM 216).

vorwort

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XV

Sigle und Originalpaginierung nachgewiesen, andere Werke Kants mit Sigle, Originalpaginierung und zusätzlich mit dem Fundort in der Akademie-Ausgabe. Das Siglenverzeichnis zu den Schriften Kants im Anhang stimmt mit dem in Kants Metaphysik und Religionsphilosophie überein, das vor der Herausgabe dieses Werkes mit der Redaktion der Kant-Studien vereinbart worden war (vgl. KMR 695 f.). Wörtliche Zitate, die streng der Orthographie der Akademie-Ausgabe folgen, sind mit doppelten Anführungszeichen (»…«) versehen; kürzere Zitate mit einfachen Anführungszeichen (›…‹) werden in angepaßter Orthographie und teils in grammatischer Anpassung der Kasus präsentiert. Wegen der Unterschiedlichkeit der beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft werden die Fundorte im Fall, daß der zitierte Text in beiden Auflagen enthalten ist, für die beiden Auflagen genannt, so daß die Nennung des Fundorts in nur einer Auflage (in A oder in B) darauf hinweist, daß er in der jeweils anderen Auflage nicht (oder nicht so) zu finden ist. Die Werke ›klassischer‹ Autoren von Platon bis Descartes und Spinoza sind nach den üblichen Standards zitiert, aber im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt. Der Herausgeber dankt den Autoren für ihre Beiträge und für ihre Mitarbeit. Herzlicher Dank gilt Abt Thomas M. Freihart OSB und Pater Leopold Lörnitzo OSB † für die Gastfreundschaft und für das Interesse, das die entspannte und konzentrierte Arbeitsatmosphäre der Seminare gefördert hat. Besonders herzlicher Dank gilt den Mitarbeitern am Eichstätter Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie, die mit inzwischen bewährter Kompetenz und Einsatzbereitschaft an Überlegungen, an Sachdiskussionen, an der Korrektur und an der Druckvorbereitung mitgewirkt haben: dem Akademischen Rat Dr. Jakub Sirovátka (der auch als Autor beteiligt ist), der Diplom-Theologin Theresia Maier (ihr zudem für die Erstellung des Literaturverzeichnisses) und meiner Sekretärin Anita Wittmann (auch für ihre Arbeit am Personenregister). Gedankt sei zudem der Eichstätter Maximilian Bickhoff-Universitätsstiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre Unterstützung die Weltenburger Kant-Seminare ermöglicht haben. Ebenso danke ich dem Verlag Felix Meiner für die Übernahme der Publikation, besonders Herrn Horst D. Brandt, mit dem die Verlagsgespräche geführt wurden, und Herrn Jens-Sören Mann, der die herstellerische Betreuung in gewohnt angenehmer Zusammenarbeit durchgeführt hat. Eichstätt/ Wiesbaden im März 2010

Norbert Fischer

Einleitung des Herausgebers Kant steht »fest auf dem Boden der Alten, hat hier seine Wurzeln, und die Frage der historischen Interpretation kann, von hier aus gestellt, nur lauten: wieweit Kant, vielleicht ohne es zu wissen, auf die fernere und ältere Tradition zurückgreift?«1 »Es mag zuletzt die hoch komplizierte historische Bedingtheit Kants sein, welche ein reines Verständnis seiner philosophischen Leistung zu einer so schweren Sache macht.«2

1. Zu Kants Intentionen und zur geschichtlichen Bedeutung der ›Kritik der reinen Vernunft‹

Immanuel Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft die objektive Geltung der Beweise der ›dogmatischen Metaphysik‹ destruiert hat, galt einigen seiner Zeitgenossen als Alleszermalmer.3 Nicht wahrgenommen wurde bei dieser bedenklichen Bezeichnung, daß die ältere metaphysische Tradition nicht als Kronzeuge für den ›Dogmatismus‹ der neuzeitlichen Metaphysik taugt.4 Obwohl nicht wenige Leser den kritischen Neubeginn Kants freudig begrüßten und dankbar aufnahmen, trugen Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm 1

Gerhard Lehmann: Kritizismus und kritisches Motiv in der Entwicklung der Kantischen Philosophie, 118. Diese Einsicht wird in zahlreichen Beiträgen des vorliegenden Bandes deutlich sichtbar (vgl. dazu das Personenregister). 2 Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, IX; zu beachten ist ebenso die Äußerung des Neukantianers Natorp im Vorwort zur zweiten Auflage (XII): »Für mich steht schon seit langem die Arbeit an Plato in genauem Zusammenhang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemfragen mir zum reineren Verständnis Platos geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube aber ist, daß dies das Schicksal nicht bloß meiner, sondern der Philosophie ist.« 3 Vgl. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, 3. Vgl. Robert Theis: Zur Topik der Theologie im Projekt der Kantischen Vernunftkritik, 82. Zu beachten ist auch Kants Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele (B 413– 422), publiziert nach Mendelssohns Tod (1786). 4 Gemeint ist die metaphysische Tradition seit der großen griechischen Philosophie bis ins Mittelalter. Mendelssohn verkennt die kritische Kraft von Platons Philosophie und tut dessen Beweise im Phaidon als »so seichte und grillenhaft« ab, »daß sie kaum eine ernste Widerlegung verdienen«; vgl. Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele (unpaginierte Vorrede, 5); zur undogmatisch metaphysischen Auslegung des Phaidon vgl. auch Norbert Fischer: Philosophieren als Sein zum Tode. Zur Interpretation von Platons ›Phaidon‹.

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Friedrich Hegel in unmittelbarer Anknüpfung an Kant den Widerstand gegen Kants Metaphysikkritik und den Versuch der Errichtung einer neuen, absoluten Metaphysik vor, die unter dem Namen des Deutschen Idealismus in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.5 Dessen Anerkennung erlitt nach dem Tod seiner Protagonisten aber einen Aderlaß, der dazu führte, daß die großen Fragen der Metaphysik, die in der Sokratisch-Platonischen Tradition im Wissen des Nichtwissens behandelt worden waren6 und an denen auch Kant noch gearbeitet hatte, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr an Reputation verloren. Es muß hier unentschieden bleiben, wie das Verhältnis der nachkantischen absoluten Metaphysik des Deutschen Idealismus zur Philosophie Kants in einer gründlichen und differenzierten Betrachtung zu charakterisieren sei. Hegel selbst wollte nicht Philosophie im eigentlichen Sinne betreiben, sondern erhob einen andersartigen Anspruch. Er sagt (PhdG 14): »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.« Dieser Ansatz leitete ihn zu einer Aufgabe, die den alten Denkern (und ebenso Kant) fremd war, nämlich daran »mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme, – mit dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (ebd.). Kant hatte die Unabweisbarkeit und zugleich die Unbeantwortbarkeit von Fragen betont, die uns »durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben sind«, aber dennoch »alles Vermögen der menschlichen Vernunft« übersteigen (A VII). Und im Rückblick hatte er aus der Perspektive der praktischen Philosophie sogar erklärt (KpV A 266): »Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ.« Kant betreibt Philosophie in Sokratischem Geiste (B XXXI) – und ist (ähnlich wie Augustinus) angeregt von Grundfragen, die sich ihm auch aus dem biblischen Glauben aufgedrängt haben. Daß wir es nach Kant »in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu thun« haben, »die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen, und in Ansehung derer ein Kanon ihres Gebrauchs möglich sein muß, nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?«, läßt sich überdies der Sache nach als eine wenigstens indirekte Referenz auf Augustinus verstehen.7 Kant, der 5

Z. B. restituiert Hegel den Gottesbeweis, den Kant als ›ontologisch‹ bezeichnet hat, in einer hochreflektierten Kritik der Kritik Kants; vgl. VPR II, 205–213; vgl. auch PhdG 69: wenn das Absolute »nicht an und für sich bei uns wäre und sein wollte«, würde es »dieser List spotten; denn eine List wäre in diesem Falle das Erkennen«. 6 Z. B. Nikolaus von Kues: De docta ignorantia I,2,4: »tanto quis doctior erit, quanto se sciverit magis ignorantem.« 7 Vgl. Soliloquia 1,7: »deum et animam scire cupio. nihilne plus? nihil omnino.« Zur Frage

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»unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht« sieht, dem ›sicheren Weg der Wissenschaft‹ als »einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren« (B XV), sieht den Menschen durch die Situation der Vernunft als ›ruheloses Herz‹, wobei die Menschen zudem eines ›Herzenskündigers‹ bedürfen, mit Worten Augustins: eines ›inspector cordis‹.8 Der Anspruch, »das Land des reinen Verstandes […] sorgfältig in Augenschein genommen« und »durchmessen« zu haben, betrifft und trifft vor allem die zentralen Fragen der Metaphysik, die Kant immer wieder unter die Titel »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« zusammengefaßt hat. Aus der Hoffnung, mit der Destruktion des Dogmatismus der Metaphysik »die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens« verstopft zu haben, läßt sich ablesen, daß sein Ziel die Errichtung einer ›kritischen Metaphysik‹ war. Und so sagt er (B XXX): »Wenn es also mit einer nach Maßgabe der Kritik der reinen Vernunft abgefaßten systematischen Metaphysik eben nicht schwer sein kann, der Nachkommenschaft ein Vermächtniß zu hinterlassen, so ist dies kein für gering zu achtendes Geschenk«. Die Frucht dieses Geschenks der Kritik sah Kant in der Chance, »dem Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können, zuletzt auch dem Idealism und Scepticism, die mehr den Schulen gefährlich sind und schwerlich ins Publicum übergehen können, selbst die Wurzel« abzuschneiden (B XXXIV). Aus dieser Absicht heraus hatte er die negative und die positive Seite der kritischen Metaphysik in den knappen Satz gefaßt (B XXX): »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. Diese von Kant erstrebte Wirkung seiner Philosophie ist jedoch bisher nicht eingetreten, sondern – wenigstens dem äußeren Anschein nach – verfehlt worden. Es ließe sich materialreich dartun, wie Kants Absicht und Hoffnung durch die späteren Entwicklungen konterkariert oder gar der Lächerlichkeit ausgesetzt wurden. Die Denker des Deutschen Idealismus bauten noch explizit auf Kant auf und nahmen sein Denken als wichtige Station ernst. Friedrich Nietzsche, der Verkünder des ›Todes Gottes‹, hat sich nicht nüchtern und im einzelnen mit Kants Denken auseinandergesetzt, aber das von diesem geforderte Niveau akzeptiert und sich an es gehalten. Anders als Ludwig Feuerbach meinte er nicht, den Gottesglauben auf denkerischer Nähe zwischen Kant und Augustinus vgl. Norbert Fischer: Augustinische Motive in der Philosophie Kants; ders.: Augustinus und Kant. Vgl. auch die Hinweise bei Jakob Fellermeier: Die Illuminationstheorie bei Augustinus und Bonaventura und die aprioristische Begründung der Erkenntnis durch Kant, 303 f.; Joseph Ratzinger: Licht und Erleuchtung. Erwägungen zu Stellung und Entwicklung des Themas in der abendländischen Geistesgeschichte, 729. 8 Vgl. conf. 1,1 »cor inquietum«; Enarratio in Psalmum 85,3: »interior inspector est deus« (zum ›Herzenskündiger‹ z. B. RGV B 85 = AA 6,67); De mendacio 36: »homo non est cordis inspector« (z. B. A 551Fn/B 579Fn); zu Augustins Deutung des menschlichen Lebens vgl. Norbert Fischer: Einleitung. In: SwL, XIII-XCI.

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der Ebene des Wissens destruieren zu können, sondern hielt sich an die Frage der Glaubwürdigkeit dieses Glaubens.9 Jedoch hat er das Fundament des Glaubens, das Kant in der ›Achtung der Person‹ gesehen hatte, woraus das Bewußtsein des moralischen Gesetzes folgt, bestritten und zu entkräften versucht. Obwohl Nietzsche über Kant auch manch Despektierliches gesagt hat, hat er – teilweise gespickt mit maliziösem Unterton und vielleicht ein wenig unwillig – eingestanden: »Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt gieng, die zu drei Viertel aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht –, woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, dass mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten errieth, was nunmehr wieder möglich war …«.10 Auch die Neukantianer, die sich Ende des 19. Jahrhunderts auf Kant zurückbesannen, haben gesehen, was »nunmehr wieder möglich war«. Sie legten die Philosophie Kants zwar nicht als Metaphysik aus, nutzten aber ihr Argumentationsniveau gegen den materialistischen Positivismus und gegen den Atheismus – und bereiteten damit zugleich den Boden für eine metaphysische Kant-Interpretation,11 die seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf verschiedenen Diskussionsfeldern an Kraft gewonnen hat. Immerhin sind die philosophischen Werke und Schriften Kants heute weltweit verbreitet und öffentlich anerkannt – woraus sich allerdings nicht ableiten läßt, daß die philosophischen Anliegen Kants stets verstanden und sachgemäß aufgegriffen werden. Nur von seinen Grundmotiven her läßt sich der Text der Kritik der reinen Vernunft angemessen lesen und kommentieren. Zwar ist das Wort ›Metaphysik‹ derzeit nicht so übel konnotiert wie noch vor wenigen Jahren. Den tiefgehenden Ansehensverlust der ›Metaphysik‹ hat gewiß auch die verbreitete Unlust bewirkt, sich mit »solcher transscendentalen Nachforschung« zu befassen, gegen die schon Kant angeschrieben hatte. Diese Unlust beruft sich auf die Erfolge objektiver Forschungen und schreckt vor den Schwierigkeiten und der scheinbar prinzipiellen 9

Nietzsche benennt es als größtes neueres Ereignis, das »bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen« beginne, nämlich, »dass ›Gott todt ist‹, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist«. In: Die Fröhliche Wissenschaft 343 (KSA 3,573); vgl. dazu auch: Ecce Homo (KSA 6,278). Der Verkünder des Todes Gottes bedient sich einer kunstvollen Bildersprache, die ihn als Propheten einer neuen atheistischen Religion stilisiert. Der Zarathustra, den Nietzsche selbst als fünftes Evangelium bezeichnet hat, ist als atheistische Antibibel konzipiert. Vgl. dazu Norbert Fischer: Die philosophische Frage nach Gott. Ein Gang durch ihre Stationen, bes. 264–274. 10 Vgl. Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum 10 (KSA 6,176); vgl. auch 11 mit groben Denunziationen Kants als Moralisten (KSA 6,177 f.). 11 Als Beispiel sei ein Werk von Hermann Cohen genannt, das erstmals 1871 erschienen ist, nämlich: Kants Theorie der Erfahrung. Laut Cohen droht »die unausweichliche Beziehung ›auf etwas ganz Zufälliges‹ […] alle Gewissheit der Erkenntnis relativ zu machen, und allen Grund der Dinge zu entwurzeln«, so daß »auch der kritische Philosoph dem Gerüchte vom ›Ding an sich‹ das Ohr leihen« müsse (vgl. ebd. 640).

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Aporetik metaphysischer Untersuchungen zurück. Gegen sie gerichtet erklärt Kant (A 238/B 297): »Allein es giebt doch einen Vortheil, der auch dem schwierigsten und unlustigsten Lehrlinge solcher transscendentalen Nachforschung begreiflich und zugleich angelegen gemacht werden kann, nämlich dieser: daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner eigenen Erkenntniß nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, eines aber gar nicht leisten könne, nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag; denn dazu werden eben die tiefen Untersuchungen erfordert, die wir angestellt haben.«

Was Kant unter den Titeln »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« als ›Gegenstände der Metaphysik‹ bezeichnet hat, wird in Kantforschungen oft nicht mehr ernsthaft bedacht. Im Sinne Kants dürfte diese Mißachtung einen tiefen Schatten auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie werfen, der die wahre Situation der Menschen verdunkelt und deren Grundfragen ganz verdeckt. Sie mag sich überdies auf modische Motive stützen, denen argumentativ nicht leicht mit Erfolg beizukommen ist, da sich deren Verfechter ungern sachlicher Diskussion aussetzen – ebenso wie Machthaber aller Arten von Ideologien (seien diese nun nationalistisch, kommunistisch, proletarisch oder populistisch) es streng vermeiden, ihre ›Wertsetzungen‹ hinterfragen zu lassen. Kant war jedoch überzeugt, daß die Fragen, die er als die Aufgabe der Metaphysik verstand, die Menschen als Menschen angehen und angehen werden, solange sie ihre Vernunft gebrauchen. Nach seiner Auffassung »ist wirklich in allen Menschen, so bald Vernunft sich in ihnen bis zur Speculation erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben« (B 21). Die dritte, entscheidende Kernfrage der Kritik der reinen Vernunft, die Kant nennt, nachdem er die Fragen vorgetragen hat, wie reine Mathematik und reine Naturwissenschaft möglich seien (B 20), lautet (B 21): »Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?«12 Gerade im Blick auf die Beantwortung dieser Frage spricht Kant von einem »Schatz, den wir der Nachkommenschaft mit einer solchen durch Kritik geläuterten, dadurch aber in einen beharrlichen Zustand gebrachten Metaphysik zu hinterlassen gedenken« (B XXIV). 12

Ein Kommentar, der diese Frage nicht hervorhebt und bedenkt, vernachlässigt (bei aller Nützlichkeit, die er ansonsten haben mag) Kants Grundintention; vgl. dazu: Konrad Cramer: Die Einleitung (A1/B1-A16/B30); vgl. aber 65 f., wo Cramer die Frage wenigstens kurz streift, ohne ihre grundlegende Bedeutung zutage treten zu lassen. Als gründliche, denkerisch anspruchsvolle Gesamtdarstellung, in der die ›metaphysische Naturanlage‹ als »Existential« erfaßt wird, vgl. insgesamt Reinhard Brandt: »Die Bestimmung des Menschen nach Kant, 11. Kritik könnte nur bei der isolierten Hervorhebung des »Deus est in nobis« ansetzen (ebd. 20); vgl. dagegen z. B. OP=AA 22,310: »Gott über uns, Gott neben uns, Gott in uns, 1. Macht und Furcht 2. Gegenwart und Anbetung (inigste Bewunderung) 3 Befolgung seiner Pflicht als Schatten dem Licht«.

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Zwar bekennt er, daß »bei einer flüchtigen Übersicht dieses Werks […] der Nutzen davon doch nur negativ« zu sein scheine; er betont aber, der Nutzen werde »alsbald positiv, wenn man inne wird, daß die Grundsätze, mit denen sich speculative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der That nicht Erweiterung, sondern, wenn man sie näher betrachtet, Verengung unseres Vernunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen« (B XXIV f.). Da Kant in der Kritik der reinen Vernunft um eine durch Kritik geläuterte Metaphysik rang, muß dieses Werk gemäß den Intentionen des Autors als ›Grundlegung einer kritischen Metaphysik‹ gelesen werden. Ein wesentliches Hauptthema Kants ist die Frage, ›wie Metaphysik als Naturanlage möglich ist‹, obwohl sie als (dogmatische) Wissenschaft endgültig scheitert, also im Rahmen der theoretischen Philosophie nur als ›gesuchte Wissenschaft‹ entfaltet werden kann. Mit dieser These steht Kant zum Beispiel in der Tradition des ›Problemdenkers‹ Aristoteles, der ebensowenig eine ›dogmatische Metaphysik‹ vorgetragen hat. Denn Aristoteles nennt als Ziel der Untersuchungen auf diesem Gebiet eine gesuchte Wissenschaft (e4pisth2mh zhtoume2nh; vgl. Mp A 983a21). Diese gilt ihm zwar als göttlichste und als ehrwürdigste Wissenschaft (Mp A 983a5: jeiota2th kai1 timiwta2th); ihren Besitz hält er indessen nicht für die Sache von Menschen.13 In diesen Kontext gehört auch Kants These, daß man »unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie (es sei denn historisch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens philosophiren lernen« könne (A 837/865). Das »System der philosophischen Erkenntniß«, das Kant hier als »Philosophie« bezeichnet, gilt ihm vorerst als »Schulbegriff […] von einem System der Erkenntniß, die nur als Wissenschaft gesucht wird« (A 838/B 866).14 Kant hat die ›Metaphysik‹ jedoch nicht nur als die ›gesuchte Wissenschaft‹ gedacht,15 sondern ihr auch – trotz der Unerkennbarkeit ihrer ›Gegenstände‹ – allerVgl. Mp A 982b28f.: dio1 kai1 dikai2w@ a8n ou4k a4njrwpi2nh nomi2zoito au4th/@ h3 kth/si@; vgl. auch Platon: Apologie 20d, dort sucht Sokrates eine a4njrwpi2nh sofi2a; von den höchsten Dingen sei nur im Sinne eines ei4kw1@ mu/jo@ zu sprechen (Timaios 29c; auch zum Verhältnis von Glauben und Wahrheit; vgl. außerdem Politeia 514a–516c). 14 In der Absicht auf das »Ideal des Philosophen« als »Urbild« erklärt Kant: die »Philosophie« sei »die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntniß auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft. In solcher Bedeutung wäre es sehr ruhmredig, sich selbst einen Philosophen zu nennen und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein« (A 838/B 867). 15 Vgl. dazu auch die abschließenden Worte der Kritik der praktischen Vernunft (KpV A 292): »Mit einem Worte: Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt, wenn unter dieser nicht blos verstanden wird, was man thun, 13

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höchsten Rang zugesprochen. Als ›höchste Aufgabe‹ der Philosophie nennt Kant die Bearbeitung der »drei Fragen«, in denen sich alles »Interesse meiner Vernunft (das speculative sowohl, als das praktische)« vereinige.16 Nach Kant eröffnet nur die kritische Grenzziehung die Möglichkeit, die ›Gegenstände der Metaphysik‹ denkerisch zu vergegenwärtigen und im Blick auf einen Glauben zur Sprache zu bringen, der »die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes« zum Inhalt hat (A 798/B 826). Daß diese Aufgaben unlösbar sind, daß »diese drei Cardinalsätze« für uns »jederzeit transscendent« bleiben, schadet uns nicht, weil sie »uns zum Wissen gar nicht nöthig sind und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden« (A 799 f./B 827 f.). Die ›Empfehlung‹ dieses Glaubens geht zwar schon nach dem Endergebnis der Kritik der reinen Vernunft vor allem von den Maßgaben der praktischen Vernunft aus, entspricht aber auch den Maßgaben der theoretischen Vernunft, so daß Kant schließlich erklärt, es könne »selbst in diesem theoretischen Verhältnisse gesagt werden, daß ich festiglich einen Gott glaube«, und weiter sagt, daß »eben sowohl genugsamer Grund zu einem doctrinalen Glauben des künftigen Lebens der menschlichen Seele angetroffen werden« kann (A 826 f./B 854 f.). Die Kritik hat nicht nur ›Aufhebung des Wissens‹ zur Folge, sondern auch die Möglichkeit, das dem Denken Aufgegebene ›als Existenzialsatz‹ zu vergegenwärtigen (OP; AA 21,149). Diese Möglichkeit erhofft die Vernunft, sofern sie sich des moralischen Gesetzes bewußt ist. Nur weil sie diese Möglichkeit ersehnt, konnte Kant von dem ›Schatz‹ und dem ›Geschenk‹ sprechen, das er der Nachkommenschaft mit der kritischen Metaphysik zu hinterlassen gedachte. Da es ihm nicht darum geht, »die menschliche Erkenntniß über alle Gränzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitern«, gesteht er vielmehr »demüthig […], daß dieses mein Vermögen gänzlich übersteige« (A XIV). Indem Kant das Transzendente transzendent läßt und als transzendent anerkennen will, stellt er sogar die Überlegung an, ob man nicht »dem Deisten allen Glauben an Gott absprechen« könne, da es uns gemäß unserem (praktischen) Interesse vor allem um »einen lebendigen Gott« gehe (A 633/B 661). sondern was Lehrern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen und andere vor Irrwegen zu sicheren; eine Wissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Philosophie bleiben muß, an deren subtiler Untersuchung das Publicum keinen Antheil, wohl aber an den Lehren zu nehmen hat, die ihm nach einer solchen Bearbeitung allererst recht hell einleuchten können.« 16 Vgl. Log A 19-25=AA 9,21–25; A 804/B 832. Kant selbst ist von den Fragen der Metaphysik nicht losgelassen worden; vgl. z.B. auch OP (AA 21,149): »Daß die Philosophie (Weisheitslehre) im Deutschen Weltweisheit genannt wurde kommt daher, weil Weisheit, die Wissenschaft in ihr, den Endzweck (das höchste Gut) beabsichtigt. – Da nun Weisheit, in strikter Bedeutung, nur Gott beygelegt werden kann und ein solches Wesen zugleich mit aller Macht begabt seyn muß; weil ohne diese der Endzweck (das höchste Gut) eine Idee ohne Realitat seyn würde; so wird der Satz: es ist ein Gott ein Existenzialsatz.«

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Und aus diesem Blickwinkel erfolgt die Übereinstimmung mit einer Einsicht Augustins, daß ein Gott, der als begreifbar vorgestellt würde, gar nicht als wirklicher Gott gedacht werden könnte.17 Kant steht auch damit in einer langen Tradition, die im Blick auf das, was er als ›Gegenstände der Metaphysik‹ bezeichnet hat, sehr viel zögerlicher war als die neuzeitliche, vor allem von Cartesischen Maßgaben bestimmte Metaphysik.18 Die Suche nach dem ›lebendigen Gott‹ tritt bei Augustinus unmittelbar in der Anrede dieses Gottes hervor (besonders klar in den Confessiones) und ist implizit auch eine Kants Denken bewegende Herausforderung, sofern er »die Behauptung eines Urwesens oder obersten Ursache« nicht für eine sachgemäße Antwort auf die Gottesfrage hält (A 633/B 661). Diese Suche ist für Martin Heidegger ein wichtiges Thema des Fragens geworden und geblieben. Bekanntlich waren theologische Fragen für Heidegger am Beginn seines Denkwegs in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Anstoß.19 Wie er im Rückblick eingestand (1953/54), wäre er ohne seine »theologische Herkunft […] nie auf den Weg des Denkens gelangt«; und er fügt dort zur Anzeige dieser weiterhin wirksamen Beziehung hinzu: »Herkunft aber bleibt stets Zukunft.«20 Heideggers Deutung des ›onto-theo-logischen Charakters der Metaphysik‹ knüpft an die Kritik der Onto-Kosmo-Theologie an, die Kant zur Bevorzugung der ›natürlichen Theologie‹ führte, nämlich der »Physikotheologie« und »Moraltheologie« (A 632/ B 660). Anders als Kant, dem das Bewußtsein des moralischen Gesetzes Wege wies, wie innerhalb der Philosophie von ›Gott‹ zu sprechen sei, erklärt Heidegger: »Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen.«21 In Analogie zu Kants Hinweis auf die Ferne 17

Vgl. Sermo 117,5: »de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus. sit pia confessio ignorantiae magis, quam temeraria professio scientiae.« Dies gilt auch, sofern durch die Tätigkeit unseres Erkenntnisvermögens das Begriffene in ›bloße Natur verwandelt‹ würde (vgl. A 533/B561). Insofern fügt sich Kants Ansatz nahtlos in die Tradition der ›negativen Theologie‹ ein. 18 Thomas von Aquin nennt als klare Tatsache: »de deo scire non possumus quid sit« (z. B. S.th. I 3 Introductio). 19 Vgl. die Beiträge zu Heideggers Begegnungen mit dem Apostel Paulus (Friedrich-Wilhelm von Herrmann), mit dem Evangelisten Johannes (Martina Roesner), mit Augustinus (Norbert Fischer), mit Johannes Duns Scotus (Johannes Schaber OSB), mit Meister Eckhart (Jean Greisch), mit Luther (Karl Kardinal Lehmann und Otto Pöggeler), mit Pascal (Albert Raffelt), mit Hölderlin (Paola-Ludovica Coriando und Otto Pöggeler), mit Schelling und Kierkegaard (Joachim Ringleben) und mit Rilke (Ulrich Fülleborn). In: Norbert Fischer; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema. 20 Vgl. Aus einem Gespräch von der Sprache, 96. 21 Vgl. Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, 77.

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der Onto-Kosmo-Theologie zum ›lebendigen Gott‹, die diesen zunächst antrieb, »dem Deisten allen Glauben an Gott« abzusprechen, behauptet Heidegger die Ferne der »Onto-Theo-Logik« zum »göttlichen Gott« und vertritt die These, daß »das gottlose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher« sei.22 Es sind nicht nur modische Motive, die der ›Metaphysik‹ viel an Reputation geraubt haben. Vielleicht hat Heidegger aber, um seine Einwände gegen ›die‹ Metaphysik durchhalten zu können, Kant doch eine Art von Metaphysik unterstellt, die dieser gerade bekämpft hatte. Immerhin ist denkbar, daß sich der Schwund an Aufmerksamkeit für die von Kant angestrebte kritische Metaphysik unausgesprochen auch auf denkerische Motive Heideggers stützen kann. Dieser Schwund hat indessen die Vernachlässigung von Kants Kernfragen zur Folge und trägt dazu bei, daß von seinen Werken zwar teils in stupender Gelehrsamkeit gesprochen wird, aber der metaphysische Kern seiner kritischen Philosophie dennoch weitgehend ausgeblendet bleibt. Indem Kant den Dogmatismus der Metaphysik bekämpfte, den er als »die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens« sah, bekämpfte er zugleich den Unglauben – wobei er schneidend hinzufügte, daß auch der Unglaube »jederzeit gar sehr dogmatisch ist« (B XXX). Was Heidegger trieb, die »Überwindung der Metaphysik« als notwendige Aufgabe zu sehen, ist eine ›hoch komplizierte‹ (vgl. das Motto von Natorp) und noch gründlich zu prüfende Frage.23 Kurz nach der Publikation von Sein und Zeit hatte er Kant noch als ›Metaphysiker‹ gedeutet, ohne schon eine prinzipiell kritische Haltung gegenüber jeder Art Metaphysik einzunehmen.24 Zum Projekt der Destruktion metaphysischer Texte, das jedoch besser als Ereignis innerhalb seines Denkens verstanden werden sollte, also nicht unabhängig vom Kontext seiner eigenen Fragen aufzufassen ist, führte ihn erst die ›Kehre‹. Er wußte sehr wohl um die Zwielichtigkeit der Destruktion. Denn er bezeichnet die ›verschwiegene Grundfrage‹ der ›großen Philosophen‹, die er »ragende Berge« nennt, die »unbestiegen und unbesteigbar« sind, als Geheimnis.25 Mit kritischer Achtsamkeit ist demnach folgende These 22

Ebd. 77. Heidegger läßt jedoch nicht die vorsichtige Zurückhaltung des Urteils walten, mit der Kant den Deisten schont, nachdem er ihn zunächst scharf attackiert hatte (vgl. A 633/ B 661). 23 Vgl. dazu Martin Heidegger: Metaphysik und Nihilismus (GA 67); darin 1–174: Die Überwindung der Metaphysik. 24 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Er beginnt damit, Kant wieder als Metaphysiker zu sehen; getan hatte das bes. deutlich, mit einem Fanal schon im Titel, Max Wundt: Kant als Metaphysiker; einen Überblick bietet Gerhard Funke: Die Wendung zur Metaphysik im Neukantianismus des 20. Jahrhunderts. 25 Beiträge zur Philosophie (GA 65),187 f.; zum Sinn von Heideggers Metaphysikkritik vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Die »andere Metaphysik« und die Frage nach dem Religiösen in unserer geschichtlichen Gegenwart.

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zu Kant zu lesen: »Der Versuch, dem ›Glauben‹ Platz zu machen (Kant), ist nur die letzte Verstrickung in die Metaphysik und ihre Grundlosigkeit.«26 Eine ›Grundlosigkeit‹ mag es in der Tat am Gebäude der Metaphysik Kants geben, da es innen und oben Halt findet (vgl. conf. 3,11), nämlich im Bewußtsein des moralischen Gesetzes – nicht unten auf einem ›Grund‹, auf dem man sonst Gebäude errichtet. Dieses Bewußtsein nennt Kant »das einzige Factum der reinen Vernunft«, das »als gegeben anzusehen« ist (KpV A 56) und die Wirklichkeit der Freiheit ›beweist‹. Deren Idee »offenbart sich durchs moralische Gesetz« und ist der »Schlußstein« des Gesamtgebäudes von Kants Philosophie (KpV A 5; vgl. KMR XXXV). Die nachkantische Geschichte der Philosophie hat Kants Ansatz keineswegs zunichte gemacht. Vielmehr ist Kants ›kritische Metaphysik‹ als bedeutsame Wegweisung für die zukünftige Entwicklung der Philosophie wahrzunehmen, zumal sie ihm selbst den Platz zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten und für seine praktisch fundierte Postulaten-Metaphysik öffnete27 und darüber hinaus wenigstens implizit an die vorneuzeitlichen Ursprünge der Metaphysik anknüpft. ›Metaphysik‹ wurde nicht erst seit Kant nicht als ›dogmatische‹ Wissenschaft, nicht als ›Besitz der Menschen‹ vorgetragen, sondern als unabgeschlossene und unabschließbare Suchbewegung im Wissen des Nichtwissens um das Höchste, das dadurch unser Denken in ›Unruhe‹ versetzt.28 Für abgeschlossen kann immerhin Kants Versuch der Aufhebung des Wissens gelten, der aber – wie derzeitige Diskussionen um die Willensfreiheit in und mit der Hirnforschung lehren – in neuen geschichtlichen Konstellationen neu zur Anwendung gebracht werden muß.29 Daß Kants Werke weiterhin gelesen werden, wird heute kaum jemand bezweifeln wollen. Wichtiger ist jedoch die Frage, die sich angesichts der wechselhaften Geschichte der Kant-Auslegungen stellt, ob die philosophische und philosophierende Kommentierung der 26

Vgl. Metaphysik und Nihilismus (GA 67), 92. Vgl. dort auch 95 und 101 mit Bemerkungen zur Sache. 27 Auch Kant selbst spricht einmal von einem ›Grund‹ des gleichwohl unbedingt geltenden kategorischen Imperativs; vgl. GMS BA 66 = AA 4,428 f.; dazu vgl. Norbert Fischer: Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, 172 ff. 28 Vgl. die oben zitierte These des Aristoteles (Mp A 982b28 f.); ebenso zu beachten ist deren existenzielle und theologische Auslegung bei Augustinus (conf. 1,1): »tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.« Diese Auslegung ist Aristoteles nicht fremd; vgl. Mp L 1072b4: kineî dh1 w3@ e4rw2menon. Augustins Wort, daß der Mensch auf Gott hin geschaffen sei, greift Kant der Sache nach auf: einerseits in der Rede vom »Ideal der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit« (z. B. MST A 47 = AA 6,405), das Kant auch als »Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit« denkt (z. B. RGV B 75; 182 = AA 6, 61; 129); andererseits, indem er die Vernunft, sofern sie auf dieses Ideal ausgerichtet ist, als Versicherung der Liebe Gottes versteht (RGV B 176 = AA 6,120); dazu vgl. Norbert Fischer: Augustinische Motive in der Philosophie Kants, 106 f. 29 Vgl. z. B. Wolf Singer: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.

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Werke Kants und insbesondere der Kritik der reinen Vernunft wirklich als wichtige und anspruchsvolle philosophische Aufgabe übernommen wird. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es, diese Aufgabe unter den in der Kritik der reinen Vernunft entfalteten Themen darzustellen und zu bedenken.

2. Hinweise zu den Beiträgen 2.1 Zu den ›Vorreden‹ und der ›Einleitung‹

Gewiß sind die ›Vorreden‹ zu den beiden Auflagen das von Kant beabsichtigte Eingangstor in das Gebäude der Kritik der reinen Vernunft; diese Funktion hat indessen auch die ›transzendentale Methodenlehre‹, obwohl diese, wie zur Zeit Kants üblich, erst am Ende des Werkes zu finden ist. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der die Vorreden konzis auslegt, geht davon aus, daß jede der beiden Vorreden Kants einen universalen metaphysikgeschichtlichen und ontologischen Horizont ausspannt, innerhalb dessen das philosophische Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft verstanden werden soll. In der Vorrede zur ersten Auflage geschieht dies vor allem in vier ineinandergreifenden Gedankenzügen: 1. in der Heraushebung der schicksalhaften Wesensverfassung der reinen theoretischen Vernunft, 2. in der Kennzeichnung der Aufgabe einer Selbsterkenntnis der reinen theoretischen Vernunft als deren Selbstkritik, 3. in der Bestimmung des reinen Denkens der theoretischen Vernunft als des thematischen Feldes der Kritik der reinen Vernunft, 4. in der Charakterisierung der Kritik der reinen Vernunft als des Entwurfs für die Metaphysik der Natur, die ihrerseits das System der reinen spekulativen Vernunft ist. Die Vorrede zur zweiten Auflage umreißt den universalen metaphysikgeschichtlichen und ontologischen Verstehenshorizont für die Kritik der reinen Vernunft in zwei grundlegenden Gedankenzügen: 1. in der programmatischen These von der Revolution der Denkungsart als der kopernikanischen Wende in der Metaphysik, 2. in der daraus erfolgenden ontologischen Scheidung zwischen den Dingen als Erscheinungen und den Dingen an sich mit einem Ausblick auf die Aufgaben der reinen praktischen Vernunft.30 Maximilian Forschner, der die Einleitung(en) in die Kritik der reinen Vernunft kommentiert, sieht das philosophische Anliegen dieses Werkes in einer soliden Grund30

Die Beiträge, die Friedrich-Wilhelm von Herrmann beigesteuert hat, sind gewiß auch vor dem Hintergrund der intensiven Lektüre der Freiburger Seminare zur Kritik der reinen Vernunft zu sehen, die Eugen Fink von 1962–1971 geleitet hat und die von Friedrich-Wilhelm von Herrmann protokolliert wurden. Sie erscheinen derzeit im Verlag Karl Alber (herausgegeben von Guy van Kerckhoven mit einem Vorwort von Friedrich-Wilhelm von Herrmann).

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legung der Metaphysik der Natur und Moral. Kant versteht ›das Geschäft der Kritik‹ als besondere, erst von ihm entwickelte Wissenschaft, die nicht zunächst direkt objektbezogen nach Erkenntnissen, sondern eben ›transzendental-reflexiv‹ nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnissen fragt. Dabei unterscheidet Kant im Ergebnis zwischen Kritik und Transzendentalphilosophie, zwischen Organon und System. Die Frage, wie die Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, entscheidet sich nach Kant an der Beantwortung der Frage, ›wie synthetische Urteile a priori möglich sind‹. Die ›Einleitung‹ deutet auf eine Zurückweisung der Metaphysik ›der Schule‹ voraus und tritt als Plädoyer für die Metaphysik des ›einfachen Menschen‹ auf.

2.2 Zur ›transzendentalen Ästhetik‹

Die ›transzendentale Ästhetik‹ ist Thema von vier Beiträgen des vorliegenden Bandes. Im ersten befaßt sich Clemens Schwaiger mit dem geschichtlichen Hintergrund und allgemeinen Fragen zu diesem Textstück. Er weist darauf hin, daß Kant sich mit Alexander Gottlieb Baumgarten in dem Ziel einig weiß, mittels einer (als Pendant zur Logik) neu zu entwerfenden ›Ästhetik‹ das menschliche Sinnesvermögen erkenntnistheoretisch aufzuwerten. Anders als beim zäsurlosen Kontinuitätsmodell Baumgartens basiert Kants Sinnesapologie jedoch auf einer strikten Arbeitsteilung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Daher sind Konfusion und Irrtum für Kant allererst das Resultat eines gestörten Zusammenspiels der zwei grundverschiedenen Erkenntnisvermögen und dürften keinesfalls den Sinnen als solchen zur Last gelegt werden. Schwaigers Beitrag arbeitet mittels eines eingehenden Vergleichs der beiden konkurrierenden Ästhetiken heraus, wie die prägenden Charakteristika von Kants Theorie der Sinnlichkeit aus der ständigen Auseinandersetzung mit Baumgartens bahnbrechendem Erstentwurf erwachsen sind. Er zeigt, daß die Idee, die Theorie der sinnlichen Erkenntnis als eine Theorie der Apriorität zu entwickeln, genuin und original Kantisch ist. Raum und Zeit gelten dabei als die apriorischen Momente jeglicher Sinneserkenntnis. Diese Auslegung der sinnlichen Erkenntnis entfaltet Bernd Dörflinger in seinem Beitrag explizit im Blick auf den ›Raum‹. Er erläutert zunächst wesentliche Aspekte der Raumtheorie, wie Kant sie in der ›transzendentalen Ästhetik‹ ausgeführt hat, wozu etwa die Bestimmungen der Apriorität, der Subjektivität und der Formalität gehören. Sodann faßt er die signifikante Modifikation ins Auge, die diese vorläufige und ergänzungsbedürftige Theorie durch das Lehrstück von der formalen Anschauung erfährt. Das räumliche Vorstellen, insonderheit das Vorstellen bestimmter Räume und Raumgestalten, das zunächst allein der Rezeptivität der Sinnlichkeit

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zugeordnet wurde, erscheint im Licht der Kantischen Fortentwicklung als abhängig von Akten der Synthesis. Dörflinger vertritt schließlich die über die gängigen Kant-Kommentare hinausgehende These, daß Spontaneität, d.i. das Hauptcharakteristikum des von der Sinnlichkeit unterschiedenen Verstandes, Voraussetzung der Eröffnung allen äußeren Anschauens ist. Nach einer Skizze verwandter Untersuchungen und Auslegungen des Seins der ›Zeit‹ führt Norbert Fischer die unterschiedlichen Bereiche an, innnerhalb derer Kant das Problem der Zeit ins Auge faßt. Im ersten Abschnitt wird Kants Frage nach dem Sein der Zeit betrachtet, im zweiten seine Frage nach dem formalen Sinn der Zeit (in ihrer innerzeitlichen Funktion) entfaltet und im dritten seine Frage nach dem unbedingten Sinn des Seins der Zeit (in ihrer überzeitlichen Bedeutung) verfolgt. Der Beitrag beginnt mit einer Auslegung des zweiten Abschnitts der ›transzendentalen Ästhetik‹, betrachtet im Anschluß daran nicht nur die Bedeutung der Zeit für die Möglichkeit der Erfahrung, sondern auch für die Möglichkeit moralischen Handelns, und geht dann von den dort offen gebliebenen Fragen über zu Erwägungen, in denen Kant über den Horizont der Zeit explizit hinausgeht. Jürgen Stabel weist in seinem Beitrag als Physiker die Kompatibilität zwischen Kants Raum- und Zeitverständnis und dem der Relativitätstheorie nach, indem er zeigt, daß eine metrische Zeitbestimmung in einem euklidischen Raum, die kompatibel zu dem transzendentalen Raum- und Zeitverständnis Kants sein soll, den Lorentztransformationen der speziellen Relativitätstheorie genügen muß. Beim Nachweis der Kompatibilität von Kants Raum- und Zeitverständnisses mit dem der Relativitätstheorie kommt der dritten Analogie und dem Begriff der Gleichzeitigkeit eine besondere Rolle zu. Auf den ersten Blick scheine der Begriff der Gleichzeitigkeit bei Kant eine andere Bedeutung als bei Einstein zu haben und zwischen beider Deutungen von Raum und Zeit eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Im Gegensatz zu dieser verbreiteten Meinung, die auch im vorliegenden Band zuweilen vorgetragen wird, wird umrissen, wie sich Kants Begriff des transzendentalen Zugleichseins der Dinge im Rahmen der speziellen Relativitätstheorie zum Begriff der Raumartigkeit entfalten läßt. Der Raum erweist sich somit im Rahmen der dritten Analogie als eine Vorstellung der Zeit im Modus der Gleichzeitigkeit.

2.3 Zur ›transzendentalen Analytik‹

Im Blick auf die Beziehung zwischen der ›transzendentalen Analytik‹ und der ›transzendentalen Dialektik‹ charakterisiert Norbert Fischer die Analytik als Werk der mit Prosyllogismen arbeitenden ›Vernunft‹ (nicht des ›Verstandes‹, von dem

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sie handelt). Danach skizziert er die ›metaphysische Deduktion‹ der Kategorien und leitet zu deren ›transzendentaler Deduktion‹ über, womit bereits das ›Schematismus‹-Problem und die Fragen nach der Möglichkeit und den Grenzen der objektiven Erkenntnis in den Blick kommen. In der ›transzendentalen Analytik‹ der Kritik der reinen Vernunft trägt Kant implizit den Kern seiner positiven Antwort auf die Frage nach den möglichen Gegenständen eines ›denkenden Ichs‹ vor, das alle seine Vorstellungen »begleiten können« muß und dessen ich mir bewußt bin. Kant untersucht und beantwortet dort also einen wesentlichen Aspekt der ersten Frage, die zum spekulativen Hauptinteresse der Vernunft gehört, nämlich: »Was kann ich wissen?« Nach Klaus Düsing lautet Kants Grundfrage, wie Kategorien als unsere Verstandesbegriffe objektiv Seiendes zu erkennen geben können. In einem ersten Teil zeigt er, wie durch die reine Apperzeption, das reine Selbstbewußtsein, synthetische Denkakte und durch diese sodann logische Urteilseinheiten als gesetzmäßige Einheiten im Anschauungsmannigfaltigen zustande kommen. Dadurch werde Objektivität konstituiert. Grundlage hierfür sei, so die These von Klaus Düsing, Kants neue Theorie des Denkens als spontaner, im Subjekt fundierter Synthesis von gegebenem Anschauungsmannigfaltigen. In einem zweiten Teil wird dargelegt, daß diese Synthesen und synthetischen Einheiten im Mannigfaltigen unserer Anschauung von Raum und Zeit stattfinden. Während die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft für diese Anwendung die Einbildungskraft als selbständiges Vermögen zwischen Verstand und sinnlicher Anschauung ansetzt, konzipiert Kant in der zweiten Auflage hierfür die ›Selbstaffektion‹, die Einwirkung des Verstandes auf den inneren Sinn; die Einbildungskraft führt solche Einwirkung nur aus. Kant hat dabei in Ansätzen, die später im Deutschen Idealismus weitergeführt werden, ein einheitliches, aber zweiseitiges, aktiv-passives Subjekt vor Augen. Friedrich-Wilhelm von Herrmann konzentriert sich im folgenden Beitrag auf das systematisch zentrale Lehrstück vom ›Schematismus‹. Während die ›transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe‹ in einer allgemeinen Weise ausgeführt hat, daß und wie sich die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) nur auf empirische Erscheinungen als die einzigen uns in der sinnlichen Anschauung gegebenen Gegenstände beziehen können, ist es anschließend die Aufgabe des ›transzendentalen Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹, konkret zu zeigen, daß es die transzendentale Einbildungskraft ist, die in der Bildung der transzendentalen Schemata bzw. Zeitbestimmungen die Voraussetzung für die Anwendung der Kategorien auf die empirischen Erscheinungen schafft. Der Gedankengang des von Kant knapp gefaßten und deshalb nicht leicht aufschließbaren Schematismus-Kapitels wird in fünf Gedankenschritten durchsichtig gemacht: 1. durch die Bestimmung des sy-

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stematischen Ortes des transzendentalen Schematismus im Aufriß der transzendentalen Analytik, 2. durch Kants Anzeige des Schematismus-Problems am Leitfaden der Subsumtion, dergestalt, daß die transzendentalen Zeitbestimmungen das Vermittelnde zwischen den Kategorien und den empirischen Erscheinungen sind, 3. durch Kants Unterscheidung von Schema und Bild, 4. durch Kants Abgrenzung des transzendentalen Schemas der Kategorien gegen das reine Schema der mathematischen und gegen das empirische Schema der empirischen Begriffe, 5. durch die abschließende Bestimmung der transzendentalen Schemata als apriorischer Zeitbestimmungen nach Regeln. Das Thema des nächsten Beitrags von Maximilian Forschner ist das zweite Hauptstück der ›transzendentalen Doktrin der Urteilskraft‹, in dem Kant das System aller Grundsätze des reinen Verstandes entwickelt. Dieses System der Grundsätze hat eine zweifache Funktion: eine kritische und eine rechtfertigende. Es soll maßgebend unseren nichtempirischen Verstandesgebrauch bei seinen Urteilen über die Wirklichkeit berichtigen und sichern. Das System der Grundsätze beantwortet die Frage, unter welchen prinzipiellen Bedingungen die reinen Verstandesbegriffe zu gültigen synthetischen Urteilen zu gebrauchen sind. Kant geht es darum, die nichtempirischen Grundsätze unserer Wirklichkeitserkenntnis in ihrer systematischen Ordnung und Verbindung zu erfassen und darzustellen. Darüber hinaus möchte er auch so etwas wie einen Beweis dafür erbringen, und zwar »aus den subjectiven Quellen der Möglichkeit einer Erkenntniß des Gegenstandes überhaupt«. Dieser Beweis besteht nach Maximilian Forschner darin, daß ohne die Geltung und Anerkennung der Grundsätze eine objektive Gegenstandserkenntnis für uns Menschen nicht möglich ist. Im Zentrum dieses Beitrags steht Kants Exposition des Begriffs der Kausalität als Antwort auf David Humes skeptisch-psychologische Erosion dieses Begriffs. Nach Josef Simon bezieht Kant sich nicht nur auf die begriffliche Unterscheidung von »Phaenomena und Noumena« bzw. von Gegenständen in Raum und Zeit und ›Dingen an sich‹, sondern fragt auch kritisch nach dem »Grunde« dieser Unterscheidung. Sie hat bei Kant ihren Ort in der transzendentalen Überlegung, in der nicht von ›Gegenständen‹ bzw. von unterschiedlichen Arten von Gegenständen die Rede ist, sondern von Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt. Kant bezeichnet es sogar als »Unfug«, Begriffe, die innerhalb dieser Fragestellung durch andere »wohl nicht« zu ersetzen seien, auch außerhalb derselben zum »öffentlichen Gedankenverkehr« zu gebrauchen. Wir »befinden« uns nach Kant in derselben Zeit und in demselben Raum, in dem sich die Gegenstände unserer Erkenntnis befinden, so daß unsere Erkenntnis nur relativ zu unserem Standpunkt im Raum und in der Zeit sein kann. Kant nenne dasjenige an einem

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Gegenstand der Sinne, was nicht Erscheinung ist, sondern auf die Relativität aller »unserer« Erkenntnis verweist, »intelligibel«. Gegenüber jeder Bestimmung bleibe der Gegenstand offen für andere Bestimmungen. – Im Intelligiblen ist mit der Vorläufigkeit unserer Erkenntnisse die Freiheit gegenüber jeder gegenständlichen, auf Objekte bezogenen Bestimmung gegeben. Der »Grund« der Unterscheidung aller Gegenstände in »Phaenomena und Noumena« liegt im »Grunde« also darin, daß jeder Gegenstandsbezug »für uns« zugleich ein Bezug auf uns selbst als das immer schon bedingte Subjekt der Erkenntnis ist.

2.4 Zur ›transzendentalen Dialektik‹

Robert Theis führt in seinem Beitrag zu einer Interpretation der ›Einleitung‹ und des ›Ersten Buchs der Transzendentalen Dialektik‹ hin, indem er diese Textstücke als Grundlegungstheorie einer ›Ideen-Metaphysik‹ auslegt, die als ›pars construens‹ die Voraussetzung der ›pars destruens‹ dieses Teils der Kritik der reinen Vernunft bildet. Zu diesem Zweck wird in zwei Schritten vorgegangen: 1. aus einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive, in der einige paradigmatische Stationen des Kantischen Projekts einer »Reform der Metaphysik« beleuchtet werden, wird gezeigt, wie sich diese hin zu einer Ideen-Metaphysik entwickelt; 2. aus einer systematischen Perspektive wird die Begründung der Notwendigkeit einer Metaphysik unter den Voraussetzungen ihrer Reform – der »Veränderung der Denkart« – aufgezeigt. Pedro Jesús Teruel stellt in seinem Beitrag, dessen Inhalt auch in der differenzierten Gliederung hervortritt, zunächst Kants Destruktion der Seelenmetaphysik dar, verbindet diese dann mit der Grundlegung der Postulatenlehre, deren Ansätze schon in der Kritik der reinen Vernunft greifbar sind. In sorgfältiger Analyse des Textes und unter Beachtung der inneren Entwicklung Kants, die zu großen Änderungen im Text der zweiten Auflage führte, vergegenwärtigt der Beitrag das nicht nur negative Ergebnis der Paralogismen-Kritik und leitet zugleich zu seiner weiteren Bedeutung innerhalb der Kritik der reinen Vernunft und für die Postulaten-Metaphysik Kants über. Abschließend würdigt Pedro Jesús Teruel die Kritik als Öffnung und bezieht dabei das ›Paralogismen-Hauptstück‹ auf Kants Projekt einer undogmatischen, kritischen Metaphysik. Claus Beisbart rekonstruiert Kants Überlegungen zur ersten Antinomie. Dabei geht seine Interpretation vom Begriff der Antinomie allgemein und von Kants Vernunftbegriff aus. Der Zustand der Antinomie ergibt sich demnach, wenn die Vernunft in ihrem legitimen, ja notwendigen Bemühen, nacheinander empirische Bedingungszusammenhänge herauszufinden, zum Unbedingten übergeht. Die Widersprüche,

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in die sich die Vernunft dabei verwickelt, werden anhand der Frage nachgezeichnet, ob die Welt Grenzen in Raum und in der Vergangenheit hat. Was die Auflösung der Antinomie angeht, betont Beisbart die Wichtigkeit des transzendentalen Idealismus. Als entscheidender Gesichtspunkt gilt Kants Überzeugung, daß die empirische, die Grenzen der Welt betreffende Forschung, es nur mit Erscheinungen zu tun hat, daß uns aber die gesamte Reihe aller Bedingungen zu einem Bedingten qua Erscheinungen in unseren Forschungen niemals gegeben sein kann. Claus Beisbart trägt Überlegungen von Kant so vor, daß sich ein Argument für diese zentrale These ergibt, und betont schließlich, daß Kant die einzelwissenschaftliche Suche nach immer weiteren Bedingungen nicht entmutigen will. Brigitte Falkenburg deutet die zweite Antinomie, in der es um die Teilbarkeit der Materie geht, vor dem Hintergrund von Kants vorkritischen Arbeiten zur Kosmologie und zum Atomismus, die er später kritisiert hat. Sie arbeitet heraus, daß Kants Antinomie auf einem Widerspruch in dem Weltbegriff beruht, der unterstellt, die Welt in Raum und Zeit sei vollständig naturwissenschaftlich zu erklären. Sie betrachtet Kants Überlegungen daher in systematischer Hinsicht als relevant für eine Kritik des Naturalismus. Maximilian Forschner unternimmt im wesentlichen eine erklärende, die Gedanken und Argumente Kants möglichst stark machende (systematische, ideengeschichtlich abgestützte) Interpretation des dritten und vierten Widerstreits der transzendentalen Ideen, wie Kant ihn im Rahmen seiner Exposition der Antinomie der reinen Vernunft darstellt. Im Zentrum der Erläuterungen steht die dritte Antinomie, und hier wiederum insbesondere der Übergang vom kosmologischen zum anthropologischen Freiheitsbegriff sowie die Lösung des Determinismusproblems. Abschließend werden Kants Entwicklung und Auflösung der beiden Antinomien (im Blick auf ihre teils zirkuläre Struktur und ihren transzendental-idealistischen Charakter) allerdings auch kritisch gewürdigt. Nach Friedo Ricken bezeichnet der Ausdruck ›Das Ideal der reinen Vernunft‹ den dialektischen Vernunftschluß auf das Wesen von der höchsten Realität (ens realissimum), den Gegenstand der transzendentalen Theologie. Kant nennt es ein ›fehlerfreies Ideal‹. Aber wie kann ein dialektischer Vernunftschluß, der auf einer Illusion beruht, zu einem fehlerfreien Ideal führen? Daß dieses Ideal eine Erdichtung der Vernunft ist, schließe nicht aus, daß es sich um ein wirkliches Wesen handelt; um das zu zeigen, bedarf es jedoch zusätzlicher Prämissen. Weil die moralischen Gesetze schlechthin notwendig gebieten, muß ein Wesen postuliert werden, das den Gesetzen ›Wirkung und Nachdruck‹ geben kann. Aber wenn das Dasein des höchsten Wesens auch durch die Moraltheologie erkannt wird, bleiben der transzendentalen

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Theologie doch drei wichtige Aufgaben: (1.) Sie hat nach dem ontologischen Status des höchsten Wesens zu fragen und antwortet mit dem Begriff des notwendigen und allerrealsten Wesens. (2.) Sie muß den Begriff des höchsten Wesens von allen Anthropomorphismen reinigen. (3.) Sie muß alle entgegengesetzten Behauptungen, seien sie atheistisch oder deistisch, aus dem Weg räumen. Norbert Fischer untersucht den ›Anhang zur transzendentalen Dialektik‹, der selten genügend beachtet wird, obwohl in ihm die innerhalb der Kritik der reinen Vernunft strittige ›transzendentale Deduktion der Vernunftbegriffe‹ und die ›Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft‹ thematisiert werden. Die Inkonsistenz von Kants Thesen zur Möglichkeit und zum Sinn der transzendentalen Deduktion entspringt dem natürlichen Schein, sofern die Ideen nicht nur als regulative Prinzipien mit heuristischer Funktion gedacht werden müssen, sondern problematische Geltung behalten, auch wenn ihre objektive Bedeutung ganz unbestimmt bleibt. Zwar verbietet die Genese der ›hypothetisch ausgedachten‹ Ideen, sie in absoluter Bedeutung zu behaupten. Weil aber »doch ein Analogon eines solchen Schemas gegeben werden« muß, erklärt Kant unerwartet, daß sich »das Größte und Absolutvollständige […] bestimmt gedenken« läßt. Weil nur die Maxime, »Ordnung in der Natur aufzusuchen«, für gerechtfertigt gilt, also nur die Maxime, die Einheit des in seiner Mannigfaltigkeit begegnenden Gegebenen zu suchen (und zwar nicht als objektives Prinzip, das Gott wäre, sondern nur als »rechtmäßiges und treffliches Princip der Vernunft«), gelingt Kant die Darstellung der ›Endabsicht‹ der natürlichen Dialektik lediglich über die Brücke ihrer fiktiven Auslegung (im Sinne eines ›Als-ob-Gegenstandes‹). Diese Brücke führt jedoch nicht schon selbst zum Ziel, sondern nur vermittelst der Einsicht, daß es »ohne Zweifel« »etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte«, wodurch sie Platz für eine problematische Annahme der Vernunftideen schafft. Die schwankende und unklare Bedeutung, die den Ideen nach Kant zukommt, entspricht also der Situation der menschlichen Vernunft, wie sie am Beginn der Vorrede zur ersten Auflage zum Ausdruck gebracht ist.

2.5 Zur ›transzendentalen Methodenlehre‹

Norbert Hinske gelangt bei seinem Versuch, die von Kant ins Auge gefaßten Methoden kurz und bündig zu charakterisieren, zu einem überraschenden Resultat: Alle vier diskutierten Methoden sind bei Kant zumindest im Ansatz von Anfang an vorhanden. Kants philosophische Entwicklung besteht nicht etwa in einem schrittweisen Übergang von der einen Methode zur jeweils nächsten oder in einer etappenweisen Entwicklung neuer Methoden, sondern in ihrer immer schärferen

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Ausarbeitung. Die überkommenen Einteilungen der Entwicklungsphasen des Kantschen Denkens, so unterschiedlich sie auch sein mögen, bedürfen also nach Norbert Hinske insgesamt der Revision. Dieter Hattrup zufolge markiert die ›transzendentale Methodenlehre‹ in der Kritik der reinen Vernunft die Wende zum Positiven. Kant verstehe unter der ›transzendentalen Methodenlehre‹ die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft. Ein derartiges Baugeschäft dürfe allerdings nur unter strenger Disziplin durchgeführt werden, sonst drohe dem Gebäude das Schicksal des Babylonischen Turmes. Mit dem Baustoff, den Kant zuvor in der ›transzendentalen Elementarlehre‹ überschlagen hatte, läßt sich ein solides Wohnhaus bauen, doch kein Wolkenkratzer ohne Höhenbegrenzung. Die Disziplin ist eine vierfache: ›Die Disciplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche‹ solle die Verzückung auflösen, die von der Mathematik auf die reine Vernunft ausstrahlt. Überhaupt ist Kants Kritik aus dem Unterschied von Mathematik und Philosophie geboren: ›Die Disciplin der reinen Vernunft im polemischen Gebrauche‹ stellt sich gegen David Hume und hat die Aufgabe, der Verzauberung durch die Skeptik zu entgehen. Hinzu kommen die ›Disziplin im hypothetischen Gebrauch‹, die von der Unsterblichkeit der Seele handelt, und die ›Disziplin im beweisenden Gebrauch‹, bei deren Darstellung Kant drei Regeln für künftige Philosophien aufstellt. Jakub Sirovátka zeigt, wie im ›Kanon der reinen Vernunft‹ aus der ›transzendentalen Methodenlehre‹ explizit das Tor zur praktischen Philosophie geöffnet wird. In der Bestimmung der Zuordnung der theoretischen und der praktischen Philosophie zueinander soll die praktische als Leitfaden für die theoretische fungieren: alle Zwecke der Vernunft werden auf einen einzigen Endzweck bezogen – auf die ›moralische Endabsicht‹. Um die Moralität als solche konsistent denken und zugleich eine berechtigte Hoffnung auf Glückseligkeit haben zu können, muß die Vernunft das Ideal des höchsten Gutes annehmen, in dem die Glückseligkeit als proportiert zur Tugend gedacht wird. Mit dem Ideal des höchsten Gutes wird ein Prinzip gedacht, aus dem sowohl die Naturkausalität als auch die Kausalität aus Freiheit entspringt. Zuletzt intendiert die Vernunft mit ihrem moralischen Endweck die Verwirklichung einer moralischen Welt. Der abschließende Beitrag von Maximilian Forschner handelt von Kants Bestimmung des Glaubens im Unterschied zum Meinen und Wissen. Das Augenmerk gilt dabei dem Glauben, weil Kants Auslegung des Meinens sich weitgehend von selbst versteht und eine Erläuterung von Kants Wissensbegriff, der in den drei großen Kritiken entfaltet wird, den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Dabei zielt der erste Schritt im Zuge einer Erläuterung des entsprechenden Abschnitts der Me-

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thodenlehre der Kritik der reinen Vernunft auf Kants Unterscheidungen bezüglich der epistemischen Einstellung des Glaubens; in einem zweiten Schritt werden unter Bezugnahme auf den entsprechenden Abschnitt der Religionsschrift seine Gedanken zur notwendigen Verankerung dessen, was er ›reinen Vernunftglauben‹ nennt, in einer Glaubensgemeinschaft – einer Kirche – erläutert.

3. Ausblick

Die Kritik der reinen Vernunft, ein komplexes Werk mit nicht leicht überschaubaren Tiefendimensionen, die gründlicher Beachtung bedürfen, ist seit über hundert Jahren Objekt historischer und systematischer Forschungen und kann das auf Grund seines inneren Reichtums – ähnlich wie andere große Werke der abendländischen Philosophie – wohl noch für viele Jahrhunderte bleiben. Zu hoffen steht aber, daß die Intentionen, die Kant bei der Ausarbeitung dieses Werkes geleitet haben und Ausgangspunkt seiner späteren Werke wurden, die in ihm vorbereitet und angelegt sind, wieder stärker in das Zentrum des Interesses rücken und daß die Erforschung geschichtlicher und systematischer Fragen sich an diesen Intentionen orientiert. Gleichwohl wird ein Text von der Qualität der Kritik der reinen Vernunft – so wie es die Werke der alten Philosophen vermochten – auch dann standhalten, wenn er fremden Absichten ausgesetzt oder unterworfen wird. Emmanuel Levinas hat erklärt, daß einer, der jemanden von seinen Werken her angeht, in dessen Inneres eintritt, wie bei einem Einbruch.31 Indessen bleibt Nachgeborenen kein anderer Weg zur Wahrheit solcher Werke, als es mit eigener Auslegung und Kommentierung zu versuchen, was auch die Aufgabe des vorliegenden Bandes sein muß.

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Vgl. Totalité et Infini 38; vgl. auch Norbert Fischer: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand. Kant, Schleiermacher und Heidegger zur Wahrheitssuche in überlieferten Texten.

I. Die Vorreden und die Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft

Kants Vorreden zur ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Wegweisung zu einer neuen Wesensbestimmung der Metaphysik von Friedrich-Wilhelm von Herrmann

Aufgabe der folgenden Untersuchung ist die Ausarbeitung der hauptsächlichen Intentionen, die Kant an den Beginn der ersten Auflage (von 1781) und der zweiten Auflage (von 1787) der Kritik der reinen Vernunft gestellt hat. Ohne die Wegweisungen dieser Vorreden, die den Blick auf das Ganze werfen, bleibt der Zugang zu diesem großen Werk Kants verschlossen.

1. Die ›Vorrede‹ zur ersten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹

Aus dem Gedankengang der Vorrede zur ersten Auflage heben wir zum Zwecke der Hinführung zur Thematik der Kritik der reinen Vernunft vier Hauptgedankenschritte heraus. Dabei werden die schicksalhafte Wesensverfassung der reinen theoretischen Vernunft, die Aufgabe der Selbsterkenntnis der reinen theoretischen Vernunft, das reine Denken der theoretischen Vernunft als Aufgabenfeld der Kritik und die Deutung der Kritik der reinen Vernunft als Entwurf für die Metaphysik der Natur als das System der reinen spekulativen Vernunft ins Auge gefaßt.

1.1 Die schicksalhafte Wesensverfassung der reinen theoretischen Vernunft (A VII f.)

Mit Blick auf die Hauptfragen der speziellen Metaphysik (metaphysica specialis) nach Seele, Welt und Gott heißt es zu Beginn der Vorrede (A VII), die menschliche reine Vernunft habe in »einer Gattung ihrer Erkenntnisse« – in der Gattung der theoretisch-spekulativen Erkenntnisse im Unterschied zur Gattung der mathematischen Erkenntnisse – das »besondere Schicksal«, durch Fragen bedrängt zu werden, die im Wesen der reinen theoretischen Vernunft angelegt sind, die diese deshalb auch nicht zum Schweigen zu bringen vermag, die sie aber andererseits auch nicht auf theoretischem Wege in eindeutiger Weise mit apodiktischer Gewißheit beantworten kann. Diese Fragen sind nicht mit apodiktischer Gewißheit beantwortbar, weil sie das »Vermögen« der menschlichen theoretischen Vernunft »übersteigen«. Diese »Verlegenheit«, in die die spekulative Vernunft im Versuch einer Beantwortung der ihrer eigenen Natur entspringenden, somit nicht willkürlichen, sondern notwendi-

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gen Fragen gerät, exemplifiziert Kant im Blick auf die Fragen der Metaphysik der Welt (der rationalen Kosmologie). Wenn die spekulative Vernunft die Totalität des Weltganzen zu erkennen sucht, geht sie aus vom Grundsatz der Kausalität, einem Grundsatz des reinen Verstandes, dessen Gebrauch innerhalb des Erfahrungsganzen unverzichtbar und auch durch die Erfahrung »hinreichend bewährt« ist. Der Grundsatz der Kausalität ist mit den anderen Grundsätzen des Verstandes ein erfahrungsimmanenter Grundsatz. In der Suche nach der Totalität der raum-zeitlichen Dinge geht die Vernunft vom jeweils Bedingten (Wirkung) zurück zur Bedingung (Ursache) und zu den immer »entfernteren Bedingungen«. Weil die Vernunft innerhalb der Erfahrung nur immer wieder zu bedingten Bedingungen gelangt, »sieht sie sich genöthigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten«. Es sind erfahrungstranszendente Grundsätze, die in dem einen Grundsatz der Vernunft gründen: ›Wenn das Bedingte gegeben ist, ist auch das Unbedingte gegeben‹.1 Alle drei Gestalten dieses Unbedingten: Welt, Seele, Gott, sind erfahrungstranszendent. Durch diese Überschreitung des Erfahrungsgebrauches des immanenten Grundsatzes der Kausalität in der Frage nach dem Unbedingten der Welt stürzt sich die reine theoretische Vernunft »in Dunkelheit und Widersprüche« (A VIII). Diese Widersprüche hat Kant im Abschnitt über die »Antimonie der reinen Vernunft« als den vierfachen Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft dargestellt (A 405–567/B 432–595). Solche einander widersprechende Antworten, deren jede in sich folgerichtig gedacht ist, lassen die bisherige Metaphysik als einen »Kampfplatz« von »endlosen Streitigkeiten« erscheinen (A VIII).

1.2 Die Aufgabe einer Selbsterkenntnis der reinen theoretischen Vernunft als deren Selbstkritik (A XI f.)

Durch die Einsicht in die Widersprüchlichkeit ihrer metaphysischen Erkenntnisse ergeht aus der reinen Vernunft an diese selbst eine ›Aufforderung‹, die Aufgabe der ›Selbsterkenntnis‹ in Angriff zu nehmen und hierfür »einen Gerichtshof einzusetzen« (A XI). Doch dieser Gerichtshof ist keine fremde Instanz, die über die reine theoretische Vernunft zu Gericht sitzt, sondern ist die reine Vernunft selbst, die über sich zu Gericht sitzt und zwischen dem Rechtmäßigen und dem Unrechtmäßigen ihrer eigenen Ansprüche entscheidet. Die über sich selbst zu Gericht sitzende reine theoretische Vernunft soll ihre »gerechten Ansprüche« sichern, d. h. für sie 1

Z. B. A 409/B 436: »Die Vernunft fordert dieses nach dem Grundsatze: wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war.«

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die unumstößliche Gewißheit beibringen, und »alle grundlose[n] Anmaßungen« zurückweisen. Als die gerechten Ansprüche der reinen theoretischen Vernunft ergeben sich für Kant die apriorischen Erkenntnisse im Felde der Erfahrung, als die grundlosen Anmaßungen aber die Erkenntnisse von Gegenständen jenseits des Erfahrungsfeldes. Damit zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß das Vermögen der reinen theoretischen Vernunft und dessen apriorische Erkenntnisse auf das Feld der Erfahrung beschränkt wird, daß aber dadurch die großen Fragen der speziellen Metaphysik nicht außerhalb jeglicher Erkenntnis verbleiben, sondern zu Erkenntnisaufgaben der reinen praktischen Vernunft werden. Weil die reine theoretische Vernunft reflektierend über sich selbst zu Gericht sitzt und zwischen ihren gerechten Ansprüchen und grundlosen Anmaßungen scheidet, ist ihre reflexive Selbsterkenntnis ein Krinein und in diesem Sinne Kritik: die Kritik der reinen Vernunft. Dieser Titel besagt: Selbstkritik der reinen Vernunft, so, daß der Genitiv ein genitivus subjectivus und ein genitivus objectivus ist. Die reine theoretische Vernunft ist die Vollzieherin der Kritik und deren Gegenstand. Die Kritik der reinen theoretischen Vernunft ist eine Kritik »des Vernunftvermögens überhaupt«, eine Untersuchung aller ihrer »unabhängig von aller Erfahrung« beanspruchten Erkenntnisse. Die Kritik ist somit »die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt«, d.h. die Entscheidung, ob überhaupt eine Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft möglich ist, und wenn ja, wieweit sie als apodiktische Wissenschaft möglich ist und in welchem Felde sie unmöglich ist. Als Kritik des reinen theoretischen Vernunftvermögens überhaupt ist sie die Bestimmung der ›Quellen‹, des ›Umfanges‹ und der ›Grenzen‹ der apriorischen Erkenntnisse einer Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft. Die ›Quellen‹ sind die verschiedenen reinen Vermögen der reinen theoretischen Vernunft im weiten Sinne, aus denen die apriorischen Erkenntnisse der theoretischen Vernunft entspringen, nämlich: reines Anschauungsvermögen, reine Einbildungskraft, reines Verstandesvermögen (Kategorien), reines Vernunftvermögen im engeren Sinne (Ideen). Der ›Umfang‹ der apriorischen Erkenntnisse geht auf die Frage, um welche apriorischen Erkenntnisse der theoretischen Vernunft es sich insgesamt handelt (das System der Grundsätze des reinen Verstandes), während die Frage nach den ›Grenzen‹ der apriorischen Erkenntnisse darnach fragt, wieweit die apriorischen Erkenntnisse der theoretischen Vernunft reichen, wieweit sie gesicherte Erkenntnisse von wirklichen und nicht nur im Denken vorgestellten Gegenständen sind. Die in der Kritik der reinen Vernunft vollzogenen Entscheidungen und Bestimmungen erfolgen aus ›Prinzipien‹, d.h. aus sicheren Leitfäden, die die reine theoretische Vernunft ihrer Selbstreflexion an die Hand gibt. Diesen ›einzigen‹ Weg außer den Wegen des kritiklosen Dogmatismus und des alle apriorischen Erkenntnisse negierenden Skeptizismus hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft eingeschlagen, um die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft mit apodiktischer Gewißheit zu beantworten.

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1.3 Das reine Denken der theoretischen Vernunft als das thematische Feld der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (A XIV)

Die Kritik als Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft befaßt sich nur »mit der Vernunft selbst [im weiten Sinne] und ihrem reinen Denken«, mit ihrem reinen gegenstandsbezogenen Denken. Dieses Denken ist zum einen das Denken des reinen Verstandes in seinen Kategorien und zum anderen das Denken der reinen Vernunft im engen Sinne, deren Begriffe die Ideen vom Unbedingten sind. Da aber das reine Denken des Verstandes wesensmäßig auf die reine Anschauung von Raum und Zeit bezogen ist, gehören zum thematischen Feld der Kritik auch das reine Anschauungsvermögen und die reinen Anschauungsformen, die Thema der transzendentalen Ästhetik sind, während das reine Verstandesdenken und das reine Vernunftdenken im engeren Sinne in der transzendentalen Logik (Analytik und Dialektik) untersucht werden. Für die ›ausführliche‹, d.h. vollständige und systematische Kenntnis des reinen Denkens der Vernunft braucht die Kritik nicht in der Weite zu suchen, weil sie diese angestrebte Kenntnis in der Vernunft selbst findet. Von der vollständigen Kenntnis des reinen Denkens der theoretischen Vernunft gibt »auch schon die gemeine Logik ein Beispiel«. Damit verweist Kant bereits hier in der Vorrede auf die Leitfadenfunktion der allgemeinen formalen Logik für die Erarbeitung der transzendentalen Logik. Während die transzendentale Logik das reine gegenstandsbezogene Denken thematisiert, handelt die formale Logik von der Form des Denkens überhaupt, von den Urteils- und den Schlußformen. Aber in diesen Formen zeigen sich alle »einfachen Handlungen« der Vernunft, so daß am Leitfaden dieser formalen Handlungen des Urteilens und des Schließens die reinen Verstandes- und reinen Vernunftbegriffe vollständig und systematisch aufgesucht werden können. Aber für die Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft stellt sich die entscheidende Frage, ob ich mit den einfachen Handlungen des reinen Verstandes und der reinen Vernunft im engen Sinne auch dann noch etwas erkenntnismäßig ausrichten kann, »wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung«, d. h. alle in der empirischen Anschauung gegebenen Gegenstände, genommen werden.

1.4 Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ als Entwurf für die Metaphysik der Natur als das System der reinen spekulativen Vernunft (A XIX–XXI)

Die Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft versteht sich als ›Entwurf‹ für jene Metaphysik, die »nach den Begriffen«, die »hier«, d.h. in der Kritik, von der Metaphysik »gegeben werden«, ausgeführt werden soll. Diese Metaphysik soll zu Recht den Anspruch auf eine Wissenschaft mit apodiktischer Gewißheit erheben.

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Diese Metaphysik »ist nichts [anderes] als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine [theoretische] Vernunft, systematisch geordnet« (A XX). Deshalb verspricht die Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft, vollständig abgeschlossen und vollendet werden zu können. Die Vollständigkeit und Vollendung dieser neuen wissenschaftlichen Metaphysik sind dadurch gewährleistet, daß das, was die reine theoretische Vernunft an reinen Prinzipien und apriorischen Erkenntnissen »aus sich selbst hervorbringt, sich [vor dem reflexiven Zugriff ] nicht verstecken kann«. Was die reine theoretische Vernunft im Dunkel der Unausdrücklichkeit hervorbringt und vollzieht, kann durch sie selbst in ihrer thematisierenden Selbsterkenntnis »ans Licht« der Ausdrücklichkeit gebracht werden. Dieses durch die Kritik der reinen Vernunft angezielte System der reinen spekulativen Vernunft stellt Kant unter den Titel einer »Metaphysik der Natur« im Unterschied zur »Metaphysik der Sitten«, die das System der reinen praktischen Vernunft ist (A XXI). Aus diesen Angaben Kants zum Verhältnis der Kritik der reinen Vernunft und des Systems der reinen theoretischen Vernunft als der Metaphysik der Natur könnte man meinen, die Kritik stehe für Kant außerhalb der Metaphysik und sei selbst nicht Metaphysik, sondern Erkenntnistheorie. Doch in der Transzendentalen Methodenlehre, genauer: im Abschnitt ›Die Architektonik der reinen Vernunft‹, bezieht Kant auch die Kritik ausdrücklich in die Metaphysik im weiteren Sinne mit ein (A 841/B 869). Zuerst unterscheidet er innerhalb der »Philosophie der reinen Vernunft« zwischen der »Propädeutik (Vorübung)«, die das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht und »Kritik« heißt, und dem »System der reinen Vernunft (Wissenschaft)«, das »die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntniß aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange« umschließt und ›Metaphysik‹ heißt. Aber gleich im Anschluß an diese Unterscheidung zwischen Kritik und Metaphysik fährt Kant fort: »wiewohl dieser Name [Metaphysik] auch der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden kann«, um sowohl »die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, als auch die Darstellung« des Systems zusammenzufassen und vom empirischen wie vom mathematischen Vernunftgebrauch streng zu unterscheiden (A 841/B 869). Auch die Kritik der reinen Vernunft ist Metaphysik, weil sie die Untersuchung alles durch die reine spekulative Vernunft a priori Erkennbaren ist und eine solche Untersuchung metaphysischen Charakter hat.

2. Die ›Vorrede‹ zur zweiten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹

Zum Zwecke der Fortsetzung unserer Hinführung zur Thematik der Kritik der reinen Vernunft verfolgen wir aus der sehr viel umfangreicheren Vorrede zur zweiten Auflage die zwei wichtigsten Gedankenzüge, die die von der Vorrede zur ersten

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Auflage geleistete Annäherung an das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft um ein Beträchtliches fördern.

2.1 Die Revolution der Denkungsart – die kopernikanische Wende

Auch der Ausgang der zweiten Vorrede ist durch die Feststellung bestimmt, daß es die Metaphysik aus spekulativer Vernunft noch nicht vermocht hat, »den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen«. Denn in der Metaphysik »gerät die Vernunft continuirlich in Stecken«, in ihr muß man »unzählige mal den Weg zurück thun, weil man findet, daß er dahin nicht führt, wo man hin will« (B XIV). Somit stellt sich die Frage, woran es denn liegen möge, »daß hier noch kein sicherer Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können«. Zu fragen ist, ob dieser Weg »etwa unmöglich« oder ob »er bisher nur verfehlt« worden ist. Gibt es vielleicht, so fragt Kant (B XV), eine »Anzeige [...], um bei erneuertem Nachsuchen zu hoffen, daß wir glücklicher sein werden, als andere vor uns gewesen sind?« Diese Anzeige für den bisher verfehlten Weg findet Kant in den beiden anderen Vernunfterkenntnissen der reinen Mathematik und des reinen Teiles der Naturwissenschaft (Physik). Deshalb setzt die zweite Vorrede ein mit der Besinnung darauf, wie diese beiden objektbezogenen Vernunfterkenntnisse »durch eine auf ein mal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind« (B XV f.). Beide Arten theoretischer Vernunfterkenntnisse, Mathematik und Physik, haben in dem Augenblick den »königlichen Weg« (B X) bzw. den »Heeresweg der Wissenschaft« (B XII) beschritten, in dem sie die unumstößliche Einsicht gewannen, wie sie jeweils ihre Objekte völlig a priori bestimmen. In der reinen Mathematik ist es die Einsicht, daß sich der Mathematiker nicht nach der wahrgenommenen geometrischen Figur und ihrem bloßen Begriffe zu richten und auf diesem Wege die Eigenschaften der Figur zu gewinnen habe, sondern daß er die Figur »durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte« (B XII), durch Konstruktion allererst hervorbringen müsse. Diese »Umänderung einer Revolution« (B XI), diese »Revolution der Denkart« (B XI) fand auch in der reinen Naturwissenschaft statt, als die Naturforscher begriffen, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt«, daß die Vernunft »mit Principien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse, auf ihre Fragen [im Experiment] zu antworten, nicht aber sich von ihr [Natur] allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse« (B XIII). Die in der reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft vollzogene Revolution der Denkungsart, die diese theoretischen Vernunfterkenntnisse auf den sicheren Weg einer Wissenschaft geführt hat, ist die von Kant gesuchte Anzeige dafür, wie nun auch die Metaphysik den sicheren Weg einer Wissenschaft finden könne. Auch

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und vor allem für die Metaphysik geht es Kant um die Frage, wie deren apriorische Erkenntnis in ihre Gegenstände völlig einsichtig gemacht werden kann. In Analogie zur reinen Mathematik und reinen Naturwissenschaft bedarf es somit auch in der Metaphysik einer Revolution der Denkungsart. Diese Revolution vollzieht Kant in folgendem Gedankengang (B XVI): »Bisher nahm man [in der Metaphysik] an«, d.h. machte man die ontologische Voraussetzung, »alle unsere Erkenntniß«, auch unsere apriorische Erkenntnis, »müsse sich nach den Gegenständen richten«. Zu dieser ontologischen Voraussetzung gehört die Setzung, daß unsere apriorischen Begriffe in einem Korrespondenzverhältnis zu den Gegenständen stehen, die ihrerseits an sich selbst durch das verfaßt sind, was in den apriorischen Begriffen gedacht wird. Doch unter dieser ontologischen Voraussetzung ist für Kant nicht absolut einsichtig, wie wir vor dem Gegebensein solcher Gegenstände von ihrer Gegenständlichkeit apriorische Erkenntnisse haben können. Deshalb sagt Kant (B XVI): »Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem [apriorischen] Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.« Was Kant hier als versuchsweise Annahme anspricht, ist die der dogmatischen Seinsthese entgegengesetzte kritische bzw. transzendentale Seinsthese: daß das, was wir von den Gegenständen a priori erkennen, seinen Sitz in der spekulativen Vernunft hat und in die uns gegebenen Gegenstände hineingelegt wird. Nur so ist für Kant völlig einsichtig, wie wir apriorische Erkenntnisse von den Gegenständen haben können, bevor diese uns gegeben werden. An dieser Stelle greift Kant zu dem berühmten Vergleich seiner Revolution der Denkungsart in der Metaphysik mit der Umänderung des Weltbildes durch Kopernikus: Die vorkopernikanische Auffassung, daß die Erde ruhe und die Sonne sich um die Erde drehe, entspricht in diesem Vergleich der dogmatischen Denkungsart der Metaphysik. Und ebenso entspricht die kopernikanische Umänderung dieses Weltbildes, wonach umgekehrt die Erde sich um die Sonne dreht, der Kantischen Revolution der Denkungsart, wonach sich die Gegenstände, was das in ihnen a priori Erkannte anbetrifft, nach der spekulativen Vernunft und ihren reinen Vorstellungen richten. Die Revolution der Denkungsart in der Metaphysik und deren apriorischen Erkenntnissen verdeutlicht Kant nunmehr an den beiden unterschiedlichen Arten apriorischer Vorstellungen: an der reinen Anschauung von Raum und Zeit und an den reinen Verstandesbegriffen. In der dogmatischen Metaphysik richtet sich die reine Anschauung von Raum und Zeit »nach der Beschaffenheit der Gegenstände« (B XVII). Denn hier leitet die ontologische These, daß die Gegenstände an sich durch die Innerräumlichkeit und Innerzeitlichkeit bestimmt sind und daß unsere

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reinen Vorstellungen von Raum und Zeit mit der Raum- und Zeitbestimmtheit der Gegenstände korrespondieren. Dieser dogmatische ontologische Ansatz läßt aber nicht erkennen, wie wir a priori, d. h. vor dem Gegebensein der Gegenstände, deren Raum- und Zeitbestimmtheit erkennen. Zu dieser Einsicht gelangen wir nach Kant nur dann, wenn wir in einer Umänderung der Denkungsart die Objekte der Sinne sich »nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens« (B XVII) richten lassen, d. h. wenn Raum und Zeit subjektive Anschauungsformen unseres Anschauungsvermögens sind. Die gleiche Gedankenbewegung zeigt Kant mit Blick auf die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien). In der dogmatischen Metaphysik richten sich die Kategorien als apriorische Begriffe insofern nach den Gegenständen, als diese Gegenstände an sich selbst schon kategorial bestimmt sind. Auch hier besteht dann eine Korrespondenz zwischen den apriorischen Begriffen, etwa der Substanz oder der Kausalität, und den Gegenständen, die von Hause aus an ihnen selbst als Substanz und als Ursache einer Wirkung verfaßt sind. Doch auch hier ist für Kant nicht einsehbar, wie wir die apriorischen Begriffsstrukturen von den Gegenständen vor ihrem Gegebensein völlig a priori erkennen. Deshalb muß es auch hier zur Umänderung der metaphysischen Denkungsart kommen, wonach sich die Objekte der Sinne nach den reinen Verstandesbegriffen dergestalt richten, daß sie ihre kategorialen Strukturen allererst aus diesen reinen Verstandesbegriffen empfangen.

2.2 Der sichere Gang der Metaphysik in ihrem ersten Teil durch die kritische Scheidung zwischen den Dingen als Erscheinung und den Dingen an sich – der zweite Teil der Metaphysik und die praktische Vernunft

Das Ergebnis des ersten Gedankenzuges lautet: Wir erkennen von den Gegenständen (Objekten der Sinne) nur das a priori, »was wir selbst [die reine spekulative Vernunft] in sie legen« (B XVIII). Dieses Ergebnis »verspricht der Metaphysik in ihrem ersten Teil«, der metaphysica generalis, »den sicheren Gang einer Wissenschaft« (B XVIIIf.). Denn die »Veränderung der Denkart« erklärt nun in völlig einsichtiger Weise »die Möglichkeit einer Erkenntniß a priori« (B XIX) von den Gegenständen der Erfahrung vor ihrem Gegebensein. Von diesem positiven Ergebnis für den ersten Teil der Metaphysik blickt nun Kant auf den »zweiten Teil« (B XIX) der Metaphysik, die metaphysica specialis. Aus der im ersten Teil durchgeführten »Deduktion unseres Vermögens a priori zu erkennen« ergebe sich »ein befremdliches und dem ganzen Zwecke« der Metaphysik in ihrem zweiten Teil »dem Anscheine nach sehr nachtheiliges Resultat« (B XIX). Dieses besteht darin, daß wir mit der reinen spekulativen Vernunft »nie über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauskommen können« (B XIX), was gerade das

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Anliegen der metaphysica specialis in ihrer rationalen Psychologie, rationalen Kosmologie und rationalen Theologie ist. Wenn die reine spekulative Vernunft und ihre apriorische Erkenntis sich nur auf Gegenstände der Erfahrung bezieht, dann heißt das, daß diese Gegenstände nur »Erscheinungen« sind und nicht Sachen oder Dinge »an sich selbst«, keine Dinge an sich (B XX). Die reine spekulative Vernunft erkennt die Dinge nur in ihrem Für-uns-sein, nicht aber in ihrem An-sich-sein. Es ist aber – wie wir aus der ersten Vorrede wissen – der Vernunftbegriff des Unbedingten, der in den drei Disziplinen der ›metaphysica specialis‹ die Vernunft »notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt« und das Unbedingte in den Dingen an sich, in Seele, Welt und Gott, setzt. Würden wir weiterhin wie die dogmatische Metaphysik annehmen, daß unsere Erfahrungserkenntnis sowohl in ihrem empirischen wie in ihrem apriorischen Teil sich »nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst« richtet, dann könnte das Unbedingte nur in den aus der dogmatischen Metaphysik bekannten Widersprüchen gedacht werden. Wenn wir aber im Sinne der Revolution der Denkungsart die umgekehrte ontologische Setzung vornehmen, daß die Gegenstände der Erfahrung nicht Dinge an sich sind, sondern Erscheinungen, die sich »nach unserer Vorstellungsart« (B XX) der reinen Anschauung und des reinen Verstandesdenkens richten, dann entfällt für das Unbedingte der Widerspruch. Denn in diesem Falle wird das Unbedingte »nicht an Dingen, sofern wir sie kennen« und »sie uns gegeben werden«, sondern an Dingen, »sofern wir sie nicht kennen«, d.h. »als Sachen an sich selbst« (B XX) angetroffen. Was aber geschieht mit dem Grundbegriff des Unbedingten, der auf die Dinge an sich und nicht auf die Dinge als Erscheinungen bezogen ist, wenn die reine spekulative Vernunft nur auf die Gegenstände als Erscheinungen geht und wenn ihr der Schritt in das »Feld des Übersinnlichen« (B XXI) abgesprochen wird? Für eine Antwort auf diese entscheidende Frage richtet Kant den Blick weg von der reinen spekulativen und hin zur reinen praktischen Vernunft. Es sei zu untersuchen, ob sich nicht in der »praktischen Erkenntniß« der reinen Vernunft »Data finden« für eine wenn nicht theoretische, so doch praktische Bestimmung des »transscendenten Vernunftbegriffs des Unbedingten«. Auf diesem Wege der reinen praktischen Vernunft wird es dann möglich, »dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenzen aller möglichen Erfahrung hinaus« mit unserer praktischen Erkenntnis zu gelangen. Die reine spekulative Vernunft ist es, die zu dieser Erweiterung unserer praktischen Erkenntnis a priori über die Erfahrung hinaus in das Übersinnliche »doch wenigstens Platz verschafft« (B XXI), indem sie sich in ihrer Selbstkritik auf das Feld der Erfahrung eingegrenzt hat. Dieser von ihr leer gelassene Platz des Übersinnlichen und der Dinge an sich kann nunmehr widerspruchslos »durch praktische Data« (B XXII) der reinen praktischen Vernunft, durch die Postulate der praktischen Vernunft ausgefüllt werden: die Freiheit des

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Willens, die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein Gottes. Daher kann Kant sagen (B XXX): »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«.

Homo naturaliter metaphysicus Zu Kants ›Einleitung‹ in die ›Kritik der reinen Vernunft‹ von Maximilian Forschner

1. Grundlegung der Metaphysik als Anliegen der Kritik

Kant beginnt seine akademische Laufbahn mit Studien über elementare Fragen der damaligen Physik: über den Begriff der Kraft, die Natur des Feuers, die Struktur der Planetenbewegung, das Wesen des Raumes, den Begriff der Materie. Doch Kant versteht sich von Anfang an nicht als empirischer Physiker. Sein leitendes Interesse gilt vielmehr dem, was er reine Physik (physica pura) nennt; es gilt den nichtempirischen, den metaphysischen Grundlagen der Physik. Doch sein Interesse gilt nicht nur den metaphysischen Grundlagen der Physik, sondern der Metaphysik im Ganzen, der cosmologia, psychologia und theologia rationalis. Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Entwicklung wird er immer unsicherer hinsichtlich des epistemischen Status von Aussagen metaphysischer Art, die den Ursprung und das Ganze der Welt, das Wesen der menschlichen Seele, das Dasein und Wesen Gottes und seine Beziehung zur Welt betreffen. Seine Liebe zur Metaphysik1 bleibt gleichwohl, wenn auch nach seinen eigenen Worten zeitweise etwas einseitig, ungetrübt und ungebrochen; dies gilt auch für die Phase Mitte der 60-er Jahre, in der Kant von den Anfechtungen und Ablenkungen des Empirismus und der Skepsis am stärksten affiziert wird. Kant weiß dabei immer, daß seine Liebe zur Metaphysik keine idiosynkratische Liebe ist, sondern einer Anlage des Menschen als eines vernunftfähigen Sinnenwesens entspricht, einer Anlage, die bei ihm vielleicht nur etwas stärker ausgeprägt sein mag als bei anderen Menschen. Diese von seiten der Geliebten recht schwankend und zurückhaltend erwiderte Liebe läßt in ihm, dem Philosophen und Wissenschaftler aus Neigung, das Bedürfnis wachsen, Metaphysik auf ein wissenschaftlich bzw. philosophisch sicheres Fundament zu stellen, die prekäre Liebe sozusagen in den sicheren Hafen einer rechtsverbindlichen und dauerhaften Ehe zu führen. Daß bei diesem Versuch einerseits das unausrottbare Verlangen menschlicher Vernunft nach Einsicht in die verborgenen Eigenschaften der Dinge zu berücksichtigen ist, andererseits sowohl die nüchtern-realistische Einschätzung der menschlichen Möglichkeiten als auch die haltgebende Bindung an Erfahrung eine besondere Rolle spielen muß, war ihm frühzeitig klar. Er sagt (TG A 115 = AA 2,367 f.): »Die Metaphysik, in welche ich 1

Vgl. dazu Frederick C. Beiser: Kant’s intellectual development: 1746–1781, 26–61.

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das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann, leistet zweierlei Vortheile. Der erste ist, den Aufgaben ein Gnüge zu thun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgenern Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang gar zu oft die Hoffnung […]. Der andre Vortheil ist der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen und besteht darin: einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urtheile jederzeit stützen müssen.« Der persönlich besonders ausgeprägten und als allgemein menschlich unterstellten Liebe zur Metaphysik und dem persönlich ebenso wie im neuzeitlichen Progreß der Wissenschaften sich steigernden Bedürfnis nach einem sicheren Fundament für metaphysische Aussagen entspringt Kants großes philosophisches Unternehmen der Kritik, nämlich die Klärung und Beantwortung der Frage, wie, in welcher Reichweite, in welchem Behauptungsmodus, durch welche Vernunftlegitimation Metaphysik als Wissenschaft, aber auch Metaphysik als allgemein menschliche Kultur einer Naturanlage möglich ist. Neben Prinzipienfragen der Physik gilt Kants metaphysisches Interesse schon sehr früh und anhaltend auch den Grundfragen der Moral. Bereits am 31. 12. 1765 stellt Kant in einem Brief an den Philosophen, Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert in Aussicht, in Bälde Schriften zu den »metaphysische[n] Anfangsgründen der natürlichen Weltweisheit, und die metaph: Anfangsgr: der praktischen Weltweisheit« zu liefern (AA 10,56). Kants Metaphysik der Sitten, d.h. seine Ethik und Rechtsphilosophie sollte letztendlich erst im Jahre 1797 fertiggestellt sein und im Buchhandel erscheinen. Dazwischen liegen in den 60-er und 70-er Jahren Anläufe und Vorstudien zum Kritik-Unternehmen und schließlich, in den 80-er Jahren die Realisierung dieses Unternehmens, zunächst als ausführliche Kritik der reinen theoretischen Vernunft, und dann auch, in ausführlicher Ergänzung, als Kritik der reinen praktischen Vernunft und als Kritik der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft. Wichtig ist es, sich vor Augen zu halten, daß sich das Kritik-Unternehmen, wie der systematische Schlußteil der Kritik der reinen Vernunft, die Methodenlehre, bereits hinreichend belegt, stets auf die theoretische und die praktische Vernunft bezieht, daß die Unterscheidung und die Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft sich in den ›Vorreden‹, in der ›transzendentalen Dialektik‹ und der ›Methodenlehre‹ der Kritik der reinen Vernunft als zentrales Problem darstellt und daß die wissenschaftliche bzw. die philosophisch überzeugende Lösung metaphysischer Fragen auf kardinale Weise von der Lösung dieses Problems der Einheit der Vernunft in der Realisierung ihrer verschiedenen Anliegen abhängig ist.

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2. Kritik, Transzendentalphilosophie, Metaphysik

Kant hat 1781 und 1787 jeweils eine Vorrede und eine Einleitung an den Anfang seines epochemachenden Werkes Kritik der reinen Vernunft gestellt. Die Vorreden sind bereits erörtert. Nun stehen die Einleitungen an. Wie die Vorreden, so sind auch die Einleitungen der Auflage A und der Auflage B erheblich voneinander verschieden. Der Unterschied zeigt sich im Umfang: Die Einleitung B ist doppelt so lang wie die Einleitung A. Der Unterschied zeigt sich in den Überschriften, mit denen die Texte strukturiert sind und ihren Inhalt signalisieren: Die Einleitung A exponiert die Idee und die Einteilung der Transzendentalphilosophie, die Einleitung B entwickelt, wie die Überschrift ihres Abschnitts VII zeigt, »die Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft«. Der Leser mag sich vorweg fragen, ob mit den Titeln ›Transzendentalphilosophie‹ und ›Kritik der reinen Vernunft‹ dasselbe oder Verschiedenes gemeint ist, und wenn Verschiedenes, wie das eine sich zum anderen verhalten mag. Tatsächlich enthalten die beiden Einleitungen bezüglich der Begriffe ›Kritik‹ und ›Transzendentalphilosophie‹ keine nennenswerten Differenzen. Unter ›Transzendentalphilosophie‹ versteht Kant in Einleitung A und B »das System aller Principien der reinen Vernunft« (B 27), und die Kritik soll die Propädeutik hierzu sein, nämlich die Entwicklung der vollständigen Idee bzw. des gesamten Planes dieser Transzendentalphilosophie, ohne daß der Plan bereits gänzlich ausgeführt würde. Kant wollte, wie er in der Vorrede zur zweiten Auflage klarstellt, mit seinen Änderungen im Ganzen ohnehin nur gewisse Dunkelheiten in der Darstellungsweise der ersten Auflage beheben (vgl. B XXXVII). Zwischen der Auflage A und der Auflage B der Kritik der reinen Vernunft liegt die Veröffentlichung von Schriften, die zum Verständnis dessen beitragen, was Kant in der Auflage B gegenüber jener von A klargestellt sehen möchte. 1783 hatte Kant die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik zum besseren Verständnis des Kernanliegens und der Grundzüge der Kritik der reinen Vernunft nachgereicht. 1785 kommt die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heraus; und 1786 legt Kant die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft vor. Damit scheint eingelöst zu sein, was er bereits vor mehr als 20 Jahren dem Kollegen Lambert als in Bälde erfolgend in Aussicht gestellt hatte. In der Vorbereitung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft arbeitet Kant daran, das in der ersten Auflage in der transzendentalen Methodenlehre über Freiheit, Gott und Sittlichkeit Gesagte im Sinne einer gegenüber der Kritik der reinen theoretischen Vernunft gleichgewichtigen und sachlich hinreichenden Kritik der reinen praktischen Vernunft auszudifferenzieren. Am 21. November 1786 erschien in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung (Nr. 276) der (wohl von Kant selbst stammende) Hinweis, daß »zu der in der ersten Auflage enthaltenen Kritik der spekulativen Vernunft in der zweiten Auflage noch eine Kritik

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der reinen praktischen Vernunft hinzukommen [wird], die dann ebenso das Prinzip der Sittlichkeit wider die gemachten oder noch zu machenden Einwürfe zu sichern und das Ganze der kritischen Untersuchungen, die vor dem System der Philosophie der reinen Vernunft vorhergehen müssen, zu vollenden, dienen kann.«2 Diese Kritik der reinen praktischen Vernunft ist Kant wohl in der Vorbereitung der zweiten Auflage dem Umfang nach aus den Fugen geraten. Die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft erscheint im Frühjahr 1787 deshalb ohne sie. Die neue Vorrede ist »im Aprilmonat 1787« datiert (B XLIV); sie enthält den eindeutigen Hinweis: »Bis hierher [nämlich nur bis zu Ende des ersten Hauptstücks der transzendentalen Dialektik] und weiter nicht erstrecken sich meine Abänderungen der Darstellungsart« (B XXXVIII f.). Ende Juni desselben Jahres schreibt Kant an Schütz, den Herausgeber der Literaturzeitung: »Ich habe meine Kritik der praktischen Vernunft so weit fertig, daß ich sie denke künftige Woche nach Halle zum Druck zu geben«.3 Die Kritik der praktischen Vernunft ist demnach ganz offensichtlich als Bestandteil der Kritik der reinen Vernunft gedacht und im Zusammenhang von deren Überarbeitung zur zweiten Auflage entstanden. Kant hat, wie gesagt, von Anfang an die Kritik der reinen Vernunft als Entwicklung des gesamten Plans der Transzendentalphilosophie vom »System aller Principien der reinen Vernunft« als vollständig ausgeführtem Plan der Transzendentalphilosophie klar und deutlich unterschieden sehen wollen. Was nicht so klar ist, und auch in der Kantliteratur nicht immer klar in Erscheinung tritt, ist dagegen Kants Unterscheidung von ›Transzendentalphilosophie‹ und (kritischer) ›Metaphysik‹. Kant hat nach der ›Kritik‹ dem Publikum ein transzendentalphilosophisches System sowohl der spekulativen als auch der praktischen Weltweisheit zu liefern in Aussicht gestellt.4 Bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt er: »Ein solches System der reinen (speculativen) Vernunft hoffe ich unter dem Titel: Metaphysik der Natur selbst zu liefern« (A XXI). Geliefert hat Kant allerdings nur noch die Metaphysik der Sitten; die Metaphysik der Natur, zu der er 1786 die Metaphysischen Anfangsgründe publizierte, blieb Projekt. Die naturphilosophische Grundlegungsschrift von 1786 belegt Kants eindrucksvollen Versuch, »den Bereich apriorischer Grundsätze der Physik noch über das in der Kritik der reinen Vernunft Gesagte hinaus zu erweitern und näher zu bestimmen«.5 Worin diese Erweiterung und nähere Bestimmung im wesentlichen

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Zitiert nach Karl Vorländer: Einleitung (zu Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft), XIV. 3 Zitiert nach Vorländer: Einleitung, XV. 4 Vgl. Kants Brief an Bering vom 7. April 1786 (AA 10,441); vgl. Karl Vorländer: Einleitung, XIII. 5 Günther Patzig: Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?, 13.

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besteht, macht eine von vielen überlesene Unterscheidung deutlich, die sich in der Einleitung B am Ende des 1. Abschnitts findet (B 3): »Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann.« Kant unterscheidet also reine synthetische Urteile apriori von nichtreinen synthetischen Urteilen a priori.6 Reine synthetische Urteile a priori enthalten ausschließlich apriorische Begriffe; in nichtreinen synthetischen Urteilen a priori sind auch Begriffe im Spiel, die »nur aus der Erfahrung gezogen werden können« (B 3). Was Kant an kritischer materialer Metaphysik entwickeln wird, als Metaphysik der Natur und als Metaphysik der Sitten, hat ganz wesentlich mit nichtreinen synthetischen Urteilen a priori zu tun, in denen elementare Erfahrungsbegriffe, mit denen wir die Natur und den Menschen beschreiben, in Sätze eingehen, die einen Geltungsanspruch erheben, der nicht empirisch begründbar ist. Unter ›Transzendentalphilosophie‹ will Kant dagegen eine Wissenschaft verstanden wissen, die lediglich aus analytischen und reinen synthetischen Urteilen a priori besteht, eine Wissenschaft, in die »gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches enthalten« (A 14/B 28). Doch mit diesem Hinweis zur Unterscheidung von Transzendentalphilosophie und (kritischer) Metaphysik habe ich schon etwas weit vorgegriffen; kommen wir auf die einführende Erläuterung von Kants philosophischem Grundanliegen zurück.

3. Kritik als besondere Wissenschaft. Organon und System

Mit der Kritik der reinen Vernunft verfolgt und realisiert Kant (jedenfalls im Umriß) die Idee einer »besonderen Wissenschaft« (A 10/B 24). ›Besonders‹ ist an ihr, daß nach Kants Auffassung niemand sie bisher konzipiert und realisiert hat. Und besonders ist an ihr, daß sie in der bestehenden Ordnung der Wissenschaften eine ganz eigene Stellung zwischen der rein formalen, von allem Inhalt und Gegenstandsbezug abstrahierenden Logik und den materialen Wissenschaften von der Welt einnimmt. Kant kennzeichnet sie als »Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen« (A 11/B 25). Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Wissenschaft von der Struktur des reinen apriorischen theoretischen und praktischen Wirklichkeitsbezugs unserer Vernunft. Vernunft ist für Kant in diesem Zusammenhang das Vermögen, »welches die Principien der Erkenntnis a priori an 6

Vgl. Konrad Cramer: Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants.

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die Hand gibt« (A 11/B 24). Unter »Erkenntniß a priori« versteht er nichtempirische Erkenntnis, ein, wie er sich ausdrückt, »von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntniß« (B 2). Daß es solche Erkenntnis gibt, ist uns aus der formalen Logik und der reinen Mathematik hinreichend vertraut. Beide sind, auch nach landläufigem Verständnis, keine empirischen Wissenschaften. Doch Kant hat mit seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht primär diese unumstritten nichtempirischen theoretischen Disziplinen, er hat etwas Neues im Auge. Er äußert eingangs der Einleitung B die Vermutung, »daß selbst Erfahrungserkenntniß ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnißvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergiebt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat.« (B 1 f.) Kant interessiert also mit seiner besonderen Wissenschaft einer Kritik der reinen Vernunft die Erfassung und Erläuterung des Nichtempirischen im Empirischen, sei es in Aussagen, in denen die Welt beschrieben und erklärt wird, sei es in Sätzen, in denen uns etwas zu tun oder zu unterlassen geboten oder empfohlen wird. Und der Schwerpunkt der Kritik liegt zunächst auf der ersten Art von Sätzen. Kant bemüht zur Verdeutlichung seines neuen Anliegens und Vorhabens das alte Aristotelische Verstehensmodell von Stoff und Form. Das ›Gebilde‹ veritabler Erfahrungserkenntnis ist etwas aus Form und Materie Zusammengesetztes, das Ergebnis eines Zusammenspiels dessen, was die Sinne uns rezeptiv an Eindrücken von der Welt liefern und dessen, was wir aktiv über Leistungen unserer Erkenntnisvermögen zur epistemischen Formung, Strukturierung und Buchstabierung des Materials der Eindrücke beitragen. Doch Kant interessiert bei seiner besonderen Wissenschaft in theoretischer Hinsicht nicht alles an diesem unserem Beitrag, sondern nur ein ganz bestimmter Zusatz. Vieles tragen wir zur epistemischen Erfassung von aktuellen Eindrücken bei, was wir aus individueller und kollektiver Erfahrung beizutragen gelernt haben, sei es bewußt, sei es unbewußt. Die Assoziations-, die Gestalt-, die Kulturpsychologie und andere Disziplinen mehr mögen uns darüber belehren. Nicht dies interessiert. Kant interessiert vielmehr jener nicht zeitlich, sondern sachlich vorgängige, apriorische Zusatz, der in aller menschlichen Erfahrungserkenntnis, aller bestimmten Erfahrung vorgängig, notwendigerweise als formendes Element im Spiel ist, wenn von einer gelungenen empirischen Erkenntnis mit Anspruch auf objektive Geltung die Rede sein soll. Es sei hier nur angedeutet, was mit diesem apriorischen Zusatz gemeint ist: Wir gliedern, was die Eindrücke uns bekunden, nach dem Ordnungsmustern von Vorher, Nachher und Gleichzeitig, von Ineinander und Außereinander, von Ding und

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Eigenschaften, von Ursache und Wirkung etc. So muß ich etwa, um ein Erfahrungsobjekt als wirklich behaupten und von bloß Fiktivem unterscheiden zu können, ihm seine Raum-Zeitstelle zuweisen, es mit anderem bereits Bekannten verbinden und in die Ordnungsmuster der Kausalität integrieren können. Diese Ordnungsgesichtspunkte sind definierende Wesensbestandteile von Erfahrungserkenntnis. In Kants Sprache gesprochen: Es sind keine Erfahrungsgegebenheiten, sondern machen, was unter Erfahrungserkenntnis zu verstehen ist, allererst möglich. Und diese Gesichtspunkte gilt es zu untersuchen. Von ihnen und ihrem Gefüge und von ihrer Beziehung zu Logik und Mathematik ist auf dem Wege transzendentaler Analyse und Reflexion eine Wissenschaft möglich. Das epistemische Vermögen, diese Gesichtspunkte zu liefern ebenso wie zu reflektieren, nennt Kant reine Vernunft (A 10 f./B 24): »Daher ist reine Vernunft diejenige, welche die Principien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält«. Die Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen nennt Kant ›Kritik der reinen Vernunft‹ (A 11/B 25). Ihr der Idee nach abschließbar erzielbares objektiv gültiges Reflexions- und Beurteilungsergebnis wäre ein ›Organon der reinen Vernunft‹. Die Rede vom ›Organon‹ erinnert an das Œuvre des Aristoteles. Enthielt das Aristotelische Organon nach Kants Sicht der Dinge nur rein formale Elemente der Logik und wissenschaftlichen Argumentation, so soll sein eigenes ›Organon der reinen Vernunft‹ dem Ziel nach alle rein apriorischen Elemente des geordneten Bezugs der theoretischen und praktischen Vernunft auf Gegenstände der Erfahrung ebenso wie Kriterien seiner Unterscheidung vom ungeordneten Bezug auf Gegenstände überhaupt enthalten. Dies »würde ein Inbegriff derjenigen Principien sein, nach denen alle reine Erkenntnisse a priori erworben und wirklich zu Stande gebracht werden« (A 10/B 24 f.). Die Betonung liegt hier auf ›alle reine Erkenntnisse a priori‹. Vom Organon als bloßem Prinzipien-Instrument zur Erstellung reiner apriorischer Erkenntnisse ist der Einsatz des Instruments und das erfolgreiche Erzielen, Sammeln und abschließende Ordnen reiner apriorischer Erkenntnisse überhaupt zu unterscheiden. Dieses letzte epistemische Ziel nennt Kant Tranzendentalphilosophie als »System der reinen Vernunft« (A 10/B 25). Sowohl die philosophische Arbeit an der Erfassung des Organon als auch den Einsatz des Organon in der Arbeit am System kennzeichnet Kant mit dem Ausdruck ›transzendental‹. Transzendentales Philosophieren ist nicht selbstvergessen objektbezogenes, sondern in seiner Objektbezogenheit reflexives, auf die rein apriorischen Elemente des Gegenstandsbezugs reflektierendes Denken. Es geht in ihm nicht darum, in direktem Zugriff auf den Gegenstand zu erfassen, was etwas ist und warum es so ist, wie es ist (oder sein soll). Es geht ihm vielmehr darum, zu erfassen, ob und wie und inwieweit es möglich ist, zu erkennen, daß und warum etwas so ist, wie es ist (oder sein soll). Und dies auf apriori-

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sche Weise (B 25): »Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« Transzendentalphilosophie klärt also das gesamte Vermögen und die gesamten Leistungen unserer Vernunft im Blick auf »unsere Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt« (A 11 f.). »Ein System solcher Begriffe würde Transscendental-Philosophie heißen« (B 25). Nun möchte Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft nicht Organon und System der reinen Vernunft in einem liefern. Dies wäre, wie er sagt, für den Anfang zu viel, müßte dies doch alle analytische Erkenntnis a priori und alle reine synthetische Erkenntnis a priori umfassen. Mit den analytischen Vernunftleistungen möchte er sich in der Kritik nur so weit befassen, als es »unentbehrlich nothwendig ist, um die Principien der Synthesis a priori, als worum es uns nur zu thun ist, in ihrem ganzen Umfange einzusehen« (A 12/B 25 f.). Die Rede von »Principien der Synthesis a priori […] in ihrem ganzen Umfange« läßt bewußt offen, was alles mit diesen Prinzipien der Synthesis noch an nichtreinen apriorischen Erkenntnissen, d. h. an Metaphysik im kritischen Sinn zu erzielen ist. Die Kritik der reinen Vernunft liefert nur das Organon und nur die Umrisse des Systems, nicht aber das ausgeführte System der reinen Erkenntnisse a priori. Sie ist, wie es in der Vorrede B heißt (B XXII f.), »ein Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst; aber sie verzeichnet gleichwohl den ganzen Umriß derselben, sowohl in Ansehung ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliederbau derselben«. Die Grenze zwischen Transzendentalphilosophie und kritischer Metaphysik ist in der Kritik der reinen Vernunft nicht immer klar gezogen. Transzendentalphilosophie (im engen Sinn) ist nach Kants eigenen Worten auf den reinen Teil der apriorischen Erkenntnisse beschränkt. Deshalb soll die Moralphilosophie nicht umstandslos zur Transzendentalphilosophie gerechnet werden (B 28 f.; vgl. A 14 f.): »Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transscendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesammt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hinderniß, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, nothwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen.«

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4. Das Grundproblem: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?

Die leitende Aufgabe, die Kant sich mit seiner Kritik stellt, ist die Beantwortung der Frage (B 22): »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?«. Und er formuliert auf philosophisch-kunstsprachliche Weise das dabei zu lösende Grundproblem mit der Frage (B 18): »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«7 Diese Frage zielt nicht auf eine Erklärung, wie wir Menschen dazu kommen, synthetisch-apriorische Urteile zu fällen; sie zielt auf die epistemische Berechtigung solcher Urteile. Kant sieht in der Frage der epistemischen Legitimität dieser Urteilsart das zentrale Problem, weil er sieht, daß in der Metaphysik, sei es als bloß versuchter, sei es als wirklicher Wissenschaft, diese Urteilsart notwendigerweise eine, ja die tragende Rolle spielt (vgl. B 18); und weil er sieht, daß die Transformation überkommener Metaphysik in eine solche mit begründetem Wissensanspruch nur möglich ist, wenn die Legitimitätsfrage bezüglich synthetischer Urteile a priori positiv und im »Wie« überzeugend beantwortbar ist. Was ist mit der technischen Formel »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« näherhin gemeint? Kant unterscheidet analytische von synthetischen Urteilen. Analytische Urteile, so Kant (A 5 f./B 9), sind das Ergebnis von »Zergliederungen der Begriffe, die wir schon haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur aus einander setzen.« Über die Wahrheit analytischer Urteile kann man durch bloßes Nachdenken entscheiden; die Entscheidung bedarf nicht der Berufung auf Erfahrung. Kant geht, wie zuvor schon Platon und Aristoteles, von der logisch-grammatischen SubjektPrädikat-Struktur des Satzes als der Fundamentalstruktur eines Aussagesatzes aus: Etwas wird von etwas ausgesagt. In einem solchen Satz wird der Prädikatbegriff zum Subjektbegriff in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt bzw. als in einem bestimmten Verhältnis stehend behauptet. Und dieses Verhältnis, so Kant, ist auf zweierlei Art möglich (A 6/B 10): »Entweder das Prädicat B gehört zum Subject A als etwas, was in diesem Begriff A (versteckter Weise) enthalten ist« – man könnte auch ›technisch‹ sagen: was Bestandteil des Definiens der Definition von A ist; »oder B liegt ganz außer dem Begriff von A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urtheil analytisch, in dem andern synthetisch« (ebd.). Analytisch wäre demnach der Satz ›Ein Junggeselle ist unverheiratet‹; synthetisch wäre der Satz ›Sokrates sitzt‹. Das Prädikat des ersten Satzes ist Bestandteil der Definition des 7

Vgl. auch A 10 und Prol A 24 ff.; 30 f.=AA 4,266 f.; 270.

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Subjektbegriffs. Das Prädikat des zweiten Satzes steht zwar, wie Kant metaphorisch sagt, mit seinem Subjektbegriff in Verknüpfung; der Satz behauptet ja, daß dem Sokrates (zum Zeitpunkt tx) das Sitzen zukommt; aber dies, daß Sokrates sitzt, kann nicht durch eine Analyse des Subjektbegriffs erfaßt werden. Der Ausdruck ›Sokrates‹ bezeichnet einen bestimmten Menschen. Im Begriff eines Menschen sind zwar die Möglichkeiten des Sitzens, Stehens, Liegens oder Lehnens dieser Art von Körpern enthalten, und diese Möglichkeiten ließen sich in Form analytischer Sätze a priori behaupten. Aber nicht dies ist im Begriff eines Menschen, oder im Begriff eines bestimmten Menschen enthalten, daß er gerade sitzt. Um den Satz ›Sokrates sitzt‹ wahrheitsgemäß behaupten zu können, bedarf es nicht nur der Beherrschung der deutschen Sprache und des Verstehens des Begriffs des Menschen und des Eigennamens ›Sokrates‹, sondern der Legitimation durch anderes, in unserem Fall letztlich durch sinnliche Erfahrung, die wir und jedermann sonst, bezogen auf den Menschen Sokrates, zum Zeitpunkt tx machen können. Löst man Kants Erläuterung des Begriffs analytischer Urteile vom Paradigma eines Satzes mit Subjekt-Prädikatstruktur, so kann man sagen, daß analytisch all jene Sätze sind, über deren Wahrheit allein im Rekurs auf die Regeln der Logik und Semantik einer Sprache entschieden werden kann. Und als synthetisch wären all jene Sätze zu bezeichnen, bei denen dies nicht möglich ist. Analytische Urteile sind erläuternd, synthetische Urteile erweiternd. Zu den synthetischen Urteilen gehören alle sogenannten Erfahrungsurteile (B 11). In einem Erfahrungsurteil gehen wir über den Begriff, den wir von einem Gegenstand haben, hinaus und erweitern unser Urteil über ihn durch Bestimmungen, von denen wir durch Beobachtung und sinnliche Wahrnehmung des über den vorgängigen Begriff identifizierbaren Gegenstandes Kenntnis erhalten. Erfahrungsurteile sind synthetische Urteile a posteriori. Wie aber, so lautet für Kant die alles entscheidende Frage, sollen synthetische Urteile a priori möglich sein? Kennzeichen analytischer Urteile ist ihre allgemeine und notwendige Geltung. Kennzeichen synthetischer Urteile a posteriori ist ihre bloß faktische, ihre kontingente Geltung. Sinnliche Wahrnehmung als Wahrnehmung von Einzelnem, auch wiederholte sinnliche Wahrnehmung als Wahrnehmung von gleichem und ähnlichem Einzelnem legitimiert uns nur, zu sagen, daß etwas einmalig oder regelmäßig so oder so ähnlich der Fall ist, aber niemals, daß es jetzt so oder stets so der Fall sein muß, wie es ist. Synthetische Urteile a priori sollen nun mit den analytischen den legitimen Anspruch allgemeiner und notwendiger Geltung teilen; dieser Anspruch kommt ihnen aufgrund ihrer Apriorität zu. Aber gleichwohl sollen sie erweiternd, nicht bloß erläuternd, nicht bloß aus rein logisch-semantischen Gründen wahr sein. Kants Beispiel eines synthetischen Urteils a priori (es handelt sich übrigens um ein nichtreines synthetisches Urteil a priori) in der Einleitung ist (A 9/B 13): »Alles, was geschieht, hat seine Ursache«. Kants Argument, daß es sich hier um ein

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synthetisches Urteil a priori handelt, ist einmal das Merkmal seines notwendigen und universellen Geltungsanspruchs, mit dem es etwa die Physiker, aber auch der Alltagsverstand gebrauchen, und zum anderen der Gedanke, daß der Begriff der Ursache bzw. des Verursachtseins, genauer, des notwendigen Verursachtseins nicht einer Analyse des Begriffs des Geschehens zu entnehmen ist. Der Begriff des Geschehens impliziert die Zeitvorstellung und die Vorstellung der Veränderung, d.h. die Vorstellung, daß einige Attribute, die einem Gegenstand zum Zeitpunkt t1 zukommen, diesem Gegenstand zum Zeitpunkt t2 nicht mehr zukommen etc. Er impliziert nicht den Gedanken, daß diese Veränderung des Gegenstandes in t2 sich aus dem Zustand des Gegenstandes in t1 und den Randbedingungen, denen er in t1 ausgesetzt ist, nach (empirisch zu eruierenden und validierenden) Verlaufsgesetzen ergibt. Dies ist eine Vorstellung, die den Begriff des Geschehens erweitert. Nun mag dies ja durchaus bei diesem Beispiel zutreffen; und bis hierher hätte auch ein David Hume der Kantischen Interpretation wohl zugestimmt. Die entscheidende Frage ist: Was gibt dem apodiktischen Geltungsanspruch dieses Beispielsatzes seine Berechtigung? Nun, Hume würde sagen, wir werden zu solchem Geltungsanspruch über psychische Assoziationsmechanismen der Erfahrung von Regularitäten verführt. Kants Antwort auf diese Frage ist dagegen die eines Wesenstheoretikers. Sie wird in dem Nachweis bestehen, daß dieser Satz, zusammen mit anderen derartigen Sätzen, das vorgängige Bedingungsgefüge ausmacht, das gelten muß, wenn so etwas wie Erfahrungserkenntnis (etwa im Sinne der Newtonschen Physik, oder auch im Sinne unseres Alltagsverständnisses) überhaupt möglich sein soll. Dieser Satz, so Kant, stellt ein konstitutives Element des wesenhaften und normativen Rahmens aller Erfahrungserkenntnis dar. D. h. ich meine mit Erfahrungserkenntnis einen Kausalzusammenhang und kann nur dann veritable Erkenntnis bezüglich eines Gegenstandes der Erfahrung beanspruchen, wenn ich sein Dasein und Sosein nach Kausalgesetzen erklären kann. Daß solche Erklärungen im Alltag meist sehr elliptisch ausfallen, versteht sich von selbst, nimmt aber dem Anspruch nichts von seiner prinzipiellen Valenz. Ereignisse in Raum und Zeit, so Kant, sind nur unter der Bedingung Gegenstand einer theoretischen Erkenntnis und Erkenntnisbemühung, daß sie in einen kausal bestimmten Ereigniszusammenhang eingeordnet werden können. Kant hat eine Vorstellung vom Wesen der Erfahrungserkenntnis und eine Vorstellung von notwendigen Elementen dieses Wesens. Das Merkmal, daß ein Grundsatz ein Element dieses Wesens ausmacht, ist dies, daß der Satz mit dem Anspruch auf notwendige und ausnahmslose Geltung auftritt und Gewißheit beansprucht wie etwa, schon im Alltagsverstand, das Kausalprinzip in bezug auf alles Geschehen. Gerechtfertigt wird der Grundsatz dann durch den Nachweis seiner »Unentbehrlichkeit zur Möglichkeit der Erfahrung selbst« (B 5), d.h. durch den Nachweis, daß der Begriff der Erfahrungserkenntnis ohne diesen Grundsatz nicht konsistent und

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sinnvoll zu denken ist. Solche Rechtfertigung ist nicht auf empirischem Wege möglich (ebd.): »Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig wären; daher man diese schwerlich für erste Grundsätze gelten lassen kann.« Kant zieht nun ein Resümee dieser Unterscheidungen und formuliert eine markante These. Das Ziel – das gesamte Ziel unserer spekulativen, d. h. theoretischen Vernunfterkenntnis a priori – besteht in der Erkenntnis solcher synthetischer Urteile a priori (A9 f./B13); denn, so die Überschrift eines aus den Prolegomena (§ 2c) in die Einleitung B neu übernommenen fünften Kapitels (B14): »In allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische Urtheile a priori als Principien enthalten.« Kant belegt diesen Gedanken durch drei Paradedisziplinen spekulativer Vernunfterkenntnis: die Mathematik, die Physik und die Metaphysik. Urteile der reinen Mathematik, gemeint sind die Sätze der Euklidischen Geometrie, der Arithmetik und der Algebra, so Kant, »sind insgesammt synthetisch« (B 14). Als Beispielsatz für die Arithmetik dient ihm der triviale Satz »7 + 5 = 12«; als Beispielsatz für die Geometrie der Satz, daß »die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei« (B 16). Kants Argument ist jeweils, daß die Wahrheit dieser Sätze nicht über eine Zergliederung der in ihnen enthaltenen Begriffe, sondern nur über ein Zusammenspiel von Begriff und Anschauung einleuchtet. Ja, mathematische Begriffe enthalten Konstruktionsanweisungen bzw. sind nichts anderes als Regeln der Konstruktion eines Begriffs in der (reinen) Anschauung. Die Frage also, worauf die legitime Beanspruchung objektiver, ja notwendiger Gültigkeit mathematischer Sätze als synthetischer Urteile a priori beruht, läßt sich so beantworten, daß die hier behaupteten Sachverhalte als (notwendig) bestehende Begriffsverhältnisse anhand einer (jederzeit wiederholbaren) Konstruktion der entsprechenden Begriffe in der Anschauung demonstrierbar sind und sein müssen. Als Beispiele für synthetische Sätze a priori einer reinen Naturwissenschaft nennt Kant das Trägheitsgesetz (B 21 Fn), sowie den Satz, »daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der Materie unverändert bleibe« (B 17; B 21 Fn), und schließlich den Satz, »daß, in aller Mittheilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen« (ebd.). Es sind dies Sätze, die in der Physik Newtons, in dessen Philosophiae naturalis principia mathematica von 1687 als gültig vorausgesetzt werden, und die, wenn ich recht sehe, zum Teil auch heute noch, etwa in Form des Energieerhaltungssatzes, ihre Gültigkeit beanspruchen. Kant sah es als Tatsache, ja als beweisbare Tatsache an, daß Mathematik und Naturwissenschaft synthetische Urteile a priori, Mathematik nur reine synthetische Urteile a priori, reine Naturwissenschaft auch nichtreine synthetische Urteile a priori enthalten, und daß der Wissenschaftscharakter dieser Disziplinen nicht in Frage steht. Seine Frage ging deshalb nicht dahin, ob es synthetische Urteile a priori

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mit legitimem Geltungsanspruch gibt; sie ging vielmehr dahin, worauf es beruht, daß diese Urteile objektiv gültig sind. Der logische Positivismus des vergangenen Jahrhunderts hat als Quelle veritabler Erkenntnis dagegen nur Logik und Erfahrung anerkannt. Die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori wird von ihm strikt geleugnet: Alle wissenschaftlich seriösen Sätze seien entweder analytisch/a priori oder synthetisch/a posteriori; ›tertium non datur‹. Die Frage nach Existenz und Berechtigung synthetischer Urteile a priori wird in der Wissenschaftstheorie heute nach wie vor kontrovers diskutiert. Klar scheint zu sein, daß alle Naturwissenschaften auf ihrer Prinzipienebene mit synthetisch-apriorischen Annahmen operieren, und daß ihre allgemeinen Gesetzesannahmen durch Erfahrungssätze (vorläufig) bestätigt oder (definitiv) widerlegt, nicht aber begründet werden können. Klar scheint auch zu sein, daß die Mathematik ihrerseits von Grundsätzen abhängig ist, die nicht aus der Logik allein zu gewinnen sind.8 Allerdings wird für diese synthetisch-apriorischen Annahmen nicht mehr wie bei Kant Anschauungsevidenz in Anspruch genommen. Ihr Geltungsstatus ist konventionell bzw. rein hypothetisch, nicht apodiktisch und auf Evidenz gegründet.

5. Die Metaphysik ›der Schule‹ und die Metaphysik des ›einfachen Menschen‹

Reine Mathematik und reine Naturwissenschaft erfüllen für Kant eine Brückenfunktion zum Verständnis und zur Beantwortung der Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Die Ausgangssituation für die Beantwortung der Frage, wie Metaphysik möglich sei, sieht grundsätzlich anders aus als jene für reine Mathematik und reine Naturwissenschaft. Sind diese anerkannte wissenschaftliche Disziplinen, so gibt jene durch ihren bisherigen schlechten Fortgang allen Anlaß, »einen jeden mit Grunde an ihrer Möglichkeit zweifeln zu lassen« (B 21). Die Metaphysiker der philosophischen Schulen liegen miteinander in beständigem Streit, der sich allem Anschein nach nicht mit zwingenden Vernunftargumenten beilegen läßt. Andererseits, so Kant, ist Metaphysik zwar nicht als wissenschaftliche Disziplin, wohl aber als Naturanlage wirklich und in der Aktualisierung dieser Naturanlage wohl auch nicht aus der Welt zu schaffen (B 21): »Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfniß getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Principien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen zur Speculation erweitert, irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben.« 8

Vgl. Günther Patzig: Immanuel Kant: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?, 27.

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Ein der Vernunft eigenes Bedürfnis macht Metaphysik als Naturanlage möglich und zu aller Zeit, wenn Menschen einmal theoretisch zu denken begonnen haben, wirklich. Kant weiß sich mit diesen Gedanken in einer langen Tradition philosophischer Interpretation des menschlichen Selbstverständnisses: Vernunft greift aus nach dem Unbedingten. Sie sucht den Abschluß, die Totalität der Bedingungen in der Erklärung der Phänomene der äußeren und inneren Welt und sie sucht die Totalität der Bedingungen eines sinnvollen Selbstverständnisses im Verlangen nach persönlichem Glück und nach Gerechtigkeit in der Welt. Solches Ausgreifen der Vernunft übersteigt den Rahmen möglicher Erfahrung, der uns Menschen schon durch die Struktur von Raum und Zeit als formalem Bedingungsgefüge möglicher materialer Erfahrung und durch die Zeitlichkeit unseres Daseins gezogen ist. Kant zentriert dieses Ausgreifen der Vernunft auf das Unbedingte thematisch in der Vorrede B in der dreigliedrigen Formel »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« (B XXX). Um diese Themen bemüht sich der gemeine Menschenverstand, um sie bemühen sich die Philosophen. Viele der letzteren versuchen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit mit subtilen Argumenten zu beweisen, die Unsterblichkeit etwa über den Gedanken der Einfachheit der Seelensubstanz oder das Dasein Gottes über den Begriff eines allerrealsten bzw. eines vollkommenen Wesens (vgl. B XXXII). Diese Beweise erleiden ein zweifaches Schicksal: Sie übersteigen in ihrer spekulativen Subtilität die Fassungskraft des breiten Publikums und sie rufen stets ähnlich starke und subtile theoretische Argumente der professionellen Gegner auf den Plan. Dieses Schauspiel der Philosophen besitzt, da die Themen das menschliche Selbstverständnis in seinem Kern berühren, für das breite, inzwischen ja schon weitgehend zum Lesen befähigte Publikum alle Züge eines Skandals. Um »dem Skandal vorzubeugen, das über kurz oder lang selbst dem Volke aus den Streitigkeiten aufstoßen muß, in welche sich Metaphysiker […] verwickeln« (B XXXIV), sieht Kant eine zweifache Strategie geboten: einmal eine ›professionelle‹, d.h. philosophisch durchdringende Prüfung, eine Kritik der Möglichkeiten und Grenzen theoretischer Vernunftleistungen, die, wie er sagt, die elitäre Anmaßung und »den lächerlichen Despotismus der Schulen« (B XXXV) auf ihrem eigenen wissenschaftlichen Niveau ein für allemal bricht und zum anderen eine Kultur der »allgemein faßlichen und in moralischer Hinsicht hinreichenden Beweisgründe« (B XXXIII), die der »jedem Menschen bemerkliche[n] Anlage seiner Natur« (B XXXII) zu metaphysischen Fragen entsprechen. Kant deutet in der Vorrede B in kurzen, prägnanten Worten diese Anlage und die »in moralischer Hinsicht hinreichenden Beweisgründe« nur an, die dann in der Kritik der praktischen Vernunft, in der Kritik der Urteilskraft und in der Religionsschrift (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) ihre argumentative Ausgestaltung erfahren. So führt einmal die Anlage unserer Natur, »durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen Bestimmung unzulänglich) nie zufriedengestellt

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werden zu können« zur »Hoffnung eines künftigen Lebens«; so führt zweitens unsere »Anlage zur Persönlichkeit« (vgl. RGV B 15-19 = AA 6, 26–27) über »die bloße klare Darstellung der Pflichten im Gegensatze aller Ansprüche der Neigungen« zum »Bewußtsein der Freiheit«; so führt schließlich unser Sinn für Ordnung, Schönheit und Zweckmäßigkeit im Blick auf »die herrliche Ordnung, Schönheit und Fürsorge, die allerwärts in der Natur hervorblickt«, zum »Glauben an einen weisen und großen Welturheber« (vgl. B XXXIII). Und Kant deutet in ebenso kurzen, prägnanten Worten die Legitimationsquelle an, durch die der menschlichen Vernunft, obgleich ihr die theoretische Erkenntnis von Unbedingtem in der Erfahrungswirklichkeit verwehrt ist, gleichwohl auf der Basis praktischer Erkenntnis und Bejahung von Unbedingtem eine theoretische Bestimmung von Übersinnlichem im Sinne eines reinen Vernunftglaubens bezüglich Gott, Freiheit, Weltganzem, Substantialität und Unsterblichkeit der Seele möglich ist. Er sagt (B XXI): »Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der speculativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise, dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen.« Diese in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori bilden für sich betrachtet eine schlichte, allen normalsinnigen Menschen faßliche Metaphysik. Der Besitz der sie definierenden Überzeugungen im Sinne kanonischer Dogmen eines reinen Vernunftglaubens bleibt durch das subtile philosophische Geschäft einer durchdringenden Kritik nicht nur »ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch an Ansehen, daß die Schulen nunmehr belehrt werden, sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige ist, zu der die große (für uns achtungswürdigste Menge) auch eben so leicht gelangen kann« (B XXXIII). Die genannten metaphysischen Überzeugungen des »einfachen Menschen« – Rousseau hat dies Kant in den 60er Jahren beigebracht – sind von subtiler philosophischer Spekulation unabhängig und müssen gegen diese durch strenge wissenschaftliche Kritik und durch eine Kultur der allgemeinen Menschenvernunft geschützt werden. Fassen wir zusammen: Die Frage »Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich?« ist zu beantworten über eine Erklärung, wie metaphysische Fragen ganz unausweichlich »aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft« entspringen (B 21). Sie entspringen, so die hier nur plakativ zu gebende Antwort, aus dem (legitimen) Totalitätsverlangen der Vernunft, alles zu erkennen, immer zu sein und mit dem Leben und der Welt im Ganzen einverstanden zu sein. Vielleicht hat Thomas von Aquin

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in seiner Summa contra Gentiles diesem Totalitätsverlangen menschlicher Vernunft und seiner notwendigen Enttäuschung im zeitlichen Dasein den philosophisch überzeugendsten Ausdruck verliehen. Vernunft verwickelt sich, so Kants durch die religiösen und philosophischen Weltanschauungskämpfe der frühen Neuzeit und der Aufklärung, durch den philosophischen Rationalismus und die philosophische Skepsis gleichermaßen geschulte und belehrte Einsicht, als rein theoretische Vernunft, im Überstieg über den Bereich möglicher menschlicher Erfahrung, sei es im Rahmen des Alltagsverstandes, sei es im Rahmen schulmäßiger Philosophie, bei der Beantwortung metaphysischer Fragen in unvermeidliche und unauflösliche Widersprüche. Das Bedürfnis der überzeugenden Auflösung dieser Widersprüche führt zur Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Die Antwort lautet: Sie ist möglich auf dem Weg der Kritik der Leistungsfähigkeit des gesamten menschlichen Erkenntnisvermögens mit dem Ergebnis einer transzendentalphilosophisch geläuterten und vermittelten Metaphysik der Erfahrungserkenntnis und der Natur, die zugleich eine Lehre von den »bestimmten und sicheren Schranken« rein spekulativer Vernunfttätigkeit darstellt. Metaphysik ist zum anderen möglich als Metaphysik des »einfachen Menschen«, bzw. des allgemeinen sittlichen Bewußtseins; d. h. sie ist möglich im Sinne eines Kanons von positiven Überzeugungen eines reinen Vernunftglaubens bezüglich erfahrungstranszendenter Sachverhalte, von unverzichtbaren theoretischen Annahmen, die die Vernunft unseres moralischen Selbstverständnisses als gegeben und erfüllt postuliert, die sich »auf allgemein faßliche und in moralischer Hinsicht hinreichende Beweisgründe« stützen und die den Anlagen und dem Interesse unserer Natur als eines vernünftigen moralitätsfähigen und glücksbedürftigen Sinnenwesens entsprechen. Es wirkt immer noch nach, daß Vertreter des Neukantianismus Kants positive Metaphysik der gemeinen Menschenvernunft, die er in Form von theoretischen Postulaten des praktisch-moralischen Selbstverständnisses, als unverzichtbare Überzeugungen eines reinen Vernunftglaubens formuliert, schlicht ignorierten und Kants Kritik der reinen Vernunft auf eine Prinzipientheorie der Mathematik und exakten Naturwissenschaft reduzierten. Ein kleines, aber vielleicht doch sprechendes Zeichen des Nachwirkens dieser Tradition mag sein, daß der neueste Textkommentar zur Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft von Konrad Cramer mit gewohntem Scharfsinn und penibler Genauigkeit auf das Verständnis von Kants Formel »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« eingeht, doch dann Kants Bemerkungen über Metaphysik als Naturanlage schlicht übergeht und den Passus der Einleitung ab B 21 ganz einfach unkommentiert läßt.9 9

Konrad Cramer: Die Einleitung (A 1/B 1-A 16/B 30); eine kurze Erwähnung der Frage gibt es ebd. 65.

II. Zur ›transzendentalen Ästhetik‹

Kants Apologie der Sinne Die Erfindung der ›transzendentalen Ästhetik‹ im Kontext ihrer Zeit von Clemens Schwaiger

1. Kants Anknüpfung an bzw. Abgrenzung von Baumgartens Ästhetik

Die Idee zur Schaffung einer eigenen philosophischen Disziplin namens Ästhetik war bekanntlich eine Sonderentwicklung der deutschen Aufklärung. Alexander Gottlieb Baumgarten, der wohl kreativste Kopf unter den Schülern Christian Wolffs, hat nicht nur die Bezeichnung ›Aesthetica‹ erfunden, sondern auch eine so benannte neue Wissenschaft im akademischen Fächerkanon zu etablieren gesucht. Kant schließlich – das ist ebenfalls hinreichend bekannt – wurde 1781 mit dem ersten thematischen Hauptteil der Kritik der reinen Vernunft zum Schöpfer einer ›transzendentalen Ästhetik‹.1 Die terminologische Kontinuität im Disziplinentitel als solchen darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß von Baumgarten zu Kant keine geradlinige, bruchlose Entwicklung führt. Kant selbst hat nach Auskunft gleich der ersten Fußnote zur Transzendentalen Ästhetik hier eine tiefe Zäsur zu seinem Vorgänger gesehen. Baumgartens Innovation sei eine vergebliche Bemühung, der eine verfehlte Hoffnung zugrunde liege. Es sei sogar besser, die Benennung wieder eingehen zu lassen, wenn man sie nicht einer wahren Wissenschaft vorbehalte (vgl. A 21 Fn/B 35 f. Fn). Kann man aus heutiger Rückschau diese vernichtende Einschätzung so uneingeschränkt stehenlassen? Ist Baumgarten sozusagen eine Art ›philosophischer Archäopteryx‹,2 der, von der späteren Entwicklung überholt, lediglich noch als frühgeschichtliches Fossil eine gewisse Kuriosität für sich beanspruchen kann? Oder gibt es bei allen wesentlichen Unterschieden nicht auch grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen der Baumgartenschen Urästhetik und ihrem revidierten Kantschen Nachfolger? Es soll im folgenden durch einen eingehenderen Vergleich der beiden Ästhetikmodelle gezeigt werden, wie die spezifischen Charakteristika von Kants Theorie der Sinnlichkeit allererst aus der intensiven Auseinandersetzung mit Baumgartens bahnbrechendem Erstentwurf erwachsen sind.3 1

Für einen ersten lexikalischen Überblick zu den Ursprüngen der Ästhetik sei verwiesen auf Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch; Hermann Wiegmann: Ästhetik. 2 Dieses ausdrucksstarke Bild gebraucht Alexander Aichele: Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklärung der Aufklärungsethik, 3. 3 Eine methodisch z. T. ähnliche Konfrontation beider Ästhetiktheorien unternimmt jüngst auch Angelica Nuzzo: Kant and Herder on Baumgarten’s ›Aesthetica‹; dies.: Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility.

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Unerachtet aller Differenzen teilen beide Autoren die Grundüberzeugung, daß das sinnliche Erkennen der Behandlung in einer eigenständigen Wissenschaft sowohl fähig als auch würdig sei. Sie verstehen von der griechischen Wortwurzel ai4sjhta2 (= das sinnlich Wahrgenommene) her die Ästhetik als Lehre der menschlichen Sinnesvermögen überhaupt. Diese ist noch nicht, wie in der heutigen Begriffsverwendung, eingeengt auf eine Lehre vom Kunstschönen.4 Vor allem Kants Neuerfindung einer transzendentalen Ästhetik setzt sich vehement von der gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits vorherrschend gewordenen Auffassung der Ästhetik als Philosophie der schönen Künste ab.5 Auch Baumgarten selbst kommt bei der ursprünglichen Definition seiner Erfindung ohne Rückgriff auf die schönen Künste aus. Die Ästhetik sei die Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis. Erst um seine neue Kreation dann mit geläufigen Vorstellungen in Beziehung zu setzen, bringt er sie unter anderem auch mit dem Begriff des (sinnlich) Schönen in Verbindung.6 Diese neuartige Lehre zur Vervollkommnung des sinnlichen Erkennens drang vor allem dank ihrer Verbreitung durch Baumgartens kongenialen Schüler und Interpreten Georg Friedrich Meier ins Bewußtsein einer breiteren Fachöffentlichkeit.7 4

Vgl. zu dieser spätestens mit Hegel festgeschriebenen, rezeptionsgeschichtlich fatalen Begriffsverengung Carsten Zelle: Die stete Neuerfindung des Alten. Konstellationen ästhetischer Erfahrung: Baumgarten/Bouhours – Jauß/Bubner/Welsch/Bohrer, bes. 31–35. 5 Eine Frühgeschichte der Ästhetik in Deutschland auf dem heutigen Stand der Forschung mit einer umfassenden Bibliographie wäre ein dringendes Desiderat. Zumindest universitätsgeschichtliche Fallstudien sprechen aber dafür, daß trotz aller Unsicherheiten in der Selbstfindung der neuen Disziplin um 1780 ein kunsttheoretisches Verständnis der Ästhetik über die ursprünglich erkenntnistheoretische Ausprägung schon obsiegt hatte (vgl. Tomáš Hlobil: Aesthetics in the Lecture Lists of the Universities of Halle, Leipzig, Würzburg, and Prague [1785–1805]; zur Situation in Königsberg s. a. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, 80). 6 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, § 115 (Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes), 84: »scientia[m] sensitive quid cognoscendi«; ders.: Metaphysica, 187 (§ 533 [AA 15,13]): »Scientia sensitive cognoscendi et proponendi«; ders.: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, 2. Schreiben, 7: »Wissenschafft der Verbeßerung sinnlicher Erkenntnis«; ders.: Sciagraphia encyclopaediae philosophicae, 13 (§ 25): »scientia cognitionis sensitivae«; ders.: Aesthetica, Bd. 1, § 1 (Ästhetik [zitiert als: Aesthetica I], 10): »scientia cognitionis sensitivae«; Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, 66 (§ 1): »die Wissenschaft von allem, was sinnlich ist«; s. a. ebd., 81 (§ 17); Dieter Kliche: »Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein«. Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhetik im Werner-Krauss-Archiv, 57: »die Wissenschaft von dem sinnlichen Erkenntnis«. 7 Zur Schlüsselrolle Meiers bei der Durchsetzung von Baumgartens Neuerung vgl. Hans Reiss: Die Einbürgerung der Ästhetik in der deutschen Sprache des achtzehnten Jahrhunderts oder Baumgarten und seine Wirkung.

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Sie bot nicht zuletzt auch Kant die Reflexionsgrundlage, die besonderen Gesetzmäßigkeiten der Sinnlichkeit einer eigenständigen Untersuchung zu unterziehen. Genuin und original Kantisch ist dabei die Idee, die Theorie der sinnlichen Erkenntnis als eine Theorie der Apriorität zu entwickeln.8 Raum und Zeit gelten ihm als die apriorischen Momente jeglicher Sinneserkenntnis. Um diese entscheidende Neuerung auf den Begriff zu bringen, versieht er die Ästhetik mit dem Adjektiv ›transzendental‹. »Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik.«9

2. Kants Apologie der Sinne und Baumgartens Verteidigung der Ästhetik im Vergleich

Nicht nur ein dezidiert gnoseologisches Verständnis der Ästhetik verbindet Kant und Baumgarten, sondern auch ein kämpferisches Eintreten für das Eigenrecht menschlicher Sinneserkenntnis. Kant schreibt in seiner gedruckten Anthropologie von 1798 sogar eine regelrechte ›Apologie für die Sinnlichkeit‹,10 was wohl mancher heutige Interpret dem scheinbar so nüchtern-kalten Verstandesphilosophen nicht unbedingt zutrauen würde. Spätestens seit Beginn der achtziger Jahre gibt Kant in seiner einschlägigen Vorlesung regelmäßig eine solche anthropologische Rechtfertigung der Sinnlichkeit. Damit wendet er sich gegen die verbreiteten Vorwürfe der Logiker und Moralisten, die oft schon beim bloßen Vorkommen des Wortes die Nase rümpften. Einigen sei die Sinnlichkeit so verhaßt, daß sie darin ein Überbleibsel des Sündenfalles sähen und am liebsten ganz davon befreit sein wollten. Gegen solche Ankläger tritt Kant als Advokat auf, freilich ohne sich deshalb schon als Panegyriker oder Lobredner zu verstehen. »Apologie heißt eine Sache so darstellen wie sie ist, sie aber weder erheben noch durch angedichtete Mängel erniedrigen, wohl aber von Vorurtheilen befreyen.«11 8

Vgl. Norbert Hinske: Kants neue Theorie der Sinnlichkeit und ihre Sprachregelungen,

539 f. 9

A 21/B 35. – Obwohl diese Theorie von Raum und Zeit als den apriorischen Formen der Sinnlichkeit bereits in der Inauguraldissertation von 1770 voll entfaltet ist, fehlt dort noch die spätere Benennung. Doch schon in den ersten Anthropologievorlesungen vom Wintersemester 1772/73 spricht Kant diesbezüglich von einer transzendentalen Ästhetik im Unterschied zu einer physischen Ästhetik im Sinne einer Sinnesphysiologie und einer praktischen Ästhetik im Sinne einer Theorie der Lustempfindung (vgl. Anthropologie Collins [AA 25,42 f.]; Anthropologie Parow [AA 25,268]). 10 Vgl. Anth BA 30–34 = AA 7,143–145. Traditionsgeschichtliche Vorbilder solcher Kampagnen für bzw. gegen die Sinnlichkeit benennt Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), 184–194. 11 Anthropologie Marienburg (AA 25,1229); vgl. Anthropologie Parow (AA 25,259); Men-

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Das Ergebnis des gegen die Sinnlichkeit angestrengten quasi-gerichtlichen Verfahrens, bei dem Kant die Rolle des sachlich argumentierenden Verteidigers übernimmt, ist Freispruch auf der ganzen Linie. Die vorgebrachten Anklagepunkte – es sind im wesentlichen drei – erweisen sich durchweg als haltlos. Auf den ersten Einwand, die Sinne verwirrten den Verstand, erwidert Kant: Die Sinne richteten keine Unordnung an, sondern hätten ihre spezifische Deutlichkeit und Anschaulichkeit. Der zweite Vorwurf, die Sinne täuschten den Verstand, wird in ähnlicher Weise entkräftet: Die Sinne betrügen nicht, weil sie gar nicht urteilen. Die dritte Beschwerde, die Sinne machten unfrei, hält nach Kant ebenfalls keiner Überprüfung stand: Die Sinnlichkeit ließe sich durchaus unserer freien Willkür unterwerfen; sie müsse dazu nur vernünftig diszipliniert und kultiviert werden.12 Kants Verteidigungsstrategie beruht also auf dem Gedanken einer radikalen Arbeitsteilung zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Erst das Zusammenwirken beider Grundvermögen bringt Erkenntnis zustande. Für sich allein genommen ist die Sinnlichkeit unvollständig. Wer ihr die Mängel unserer Erkenntnis aufbürdet, tut ihr unrecht, weil er sie überfordert. Er verlangt von einem Teil, was er nur vom Ganzen verlangen dürfte. Ähnlich wie Kant in seiner Anthropologie sehen sich schon seine Bezugsautoren Baumgarten und Meier zu einer Apologie der sinnlichen Wahrnehmung veranlaßt.13 Denn sie haben ihre neubegründete Ästhetik gegen die baldige massive Infragestellung durch die Zeitgenossen zu verteidigen. Manch einer erachtete damals eine auf der Sinnlichkeit beruhende Wissenschaft gar als unvereinbar mit der Würde der Philosophie. Auch religiös-theologische Vorbehalte, wie sie noch bei Kant spürbar sind, wollen erst einmal ausgeräumt sein. Sinnliches und Sündliches seien doch nicht miteinander zu verwechseln.14 So sehr Kant mit Baumgarten und Meier in dem Bemühen einiggeht, das sinnliche Vermögen von falschen Vorwürfen zu entlasten und ihm einen unverwechselbaren Ort im Ganzen menschlicher Erkenntnis anzuweisen, trennen sich ihre Wege schon bei der grundlegenden Bestimmung des Wesens der Sinnlichkeit. Dementsprechend nimmt auch der Versuch beider Seiten, Sinnes- und Verstandeserkenntnis sozusagen auf gleicher Augenhöhe miteinander zu vermitteln, jeweils eine gänzlich andere Gestalt an. schenkunde (AA 25,886 f.); Anthropologie Mrongovius (AA 25,1229f.); Anthropologie Busolt (AA 25,1444); Reflexion 1482 (AA 15,674). 12 Vgl. Anth BA 31–34 = AA 7,144–146. 13 Vgl. bes. Baumgarten: Aesthetica I, 14–16 (§§ 6–12); ders.: Ästhetik-Nachschrift, 76–79 (§§ 6–12). 14 Vgl. Baumgarten: Ästhetik-Nachschrift, 78 f. (§ 12); Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd. 1, 35–37 (§ 22). – Zu den wohl vornehmlich aus dem pietistischen Lager stammenden theologischen Einwürfen s. a. Theodor Verweyen: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«, 225–230.

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3. Kants Kritik an der schulphilosophischen Definition der Sinnlichkeit als Verworrenheit

Schon in der Inauguraldissertation von 1770 und dann erneut in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 wirft Kant der gängigen, auf Leibniz und Wolff zurückgehenden Schultradition der Philosophie vor, einen verfehlten Begriff der Sinnlichkeit aufgestellt zu haben.15 Es sei nicht richtig, das Wesensmerkmal des Sinnlichen in die verworrene Vorstellungsart der Dinge zu setzen. Das geläufige logische Kriterium der Deutlichkeit (bzw. der Undeutlichkeit oder Verworrenheit) sei zur Abgrenzung von sinnlicher und rationaler Erkenntnis überhaupt ungeeignet. Kants Standardeinwand, den er auch in den Logik- und Anthropologievorlesungen regelmäßig wiederholt, lautet: Sinnliche Vorstellungen seien nicht per se verworren, sondern könnten durchaus deutlich sein; man denke nur an die Distinktheit geometrischer Anschauung. Umgekehrt könnten intellektuelle Vorstellungen äußerst verworren sein; man betrachte nur allerhand obskure Gedanken.16 Kant unterstreicht diesen grundsätzlichen Einwand, indem er – über sein Logikkompendium hinausgehend – ausdrücklich zwischen zwei Arten von Deutlichkeit unterscheidet: Es gebe keineswegs nur eine Deutlichkeit des Verstandes durch Begriffe, sondern auch eine sinnliche Deutlichkeit in der Anschauung. Diese könne beispielsweise mittels eines Teleskops erlangt werden, insofern dieses technische Hilfsmittel eine erhöhte Auflösung der optischen Wahrnehmung bewirkt.17 Umgekehrt ist auch der Verstand vor der Gefahr der Verwirrung oder Verworrenheit nicht gefeit, wenn er nämlich seiner Aufgabe, Ordnung in das Mannigfaltige sinnlicher Eindrücke hineinzubringen, nicht oder nicht genügend nachkommt.18 Für Kant kann also grundsätzlich jede Vorstellung entweder deutlich oder undeutlich sein, ganz gleich ob sie sinnlicher oder intellektueller Herkunft ist.

15

Vgl. dazu auch den schon klassisch gewordenen Aufsatz von Gottfried Martin: Kants Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Phänomene durch Leibniz und Wolff als verworrene Vorstellungen, der allerdings kaum auf Baumgarten als die unmittelbare Zielscheibe von Kants Kritik eingeht. 16 Vgl. MSI A 10 = AA 2,394 f. (§ 7); A 43 f./B 60–62; Anth BA 25 f. Fn. = AA 7,140 f. Fn; Log A 43 = AA 9,34. Die jeweiligen direkten Adressaten der Kritik wechseln dabei: neben den zumeist genannten Leibniz und Wolff werden auch Baumgarten und Meier (Logik Philippi [AA 24,413 f.]), ja selbst Mendelssohn (Anthropologie Collins [AA 25,31]) namentlich erwähnt. 17 Vgl. Log A 44 = AA 9,35; Reflexion 2375 (AA 16,336); Logik Blomberg (AA 24,130); Logik Pölitz (AA 24,511 f.); Wiener Logik (AA 24,805 f.); Anthropologie Pillau (AA 25,739). – Baumgartens psychologische Unterscheidung zwischen ›perceptio extensive distinctior‹ und ›perceptio intensive distinctior‹ (Metaphysica, 232 [§ 634, AA 15,36]) liegt auf einer anderen Ebene und ist mit der späteren Kantischen nicht in eins zu setzen. 18 Vgl. Anth BA 31 f. = AA 7,144.

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Mit dieser Ausweitung potentieller Deutlichkeit auf die Sinneserkenntnis stellt Kant nicht nur einen belanglosen Nebengedanken Baumgartens in Frage, sondern greift das Fundament von dessen Ästhetik frontal an. Für Baumgarten sind nämlich sinnliche Vorstellungen durch fehlende Deutlichkeit geradezu definiert. Alle Vorstellungen, die unterhalb der Schwelle der Deutlichkeit verblieben, seien sinnlich, angefangen von gänzlich dunklen bis hin zu lediglich verworrenen Vorstellungen. Das untere Erkenntnisvermögen ist also das Vermögen undeutlicher Erkenntnis und umfaßt das gesamte Spektrum obskurer und konfuser Perzeptionen.19 Es ist allerdings zu beachten, daß der Gegensatz zwischen verworrenen und deutlichen Vorstellungen bei Baumgarten lediglich einen graduellen, keinen substantiellen Unterschied bezeichnet. Die Sphäre der Verworrenheit und die Sphäre der Deutlichkeit grenzen direkt aneinander und gehen nahezu unmerklich ineinander über. Baumgarten bringt den suggestiven Vergleich mit dem Hellwerden des Tages: Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgenröte zum Mittag. So gelangen wir auch nicht gleich zum hellen Mittag der Erkenntnis, sondern erst kommt die Verwirrung gleichsam als Dämmerung dazwischen.20 Diese berühmt gewordene Metapher legt zudem die Frage nahe, ob nicht das zarte Licht des Morgens seine eigenen Reize hat und nicht in mancher Hinsicht der grellen Glut des Mittags sogar vorzuziehen ist. Ein stimmungsvoller Sonnenaufgang ist womöglich attraktiver als die pralle Sonne am Himmelszenit. Oder um von der Bildebene wiederum zur Sachebene zurückzukehren: Die sinnlichen Vorstellungen zeichnen sich nach Baumgarten durch eine eigene Form von Wahrheit oder Vollkommenheit aus, nämlich durch die bunte Vielheit ihrer Merkmale. Diese spezifische Stärke sinnlicher Eindrücke, die auf ihrer Merkmalsfülle beruht, benennt Baumgarten mit dem neuen, zentralen Terminus der ›extensiven Klarheit‹.21 Demnach ist die Nicht-Deutlichkeit oder Konfusheit sinnlicher Wahrnehmung bei ihm keineswegs vorwiegend negativ zu sehen: etwas ›konfus‹ denken heißt es in der komplexen Fülle seiner Merkmale vorstellen. ›Confusio‹ meint – abgeleitet vom lateinischen Verbum ›confundere‹, d. h. zusammengießen – ganz wörtlich den ›Zusammenfluß‹ unterschiedlichster Einzelmerkmale zu einem miteinander verbundenen Ganzen.22 Baumgarten ist nach Kräften darauf bedacht, die sinnliche Er19

Vgl. Baumgarten: Metaphysica, 180 (§ 521 [AA 15,9]): »Repraesentatio non distincta sensitiva vocatur«; s. a. ebd., 180 (§ 520 [AA 15,9]); ders.: Aesthetica I, 20 (§ 17): »Cognitio sensitiva est […] complexus repraesentationum infra distinctionem subsistentium«; ders.: Ästhetik-Nachschrift, 81 (§ 17); Georg Friedrich Meier: Metaphysik, Bd. 3, 82 f. (§ 524). 20 Vgl. Baumgarten: Aesthetica I, 14 (§ 7); ders.: Ästhetik-Nachschrift, 76 f. (§ 7) u. 170 f. (§ 232). 21 Vgl. Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, 16 (§ 16); ders.: Metaphysica, 185 (§ 531 [AA 15,12]). 22 Dieser grundlegende Aspekt ist in der Baumgartenliteratur seit längerem immer wieder betont worden; vgl. etwa Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, 463; Ursula Franke:

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kenntnis vom Odium der Unvollkommenheit zu befreien. Diese darf nicht bloß als defiziente Vorform intellektueller Erkenntnis betrachtet werden. Die konkrete Fülle der Sinnlichkeit und die abstrakte Deutlichkeit des Verstandes ergänzen sich gegenseitig. Unteres und oberes Erkenntnisvermögen stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Die sinnliche Wahrnehmung hat dabei nicht etwa inferioren, sondern vielmehr basalen Charakter.

4. Kants Neubestimmung der Sinnlichkeit als Rezeptivität bzw. als Vermögen der Anschauung

Schon Baumgarten zielt somit darauf, eine Differenzierung zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu erarbeiten, die beide als gleichberechtigte, unrückführbare Grundvermögen anerkennt. Doch erst Kant gelingt eine Wesensunterscheidung, die auf den je verschiedenen Ursprung sinnlicher und rationaler Erkenntnis abhebt. Bereits die Inauguraldissertation von 1770 ist beherrscht von dem Gedanken der Diskrepanz zwischen den Gesetzen der Sinnlichkeit und denen des Verstandes. Baumgartens kontinuierliche Stufenfolge sinnlicher und intellektueller Vorstellungen wird ersetzt durch eine artmäßige Trennung beider Vorstellungswelten.23 Die Sinnlichkeit ist stets die passive Empfänglichkeit (›receptivitas‹) eines Subjekts, der Verstand dagegen ist immer ein aktives Vermögen (›facultas‹).24 Die neuen Worterklärungen finden dann der Sache nach weitgehend unverändert Eingang in die Kritik der reinen Vernunft. Allerdings wird jetzt der Rezeptivität der Sinnlichkeit die Spontaneität des Verstandes idealtypisch gegenübergestellt. Die Bereitschaft, Vorstellungen zu empfangen, macht demnach die Sinnlichkeit aus, dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, den Verstand.25

Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, 44–48. 23 Manche Interpreten sehen in der neuen Trennung von Sinnlichkeit und Verstand sogar den Kernpunkt des ›großen Lichtes‹ von 1769, so etwa Giorgio Tonelli: Die Umwälzung von 1769 bei Kant, 369. 24 Vgl. MSI A 7 = AA 2,392 (§ 3). – Die Unterscheidung zwischen ›facultas‹ und ›receptivitas‹ als das Herzstück der beiden Definitionen findet sich interessanterweise ebenfalls schon bei Baumgarten vorgeprägt, wenngleich sie dort eine ontologische und noch keine erkenntnistheoretische Bedeutung hat (vgl. ders.: Metaphysica, 65 [§ 216, AA 17,72]). Kant hat also ein bereits vorliegendes Begriffspaar lediglich in einen anderen Kontext übertragen – ein bei ihm ganz geläufiges Mittel der Begriffsbildung. Zur Rekonstruktion der Quellengeschichte vgl. ausführlicher Norbert Hinske: Kants neue Theorie der Sinnlichkeit und ihre Sprachregelungen, 534–536; Takeshi Nakazawa: Kants Begriff der Sinnlichkeit. Seine Unterscheidung zwischen apriorischen und aposteriorischen Elementen der sinnlichen Erkenntnis und deren lateinische Vorlagen, 110–118. 25 Vgl. A 51/B 75; s. a. A 19/B 33 u. A 44/B 61. – Wie das bei Kant häufig der Fall ist, bleibt

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Um den Unterschied zwischen den beiden Grundvermögen terminologisch noch griffiger zu machen, ordnet Kant ihnen zudem je spezifische Erkenntnisarten zu. Die Sinnlichkeit, und sie allein, liefert Anschauungen; aus dem Verstand, und aus ihm allein, entspringen Begriffe. Infolgedessen kann die Sinnlichkeit auch definiert werden als das Vermögen der Anschauungen, der Verstand als das Vermögen der Begriffe. Durch die Sinne schauen wir Dinge in concreto an, durch den Verstand begreifen wir sie in abstracto. Die Anschauung ist immer einzeln und bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand; der Begriff ist stets allgemein und bezieht sich nur mittelbar auf die Dinge, nämlich mittels eines Merkmals, das jeweils mehreren Objekten zukommen kann.26 Diese Behauptung einer Dualität, ja Heterogenität von Anschauung und Begriff, die ein fundamentales Strukturprinzip der Kritik der reinen Vernunft bildet, wird von Kant nicht groß eigens begründet. Doch liegt es auf der Hand, daß er sich damit von der Kontinuitätsthese der vorangegangenen Schultradition abzugrenzen sucht. Einzelne Sinnesanschauung und allgemeiner Verstandesbegriff sind wesensverschieden; sie lassen sich nicht ineinander überführen, ohne daß ihr jeweiliges Proprium verlorenginge.27 Allerdings läßt sich schon bei Baumgarten der erste Keim für Kants spätere Ansicht entdecken, die sinnliche Anschauung zu einem Ding sui generis zu erklären. Sinnlichen Vorstellungen kommt ihm zufolge ja stets Individualität und Konkretheit zu, insofern sie sich besonders durch ihre bunte Fülle von Merkmalen oder, wie er sagt, durch extensive Klarheit auszeichnen. Mit dieser ›Logik des Individuellen‹28 hat Baumgarten Kants Eigenständigkeitserklärung der Sinnlichkeit sicher ein ent-

seine Begrifflichkeit freilich stets im Fluß. So experimentiert er im Laufe der Jahre mit verschiedenen Bezeichnungen, um den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand auf den Begriff zu bringen, doch ohne je zu einer endgültigen Fixierung seiner Terminologie zu gelangen (vgl. dazu auch Norbert Hinske: Kants neue Theorie der Sinnlichkeit und ihre Sprachregelungen, 536 Fn 20). 26 Vgl. A 19 /B 33 u. A 320/B 376 f.; Logik Philippi (AA 24,344); Log A 45 = AA 9,35 f.; Reflexion 1735 (AA 16,97); Reflexion 1821 (AA 16,127 f.); Menschenkunde (AA 25,987); Anthropologie Mrongovius (AA 25,1228); Anthropologie Busolt (AA 25,1444); Reflexion 221 (AA 15,84); Reflexion 1486 (AA 15,711). 27 Vgl. Karen Gloy: Die Kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung; Dietmar H. Heidemann: Anschauung und Begriff. Ein Begründungsversuch des StämmeDualismus in Kants Erkenntnistheorie. Beide Autoren beklagen zwar dieses Begründungsdefizit, halten aber Kants Dichotomie von Anschauung und Begriff für intuitiv plausibel und auch für gegenwärtig anschlußfähig. 28 So der Ausdruck von Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, der mit dieser Betonung von Baumgartens Tendenz zum Individuum die weitere Forschung nachhaltig beeinflußt hat (vgl. zum Ganzen ebd., 207–231).

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scheidendes Stück vorgearbeitet. Gleichwohl bleibt für Baumgarten alles Erkennen begrifflich verfaßt, das sinnliche nicht minder als das verstandesmäßige; denn beide Erkenntnisarten haben es mit der Erfassung von Merkmalen zu tun. Erst Kant bricht mit dem bis dahin geläufigen Grundsatz, alle Vorstellungen seien Begriffe. Ihm geht auf, daß eine Reihe fundamentaler Vorstellungen nicht die Struktur von Begriffen haben kann. In erster Linie gilt das von Raum und Zeit als Formen der Anschauung. Ferner besteht Kant darauf, daß jegliches begriffliche Erkennen dem Wirkungskreis des Verstandes angehören muß. Wo Begriffe verwendet werden, ist der Verstand im Spiel. Umgekehrt gehört nach Kant jedes anschauliche Erkennen in die sinnliche Sphäre. Wo Anschauungen vorliegen, ist stets die Sinnlichkeit betroffen. Der Begriff der ›Anschauung‹ meint dabei natürlich nicht nur die optische, an den Sehsinn gebundene Wahrnehmung, sondern in einem weiteren Sinne jegliche über ein Sinnesorgan veranlaßte Vorstellung. Alles Denken, so Kants These, bezieht sich zuletzt auf solche Anschauungen, mithin auf Sinnlichkeit (vgl. A 19/B 33). Allein über die Anschauung ergibt sich ein Gegenstands- und Wirklichkeitsbezug; ohne sie führt kein Weg vom Subjekt zum Objekt des Erkennens.29 So naheliegend es uns heute erscheint, das Moment der Anschauung als Wesensmerkmal der Sinnlichkeit zu betrachten, so wenig versteht sich das, geschichtlich gesehen, von selbst. Vielmehr ist es allererst Kants Leistung gewesen, das sinnliche Erkenntnisvermögen mit der Anschauung in Verbindung zu bringen. Weder bei Baumgarten noch bei Wolff dient der Begriff der ›cognitio intuitiva‹ bzw. des ›intuitus‹ zur Definition des unteren Erkenntnisvermögens. Erst recht hat für Leibniz Anschauung nichts mit den Sinnen zu tun; sie ist eine rein intellektuelle Operation. In Leibniz’ Erkenntnissystematik bildet die intuitive Erkenntnis die Höchstform des Erkennens überhaupt und bleibt als solche Gott vorbehalten.30 In der LeibnizWolff-Tradition wird die anschauende Erkenntnis regelmäßig der symbolischen, d.h. durch Zeichen vermittelten Erkenntnis gegenübergestellt, ohne daß dieses Begriffspaar etwas mit der Abgrenzung von niederem und höherem Erkenntnisvermögen zu tun hätte. Erst Kant nutzt, wie gezeigt, den Gegensatz von Anschauung und Begriff zur Wesensbestimmung von Sinnlichkeit und Verstand. Dem Kantschen Wortgebrauch verdankt sich im übrigen auch die steile, doch überraschend späte Karriere des deutschen Ausdrucks ›Anschauung‹ als Bestandteil 29

Manche Kritiker aristotelisch-thomistischer Prägung bekämpfen bis heute diesen Primat der Anschauung als das Proton pseudos der Philosophie Kants überhaupt und versuchen sich an einer systematischen Alternative zu dessen ›sensualistischen Intuitionismus‹ (vgl. Giovanni B. Sala: Die Rolle der Anschauung in Kants Erkenntnislehre). 30 Vgl. dazu (mit Textbelegen) Luigi Cataldi Madonna: Theorie und Kritik der Vernunft bei Gottfried Wilhelm Leibniz, bes. 61; Clemens Schwaiger: Symbolische und intuitive Erkenntnis bei Leibniz, Wolff und Baumgarten, 1179 f.

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der philosophischen Terminologie. Bei Kants Hauptbezugsautoren aus der damaligen Schulphilosophie wie Wolff, Baumgarten, Meier oder Lambert ist nämlich dieses Substantiv auf ›-ung‹ noch gar nicht zu belegen; dort ist lediglich von der ›anschauenden Erkenntnis‹ (für lateinisch ›cognitio intuitiva‹) bzw. von dem ›Anschauen‹ (für lateinisch ›intuitus‹) die Rede.31

5. Die späte Erfolgsgeschichte des Terminus ›Sinnlichkeit‹ bei Kant

Was für den Anschauungsbegriff gilt, trifft auch auf den Begriff der Sinnlichkeit selbst zu: Trotz vorkantischer Ursprünge wird er erst aufgrund von Kants Verwendung zu einem regelrechten Modewort. Die Gründe und Hintergründe für diese Hochkonjunktur verdienen es, etwas ausgiebiger analysiert zu werden. Denn auch hier bewahrheitet sich die Forscherregel: Das scheinbar Selbstverständliche versteht sich bei näherem Zusehen keineswegs immer von selbst. Zunächst einige frappierende wortgeschichtliche bzw. -statistische Befunde: Obwohl der Ausdruck ›Sinnlichkeit‹ leicht den Eindruck erweckt, zum zeitlosen Grundbestand philosophischer Terminologie zu gehören, ja heute ein ständig gebrauchtes Allerweltswort ist, findet er sich in Kants Druckschriften vor 1781 nicht ein einziges Mal. Seit der Kritik der reinen Vernunft aber wird er mit einem insgesamt über 500maligen Vorkommen zu einem überaus häufigen, schlechthin unverzichtbaren Grundbegriff bei Kants Beschreibung des menschlichen Erkenntnishaushaltes.32 Kaum weniger erstaunlich ist eine zweite sprachliche Beobachtung: Baumgarten und Meier, die beiden Gründerväter der Ästhetik, die doch gerade darauf aus sind, dem Sinnlichen einen gebührenden Platz im menschlichen Erkenntnisgefüge zu sichern, benutzen die Termini ›Sinnlichkeit‹ bzw. das lateinische Pendant ›sensualitas‹ ausgesprochen selten.33

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Vgl. Takeshi Nakazawa: Kants Begriff der Sinnlichkeit, 91f., der als bislang frühesten Fundort (über die bisherigen Nachschlagewerke hinausgehend) eine Stelle bei dem Wolffianer Johann Friedrich Stiebritz aus dem Jahre 1741 anführen kann. 32 Vgl. Gottfried Martin (Hg.): Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften, Bd. 17: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, Bd. 2, 826; ferner Takeshi Nakazawa: Zum Sinn von Sinnlichkeit. Vom Nutzen EDV-erzeugter Indices für die Begriffsgeschichte, bes. 177 f. 33 So begegnet etwa das Substantiv ›sensualitas‹ weder in Baumgartens Meditationes von 1735 (vgl. Antonio Lamarra und Pietro Pimpinella: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus di A. G. Baumgarten. Testo, indici, concordanze, 135) noch in der Metaphysica von 1739. In der vierten Auflage des Metaphysikkompendiums von 1757, der deutsche Übersetzungen lateinischer Termini beigefügt sind, findet sich ein einziges Mal der Ausdruck ›Sinnlichkeit‹ bei der Wiedergabe von ›mundus sensibilis‹ (vgl. 354 [§ 869, AA 17,169]). Auch in Meiers deutscher Studienausgabe dieses Werks bleibt ›Sinnlichkeit‹ mit einer lediglich dreimaligen Nennung ein

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Wie läßt sich diese reichlich späte, offenbar erst vom kritischen Kant entscheidend vorangetriebene Aufnahme von ›Sinnlichkeit‹ in den philosophischen Fachwortschatz erklären? Die zögerliche Rezeption ist zunächst wohl einfach ein Spiegelbild der allgemeinen sprachlichen Entwicklung im 18. Jahrhundert. In Nachschlagewerken zumal der ersten Jahrhunderthälfte tauchen entsprechende lexikalische Einträge nur ganz sporadisch auf. Erst ab dem Ende des Jahrhunderts schlägt sich Kants neuer, inflationärer Sprachgebrauch dann signifikant in den zeitgenössischen Wörterbüchern nieder.34 Ein weiterer Grund für das anfänglich weitgehende Fehlen der genannten Substantiva dürfte darin zu sehen sein, daß Baumgarten und Meier, die Pioniere der philosophischen Ästhetik, angesichts ihnen entgegenschlagender moralischer Vorbehalte, insbesondere der Identifizierung von Sinnlichkeit mit Sündlichkeit, lieber auf zusammengesetzte Wendungen wie ›sinnliche Erkenntnis‹ (›cognitio sensitiva‹) oder ›unteres Erkenntnisvermögen‹ (›facultas cognoscitiva inferior‹) zurückgreifen. Kant steht demgegenüber unter einem terminologischen Erneuerungsdruck, weil die herkömmlichen Bezeichnungen nicht mehr seinem inzwischen gewonnenen Reflexionsstand entsprechen. Wenn erst durch die Verknüpfung von Anschaung und Begriff Erkenntnis zustandekommt, wenn also Sinnes- und Verstandesmomente zusammenwirken müssen, um von Erkenntnis im vollen Sinne sprechen zu können, dann ist die Rede von ›sinnlicher Erkenntnis‹ im Grunde obsolet geworden. Die Sinne liefern für sich genommen noch keine Erkenntnis, ebensowenig aber auch der Verstand für sich allein. Eine ähnliche Zurückhaltung legt sich aus Kants Sicht gegenüber der traditionellen Zweiheit von unterem und oberem Erkenntnisvermögen nahe. Sofern Sinnlichkeit und Verstand wirklich als zwei gleichursprüngliche und gleichnotwendige Stämme der Erkenntnis gelten müssen, hat sich die überlieferte Oben-Unten-Hierarchie erübrigt. Wenn Kant ganz selten einmal unteres und oberes Erkenntnisvermögen noch einander gegenüberstellt, ist das bloße Reminiszenz an die vordem gebräuchliche Schulterminologie.35

äußerst rarer Begriff (vgl. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik, 165 [§ 384], 242 [§ 512] u. 330 [§ 650]). 34 Vgl. dazu im einzelnen mit detaillierten Nachweisen Takeshi Nakazawa: Kants Begriff der Sinnlichkeit, 51–58; 171–177. – Der Verfasser zieht als weitere Diskussionsfelder für das Neuaufkommen des Sinnlichkeitsbegriffs in der Aufklärungsepoche auch noch die Anthropologie von Johann Joachim Spalding und die Sprachphilosophie von Johann Gottfried Herder in Erwägung (vgl. ebd., 81–84). 35 Vgl. Anth, BA 25 = AA 7,140 und BA 115 = AA 7,196.

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6. Kants These von der Irrtumsunfähigkeit der Sinne

Die völlige Neubestimmung von Wesen und Begriff des Sinnlichen stellt schließlich auch die Grundlage für das zweite Hauptargument von Kants Apologie der Sinne bereit: Die Sinne sind nicht schuld an den menschlichen Irrtümern, weil sie allein ja noch zu gar keiner Erkenntnis führen. Ein Irrtum kommt immer erst durch ein gestörtes Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand zustande. Wie die Sinnlichkeit auf der Ebene der Begriffsbildung vom Konfusionsvorwurf freigesprochen werden muß, so auf der Ebene der Urteilsbildung vom Betrugsvorwurf. Wer nichts behauptet, dem kann man auch keine falsche Behauptung nachsagen.36 Wahrheit und Irrtum gibt es für Kant nur im Urteil. Urteile abzugeben ist aber einzig und allein Sache des Verstandes. Der Irrtum hat als Urteil seinen Sitz im Verstand. Der Verstand irrt immer dann, wenn er seinen eigenen Gesetzen zuwiderhandelt. Zu einer solchen Regelverletzung kommt es etwa, wenn er es an Aufmerksamkeit oder Behutsamkeit fehlen läßt. Die Sinne dagegen fällen kein Urteil, sondern nehmen lediglich etwas wahr. Daher können sie weder irren noch betrügen. Es trifft sie keine Schuld am Irrtum, nicht etwa weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen.37 Kant hat während seiner ganzen Lehrtätigkeit als Professor, insbesondere in seinen Vorlesungen zur Logik und Anthropologie, dieses Standardargument unermüdlich repetiert: Die Sinne urteilen nicht, folglich können sie überhaupt nicht irren.38 Daß Kant so nachdrücklich auf diesem Punkt insistiert, geschieht nicht von ungefähr. Er wendet sich damit gegen die Baumgarten-Meiersche Rede von einem ›Urteil der Sinne‹ bzw. einem ›Betrug der Sinne‹. Bei den beiden Begründern der Ästhetik sind das nicht einfach nur bildhafte Redensarten. Vielmehr gehen sie von einer grundsätzlichen Erkenntnis- und Irrtumsfähigkeit der Sinne aus. Die menschliche Sinnestätigkeit soll für sich schon zu wahren bzw. zu falschen Erkenntnissen gelangen können. Täuschungen der Sinne (›fallaciae sensuum‹) seien falsche Vorstellungen, die auf nähere Art von unseren Sinnen abhingen.39 Solcher Sinnentrug

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Vgl. Reinhard Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie, 186 f. Vgl. Anth BA 33 f. = AA 7,146. 38 Vgl. Logik Blomberg (AA 24,84 u. 86 f.); Logik Pölitz (AA 24,527 u. 543); Logik Busolt (AA 24,631 f.); Logik Dohna-Wundlacken (AA 24,720); Wiener Logik (AA 24,825, 833 u. 856); Reflexion 2142 (AA 16,250); Reflexion 2244 (AA 16,283); Reflexion 2255 (AA 16,287); Anthropologie Collins (AA 25,61); Anthropologie Parow (AA 25,281); Anthropologie Friedländer (AA 25,486); Menschenkunde (AA 25,887 u. 928); Anthropologie Mrongovius (AA 25,1229); Anthropologie Busolt (AA 25,1444); Reflexion 248 (AA 15,94); Reflexion 1482 (AA 15,674 u. 677). 39 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, 192 (§ 545 [AA 15,15]): »Fallaciae sensuum sunt repraesentationes falsae, a sensibus dependentes […]«; Meier: Metaphysik, Bd. 3, 110 (§ 543). 37

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ist möglich, weil im Sinnesurteil (›iudicium sensuum‹) lediglich verworren und nicht deutlich über die Gegenstände der Empfindungen geurteilt wird.40 Die Annahme eines eigenen sinnlichen Urteilsvermögens ist bei Baumgarten und Meier ein für die Begründung der Ästhetik schlechthin unverzichtbarer Kerngedanke. Sie schreiben den Sinnen gerade deshalb ein Urteilsvermögen zu, um dem Geschmacksurteil einen festen Ort im menschlichen Erkenntnisganzen anweisen zu können. Die Fertigkeit, sinnlich zu urteilen, wird mit dem Geschmack im weiteren Sinne identifiziert.41 Als Novum gegenüber Wolff oder Leibniz wird das Urteil über das Sinnenfällige oder Schöne in den Geschmack und nicht mehr in den Verstand gelegt. Damit soll die Ästhetik hinausgeführt werden über das bisherige Nichtwissen- und Nichtsagenkönnen der Gründe für das sinnliche bzw. künstlerische Wohlgefallen.42 Baumgarten denkt zeitweise sogar daran, mittels einer methodischen Schulung der Sinneswahrnehmung in einer eigenen ästhetischen Erfahrungskunst die Gefahr des Sinnentrugs zu vermindern. Durch eine bessere Kenntnis der Gesetze sinnlicher Erfahrung soll man davor bewahrt bleiben, von den Sinnen genarrt zu werden.43 Obgleich diese Idee einer ästhetischen Empirik nie über das Stadium eines bloßen Projekts hinausgelangt ist, bleibt die These einer eigenen ästhetischen Wahrheit für Baumgarten in jedem Falle leitend. Darunter versteht er eben die Wahrheit, sofern sie sinnlich erkennbar ist.44 Diese ›veritas aesthetica‹ soll ergänzend neben die herkömmliche ›veritas logica‹ treten. In Baumgartens Opus magnum über die Aesthetica ist sogar ein eigener, umfangreicher Abschnitt diesem neuen Wahrheitstypus gewidmet.45 Wenn Kant später rundweg bestreitet, daß die Sinne überhaupt urteilen können, entzieht er diesem zentralen Lehrstück seines Vorgängers buchstäblich den Boden. Von dieser Grundlagenkritik her erklärt sich auch das eingangs angeführte harte

40

Vgl. Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, 68 (§ 92): »Iudicium de perfectione sensorum confusum dicitur Iudicium sensuum«; ders.: Metaphysica, 221 (§ 608 [AA 15,30]); ders.: Acroasis logica in Christianum L. B. de Wolff, 96 (§ 331); Meier: Metaphysik, Bd. 3, 238 (§ 619). 41 Vgl. Baumgarten: Metaphysica, 221 (§ 608 [AA 15,30]): »Gustus significatu latiori de sensualibus, i. e. quae sentiuntur, est iudicium sensuum«. – Zur Gleichsetzung des Sinnenurteils mit dem ›bon goût‹ der Franzosen und dem ›buon gusto‹ der Italiener s. a. schon Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, 68–70 (§ 92). 42 Vgl. Franke: Kunst als Erkenntnis, 89 u. 100. 43 Vgl. Baumgarten: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, 2. Schreiben, 7f.; dazu Clemens Schwaiger: Kann Erfahrung uns täuschen? Das Problem des Erfahrungsirrtums in der deutschen Aufklärung bis zu Kant, 259 u. 262. 44 Vgl. Baumgarten: Aesthetica I, 402 (§ 423): »veritas […] aesthetica […], i. e. veritas, quatenus sensitive cognoscenda est«; ders.: Ästhetik-Nachschrift, 214 f. (§ 423). 45 Vgl. Baumgarten: Aesthetica I, Sect. 27, 402–422 (§§ 423–444).

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Urteil Kants, Baumgartens ganzes Bemühen um eine wissenschaftliche Ästhetik sei letzten Endes eine vergebliche Liebesmüh gewesen. Aus der Kantschen Rückschau hat der Baumgartensche Versuch, die Wirksamkeit der Sinne gnoseologisch aufzuwerten, zu hoffnungslos überzogenen Erkenntnisansprüchen geführt. Während Baumgarten dem unteren Erkenntnisvermögen Kompetenzen aufbürdete, die Wolff noch dem oberen Erkenntnisvermögen vorbehalten hatte, beschreitet Kant entschlossen den entgegengesetzten Weg: der Verstand erhält die Wahrheits- und Urteilsfähigkeit als ureigene Schlüsselverantwortung wieder zurück. Als metaphysischen Kardinalirrtum diagnostiziert Kant schon in der Inauguraldissertation von 1770 die Vertauschung des Sinnlichen und des Intellektuellen. Wer Sinnliches intellektualisiere oder umgekehrt Intellektuelles versinnliche, begehe einen Fehler der Erschleichung.46 Damit feuert Kant nochmals eine volle Breitseite gegen Baumgarten ab. Er selber sucht solche gegenseitigen Grenzüberschreitungen schon im Ansatz zu bekämpfen und damit das Haupthindernis für einen künftigen Fortschritt der Metaphysik zu beseitigen. Kants Plädoyer für ein strikt arbeitsteiliges Verfahren stößt freilich bei den Interpreten bis zur Stunde nicht nur auf Zustimmung, sondern ruft immer wieder auch Gegenkritik auf den Plan. Seine Apologie für die Sinnlichkeit laufe in Wirklichkeit auf eine Entmündigung hinaus. Diese würde zu einer bloßen Materialbeschaffungsinstanz degradiert.47 Aber das ist wohl das Schicksal eines Verteidigers, daß er selber leicht zwischen die Mühlen der Anklage geraten kann. Die Frage nach der besten Sinnesapologie bleibt eine unabgeschlossene, weiterhin zu diskutierende Frage. Das Spannungsverhältnis zwischen Sinnlichkeit und Verstand zählt nicht umsonst zu den immergrünen Klassikern unter den philosophischen Problemen.

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Vgl. MSI A 29 f. = AA 2,411 f. (§ 24); Reflexion 243 (AA 15,93); Reflexion 250 (AA 15,94). Vgl. Waltraud Naumann-Beyer: Sinnlichkeit, 546 u. 559 f.; Wolfgang Welsch: Ästhet/hik [sic!]. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik, 8 Fn 13. 47

Zum Begriff des Raums in Kants Vernunftkritik Von der Form der Anschauung zur formalen Anschauung von Bernd Dörflinger

1. Einleitung und These

Die ›transzendentale Ästhetik‹ innerhalb der Kritik der reinen Vernunft ist zweifellos ein Zentralort der Behandlung des Raums in der kritischen Philosophie Kants, was sich an den Überschriften der einschlägigen Paragraphen auch sogleich ablesen läßt. Sie ist allerdings nicht der einzige Ort seiner Behandlung in Kants Hauptwerk und auch nicht – um schon eine These anzudeuten – der einzige Zentralort. Etwa die Abschnitte über die sogenannten mathematischen Antinomien und ihre Auflösung innerhalb der ›transzendentalen Dialektik‹ handeln sehr aussagekräftig, wenn auch im Sinne einer Korrektur falscher Aussagen, vom Raum. Insbesondere läßt sich anhand der dortigen Erläuterungen ein entwickeltes Verständnis davon gewinnen, warum der Raum nach Kant kein Ding an sich ist und entsprechend die Gegenstände im Raum bloß Erscheinungen. Des weiteren können als für das Raumverständnis relevant etwa der 4. Paralogismus innerhalb der ›transzendentalen Psychologie‹ der ersten Auflage genannt werden, der die Idealität des äußeren Verhältnisses des transzendentalen Subjekts erwägt (vgl. A 366 ff.), oder auch der Abschnitt über die ›Widerlegung des Idealismus‹ (B 274 ff.). Doch während diese Lehrstücke und noch andere zum einen aufgrund ihrer eindeutigen Kennzeichnung recht leicht als Teile der Raumtheorie Kants zu erkennen sind und zum anderen als Erläuterungen, Verdeutlichungen, Vertiefungen und Ergänzungen zur ›transzendentalen Ästhetik‹ gelesen werden können, also in keinem Spannungsverhältnis zu ihr stehen, gibt es ein anderes Lehrstück vom Raum, das nicht eigenständig auftritt, sondern etwas versteckt vorkommt (zum Teil in Anmerkungen). Gemeint ist die in die Kategoriendeduktionen beider Auflagen integrierte Lehre vom Raum als formaler Anschauung. Von dieser Lehre ist nun nicht zu sagen, daß sie in keinem Spannungsverhältnis zur ›transzendentalen Ästhetik‹ stünde. Sie – so die These, die hier entwickelt werden soll – modifiziert die Lehre vom Raum der ›transzendentalen Ästhetik‹, und zwar in einem nicht unbedeutenden Punkt, weshalb sie zu einer zweiten Zentralstelle der Kantischen Raumtheorie erklärt werden kann. Es ist der Punkt, daß die zunächst getroffene eindeutige Zuordnung der Raumvorstellung im Ganzen zur Rezeptivität der Sinnlichkeit aufgegeben wird und mindestens wichtige Aspekte dieser Vorstellung nun der anderen, der spontanen Erkenntnisquelle zugeschlagen werden. Im folgenden soll dies, indem ein Bogen von der ›transzendentalen Ästhetik‹ eben zur Lehre

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von der formalen Anschauung zu schlagen sein wird, im einzelnen entfaltet werden.

2. Der Raum in der ›transzendentalen Ästhetik‹

Nach der Lehre der ›transzendentalen Ästhetik‹ ist das Subjekt der Erkenntnis durch seine Vorstellungsart ›Raum‹ unmittelbar, d. h. ohne daß es einer Vermittlung durch intellektuelle Akte bedürfte, aus sich hinaus auf etwas ihm äußerlich Erscheinendes bezogen. Durch diese seine Vorstellungsart eröffnet sich ihm allererst Äußerlichkeit, d.h. Äußerliches als Räumliches ist ihm nichts Vorgegebenes oder Vorfindliches als Ding an sich, von dem es etwa eine bloß hinnehmende Kenntnis haben könnte. Im Gegenteil nimmt die Raumeröffnung ihren Ausgang in Subjektivität; bestimmter gesprochen, ist es die Subjektivität einer gegebenen Empfindung, man denke etwa an eine Hartempfindung des Tastsinns oder an eine Rotempfindung des Gesichtssinns, an die sich die Beziehung zu etwas Äußerem anschließt. So zu sprechen, daß die Beziehung nach außen sich an die Empfindung erst anschließt, soll ausdrücken, daß sie in der Empfindung als solcher nicht schon enthalten ist, d. h. daß diese Außenbeziehung nicht selbst ein empfundener Inhalt ist, wie es die Härte oder die Röte sind. Empfindung als solche ist demnach etwas entschieden Innerliches; etwas Innerliches, das Kant nicht selten noch mit dem Attribut ›gegeben‹ versieht. Gegebenheit von Empfindung bedeutet zunächst, das Empfundene als nicht gemacht oder hervorgebracht zu begreifen, sondern als einen empirischen Gehalt, der die Sinnlichkeit des Subjekts – genauer: seinen inneren Sinn – auf eine für es unverfügbare Weise besetzt, den es also seinerseits in Passivität erleidet. Indem die Empfindung subjektiv erlitten und vorgefunden ist und nicht etwa Produkt eines dieses Material der Anschauung zu erzeugen fähigen Subjekts, ist sie für dieses Subjekt zufällig und fremd. An der Empfindung hat das Subjekt etwas ihm unmittelbar Zugehöriges, etwas Subjektives und Innerliches also, aber als ein Unverstandenes. Empfindung ist das Undurchschaute, Fremde und Zufällige im Subjekt selbst. Daß Empfindung für sich und als solche nichts weniger als etwas Äußeres ist, heißt mit Bezug auf die Beispiele, daß weder eine Hartempfindung noch eine Rotempfindung Gegenstand einer äußeren Anschauung sein kann. In Kants Sprachgebrauch ist die Nicht-Äußerlichkeit bzw. – positiv – die Innerlichkeit der Empfindung so ausgedrückt, daß er sie als eine ›Perception‹ bezeichnet, »die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht« (A 320/B 376). Ein Teil der Empfindungen, die per se alle innerlich sind, wird nun aber doch auf etwas anderes bezogen, im Fall der Hartempfindung auf einen Gegenstand der äußeren Anschauung mit der Qualität der Härte und im Fall der Rotempfindung auf einen ebensolchen mit der der Röte. Ein anderer Teil – es ist der nur dem inneren

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Sinn verhaftete, wozu etwa die Gefühle der Lust und Unlust zählen – erhält diese Beziehung nicht. Dort wo sie sich allerdings an die Empfindung anschließt bis hin zum Gegenstand der äußeren Anschauung, da ist ihre Voraussetzung die Vorstellungsart ›Raum‹. In Kants Worten (A 23/B 38): »[…] damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden […], dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen.« Diese Vorstellung eröffnet dem ansonsten in sich beschlossenen Subjekt die Sphäre der Äußerlichkeit von Erscheinungen. Sie bezieht, wie Kant sagt, die Empfindung auf einen ›Ort des Raumes‹, d. i. auf den Ort des harten bzw. roten Gegenstandes der Anschauung außer mir. Genauer noch heißt es von der Raumvorstellung, sie beziehe die Empfindung auf einen anderen Ort als den, »darin ich mich befinde« (ebd.). Mit der ursprünglichen raumeröffnenden Vorstellung ist somit nicht bloß ein der Empfindung korrespondierender Gegenstand buchstäblich verortet, sondern im Gegenzug auch noch das Subjekt der Empfindung selbst. Die ursprüngliche Raumvorstellung eröffnet also die Differenz eines wechselseitigen Außereinander; dem ›außer mir‹ des anderwärts verorteten Gegenstandes der Anschauung entspricht also das ›außer ihm‹ meiner selbst, d. h. die Verortung des Subjekts seinerseits in der von ihm her eröffneten Raumordnung. Die genannte Differenz des Außereinander läßt sich zunächst annäherungsweise auch durch den Ausdruck näher bestimmen, durch den Kant zumeist die Raumverhältnisse insgesamt charakterisiert. Es ist der des Nebeneinander. Vollständig spezifisch bestimmt ist das räumliche Außereinander allerdings erst durch die Kennzeichnung ›zugleich‹, denn das durch die Angabe ›nebeneinander‹ ausgedrückte bloße Nachbarschaftsverhältnis läßt sich auch noch auf die Momente der Zeit übertragen und trifft somit das Eigentümliche des Raums noch nicht.1 Durch die Vorstellung des Raums wird demnach eine Ordnung des Außereinander als gleichzeitiges Nebeneinander vorgestellt, in der ein seinerseits verortetes Subjekt sich außer und zugleich neben den ihm in der Anschauung erscheinenden Gegenständen befindet, die seinen Empfindungen als Materie dieser Empfindungen korrespondieren und die ihrerseits zueinander in den Verhältnissen dieser besonderen Nebeneinanderordnung stehen. Diese Ordnung des zugleichseienden Nebeneinander als solche ist anders als die Inhalte, die in ihr geordnet sind, »Form der Erscheinung«, denn, so 1

Die den Raum allein spezifisch charakterisierende Bestimmung des Zugleichseins, die bei Kant seit 1787 betont ist, hat Gerold Prauss (Die Welt und wir. 1. Bd., 1. Teil: Sprache – Subjekt – Zeit; bes. 131 ff.) als erster nachdrücklich herausgestellt, was in der Kant-Forschung allerdings noch nicht gebührend berücksichtigt ist (vgl. die gängigen Kommentare zu Kants Vernunftkritik: Georg Mohr/Marcus Willaschek (Hg.): Kritik der reinen Vernunft; Otfried Höffe: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie). Des weiteren entwickelt Prauss vermittelst der Bestimmung des Zugleichseins Thesen zum Verhältnis von Raum und Zeit, zuvörderst die von der Priorität der Zeit, denn Zugleichsein bedeute Negation von Nacheinander, also Abhängigkeit von dem durch es Negierten (vgl. bes. 137 f.).

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Kant, »dasjenige […], welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung« (A 20/B 34). Diese Form der Erscheinung als die räumliche Nebeneinanderordnung des Erscheinenden hat ihrerseits kein Erscheinen in einem materialen Sinn, d. h. diese Form ist nichts, was empfunden werden könnte. Es gibt von ihr, um in der Sprache Humes zu reden, keine ›impression‹. Zwar wird das räumliche Nebeneinander der erscheinenden Dinge auf eine gewisse Weise angeschaut, doch insofern dies kein eindruckshaftes Anschauen ist, kein empirisches also, ist es reines Anschauen, das seinen Ursprung im Subjekt des Anschauens hat, genauer in seiner Sensibilität, d. h. in seiner nach außen gerichteten Empfindlichkeit. Dem entgegen die Raumordnung für einen Moment als eine vorausgesetzte, von der Sinnlichkeit des Subjekts getrennte äußere Gegebenheit anzusehen, führte zu der absurden Konsequenz, daß, um von ihr Kenntnis zu erlangen, auf seiten des Subjekts ein eigentümliches Sensorium vorauszusetzen wäre, das als eine nach außen gerichtete Empfänglichkeit von der Raumform Eindrücke erlangen können müßte. Solches Richtungnehmen nach außen aber wäre bereits räumliches Vorstellen, so daß paradoxerweise ein Raumvorstellen vorausgesetzt wäre, um vom unterstellten subjektunabhängigen Raum eine Vorstellung erst zu bekommen. Diese widersinnige Folge aus der Annahme eines ursprünglich subjektunbezüglichen Raums kann als Bestätigung der Position Kants genommen werden, wonach der Raum eben nicht von vorausgesetzter äußerer Erfahrung ›abgezogen‹ bzw. von ihr ›erborgt‹ (A 23/ B 38) ist, sondern wonach er solche äußere Erfahrung als subjektursprüngliche Form der Anschauung allererst ermöglicht.

3. Das Erklärungsdefizit der ›transzendentalen Ästhetik‹: die bestimmte Raumgestalt

Vom Raum als Form der Anschauung des Mannigfaltigen der Erscheinung ist nun, so Kant in der ›transzendentalen Ästhetik‹, »auch selber reine Anschauung« (A 20/ B 34 f.) möglich, was so viel heißt wie: Er kann einem nichtempirischen Anschauen zum Gegenstand werden. Möglich ist das, »wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Theilbarkeit etc., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc., absondere«; was nach dieser das rein Formale des Raums isolierenden Abstraktion noch übrig bleibt, sind, so Kant, »Ausdehnung und Gestalt« (A 21/ B 35). Daß zum Resultat dieser Abstraktion auch Gestalt gehören soll und reines Anschauen demnach auch Gestaltanschauen ist, ist es wert, eigens festgestellt zu werden. Denn das Anschauen reiner Raumgestalten ist ein zur vorherigen Charakteristik der Raumordnung hinzukommender Aspekt. Nach der vorherigen Be-

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schreibung der Raumordnung war ihre Struktur bloß durch den unbestimmten Größenbegriff des Mannigfaltigen angegeben worden, der keine abzählbare Vielheit von Elementen meint. Er meint in der von allem Verstandesmäßigen und Empirischen bereinigten reinen Anschauung nur ein unbestimmtes Außereinander als ein diffuses Nebeneinander von Örtern. An einer Stelle seiner Physischen Geographie vergleicht Kant den Raum mit Wasser, wobei der Punkt der Gemeinsamkeit beider sein soll, ohne »Figur und Gestalt« zu sein (PG; AA 9,190). Zum Vergleichsstück eignet sich der Raum hier ersichtlich nur, wenn unter ihm jene bloße unbestimmte Ordnung des Außer- und zugleichseienden Nebeneinander verstanden wird, unter Absehung davon also, daß im Raum auch Gliederung nach bestimmten Räumen möglich ist. Was mit der Gestalt als einem solchen bestimmten Raum hinzukommt, ist innere Artikulation des Raums, d. h. es kommt hinzu die Abgemessenheit von wohlbestimmten Partialräumen. Auf dem Gebiet der reinen Anschauung ist dabei etwa an eine geometrische Figur als gestalthaftem Ausschnitt aus jenem einen allbefassenden unendlichen Anschauungsraum zu denken, von dem die sogenannten 3. und 4. Raumargumente in B handeln. Kant widmet in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft der Geometrie und ihren Gegenständen ein spezielles sogenanntes Raumargument und in der zweiten Auflage sogar, dieses Argument ersetzend, einen eigenen Paragraphen (§ 3; B 40 f.). Als Spezifikation von Gestalt kommt im Raumargument eine gerade Linie vor, von der noch zusätzlich dazu, daß bloß ihre Vorstellung evoziert ist, die synthetische Erkenntnis a priori ausgedrückt ist, daß nur eine einzige davon zwischen zwei Punkten zu ziehen möglich sei (vgl. A 24). Daß es sich bei den Raumgestalten der Geometrie um solche handelt, die in reiner und nicht etwa in empirischer Anschauung vorgestellt werden, braucht kaum eigens betont zu werden, obwohl nicht selten empirische Gestalten als ihre Zeichen und damit als Hilfsmittel zu ihrer Vorstellung gebraucht werden, etwa das Dreieck an der Tafel. Eine solche empirische Gestalt mag der eigentlich gemeinten zwar ähnlich sein, adäquat ist sie ihr allerdings nie, im Fall einer Linie z. B. im Punkt der Idealisierung nicht, keine zweite Dimension zu besitzen. Indem also die Gestalten der Geometrie dieser Wissenschaft gerade als idealisierte thematisch sind, nie also die empirischen Hilfsmittel zu ihrer Vorstellung als solche, muß es ein diesen Idealisierungen angemessenes Vorstellungsvermögen geben; es ist das Vermögen der reinen Anschauung. Doch zurück zu dem, was die Vorstellung reiner Raumgestalten dem Verständnis des Raums als Ordnung des bloßen Außer- bzw. zugleichseienden Nebeneinander einer Mannigfaltigkeit von Örtern hinzufügt. Es ist, wie gesagt wurde, die innere Gliederung des Raums nach bestimmten Räumen, nach Teilräumen im Raum. Voraussetzung für solche Gliederung ist nun aber, daß die Elemente des Mannigfaltigen im Raum, das ist das Mannigfaltige der durch ihre Abständigkeit unterschiedenen Örter, als auf bestimmte Weise in Verbindung stehend vorgestellt werden. Mit der

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Vorstellung von Gestalt wird also hinzukommend zu dem, was zuvor in der Außerund Nebeneinanderordnung nach Art der Zerstreuung isolierter Örter zu denken war, Zusammenhang und Verbindung zu Einheiten, zu bestimmten Räumen im Raum, vorgestellt. Kant hält sich in der ›transzendentalen Ästhetik‹ offenbar für berechtigt, von solchen bestimmten Räumen ohne weitere Erläuterungen zu sprechen. Er tut es, ohne eine Problematisierung erkennen zu lassen, indem er von »vielen Räumen« spricht, die »Theile eines und desselben alleinigen Raumes« (A 24/B 39) seien. Von diesen vielen Räumen heißt es, daß sie »nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandtheile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden« können (ebd.). Das Begründungsverhältnis ist demnach umgekehrt: Der eine allbefassende Raum, der, obwohl allbefassend, doch nicht auf die Weise eines Behälters wird allbefassend sein können, weil eben unmöglich durch Teilräume zu konstituieren, wird als Voraussetzung dafür gedacht werden müssen, daß Partialräume als bestimmte Ausschnitte, als seine »Einschränkungen« vorgestellt werden können, und zwar eben »in ihm« (ebd.). Diese Kennzeichnung »in ihm« nimmt vorweg, was das 4. Raumargument (in B) noch eigens thematisieren wird, nämlich daß die Vorstellungsart der Teilräume Anschauung und nicht Begriff ist, denn die Instantiierungen von Begriffen, d.h. die in ihren Umfang fallenden Individuen, können nicht als im Begriff enthalten angesehen werden, weil sie durch mehr Merkmale bestimmt sind, als es ihr abstrakter Gattungsbegriff ist, der sie aus diesem Grund bloß unter sich begreift. Daß die Teilräume im Raum nach der anschauenden Vorstellungsart als bestimmte Räume vorgestellt sind, sagt der Text des 3. Arguments auch dadurch aus, daß er sie als Voraussetzungen für die dann späterhin doch auch möglichen Begriffe »von Räumen« bezeichnet. Unter diesen Begriffen von Räumen sind etwa die Begriffe von Raummaßen zu verstehen, die ersichtlich, um leisten zu können, was sie leisten sollen, nämlich ein Ausmessen zu ermöglichen, sich auf ein Grundmaß zurückbeziehen müssen, das einen bestimmten Charakter haben muß und keinen diffus unbestimmten haben darf. Schließlich ist die Bestimmtheit der Räume im hier thematischen 3. Argument (in B) auch dafür Voraussetzung, daß geometrische Grundsätze aus ihrer Anschauung abgeleitet werden können, etwa, so Kants Beispiel, für einen Grundsatz aus der Anschauung der Raumgestalt »Dreieck«, »daß in einem Triangel zwei Seiten zusammen größer sind, als die dritte« (ebd.). Zusammenfassend kann durch all dies als belegt gelten, daß die ›transzendentale Ästhetik‹, in der Kant bekanntlich »die Sinnlichkeit isoliren« wollte, »damit nichts als reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen übrig bleibe« (A 22/ B 36), den Raum als die eine der beiden Formen der Anschauung nicht bloß als eine sich ans Empfinden anschließende Nebeneinanderordnung von Örtern vorstellt, nicht bloß als die ins unendlich Offene gehende Minimalordnung des Nebenein-

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ander von unbestimmt Mannigfaltigem in extensiver Zerstreuung, sondern daß sie den Raum auch als bereits innerlich artikuliert, als Raumgestalt implizierend, als durch Teile eingeteilt bzw. als im Prinzip bereits metrisiert auffaßt. Dazu ist vorausgesetzt, daß die Elemente der Raumordnung nicht bloß durch ihr Außereinander zu charakterisieren sind, sondern als außereinander und beisammen – beisammen nämlich in den Einheiten, die als bestimmte Teilräume von anderen solchen Teilräumen wohlunterschieden sind. Hinsichtlich dieses zuletzt genannten Beisammenseins von nebeneinanderliegenden Örtern in Einheiten, d.h. in bestimmten Teilräumen bzw. Raumgestalten, wodurch Raum nicht mehr nur Form einer disparaten Außereinander-Mannigfaltigkeit ist, ist nun innerhalb der Kritik der reinen Vernunft eine signifikante Fortentwicklung zu beobachten. Die Nachzeichnung dieser Fortentwicklung wird erkennen lassen, daß in dem den Raum betreffenden Teil der ›transzendentalen Ästhetik‹ die vollständige Theorie des Raums mitnichten enthalten ist, ja daß die hinzukommenden Theoriestücke trotz einer von Kant zur Beschwichtigung vorgetragenen Bemerkung nicht bloß ergänzend bzw. verdeutlichend sind, sondern daß sie die in der ›transzendentalen Ästhetik‹ vorgetragene Theorie in mindestens einem Punkt wesentlich modifizieren. Terminologisch ist die Neuerung dadurch ausgedrückt, daß vom Raum nicht länger bloß als ›Form der Anschauung‹ die Rede ist, sondern nun auch noch als ›formaler Anschauung‹. Der neue Terminus findet sich zwar erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die durch ihn bezeichnete veränderte Hinsicht auf den Raum aber doch auch schon der Sache nach in der ersten Auflage. Er findet sich ein wenig versteckt in einer Fußnote des § 26 der Kategoriendeduktion der zweiten Auflage. Angebunden ist diese Fußnote an die Aussage des Haupttextes, daß Raum und Zeit nicht bloß »Formen der sinnlichen Anschauungen« seien, sondern »Anschauungen selbst« (B 160). Als erstes ist dem die negative Aussage zu entnehmen, daß dem Raum als Form der Anschauung offenbar etwas fehlt, um solche Anschauung selbst zu sein, d.h. im Klartext: um als Raum überhaupt angeschaut werden zu können. Was die Wendung »Anschauung selbst« des weiteren positiv bedeuten soll, ist an der besagten Stelle so erläutert, daß durch Anschauung selbst das Mannigfaltige der Zeit und des Raumes, d. i. im Fall des Raums die Mannigfaltigkeit der zerstreuten Örter, »mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen […] vorgestellt« (B 160) sei. Das Mannigfaltige ist damit, was es zuvor nicht war, nämlich ein zur Einheit zusammengeschlossenes Mannigfaltiges. Das zur bloßen Form der Anschauung Hinzukommende, das zur Möglichkeit des Anschauens offenbar nötig ist, was also die formale Anschauung spezifisch charakterisiert, ist, so die Fußnote weiter, »Zusammenfassung des Mannigfaltigen« zur Einheit einer »anschauliche[n] Vorstellung« (B 160 Fn). »Form der Anschauung«, so Kant jetzt, gibt »bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung« (ebd.). Erst unter Voraussetzung solcher Einheit der

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Vorstellung wird der Raum »als Gegenstand vorgestellt« (ebd.). Raum und Zeit im Verständnis von Formen der Anschauung reichen demnach zur gegenständlichen Vorstellung von Raum und Zeit, welche Vorstellung Einheit verlangt, nicht zu. Was man näherhin unter einem als Gegenstand vorgestellten Raum zu verstehen habe, erläutert im erörterten Kontext die knappe, in Klammern gesetzte Angabe, daß man dieses Als-Gegenstand-Vorstellen »in der Geometrie« benötige (ebd.). Unter formalen Anschauungen dürfen demnach die Gegenstände der Geometrie, Dreiecke etwa, verstanden werden, d.h. Raumgestalten jenes nichtempirischen Raumanschauens, die über die diffuse Mannigfaltigkeit von bloßen Örtern im zugleichseienden Neben- und Außereinander hinaus den Raum als einen artikulierten vorstellen lassen. Diese Raumgestalten stellen bestimmte Verbindungen von Örtern dar, d. h. von Elementen der vormaligen bloßen Mannigfaltigkeit, anders, Zusammenfassungen solcher Elemente zu gegenständlichen Einheiten. Die Vorstellungsart im Erfassen dieser idealen Entitäten ist, wie gesagt, ein reines Anschauen. Ihre ideale Gegenständlichkeit steht, so zu reden, vor dem geistigen Auge dieses nichtempirischen Anschauens.

4. Raum als formale Anschauung – Produkt des durch Einbildungskraft synthetisierenden Verstandes

Um nun dem eigentlich wichtigen Aspekt des Vermögens zum reinen Anschauen formaler Anschauungen näherzutreten, sei von den als fertig betrachteten Raumgestalten noch einmal zurückgetreten, in der Absicht nämlich, ihre Genese zu thematisieren. Von ihrer Erzeugung muß nämlich deshalb gesprochen werden, weil sie nicht als von vornherein fertige räumliche Entitäten angesehen werden können, die es etwa bloß aufzusuchen und vorzufinden gilt. Dreiecke etwa haben keine Vorfindlichkeit, weder in der reinen Anschauung noch erst recht in der empirischen. Wie alle anderen dieser Raumgestalten müssen sie durch anschauungserzeugende Akte produktiver Einbildungskraft in der reinen Anschauung allererst konstruiert werden. Kant drückt diesen Erzeugungsaspekt formaler Anschauungen aus, wenn er sagt (B 154): »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu beschreiben […]«. Ergebnisse solchen Ziehens und Beschreibens sind dann unter den Örtern des Raums, d. h. unter der bloßen Mannigfaltigkeit seiner disparaten Elemente, zustande gebrachte Verbindungen bzw. Zusammenfassungen seines Mannigfaltigen zu gegenständlichen Einheiten, eben etwa zu Linien und Kreisen als Gegenständen reinen Anschauens. Nach der gegebenen Erklärung ist es für Kant unumgänglich, in der Fußnote, die den Terminus »formale Anschauung« einführt, zuzugestehen, daß die durch ihn bezeichnete Zusammenfassung des Mannigfaltigen auf »Synthesis« beruht, »die

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nicht den Sinnen angehört« (B 160 Fn). Zwar versucht er zu rechtfertigen, daß er die in der ›transzendentalen Ästhetik‹ noch nicht so benannte, der Sache nach aber anwesende formale Anschauung – man denke jetzt an den dort vorgekommenen Gestaltbegriff oder an die Rede von den Raumteilen – dort trotz ihrer nicht aus den Sinnen stammenden Einheit »zur Sinnlichkeit gezählt« habe (ebd.). Sein Rechtfertigungsgrund ist, daß die formalen Anschauungen als Ergebnisse der Synthesis der Einbildungskraft doch noch erst Anschauungen sind, d.h. daß sie selbst, obwohl durch sie dann »Begriffe vo[m] Raum« möglich werden, doch noch »vor allem Begriffe« liegen (ebd.). Diese Begründung ist allerdings nicht recht befriedigend, denn mit der Einsicht in die Abhängigkeit des Vorstellens bestimmter Räume von Synthesishandlungen kann dieses Vorstellen, nach den wichtigsten Unterscheidungskriterien zwischen Sinnlichkeit und Verstand beurteilt, nicht mehr der Sinnlichkeit zugeordnet werden. Die Hauptunterscheidung liegt nach diesen Kriterien nämlich darin, daß Sinnlichkeit rezeptiv, die andere Erkenntnisquelle dagegen spontan sein soll. Die Kriterien der Rezeptivität und der Spontaneität in Anschlag gebracht, müßten die in ihrer Synthesis produktive Einbildungskraft und die formale Anschauung als ihr Produkt, obwohl erst die Grundlage für Begriffe vom Raum legend, der Seite der Spontaneität des Verstandes zugerechnet werden. In dem Paragraphen des Deduktionskapitels (von B) – es ist der § 15 –, in dem Kant eigens die »Möglichkeit einer Verbindung überhaupt« thematisiert, ist er hinsichtlich der Zuordnung der Einheit selbst des vorbegrifflich anschauenden Vorstellens zum Verstand denn auch eindeutig und läßt keinen Spielraum für Gründe, diese Einheit etwa doch zur Sinnlichkeit zu zählen (B 129 f.): »Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen, und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und da man diese zum Unterschiede von der Sinnlichkeit Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht, es mag eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen oder nichtsinnlichen Anschauung sein, eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts als im Object verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objecte gegeben, sondern nur vom Subjecte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbstthätigkeit ist.« Von den angesprochenen Verbindungen, unter denen natürlich die von »mancherlei Begriffe[n]« in Urteilen die durch das Erkenntnisvermögen »Verstand« letztlich intendierte ist, ist hier ausdrücklich auch die in der von uns erwogenen »nicht sinnlichen« – sprich: reinen – »Anschauung« dem Verstand und auch nicht andeutungsweise der Sinnlichkeit zugeordnet.

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Mit der Anbindung schon der Einheit der Anschauung, die eine Synthesis voraussetzt, an den Verstand ist diese Einheit an das angebunden, was nach Kant der höchste Bezugspunkt der ganzen Transzendentalphilosophie ist, d. i. die »synthetische Einheit der Apperception« (B 133 Fn). Dieses Vermögen nennt er auch »Verstand selbst« und sagt von ihm, daß man an es »allen Verstandesgebrauch […] heften« müsse (ebd.), wobei in unserem Fall speziell jener vorbegriffliche Verstandesgebrauch im Erzeugen reiner Raumanschauung thematisch ist. Daß zuvor von der Einbildungskraft als demjenigen Vermögen die Rede war, das diese Anschauung erzeugt, begründet dabei keinen Widerspruch, denn Kant versteht die – in der Tat noch nicht »intellektuell« zu nennende, weil eben vorbegriffliche – Synthesis der Einbildungskraft als »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen)« (B 152).2 Ohne synthetische Einheit des Selbstbewußtseins, und zwar nicht erst auf der Stufe der Verwendung von Begriffen in Urteilen, sondern schon auf der Stufe der im Dienste des Verstandes dessen erste Tätigkeiten ausführenden Einbildungskraft, die durch formale Anschauungen gegenständliche Anschauungseinheiten erzeugt, würden die »Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, […] nicht insgesammt meine Vorstellungen sein« (B 132). Synthesishandlungen, die auf der Gegenstandsseite des Anschauens Einheit erzeugen, müssen auch auf der Subjektseite »einig« sein (B 130) und setzen hier also »durchgängige Identität der Apperception« voraus (B 133). Ohne die Einheit numerisch identischen Selbstbewußtseins herrschten auf der Seite des Erkenntnissubjekts Zerstreuung und Fragmentierung. Ich hätte nach Kant »ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst […], als ich Vorstellungen habe« (B 134), d. h. ich hätte gar kein Selbst. An eine im Mannigfaltigen der Anschauung zu stiftende Einheit, speziell an die Einheit formaler Anschauungen, wäre in dieser Lage nicht zu denken. Das Ergebnis der Erwägungen, die den Bedingungszusammenhang zwischen der gegenständlichen Einheit in der Sphäre der Anschauung und der Einheit auf seiten des Subjekts der Synthesishandlungen thematisieren, drückt Kant durch den folgenden Satz aus (B 143): »Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört nothwendig unter die ursprüngliche

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Daß Kant die Einbildungskraft an der zitierten Stelle wiederum auch der Sinnlichkeit zuordnet, überzeugt auch hier nicht. Als Grund dafür wird angegeben, daß »alle unsere Anschauung sinnlich ist« (B 152), was wohl ein Hinweis darauf sein soll, daß zur Ausübung der Synthesis der Einbildungskraft ein bloßes Mannigfaltiges durch Rezeptivität gegeben sein muß, weil sie ohne dies nicht tätig sein könnte. Das allerdings gilt (auf vermittelte Weise) auch für den dann begrifflich fungierenden Verstand, ohne daß dieser der Sinnlichkeit in einem anderen Sinne zugehört, als daß er auf etwas korrespondierend Sinnliches bezogen sein muß, um etwas erkennen zu können. – Daß die vorbegriffliche Synthesis der Einbildungskraft unter der Leitung des Verstandes stehen soll, ist von Heidegger (Kant und das Problem der Metaphysik) bekanntlich als Rückschritt der zweiten Auflage gedeutet worden.

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synthetische Einheit der Apperception, weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist (§ 17).« Das bis hierhin erzielte Hauptergebnis, daß nämlich eine im Verstand, d. h. zuletzt eine im transzendentalen Selbstbewußtsein gegründete und durch Einbildungskraft vorbegrifflich ausgeführte Synthesis nötig ist, um räumliches Vorstellen im Verständnis des Vorstellens bestimmter Räume als gegenständlicher Einheiten (z. B. Linien) zu ermöglichen, ist vor allem unter dem Gesichtspunkt bemerkenswert, daß dieses räumliche Vorstellen damit der spontan tätigen Erkenntnisquelle zuzuordnen ist und nicht, wie es zunächst nahegelegt war, der rezeptiv erleidenden. Die Tragweite dieses Ergebnisses wäre allerdings noch nicht ermessen, wenn, wie bisher geschehen, unter den bestimmten Räumen als gegenständlichen Einheiten vorzugsweise die Gegenstände der Geometrie, d. h. die vielerlei Gestalten der reinen Anschauung, verstanden würden, wenn also bloß deren Charakter als Produkte synthetisierend tätigen Erzeugens akzentuiert bliebe. In diesem Fall wäre das Ergebnis von bloß eingeschränkter Relevanz für die doch eher derivative mathematische Spezialwissenschaft von den Raumgestalten. Die Aufhebung dieser Einschränkung wird von Kant – zunächst auf die Weise einer noch unerläuterten These – durch die Aussage ausgedrückt, daß »Bewegung, als Beschreibung eines Raumes […] ein reiner Actus der successiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt« sei und daß sie aufgrund dieser allgemeinen Bedeutung für das äußere Anschauen »nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transscendentalphilosophie« gehöre (B 155 Fn). Das Linienziehen in Gedanken ist demnach von Bedeutung hinsichtlich der uranfänglichen Eröffnung allen äußeren Anschauens überhaupt.3 3

Im Kommentar von Wolfgang Carl zur B-Deduktion (Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage) wird die hier von Kant eingeführte systematisch bedeutsame Unterscheidung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung nicht behandelt. Es kann dadurch nicht in den Blick kommen, daß das Theoriestück zur formalen Anschauung, wodurch die Synthesisabhängigkeit sowohl des Raum- als auch des Zeitvorstellens betont ist (insofern räumliche und zeitliche Einheiten bzw. Zusammenfassungen ihres Mannigfaltigen vorgestellt werden), die Raum- und Zeittheorie der ›transzendentalen Ästhetik‹ in einem neuen Licht erscheinen läßt, nämlich als vorläufig, unvollständig und als im Punkt der eindeutigen Zuordnung von Raum und Zeit zur sinnlichen Rezeptivität revisionsbedürftig. – In der A-Deduktion findet sich der Terminus »formale Anschauung« zwar nicht, der Sache nach ist aber auch hier schon deutlich ausgeführt, daß ohne Synthesen (die der Apprehension und der Reproduktion in der Einbildung, vgl. A 98–102) die Vorstellungen bestimmter Räume und Zeiten nicht entstehen könnten, d. h. daß ohne diese »nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen« (A 102) könnten. Auch der Kommentator dieser Deduktion, Hansgeorg Hoppe (Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage), schenkt den Konsequenzen daraus hinsichtlich des Status der ›transzendentalen Ästhetik‹, die doch von einem Erklärungsdefizit hinsichtlich der reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit nichts ahnen ließ, keine Beachtung. – Da in dem hier in den Blick genommenen Kommentarband auch die beiden Beiträge, die der Raum- und Zeitlehre der ›transzendentalen Ästhetik‹ gewidmet sind (Reinhard

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Kant schreibt damit den durchaus auch auf dem Feld der Geometrie wirksamen Synthesen der Einbildungskraft eine weit grundsätzlichere Bedeutung zu, nämlich hinsichtlich der ursprünglichen Genese der, wie er in der A-Deduktion sagt, »erste[n] Grundvorstellungen von Raum und Zeit« (A 102). Gemeint sind selbstredend die ersten Grundvorstellungen des bestimmten Raums und der bestimmten Zeit, worin also das Außereinander des Mannigfaltigen beider Ordnungen durch Verbindung zur Einheit gebracht ist. Daß hier übrigens die ersten Grundvorstellungen von einer bestimmten Zeit in einem Atemzug mit denen des bestimmten Raums genannt werden, wird von Kant so begründet, daß wir uns »die Zeit […] nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen« (B 156). Er nennt diese im Vollzug ihres Ziehens zu denkende Linie auch »die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit« (B 154), wohl wissend, daß die Zeit »kein Gegenstand äußerer Anschauung ist« (B 156), zugleich aber auch erkennend, daß wir ohne diese Verräumlichung der Zeit im Bild einer Linie, d. h. bloß mit Bezug auf die Innerlichkeit des inneren Sinns zu einer bestimmten Vorstellung der Zeit gar nicht kommen könnten. Denn der innere Sinn, insofern ihm nicht mehr zugeschrieben werden soll, als er in seiner reinen Rezeptivität wirklich darbietet, weist immer nur ein empfindungshaft besetztes Jetzt auf. Im inneren Sinn als bloßer Rezeptivität ist immer nur ein Jetzt in seiner unmittelbaren Präsenz gegeben. Dieses Brandt: Transzendentale Ästhetik, §§ 1–3), kaum ahnen lassen, daß mit dem Begriff der formalen Anschauung noch ein wichtiges, diese Lehre modifizierendes Theoriestück folgen wird, fällt der gesamte Kommentarband unter das Verdikt von Gerold Prauss (Die Welt und wir. 1. Bd., 1. Teil: Sprache – Subjekt – Zeit), daß die aus dem Verständnis der formalen Anschauung zu gewinnenden Einsichten, zuvörderst die von der Synthesis- bzw. von der Verstandesabhängigkeit des zur Einheit zusammengefaßten räumlichen und zeitlichen Außereinander, »trotz ihrer kaum zu überschätzenden Bedeutung für Philosophie als ein System bis heute noch so gut wie unbeachtet bleiben« (319). Das Unbeachtete ist, wie Prauss es ausdrückt, daß die Verwirklichung des »Vermögens Sinnlichkeit zu etwas Sinnlichem, von Form der Anschauung zu je besonderer formaler Anschauung, von Mannigfaltigem oder von Außereinander zu dem je bestimmten eines Nacheinander und Zugleich von Zeit und Raum […] eine Synthesis durch den Verstand der Subjektivität voraus[setzt]« (320). In Otfried Höffes Kommentar (Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie) ist, mit Blick auf die ›transzendentale Ästhetik‹ gesprochen, so wie es auch bei Kant selbst zunächst den Anschein hat, dem durch Sinnlichkeit gegebenen Raum »Gestalt und Erstreckung« (89) zugeschrieben, entsprechend der Zeit die Umfassung des Jetzt, Damals und Später (vgl. 93), die »Zeitstrecke« also, z. B. »eine gewisse Vorlesungsstunde« (96). Höffe hält zwar die in der B-Deduktion – dem Ausdruck nach – hinzukommende formale Anschauung für eine ihrer Neuerungen, findet sie aber nur »für seine [Kants] Mathematiktheorie wichtig« (132). Daß sie in grundlegenderer Hinsicht wichtig ist – wie der Sache nach schon aus der A-Deduktion hervorgeht – entgeht auch ihm. Formale Anschauung und mit ihr also Synthesis, die nicht der Sinnlichkeit zugehört, sind schon wichtig etwa hinsichtlich der uranfänglichen Vorstellung von zeitlicher Erstreckung überhaupt, sei es die Erstreckung der »Vorlesungsstunde« oder, so Kants Beispiel, die Erstreckung der »Zeit von einem Mittag zum andern« (A 102).

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Jetzt ist zwar ein immer anderes, insofern das jetzige Jetzt die Ablösung eines vorigen ist und es auch seinerseits durch ein kommendes ersetzt werden wird, doch schon diese Vorstellung eines Zusammenhangs der Augenblicke setzt mehr voraus, als der innere Sinn als solcher, d. h. als bloßes Vermögen der Empfänglichkeit, zu erzeugen in der Lage ist. Als bloß sinnliches Vermögen ist er vollständig absorbiert von der Präsenz des Jetzt, d. h. er weiß in dieser Befangenheit von keinem vorigen und keinem künftigen. Allein diesen inneren Sinn in einem strikt rezeptiven Verständnis unterstellt, d. h. – in Kants Worten – »ohne eine dabei vorkommende Synthesis« (A 99), käme es zu gar keinem zeitlichen Zusammenhang eines Bewußtseinslebens. Kants Angabe des Grundes für diese unter der alleinigen Wirksamkeit des inneren Sinnes zu unterstellende Atomisierung des Bewußtseins lautet knapp: »[D]enn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein« (ebd.). Mit Einheit ist hier Einzelheit gemeint. Zur Vermeidung dieser Situation, die nicht unsere wirkliche ist, sondern die nur fingiert ist, um die Konsequenz aus einer etwa allein als wirksam unterstellten bloß passiven Sinnlichkeit aufzuzeigen, ist also Synthesis nötig, d. h., allgemein ausgedrückt, eine nicht aus Sinnlichkeit entspringende verbindende Tätigkeit spontanen Gemütsvermögens. Als erste spezifische Synthesishandlung führt Kant in unserem Zusammenhang diejenige an, wodurch das Gemüt »die Zeit in der Folge der Eindrücke auf einander« unterscheidet (A 99). Solches Unterscheiden bedeutet bereits ein Verbinden, d. h. ein In-Beziehung-Setzen der Augenblicke. Seine weiteren Angaben zur thematischen Synthesis, die er insgesamt »Synthesis der Apprehension« nennt, lauten, daß das Mannigfaltige des durch Sinnlichkeit Gegebenen sein »Durchlaufen« und dann seine »Zusammennehmung« notwendig mache (ebd.). Schließlich veranschlagt er noch eine weitere, eigens als Synthesis der Reproduktion benannte Synthesis, die mit der der Apprehension »unzertrennlich verbunden« (A 101) sei, was auch sofort einsichtig wird, wenn sie als diejenige Synthesis erläutert wird, mit der verhindert wird, daß beim Durchlaufen der Elemente der Mannigfaltigkeit die »vorhergehende[n]« oder die »einander vorgestellte[n]« »aus den Gedanken« verloren werden (ebd.). Eben durch die Reproduktion dieser Elemente wird dies verhindert. All diese Handlungsaspekte der genannten Synthesen setzen die Lösung aus der Befangenheit in der unmittelbaren Gegenwart des Augenblicks voraus; anders gesagt, setzen sie die Lösung aus der Absorption durch das Jetzt voraus, die Distanzierung davon mit der dadurch eröffneten Möglichkeit des Überblicks über mehrere der Augenblicke. Da Kant dieses Synthetisieren, weil es noch kein Synthetisieren nach Begriffen ist, dem Vermögen »Einbildungskraft« zuschreibt, sei an dessen Basisbestimmung erinnert, nämlich ein Vermögen zu sein, etwas »auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (B 151). Was sich nun auf die besagte Weise des Sich-Lösens aus der unmittelbaren Präsenz des jeweiligen einzelnen Jetzt

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und aus der distanzierten Position des Überblicks über mehrere der Augenblicke erzeugen läßt, ist die Vorstellung der Zeit als einer sich erstreckenden Zeit, das ist die Vorstellung der Zeit als Zeitspanne. Es ließe sich auch sagen – nämlich eingedenk des Kantischen Diktums, daß die Linie die äußerliche figürliche Vorstellung der Zeit sei –, daß sich so die Vorstellung eines Zeitraums generiert. Damit ist, wie Kant sich ausdrückt, »Einheit der Anschauung« erzielt, beziehungsweise es ist das Mannigfaltige nun, was es als Mannigfaltiges bloßer Sinnlichkeit nicht war, nämlich »in einer Vorstellung enthalten« (A 99). Ein Mannigfaltiges aus bloßer Sinnlichkeit, ein Mannigfaltiges ohne Synthesis also, kann, so Kant, gar »nicht als ein solches«, d. h. gar nicht als ein Mannigfaltiges, »vorgestellt werden« (ebd.), weil, wie zu ergänzen ist, Sinnlichkeit bloß das abständige Außereinander seiner isolierten Elemente, seien es die Stellen der Zeit oder die Örter des Raums, bietet, nicht aber ihr Enthalten-Sein in der Einheit einer anschaulichen Vorstellung. Ohne die genannten Aspekte einer tätig zu vollziehenden Synthesis, d.h. einer Synthesis, die eben nicht aus der Passivität der Sinnlichkeit heraus schlicht geschieht, könnten wir, so Kant, nicht »die Zeit von einem Mittag zum andern denken« und eben keine »Linie in Gedanken ziehe[n]« (A 102). Ohne sie würde »niemals eine ganze Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen« (ebd.). Um abschließend noch einmal vom Raum allein zu sprechen, vom Linienziehen also, insofern es nicht zugleich auch zum äußeren figürlichen Bild der Zeit sich eignen soll, wird nach dem Gesagten ersichtlich, daß es sich dabei, wenn es um die Genese der ersten Grundvorstellung vom Raum geht, um das vor allen in der Geometrie gezogenen Linien liegende Linienziehen handelt, als das unser Nach-außen-Blicken angesehen werden kann. Wenn diesbezüglich der Kantische Synthesisgedanke und sein Gedanke vom Ursprung aller Synthesis in Spontaneität wirksam bleibt, dann ist dieses Blicken als ein lebendiges und aktives zu betonen. Die Fichtesche Wendung vom Hinausblicken des Raums legt sich hier nahe.4 Mindestens das aber läßt sich mit Bezug auf Kant sagen, daß das Raumvorstellen sich bei ihm nicht allein der Passivität einer nach außen hin empfangsbereiten Sensibilität verdankt, sondern daß es zu seiner Möglichkeit auch der Spontaneität des Gemüts als der anderen Erkenntnisquelle bedarf.

4

In seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen aus dem Jahr 1800 faßt Fichte das äußere Anschauen als »ein thätiges Hinschauen, dessen, was ich anschaue; ein Herausschauen meiner Selbst aus mir selbst: Heraustragen meiner selbst aus mir selbst durch die einige Weise des Handelns, die mir zukommt, durch das Schauen. Ich bin ein lebendiges Sehen« (228 f.).

Die Zeit als Thema der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und der kritischen Metaphysik Ihre Bedeutung als Anschauungsform des inneren Sinnes und als metaphysisches Problem von Norbert Fischer Die ›Zeit‹ ist ein vielschichtiges Thema, das in mehreren Teilen der Kritik der reinen Vernunft eine Rolle spielt, nicht nur im zweiten Abschnitt der ›transzendentalen Ästhetik‹ unter dem Titel ›Von der Zeit‹, in dem Kant (nach dem ersten Abschnitt ›Von dem Raume‹) mit einer analog durchgeführten ›metaphysischen‹ und ›transzendentalen Erörterung des Begriffs der Zeit‹ beginnt, sodann ›Schlüsse aus diesen Begriffen‹ zieht und schließlich ebenso eine ›Erläuterung‹ vorlegt. Sein und Sinn der ›Zeit‹ kommen in der Kritik der reinen Vernunft danach noch öfter explizit und implizit zur Sprache: zum Beispiel in der ›Analytik der Begriffe‹ und der ›Analytik der Grundsätze‹, dort vor allem im Kapitel zum ›Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹, aber auch in der ›systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze des Verstandes‹.1 Weiterhin wird die Problematik der Zeit in der transzendentalen Dialektik bei der ›Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele‹ berührt – und im Antinomien-Hauptstück tritt die Frage nach dem Sein der Zeit wieder in das Zentrum der Untersuchungen. Auch in der ›Methodenlehre‹ ist die ›Zeit‹ nicht ohne Bedeutung.2 Außerdem kehrt das Thema ›Zeit‹ in anderen Hauptwerken Kants wieder, teils in Anknüpfung an die Kritik der reinen Vernunft,3 teils unter Ausarbeitung neuer Aspekte, zum Beispiel im Rahmen der Reflexionen zum ›formalen Grund der bösen Tat‹, der sich nicht als ›Zeitursprung‹ denken lasse.4 Auf solche Aspekte wird

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Zur Bedeutung der Zeit für die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vgl. B 160; vgl. Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, bes: Über Kants Lehre von der Zeit (269–294). Zur Funktion im Schematismus vgl. Martin Heidegger: Logik (GA 21), 375–380. Zu neueren Debatten Klaus Düsing: Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und ihrer modernen kritischen Rezeption. 2 »Meßkunst und Philosophie« seien »zwei ganz verschiedene Dinge«, die zwar »in der Naturwissenschaft einander die Hand reichen«; »das Verfahren des einen« könne »niemals von dem andern nachgeahmt werden« (A 726/B 754). 3 In der Kritik der praktischen Vernunft hat das Zeitproblem ebenfalls Gewicht; z. B. Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft (A 169–175; 180–184); oder: Die Unsterblichkeit der Seele als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft (A 220–223); auch in KU spielt die Zeit eine Rolle, z. B. im Blick auf das Schöne in der Kunst (B 99 f.; 212). 4 Große Bedeutung hat die ›Zeit‹ also noch einmal in RGV, z. B. im Blick auf »Zeitbedin-

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am Ende des Beitrags kurz eingegangen. Zudem ist es möglich und angebracht, die Fragen, in denen Kant ›alles Interesse der menschlichen Vernunft‹ vereinigt sieht, »das speculative sowohl, als das praktische«, auf das Zeitproblem zu beziehen.5 Die Herstellung dieser Beziehung ist möglich, weil in diesen Fragen ›im Grunde‹ nach dem Menschen gefragt wird,6 dessen Anschauung als endliche sinnlich und derart durch Raum und Zeit bestimmt ist. Und angebracht ist sie, weil ›das praktische Interesse der reinen Vernunft‹ Antwort auf die Frage fordert, ›was der Mensch ist‹, der – indem er als Vernunftwesen nach Gott und einem künftigen Leben zu fragen hat – vorerst auf die Fragen verwiesen ist, was er ›wissen kann‹, was er ›tun soll‹ und was er ›hoffen darf‹ (vgl. A 803–805/B 831–833). Die ›Zeit‹, die Kant als apriorische »Form des innern Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes« auslegt (A33/B 49), nicht als ›für sich bestehendes Unding‹ (A 39/B 56), galt in der Geschichte der abendländischen Philosophie stets auch als Problem der Metaphysik. So stellt Platon die Zeit als Werk des erzeugenden Vaters dar (Timaios 37c). Dessen Ewigkeit denkt er als beharrendes Urbild, das Werk als bewegliches Abbild (37d: eÝkw1 […] kinhto2n tina aÝw/no@); der Himmel sei als in Zahlen fortschreitendes Bild der Ewigkeit gestaltet, das er Zeit nennt (37d: kaì diakosmw/n a²ma ou4rano1n poieî me2nonto@ ai4w/no@ e4n e3nì kat0 a4rijmo1n Ýou/san ai4w2nion eÝko2na). Sofern der Schaffende das Ziel gehabt habe, sein Werk sich – dem Urbild – ähnlich zu machen (37e), ist zwischen dem immerseienden, hervorbringenden Gott (34a: jeo1@ w