Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 3: Der Ignorabimus-Streit 9783787318261, 9783787320127

In diesem Streit - ausgelöst durch Emil Du Bois-Reymonds Schrift Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) - ging es ni

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 3: Der Ignorabimus-Streit
 9783787318261, 9783787320127

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 3: Der Ignorabimus-Streit

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 1: Der Materialismus-Streit Band 2: Der Darwinismus-Streit Band 3: Der Ignorabimus-Streit

FELIX MEINER VERLAG



H AM BURG

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 3: Der Ignorabimus-Streit

Herausgegeben von

kurt bayertz, myriam gerhard und walter jaeschke

FELIX MEINER VERLAG



HA M BU RG

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1826-1

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Marcel Simon-Gadhof. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer, Bad Langensalza«. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Kurt Bayertz / Myriam Gerhard /Walter Jaeschke Einleitung .. . .. .. .. ... .. ... .. .. ... .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. ........................

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I. DIE IGNORABIMUS-THESE UND IHRE VORGESCHICHTE Günther Mensching Unbeschränkter Fortschritt und die Grenze des Erkennens. Zu einer Antinomie im Denken der Aufklärung . .. .........................

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Renate Wahsner Debatten über die Grenzen des Naturerkennens vor dem Ignorabimus-Streit ... .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. ........................

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Andrea Reichenberger Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede: ein diplomatischer Schachzug im Streit um Forschungsfreiheit, Verantwortung und Legitimation der Wissenschaft .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. .........................

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II. WIRKUNGEN IN DEN WISSENSCHAFTEN Hans-Jörg Rheinberger Der Ignorabimus-Streit in seiner Rezeption durch Carl Wilhelm von Nägeli . .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. ... .. .. .......................

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Dietrich von Engelhardt Das Ignorabimus Du Bois-Reymonds in Medizin und Psychiatrie .......

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Cord Friebe Das bleibende Rätsel der Kraft: Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus im Lichte der modernen Physik .. .. ... .......................

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Michael Stöltzner »Das ›Ignorabimus‹ ist sinnlos.«. Der Wiener Kreis und die Rückkehr eines alten Problems in der Quantenmechanik .. .. .........................

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Inhalt

III. PHILOSOPHISCHE WIRKUNGEN DES IGNORABIMUS Michael Pauen Die Grenzen des Erkennens: Von Du Bois-Reymond zur aktuellen Philosophie des Geistes .. ... .. ................................

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Kurt Bayertz »Das Rätsel gibt es nicht.« Von Emil Du Bois-Reymond über Wittgenstein zum Wiener Kreis . ... .. ... .. .. .................................

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IV. DAS IGNORABIMUS IN DER WISSENSCHAFTSUND ERKENNTNISTHEORETISCHEN DISKUSSION Hans Jörg Sandkühler Repräsentation – Grenzen und Entgrenzung der Erkenntnis. Von der Abbildung der Realität zur Befreiung des Sehens phänomenaler Wirklichkeit . .. .. ... .. ... .. .. .................................

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Myriam Gerhard Du Bois-Reymonds Ignorabimus als naturphilosophisches Schibboleth ... .. .. ................................

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Alexander C. T. Geppert Okkultismus als Anti-Ignorabimus: Zur Geschichte einer epistemischen Mesalliance, 1872–1913 ... .. .................................

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren .. ................................

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Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke

Einleitung

I. Das 19. Jahrhundert ist oft als eine Epoche naiver Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittsgläubigkeit angesehen worden, als ein Zeitalter des Positivismus und Szientismus. Doch obwohl es zahllose Belege gibt, die dieses Bild stützen, wird jede nähere Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert auf Tendenzen und Positionen stoßen, die sich nicht oder nur schwer in dieses Bild einfügen lassen. Dazu gehört auch der Ignorabimus-Streit, der durch eine Rede ausgelöst wurde, die Emil Du Bois-Reymond am 14. August 1872 auf der Leipziger Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte gehalten hatte. Bei einer Gelegenheit, die eine Eloge auf die bereits erzielten Errungenschaften der Naturwissenschaften geradezu herausforderte und bei der sich ein hoffnungsfroher Ausblick auf weitere, über das Erreichte noch hinausragende Einsichten in das Innerste der Natur geradezu aufdrängte, hatte es der berühmte Physiologe überraschenderweise vorgezogen, Über die Grenzen des Naturerkennens zu sprechen. Inhaltlich neu war dieses Thema natürlich nicht; doch von einem der einflußreichsten und prominentesten Repräsentanten der deutschen Naturwissenschaften zu einem solchen Anlaß vorgetragen, kamen seine Ausführungen einer wissenschafts›politischen‹ Sensation gleich. Du Bois-Reymond behauptete nämlich die Existenz von zwei unüberschreitbaren Grenzen jeglicher Naturerkenntnis. Die erste dieser Schranken sollte in der Unerkennbarkeit des Wesens der Materie bestehen. Ausgehend von einem klassischen Atomismus, versuchte Du Bois-Reymond nachzuweisen, daß sich das Denken in Widersprüche und Paradoxien verwickelt, sobald es sich mit diesem Thema beschäftigt. Unterstellen wir nämlich die Atome als unteilbare stoffliche Korpuskeln, so müssen sie einen (noch so geringen) Raum ausfüllen; dann aber ist nicht einzusehen, wie sie unteilbar sein sollen; gehen wir hingegen von der dynamischen Anschauung aus, nach der die Atome nicht stofflich, sondern als Mittelpunkt der Zentralkräfte gedacht werden, so erfüllen sie keinen Raum mehr und es ist nichts mehr da, wovon diese Zentralkräfte ausgehen könnten. Die zweite Grenze besteht nach Du Bois-Reymond in der Unmöglichkeit, die subjektiven Qualitäten des menschlichen Empfindens oder Denkens auf materielle Zustände zurückzuführen. Vorausgesetzt, wir verfügten über eine vollständige Kenntnis von Ort und Impuls jedes Gehirnatoms und könnten jeden beliebigen künftigen

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Zustand des Zentralnervensystems voraussagen; vorausgesetzt zweitens, wir kennten außerdem die mentalen Inhalte, die den jeweiligen Gehirnzuständen entsprechen, und wären somit in der Lage, eine vollständige Korrelation zwischen materiellen und geistigen Prozessen herzustellen; so könnten wir daraus keineswegs die subjektiven Qualitäten ableiten, denn einer noch so perfekten Korrelation wären keine apriorischen Kenntnisse darüber zu entnehmen, welcher materielle Zustand mit Wohlbehagen verbunden ist und welcher nicht. Da beide Grenzen prinzipieller Natur sind, beendet Du Bois-Reymond seine Rede mit jener pathetischen Prognose, die dann rasch zu einem geflügelten Wort werden sollte: »In Bezug auf die Räthsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ›Ignoramus‹ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn, trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiss, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. In Bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: ›Ignorabimus!‹«1 Die Rede schlug wie eine Bombe ein, und das Echo der Detonation sollte bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichen. Das Ignorabimus, mit dem Du BoisReymond seine Rede schloß, wurde zum Inbegriff einer bisweilen geradezu heftigen Diskussion, die nicht auf engere Fachkreise der Naturwissenschaften oder der Philosophie beschränkt blieb, sondern Ausläufer bis in die Theologie, die schöne Literatur und die Kultur hatte. Der auf diese Weise entbrannte Ignorabimus-Streit überschnitt sich personell und inhaltlich mit zwei älteren Kontroversen um die weltanschauliche Relevanz und Reichweite der Naturwissenschaften. Seit den 50er Jahren waren ›Materialisten‹ wie Carl Vogt oder Ludwig Büchner, seit den 60er Jahren ›Darwinisten‹ wie Ernst Haeckel mit der These aufgetreten, daß Philosophie und Religion historisch überlebte Formen des Denkens seien, und daß es an der Zeit sei, die gesamte Weltanschauung und die gesamte Organisation der Gesellschaft auf der Basis der Naturwissenschaften zu erneuern. In diese noch fortlaufenden Auseinandersetzungen platzte nun die Rede Du Bois-Reymonds, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie als eine Stellungnahme zu den darin verhandelten Fragen gewertet wurde. Obwohl Du Bois-Reymond selbst etwas Derartiges kaum beabsichtigt haben dürfte, bildet der Ignorabimus-Streit einen Umschlags- und Wendepunkt in 1

E. Du Bois-Reymond, Ueber die Grenzen des Naturerkennens: ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August gehalten von Emil Du Bois-Reymond, Leipzig 1872, 33.

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den einschlägigen Auseinandersetzungen. Der Materialismus-Streit und der Darwinismus-Streit wurden beide von starken Programmen der Ausweitung des naturwissenschaftlichen Denkstils auf die Weltanschauung insgesamt ausgelöst. Nach den Forderungen der Materialisten und Darwinisten sollte die Wissenschaft zur Grundlage allen Denkens werden; was keine Basis in den Fakten hat und naturwissenschaftlich nicht erklärbar war, sollte geistig keine Berechtigung und keinen Bestand mehr haben. Aus der Sicht dieser Programme waren die kontroversen Debatten der 50er und 60er Jahre kaum mehr als ein Rückzugsgefecht: Es gab eben immer noch rückständige Gemüter, die sich den Zeichen der Zeit verschlossen und in überholten Denkweisen verharrten. Hier liegt ein weiterer, wohl noch wichtigerer Grund für das Aufsehen, das die Ignorabimus-Rede erregte und für den Aufschrei, den sie provozierte. Du Bois-Reymond war eine naturwissenschaftliche Autorität im zweifachen Sinne. Als Professor für Physiologie, Ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Rektor der Berliner Universität war er ein bedeutender und einflußreicher Repräsentant der Naturwissenschaften im öffentlichen Leben; er sprach nicht nur für sich selbst, sondern als ein Vertreter der Naturwissenschaften überhaupt. Zum anderen war er auf seinem engeren Fachgebiet als Protagonist eines konsequent reduktionistischen Forschungsprogramms hervorgetreten und hatte sich durch eine Polemik gegen die ›Lebenskraft‹ einen Namen gemacht; er suchte keine Versöhnung mit der etablierten Weltanschauung und galt daher als ein hartgesottener ›Materialist‹. Daß ein solch exponierter Wissenschaftler nun plötzlich die Existenz unüberschreitbarer Erkenntnisgrenzen propagierte, mußte natürlich Aufsehen erregen. Dabei bejubelte die eine Partei das Ignorabimus als das Eingeständnis einer grundsätzlichen weltanschaulichen Impotenz der Naturwissenschaften, während die andere Seite es als eine Art von Verrat an Fortschritt und Freiheit brandmarkte. Tatsächlich hatte die Rede – ohne daß Du Bois-Reymond es vorausgesehen oder gar beabsichtigt hatte – einen (vielleicht sogar den) Nervenpunkt der gesamten damaligen Debatten getroffen. Denn wenn es unüberwindliche Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt, dann kann auf ihrer Basis kein vollständiges Weltbild begründet werden. Ein solches Weltbild wird notwendigerweise Lücken aufweisen, die mit religiösen, mystischen, idealistischen Elementen gefüllt werden können, ohne daß diese naturwissenschaftlich zu widerlegen sind. Kurz: Wenn Du Bois-Reymond recht hatte, dann waren alle Aspirationen auf eine vollständige Weltanschauung auf materialistischer oder darwinistischer Basis hinfällig.

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II. Aus diesem Grund bildet der Ignorabimus-Streit den (natürlich nur relativen) Abschluß einer Folge von Auseinandersetzungen um die Beziehungen zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Weltanschauung im 19. Jahrhundert. Und aus demselben Grund endet mit dem hier vorliegenden Band ein dreiteiliges Buchprojekt, in dem diese Auseinandersetzungen aus interdisziplinärer Perspektive dargestellt und analysiert werden. Der erste Band befaßt sich mit dem Materialismus-Streit, der zweite mit dem Darwinismus-Streit, so daß zusammen mit dem hier vorliegenden Band erstmals eine zusammenhängende Darstellung und Deutung dieser drei Debatten vorgelegt wird. Die Bände sind hervorgegangen aus drei Tagungen, die im November 2002, 2003 und 2004 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden haben. Im Namen aller Teilnehmer danken die Herausgeber dem ZiF für die Möglichkeit zu einem intensiven Gedankenaustausch zwischen Philosophen, Wissenschaftshistorikern, Germanisten, Theologen und Soziologen, ohne den die drei Bände in ihrer nun vorliegenden Gestalt nicht hätten zustande kommen können. Über die wesentlichen Hintergrundannahmen, die den Bielefelder Tagungen – und folglich den daraus hervorgegangenen drei Bänden – zugrundeliegen, informiert die Einleitung zum ersten der Bände. Erwähnt werden sollte an dieser Stelle lediglich, daß die in den drei Bänden zusammengetragenen Beiträge zwar unsere Kenntnis und unser Verständnis des 19. Jahrhunderts vertiefen sollen; daß sie darüber hinaus aber auch Analysen zu Problemstellungen liefern, die seitdem keineswegs »gelöst« wurden. Eine der Ausgangsthesen der Herausgeber bestand vielmehr darin, daß mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert Fragestellungen aufgeworfen wurden, die auch die aktuellen Debatten am Beginn des 21. Jahrhunderts noch prägen. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Frage nach der Reichweite der Naturwissenschaften für die Selbsterkenntnis des menschlichen Empfindens und Denkens, die bereits Du Bois-Reymond zur Debatte aufgeworfen hatte und die den philosophischen Kern der heutigen Debatte um die Neurowissenschaften bildet.

III. Die folgenden Beiträge setzen sich mit unterschiedlichen Facetten des Ignorabimus-Streites auseinander. Den Autoren geht es dabei nicht ausschließlich um eine historische Rekonstruktion der Auseinandersetzung, vielmehr sollen die Argumente der damaligen Protagonisten zum Verhältnis von Naturwis-

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senschaften, Philosophie und Weltanschauung auch für historisch spätere Diskussionen fruchtbar gemacht werden. Der Band gliedert sich in vier Abschnitte, in deren Zentrum 1. die Ignorabimus-These und ihre Vorgeschichte, 2. die Wirkungen in den Wissenschaften, 3. die philosophische Wirkungen des Ignorabimus sowie 4. die wissenschafts- und erkenntnistheoretische Reflexion des Ignorabimus stehen. 1. Die Rede von den Grenzen des Naturerkennens muß jedem Rezipienten vornehmlich als eine Rede wider den von den Naturwissenschaften kontinuierlich zu erwartenden Fortschritt und somit anti-aufklärerisch erscheinen. Die Überzeugung von einem steten Fortschritt, ja der Glaube an ihn, scheint nicht nur mit dem Selbstverständnis der Naturwissenschaftler, sondern auch mit der durch die Naturwissenschaften geprägten Weltanschauung des 19. Jahrhunderts unauflöslich verbunden zu sein. Daß ein Naturwissenschaftler vom Range Du Bois-Reymonds sich hingegen für Grenzen des Naturerkennens ausspricht, erscheint zwar angesichts der Stimmungslage der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als paradox; Günther Mensching zeigt jedoch in seinem Beitrag, daß die Philosophen der Aufklärung sich – entgegen einer verbreiteten Annahme – keineswegs bedingungslos für einen unbeschränkten Fortschritt aussprachen. Ein eindeutiger Einspruch gegen die Annahme möglicher Erkenntnisgrenzen läßt sich im aufklärerischen Denken, so Menschings These, nicht nachweisen. Im Gegenteil, mit Kant läßt sich ein prominentes Beispiel für die Auseinandersetzung mit den Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis angeben. Nicht die Philosophen der Aufklärung, sondern erst die Naturalisten des 19. Jahrhunderts überschritten die Grenze, die Kant noch der an den Bereich der Erfahrung gebundenen Verstandeserkenntnis angewiesen hatte. In dieser Perspektive kommt der Glaube an einen uneingeschränkten Fortschritt der Naturerkenntnis vielmehr einem Rückfall hinter die Einsicht der aufklärerischen Denker gleich. Die Rede von einer Grenze der menschlichen Erkenntnis, von einem Ignorabimus sei demnach nicht als eine Deklamation des Scheiterns der aufklärerischen Bemühungen zu begreifen, sondern vielmehr als eine Rückbesinnung auf das vormals schon Erreichte. Debatten über die Grenzen des Naturerkennens lassen sich nicht nur in der Aufklärung, und dort vornehmlich bei Kant, nachweisen, sondern bis in die Antike zurückverfolgen. Für unser heutiges Wissenschafts- und Weltverständnis sind jedoch die Auseinandersetzungen von besonderem Interesse, die mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften virulent wurden. Die Begründung der Naturwissenschaft im heutigen Sinne eröffnete zwar einerseits neue Möglichkeiten der Naturerkenntnis, schien aber andererseits zugleich eine neue Erkenntnisgrenze zu zeitigen. Mit der Wandlung der Physik von einer Naturphilosophie zu einer messenden und rechnenden Naturwissenschaft änderte sich auch ihr Gegenstandsbereich. Anhand des Briefwechsels zwischen

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Leibniz und Clarke erläutert Renate Wahsner, wie sich mit dem physikalischen Denkprinzip der Neuzeit eine Erklärungslücke ergab, die mit den Mitteln der Naturwissenschaft nicht zu bewältigen war. An der Newtonschen Mechanik lasse sich aufweisen, so Wahsners These, daß eine sich von der Philosophie abgrenzende Einzelwissenschaft stets auf ihren spezifischen Gegenstandsbereich beschränkt bleibe und aufgrund dieser Erkenntnisgrenze niemals eine Welterklärung zu leisten vermöchte. Daß die Rede von unüberschreitbaren Grenzen des Naturerkennens so neuartig nicht war, wie Du Bois-Reymond selbst betonte, stellt Du Bois-Reymonds These zwar in einen größeren problemgeschichtlichen Kontext, läßt aber für die Erklärung seiner Motivation einigen Interpretationsspielraum. Nicht als Kapitulationserklärung gegenüber Idealismus, Spiritualismus und Religion, sondern als ein epistemologischer Waffenstillstand sei, wie Andrea Reichenberger in ihrem Beitrag ausführt, die Intention des von Du Bois-Reymond ausgesprochenen Ignorabimus zu begreifen. Ein solcher Waffenstillstand mit den Kritikern und Gegnern der naturwissenschaftlichen Wissens- und Geltungsansprüchen sollte dazu dienen, die Forschungsfreiheit der Naturwissenschaften zu sichern. 2. In den Wissenschaften sorgte Du Bois-Reymonds Rede für großes Aufsehen, wenn auch die Reaktionen durchaus unterschiedlich ausfielen. Die Kritik des Botanikers Carl von Nägeli zeigt ein alternatives Konzept naturwissenschaftlicher Grenzen auf, die sich vor allem auf den anderen Gegenstandsbereich eines Biologen gegenüber dem eines Nervenphysikers zurückführen läßt. Von Nägeli setzt der mechanistischen Weltanschauung Du Bois-Reymonds seine biologische Perspektive entgegen. Daß mit der mechanistischen Weltanschauung nicht notwendigerweise das Ignorabimus fällt, sucht Rheinberger in seinem Beitrag darzulegen. In den medizinischen Disziplinen konzentrierte sich die Diskussion auf den Begriff der Ursache, die Leib-Seele Beziehung sowie den Dualismus von Erklären und Verstehen. Dem Ursachenbegriff wird in den medizinischen Disziplinen eine besondere Bedeutung beigemessen, werden doch an den Krankheitsursachen Therapie, Prävention und Rehabilitation orientiert. Umstritten bleibt lange Zeit, ob die Krankheitsursachen außerhalb des Körpers aufzusuchen seien (Klebs) oder als »Insuffizienz der regulatorischen Apparate« (Virchow) zu begreifen seien. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung findet der Ursachenbegriff eine zunehmende Beachtung, und das Ignorabimus gewinnt in diesem Zusammenhang, sowohl explizit als auch implizit, an Bedeutung. So beruft sich der Physiologe Verworn auf Du Bois-Reymond, wenn er davon spricht, daß die Rede von Ursachen in den Naturwissenschaften nichts anderes als ein Rest von Mystizismus sei. Von Engelhardt zeigt in seinem Beitrag auf, ob und inwiefern der Konditionalismus Verworns die beiden Grenzen des Naturerkennens aufzuheben vermag.

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Innerhalb der physikalischen Wissenschaften bildete die Unerkennbarkeit von Kraft und Materie die vornehmlichen Streitpunkte. Spätestens mit der modernen Physik glaubt man diese Erkenntnisgrenzen überwunden bzw. aufgehoben. Cord Friebe zeigt hingegen, daß das Phänomen der Kraft auch für die heutige Physik ein ungelöstes Problem enthält. Vor dem Hintergrund des rechtverstandenen Rätsels läßt sich, so Friebes These, zeigen, daß auch der in der modernen Physik vertretene Kraftbegriff ein letztes Unbegreifliches enthält. Dieses Problem sei bis heute ungelöst und aus der Perspektive des Materialismus auch nicht lösbar. Die ungebrochene Aktualität des Ignorabimus demonstriert auch Michael Stöltzner in seinem Beitrag zur neopositivistischen Interpretation der Quantenmechanik. Aus neopositivistischer Perspektive lasse sich in der Atomphysik ein Ignorabimus verorten, das wie auch schon bei Du Bois-Reymond, die Materie und die Kraft betrifft. Inwieweit die von Vertretern des Wiener Kreises behauptete Sinnlosigkeit metaphysischer Sätze, zu dem auch Du BoisReymonds Ignorabimus zu rechnen ist, nicht mit diesem neuen Ignorabimus der Atomphysik in Widerspruch tritt, expliziert Michael Stöltzner anhand der Thematisierung des Ignorabimus durch Philipp Frank und Richard von Mises. 3. Die Wirkung der Ignorabimus-These innerhalb der Philosophie läßt sich vor allem auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes, aber auch bei Fragestellungen zum Selbstverständnis der Philosophie, dem Verständnis von Wirklichkeit bzw. Realität, sowie bei erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen verfolgen. Im Vergleich zwischen Positionen, die in der neueren Philosophie des Geistes vertreten werden, und den von Friedrich Albert Lange und Du Bois-Reymond vertretenen Auffassungen verweist Michael Pauen auf eine beachtenswerte Übereinstimmung: Auch in der aktuellen Diskussion steht die prinzipielle Grenze des Naturerkennens bei der Erklärung geistiger Eigenschaften im Zentrum der Betrachtung. Zur Diskussion steht, ob es eine prinzipielle Grenze gibt zwischen dem Wissen, das aus der Perspektive der dritten Person erworben wurde, und dem Wissen, das aus der Perspektive der ersten Person zugänglich ist. Pauen argumentiert für eine reduktive Erklärung geistiger Eigenschaften, die er – im Gegensatz zu Du Bois-Reymond und Lange – für prinzipiell möglich hält. Die Argumente für eine prinzipielle Erklärungslücke lassen sich aber nicht allein durch den Verweis auf den wissenschaftlichen Fortschritt entkräften. Die Vertreter einer prinzipiellen Erklärungslücke gehen von einer vollständigen Unabhängigkeit der geistigen Merkmale auf phänomenaler und funktionaler Ebene aus. Michael Pauen sucht nachzuweisen, daß diese Annahme einer völligen Unabhängigkeit phänomenaler und funktionaler Merkmale zu unakzeptablen Konsequenzen führt, die das Fundament einer prinzipiellen Erkenntnisgrenze nachhaltig erschüttern. Für die philosophische Auseinandersetzung mit der Autorität der Naturwissenschaften, dem Anspruch, die Wirklichkeit umfassend zu erklären und

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zu deuten, war Du Bois-Reymonds Ignorabimus bis in das 20. Jahrhundert hinein einer der zentralen Kristallisationspunkte. Anhand zweier Thesen erörtert Bayertz eine Kontinuität, die vom naturalistischen Szientismus des 19. Jahrhunderts über die Frühschriften Wittgensteins sowie Schlicks bis zur Position des Wiener Kreises reicht. Einig sind sich diese ansonsten eher verschiedenen Wissenschaftler darin, daß es keine Fragen geben könne, die den Naturwissenschaften prinzipiell unzugänglich wären, und daß es aufgrund der Unbeschränktheit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nur eine Wissenschaft, nämlich die Naturwissenschaften, geben könne. Die epistemische Autorität der Naturwissenschaften galt ihnen als unanfechtbar. 4. Die Infragestellung der Autorität der Naturwissenschaften auf den Gebieten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie war naturgemäß ein zentraler Gegenstand der Auseinandersetzung um das Ignorabimus. Der Topos Grenzen der Erkenntnis bezeichnet, so die These von Sandkühler, eine Krise in den Wissenschaften, die über eine reine Selbstkritik positivistischer Naturwissenschaften hinausgeht. Die verbreitete Rede von den Erkenntnisgrenzen der Naturwissenschaften verweise auf ein »epistemologisches Vakuum«, das vormals die Philosophie mit ihrer Kritik der Möglichkeitsbedingungen und Grenzen der Erkenntnis ausfüllte. Sandkühler illustriert diesen Wandel der epistemischen Kultur im 19. Jahrhundert, den zunächst die Wissenschaften, später die Philosophie und auch die Malerei vorantreiben. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Transformation des Realitätsverständnisses, die unmittelbaren Einfluß auf die Bestimmbarkeit von Erkenntnisgrenzen hat. Daß ein Naturwissenschaftler vom Range Du Bois-Reymonds eine von den Naturwissenschaften nicht zu schließende Erklärungslücke konstatiert, mag als wissenschaftspolitischer Schachzug interpretiert werden. Denkbar ist aber auch, das Ignorabimus als eine Kritik im Kantischen Sinne zu begreifen, die die Gegenstände möglicher Naturerkenntnis von den Gegenständen einer möglichen, aber sinnlosen metaphysischen Spekulation eindeutig scheidet. Die Bestimmung dessen, was wir nicht wissen können, soll die Naturwissenschaften endgültig von naturphilosophischen Tendenzen befreien. ›Naturwissenschaft oder Naturphilosophie‹ wäre somit die Frage, die noch immer einer endgültigen, allseits akzeptierten Beantwortung harre. So sei der Streit um die Grenzen des Naturerkennens, um das Ignorabimus, »zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth« geworden. Was es mit diesem von Du Bois-Reymond so bezeichneten naturphilosophischen Schibboleth auf sich hat, sucht Myriam Gerhard in ihrem Beitrag aufzuzeigen. Auch für den Okkultismus ist die Bestimmung der Erkenntnisgrenzen konstitutiv. Eine explizite Rezeption der Ignorabimus-These und der anschließenden Debatte innerhalb des Kreises der Okkultisten erscheint naheliegend, läßt sich jedoch nicht bestätigen. Gepppert analysiert in seinem Beitrag die Be-

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rührungspunkte zwischen Vertretern des Okkultismus, die eine Erkenntnis der verborgenen Seite der Natur intendierten, und Du Bois-Reymonds Ignorabimus und kommt zu dem Schluß, daß sich bestenfalls von einer epistemischen Mesalliance reden lasse. Es ist die Infragestellung des Weltdeutungsmonopols der gesellschaftlich anerkannten Naturwissenschaften bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der eigenen, auf wissenschaftlichen Methoden beruhenden Geltung, die, wie Geppert ausführt, zu dieser Mesalliance führte. Eine Auflösung läßt sich erst 1913 mit Arno Holz’ dramatischem Werk Ignorabimus finden.

I. DIE IGNORABIMUS-THESE UND IHRE VORGESCHICHTE

Günther Mensching

Unbeschränkter Fortschritt und die Grenze des Erkennens. Zu einer Antinomie im Denken der Aufklärung Wer von einer Grenze des Erkennens redet, hat zwei Seiten im Auge. Was diesseits liegt, ist vertraut und zugänglich, jenseits ist scheinbar alles ungewiß und jedenfalls unbekannt. Ob hinter einer Grenze überhaupt noch ein Gebiet liegt und sie nicht vielmehr das Ende aller Gegenständlichkeit markiert, ist ebensowenig ausgemacht. Die Zuversicht, daß die Grenze nur temporär sei und durch den unaufhaltsamen Fortschritt der Forschung immer weiter in einstweilen ungeahnte Weiten vorgeschoben werden könne, geht zumeist von der stillschweigenden Voraussetzung aus, daß es eine unüberschreitbare Grenze nicht gebe, jede Schranke vielmehr die noch zu leistende Aufgabe vor Augen führe. So betrachtet, ist noch die berühmte Kritik Hegels an der Vorstellung einer Schranke aller Erkenntnis und besonders an der Grenzziehung Kants von der Idee des unbeschränkten Fortschritts bestimmt: »Schon, daß wir von einer Schranke wissen, ist Beweis unseres Hinausseyns über dieselbe, unserer Unbeschränktheit. Die natürlichen Dinge sind eben darum endlich, weil ihre Schranke nicht für sie selber, sondern nur für uns vorhanden ist, die wir dieselben miteinander vergleichen. Zu einem Endlichen machen wir uns dadurch, daß wir ein Anderes in unser Bewußtsein aufnehmen. Aber eben, indem wir von diesem Anderen wissen, sind wir über diese Schranke hinaus. Nur der Unwissende ist beschränkt; denn er weiß nicht von seiner Schranke; wer dagegen von seiner Schranke weiß, der weiß von ihr nicht als von einer Schranke seines Wissens, sondern als von einem Gewußten, als von einem zu seinem Wissen Gehörenden; nur das Ungewußte wäre eine Schranke des Wissens; die gewußte Schranke dagegen ist keine Schranke desselben; von seiner Schranke wissen heißt daher von seiner Unbeschränktheit wissen.«1 Diese Perspektive vollständiger Erkenntnis scheint dem wissenschaftlichen Optimismus verwandt, der schließlich alle vermeintlichen Welträtsel 1

G. W. F. Hegel, System der Philosophie, Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Bd. 10, Stuttgart 1958, 44.

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Günther Mensching

durch unermüdliche empirische Forschung glaubte lösen zu können. Hegels Reflexion geht indessen nicht auf die Erkenntnis empirischer Tatsachen, sondern auf das Wissen des Wissens, in dem sich das Selbstbewußtsein realisiert. Nur vermöge des Anderen, das »wir in unser Bewußtsein aufnehmen«2, wird die Schranke bewußt und zugleich aufgehoben, indem das Bewußtsein sich immer wieder als Beziehung zu sich selbst herausstellt und als solche erhält. Ob damit zugleich die Substantialität der materiellen Gegenstände aufgelöst ist, deren Bestimmtheit zum Wissen wird, diese Frage bleibt gegenüber Hegel freilich kritisch. An anderer Stelle bezeichnet er nämlich den Prozeß der Naturerkenntnis als Werden des Geistes zu sich, denn die Natur sei der sich entfremdete Geist, der durch die wissenschaftliche Erkenntnis erst wieder zu sich selbst finden müsse. Dabei verliere die Natur ihre opake Selbständigkeit und werde zum Begriff. »Von der Idee entfremdet, ist die Natur nur der Leichnam des Verstandes.«3 Die Allgemeinheit des Begriffs erweist sich im Verlaufe des Erkennens als die Substanz der Natur, so daß »der Geist sein eigenes Wesen, d. i. den Begriff in der Natur, sein Gegenbild in ihr finde[t]. So ist das Naturstudium die Befreiung seiner in ihr; […]. Es ist dieß ebenso die Befreiung der Natur; sie ist an sich die Vernunft, aber erst durch den Geist tritt diese als solche an ihr heraus in die Existenz.«4 Die wahre Befreiung von jeder Grenze und der Eintritt des theoretischen Bewußtseins in die »affirmative Unendlichkeit«5 ist freilich nicht die Erkennt2

Ebd. G. W. F. Hegel, System der Philosophie, Zweiter Teil. Die Naturphilosophie, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 9, hrsg. von H. Glockner, Stuttgart 1965, 50. 4 Ebd., 48. Der absolute Idealismus Hegels reagiert auf den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der sich zu seiner Zeit bereits abzeichnete. Die Verarbeitung der erkannten Natur ist geradezu ein Beweis für deren Idealität, da sie die Bildung von Artefakten zuläßt und ermöglicht. So etwa ebd., 42: »Die Schwierigkeit, d. i. die einseitige Annahme des theoretischen Bewußtseyns, daß die natürlichen Dinge uns gegenüber beharrend und undurchdringlich seyen, wird direct widerlegt durch das practische Verhalten, in welchem dieser absolut idealistische Glauben liegt, daß die einzelnen Dinge nichts an sich sind.« Ihre Einzelheit ist nur Erscheinung, ihr Inneres aber das Wesen als das Gesetz der Erscheinung, nach dem sie wiederholbar, technisch reproduzierbar sind, weil es als Begriff fixiert ist: »Die Intelligenz familiarisirt sich mit den Dingen freilich nicht in ihrer sinnlichen Existenz: aber dadurch, daß sie dieselben denkt, setzt sie deren Inhalt in sich; und indem sie der praktischen Idealität, die für sich nur Negativität ist, so zu sagen, die Form hinzufügt, die Allgemeinheit, giebt sie dem Negativen der Einzelnheit eine affirmative Bestimmung.« (Ebd.). 5 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik 1. Band, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von F. Hogemann / W. Jaeschke, Hamburg 1984, 134 f.: »Im Unendlichen, dem Jenseits der Grenze entsteht nur eine neue, welche dasselbe Schicksal hat, als Endliches negirt werden zu müssen. Was so wieder vorhanden ist, ist dasselbe Unendliche, das vorhin in der neuen Grenze verschwand; das Unendliche ist daher durch sein Aufheben, durch 3

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nisstufe des Laplaceschen Geistes, den Du Bois-Reymond wiederholt anführt, sondern die des reflektierten Selbstbewußtseins, das nach Hegel das wahre Subjekt der Wissenschaft ist. Die Unendlichkeit, von der Hegel in diesem Zusammenhang spricht, ist nicht die unüberschaubare Sammlung aller einzelnen Erkenntnisse, die seit den Anfängen der Naturwissenschaft gewonnen wurden, auch nicht das Wissen um die Entstehung des Vielen aus dem Einen,6 sondern die in sich unendliche Subjektivität, die in allen materialen Teilen des Wissens sich selbst als dessen Träger und organisierendes Prinzip bestätigt. Hegel selbst hat damit jene Kritiker auf den Plan gerufen, die sein absolutes Wissen für die Ausgeburt seines idealistischen Wahns ansahen, der manchen sogar politisch gefährlich erschien. Jedenfalls kam es in seinem Denken nicht auf einen diffusen und anonymen Fortschritt an, den er mit dem Begriff der »schlechten Unendlichkeit« belegt hätte, sondern vielmehr darauf, das kollektive Subjekt zu bestimmen, dem der Fortschritt zugute kommen soll. In diesen Motiven ist Hegel mit der Aufklärung und auch mit Kant einig. Die Souveränität, mit deren Insignien Hegel das Absolute versieht, bekundete nämlich den politischen Anspruch, alle gesellschaftlichen Verhältnisse dem Maßstab jener Vernunft zu unterwerfen, die seit der französischen Revolution zu universaler Verwirklichung drängte. Insofern vollendet Hegel die bestimmende Intention der Aufklärung, die sich vom unbegrenzten Fortschritt der Wissenschaft überhaupt erst den Eintritt der Menschheit in einen wahrhaft zivilisierten Zustand versprach. Die Vorstellung einer unüberwindlichen Grenze lag hier fern, sie zu behaupten erweckte gar den Verdacht, die emanzipatorische Wirkung der Naturerkenntnis reaktionär hemmen zu wollen. die neue Grenze hindurch, nicht weiter hinausgeschoben, weder von dem Endlichen entfernt worden, denn dieses ist nur diß, in das Unendliche überzugehen,– noch von sich selbst, denn es ist bey sich angekommen.« (Hervorh. im Original). 6 Was Du Bois-Reymond als das Ideal der Wissenschaft ansieht, ist die materialistisch interpretierte alte metaphysische Vorstellung des Hervorgangs der verschiedenen Dinge aus einem einheitlichen Prinzip. »Der Stein der Weisen, der die heute noch unzerlegten Stoffe ineinander umwandelte und aus einem höheren Grundstoff, wenn nicht aus dem Urstoff selber, erzeugte, müßte gefunden sein, ehe die ersten Vermutungen über Entstehung scheinbar verschiedenartiger aus in Wirklichkeit unterschiedsloser Materie möglich wäre.« (E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hrsg. von S. Wollgast, Berlin 1974, 59). Als Programm empirischer Forschung, als welches Du Bois-Reymond das Problem durchspielt, ist es allerdings vollkommen unlösbar. Der Urzustand der Welt würde als gleichsam erfahrbarer Gegenstand vorgestellt, in dem der ansonsten allwissende Laplacesche Geist das Frühere und Spätere, Ursache und Wirkung, nicht unterscheiden, d. h. das Verhältnis von Ruhe und Bewegung nicht bestimmen könnte. Dann aber wäre schon immer ein Dualismus von Welt und Geist gegeben; der Laplacesche Geist stünde der ursprünglichen Welt vor dem Entstehen endlicher Dinge bereits gegenüber – eine höchst metaphysische These. (Vgl. a. a. O., 62 f.).

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In diesem Sinne hat Condorcet den revolutionären Aufbruch als Befreiung auch von den Grenzen bestimmt, die ein überholtes, aber immer noch wirksames traditionelles Weltbild dem menschlichen Wissen setzte. Die Befreiung der Wissenschaft von theologischen Vorgaben eröffnete für maßgebliche Vertreter der Aufklärung die Perspektive der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. Die fortschreitende Naturerkenntnis ist geeignet, alte Vorurteile und überkommenen Aberglauben aufzulösen, da sie auf Unwissen beruhen. »Muß nicht endlich das Menschengeschlecht besser werden, sei es infolge neuer Entdeckungen in Wissenschaft und Technik, wodurch zugleich die Mittel des privaten Wohlstandes und der allgemeinen Wohlfahrt notwendigerweise anwachsen; sei es durch die Fortschritte in den Grundsätzen des Verhaltens und der politischen Moral; sei es endlich durch die wirkliche Vervollkommnung der intellektuellen, moralischen und physischen Anlagen, die gleichfalls die Folge der Vervollkommnung entweder der Werkzeuge sein kann, welche die Kraft dieser Anlagen steigern und ihren Gebrauch lenken, oder die Folge der Vervollkommnung der natürlichen Organisation des Menschen selber?«7 Seine Analyse des geschichtlichen Weges der Erkenntnis und der technischen Erfindungen vom Stadium der Sammler und Jäger bis zum Zeitalter der französischen Revolution gibt Condorcet Anlaß zu der programmatischen Feststellung »daß die Natur unseren Hoffnungen keine Grenze gesetzt hat.«8 Solcher Optimismus, der den unumkehrbaren Weg der wachsenden Naturerkenntnis als den Garanten des moralischen und politischen Fortschritts9 ansah, ist in der Publizistik seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sehr gebrochen oder gar zusammengebrochen. Vielgelesene Wissenschaftsjournalisten haben großen Widerhall mit der These, die Wissenschaft nähere sich ihrem Ende.10 Außerdem ist die Rede von den Kränkungen, die der sich selbst überschätzenden Menschheit durch den wissenschaftlichen Fortschritt selbst widerfahren seien.11 Erst sei sie durch Kopernikus aus dem Zentrum des 7

M.-J.-A.-N. de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. u. übers. von W. Alff, Frankfurt 1963, 347. 8 Ebd., 349. 9 Condorcet will in seinem Werk zeigen, »daß die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat; […] daß die Fortschritte dieser Fähigkeit zur Vervollkommnung, die inskünftig von keiner Macht, die sie aufhalten wollte, mehr abhängig sind, ihre Grenze allein im zeitlichen Bestand des Planeten hat, auf den die Natur uns hat angewiesen sein lassen. Ohne Zweifel können diese Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen; doch niemals werden es Rückschritte sein.« (Ebd., 29). 10 Vgl. J. Horgan, The End of Science. Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age, Reading, Mass. 1996. 11 Das Motiv der drei Kränkungen stammt von Freud, der in seinem Aufsatz Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse der kosmologischen und der biologischen die psycho-

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Kosmos hinausgedrängt, dann von Darwin ihrer niederen tierischen Herkunft überführt, wenige Jahrzehnte später von Freud ihrer seelischen Souveränität beraubt worden. Seit neuestem werde sie, weit darüber hinaus, von Neurologen, Genforschern und Informatikern weiter erniedrigt, welche den Menschen nun endgültig als Sklaven seiner neurobiologischen Natur erwiesen haben wollen, die sich womöglich demnächst auch technisch als künstliche Intelligenz nachbauen lasse. Mit dem Menschen als höchstem Wert ist es demnach also nichts. Daß er Zweck an sich selbst sei, gehört vielmehr ebenfalls zu den Selbsttäuschungen, die aus mythischer Zeit mitgeschleppt werden, aber dem Erkenntnisfortschritt so wenig standhalten können wie Verbote von Experimenten mit embryonalen Stammzellen. Die gegenwärtige Auffassung des Fortschritts ist paradox. Der entgrenzte Erkenntnisfortschritt scheint seinen ursprünglichen Träger, die sich emanzipierende Menschheit, zum beschränkten Modell ihrer wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften herabzusetzen und in enge Grenzen zu verweisen.12 Deshalb drängt sich anderen Betrachtern der Eindruck auf, die aufklärerische Intention der europäischen Wissenschaft verkehre sich unaufhaltsam in ihr Gegenteil, indem sie sich immer mehr in die Mythologie einer allmächtigen Natur verstricke, die sie doch seit ihren Anfängen hinter sich lassen wollte.13 Kaum jemals wird in diesen Debatten bedacht, daß der Determinismus aller geistigen Leistungen der Menschen selbst eine theoretische Behauptung ist, die, wenn sie recht hätte, ebenso determiniert sein müßte wie jede andere geistige Regung. Die Reduktion des Bewußtseins und seiner Tätigkeit auf malogische Kränkung »der Eigenliebe der Menschheit« hinzufügt. Sie bestehe darin, die Einsicht der Psychoanalyse anzunehmen, »daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden.« Dies komme »der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.« (S. Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London, Imago 1947, 11). Im Gegensatz zu neueren Autoren, die dieses Motiv erweitert verwenden, hat Freud in seine Überlegung einbezogen, daß die Einsicht in die psychologische Kränkung nicht einer Kapitulation des Ich gleichkommt, sondern vielmehr dessen gesteigerte Leistung darstellt. 12 Günther Anders hat schon vor Jahrzehnten die Reaktion hierauf als »prometheische Scham« beschrieben: »Prometheus hat gewissermaßen triumphal gesiegt, so triumphal, daß er nun, konfrontiert mit seinem eigenen Werke, den Stolz, der ihm noch im vorigen Jahrhundert so selbstverständlich gewesen war, abzutun beginnt, um ihn durch das Gefühl eigener Minderwertigkeit und Jämmerlichkeit zu ersetzen. ›Wer bin ich schon?‹ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks, ›wer bin ich schon?‹« (G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München ²1956, 24 f.). 13 M. Horkheimer und Th. W. Adorno haben diese These in ihrem berühmten Buch Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, entfaltet. Vgl. besonders das Kapitel Begriff der Aufklärung, a. a. O., 13 ff.

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terielle Natur gibt einen Erkenntnisfortschritt vor, der die Mythologisierung des Geistes beenden will, indem er dessen Unterschied zur Natur aufhebt und ihm dadurch wieder eine Grenze weist, indem er seine Autonomie zum Schein herabsetzt. Aber eben dies wäre, mit Hegel zu reden, das Tun des Geistes selbst, der sich nur durch sein Anderes bestimmt und es zugleich aufhebt. Der Streit um die Ignorabimus-Rede spielt sich zwar primär zwischen philosophisch interessierten Naturwissenschaftlern ab, aber er reagiert, direkt und indirekt, auf Hegel, gegen dessen Idealismus Motive der Aufklärung ins Feld geführt werden.14 Die Philosophen der Aufklärung haben sich indessen über das Problem der Grenzen des menschlichen Erkennens sehr differenziert geäußert. Die berühmtesten Autoren wie Locke und Hume, Diderot, Voltaire und Holbach, in seiner Weise auch Rousseau15, haben nicht, wie es scheinen könnte, alle Grenzen in blindem Fortschrittsglauben geleugnet, sondern vielmehr solche aufgezeigt. Kant ist geradezu der Theoretiker der Grenze menschlicher Erkenntnis, auf den alle spätere Erörterung des Themas sich immer wieder zumindest implizit bezieht. Die Aufklärung hat die Grenzen der Erkenntnis freilich anders bestimmt als ein Jahrhundert später die Debatte im Anschluß an die Ignorabimus-Rede. Die beiden Fragen, die Du Bois-Reymond in diesem Zusammenhang für unbeantwortbar hält, werden von den Aufklärern gar nicht vorrangig gestellt. So werden das Wesen von Materie, Kraft und Bewegung, sowie deren Ursprung im 18. Jahrhundert nicht erörtert. Holbach hat in sein System der Natur zwar ein Kapitel über den Ursprung der Bewegung eingefügt,16 aber hier werden plakativ nur einige Grundsätze der Newtonschen Mechanik exponiert, die als Gesetze der allgegenwärtigen Materie behauptet werden. Deren Ursprung wird tautologisch bestimmt: »Woher hat diese Natur ihre Bewegung erhalten? Wir antworten: aus sich selbst, weil sie das große Ganze ist, außerhalb dessen – folgerichtigerweise – nichts existieren kann. Wir sagen, daß die Bewegung eine Seinsweise ist, die sich notwendig aus dem Wesen der Materie herleitet; daß 14

Sehr deutlich wird dies in Du Bois-Reymonds 1875 gehaltener Rede über La Mettrie. Vgl. E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 79 ff. Der Autor identifiziert hier seine eigene Position weithin mit dem Materialismus La Mettries: »Man sieht, dies sind dieselben Gedanken, die gerade jetzt die Wissenschaft lebhaft bewegen, und es bestätigt sich einmal wieder, daß in dem was man eben brauchte, aber nicht weiß, die Denker jederzeit wesentlich gleich weit waren. Nach hundertzwanzig Jahren der tiefsten Forschungen können natürlich diese Gedanken in bessere Form gekleidet und auf breitere tatsächliche Grundlage gestellt werden.« (Ebd., 95). 15 Rousseaus berühmte Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat, bestreitet die aufklärerische These, daß der wissenschaftliche Fortschritt als solcher ein moralischer sein müsse. 16 P. Th. d’Holbach, System der Natur, übers. von F.-G. Voigt, Berlin 1960, 19 ff.

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die Materie sich durch ihre eigene Energie bewegt; daß ihre Bewegungen durch Kräfte bedingt sind, die der Materie innewohnen.«17 Diderot, der die Position Holbachs in diesem Punkte teilte, war sich zudem allerdings darüber im klaren, daß eine transzendente Herleitung der Bewegung keinen Erklärungswert besitzt: »Die Annahme irgendeines Wesens außerhalb der materiellen Welt ist unmöglich. Solche Annahmen darf man nie machen, weil aus ihnen nie etwas gefolgert werden kann.«18 Das Problem der Herkunft der Bewegung erweist sich in der Aufklärung als aporetisch. Über die biologische Entstehung des Bewußtseins gibt es einige Reflexionen, die ausdrücklich als bloße Vermutungen bezeichnet werden. Der gattungsgeschichtliche Ursprung des menschlichen Verstandes wurde erst mit der Einsicht in die Genese der biologischen Spezies, also im Zeitalter Darwins, wirklich zum Thema. Maupertuis hat die Hypothese aufgestellt, daß die Vererbung von Eigenschaften bestimmten Gesetzen der belebten Materie gehorcht, die er für seine Zeit recht genau antizipiert.19 Von hier aus lag es nahe, die Variationen und Abnormitäten innerhalb der Spezies als Indizien einer Entwicklungsgeschichte zu interpretieren, die auch das menschliche Gattungsmerkmal umfaßt. Dem sind aber selbst die Materialisten nur zögernd gefolgt. Diderot kleidet die Vermutung in die Form eines spielerischen Gesprächs mit d’Alembert: »Die Frage, ob das Ei vor der Henne oder die Henne vor dem Ei dagewesen sei, bringt Sie nur deshalb in Verlegenheit, weil Sie annehmen, daß die Tiere ursprünglich so gewesen seien, wie sie gegenwärtig sind. Welche Torheit! Man weiß weder, wie sie gewesen sind, noch wie sie sein werden. Das unsichtbare Würmchen, das sich im Schlamm regt, ist vielleicht auf dem Weg zum Großtierzustand; das riesige Tier, das uns durch seine Größe erschreckt, ist vielleicht auf dem Weg zum Wurmzustand und vielleicht nur ein besonderes und vorübergehendes Produkt unseres Planeten.«20 17

Ebd., 25. D. Diderot, Philosophische Grundsätze über Materie und Bewegung, in: Ders., Philosophische Schriften, übers. von Th. Lücke, Bd. 1, Berlin 1961, 587. 19 J. L. M. de Maupertuis, Système de la nature. Essai sur la formation des corps organisés, in: Ders., Œuvres de Mr. de Maupertuis, Bd. 2, Lyon, chez J.-M. Bruyset 1756, § 31–47, 157 ff. 20 D. Diderot, Unterhaltung zwischen d’Alembert und Diderot in: Ders., Philosophische Schriften, a. a. O., 515. Die Überlegungen dieses Gesprächs wie auch die des daran anschließenden Traum d’Alemberts waren auch unter den Materialisten nicht unumstritten und wurden erst 1830, 26 Jahre nach dem Tode Diderots, veröffentlicht. Auch Holbach zieht die Evolution der Spezies in Betracht: »Wer hat ihnen [den Vertretern der Lehre von der Konstanz der Arten] gesagt, daß diese Natur gegenwärtig nicht in ihrem ungeheuren Laboratorium die Elemente sammelt, die imstande sind, ganz neue Erzeugnisse zu schaffen, die nichts mit den heute existierenden Gattungen gemeinsam haben?« (D’Holbach, System der Natur, a. a. O., 70). 18

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Was den Ursprung des menschlichen Bewußtseins aus der materiellen Natur betrifft, so äußert sich die Aufklärung zu diesem Thema vornehmlich polemisch gegenüber der traditionellen Überzeugung, der Verstand sei eine immaterielle Gabe des Schöpfergottes. Holbach setzt den Geist der Materie einfach immanent, ohne den angekündigten Beweis zu erbringen: »Mit einem Wort: wie wir bald zu beweisen Gelegenheit haben werden, reduzieren sich alle intellektuellen Fähigkeiten, das heißt alle Wirkungsarten, die man der Seele zuschreibt, auf Modifikationen, Eigenschaften, Seinsweisen und Veränderungen, die durch die Bewegung im Gehirn hervorgerufen werden.«21 Im übrigen formuliert Holbach den Grundsatz, der im 18. Jahrhundert auch die für die Aufklärung charakteristische Auffassung von der Grenze der menschlichen Erkenntnis bestimmt: »Der Geist ist eine Folge [des] physischen Empfindungsvermögens.«22 In diesem Sinne drücken andere Autoren ihre Auffassung von der Entstehung des Bewußtseins in einem Gleichnis aus, das auf den Pygmalionmythos zurückgreift. Condillac rekonstruiert die Entstehung der geistigen Funktionen am Modell einer Marmorstatue, die hypothetisch über Empfindungsfähigkeit verfügt. Indem an ihr nacheinander die Pforten der Sinne geöffnet werden, wird analysiert, welcher Art die Vorstellungen sein können, die sich sukzessive miteinander verbinden.23 Boureau-Deslandes stellt den Hervorgang des Geistes aus der Materie in der Form einer galanten allegorischen Erzählung dar, die aber nicht den Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit erhebt.24 Für diese Epoche gilt vornehmlich die Erfahrung als Grundlage der Wissenschaft. Darin folgen die meisten Autoren John Locke, der in dieser Beschränkung geradezu die Befreiung der Erkenntnis von überkommenen Irrtümern gesehen hatte. Menschliches Wissen, das in der Verfügung über Vorstellungen (Ideen) besteht, läßt Locke aus der Wahrnehmung hervorgehen. Auf diese Quelle ist es beschränkt. »Erstens: Unser Wissen erstreckt sich nicht weiter als unser Besitz von Ideen. Zweitens: Unser Wissen reicht nur so weit, wie wir jene Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung wahrnehmen können. Diese Wahrnehmung beruht 1. auf Intuition, das heißt auf unmittelbarer Vergleichung zweier beliebiger Ideen, oder 2. auf einer Schlußfolgerung, wobei man die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Ideen untersucht, indem man andere Ideen zu Hilfe nimmt, oder 3. auf einer Sensation, indem

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Ebd., 91. Ebd., 99. 23 Vgl. E. Bonnot de Condillac, Abhandlung über die Empfindungen, hrsg. von L. Kreimendahl, Hamburg 1983. 24 A.-F. Boureau-Deslandes, Pygmalion oder Die zum Leben erweckte Statue, in: R. Geißler, Boureau-Deslandes. Ein Materialist der Frühaufklärung, Berlin 1967, 133 ff. 22

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die Existenz von einzelnen Dingen wahrgenommen wird.«25 Gegenüber der auf empirischer Erfahrung beruhenden Erkenntnis ist die Metaphysik voller sinnloser Ausdrücke, in denen kein Gehalt formuliert wird: »Wer beispielsweise die Wörter Substanz, Mensch, animalisches Wesen, Form, Seele, vegetativ, sensitiv, vernünftig nebst den gewöhnlich mit ihnen verknüpften gegenseitigen relativen Bedeutungen erlernt hat, kann eine Reihe von unbestreitbaren Sätzen über die Seele aufstellen, ohne überhaupt zu wissen, was die Seele eigentlich ist. Von dieser Art kann man in Büchern über Metaphysik, scholastische Theologie und eine gewisse Art von Naturphilosophie zahllose Sätze, Deduktionen und Schlußfolgerungen finden und trotzdem zum Schluß über Gott, über die Geister und über die Körper ebensowenig wissen wie vorher.«26 Locke setzt hiermit der Erkenntnis eine unüberschreitbare Grenze. Die Lehren der Theologie bleiben danach außerhalb der Wissenschaft, denn sie beziehen sich nicht auf erfahrbare Gegenstände und sind auch nicht aus der Erfahrung abzuleiten. Ebensowenig läßt sich Gewisses über den Gehalt metaphysischer Begriffe aussagen. Die polemische Klarstellung sollte einen Neuanfang in der Wissenschaft und besonders in der Philosophie einleiten, der eine Abkehr von der Tradition bedeutete. Der Empirismus, den Locke für die Neuzeit begründet hat, verweist die Erkenntnis auf die einzelnen sinnlichen Naturgegenstände, während frühere Denkrichtungen der unübersehbaren Menge von Einzeldingen keine allgemeine und notwendige Regelmäßigkeit entnehmen konnten, denn der Sinnenschein erweist sich oft als trügerisch und ist jederzeit widerlegbar durch eine neue Wahrnehmung. Auf diesem Sachverhalt begründet Descartes seine Lehre, daß sichere Erkenntnis nur durch den Verstand und seine Prinzipien zu gewinnen ist.27 Nur insofern als die Materie mathematisch konstruiert werden kann, ist Naturerkenntnis möglich: »Denn ich gestehe offen, daß ich keine andere Materie der körperlichen Dinge anerkenne als die in jeder Weise teilbare, gestaltbare und bewegliche, welche die Geometer als Größe bezeichnen und zum Gegenstande ihrer Beweise nehmen,

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J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, übers. von C. Winkler, Hamburg 1981, Bd. 2, 185. (Hervorhebungen im Original). 26 Ebd., 290 f. 27 Das berühmte Wachsbeispiel aus den Meditationen macht deutlich, weshalb Descartes die empirische Erfahrung nicht als Fundament der Wissenschaft anerkennen kann. Die verschiedenen und auf den ersten Blick widersprüchlichen sinnlichen Eigenschaften des Wachses führen zu der Folgerung, »daß ich, was das Wachs ist, gar nicht in der Einbildung haben, sondern nur im Denken erfassen kann. […] Seine Erkenntnis ist nicht ein Sehen, ein Berühren, ein Einbilden und ist es auch nie gewesen, wenngleich es früher so schien, sondern sie ist die Einsicht allein des Verstandes.« (R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hrsg. von A. Buchenau, Hamburg 1965, 24).

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und daß ich in ihr nur diese Teilungen, Gestalten und Bewegungen beachte und nichts an ihnen als wirklich anerkenne, was nicht aus jenen Gemeinbegriffen, an deren Wahrheit man nicht zweifeln kann, so klar abgeleitet wird, daß es als mathematisch bewiesen gelten kann. Da nun auf diese Weise alle Naturerscheinungen erklärt werden können, […] so halte ich andere Prinzipien der Naturwissenschaft weder für zulässig noch für wünschenswert.«28 Locke hat die Grenze des Erkennens zwischen Erfahrung und Metaphysik gelegt. Die Ideen, besonders die traditionellen metaphysischen, bieten daher noch keine Garantie einer sicheren Erkenntnis, denn sie sind von größerem Umfang als die menschliche Erfahrung. Was Denken und Materie sind, kann durch sie nicht ergründet werden, obwohl es die Ideen von beidem gibt. Ebensowenig wird es je ein Wissen über ihre Beziehung geben, und die Frage der Entstehung des Bewußtseins wird ohne sichere Antwort bleiben. »Wir besitzen die Ideen der Materie und des Denkens. Möglicherweise werden wir aber nie wissen können, ob ein rein materielles Wesen denkt oder nicht. Denn es ist für uns unmöglich, nur durch Betrachtung unserer eigenen Ideen, ohne Offenbarung, zu ermitteln, ob nicht die Allmacht gewissen, entsprechend eingerichteten materiellen Substanzen die Fähigkeit des Wahrnehmens und Denkens verliehen hat. Wir können auch nicht wissen, ob die Allmacht eine denkende immaterielle Substanz mit einer dazu eingerichteten Materie verbunden und verknüpft hat.«29 Die Vorstellungen der französischen Aufklärung, die sich unmittelbar vom Rationalismus und besonders von Descartes absetzen wollte, sind in vielem dem Lockeschen Modell gefolgt. Die sinnliche Wahrnehmung begründet hiernach die Sicherheit der Erkenntnis, so daß Überlegungen über das Verhältnis von Geist und Materie in den Bereich bloßer Vermutung verbannt sind, die noch obendrein von der göttlichen Allmacht abhängen soll. Deren Dasein und Wirken gehören aber ebenso wenig zur Wissenschaft. Was bei Locke allerdings als Markierung der Grenze sicherer Erkenntnis gemeint war, wird von seinen Schülern auf dem Kontinent eher als Erweiterung des Terrains betrachtet, das die Naturwissenschaft der Metaphysik abnehmen kann. Der Ursprung der Bewegung liegt nach Holbach, wie schon gezeigt, im Ganzen der Natur, und es besteht kein prinzipieller Zweifel, daß dies Ganze sich wissenschaftlich erkennen lasse. Das Verhältnis von Seele und Körper wird so erforscht werden, daß der Dualismus, der in der Problemstellung evoziert wird, sich als Schein erweist: »Je mehr wir nachdenken, um so mehr werden wir überzeugt sein, daß die Seele überhaupt nicht vom Körper unterschieden werden kann, sondern daß 28

R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, hrsg. von A. Buchenau, Hamburg 1955, 63. 29 J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, a. a. O., 188.

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sie nur der Körper selbst ist im Hinblick auf einige seiner Funktionen, solange er Leben besitzt.«30 Der materialistische Monismus ergibt sich hiernach aus der wissenschaftlichen Forschung selbst. Er will die dualistische Metaphysik ablösen, die im Grunde aus der begrenzten Naturerkenntnis früherer Zeiten resultiert, also den Ausdruck eines Mangels darstellt: »Die Menschen haben die Natur mit Geistern angefüllt, weil sie fast immer die wirklichen Ursachen nicht gekannt haben. Weil man die Kräfte der Natur nicht erkannte, glaubte man sie von einem großen Geist beseelt: weil man die Energie der menschlichen Maschine nicht kannte, hat man ebenfalls angenommen, sie sei von einem Geist beseelt. Hieraus ist ersichtlich, daß man mit dem Wort Geist nur die nicht bekannte Ursache einer Erscheinung bezeichnen will, die man nicht auf natürliche Weise zu erklären weiß.«31 Holbach und andere Enzyklopädisten haben demnach die Gebiete der Metaphysik der empirischen Ursachenforschung öffnen wollen. Zugleich haben sie aber auch enge Grenzen der Naturerkenntnis gezogen. Wie John Locke geht Holbach davon aus, daß menschliche Erkenntnis an das Material der Sinneswahrnehmungen gebunden ist.32 Damit zentriert sich die Erkenntnis um die physische Wahrnehmung, die selbst ein begrenzter Naturvorgang sein soll. Die letzthin physiologisch erklärbare Struktur der eigenen Wahrnehmung bestimmt jede Erkenntnis, die deshalb auch nicht die Realität schlechthin darstellt. Sie erscheint in einer anthropozentrischen und womöglich anthropomorphen Gestalt: »Der Mensch macht sich notwendigerweise zum Mittelpunkt der gesamten Natur; er kann die Dinge in der Tat nur nach der Art und Weise beurteilen, wie er selbst von ihnen affiziert wird.«33 Wie die Gegenstände seiner Erfahrung unabhängig von dieser Affektion beschaffen sind, bleibt dem Menschen verschlossen. Sein Wissen verharrt nach Holbach diesseits der Grenze der anthropozentrischen Wahrnehmung, welche er sich durch seine Natur immer wieder selbst setzt, ohne daß dies ein Akt seiner Autonomie sein soll. Holbachs kritisch gemeinter Hinweis zielt zwar nicht darauf, die menschliche Erkenntnis in der Reflexivität

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P. Th. d’Holbach, System der Natur, a. a. O., 80. Ebd., 81. (Hervorhebungen im Original). 32 Eine gänzlich neue Einsicht ist die Bindung der menschlichen Erkenntnis an die Sinnlichkeit durchaus nicht. Von der Platonischen These, der Körper sei das Grab der Seele, über die neuplatonische θéοσις, die den Menschen nur durch fortschreitende Abstraktion vom Hindernis seiner Sinnlichkeit zur wahren Erkenntnis der Wesenheiten und ihres göttlichen Grundes leiten soll, führt die Entwicklung schließlich zur aristotelisch motivierten Theorie des Thomas von Aquin, nach der die menschliche Erkenntnis im unerlösten irdischen Dasein grundsätzlich an die Sinnlichkeit und ihre Grenzen gebunden ist, über die sie sich zwar reflexiv zu erheben vermag, ohne jedoch des übersinnlichen Grundes aller sinnlich gegebenen Dinge unverstellt habhaft werden zu können. 33 P. Th. d’Holbach, System der Natur, a. a. O., 285. 31

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des Selbstbewußtseins zu begründen, aber der Unterschied zwischen einem An sich und einem Für uns wird durch seine Version des Sensualismus dennoch eingeführt: »Die Dinge, die weder unmittelbar durch sich selbst, noch mittelbar durch die Vermittlung anderer Körper auf irgendeins unserer Organe wirken können, existieren für uns nicht, weil sie uns weder in Bewegung setzen, noch uns infolgedessen Ideen geben oder von uns erkannt oder beurteilt werden können.«34 Wenngleich damit die Unmöglichkeit einer Metaphysik behauptet werden soll, deren Gegenstände jenseits der Sinnlichkeit liegen,35 rekurriert Holbach auf ein reflektierendes Subjekt, das die Grenze immer schon transzendiert hat. Gegen seine eigentliche Absicht müßte er der oben zitierten Reflexion Hegels über die Schranke und ihre Überschreitung zustimmen. Seine Insistenz auf der anthropozentrischen Struktur der Wahrnehmung legt die Untersuchung der Bedingungen nahe, die auf der Seite des erkennenden Subjekts notwendig gegeben sein müssen, um die Naturerkenntnis über die Zufälligkeit der jeweiligen Perspektive hinaus Objektivität zu verschaffen. Holbachs Zeitgenosse und Freund David Hume ist in dieser Richtung einen wesentlichen Schritt weiter gegangen. Zwar beruht auch seiner Lehre zufolge die menschliche Erkenntnis auf den Sinnesempfindungen, die als impressions wahrgenommen und durch die Einbildungskraft (imagination) zu Vorstellungen (ideas) geformt werden, aber dies geschieht nicht zufällig je nach der Konstellation der gegebenen Elemente. Vielmehr gibt es Regeln, nach denen die Vorstellungen miteinander verknüpft werden und die damit der Erkenntnis eine feste Struktur geben. Diese Regeln markieren zugleich die engen Grenzen, innerhalb derer Erkenntnis überhaupt möglich ist: »Ob nun gleich das Denken diese unbegrenzte Freiheit zu besitzen scheint, so werden wir doch bei näherer Untersuchung finden, daß es in Wirklichkeit durch sehr enge Grenzen eingeschlossen ist, und all diese schöpferische Kraft des Geistes auf weiter nichts hinauskommt, als auf die Fähigkeit der Verbindung, Umstellung, Vermehrung des Stoffes, den unsere Sinne und Erfahrung liefern.«36 Folglich kann der menschliche Verstand nach Humes Erkenntnistheorie die Regelmäßigkeiten seines eigenen Gebrauchs durch Erfahrung herausfinden. Danach ist es »offenbar, daß ein Prinzip für die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Gedanken oder Vorstellungen des Geistes besteht, und daß sie 34

Ebd., 19. Vgl. ebd., 346: »Uns ist das Wesen eines jeden Dinges unbekannt , wenn man unter Wesen das versteht, was die dem Dinge eigentümliche Natur ausmacht; […] sobald ein Ding auf keins unserer Organe wirkt, existiert es für uns nicht, und wir können, wenn wir keine Ungereimtheit von uns geben wollen, nicht über seine Natur sprechen oder ihm Eigenschaften beilegen.« 36 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hrsg. von R. Richter, Hamburg 1955, 19. 35

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bei ihrem Erscheinen im Gedächtnis oder in der Einbildungskraft einander in gewissem Grade methodisch und regelmäßig einführen.«37 Diese Prinzipien sind bei jeder Verknüpfung von Vorstellungen immer schon am Werk, aber sie sind dem Verstand aus Erfahrung präsent: »Obwohl die Verknüpfung verschiedener Vorstellungen zu augenfällig ist, um der Beachtung zu entgehen, so finde ich doch nicht, daß irgend ein Philosoph versucht hat, alle Prinzipien der Assoziation aufzuführen und zu ordnen; und doch scheint der Gegenstand des Interesses wert. Soviel ich sehe, gibt es nur drei Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, Berührung in Zeit oder Raum, und Ursache und Wirkung.«38 Hume hat die Prinzipien in den subjektiven Verstand gelegt, der die Assoziation der Vorstellungen nach dem stets gleichen Modell vollbringt. Kausalität ist also ebensowenig wie andere Assoziationen eine Verbindung von Dingen, sondern vielmehr von Ideen. Der menschliche Verstand ist daher an die Regeln seines Gebrauchs gebunden, ohne über die Verhältnisse der Dinge selbst eine sichere Aussage machen zu können. Hume begründet die Regelmäßigkeit der Verbindung mit der Gewohnheit, die sich beim häufigeren Eintreten vergleichbarer Fälle einzustellen pflegt. Auf eine Verknüpfung a priori kann hierbei nicht geschlossen werden. Hier liegt seiner Position zufolge die unüberschreitbare Grenze der Erkenntnis: »Vielleicht können wir unsere Nachforschungen nicht weiter treiben noch uns anmaßen, die Ursache dieser Ursache [d. h. der Gewohnheit G. M.] anzugeben, sondern müssen daran als dem letzten aufweisbaren Prinzip all unserer Erfahrungsschlüsse uns genügen lassen. Wir können ganz zufrieden sein, so weit zu kommen und sollten uns nicht über die Beschränktheit unserer Fähigkeiten beklagen, die uns nicht weiter bringen.«39 Der Laplacesche Geist Du Bois-Reymonds könnte bei Hume nicht einmal als hypothetische Figur auftreten, denn die empirische Forschung bringt am Leitfaden der Kausalität nur wahrscheinliche, nie aber a priori gewisse Erkenntnisse zustande: »Es muß sicherlich eingeräumt werden, daß die Natur uns in großem Abstand von all ihren Geheimnissen hält und uns nur die Kenntnis weniger oberflächlicher Eigenschaften der Dinge ermöglicht, während sie jene Kräfte und Prinzipien vor uns verbirgt, von denen allein der Einfluß abhängt, den die Dinge ausüben.«40 Du Bois-Reymonds zwei unlösbare Probleme bedürften deshalb keiner Hervorhebung, da sie neben zahllosen anderen stünden. Die Begriffe von Energie und Kraft gehören zu den dunkelsten Vorstellungen der Metaphysik, und den Ursprung des Bewußtseins hat Hume ganz folge37 38 39 40

Ebd., 24. Ebd., 25. Ebd., 55. Ebd., 43.

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richtig nicht eigens untersucht, denn alles Wissen beruht auf Erfahrungen, die nach dem rein subjektiven Schema der Kausalität verknüpft werden. Da nicht einmal bewiesen werden kann, ob die »Auffassungen des Geistes durch äußere Gegenstände verursacht sein müssen, die von uns ganz verschieden«41 sind, müßte er ganz aus sich heraustreten, um seinen Hervorgang aus etwas zu begreifen, das er nicht selbst ist. Er müßte auch hier kausal verfahren und bliebe deshalb wieder nur bei sich. Die Einsicht, daß Erkenntnis nach diesem Modell gar nicht den Anspruch auf Objektivität ihrer Resultate erheben könnte, hat Kant zum Ausgangspunkt seiner transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gemacht. Der Verzicht auf die Metaphysik, also auf eine Erkenntnis jenseits der Grenzen der empirischen Erfahrung, kann für Kant nicht im Humeschen Sinne bestehen bleiben. Die Behauptung, nicht nur das Material, sondern auch die Prinzipien seiner Verknüpfung entstammten der Erfahrung, setzt ihre Notwendigkeit außer Kraft. Wenn »man sagte: Die Erfahrung böte unablässig Beispiele einer solchen Regelmäßigkeit der Erscheinungen dar, die genugsam Anlaß geben, den Begriff der Ursache davon abzusondern, und dadurch zugleich die objektive Gültigkeit eines solchen Begriffs zu bewähren, so bemerkt man nicht, daß auf diese Weise der Begriff der Ursache gar nicht entspringen kann, sondern daß er entweder völlig a priori im Verstande müsse gegründet sein, oder als ein bloßes Hirngespinst aufgegeben werden müsse.«42 Die »Möglichkeit einer Verbindung [der Vorstellungen; G. M.] überhaupt«43 muß demnach unabhängig von den einzelnen empirischen Assoziationen, d. h. a priori gegeben sein, um Erkenntnis zu sichern. Es ist dies eine Funktion, die immer schon aktiv ist, wenn eine Verbindung des Mannigfaltigen stattfindet. Kant nennt sie einen »Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft«44, die auf eine Einheit gerichtet ist, welche ihrerseits in der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption gründet. Hierdurch wollte Kant »den Versuch […] machen, ob man nicht die Vernunft zwischen diesen beiden Klippen [d. h. der Schwärmerei und des Skeptizismus; G. M.] glücklich durchbringen, ihr bestimmte Grenzen anweisen, und dennoch das ganze Feld ihrer zweckmäßigen Tätigkeit für sie geöffnet erhalten könne.«45 Diese zweckmäßige Tätigkeit, zu der Kant der Vernunft verhelfen wollte, bedeutet Befreiung und Begrenzung zugleich. Einerseits betont er an vielen Stellen, daß es Erkenntnis jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung nicht geben

41 42 43 44 45

Ebd., 179. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 123 f. Ebd., B 129. Ebd., B 130. Ebd., B 128.

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kann, andererseits setzt Erkenntnis synthetische Sätze a priori voraus, die aus Erfahrung nicht stammen können. Um die Möglichkeit von Wissenschaft, d. h. von allgemeinen und notwendigen Urteilen dartun zu können, muß Kant auf ein Wissen rekurrieren, das sich auf keine empirischen Gegenstände bezieht. Kant nennt es transzendental und stellt zugleich fest, daß es jeder empirischen Erkenntnis immer schon vorausgesetzt ist: »Wir sind im Besitze gewisser Erkenntnisse a priori, und selbst der gemeine Verstand ist niemals ohne solche.«46 Um also Wissenschaft auf dem sicheren Boden der Erfahrung begründen zu können, bedarf es des Rekurses auf die transzendentalen Funktionen des Verstandes, die letzthin nur mit metaphysischen Begriffen zu erschließen sind. »Denn wo sollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig wären; daher man diese schwerlich für erste Grundsätze gelten lassen kann.«47 Die Frage nach den ersten Grundsätzen gehört aber schon bei Aristoteles zur Metaphysik.48 Insofern ist die Kantische Transzendentalphilosophie der Sache nach Metaphysik, würde doch »eine solche Wissenschaft, welche den Ursprung und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmte […] t r a n s ze n d e n t a l e Lo g i k heißen müssen, weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird, und nicht, wie die allgemeine Logik, auf die empirischen sowohl, als reinen Vernunfterkenntnisse ohne Unterschied.«49 Freilich öffnet die Transzendentalphilosophie nicht die Grenze, durch die Kants Vorgänger in der Aufklärung empirische Wissenschaft und Metaphysik getrennt hatten. Im Gegenteil, Kant hat die Grenze selbst als denknotwendige Bedingung für die Allgemeinheit und Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse angesehen. Nur wenn sie sich auf Gegenstände möglicher Erfahrung bezieht, kann Wissenschaft reale Fortschritte erzielen. Angewandt auf die Gegenstände der traditionellen Metaphysik, das Weltganze und sein Urprinzip, die Seele und ihren Ursprung und die menschliche Freiheit, sind die reinen Verstandesbegriffe »überschwenglich«. Die Grenze ist aber nicht als Verbotstafel zu verstehen, das Gebiet jenseits überhaupt zu betreten. Da nämlich das Ideal der Erkenntnis, die Erschließung der Dinge, wie sie an sich selber sind, durch empirische Wissenschaft nicht erreicht werden kann, kommt die Vernunft nur in der Metaphysik zu ihrem Recht. Deren Gegenstände dürfen dann aber nicht als empirische Dinge behandelt werden, denn sie sind Ideen, die »keinen anderen Nutzen haben, als den Verstand in die Richtung zu bringen, 46 47 48 49

Ebd., B 3. Ebd., B 5. Vgl. das erste Buch der Metaphysik des Aristoteles. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 81 f. (Hervorhebung im Original)

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darin sein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird.«50 Sie sind demnach transzendentale Vernunftbegriffe, denen kein sinnlicher Gegenstand entspricht, die sich aber regulativ auf den Verstandesgebrauch beziehen, »und zwar nicht insofern dieser den Grund möglicher Erfahrung enthält, […] sondern um ihm die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat und die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein absolutes Ganzes zusammenzufassen.«51 Gleichwohl sind diese transzendentalen Ideen »Probleme der Vernunft«52, denn das Ganze, auf das sie hingeordnet sind, ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung, ist also dem Verstand inhaltlich unbekannt und muß doch mit der Erfahrung in Zusammenhang gebracht werden. Das Problem wird dadurch schwerer, daß die Naturwissenschaft »niemals das Innere der Dinge, d. h. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erscheinungen dienen kann, entdecken«53 wird. Der berühmte Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung bezeichnet nach Kant die Grenze des Naturerkennens. Die Metaphysik, die Kant verschiedentlich als Naturanlage im Menschen bezeichnet hat, kann sich mit den Erscheinungen nicht begnügen, muß sich aber, wenn sie nicht in den Dogmatismus früherer Epochen zurückfallen will, auf eine Position des »als ob« beschränken. Insofern hat Kant auch der Metaphysik eine Grenze gesetzt, obwohl sie sich ganz legitim auf das Unbedingte, Unendliche richtet. Auf sie und ihre Begriffe aber zu verzichten, wie von vielen Aufklärern und später auch vom naturwissenschaftlichen Materialismus im 19. Jahrhundert gefordert worden war, hätte nach Kant geradezu die Preisgabe der genuinen aufklärerischen Intentionen zur Folge. Die Ideen haben nämlich Beziehung auf die moralisch-praktische Realität. Deshalb behandelt die kritische Philosophie die Ideen als »etwas in der menschlichen Vernunft, was uns durch keine Erfahrung bekannt werden kann, und doch seine Realität und Wahrheit in Wirkungen beweiset, die in der Erfahrung dargestellt, also auch (und zwar nach einem Prinzip a priori) schlechterdings können geboten werden.«54 In der Betrachtung der Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die aus dem Ensemble der theoretisch-wissenschaftlichen

50

A. a. O., B 380. A. a. O., B 383. (Hervorhebung im Original) 52 I. Kant, Prolegomena zu einer Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Ders., Immanuel Kants Werke, Bd. 4, hrsg. von E. Cassirer, Berlin 1922, § 57, 108. 53 Ebd., 107. 54 I. Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: Ders., Immanuel Kants Werke, Bd. 6, hrsg. von E. Cassirer, Berlin 1923, 506 f. 51

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Begriffe zwar ausscheiden müssen, betätigt sich gleichwohl die metaphysische Naturanlage der menschlichen Vernunft aus dem praktischen Interesse, die Freiheit als möglichen Gedanken zum Regulativ werden zu lassen. Dies gilt entsprechend auch für die anderen Ideen, die eine Nötigung enthalten, »uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischer) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären.«55 Der intentione recta auf die Gegenstände bezogene wissenschaftliche Verstand kann die Grenzen seines Gebrauchs nicht aus seiner eigenen Verfahrensweise heraus bestimmen. Da er es nur mit Erscheinungen zu tun hat, kann er weder die Totalität der Welt noch deren Ursprung oder auch nur das Wesen von Materie und Kraft erfassen als wären es sinnfällige empirische Dinge. Diese Lehre Kants, nach der die Welt nicht in ihrer begrifflich faßbaren Faktizität aufgeht, weil den Erscheinungen deren Grund notwendig unauflösbar gegenüber stehen bleibt, wurde im späten 19. Jahrhundert vom szientifischen Materialismus ignoriert. Alles überhaupt Erkennbare reduziert sich ihm auf Naturvorgänge. Welträtsel kann es danach nicht eigentlich geben. So schreibt Ernst Haeckel, einer der Protagonisten der optimistischen Wissenschaftsauffassung des 19. Jahrhunderts: »Die alte Weltanschauung des Id e a l - D u a l i s mu s mit ihren mystischen und anthropistischen Dogmen versinkt in Trümmer; aber über diesem gewaltigen Trümmerfelde steigt hehr und herrlich die neue Sonne des Re a l - Mo n i s mu s auf, welche uns den wundervollen Tempel der Natur voll erschließt.«56 Es blieb scheinbar nur ein einziges Welträtsel übrig, das Substanzproblem, dessen Lösung aber durch die Entdeckung der Gesetze von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft ermöglicht wurde. »Von größter Wichtigkeit für unsere monistische Weltanschauung ist die feste Überzeugung, daß die beiden großen kosmologischen Grundlehren, das chemische Grundgesetz von der Erhaltung des Stoffes und das physikalische Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft, untrennbar zusammengehören; beide Theorien sind ebenso innig verknüpft wie ihre beiden Objekte, Stoff und Kraft, oder Materie und Energie.«57 Den Ursprung der Bewegung, das zweite Welträtsel Du BoisReymonds,58 will Haeckel empirisch-wissenschaftlich erklärt haben: »Nach unserer Ansicht wird dieses ›zweite Welträthsel‹ durch die Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist wie die Empfindung. Die Berechtigung zu dieser monistischen

55

Ebd., 507. E. Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Volksausgabe, Stuttgart o. J. [1903], 151. (Hervorhebungen im Original). 57 Ebd., 87. 58 Vgl. E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 168 f. 56

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Annahme finden wir erstens im Substanz-Gesetz und zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und Physik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben.«59 Mit dieser Erklärung ist über den Materialismus des 18. Jahrhunderts hinaus kein Fortschritt erzielt. Sie ist so tautologisch wie der Versuch Holbachs, den Ursprung der Bewegung aus dem großen Ganzen der Natur herzuleiten. Aus einem in ewiger Bewegung befindlichen Universum ist nicht dessen eigene Genese zu deduzieren. Haeckel versteht, wie die meisten der philosophierenden Naturwissenschaftler seiner Zeit, die transzendentalphilosophischen Theoreme Kants als Aussagen zur physikalischen Forschung. Die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes und der Zeit wird deshalb ausdrücklich verworfen. Ihre empirische Realität sei vielmehr erwiesen. Nicht zufällig implizieren aber die Beweisgründe eine uneingestandene affirmative Metaphysik: »Die Re a l i t ä t vo n R a u m u n d Ze i t [ist] jetzt endgültig bewiesen durch die Erweiterung unserer Weltanschauung, welche wir dem Substanz-Gesetz und der monistischen Kosmogonie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorstellung vom ›leeren Raum‹ glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das unendliche › r a u m e r f ü l l e n d e Medium‹ die Materie, und zwar in ihren beiden Formen: Ae t h e r und Ma s s e . Und ebenso betrachten wir auf der anderen Seite als das › zei ter f ü l lende Geschehen‹ die ewige Bewegung oder genetische Energie, welche sich in der ununterbrochenen E n t w i cke l u n g der Substanz äußert, in dem ›perpetuum mobile‹ d e s Un ive r s u m . « 6 0 Abgesehen davon, daß die letzte Ätherhypothese gerade zur Zeit der Veröffentlichung der Welträtsel durch Einsteins Relativitätstheorie hinfällig wurde, ist Haeckel, der das Ignorabimus Du Bois-Reymonds heftig kritisierte, mit seiner Erklärung, kantisch gesprochen, in intelligible Welten ausgeschweift. Er redet nämlich vom Weltganzen, das nach Kant kein Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann. Wie die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen durch eine Entwicklung der Substanz als des Einheitsgrundes erfolgen soll, bleibt zudem so unerklärt wie in der neuplatonischen Emanationslehre. Die Grenze, die Kant der empirischen Erkenntnis des Verstandes gewiesen hatte, wird von den Naturalisten des 19. Jahrhunderts überschritten, ohne freilich die Hegelsche Reflexion des Problems aufzunehmen. Die Erhebung der Natur zur alleinigen in sich determinierten Wirklichkeit entspringt einem Rückfall in einen naiven Realismus, der seinen Monismus nicht als eine historisch längst aufgetretene Stellung der Reflexion zu sich selbst erkennt. Die unkritische Position des philosophischen Szientismus kommt in der Behandlung der Frage nach dem Ursprung des Bewußtseins ebenso deutlich 59 60

E. Haeckel, Die Welträthsel, a. a. O., 97 f. Ebd., 99 (Hervorhebungen im Original).

Unbeschränkter Fortschritt und die Grenze des Erkennens

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zum Vorschein. Haeckel sieht in der Frage ein neurologisches Problem und ist damit in seiner Erklärungsweise den gegenwärtigen Hirnforschern nahe, die strukturell nicht anders argumentieren. Daß diese Erklärungsversuche sämtlich im Medium der Reflexion stattfinden, das Bewußtsein also sich selbst vom Nichtsein zum Nochnichtsein und schließlich zum Sein begleiten müßte, diese Aufgabe hat der szientifische Materialismus bis heute nicht als unauflösbare Aporie begriffen. Die Entmythologisierung der Physik in der Aufklärung hat den Fortschritt der Naturbeherrschung erst wirklich ermöglicht, aber die Reduktion der Metaphysik auf die Physik führt unwillkürlich zur Mythologie der Natur zurück. Auf ihrer Höhe hat die Aufklärung das kritische Bewußtsein hiervon selbst erlangt. Voltaires Philosophe ignorant kreist um Fragen, die einer physikalischen Antwort widerstehen. Was letzthin der Grund der kosmischen Erscheinungen und des menschlichen Denkens ist, kann nach seiner Einsicht kein Gegenstand des Naturerkennens sein, denn dieses wäre dann selbst dieser letzte Grund: »Nicht nur, daß wir auf diese Fragen nie befriedigende Auskunft erhalten werden, es wird vor uns nie auch nur die Möglichkeit aufblitzen, eine lediglich physikalische Ursache auszudenken. Warum? Weil der Knoten dieser Schwierigkeit im Urprinzip der Dinge steckt. Mit dem, was in unserem Inneren wirkt, verhält es sich wie mit dem, was in den unermeßlichen Räumen der Natur wirkt. In der Anordnung der Gestirne wie in der Organisation einer Made und des Menschen besteht ein Urprinzip, zu dem uns der Zugang notwendig verwehrt sein muß. Denn könnten wir unseren Urantrieb erkennen, so wären wir Herr über ihn, wären wir Götter.«61

61

Voltaire, Der unwissende Philosoph, in: Ders., Kritische und Satirische Schriften, München 1970, 204.

Renate Wahsner

Debatten über die Grenzen des Naturerkennens vor dem Ignorabimus-Streit

Seitdem der Mensch weiß, daß er erkennt, sind ihm auch die Grenzen seiner Erkenntnis bewußt, genauer: ist ihm bewußt, daß es diese Grenzen gibt, nicht unbedingt, worin sie bestehen. Nach Hegel hat schon der hohe, antike Skeptizismus aufgezeigt, daß alle Formen der Erkenntnis außer dem Denken endliche Formen sind, indem sie einen Widerspruch in sich enthalten,1 alles Endliche so nicht an und für sich ist, sondern nur ein Schein, ein Wankendes, nichts Anhaltendes.2 Demzufolge kann eine besondere Erkenntnis niemals absolut wahr sein, mithin können wir ihrer nicht sicher sein. Nur eine Philosophie kann das Absolute erfassen, keine begrenzte Erkenntnis sein. Zugleich aber ist nach Hegel mit jeder wahren Philosophie (einer, die nicht Dogmatismus ist) der Skeptizismus, der Zweifel, ob das Wahre erkannt wurde, innigst verbunden. Viele der großen antiken Philosophen hatten die Einsicht, daß eine wahre Philosophie notwendig selbst zugleich eine negative Seite hat, welche gegen alles Beschränkte und damit gegen den Haufen der Tatsachen des Bewußtseins und deren unleugbare Gewißheit sowie gegen die bornierten Begriffe, welche in jenen herrlichen Doktrinen vorkommen, gekehrt ist.3 Das antike Bewußtsein sah die Grenzen der Erkenntnis im Sinnlichen – im Unterschied zu den Grenzbestimmungen des 18. Jahrhunderts: Der Humesche Skeptizismus »legt die Wahrheit des Empirischen, des Gefühls, der Anschauung zum Grunde und bestreitet die allgemeinen Bestimmungen und Gesetze von da aus, aus dem Grunde, weil sie nicht eine Berechtigung durch die sinnliche Wahrnehmung haben. Der alte Skeptizismus war so weit entfernt, das Gefühl, die Anschauung zum Prinzip der Wahrheit zu machen, daß er sich vielmehr zuallererst gegen das Sinnliche kehrte.«4 1

Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, in: Ders., Werke in 20 Bdn. auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt /M. 1986, Bd. 8, 87 (§ 24 Z). 2 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke, a. a. O., Bd. 18, 186. 3 Vgl. G. W. F. Hegel, Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten, in: Werke, a. a. O., Bd. 2, 227 f. 4 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie I, a. a. O., 112 (§ 39).

Grenzen des Naturerkennens vor dem Ignorabimus-Streit

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Zudem erkannte die antike Philosophie, daß das Denken sich selbst in ein Dilemma bringen, d. h. sich eine Grenze erzeugen kann. So stand die antike Naturphilosophie nach Heraklit und den Eleaten vor der Alternative: Entweder befindet sich die Welt in ständigem Fluß und ist nicht erkennbar, denn in einer Welt, in der alles immer anders ist, lassen sich keine gesetzmäßigen Zusammenhänge finden (Herakliteer), oder sie ist erkennbar, da sie in Ruhe verharrt, es in Wahrheit keine Bewegung gibt (Eleaten). Die Bewegung konnte nicht gedacht (wenn auch sinnlich wahrgenommen) werden. Um eine bewegte Welt erkennen zu können, muß es in ihr außer der Bewegung ebenso real auch Ruhe und Stabilität geben. Die Atomisten fanden eine Lösung des Problems. Durch die Begründung eines neuen Denkprinzips (eines, das sich später als das Prinzip physikalischen Denkens erwies) konnte also eine Grenze überwunden resp. aufgelöst werden.5 Es soll hier nun nicht bis auf die Antike zurückgegangen, sondern mit der Neuzeit begonnen werden, mit dem Umbruch, der zu ihr führte, der mit der Begründung der Naturwissenschaft im heutigen Sinne völlig neue Möglichkeiten für die Naturerkenntnis erbrachte, in einem damit aber auch eine neue Grenze der Naturerkenntnis anzukünden schien. Denn da nunmehr Physik nicht mehr wie in der Antike Naturphilosophie war, sondern sich in eine messende und rechnende Naturwissenschaft verwandelt hatte, konnte sie das, was nur Philosophie vermag, nicht mehr leisten. Der berühmte Leibniz-ClarkeBriefwechsel hat genau dieses Problem zum Gegenstand.

I. Newton Beschränkt die mathematisierte empirische Naturwissenschaft die Naturerkenntnis? Beschränken okkulte Qualitäten die Erkenntnis des Seins? Obzwar man in diesem Briefwechsel vordergründig über Gott und die Qualität seiner Schöpfung diskutierte, war es im Grunde eine Diskussion über die Grenzen der Naturwissenschaft und die künftige Aufgabe der Philosophie6 5

Vgl. hierzu: R. Wahsner, Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus – dargestellt an Newton und Kant, Berlin 1981; R. Wahsner und H.-H. von Borzeszkowski, Der antike Atomismus als Lösung eines erkenntnistheoretischen Problems, in: Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt /M / Berlin / Bern u. a. 1992, 99–124. 6 Vgl. zu diesem Newton-Leibniz-Streit: E. Cassirer, Newton and Leibniz, in: The Philosophical Review II (1943), No. 310; A. Koyré / I. B. Cohen, Newton and the Leibniz-Clarke correspondence with notes on Newton, Conti and Des Maizeaux, in: Archives internationales d’histoire des sciences 15 (1962), 63–126; H.-H. von Borzeszkowski /

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– lebhaft kommentiert in den einschlägigen Journalen.7 Es ging darum, den Begriff einer empirischen mathematisierten Naturwissenschaft im Gegensatz sowohl zu dem der Philosophie als auch zu dem der rein empirischen Naturforschung bzw. der reinen Naturbeschreibung zu bestimmen. Dabei vertrat Newton (in der Gestalt Clarkes) die Position der empirischen mathematisierten Naturwissenschaft, während Leibniz die Aufgaben der Philosophie verteidigte. Allerdings war beiden dieser Kern der Debatte nicht bewußt und konnte es nicht sein – weshalb sie genau genommen aneinander vorbeiredeten. Erst mit Kant wurde der Unterschied zwischen Philosophie und Naturwissenschaft in das philosophische Bewußtsein gehoben. In der zeitgenössischen Wahrnehmung vollzog sich die Debatte als Streit zwischen verschiedenen philosophischen Systemen und nationalen Schulen.8 Newton hingegen erkannte – wenn auch nicht bis in die letzte Konsequenz – die Spezifik der physikalischen Erkenntnis. So gestand er sich ein, daß die in der Mechanik mathematisch formulierten Gesetze schon physikalische Erklärungen sind. Er empfand das als Verlust, da diese Gesetze nichts mehr darüber sagten, was die Gravitation ist. Das sagte die alte Naturphilosophie zwar auch nicht, aber man konnte sich einbilden, daß sie es sagte, da sie dem Alltagsbewußtsein viel näher kam als die neue Mechanik. Newtons Bedauern,

R. Wahsner, Die Metaphysizierung der Physik, in: H. Horstmann (Hg.), Weltanschauung und Denkweise, Berlin 1981, 149–161; dies., Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff, Darmstadt 1989, 39–49; V. Schüller, Anhang des Herausgebers zu: Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, Berlin 1989. [Dieser Band enthält auch viele den Briefwechsel betreffende Korrespondenzen und Dokumente, so den den Leibniz-Clarke-Briefwechsel auslösenden Brief von Leibniz vom 10.05.1715 an die Prinzessin von Wales Wilhelmine Charlotte Caroline (204–206)]. 7 Im Oktober 1717 erschien in den Acta Eruditorum Wolffs Besprechung der englischen Originalausgabe dieses Briefwechsels; drei, vier Monate danach eine solche von Bernard in Nouvelles de la République des Lettres; die im Herbst 1720 erschienene deutsche Ausgabe des Briefwechsels enthielt eine – selbstredend die Partei von Leibniz ergreifende – Vorrede von Christian Wolff; diese Ausgabe wurde noch im selben Jahr in den Acta Eruditorum besprochen und im darauffolgenden Jahr in der Historie der Gelehrsamkeit Unserer Zeiten; ebenfalls 1721 wurde in den Deutschen Acta Eruditorum die französische Ausgabe der Leibniz-Clarke-Korrespondenz mit einem Kommentar angezeigt. Dies nur als Auswahl. 8 Ausführlicher hierzu siehe: Einleitung der Herausgeber zu: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, hrsg., eingeleitet und mit einem Anhang versehen von R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Berlin 1997, 6–16. Zur Rezeption dieser Debatte durch den Zeitgenossen Voltaire siehe: Voltaire, Sammlung verschiedener Briefe des Herrn von Voltaire die Engelländer und andere Sachen betreffend, Jena 1747, insbes. 217–230 (XIV. Brief. Über Descartes und Newton); ders., Elemente der Philosophie Newtons, Verteidigung des Newtonianismus, Die Metaphysik des Neuton, im o. g. Titel, 79–355.

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das Gravitationsgesetz nur in mathematischer Form gefunden, nicht aber das Wesen der Gravitation verstanden zu haben, war (neben dem zunächst unzulänglichem Begreifen der neuen Gesetzesart) auch das Bedauern, nicht alle die Naturphilosophie betreffenden Fragen im Rahmen der Physik lösen zu können.9 Seine immer wieder auftretende Unzufriedenheit mit der Eigenart der Physik resultierte zum einen aus dem Unbehagen an einer spezifischen Form physikalischer Theorien,10 zum anderen daraus, daß die rein physikalische Erklärung zu keinem vollständigen (unmittelbar schon philosophischen) Verständnis der Natur führt. Newton sah, daß seine Mechanik nicht die ganze Natur zu erklären vermochte, konnte aber nicht entscheiden, ob das an der spezifischen physikalischen Theorie, die er begründet hatte, oder an der Physik als solcher lag. Denn da er die erste geschlossene physikalische Theorie geschaffen hatte, fehlte ihm die Möglichkeit, diese mit anderen derartigen Theorien zu vergleichen. Den Ausweg suchte er in zusätzlichen Annahmen oder, wenn diese nicht zum Ziel führten, in Gott. Auf diese Weise kompensierte in seinem Konzept Gott sowohl Grenzen der Newtonschen physikalischen Theorie als auch Grenzen der Physik überhaupt. Was jeweils zutrifft ist aus der Sicht jener Zeit unbestimmt. Aber abgesehen von seinen theologischen Schriften führte er Gott stets nur ein, wo ein ernsthaftes physikalisches Problem vorlag. Gott wurde so zur physikbegrenzenden Bedingung. Wenn Newton in der Physik »Gott« sagte,11 so hieß das: Hier liegen die Grenzen meiner physikalischen Theorie, meiner Mechanik. Daß er das aber nicht so ausdrückte, sondern Gott zum Helfer aus der Not machte, beweist zwar, daß er die Mechanik nicht in jeder Hinsicht als Theorie und in ihrer physikalischen Spezifik erkannte, offenbart aber auch seine Einsicht in die Begrenztheit der neuartigen Naturerkenntnis. So schrieb er z. B.: 9

Ausführlicher hierzu siehe: H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Einleitung zu: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, a. a. O., 37–53. 10 Newton war insbesondere mit der Beschreibung der Gravitation als Fernwirkung unzufrieden. Im dritten Brief an Bentley schreibt er: »Es ist unfaßbar, daß nichtbelebte rohe Materie ohne Vermittlung durch irgend etwas, das nicht materiell ist, etwas bewirken, auf andere Materie einwirken sollte ohne Kontakt, wie es sein müßte, wenn die Gravitation im Sinne Epikurs ihr wesentlich und inhärent ist. […] Daß ein Körper per Distanz auf einen anderen wirken kann […] ohne Vermittlung von irgend etwas, durch das die Aktion und Kraft von einem zum anderen transportiert wird, ist eine große Absurdität.« (I. Newton, Brief an R. Bentley vom 25. 2. 1692 / 93, in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy, hrsg. von I. B. Cohen, Cambridge / Massachusetts 1958, 302). 11 Mitunter formulierte er als Ausweg auch: »ein körperliches oder unkörperliches Medium«, »eine zusätzliche Macht, sei sie nun natürlicher oder übernatürlicher Natur«.

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»Die Hypothese, daß das Weltsystem durch mechanische Prinzipien aus der gleichmäßig über den Himmel verteilten Materie abgeleitet werden kann, ist mit meinem System nicht vereinbar.«12 Im einzelnen legte Newton die Gründe, warum diese neue Art der Naturerkenntnis nicht das Weltgesetz darstellen kann, nicht nur in den Prinzipien, sondern auch in seinem Briefwechsel mit dem Geistlichen und Altphilologen Bentley und in den Fragen im Anhang der Optik dar.13 Diese Fragen sind Ausdruck echter physikalischer und erkenntnistheoretischer Probleme und Schwierigkeiten der klassischen Mechanik und zum Teil der gesamten Physik.14 Das heißt – um es zu wiederholen –, es sind Grenzen, die zum Teil physikalisch überwunden werden können, durch die Weiterentwicklung der Physik, die zu einem anderen Teil aber nur durch die philosophische Verarbeitung der physikalischen Erkenntnisse aufgehoben oder begriffen werden können. So erkannte Newton, daß sich im Rahmen seiner Gravitationstheorie für einen räumlich unendlichen Kosmos, der unendlich viele Massen enthält, kein physikalisch sinnvolles Modell angeben läßt, es sei denn, man postuliert starke Zusatzbedingungen. Hier liegen die Gültigkeitsgrenzen dieser Theorie. Denn in dem angenommenen Fall wirkt zu jeder Zeit auf jede Masse eine unendliche Gravitationskraft. Jene Kraft ist also nicht wohldefiniert. Man bezeichnet dies als Newtonsches Gravitationsparadoxon.

12

I. Newton, Brief an R. Bentley vom 11. 2. 1693, in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy, a. a. O., 310. 13 Vgl. I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, hrsg. von J. Ph. Wolfers, Berlin 1872, 507–512; ders., Opticks (1730), with a foreword by A. Einstein, an introduction by Sir Edmund Whittaker, a preface by I. B. Cohen, Dover 1952, insbes. 369, 375–406 (Queries 28, 31) [dt: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, übersetzt und hrsg. von G.W. Abendroth, Leipzig 1898, Bde. 96 und 97 der Reihe Ostwalds Klassiker der exakten Naturwissenschaften; auch: Optik, in Auszügen übersetzt und hrsg. von H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik, Wissenschaftliche Taschenbücher Texte und Studien, Bd. 123, Berlin 1980]; Ders., Briefe an R. Bentley vom 10. 12. 1692, 17. 1. 1692 / 93 und 25. 2. 1692 / 93, in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy, a. a. O., insbes. 280–299, 302. 14 Ausführlicher dazu siehe z. B.: H. Bondi, Cosmology, Cambridge 1952; H.-J. Treder, Relativität und Kosmos, Berlin 1968; P. G. Bergmann, Cosmology as a science, in: Foundations of Physics 1 (1970), 17–22; H. Goenner, Erkenntnistheoretische und begriffsgeschichtliche Vorbemerkungen, in: Ders., Einführung in die Kosmologie, Heidelberg / Berlin / Oxford 1994; H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Kosmologie – Physik oder Metaphysik?, in: Dt. Zs. für Philosophie 26 (1978), 242–246; Dies., Stichwörter »Kosmologie«, »Kosmos«, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von H.-J. Sandkühler, Hamburg 1990; Dies., Die Wirklichkeit der Physik, a. a. O., insbes. 287–339; Dies., Einleitung zu: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, a. a. O., 37–52.

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In seinem zweiten Brief an Bentley diskutierte Newton diese Schwierigkeit. Er hielt das Paradoxon für unauflösbar, da die unendliche Gravitationskraft nur durch unendliche Geschwindigkeiten der Massen, das heißt durch unendliche Zentrifugalkräfte, kompensiert werden kann, wofür unendlich große kinetische Energien nötig wären. Deshalb schien es ihm erforderlich zu sein, daß Gott von Zeit zu Zeit korrigierend eingreift. Um zu verhindern, daß alles zusammenfällt, muß er in periodischen Abständen die Anfangsbedingungen jeder einzelnen Masse neu einstellen, das heißt, deren Ort und Geschwindigkeit neu festlegen. Der Weltmechanismus kann so wieder funktionieren, bis die Geschwindigkeiten erneut zu hoch werden. Im Briefwechsel mit Clarke spottete Leibniz über diesen Ausweg, da er die notwendigen spezifischen begrifflichen Begrenzungen einer mathematisierten empirischen Naturwissenschaft übersah. Er kritisierte, daß Newtons Gott nicht in der Lage sei, einen vollkommenen Kosmos zu schaffen. Er hielt es für eine Diskriminierung Gottes zu behaupten, dieser sei genötigt, das Universum immer wieder aufzuziehen, um es in Gang zu halten. »Newton und seine Anhänger« – schreibt er im ersten Brief – »haben außerdem noch eine recht sonderbare Meinung von dem Wirken Gottes. Nach ihrer Ansicht muß Gott von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen – sonst bliebe sie stehen. Er hat nicht genügend Einsicht besessen, um ihr eine immerwährende Bewegung zu verleihen. Der Mechanismus, den er geschaffen, ist nach ihrer Ansicht sogar so unvollkommen, daß er ihn von Zeit zu Zeit durch einen außergewöhnlichen Eingriff ummodeln und selbst ausbessern muß, wie ein Uhrmacher sein Werk. Nun ist aber der schlechteste Meister derjenige, der sich am häufigsten zu Abänderungen und Berichtigungen genötigt sieht. Meiner Anschauung nach besteht im Ganzen der Welt stets dieselbe Kraft und Tätigkeit fort; sie geht nur gemäß den Gesetzen der Natur und der erhabenen prästabilierten Ordnung von Materie zu Materie über.«15 Leibniz bringt damit zwei Einwände gegen Newton vor. Der erste bezieht sich auf die von Newton gemachte Äußerung, daß in der Welt nicht immer dieselbe Bewegungsmenge vorhanden sei, daß Bewegung verlorengehen könne.16 Daher die Bemerkung, die Uhr müsse ab und zu aufgezogen werden. Zweitens polemisiert Leibniz aufgrund des genannten Gravitationsparadoxons gegen Newton. Der damit verbundene Kollaps kann nur durch eine Ausbesserung und Reinigung der Uhr vermieden werden. Ausgehend von diesem Streit wurde in der Folgezeit behauptet, Newton habe Gott als Motor der mechanischen Bewegung gebraucht, als Kompensator verlorengegangener Bewegung. 15

G. W. Leibniz, Streitschriften mit Clarke, in: Ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt von A. Buchenau, durchgesehen und hrsg. von E. Cassirer, Hamburg 1966, Bd. I, 120 f. 16 Vgl. I. Newton, Opticks, a. a. O., 375–406 (Query 31).

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Beide Vorwürfe von Leibniz haben einen physikalisch berechtigten Kern. Das erste Problem wurde innerhalb der Mechanik durch eine Erweiterung des Newtonschen Energiebegriffs gelöst,17 während die Lösung des zweiten, das sich auf den erwähnten Gravitationskollaps bezieht, außerhalb ihrer Gültigkeitsgrenzen liegt.18 Die Newtonsche Mechanik bewies, daß eine sich in ihrem epistemologischen Status von der Philosophie unterscheidende Einzelwissenschaft niemals Welterklärung sein kann, daß sie ihrer Natur nach, als Einzelwissenschaft, begrenzt ist.19 * Die neu begründete Art von Naturerkenntnis, die messende und rechnende Naturwissenschaft, erschien (und erscheint vielen bis heute) in einer weiteren Hinsicht Erkenntnisgrenzen zu markieren, da sie den Eindruck erzeugte: Wir können nicht erkennen, was etwas ist, sondern nur, wie es wirkt. Nun beruht – wie mehrfach dargestellt – 20 die neuzeitliche Naturwissenschaft (erkennbar

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Ausführlicher zu dieser Diskussion siehe: R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Einleitung zu: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, a. a. O., 46 und die dort angegebene Literatur. 18 Es wurde durch die Einsteinsche Gravitationstheorie auf einen Punkt reduziert. Doch auch diese neue Theorie kann nicht alle Schwierigkeiten der Newtonschen Mechanik lösen. Sie gestattet nicht, das Universum physikalisch derart zu erfassen, daß es aus sich selbst heraus für alle Zeiten bestehen kann (d. h. sie gestattet nicht, es selbstkonsistent zu beschreiben). Hinsichtlich der Stabilität astrophysikalischer Objekte mit endlicher Masse (zum Beispiel Sterne, Galaxienkerne) hat sich das Problem sogar verschärft: Nach der Einsteinschen Theorie stürzen bereits Objekte mit endlicher Masse in sich zusammen, sofern diese größer ist als eine bestimmte aus der Theorie folgende Grenzmasse. 19 Das heißt nicht, Naturwissenschaften könnten nur Endliches, in keiner Weise aber Unendliches erfassen. Vgl. dazu: H.-H. von Borzeszkowski, Erzeugt die naturwissenschaftliche Erkenntnis nur Wissen vom Endlichen, während das wahrhaft Unendliche nur geglaubt werden kann?, in: Hegel-Jahrbuch 2003. Glauben und Wissen. Erster Teil, hrsg. von A. Arndt / K. Bal / H. Ottmann, in Verbindung mit K.-M. Kodalle und K. Vieweg, Berlin 2003, 142–146; R. Wahsner, Weiß die Philosophie etwas oder glaubt sie nur? Eine Bemerkung zu Hegels Kritik der kritischen Philosophie, in: ebd., 75–79; Dies., »Der Gedanke kann nicht richtiger bestimmt werden, als Newton ihn gegeben hat.« Das mathematisch Unendliche und der Newtonsche Bewegungsbegriff im Lichte des begriffslogischen Zusammenhangs von Quantität und Qualität, in: A. Arndt / Ch. Iber (Hg.), Hegels Seinslogik – Interpretationen und Perspektiven, Berlin 2000, 271–300. 20 Cassirer faßt diesen Übergang als den vom Substanzdenken zum Funktionsdenken, Lasswitz als den der Verwendung des Denkmittels der Substantialität zu der der Variabilität. [Siehe: E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), Darmstadt 1990; Ders., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906, 1907), Darmstadt

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insbesondere an der Physik) tatsächlich darauf, daß nicht die Substanz der Körper Gegenstand der Untersuchung ist, sondern ihr Verhalten oder – wie man auch sagt – ihre Wirkung. Der neuzeitliche Umbruch besteht im Übergang von dem Prinzip ›Das Sein bestimmt das Wirken‹ zu dem ›Das Wirken bestimmt das Sein‹. Er wurde vollzogen, aber es dauerte lange Zeit, bis er begriffen wurde (und vollständig ist er es wohl bis heute nicht), bis z. B. erkannt wurde, daß dieses neue Prinzip nicht bedeutet: Auflösung des Gegenstandes in Wirkung oder Verhalten. Dieser Umbruch war durchaus nichts Negatives, sondern ermöglichte überhaupt erst die mathematisierte empirische Naturerkenntnis. In diesem Sinne schreibt Newton: »Wir haben wohl eine Vorstellung von seinen [Gottes – R. W.] Eigenschaften, aber keine von seinen Bestandtheilen. Wir sehen nur die Gestalt und Farbe der Körper, wir hören ihre Töne, wir fühlen ihre äussere Oberfläche, wir riechen und schmecken sie; was aber die inneren Substanzen betrifft, so erkennen wir sie weder durch irgend einen Sinn, noch durch Nachdenken, und noch weniger haben wir eine Vorstellung von der Substanz Gottes. Wir kennen ihn nur durch seine Eigenschaften und Attribute, durch die höchst weise und vorzügliche Einrichtung aller Dinge und durch ihre Endursachen.«21 Die Aufgabe der Naturwissenschaft sieht Newton dann darin, die Werke Gottes, Gottes Wirkung, zu untersuchen bzw.22 »von den Erscheinungen aus zu argumentieren, ohne Hypothesen zu ersinnen, und Ursachen aus Wirkungen abzuleiten, bis wir zur allerletzten Ursache gelangen, die bestimmt nicht mechanischer Art ist.«23 Man kann diese Aussage als Resignation verstehen, als Fixieren einer Grenze, über die wir grundsätzlich nicht hinauskönnen, aber auch als Feststellung, daß

1994, Bd. I, II; K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik, Hamburg / Berlin 1890.] Hegel sprach deshalb in seiner Naturphilosophie davon, daß die Bewegung das Subjekt ist, nicht das Prädikat. (Vgl. G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hrsg. von R.-P. Horstmann, Hamburg 1987, 16 f.). In neuerer Darstellung siehe auch: R. Wahsner, Naturwissenschaft, Bielefeld 2002, 12–15; H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Die Natur technisch denken? Zur Synthese von τéχνη und φúσις in der Newtonschen Mechanik oder das Verhältnis von praktischer und theoretischer Mechanik in Newtons Physik, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXV (2003), Wien 2004, hrsg. von H.-D. Klein, Wien 2004, 135–168; dies., Infinitesimalkalkül und neuzeitlicher Bewegungsbegriff oder Prozeß als Größe, in: Jahrbuch für Hegelforschung 2002 / 2003, hrsg. von H. Schneider, Sankt Augustin 2004, 197–271; Dies., Gibt es eine Logik der Physik als Vorstufe zur Hegelschen Begriffslogik?, in: Logik, Mathematik und Natur im objektiven Idealismus, hrsg. von W. Neuser und V. Hösle unter Mitarbeit von B. Braßel, Würzburg 2004, 57–60. 21 I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, a. a. O., 510. 22 Vgl. ebd., 511. 23 I. Newton, Opticks, a. a. O., 369 (Query 28).

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die Mechanik, daß die Naturwissenschaft, im Verhalten Wesentliches erkennt, vom Verhalten auf wesentliche Züge des Sein schließen kann. Auf alle Fälle hat Newton das Wesen, die Substanz nicht in Verhalten oder gar in Relationen aufgelöst, sondern beschränkte sich auf das, was seine Wissenschaft zu leisten vermochte. Denn er leugnete nicht die Substanz, sah nur keinen Weg, sie zu erschließen. Anders hätte er nicht sagen können (nachdem er erklärt hatte, daß wir nichts von Gottes Substanz wissen), Gott »ist überall gegenwärtig, und zwar nicht nur virtuell, sondern auch substantiell; denn man kann nicht wirken, wenn man nicht ist«24; oder: »wenn wirklich die Akzidenzien der Körper weggenommen werden, dann bleibt nicht nur die Ausdehnung, wie Descartes sich einbildete, sondern auch die Vermögen, durch die sie die Wahrnehmung von Seelen ›erregen‹ und andere Körper bewegen können.«25 Schon der erste Satz seiner Prinzipien bezieht sich auf diese neue erkenntnistheoretische Grundlage. Er lautet: »Die Alten hielten (nach Pappus’ Angabe) die Mechanik für sehr wichtig bei der Erforschung der Natur, und die Neueren haben, nachdem sie die Lehre von den substantiellen Formen und den verborgenen Eigenschaften aufgegeben, angefangen die Erscheinungen der Natur auf mathematische Gesetze zurückzuführen. Es erschien daher zweckmäßig, im vorliegenden Werke die Mathematik so weit auszuführen, als sie sich auf die Physik bezieht.«26 Wenn Newton erklärte: »Es genügt, dass die Schwere existire, dass sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke und dass sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären im Stande sei«27, dann charakterisierte er den typischen naturwissenschaftlichen Standpunkt. Es ist dies die Bestimmung einer Grenze der Naturerkenntnis – sofern es, wie gesagt, die naturwissenschaftliche Art der Naturerkenntnis betrifft. Der vielzitierte Satz »Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht«28, kann auch gelesen werden als Aussage »Man muß dazu gelangen, von den Eigenschaften auf die Substanz, deren Eigenschaften sie sind, zu schließen, aber nicht voreilig, nicht aufgrund von phantastischen Spekulationen, sondern nur auf wissenschaftlicher Grundlage«. Eine dieser wissenschaftlichen Grundlagen ist die richtige kategoriale Fassung des Verhältnisses von Wirken und Sein. Denkt man dieses Verhältnis als

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I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, a. a. O., 509 (letzte Hervorhebung – R. W.). 25 I. Newton, Über die Gravitation …, hrsg. von G. Böhme, Frankfurt a. M. 1988, 37, 75. 26 I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, a. a. O., 1. 27 Ebd., 511. 28 Ebd.

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eines von Ding und Eigenschaften (als eines, in dem dem Ding als Einzelnem ein bestimmtes Attribut eigen ist), dann kann dieser Rückschluß nicht gelingen. Wie Kant später sagt: »Die Welt ist ein Totum substantiale; also ein Ganzes von Accidenzen ist keine Welt.«29 Genau hieran, an der veralteten kategorialen Fassung, entzündete sich gleich nach dem Erscheinen der Prinzipien eine langwierige Diskussion. Der Begriff Gravitation wurde als nicht in die Mechanik gehörig betrachtet. Huygens und Leibniz waren empört über den »Rückfall in die Qualitätenphysik der Scholastik«30. Sie nahmen – ebenso wie Bentley – an, Newton hielte die Gravitation für eine wesentliche und inhärente Eigenschaft (= okkulte Qualität) der Materie, also für eine Eigenschaft, die dem einzelnen Atom als Einzelnem zugeschrieben werden kann.31 Doch Newton verließ den alten Materiebegriff nicht nur implizit, sondern näherte sich auch dem Bewußtsein, daß seine Physik ein neues Materiekonzept beinhaltet. Dies äußert sich in seinem Natur- und seinem expliziten Substanzbegriff. Durch seine physikalische Theorie wurde Newton zu der ihm nicht ganz geheueren Auffassung gezwungen, daß die Substanz nicht als Individuum, als etwas Vereinzeltes, und infolgedessen auch nicht als neutral gegen ihre Tätigkeit, nicht verselbständigt gegenüber ihrer Tätigkeit, gefaßt werden darf. Substanzen sind für Newton die eigentlichen Realitäten; sie sind das, was durch sich selbst besteht; mithin ist etwas Substanz, insoweit es durch sich selbst besteht. Man könnte daher meinen, Newton hielte die Substanz für unerkennbar, da wir nicht sie, sondern nur ihre Wirkungen auf uns erkennen. Das trifft aber insofern nicht zu, als sein Konzept eine Verselbständigung der

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I. Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Nachschrift Pölitz), nach der Ausgabe von 1921 neu hrsg. von K. H. Schmidt, Roßwein 1924, 49 (PM81) (letzte Hervorhebung – R. W.). 30 Mit »Qualitätenphysik« war die Erklärung durch sogenannte okkulte Qualitäten gemeint. Die Bezeichnung »okkulte Qualität« geht auf den Aristotelismus zurück, in dem zwischen verständlichen und verborgenen, sinnlich nicht wahrnehmbaren natürlichen Eigenschaften der Dinge unterschieden wurde. Als verborgene oder okkulte Eigenschaften wurden jene gefaßt, die prinzipiell nicht durch die vier elementaren sublunaren Eigenschaften (Wärme, Kälte, Trockenheit, Feuchtigkeit) erklärt werden konnten, statt dessen unmittelbar auf (nicht weiter auflösbare) substantielle Formen zurückgeführt wurden. Trotz gewisser Wandlungen und Schattierungen des Begriffs der okkulten Qualität kennzeichnet dies seinen prinzipiellen Inhalt. 31 Siehe Briefwechsel von Huygens und Leibniz, zum Beispiel: Ch. Huygens, Briefe vom 11.07.1687 an Fatio de Duillier, vom 18.11.1690 an Leibniz; G. W. Leibniz, Briefe vom Oktober 1690 und vom 20.03.1693 an Huygens; Ch. Huygens, Discours de la Cause de la Pesanteur, in: Oeuvres Complètes de Christiaan Huygens, publiées par la Société hollandaise des Sciences, 22 Bde., La Haye 1888–1950, Bd. IX, 190 f., 538, 523; Bd. X, 428; XXI, 377–382. Vgl. auch I. B. Cohen, Preface to I. Newton, Opticks, a. a. O., S. IX–LVIII.

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Substanz gegenüber der Tätigkeit, des Körpers gegenüber der Bewegung ausschließt. Für Newton gehört die Fähigkeit, Widerstand zu leisten, zum Begriff des Körpers. Bereits vor dem Erscheinen der Prinzipien, zwischen 1670 und 1684, schreibt er: Die charakteristischen Eigenschaften, die eine Substanz bezeichnen, sind Tätigkeiten, »dergleichen die Gedanken in der Seele oder die Bewegung im Körper sind. Denn wenn auch die Philosophen die Substanz nicht als ein Seiendes definieren, das etwas tun kann, so verstehen sie doch alle stillschweigend Substanzen so.«32 Verfolgt man die philosophische Entwicklung bis zum deutschen Idealismus und dessen Kritik im 19. Jahrhundert, so zeigt sich hier der Ansatz einer neuen Kategorie, einer Kategorie, die zwar bis heute philosophisch noch nicht zulänglich gefaßt ist, deren Notwendigkeit aber schon von der junghegelianischen Schule gesehen wurde. Die Neuartigkeit besteht darin, daß die Gravitation nicht verstanden werden kann als eine einseitig gerichtete Kraft, sondern daß sie ein Gegeneinander ist.33 Die Körper sind nur gegeneinander schwer. Gravitation ist etwas, was einem einzelnen Körper nicht zugeschrieben werden kann, sondern es ist etwas, was überhaupt erst durch das Gegeneinander von mindestens zwei Etwasen erzeugt wird. Der Begriff Gravitation markierte einen kategorialen Wechsel, der seinerzeit nur von wenigen erkannt wurde und auch von Newton nur zögerlich eingesehen wurde. Deshalb die langwierigen Auseinandersetzungen, die verbal oftmals widersprüchlich erscheinen. So wehrte sich Newton entschieden gegen die Auffassung der Gravitation als inhärenter Eigenschaft der Materie. Er schrieb 1692 an Bentley: »Sie sprechen mitunter von der Gravitation als der Materie wesentlich und inhärent. Ich bitte darum, diese Auffassung nicht mir zuzuschreiben; die Ursache der Gravitation gebe ich nicht vor zu kennen, hierfür brauchte man mehr Zeit, um sie zu berücksichtigen.«34 Oder er schrieb in der zweiten Ausgabe seines Hauptwerkes, in den Regeln zur Erforschung der Natur: »Ich behaupte aber doch nicht, dass die Schwere den Körpern wesentlich zukomme.«35 Newton war sich zudem der Tatsache bewußt, daß die von ihm begründete Mechanik die Naturgegenstände nicht phänomenologisch beschreibt, also nicht in ihrer sinnlichen Konkretheit, sondern daß sie, wenn sie Naturgesetze formulieren will, eine idealisierte Wirklichkeit schaffen muß.36 Wenn eine solche physikalische Wirklichkeit in dieser Weise von der sinnlichen Wirk-

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I. Newton, Über die Gravitation … , a. a. O., 37. Vgl. z. B. Newtons explizite Redeweise in: I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, a. a. O., 387–395. 34 I. Newton, Brief an R. Bentley vom 17. 1. 1692 / 93, in: Isaac Newton’s Papers and Letters on Natural Philosophy, a. a. O., 298. 35 I. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, a. a. O., 318, siehe auch 511. 36 Vgl. I. Newton, Über die Gravitation …, a. a. O., 83. 33

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lichkeit unterschieden ist, so ist dies eine Einschränkung der Naturerkenntnis, aber eine, ohne die Messung und Berechnung gar nicht möglich wäre, auf die hinwiederum aber auch nicht verzichtet werden kann. Zugleich wirft dieser Sachverhalt die Frage auf, inwieweit mit diesem idealisierenden Verfahren Wirklichkeit erfaßt wird.

II. D’Alembert – Diderot Reicht die Mathematik zur Naturerkenntnis aus? Können wir aus der Natur nur Nutzen ziehen, sie aber nicht in ihrem Wesen erkennen? Über die Grenzen des Naturerkennens wurde in der französischen Aufklärung vor allem in Gestalt der Frage nach der Reichweite der Mathematik für das Naturerkennen und den Charakter der Philosophie als Erfahrungswissenschaft diskutiert.37 Diese Frage hatte sich nach dem großen Erfolg der Newtonschen Mechanik ergeben. Um sie zu beantworten, stellte d’Alembert sich die Aufgabe, »die Grenzen der Mechanik weiter hinauszurücken und den Zugang zu ihr zu ebnen«38. Er wollte in ein und derselben Aktion den Anwendungsbereich der Mechanik ausdehnen und die physikalische Theorie »Mechanik« von ihrer metaphysischen Interpretation reinigen, überhaupt alle sogenannten metaphysischen Wesenheiten aus der Naturtheorie aussondern und sie ausschließlich auf empirische und mathematische Prinzipien gründen. Dieses Ergebnis erreichte d’Alembert durch eine Neuformulierung der Mechanik, die er mit dem Bestreben vornahm, diese Wissenschaft von der Metaphysik, womit unmittelbar die mechanizistische Weltdeutung gemeint war, zu befreien.39 Namentlich ging es dem Aufklärer d’Alembert darum zu zeigen, daß die Mechanik ohne Bezug auf mystische Kräfte und verborgene Ursachen, d. h. auf unklare, der Erfahrung unzugängliche Prinzipien begründet werden kann. Die dem Körper bei seiner Bewegung inhärenten Kräfte wollte er völlig verbannen, da es sich bei ihnen um »dunkle, der Metaphysik angehörige Begriffe« handele, die nur imstande seien, »Finsternis in einer an sich klaren Wissenschaft zu verbreiten«.40 37

Zum folgenden vgl. R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, a. a. O., 125–153, 194–210. 38 J. B. d’Alembert, Abhandlung über Dynamik, Leipzig 1899, 6. 39 Durch das d’Alembertsche Prinzip war die Mechanik anwendbarer geworden, unterlag aber auch gewissen Einschränkungen. Man könnte es nennen: Verallgemeinerung durch Einschränkung. Siehe dazu: H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Gibt es eine Logik der Physik als Vorstufe zur Hegelschen Begriffslogik?, a. a. O., 69–75. 40 J. B. d’Alembert, Abhandlung über Dynamik, a. a. O., 5–19.

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Bei diesem Plan hatte d’Alembert zweifellos die Entwicklung der physikalischen Einzelwissenschaft im Auge. Nun galt Physik als Erfahrungswissenschaft, Mathematik nicht. Daher zweifelte man, ob die Mathematik zur Naturerkenntnis ausreicht. Doch ohne Mathematik geht es nicht. Wieweit also reicht unser Erkenntnisvermögen? D’Alembert meinte: »Die Methode der Mathematik ist gut, aber hat sie wirklich eine so große Reichweite wie sie ihr Descartes gab? Das scheint nicht der Fall zu sein. Wenn man in der Physik überhaupt mathematisch vorgehen kann, so nur in diesem oder jenem Teil und ohne Hoffnung, alles zu verbinden. Mit der Natur verhält es sich nicht wie mit den Maßen und Größenverhältnissen. Im Hinblick auf diese Verhältnisse hat Gott dem Menschen eine Intelligenz verliehen, die sehr weit zu gelangen vermag; denn er wollte ihn befähigen, ein Haus, ein Gewölbe, einen Damm und tausend andere Bauwerke zu errichten, bei denen es notwendig wäre, zu zählen und zu messen. Als Gott aus ihm einen Schöpfer machte, legte er in ihn die Prinzipien, die seine Unternehmungen zu lenken vermögen. Da er aber den Menschen dazu bestimmte, aus der Welt Nutzen zu ziehen, nicht aber, sie zu erschaffen, begnügte er sich damit, ihn die nützlichen Eigenschaften durch die Empfindung und Erfahrung erkennen zu lassen; er hielt es nicht für zweckmäßig, ihm klaren Einblick in jenen riesigen Mechanismus zu gewähren.«41 Das heißt: Es gibt Naturerkenntnis nur, soweit Messung und Rechnung möglich ist. Die philosophische Aufgabe, die Welt als Ganzes zu erkennen, ist nicht lösbar. Philosophie ist Metaphysik, und die stört, bringt nur Finsternis in eine klare Wissenschaft. Philosophie hat nach d’Alembert keine Bedeutung für die Naturerkenntnis. Getreu den Zielen der Aufklärung ist diese Auffassung gegen ein jenseits liegendes Reich des Wesens gekehrt, soll alles An-sich-sein in ein Für-sich-sein verwandelt werden.42 Denn »nichts ist unbestreitbarer als die Existenz unserer Sinnesempfindungen«; aus ihnen entspringen alle unsere »direkten Kenntnisse«.43 Es muß daher alles auf sie gegründet werden, wenn nicht unmittelbar, so doch über die Vermittlung der »reflexiven Kenntnisse«, also jener, die der Geist dadurch erwirbt, daß er die »direkten Kenntnisse« verarbeitet, verbindet und kombiniert. Keineswegs vertritt d’Alembert ein rein empiristisches Konzept, ein Konzept, das auf dem Glauben beruht, Erkenntnis sei voraussetzungslos zu begründen. Er hält es aber für erforderlich, daß die Prinzipien, auf die eine jede Theorie zurückzuführen bzw. aus denen sie abzuleiten ist, klar, unmittelbar

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J. B. d’Alembert, »Cartesianismus«, in: Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, hrsg. von M. Neumann, Leipzig 1972, 183. 42 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, a. a. O., Bd. 3, 362. 43 J. B. d’Alembert, Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie (1751), hrsg. von G. Klaus, Berlin 1958.

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einsichtig oder durch die Erfahrung begründet sein müssen. Ein wissenschaftliches System ist nach d’Alembert um so vollkommener, je kleiner die Zahl der vorausgesetzten Prinzipien ist. Es sei sogar zu wünschen, daß man sie auf ein einziges reduziere.44 D’Alembert wurde – um mit Hegel zu sprechen – von dem Bedürfnis des abstrakten Denkens (das aus einem festgehaltenen Prinzip die ungeheuersten Konsequenzen ziehen läßt) getrieben, den Versuch zu unternehmen, ein Prinzip als das Letzte zu setzen, aber ein solches, das zugleich Gegenwart habe und das der Erfahrung ganz nahe liege.45 In diesem zwiespältigen Konzept d’Alemberts spiegelt sich die Schranke des auf »Kombination und Analyse hinzielenden Jahrhunderts«46. Es enthält die Einsicht, daß der bloße Sensualismus die Erkenntnis von Naturgesetzen nicht schlüssig zu begründen vermag, daß aber auch die Mathematik allein, so unentbehrlich sie für die Naturforschung ist, ohne die Sinneserfahrung die Naturerkenntnis nicht tragen kann. Man kann d’Alemberts Vorhaben, nichts vorauszusetzen, keine Eigenschaften des Gegenstandes der Mechanik zuzulassen, als die, welche die Mechanik selbst für ihn voraussetzt,47 wohl zustimmen. D’Alembert hat mit der Verwirklichung dieses Plans die mechanische Wissenschaft klar von ihrer mechanizistischen Interpretation getrennt; er hat die wirklichen Voraussetzungen der Mechanik von dem getrennt, was interpretatorische Zutat ist. Er täuschte sich aber, wenn er glaubte, damit auch die Philosophie überhaupt aus der Naturerkenntnis hinausgewiesen zu haben. Um die klassische Mechanik begründen zu können, bedurfte es sehr wohl erkenntnistheoretischer Prinzipien. Man kann sie vergessen, nachdem die jeweilige Theorie voll ausgebildet ist. Man vergißt sie allerdings um den Preis, daß ihre erkenntnistheoretischen und meßtheoretischen Voraussetzungen als in der Natur an sich vorliegende einfachste Zusammenhänge ontologisiert werden. Statt z. B. das erste Newtonsche Axiom im Interesse einer – gewisse Naturbewegungen meßbar machenden – Theorie als Etalon zu postulieren, wird die Bewegung als »ihrer Natur nach« gleichförmig angesehen.48 Komplizierte theoretische und experimentelle Konstruktionen, das Ergebnis einer jahrhundertelangen Vorgeschichte der Physik, werden damit so behandelt, als seien sie etwas sinnlich Wahrnehmbares – sei es nun unmittelbar als »direkte Kenntnisse« oder mittelbar als »reflexive Kenntnisse«. 44

Vgl. J. B. d’Alembert, Abhandlung über Dynamik, a. a. O., 6 f.; Ders., Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie, a. a. O., 36; Ders., System, Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, a. a. O. 45 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, a. a. O., Bd. 20, 203. 46 J. B. d’Alembert, Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie, a. a. O., 117. 47 Vgl. J. B. d’Alembert, Abhandlung über Dynamik, a. a. O., 6. 48 Vgl. ebd., 9.

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Die Erzeugung des physikalischen Begriffs, mithin den begrifflichen Status der Physik, kann das d’Alembertsche Konzept nicht erklären. Es muß die Existenz dieses Begriffs unterstellen, unterstellen in der Form einer von Gott gegebenen, in Hinblick auf Maße und Größen sehr weit gelangenden Intelligenz. Indem die Existenz des physikalischen Begriffs unterstellt wird, kann die Philosophie als überflüssig erscheinen, und es ergibt sich, daß die nichtgelungene Synthese von Anti-Metaphysik und Einsicht in die Grenze des Sensualismus nicht ins Gewicht fällt, daß die relevanten physikalischen Begriffe als die klarsten, da allgemeinsten, deklariert werden können.49 Die Abwendung von der Philosophie ist für d’Alemberts Konzept zwangsläufig, weil ihn die Polemik gegen die Metaphysik zur Berufung auf das Einzelne verleitet. In der Einleitung zur Enzyklopädie erklärt er: »Die Natur – wir können das nicht oft genug wiederholen – besteht nur aus Einzeldingen.«50 * Zu der Konsequenz, daß die Mathematik zur Naturerkenntnis nicht ausreicht, gelangte auch Diderot: »Die Herrschaft der Mathematik ist vorbei« – schrieb er 1758 in einem Brief an Voltaire anläßlich der Erklärung d’Alemberts, aus dem Herausgebergremium der Enzyklopädie zurücktreten zu wollen. »Der Geschmack hat sich verändert. Jetzt dominiert der Geschmack an Naturgeschichte und Literatur.«51 Diderot gelangte zu der gleichen Konsequenz wie d’Alembert, obwohl er konträr zu ihm erklärt: Es gibt keine Individuen. Es gibt nur ein einziges großes Individuum, nämlich das Ganze.52 Dieses kann ihm zufolge von der Mathematik nicht erfaßt werden, da die Mathematik, statt den komplizierten Zusammenhang aller miteinander verketteten Dinge darzustellen, die wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper durch das Denken trennt, die Eigenschaften voneinander oder diese von dem Körper trennt, der ihnen als Grundlage dient.53 Indem für Diderot der eigentliche Gegenstand der Naturerkenntnis die Welt als Ganzes ist, ging es ihm nicht wie d’Alembert um Einzelwissenschaft,

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Vgl. ebd. J. B. d’Alembert, Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie, a. a. O., 59. 51 D. Diderot, Brief an Voltaire vom 19. 2. 1758, in: Ders., Philosophische Schriften, hrsg. von Th. Lücke, Bd. II, Berlin 1961, 604. 52 Vgl. D. Diderot, D’Alemberts Traum, in: Ders., Philosophische Schriften, a. a. O., Bd. I, 538; ders. Zusammenhang (Artikel aus der Enzyklopädie), in: ebd. 53 Vgl. D. Diderot, Brief über die Blinden, in: Ders., Philosophische Schriften, a. a. O., Bd. I, 63. 50

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sondern um Philosophie. Und er erkannte, daß diese nicht als Mathesis universalis konzipiert werden kann, daß man das Philosophieren nicht durch ein Mathematisieren ersetzen kann. Aus dieser Erkenntnis zog er die im Gegensatz zum d’Alembertschen Standpunkt stehende Konsequenz, daß die eigentliche Naturerkenntnis nur durch die Philosophie gewonnen werden kann. Nach Diderot ist die absolute Unabhängigkeit einer einzigen Tatsache unvereinbar mit der Idee vom Ganzen, »und ohne die Idee vom Ganzen gibt es keine Philosophie mehr«54. Seine Kritik an der Mathematik beruht auf der Illusion, die sinnliche Wahrnehmung könne die Welt unmittelbar so erfassen, wie sie ist. Doch diese Illusion bringt er selbst ins Wanken. Ihn befriedigen seine eigenen Überlegungen nicht. Unter dem Stichwort »Unkenntnis« schreibt Diderot in der Enzyklopädie nämlich: »Es ist uns unmöglich, die Idee von wahrnehmbaren Eigenschaften […] irgendwie abzuleiten […] Wir können nicht ergründen, wie der Geist auf die Materie und wie die Materie auf den Geist wirkt.«55 Wenn wir das aber nicht ergründen können, worauf basiert dann unser Wissen, worauf die Gewißheit, daß es ein objektives ist? Die Ursache unserer Unkenntnis liegt nach Diderot zum einen in der Schwäche unserer Sinne. »Wenn es möglich wäre, diese feinsten, subtilen Teilchen, die zugleich die aktiven Teilchen der Materie sind, durch unsere Sinne wahrzunehmen, so könnten wir ihre mechanischen Operationen ebenso leicht erkennen, wie ein Uhrmacher den Grund erkennt, warum eine Uhr geht oder stehenbleibt.« Die zweite Ursache unserer Unkenntnis ist die Schwierigkeit, auf die wir stoßen, sobald wir den Zusammenhang unserer Ideen entdecken wollen. »Es ist uns unmöglich, die Idee von wahrnehmbaren Eigenschaften – eine Idee, die wir von den Körpern bekommen – irgendwie abzuleiten: es ist uns auch unmöglich, zu begreifen, daß der Gedanke eine Bewegung im Körper und der Körper wiederum den Gedanken hervorrufen kann. Wir können nicht ergründen, wie der Geist auf die Materie und wie die Materie auf den Geist wirkt; die Unzulänglichkeit unseres Verstandes kann den Zusammenhang dieser Ideen nicht entdecken, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als Zuflucht zu einem allmächtigen und allwissende Agens zu nehmen, das durch Mittel wirkt, die unsere Unzulänglichkeit nicht ergründen kann.« Er fügt dann noch hinzu, daß schließlich auch »unsere Trägheit, unsere Nachlässigkeit und unsere Denkfaulheit ebenfalls Ursachen unserer Unkenntnis sind und daß nur diese Unkenntnis Tadel verdient, »nicht aber jene Un-

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Ebd., 425. D. Diderot, Unkenntnis (Artikel aus der Enzyklopädie), in: ebd., 407.

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kenntnis, die dort anfängt, wo unsere Ideen aufhören«. Denn »Warum sollen wir Kenntnissen nachtrauern, die wir uns nicht verschaffen konnten und die wir zweifellos nicht unbedingt brauchen, da sie uns entzogen sind? Ebensogut, hat einer der hervorragendsten Denker unseres Jahrhunderts [gemeint ist Voltaire – R. W.] gesagt, könnte ich tiefbetrübt darüber sein, daß ich nicht vier Augen, vier Füße und zwei Flügel habe.«56 An anderer Stelle versucht Diderot das Problem zu lösen: Es gibt nur eine Substanz in der Welt – erklärt er. Um das plausibel zu machen, konzipiert er die Empfindlichkeit als allgemeine Eigenschaft der Materie. In seiner Schrift Unterhaltung zwischen d’Alembert und Diderot vergleicht er die menschliche Seele mit einem empfindsamen Spinett, dessen Seiten durch äußere Reize angeschlagen werden, das auch ein Gedächtnis hat und aus der Erinnerung ohne unmittelbaren äußeren Reiz seine Seiten anschlagen kann. Diderot glaubt auf diese Weise das menschliche Bewußtsein materialistisch erklären zu können. Doch dann stellt er sich selbst die Frage: »Und wie wird bei zwei Spinetten die Übereinstimmung der Töne hergestellt?« Er gibt zu, daß die Antwort hierauf derselben – wie er meint, unüberwindlichen – Schwierigkeit unterworfen sei, wie die Widerlegung des subjektiven Idealismus. Es gab – schreibt er – einen Moment des Taumels, in dem das empfindsame Spinett dachte, daß es das einzige Spinett wäre, so auf der Welt vorhanden sei, und daß die ganze Harmonie des Alls in ihm ablaufe.57 Mit der Versicherung, daß hierzu noch viel zu sagen wäre, verläßt Diderot dann die Diskussion. Hätte er auf die in Rede stehende Frage eine Antwort gehabt, dann hätte er auch gewußt, wie das Einzelne das Allgemeine bzw. wie die Elemente das Ganze produzieren. Hätte Diderot es nicht für weise gehalten, Paradoxa bestehen zu lassen, sie ohne Not nicht aufzulösen, hätte er ein (konsistentes) philosophisches System konstruieren wollen, dann hätte er die genannte Illusion zerstören müssen, aber auch das Ende der Mathematik nicht so rigoros behaupten können. Wörtlich schreibt er: »und darin besteht eine große Überlegenheit des Philosophen: er bringt es, wenn er keinen eigentlichen Beweggrund zum Urteilen hat, sogar fertig, die Dinge unentschieden zu lassen […]. Der Philosoph hängt nicht so sehr an einem System, daß er nicht die volle Stärke der Einwände empfindet. […] Der Philosoph […] versteht die Meinung, die er verwirft, ebenso tief und klar wie die Meinung, der er sich anschließt.«58

56

Ebd. Vgl. D. Diderot, Unterhaltung zwischen d’Alembert und Diderot, in: Ders., Philosophische Schriften, a. a. O., Bd. I, 521. 58 D. Diderot, Philosoph (Artikel aus der Enzyklopädie), in: Ders., Philosophische Schriften, a. a. O., Bd. II, 386 f. 57

Grenzen des Naturerkennens vor dem Ignorabimus-Streit

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D’Alembert ebenso wie Diderot erkannte, daß die Mathematik zur Naturerkenntnis nicht ausreicht, daß die mathematische Welt eine von der sinnlichen Welt verschiedene Welt ist. D’Alembert schloß hieraus auf die Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens, Diderot auf die Notwendigkeit einer noch anderen Erkenntnisart, der Philosophie. Aber er sah keinen Weg, diese Notwendigkeit zu realisieren.

III. Kant Das Ding an sich ist nicht erkennbar. Unsere Vernunft ist endlich. Kant bestimmte positiv die menschlichen Erkenntnisgrenzen – positiv, insofern als er in einem mit dieser Grenzbestimmung erkundete, wie Erfahrung möglich ist. Seine Bestimmung wurde in der Folgezeit weitgehend als Agnostizismus ausgelegt, vor allem in der Form: Kant habe behauptet, daß wir das Ding an sich nicht erkennen können, sondern nur, wie es erscheint. Tatsächlich hatte Kant gezeigt, daß wir, um erkennen zu können, bestimmter Mittel bedürfen (auch »apriorische Bestimmungen« genannt), unsere Erkenntnis, mithin unser Wissen, daher von diesen Mitteln abhängt, diese Mittel unsere Erkenntnis überhaupt erst ermöglichen, aber auch begrenzen. In einer Vorlesung bemerkte er: »Ein Wesen, das abstrahiert, limitiert sich selbst. Die Menschen müssen sich so einschränken, wenn sie Erkenntnisse haben, denken wollen; denn der Verstand ist nicht das Vermögen des Anschauens.«59 Anders gesagt: Kant hatte die Einsicht zu fragen: Wie ist Erfahrung möglich? Man muß Erfahrung machen können. Und dies ist nicht ohne Vorbedingungen möglich. Diese Einsicht implizierte zu erkennen: Das absolute Ganze ist uns nie gegeben, allerdings stets aufgegeben. »Jede einzelne Erfahrung« – schreibt Kant; – »ist nur ein Teil von der ganzen Sphäre ihres Gebietes, das absolute Ganze aller möglichen Erfahrung ist aber selbst keine Erfahrung, und dennoch ein notwendiges Problem vor die Vernunft, zu dessen bloßer Vorstellung sie ganz anderer Begriffe nötig hat, als jener reinen Verstandesbegriffe, deren Gebrauch nur immanent ist, d. i. auf Erfahrung geht, so weit sie gegeben werden kann, indessen daß Vernunftbegriffe auf die Vollständigkeit, d. i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebne Erfahrung hinausgehen, und transzendent werden.«60 Diese Vollständigkeit – erläutert 59

Siehe z. B.: I. Kant, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, in: Kant’s Vorlesungen, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. V, Berlin 1970, 780 f. 60 I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird

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Kant – kann aber nur die Vollständigkeit der Prinzipien, nicht der Anschauungen und Gegenstände sein.61 Auf der Basis dieser vorangegangenen Erkenntnis kritisierte Hegel Kant, dessen Konzept er als Aussage interpretierte: Die Vernunft ist unfähig, Übersinnliches zu erkennen.62 Wir können nur Erscheinungen erkennen, nicht wie die Dinge an sich sind. Nun besagt Kants Konzept nicht, wie Hegel nahelegt, daß wir nur Unwesentliches erkennen können, sondern vielmehr: wie etwas völlig unabhängig von uns ist, das können wir nicht wissen. Denn es sind immer wir, die danach fragen. Und »wir« heißt: Das menschliche Subjekt als Gattung mit den oben erwähnten Mitteln. Hegels Kritik ist jedoch insofern berechtigt, als das Wissen über ein Verhältnis eben auch ein Wissen über das, was sich zueinander verhält, impliziert. Kants Fehler war es zu meinen, daß jedem erscheinenden Ding ein Ding an sich als Ding entspricht (wenn dieses auch selbstredend mit dem erscheinenden Ding nicht identisch ist und wir über es nichts aussagen können). Dies war später unter anderem der Grund, weshalb seine Bestimmung der Endlichkeit der Vernunft nicht akzeptiert oder fehlinterpretiert wurde. Wir können nach Kant nicht über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen. »Da aber eine Grenze selbst etwas Positives ist, welches sowohl zu dem gehört, was innerhalb derselben, als zum Raume, der außer einem gegebenen Inbegriff liegt, so ist es doch eine wirkliche positive Erkenntniß, deren die Vernunft bloß dadurch teilhaftig wird, daß sie sich bis zu dieser Grenze erweitert, so doch, daß sie nicht über diese Grenze hinaus zu gehen versucht, weil sie daselbst einen leeren Raum vor sich findet, in welchem sie zwar Formen zu Dingen, aber keine Dinge selbst denken kann. Aber die Begrenzung des Erfahrungsfeldes durch etwas, was ihr sonst unbekannt ist, ist doch eine Erkenntniß, die der Vernunft in diesem Standpunkte noch übrig bleibt, dadurch sie nicht innerhalb der Sinnenwelt beschlossen, auch nicht außer derselben schwärmend, sondern so, wie es einer Kenntniß der Grenze zukommt, sich blos auf das Verhältniß desjenigen, was außerhalb derselben liegt, zu dem, was innerhalb enthalten ist, einschränkt.«63 »Auf solche Weise bleibt unser obiger Satz, der das Resultat der ganzen Kritik ist: ›daß uns Vernunft durch alle ihre Prinzipien a priori niemals etwas mehr, als lediglich Gegenstände möglicher Erfahrung und auch von diesen

auftreten können, in: Ders., Immanuel Kant, Werkausgabe in 12 Bdn., hrsg. von W. Weischedel, Bd. V, Frankfurt /M. 1974, 198 (§ 40). 61 Vgl. ebd. sowie 202 f. (§ 44). 62 Vgl. G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, in: Werke, a. a. O., Bd. 2, 289; Ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke, a. a. O., Bd. 20, 384. 63 I. Kant, Prolegomena, a. a. O., 237 (§ 59).

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nichts mehr, als was in der Erfahrung erkannt werden kann, lehre‹; aber diese Einschränkung hindert nicht, daß sie uns nicht bis zur objektiven Grenze der Erfahrung, nämlich der Beziehung auf etwas, was selbst nicht Gegenstand der Erfahrung, aber doch der oberste Grund aller derselben sein muß, führe, ohne uns doch von demselben etwas an sich, sondern nur in Beziehung auf ihren eigenen vollständigen und auf die höchsten Zwecke gerichteten Gebrauch im Felde möglicher Erfahrung zu lehren. Dieses ist aber auch aller Nutzen, den man vernünftiger Weise hiebei auch nur wünschen kann, und mit welchem man Ursache hat zufrieden zu sein.«64 »Allein ebenderselbe Grundsatz, daß alles in der Naturwissenschaft natürlich erklärt werden müsse« – führt Kant weiter aus –, »bezeichnet zugleich die Grenzen derselben. Denn man ist zu ihrer äußersten Grenze gelangt, wenn man den letzten unter allen Erklärungsgründen braucht, der noch durch Erfahrung bewährt werden kann. Wo diese aufhören, und man mit selbst erdachten Kräften der Materie nach unerhörten und keiner Belege fähigen Gesetzen es anfangen muß, da ist man schon über die Naturwissenschaft hinaus, ob man gleich noch immer Naturdinge als Ursachen nennt, zugleich aber ihnen Kräfte beilegt, deren Existenz durch nichts bewiesen, ja sogar ihre Möglichkeit mit der Vernunft schwerlich vereinigt werden kann. Weil der Begriff eines organisierten Wesens es schon bei sich führt, daß es eine Materie sei, in der Alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht, und dies sogar nur als System von Endursachen gedacht werden kann, mithin die Möglichkeit desselben nur teleologische, keineswegs aber physisch-mechanische Erklärungsart wenigstens der menschlichen Vernunft übrig läßt: so kann in der Physik nicht nachgefragt werden, woher denn alle Organisierung selbst ursprünglich herkomme. Die Beantwortung dieser Frage würde, wenn sie überhaupt für uns zugänglich ist, offenbar außer der Naturwissenschaft in der Metaphysik liegen.«65 »Wenn man unter Natur den Inbegriff von allem versteht, was nach Gesetzen bestimmt existirt, die Welt (als eigentlich sogenannte Natur) mit ihrer obersten Ursache zusammengenommen« – meint Kant –, »so kann es die Naturforschung (die im ersten Falle Physik, im zweiten Metaphysik heißt) auf zwei Wegen versuchen, entweder auf dem blos theoretischen, oder auf dem teleologischen Wege, auf dem letztern aber, als Physik, nur solche Zwecke, die uns durch Erfahrung bekannt werden können, als Metaphysik dagegen ihrem Berufe angemessen nur einen Zweck, der durch reine Vernunft fest steht, zu

64

Ebd., 238 (§ 59). Vgl. I. Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, in: Werke, a. a. O., Bd. IX, 163 f. 65

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ihrer Absicht gebrauchen. Ich habe anderwärts gezeigt, daß die Vernunft in der Metaphysik auf dem theoretischen Naturwege (in Ansehung der Erkenntniß Gottes) ihre ganze Absicht nicht nach Wunsch erreichen könne, und ihr also nur noch der teleologische übrig sei; so doch, daß nicht die Naturzwecke, die nur auf Beweisgründen der Erfahrung beruhen, sondern ein a priori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebener Zweck (in der Idee des höchsten Guts) den Mangel der unzulänglichen Theorie ergänzen müsse.«66 Auch die Metaphysik, nicht nur die Naturwissenschaft, hat Grenzen: Sie darf nichts erfinden. Die Metaphysik kann nichts erfinden, sondern vermag nur Grundverhältnisse der Erfahrung selbst zu fixieren. Sie bringt das, was uns zunächst als dunkles komplexes Ganzes gegeben ist, zur Klarheit und Deutlichkeit, sie macht seine Struktur durchsichtig, fügt aber aus sich selbst heraus kein einziges Moment hinzu.67 Grenzen zu haben ist nach Kant auch von Vorteil: »Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen läßt; […]«.68 »Das große Glück, welches die Vernunft vermittelst der Mathematik macht, bringt ganz natürlicher Weise die Vermutung zuwege, daß es, wo nicht ihr selbst, doch ihrer Methode auch außer dem Felde der Größen gelingen werde, indem sie alle Begriffe auf Anschauungen bringt, die sie a priori geben kann, und wodurch sie, so zu reden, Meister über die Natur wird: da hingegen reine Philosophie mit discursiven Begriffen a priori in der Natur herum pfuscht, ohne die Realität derselben a priori anschauend und eben dadurch beglaubigt machen zu können. Auch scheint es den Meistern in dieser Kunst an dieser Zuversicht zu sich selbst und dem gemeinen Wesen an großen Erwartungen von ihrer Geschicklichkeit, wenn sie sich einmal hiemit befassen sollten, gar nicht zu fehlen. Denn da sie kaum jemals über ihre Mathematik philosophiert haben (ein schweres Geschäfte!), so kommt ihnen der spezifische Unterschied des einen Vernunftgebrauchs von dem andern gar nicht in Sinn und Gedanken. Gangbare und empirisch gebrauchte Regeln, die sie von der gemeinen Vernunft borgen, gelten ihnen dann statt Axiomen. Wo ihnen die Begriffe von Raum und Zeit, womit sie sich (als den einzigen ursprünglichen Quantis) beschäftigen, herkommen mögen, daran ist ihnen gar nichts gelegen; und eben so scheint es ihnen unnütz zu sein, den Ursprung reiner Verstandesbegriffe und hiemit auch den Umfang ihrer Gültigkeit zu erforschen, sondern nur, sich ihrer zu bedienen. In allem diesem tun sie ganz recht, wenn sie nur

66

Ebd., 139. Vgl. z. B. I. Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: Werke, a. a. O., Bd. II, z. B. 746–756; Ders., Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a. a. O., Bde. III–IV, 15, 33, 37. 68 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., 20 f. (Vorrede zur zweiten Auflage). 67

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ihre angewiesene Grenze, nämlich die der Natur, nicht überschreiten. So aber geraten sie unvermerkt von dem Felde der Sinnlichkeit auf den unsicheren Boden reiner und selbst transzendentaler Begriffe, wo der Grund (instabilis tellus, innabilis unda) ihnen weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt, und sich nur flüchtige Schritte tun lassen, von denen die Zeit nicht die mindeste Spur aufbehält, da hingegen ihr Gang in der Mathematik eine Heeresstraße macht, welche noch die späteste Nachkommenschaft mit Zuversicht betreten kann.«69 Will man die Grenzen der reinen Vernunft im transzendentalen Gebrauche genau und mit Gewißheit bestimmen und bedenkt dabei, daß dieser Art der Bestrebung unerachtet der nachdrücklichsten und klarsten Warnungen sich immer noch die Hoffnung entgegenstellt, über Grenzen der Erfahrungen hinaus in die reizenden Gegenden des Intellektuellen zu gelangen, so ist es – nach Kant – »notwendig, noch gleichsam den letzten Anker einer phantasiereichen Hoffnung wegzunehmen und zu zeigen, daß die Befolgung der mathematischen Methode in dieser Art Erkenntnis nicht den mindesten Vorteil schaffen könne, es müßte denn der sein, die Blößen ihrer selbst desto deutlicher aufzudecken«. Meßkunst und Philosophie sind – beweist Kant – zwei ganz verschiedene Dinge, obzwar sie sich in der Naturwissenschaft die Hand bieten. Mithin kann das Verfahren des einen niemals von dem andern nachgeahmt werden. Sie begrenzen einander – in dem Sinne, daß sie sich gegenseitig abstützen, nicht aber ineinander übergehen. Kant zeigt, daß der Meßkünstler nach seiner Methode in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu Stande bringt, der Philosoph nach der seinigen in der Mathematik nur ein Geschwätz erregen kann, »wiewohl eben darin Philosophie besteht, seine Grenzen zu kennen, und selbst der Mathematiker, wenn das Talent desselben nicht etwa schon von der Natur begrenzt und auf sein Fach eingeschränkt ist, die Warnungen der Philosophie nicht ausschlagen, noch sich über sie wegsetzen kann«70. Kant empfindet es als demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daherkommen, zu verhüten. Andererseits erhebt es sie wiederum, daß sie diese Disziplin selbst ausüben kann und muß, ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten, imgleichen daß die Grenzen, die sie ihrem spekulativen Gebrauche zu setzen genötigt ist, zugleich die vernünftelnden Anmaßungen jedes Gegners einschränken und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forderungen übriggeblieben sein mag, gegen alle Angriffe sicher stellen kann. Und er schlußfolgert: »Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ: da sie nämlich nicht, als Organon, 69 70

Ebd., 621 f. (B 753–754). Ebd., 622 f. (B 755–756) (letzte Hervorhebung – R. W.).

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zur Erweiterung, sondern als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.«71 Diesen Vorzug oder Nutzen begründet Kant mit der Notwendigkeit, daß ein Substratum sein muß, denn unsere Vernunft hat das Bedürfnis, etwas zu Grunde zu legen. »Wenn uns etwas gegeben ist, dann können wir auch etwas daraus hervorbringen; aber ohne daß etwas gegeben ist, können wir nichts hervorbringen; denn Denken ist kein Hervorbringen sondern Reflectiren. Durch die bloße Erfahrung reflectiren, heißt: die Erscheinung wahrnehmen, aber nicht, wie die Gegenstände sind. Um dieses zu erkennen, muß der Vernunft etwas zum Grunde liegen. Also bedarf die Vernunft eine Grenze a priori; es muß ein Substratum seyn. Dieser Begriff ist der Grenzbegriff (Conceptus terminatus).«72

IV. Hegel Beweist Hegel, daß unser Erkenntnisvermögen nicht endlich ist, mithin die Naturerkenntnis unbegrenzt ist? Hegel hatte gezeigt: Unser Erkenntnisvermögen ist nicht endlich. Denn das Unendliche ist kein Jenseits des Endlichen. Letzteres ist richtig, aber nicht ganz so, wie Hegel denkt. Nach Hegel ist die Antwort eindeutig: Die Philosophie weiß, sie glaubt nicht nur. Überhaupt nur die Philosophie weiß, kommt letztlich zur Wahrheit. Sie kann wissen, weil das wahrhaft Unendliche, der Grundbegriff der Philosophie,73 kein Jenseits des Endlichen ist, des Endlichen, ohne das überhaupt kein Wissen möglich ist. Zu diesem Ergebnis war Hegel bekanntlich nach dem Studium der ihm vorgängigen Philosopheme gelangt, insbesondere derjenigen Kants, Jacobis und Fichtes, später auch des Schellingschen. Er hatte damit – so Löwith – das Entweder-Oder von Glauben und Wissen als eine falsch gestellte Alternative zu einer dialektischen Auflösung gebracht, infolgedessen der Unterschied von Glauben und Wissen sich nicht mehr als Gegensatz von Religion und Philosophie darstellte, sondern dieser Unterschied nun in die Philosophie selber fällt, nämlich in den Unterschied eines bloß verständigen und eines spekulativ-vernünftigen Denkens.74

71

Ebd., 670 (Hervorhebung – R. W.). I. Kant, Vorlesungen über die Metaphysik, a. a. O., 163 (PM273, PM274). 73 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie I, a. a. O., 203 (§ 93 A). 74 Vgl. K. Löwith, Wissen, Glaube und Skepsis, in: ders., Sämtliche Schriften, Stuttgart 1985, Bd. 3, 198. 72

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Löwith konstatiert aber auch eine Perversion dieser philosophischen Leistung, indem er feststellt, daß das gegenwärtige deutsche Philosophieren (er schreibt dies 1951/56, doch ist es inzwischen nicht ungültig geworden) weder wissen will, was wahr ist, und der Ungewißheit der Skepsis den ihr gebührenden Raum gibt noch sich an den überlieferten christlichen Glauben hält: »Man kann und will nicht mehr unterscheiden, was bloße Meinung (doxa), was wahres Wissen (episteme) und was echter Glaube (pistis) ist. Hegels Kritik an seinen romantischen Zeitgenossen gilt auch noch, oder wieder, für heute: der Geist der Zeit ist so dürftig geworden, daß man statt Einsicht in das, was ist, […] Erbauung verlangt und die ›Sonderungen des Gedankens zusammenschüttet‹, um sich in solcher Unbestimmtheit in dem Gefühl des Wesentlichen und einer gehaltlosen Intensität zu gefallen, in der Meinung, man habe damit die Subjektivität in das Wesen des Seins versenkt.« Doch tiefsinnig – sagt Hegel – kann auch sein, was keinen Boden hat und nur deshalb geheimnisvoll und verborgen scheint, weil nichts dahinter steckt, was sich explizieren ließe. Doch muß sich nach Hegel die Philosophie bekanntlich hüten, erbaulich sein zu wollen und an den Köder des Heiligen anzubeißen. Allerdings hat Hegel selbst – so die Anmerkung Löwiths – trotz seiner Durchführung des unterscheidenden Begriffs zu derartigem Tiefsinn beigetragen, »indem er das großartig nüchterne Denken von Kant verließ.«75 Hegel wollte ein System gründen, in dem das nach Kant stets Aufgegebene als vollendet gedacht wird, indem es gefaßt wird als Substantivierung einer ständigen, das praktische Verhalten integrierenden Tätigkeit. Er suchte durch die konstruktive Aufhebung von Kants Begriff der kollektiven Einheit bzw. des Organismus nach einem neuen Prinzip, nach dem das absolute Ganze, mithin auch der Begriff des Allgemeinen gedacht werden könnte – derart, daß die sich im Rahmen des Kantischen Systems ergebende Dualität, die Aufspaltung der »Welt« in ein Reich der Notwendigkeit und ein Reich der Freiheit, in ein Reich der Natur und in ein Reich der Zwecke, in eine Welt der Erscheinungen und eine Welt der Dinge an sich überwunden wird. Dies sollte durch das begrifflich notwendige Übergehen entgegengesetzter Bestimmungen ineinander erreicht werden. In seiner Differenzschrift hatte Hegel die Aufgabe der Philosophie dahingehend bestimmt, festgewordene Gegensätze aufzulösen, sie nicht als etwas absolut Gesetztes zu nehmen, sondern ihren Bezugspunkt zu zeigen, ihre gegenseitige Bestimmtheit und Bedingtheit und damit ihre Wahrheit nur in ihrer Einheit.76 Und so soll in Hegels philosophischem System das Unendliche kein Jenseits des Endlichen, das Ideelle kein 75

Ebd. Vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, a. a. O., Bd. 2, 9–51. 76

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Jenseits des Reellen sein, wobei das Endliche als ideell erkannt wird.77 Denn nur das Ganze ist das Wahre.78 Denkmittel für die Auflösung verfestigter Gegensätze ist Hegel das Verhältnis. Gelangte Kant zu der Aufteilung der Welt in die der Erscheinungen und die der Dinge an sich, weil wir nur über unser Verhältnis zur Welt etwas wissen können, nicht aber etwas über die Beschaffenheit der Welt an sich, so denkt Hegel, gerade weil wir etwas über das Verhältnis sagen können, so auch etwas über die Beschaffenheit dessen, was sich verhält. Wenn Hegel das Absolutsetzen eines Moments in Kants Philosophie kritisiert, wenn er allgemein fordert, Abstrakta als solche zu erkennen und als Momente eines Ganzen aufzuweisen, so ist damit zweifelsfrei eine notwendige Aufgabe bestimmt, ihre Lösung aber noch nicht gegeben. Denn die Erforschung der weiteren Momente, die erforderlich sind, um ein Ganzes bilden zu können, ein sich selbst bestimmendes Allgemeines, ist rein begriffslogisch nicht zu leisten. Es ist zweifelsfrei Hegels großes Verdienst, das In-eins-sein von Verhältnis und Sich-Verhaltendem explizit ausgesprochen und spekulativ-logisch auf den Begriff gebracht resp. zur Methode fundiert zu haben, also erkannt zu haben, daß der Gegenstand nicht als ein gegen sein Verhalten starres Substrat gedacht werden darf. Aber er überzieht dieses In-eins-sein resp. übersieht einen wichtigen Gesichtspunkt, den, daß zwischen einem Verhalten und Verhalten schlechthin, der Kategorie Verhalten, unterschieden werden muß. Die für Hegels Konzept unabdingbare Vermittlung zwischen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft gelingt nicht, unterstellt man das naturwissenschaftliche Denken als reines Verstandesdenken bzw. identifiziert man – wie Hegel –79 empirische Wissenschaft, Naturwissenschaft, mit Empirismus. Hegels Charakterisierung der naturwissenschaftlichen Denkweise trifft – wie gezeigt wurde –80 den wahren Sachverhalt nicht vollständig. Insbesondere

77

Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil, in: Werke, a. a. O., Bd. 5, 172. Vgl. ebd., 166–173; Ders., Phänomenologie des Geistes, a. a. O., Bd. 3, 24. 79 Zu diesem Nachweis vgl. R. Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt / M. / Berlin / Bern u. a. 1996; dies., Das naturwissenschaftliche Gesetz. Hegels Rezeption der neuzeitlichen Naturbetrachtung in der Phänomenologie des Geistes und sein Konzept von Philosophie als Wissenschaft, in: Hegel-Jahrbuch 2001. Phänomenologie des Geistes. Erster Teil, hrsg. von A. Arndt / K. Bal / H. Ottmann, in Verbindung mit D. Rodin, Berlin 2002, 172–178; Dies., Weiß die Philosophie etwas oder glaubt sie nur? Eine Bemerkung zu Hegels Kritik der kritischen Philosophie, a. a. O., 76–78. 80 Vgl. R. Wahsner, Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208). Zu Hegels Bestimmung der Betrachtungsweisen der Natur, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXIV (2002), Wien 2003, 101–142, sowie die dort in Anm. 5 zitierte Literatur. 78

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ist der Behauptung zu widersprechen, daß die Anfänge der Naturwissenschaft Unmittelbarkeiten, Gefundenes sind,81 daß diese Wissenschaft ihre Gegenstände und ihre Methode als von der Vorstellung gegeben voraussetzen kann.82 Der unzulässigen Identifizierung des naturwissenschaftlichen Denkens mit dem Empirismus ist aber nicht nur ein partiell unzutreffender Begriff von Naturwissenschaft inhärent, sondern sie enthält auch Fehler in der Bestimmung der vorwissenschaftlichen Erkenntnis. Dies insofern, als sie das Verhalten zum Einzelnen als ein ursprüngliches unterstellt,83 als sie auf der Annahme gründet, wenn etwas unmittelbar ist, es daher als Einzelnes sei.84 Kurz und knapp gesagt: Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man fragt: »Wie ist Erfahrung möglich?« oder »Wie ist Erfahrung zu rechtfertigen?«85 Die nachfolgende Hegel-Kritik zeigte, daß Hegels Ziel, die Kantsche Aufteilung in zwei Welten zu überwinden, nur durch andere Fehler »geschafft« wurde. Ist dies der Grund für die neuen Probleme?

V. Schluß Der Aufschwung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht gekoppelt mit der vorangegangenen philosophischen Entwicklung (was sich schon als Mangel in dem Materialismus-Streit zeigte). Wurden die tiefen philosophischen Einsichten verdorben durch den Eindruck, die Philosophie wolle sich über die Naturforschung stellen – ein Eindruck, der sich durch eine inadäquate, zumindest partiell inadäquate Rezeption der Naturwissenschaft seitens der großen philosophischen Systeme verfestigte? Auf Schleiden hat es z. B. so gewirkt. Die Tatsache, daß man in der Zeit seit Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft immer wieder auf Grenzen des Naturerkennens stieß oder zu stoßen meinte, führte zu grundsätzlichen philosophischen Untersuchungen über das menschliche Erkenntnisvermögen. Die Ergebnisse wurden jedoch von der

81

Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie I, a. a. O., 52 (§ 9). Vgl. ebd., 41 (§ 1). 83 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesung über Naturphilosophie Berlin 1823 / 24 (Nachschrift von Griesheim), hrsg. von G. Marmasse, Frankfurt / M. / Berlin / Bern u. a. 2000, 65. 84 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie III. Die Philosophie des Geistes, in: Werke, Bd. 10, 306 (§ 487). 85 Vgl. zu der Thematik auch: H.-H. von Borzeszkowski, Erzeugt die naturwissenschaftliche Erkenntnis nur Wissen vom Endlichen, während das wahrhaft Unendliche nur geglaubt werden kann?, in: Hegel-Jahrbuch 2003. Glauben und Wissen. Erster Teil, a. a. O., 142–146; R. Wahsner, Weiß die Philosophie etwas oder glaubt sie nur? Eine Bemerkung zu Hegels Kritik der kritischen Philosophie, in: ebd., 75–79. 82

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naturwissenschaftlichen Fraktion nicht aufgenommen, sondern es wurde versucht, die den Naturwissenschaften (vor allem den neu entstandenen) entspringenden Probleme auf eigener Basis bzw. mittels des Alltagsverstandes zu lösen. Es muß diese gegenseitige Ignoranz aufgehoben werden. Philosophische Verarbeitung und wilde Spekulation sollten nicht gleichgesetzt werden. Du Bois-Reymond urteilte über die Situation seiner Zeit: »An Stelle gesunder Verallgemeinerung aber regt sich wieder in Deutschland die erhebliche Neigung zu ungezügelter Spekulation. Im Abscheu der falschen Naturphilosophie erwachsen, müssen wir erleben, daß das uns folgende Geschlecht, welches wir strenge geschult zu haben glaubten, in Fehler zurückfällt, von denen das Geschlecht vor uns sich zürnend abwandte.«86 Die naturwissenschaftliche Entwicklung forderte eine neue philosophische Begründung der Naturwissenschaften, denn die Philosophie, die vor 1848 hervorgebracht worden war, war weitgehend bzw. in ihrer unmittelbaren Verfassung ungeeignet bzw. war so rezipiert worden, daß ihre Eignung kaum erkannt wurde. Es galt, sich auf schon früher gewonnene philosophische Erkenntnisse zu besinnen und sie zwecks Lösung der neuen Probleme fortzuentwickeln. Doch – abgesehen von dem sogenannten Neukantianismus –87 kümmerte sich die zeitgenössische Philosophie nicht um die durch die Entwicklung der Naturwissenschaften aufgeworfenen Probleme. Zunächst kam es nur dazu, daß in weiten Kreisen, wenn auch nicht generell, der Wahrheitsgehalt eines Philosophems bestritten wurde. Die Verachtung des philosophischen Denkens überhaupt war die Folge. »Metaphysikfreie Wissenschaft« wurde die Losung.88

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E. Du Bois-Reymond, Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart, Rede, gehalten in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtstagsfeier des Kaisers und Königs am 23. März 1882, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hrsg. von S. Wollgast, Berlin 1974, 189–192. 87 Vgl. z. B. H. Cohen, Jubiläums-Betrachtungen, in: Philosophische Monatshefte, 24 (1888), 257–291; K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik, Hamburg / Berlin 1890; Ders., Zum Problem der Continuität, in: Philosophische Monatshefte 24 (1888), 9–36. 88 Vgl. z. B. R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowki, Nachwort und Anmerkungen zu: E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, hrsg. von R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowki, Berlin 1988, 530–647; R. Wahsner, Von der metaphysikfreien Wissenschaft zur metaphysikfreien Philosophie?, in: K. Gloy (Hg.), Unser Zeitalter – ein postmetaphysisches?, Würzburg 2004, 155–173.

Andrea Reichenberger

Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede: ein diplomatischer Schachzug im Streit um Forschungsfreiheit, Verantwortung und Legitimation der Wissenschaft Im Jahre 1872 löste der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond mit seiner Rede Über die Grenzen des Naturerkennens den Ignorabimus-Streit aus. Du Bois-Reymond behauptete, daß es für den naturwissenschaftlichen Materialismus, der seinerzeit von vielen propagiert und von manchen für die Lösung aller Fragen gehalten wurde, grundsätzliche Erkenntnisgrenzen gebe. Auf der Grundlage der klassischen Physik hielt er folgende zwei Fragen als für die Wissenschaft prinzipiell unbeantwortbar: 1. was Materie und Kraft seien; 2. wie das Bewußtsein aus seinen (für ihn unbezweifelbaren) materiellen Entstehungsbedingungen erklärbar sei. Du Bois-Reymond sprach in diesem Zusammenhang auch von Rätseln, von unüberwindlichen Schranken, von der Unlösbarkeit dieser Fragen und von der Unbegreiflichkeit, Unerforschlichkeit und Unerklärbarkeit dieser Phänomene. Die Rede wurde zwar als Kapitulationserklärung der Wissenschaft gegenüber Idealismus, Spiritualismus, Okkultismus, Mystizismus, Religion und nicht zuletzt gegenüber der Kirche denunziert. Bei näherer Betrachtung war jedoch deren Intention eine andere. Du Bois-Reymond beabsichtigte, einen epistemologischen Waffenstillstand mit den um Wissens- und Geltungsansprüche konkurrierenden Vertretern von Religion, Kirche und Philosophie zu schließen, um das Recht der Wissenschaft auf Forschungsfreiheit zu sichern und zu verteidigen. Nichtsdestotrotz wäre es vorschnell, den Inhalt der Rede auf eine diplomatische Argumentationsstrategie zu verkürzen. In ihr kommt ein Grundlagenproblem zur Sprache, vor dem die Sinnesphysiologie bis heute steht. Der Forschungsgegenstand der Physiologie ist die Sinneswahrnehmung. Diese ist aber immer auch ein unverzichtbares Forschungsmittel selbst. Kein Physiologe könnte Wahrnehmung erforschen, ohne selbst der Wahrnehmung fähig zu sein. Im lebensweltlichen Kontext erfährt der Mensch sich stets als Teil der Welt – entgegen des seit der Neuzeit propagierten naturwissenschaftlichen Ideals des außenstehenden Beobachters. Wir nehmen die Welt wahr und sind, weil wir die Welt wahrnehmen, immer schon ein Teil von ihr.

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I. Du Bois-Reymonds methodologisches Forschungsprinzip Mit dem Ziel, eine neue Forschungsrichtung, die experimentelle Elektrophysiologie, die sich an den rechnenden und messenden Wissenschaften orientiert, in seinem Fach zu etablieren, war Du Bois-Reymond maßgeblich an dem Paradigmenwechsel beteiligt, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Physiologie vollzog: die Ablösung des Vitalismus durch einen reduktionistischen Physikalismus. Auf der Grundlage des in der Neuzeit wiederentdeckten antiken Atomismus (Leukipp, Demokrit, Epikur) sowie der Mechanik Newtons definierte Du Bois-Reymond Naturerkennen wie folgt: »Naturerkennen – genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft – ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen […] oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.«1 Du Bois-Reymond meinte also mit Naturerkennen naturwissenschaftliche Erkenntnis. Letztere setzte er mit der Physik gleich und diese wiederum mit der Mechanik. Nach ihrem Vorbild galt ihm die physikalische Kausalerklärung als die wissenschaftliche Erklärung schlechthin, d. i. die Erklärung der Welt durch die Zurückführung aller ihrer Erscheinungen auf die ihnen zugrunde liegenden mechanischen Naturgesetze.2 Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die erkenntnistheoretischen Diskussionen über den Gegenstandsbereich, die Forschungsmethoden und die Ziele der Physik zunahmen und gegenüber dem Wahrheitsmonopol der Mechanik Zweifel laut wurden, vollzog scheinbar auch Du Bois-Reymond einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Schwenk. Skepsis spricht aus folgenden Worten: »Die Vorstellung, wonach die Welt aus stets dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung.«3 1

E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens (1872), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. I, Leipzig 1912, 441 f. 2 Bekannt und viel zitiert ist Helmholtz’ Forschungspostulat, daß alle Naturerscheinungen auf ihre Ursachen zurückzuführen sind. Vgl. H. Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften (1869), in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf den Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin / Heidelberg / New York 1987, 37: »Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, das heißt ihre Gesetze zu finden, nimmt so eine andere Form des Ausdrucks an, die nämlich, daß wir die Kräfte aufzusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind. Die Gesetzlichkeit der Natur wird als kausaler Zusammenhang aufgefaßt.« 3 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 447.

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Die Korpuskulartheorie bezeichnete Du Bois-Reymond als Fiktion, wenn auch als äußerst nützliche, und er behauptete, daß sich jeder Versuch einer Klärung der Grundbegriffe der Mechanik (Materie, Kraft, Bewegung) in unlösliche Widersprüche verfange. Seine Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. In Bezug auf den Materiebegriff führt die Frage nach Teilbarkeit und Ausdehnung der Elementarteilchen in Paradoxien. Denn ein Atom, mag es als noch so »verschwindend klein«4 gedacht werden, hat eine gewisse Ausdehnung. Soll es »wirklichen Bestand haben, so muß es einen gewissen noch so kleinen Raum erfüllen. Dann ist nicht zu begreifen, warum es nicht weiter teilbar sei.«5 Wir können »in Gedanken mit Teilung der Materie immer weiter«6 fortfahren. Die Grenze der Teilbarkeit wäre erst dann erreicht, wenn das Atom nur mehr ein Punkt wäre. Dann aber ist es schwer vorstellbar, daß ein solches Atom eine Masse haben und von diesem noch Kräfte ausgehen könnten. 2. Was den Kraftbegriff anbelangt, seien die »durch den leeren Raum in die Ferne wirkende[n] Kräfte […] an sich unbegreiflich, ja widersinnig«7, also die Hypothese einer actio in distans, d. h. die Annahme der Möglichkeit einer kontinuierlichen Wechselwirkung zweier Objekte, die räumlich voneinander getrennt sind (wie Newton postulierte). 3. Und schließlich führt die Auffassung, daß jede Bewegung eine Ursache hat, zu der »schon von Aristoteles erörterte[n] Frage nach dem Anfang der Bewegung«8 und damit in die altbekannte Paradoxie, entweder eine erste unbewegte Bewegung zu postulieren oder die Erklärung für den Ursprung der Bewegung offen zu lassen. Entweder es fehlt »dann am zureichenden Grunde für die erste Bewegung. Oder wir stellen uns die Materie als von Ewigkeit bewegt vor. Dann verzichten wir von vornherein auf Verständnis in diesem Punkte.«9 Du Bois-Reymond bot in seiner Rede keine Lösungen der von ihm genannten Paradoxien an. Dies war wohl auch nicht seine Absicht. Andere auf Paradoxien aufmerksam zu machen, impliziert nicht nur das Eingeständnis eigener Wissensgrenzen. Dieses wird auch als psychologisches Aha-Erlebnis bei der Zuhörerschaft bewirkt und ermahnt zur Vorsicht gegenüber einem über jeden Zweifel erhabenen Vertrauen in die Richtigkeit einer Theorie und gegenüber einer vorschnellen Verallgemeinerung derselben zu einer Weltanschauung.

4

Ebd. Ebd., 448. 6 Ebd., 449. 7 Ebd., 448. 8 Ebd., 450. 9 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel (1880), in: Est. Du Bois-Reymond, Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. II, Leipzig 1912, 75. 5

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II. »Wahrheitsgewißheitsverlust«10 In einer 1895 in Quarterly Review erschienenen Rezension werden vier Wissenschaftler – Darwin, Spencer, Huxley und Du Bois-Reymond – spöttisch als Evangelisten einer neuen Glaubensanschauung, des Agnostizismus, karikiert: »To the average citizen who reads as he runs, and who is unacquainted with any tongue save his native British, it may well appear that the Gospel of Unbelief, preached among us during the last half-century, has had its four Evangelists – the Quadrilateral, as they have been called, whose works and outworks, demilunes and frowning bastions, take the public eye, while above them floats the agnostic banner with its strange device, ›Ignoramus et Ignorabimus‹.«11

Die Debatte über die Erkenntnisgrenzen der Wissenschaft, auf die die hier zitierte Parole Ignoramus et Ignorabimus anspielt, war nicht neu. So hatte Huxley schon einige Jahre vor Du Bois-Reymond in seiner Rede On the Physical Basis of Life (1868) behauptet: »But, if it is certain that we can have no knowledge of the nature of either matter or spirit, and that the notion of necessity is something illegitimately thrust into the perfectly legitimate conception of law, the materialistic position that there is nothing in the world but matter, force, and necessity, is as utterly devoid of justification as the most baseless of theological dogmas. The fundamental doctrines of materialism, like those of spiritualism, and most other ›isms‹, lie outside ›the limits of philosophical inquiry‹.«12 In Deutschland war Virchow Du Bois-Reymond zuvorgekommen. Im Rahmen seines Kulturkampfprogrammes hatte er immer wieder betont, »daß es besonders dem Naturforscher unmöglich ist, über eine gewisse Grenze der Forschung hinauszukommen, und daß wir resignieren müssen darauf, ein System des Alls zu entwerfen.«13 Daß die Naturwissenschaften nicht alles wissen und erklären können, fand breite Zustimmung. Umstrittener war die Behauptung, daß es explizit benennbare Phänomene gibt, wie Bewußtsein, die wissenschaftlich nicht erforschbar sind. Virchow bestand darauf, »daß es einen Punkt gibt, wo die Naturforschung inkompetent 10

Vgl. G. Schiemann, Wahrheitsgewißheitsverlust: Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie, Darmstadt 1997. 11 Anonymous, Professor Huxley’s Creed, in: Quarterly Review, 180 (1895), 160. 12 T. H. Huxley, On the Physical Basis of Life (1868), in: Ders., Collected Essays (1893– 1894), Bd. I: Method and Results, Hildesheim / New York 1970, 161 f. 13 R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft (1863), in: K. Sudhoff (Hg.), Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscherversammlungen, Leipzig 1922, 33.

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ist, wo sie nicht imstande ist, im Augenblick wenigstens ihren Fuß hinzusetzen, und das sind die Taten des Bewußtseins. […] und weil dies der Fall ist, und weil wir außerstande sind, diesen Vorgang zu analysieren, so müssen wir auch zugestehen, daß wir nicht imstande sind eine Formel aufzustellen, in welcher wirklich auf Grund naturwissenschaftlicher Erfahrungen ausgesprochen würde, was das Bewußtsein sei, oder wie es zustande kommt, oder welchen Grund es habe.«14 Wenn Virchow davon sprach, daß jeder Wissenschaftler »die Grenze des Wissens anerkennen«15 müsse und »nicht berechtigt ist, einen allgemeinen Weltplan aufzustellen«16, ist eines augenfällig. Virchow sprach nicht von einer Grenze, über die die Naturwissenschaft nicht hinausgehen kann, sondern von einer bestimmten Grenze, über die sie nicht hinausgehen darf. Aus dem NichtDürfen ein Nicht-Können zu folgern, wäre ein Fehlschluß. Ließe sich aber beweisen, daß es Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt, wäre es dann nicht hinfällig, über normative Grenzsetzungen zu diskutieren?

III. Du Bois-Reymond und das Leib-Seele-Problem »Für mich ist Darwin der Kopernicus der organischen Welt.«17 Mit diesem enthusiastischen Nachruf bekannte sich Du Bois-Reymond zu Darwin. Die Evolutionstheorie wurde vom Physiologen wie von vielen seiner Zeitgenossen als Anwendung der physikalisch-mechanischen Kausalerklärung aufgefaßt. Ihr wurde die Integrationsleistung zugeschrieben, eine mechanisch-materialistische Theorie der Natur und des Lebens zu liefern. Nun ist es eine (und keineswegs unumstrittene) Sache, den Menschen und all das, wozu er fähig ist und was er tut, als ein Stück Natur und als ein Produkt der Evolution zu betrachten. Es ist eine andere Sache anzunehmen, die Evolution sei ein Mechanismus. Wenn beides gilt, ist es naheliegend zu behaupten, daß die Menschen »im Grunde – wie sehr sie sich auch erheben möchten – nur Tiere und aufrecht kriechende Maschinen sind.«18 14

Ebd., 37. R. Virchow, Über die mechanische Auffassung der Lebensvorgänge (1858), in: K. Sudhoff (Hg.), Rudolf Virchow und die Deutschen Naturforscherversammlungen, a. a. O., 7. 16 R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, a. a. O., 36. 17 E. Du Bois-Reymond, Darwin und Kopernicus (1883), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. II, a. a. O., 244. 18 J. O. de La Mettrie, L’homme machine. Die Maschine Mensch (1748), Hamburg 1990, 125. 15

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Diese »kühne Schlußfolgerung«19 zog La Mettrie. Der Mensch, so ist in seinem Büchlein L’homme machine (1748) zu lesen, »ist gegenüber dem Affen und den intelligentesten Tieren das, was die Planetenuhr von Huygens gegenüber der Taschenuhr von Julien Leroy ist. Wenn mehr Instrumente, mehr Räder und mehr Triebfedern nötig waren, um die Bewegungen der Planeten als die Stunden anzuzeigen oder zu wiederholen, und wenn Vaucanson mehr Kunstfertigkeit benötigte, seinen Flötenspieler herzustellen als seine Ente, dann hätte er davon noch mehr aufbieten müssen, um einen Sprecher anzufertigen – eine Maschine.«20 Das war La Mettries Antwort auf Descartes, der Tiere als Automaten bezeichnete und beschrieb, und zugleich seine Kritik an dessen Zwei-SubstanzenOntologie, in deren Rahmen die begriffliche Unterscheidung zwischen einer res extensa und res cogitans eingeführt wird, um dem Menschen als differentia specifica und als Privilegien gegenüber Tieren (und damit gegenüber Maschinen) eine Seele, Geist, Verstand und Vernunft zuzuschreiben. Dem psychophysischen Interaktionismus Descartes’ stellte La Mettrie einen Monismus entgegen, der von der grundsätzlichen Materialität und der mechanischen Funktionalität des Menschen und der Welt ausgeht. Du Bois-Reymond rekapitulierte und kommentierte die Theorie Descartes und die Kritik La Mettries mit folgenden Worten: »Um den Ausdruck ›Homme machine‹ gehörig zu verstehen, muß man sich erinnern, daß Descartes die Tiere für reine Maschinen ausgegeben hatte, denen Empfindung, Wollen und Denken abgehen. Der Mensch, auch solche Maschine, sollte vor den Tieren durch den Besitz einer Seele sich auszeichnen, welche eine von der Materie verschiedene Substanz sei, und in ihm empfinde, wolle, denke: eine so handgreiflich verkehrte Lehre, daß La Mettrie behauptet, Descartes habe sie aufgestellt, damit man um so sicherer seine wahre Meinung errate, daß Menschen- und Tierseele nur gradweise verschieden seien. Für La Mettrie gibt es nur Eine Substanz, das ewig rätselhafte Grundwesen von Materie und Geist, welches durch verschiedene Anordnung und Bewegung verschiedene Erscheinungsweisen annimmt.«21 Gleichwohl fügte Du Bois-Reymond hinzu: »Dabei muß bemerkt werden, daß im Grunde La Mettrie sehr vorsichtig sich ausspricht. Keineswegs leugnet er ein höchstes Wesen, er gibt nur zu verstehen, daß mit dualistischer Auffassung der Welt auch nicht viel gewonnen sei. Mit der aufrichtigen Bescheidenheit des Naturforschers bezeichnet er die beiden Grenzen des menschlichen Erkennens. Nie werden wir, sagt er, das Wesen dessen begreifen, was wir Ma19

Ebd., 137. Ebd., 119 ff. 21 E. Du Bois-Reymond, La Mettrie (1875), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. I, a. a. O., 524 f. 20

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terie und Kraft nennen und nie werden wir begreifen, wie Materie denkt.«22 Du Bois-Reymond legte hier natürlich die eigenen Worte La Mettrie in den Mund. In der Tat hatte aber bereits La Mettrie behauptet: »Was diese Entwicklung angeht, so ist es ein Wahnsinn, mit der Erforschung ihres Mechanismus Zeit zu verlieren. Die Natur der Bewegung ist uns ebenso unbekannt wie die der Materie.«23 Dieser historische Kontext bildete die Grundlage für Du Bois-Reymonds Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele-Problem. Immer wieder kontrastierte Du Bois-Reymond in seinen Reden die historischen Vertreter eines materialistischen Monismus (z. B. La Mettrie) mit denen eines Dualismus (z. B. Descartes, Leibniz), und immer wieder brachte er neben Leib-Seele, Körper-Geist, Physisches-Psychisches die Begriffe Materie und Bewußtsein ins Spiel, wobei er folgende zwei Behauptungen voneinander strikt unterschied: 1. »Bewußtsein ist an materielle Vorgänge gebunden«24; 2. »Bewußtsein kann mechanisch erklärt werden«25. Die Richtigkeit der ersten Aussage sah Du Bois-Reymond »durch zahlreiche Gründe gestützt«26, die zweite nicht. Du Bois-Reymond war sich der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen der ontologischen Behauptung: »Bewußtsein ist Materie«, und der epistemischen Behauptung: »Bewußtsein kann aus seinen materiellen Bedingungen erklärt werden«, bewußt. Daß aber mit der letzten Aussage etwas anderes behauptet wird, als zu sagen: »Bewußtsein kann mechanisch erklärt werden«, hat er nicht ausgesprochen. Materialismus und Mechanismus werden nicht klar voneinander unterschieden.

IV. Das Ignorabimus im Kontext der Wissenschaftspolitik Du Bois-Reymonds 1. Die Paukenschlagwirkung der Ignorabimus-Rede In seiner Streitschrift Freie Wissenschaft und freie Lehre bezichtigte Haeckel Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede eines »Kreuzzugs gegen die Freiheit der Wissenschaft«27. »Dieses Ignorabimus ist dasselbe, welches die Berliner Biologie dem fortschreitenden Entwickelungsgange der Wissenschaft als Riegel 22

Ebd., 528. J. O. de La Mettrie, L’homme machine, a. a. O., 119. 24 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 67. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolf Virchow’s Münchener Rede über ›Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat‹ (1878), Leipzig 1908, 72. 23

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vorschieben will. Dieses scheinbar demüthige, in der That aber vermessene ›Ignorabimus‹ ist das ›Ignoratis‹ des unfehlbaren Vaticans und der von ihm angeführten ›schwarzen Internationale‹.«28 Dem Ignorabimus von Du BoisReymond und dem Restringamur von Virchow stellte Haeckel sein »Impavidi progrediamur«29 entgegen. Du Bois-Reymond wußte sich zu verteidigen: »Schuster verließen ihren Leisten und rümpften die Nase über ›das fast nach konsistorialrätlicher Demut schmeckende Bekenntnis des ›Ignorabimus‹, wodurch das Nichtwissen in Permanenz erklärt werde‹. Fanatiker dieser Richtung, die es besser wissen konnten, denunzierten mich als zur schwarzen Bande gehörig, und zeigten aufs neue, wie nah beieinander Despotismus und äußerster Radikalismus wohnen. Gemäßigtere Köpfe verrieten doch bei dieser Gelegenheit, daß es mit ihrer Dialektik schwach bestellt sei. Sie glaubten etwas anderes zu sagen als ich, wenn sie meinem ›Ignorabimus‹ ein ›Wir werden wissen‹ unter der Bedingung entgegensetzten, daß ›wir als endliche Menschen, die wir sind, uns mit menschlicher Einsicht bescheiden‹.«30 Als Antwort auf die Kritik, die gegen seine Ignorabimus-Rede erhoben wurde, verteidigte und präzisierte Du Bois-Reymond in seiner Rede Die sieben Welträtsel (1880) seine Position im Hinblick auf sieben Fragen (die Frage nach dem Wesen von Materie und Kraft, nach dem Ursprung der Bewegung, nach der Entstehung des Lebens, nach der Naturgesetzlichkeit, nach der Entstehung der Sinnesempfindungen und des Bewußtseins, nach Denken und Sprache und nach der Willensfreiheit) und setzte seinem Ignorabimus ein »Dubitemus«31 und ein »Laboremus!«32 hinzu. Solche Schlachtrufe versuchte Nägeli mit einem »Wir wissen und wir werden wissen«33 zu überbieten. Der Nachhall der Ignorabimus-Rede wirkte noch Jahrzehnte später, als Hilbert auf der Versammlung der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Königsberg 1930 für seine Neubegründung der Mathematik mit den Worten warb: »Wir müssen wissen, Wir werden wissen.«34 Doch »[d]ie

28

E. Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1874, XIII. 29 E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, a. a. O., 82. 30 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 67. 31 Ebd., 93. 32 E. Du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani (1876), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. I, a. a. O., 563. 33 C. W. von Nägeli, Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss (1877), in: Ders., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammung, München / Leipzig 1884, 602. 34 D. Hilbert, Naturerkennen und Logik (1930), in: Ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. III, New York 1965, 387.

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Paukenschlagwirkung des ›Ignoramus – Ignorabimus‹ wurde von keinem Nachahmungsversuch mehr erreicht.«35

2. Die Ignorabimus-Rede: eine Provokation? Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede wurde in einer Zeit des Szientismus und der Forschungseuphorie als Provokation begriffen. Grenzen des Naturerkennens – allein der Titel klang in den Ohren vieler als radikale Infragestellung der wissenschaftlichen Tätigkeit. So protestierte der Monist Zacharias: »Um sagen zu können: bis hierher und nicht weiter, muß man das Terrain, dessen Betretung man verbietet, bereits kennen; man muß auch den Grund des Verbotes angeben, wenn es befolgt werden soll. Mit Angabe dieses Grundes überschreitet man aber das Ignorabimus selbst, indem dadurch etwas über das jenseits der Grenze befindliche Terrain ausgesagt wird. Wir haben überhaupt kein Kriterium des Erkennbaren und Unerkennbaren; die Schranke der von uns erreichbaren Erkenntnis liegt in unserem Vermögen, nicht in unserem Bewußtsein. Wir können daher niemals im Voraus sagen, wo die Erkenntniß aufhört und die Ignoranz beginnt.«36 Anderen war selbst das Ignorabimus noch zu kulant, eine Flucht Du BoisReymonds in den Agnostizismus, um sich auf diese Weise nur noch mehr von Glaube, Religion und Kirche abzugrenzen. So denunzierte der Katholik Gadow das Ignorabimus als Ausdruck einer Weltanschauung, die »nicht der Theologie allein, sondern jeder Religion überhaupt in’s Gesicht«37 schlägt »und die Vertreter der christlichen Weltanschauung als armselige Phantasten oder boshafte Volksverführer kennzeichnet«.38 Du Bois-Reymond machte aus seiner antiklerikalen Haltung nie einen Hehl. Er war jedoch kein Kritiker von Wissenschaft, kein Skeptizist und kein Pessimist, im Gegenteil. Als Forscher kannte Du Bois-Reymond nur ein Thema: die Physik der Muskeln und Nerven. Als Methode praktizierte und anerkannte er nur die mechanisch-materialistische. »In den physiologischen Schriften spielt nicht einmal die Sinnesphysiologie eine erwähnenswerte Rolle. Das Zentralnervensystem wird nur als ›Elektromotor‹, d. h. als Quelle für elektrische Ströme behandelt, deren physikalische Natur ihn interessiert.«39 35

H. Lübbe, Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du Bois-Reymond, in: G. Mann (Hg.), Emil Du Bois-Reymond, a. a. O., 139. 36 Zit. n. S. Wollgast (Hg.), Emil Du Bois-Reymond: Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, Hamburg 1974, IXL. 37 G. Gadow, Die Freiheit der Wissenschaft und Herr Du Bois-Reymond, Giessen 1883, 22. 38 Ebd. 39 C. Campenhausen, Elektrophysiologie und die physiologischen Modellvorstellungen

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Es scheint also nicht gerade konsequent zu sein, die Grundbegriffe der Mechanik und das Bewußtseinsproblem als unlösbare Rätsel abzustempeln und dennoch auf der Überzeugung zu bestehen, es gäbe »kein anderes Erkennen, als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für wahres Erkennen es auch sei, und demgemäß nur Eine wahrhaft wissenschaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische.«40 Hinter dieser Ambivalenz stand jedoch eine wohlbedachte Strategie. Der scheinbare Gesinnungswandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, der im Ignorabimus einen Ausdruck findet, war in Wirklichkeit eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Du Bois-Reymond war und sprach als Repräsentant einer neuen, selbstbewußten scientific community, die mit Konsequenz und Nachdruck das Ziel verfolgte, der Physiologie (und deren Ausrichtung auf die exakten Wissenschaften) zu Prestige zu verhelfen.

3. Wissenschaft unter Verdacht Die Erwartungshaltungen, die der Wissenschaft als Weltanschauung entgegengebracht wurden, waren ambivalent und nicht selten politisch gefärbt. Einerseits versprach man sich von ihr die Bestätigung der Falschheit einer von Gott gewollten gesellschaftlichen Hierarchie. Andererseits wurden Befürchtungen laut. Denn wenn sich 1. alles auf Physisches reduzieren ließe, 2. alles determiniert, also von Natur festgesetzt, und 3. mit mathematischen Formeln berechenbar wäre; wenn 4. Berechenbarkeit Voraussagbarkeit und Beherrschbarkeit implizierte und wenn schließlich 5. dem Evolutionsgesetz zufolge zwischen den Menschen ein rücksichtsloser Kampf ums Dasein geführt würde, wäre es dann nicht um humanitäre Ideale, um Freiheit und Selbstbestimmung, Verantwortung und Solidarität geschehen? Insbesondere Mechanismus, Materialismus und Darwinismus gerieten in den Verdacht, alles – und damit auch den Menschen und das menschliche (Zusammen-)Leben – auf Physisches sowie auf ein Zufallsprodukt evolutionärer Mechanismen zu reduzieren. War die Welt eine Maschine und der Mensch nur ein Rädchen im Getriebe? Ein entscheidender Grund, warum man dem Mecha-

bei Emil Du Bois-Reymond, in: G. Mann (Hg.), Emil Du Bois-Reymond. Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert, Hildesheim 1981, 79. 40 E. Du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani, a. a. O., 560. Vgl. Du Bois-Reymonds Brief an Dreher aus dem Jahre 1889: »Um die metaphysischen Konzepte, welche man ersinnen kann, […] kümmere ich mich nicht, weil das mechanische Verständniss mir als die einzige wahrhaft wissenschaftliche Denkform erscheint.« (Zit. n. E. Dreher, Die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften im Lichte der Kritik, Dresden 1901, 114).

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nismus, Materialismus und Darwinismus nachsagte, gefährlich zu sein, war die Sorge um die Entmoralisierung der Welt und Wirklichkeit. Gegenüber Naturalisten, die auch Kultur, Kunst und Technik zur Natur erklärten und deren Geschichtlichkeit als evolutionären, selbstregulativen Prozeß interpretierten, wandte Ward in seinem 1884 in Mind erschienenen Aufsatz Mind as a Social Fact ein: »If nature’s process is rightly named natural selection, man’s process is artificial selection. The survival of the fittest is simply the survival of the strong, which implies, and might as well be called, the destruction of the weak. And if nature progresses through the destruction of the weak, man progresses through the protection of the weak. This is the essential distinction.«41 Mit der Maxime »art is the antithesis of nature«42 rief Ward nicht etwa ein antikes Begriffsverständnis in Erinnerung, sondern kritisierte den Sozialdarwinismus. Gerechtigkeit, Moral und Nächstenliebe könne man, so Ward, weder auf Natur(gesetze) zurückführen noch als nichtig bezeichnen. Eine der eklatantesten Streitfragen war die Willensfreiheit. So behauptete Haeckel: »[D]ie Willensfreiheit ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.«43 Determinismus und Willensfreiheit gegeneinander auszuspielen, funktioniert nur, wenn vorausgesetzt wird, daß das eine notwendig die Negation des anderen bedeutet (tertium non datur). »Aber auch der entschlossenste Monist vermag den ernsteren Forderungen des praktischen Lebens gegenüber die Vorstellung nur schwer festzuhalten, daß das ganze menschliche Dasein nichts sei als eine Fable convenue, in welcher mechanische Notwendigkeit dem Cajus die Rolle des Verbrechers, dem Sempronius die des Richters erteilte […]; daß wir nur deshalb nicht Verbrecher wurden, weil andere für uns die schwarzen Lose zogen, die auch unser Teil hätten werden können«44, gebe keine Antwort auf »die Frage, wo beim Determinismus die Verantwortlichkeit des Menschen«45 bleibt, gab Du Bois-Reymond zu bedenken. Bei allen Fortschritten, die die Physiologie im Laufe des 19. Jahrhunderts verzeichnen konnte, blieb man der alten »Vorstellung eines Seelenorgans«46 verhaftet, der »Idee einer physikalischen Realisierung des Ichs«47, gegen die 41

L. F. Ward, Mind as a Social Fact, in: Mind, 9 (1884), 570. Ebd., 569. 43 E. Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899, 18 f. 44 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 86. 45 Ebd., 84. Vgl. E. Mach, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905), Darmstadt 1968, 283: »So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist bleiben«. 46 O. Breidbach, Die Materialisierung des Ichs: zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1997, 64. 47 Ebd. 42

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schon Kant zu Felde gezogen war und den Begriff des Ichs als moralische Instanz bestimmt hatte, dessen Konstitution in der menschlichen Gemeinschaft und Lebensform zu verorten ist. Die Fragen nach dem menschlichen Willen und der Willensfreiheit, nach dem Ich und dem Selbst sind praxisrelevante Fragen, die unser alltägliches Leben betreffen und die für unser individuelles Selbstverständnis ebenso entscheidend sind wie für unseren Umgang mit anderen, für unser Rechts- und Gemeinschaftsdenken. Du Bois-Reymond mag aus seinem Ignoramus zu schnell und nicht gerechtfertigt ein Ignorabimus gefolgert haben. Er hatte aber in aller Deutlichkeit erkannt, daß Probleme dann auftreten, wenn in den Diskussionen »die physische Sphäre mit der ethischen vertauscht«48 wird. Sollte es wirklich so sein, daß die Freiheit und Würde des Menschen unter dem Vorbehalt der Wissenschaftsentwicklung steht und die Erklärung der Menschenrechte durch die Neurophysiologie revozierbar ist? Diesen Verdacht galt es auszuräumen.

4. Das Ignorabimus als diplomatischer Schachzug Die Ignorabimus-Rede fand nicht deshalb so beachtliche Resonanz, weil in ihr behauptet wurde, daß die Erklärungsreichweite der Wissenschaft begrenzt ist, sondern weil Du Bois-Reymond es war, der diese Rede hielt und dies behauptete. Du Bois-Reymond war in Wissenschaftskreisen wie in der Öffentlichkeit eine bekannte Persönlichkeit. Er hatte nicht zuletzt kraft seines Amtes als Universitätsrektor zahlreiche repräsentative Aufgaben zu erfüllen und war sozusagen »auf die Rolle des akademischen Festredners dauerverpflichtet.«49 Daraus erklärt sich auch der leichte, z. T. saloppe Stil seiner Reden, der argumentativ geschickte Verweis auf Leistung und Meinung namhafter Männer aus der Wissenschafts- und Politikgeschichte zur Untermauerung eigener Standpunkte und das Spiel mit dem Publikum. Rhetorische Fragen, Anekdoten und Bonmots waren »fest eingeplant und wurden mit dramaturgischer Wirkung dargeboten. Die Schilderungen darüber reichen von wohlwollender Kritik bis zu sarkastischer Denuntiation.«50 Im Vordergrund der Intention stand, das Auditorium für sich und für die eigenen Interessen zu gewinnen.

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E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 86. H. Lübbe, Wissenschaft und Weltanschauung, a. a. O., 134. 50 R. Winau, Emil du Bois-Reymond. Leben und Werk, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, 4 (1997), 159f. Vgl. z. B. G. Gadow, Die Freiheit der Wissenschaft und Herr Du Bois-Reymond, a. a. O., 23: »Herr du BoisReymond ist der Mann der Phrase. Kein anderer versteht es so wie er, seine Zuhörer ›mit Redensarten betrunken zu machen‹, wie es der Berliner Witz drastisch bezeichnet.« 49

Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede

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Konkret ging es darum, den Vorwurf auszuräumen, »den man der Naturwissenschaft mache, der nehmlich, dass sie eine materialistische Tendenz habe und dadurch gefährlich, ja geradezu revolutionierend sei.«51 Schon Jahrzehnte vor Du Bois-Reymonds Rede hatte Virchow sein Bedauern darüber ausgesprochen, »dass sich bei den Trägern der kirchlichen und staatlichen Gewalt vielfach ein ganz allgemeines Misstrauen gegen die naturwissenschaftliche Richtung als eine destructive und ihrem Wesen nach negirende gebildet hat und dass man unter dem gemeinschaftlichen Namen des Materialismus alle freie Forschung mit empirischem Charakter für verdächtig erklärt. Vielleicht zu keiner Zeit ist es daher nothwendiger gewesen, die berechtigten Grenzen der Naturforschung zu wahren und somit die Angriffe des Dogmatismus auf dieselben, als ihre Ueberschreitung durch Naturforscher abzuwehren.«52 Gelänge es zu beweisen, daß das Anwendungsgebiet von Mechanismus, Materialismus und Darwinismus beschränkt ist und diese Ismen ihre Grenzen dort finden, wo die soziale Praxis und das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen in den Blickpunkt der Betrachtung rücken, hätte es sich erübrigt, sich darüber weiter zu streiten, ob man nicht per Dekret ein imperatives Noli me tangere für die wissenschaftliche Erforschung von Geist, Bewußtsein, Denken etc. aussprechen sollte. Es bestünde keinerlei Risiko, es könnte sich im Zuge wissenschaftlicher Forschung herausstellen, daß vieles, was uns im Leben wichtig ist, wie Willens- und Handlungsfreiheit, als Illusion entlarvt werden könnte. Man hätte zudem der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Denn Unmöglichkeitsbeweise, wie z. B. der Konstruktionsversuch eines »Mobile perpetuum«53 ersparen der Wissenschaft Zeit und Mühe zu versuchen, etwas zu beantworten, zu erklären oder zu erforschen, was prinzipiell unbeantwortbar oder unerklärbar ist. Man hätte also zwei Herren zugleich gedient und im Interesse der Wissenschaft und der Humanität gehandelt. Mit dieser Argumentation ergriff Metze Partei für Du Bois-Reymond: »Man hat es oft gerügt, daß Du Bois-Reymond der Naturwissenschaft Grenzen zu ziehen suchte. Ein solches Verfahren sei von vornherein wissensfeindlich und diene nur der Bevormundung allen freien Denkens. Indes wie Heine 51

R. Virchow, Über den Fortschritt in der Entwicklung der Humanitätsanstalten (1860), in: W. Selberg / H. Hamm (Hg.), Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts, München 1993, 277. 52 R. Virchow, Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin (1856), in: W. Selberg / H. Hamm (Hg.), Rudolf Virchow und die Medizin des 20. Jahrhunderts, a. a. O., 283. Vgl. R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, a. a. O., 34: »Innerhalb dieser immerhin weiten Grenzen ist die Naturforschung, wie ich glaube, keiner Richtung des Lebens, welche es wohlmeint, gefährlich«. 53 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 458.

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einmal von Kant sagt, ›leistet uns, wer uns vor nutzlosen Wegen warnt, einen ebenso guten Dienst, wie derjenige, der uns den rechten Weg anzeigt‹. Wie den Männern, die uns von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile und der Quadratur des Kreises überzeugten, müssen wir du Bois-Reymond dankbar sein, daß er die Physiologie vor gefährlichen Abwegen in ein neues Nebelheim der Naturphilosophie gewarnt hat.«54 Man kann sich darüber streiten, ob Du Bois-Reymond ein solcher Beweis gelungen ist (und man hätte zunächst zu klären, was in diesem Zusammenhang Beweis heißt). Man kann der philosophischen Position des Ignorabimus beipflichten oder dieser als konträres Glaubensbekenntnis ein Non-Ignorabimus entgegensetzen. Man hätte in beiden Fällen verkannt, daß Du Bois-Reymonds Berufung auf mathematisches Beweisverständnis und mathematische Beweismethodik strategischer Art war. Und man hätte in beiden Fällen verkannt, daß die Ignorabimus-Rede mehr war als Ausdruck einer philosophischen Weltanschauung. Sie war Teil des wissenschaftspolitischen Programms, dessen Intention darin bestand, den Geltungs- und Autoritätsanspruch der Naturwissenschaften einschließlich ihres Rechts auf Forschungsfreiheit zu sichern, ein Grundrecht, welches in Deutschland erstmals in §152 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 8. März 1849 aufgenommen worden war. Damit war zwar die Autonomie der Wissenschaft auf dem Papier garantiert. Sie war jedoch keineswegs unumstritten. Um deren Einschränkung seitens der Behörden zu verhindern, sollte auch den traditionellen, metaphysisch-religiösen Ideologien ein gewisser Freiraum gewährt werden, soweit diese die Wissenschaft nicht beeinträchtigten und Privatangelegenheit blieben.

5. Das Ignorabimus als Programmbegriff »Das naturwissenschaftliche Establishment hatte sich im 19. Jahrhundert auf einer Position eingerichtet, die ihre klassische Formulierung 1872 in der ›Ignorabimus‹-Rede Du Bois-Reymonds fand. Demnach wurde ein der Naturwissenschaft zugänglicher Bereich der Erkenntnis von einem Bereich letzter Fragen, in dem sie keine Antworten zu finden vermochte, getrennt.«55 Wissenschaftler wie Du Bois-Reymond schienen bereit zu sein, einen »epistemologischen Waffenstillstand«56 mit den um Wissens- und Geltungsansprüche

54

E. Metze, Emil du Bois-Reymond. Sein Wirken und seine Weltanschauung, Bielefeld 1918, 29. 55 C. Goschler, Rudolf Virchow: Mediziner, Anthropologe, Politiker, Köln / Weimar / Wien 2002, 354. 56 Ebd., 392. 3

Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede

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konkurrierenden Vertretern von Religion und Kirche zu schließen. So bezeichnete Virchow die Frage nach dem Bewußtsein als den »Punkt, wo die Naturforschung ihren Kompromiß schließt mit den herrschenden Kirchen, indem sie anerkannt, daß hier ein Gebiet ist, welches dem freien Ermessen des einzelnen […] zusteht.«57 Bei näherer Betrachtung stand hinter dieser Kompromißbereitschaft ein diplomatischer Schachzug. Indem der religiöse Glaube, etwa an eine Seele, zur Privatangelegenheit deklariert wurde, die jeder einzelne für sich im stillen Kämmerlein zu entscheiden hatte, wurde den religiösen Weltanschauungen (und damit der Kirche) das Mitspracherecht entzogen, wenn es um objektive Fragen der Wissenschaft ging. »Nun möchte ich freilich nicht gerne in den Ruf kommen, daß ich irgend jemandes religiöse Überzeugung anzutasten gewillt wäre, wenn sie sich innerhalb der Grenzen des Privateigentums hält. Es ist ja selbstverständlich, daß in diesem Gebiete dem Einzelnen volle und absolute Freiheit gewährleistet werden muß. Aber die Sache wird eine andere und ganz kardinale, wenn die religiöse Überzeugung verlangt, maßgebend zu sein für staatliche Einrichtungen, wenn sie verlangt, maßgebend zu sein für die Wege und Richtungen der Wissenschaft«58. Die scheinbar rein epistemische Aussage des Ignorabimus beinhaltete auch eine Machtfrage. »›Wissen ist Macht‹, dieser mächtige Diskurs, in dem sich das Selbstverständnis der Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts artikulierte, war zwar mit dem paradigmatisch von Emil Du Bois-Reymond formulierten Ignorabimus gekoppelt, doch verbarg sich hinter solcher scheinbarer Selbstbeschränkung in erster Linie ein ungebremstes Selbstbewusstsein.«59 In einem Artikel der Frankfurter Zeitung aus dem Jahre 1877 wird das Ignorabimus wie folgt kommentiert: »In diesem Satze liegt keine sokratische Bescheidenheit, und darum konnte ihm ohne Überhebung Professor Nägeli den Satz gegenüberstellen: Wir wissen, und wir werden wissen! […] Nichts, was uns angeht, was wir wissen müssen, kann uns verborgen bleiben. Nur was

57

R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, a. a. O., 37. 58 R. Virchow, Über Wunder (1874), in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf den Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin / Heidelberg / New York 1987, 94. 59 C. Goschler, Rudolf Virchow, a. a. O., 392. Vgl. G. Gadow, Die Freiheit der Wissenschaft und Herr Du Bois-Reymond, a. a. O., 11: »Sie [die Ignorabimus-Rede] ist im letzten Grunde nichts anderes, als der Ausdruck jenes selbstgefälligen Unfehlbarkeitsdünkels, der, anfangs freilich auf der Grundlage inductiver Forschung fussend, bald – man möchte nachgerade annehmen unbewusst – den festen Boden verliess und sich empor speculirte zu der ›eisigen Höhe‹ einer selbstconstruirten Weltanschauung, von welcher er selbstbewusst wie ein Alleinherrscher herabschaut«.

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über die Grenze des Immanenten, des in der Welt Liegenden hinausgeht, bleibt uns verborgen. Aber dies kann uns nicht kümmern.«60 Du Bois-Reymond behauptete zwar, daß die von ihm genannten Grenzen des Naturerkennens für den Naturforscher eine »Schranke seines Wissens und seiner Macht«61 bedeuteten, fügte aber hinzu: »Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturforscher Herr und Meister«62 und berechtigt, »mit voller Freiheit, unbeirrt durch Mythen, Dogmen und alterstolze Philosopheme, auf dem Wege der Induktion seine eigene Meinung über die Beziehung zwischen Geist und Materie sich zu bilden.«63 Alles andere als unbescheiden stellte Du Bois-Reymond die Naturwissenschaft als »neue Weltmacht«64 dar, krönte die Physiologie zur »Königin unter den Naturwissenschaften«65 und pries den Neubau seines Instituts als »Palast der Wissenschaft«66. »Es ist kein Zufall, daß sich der kometenhafte Aufstieg der experimentellen Physiologie gegen eine starke, etablierte Opposition genau in der Take-off-Phase der deutschen Industrialisierung vollzog, zwischen dem Ende der fünfziger Jahre und den siebziger Jahren.«67 In diesem wissenschaftspolitischen Kontext steht nicht nur Du Bois-Reymonds Plädoyer für eine solidere mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung, sein Engagement für die Gründung der Technischen Hochschulen und der Realgymnasien, seine Initiative zur Errichtung eines Physiologischen Institutes, sondern nicht zuletzt auch seine Ignorabimus-Rede.

60

Zit. n. E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, a. a. O., 93. E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 460. 62 Ebd. 63 Ebd., 461. Vgl. R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, a. a. O., 34: »Innerhalb dieser Grenzen verlangen wir Freiheit, so weit, als die Wissenschaft fähig ist, ihre Grenzen zu stecken, so weit, als sie imstande ist, mit ihren Methoden vorzudringen. Keine äußere Gewalt, keine vorgefaßte oder sonst ersonnene Schranke darf existieren, welche sagt: Bis hierher und nicht weiter!« 64 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 66. 65 E. Du Bois-Reymond, Der physiologische Unterricht sonst und jetzt (1877), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. I, a. a. O., 648. 66 Ebd., 630. Das Physiologische Institut war die teuerste naturwissenschaftliche Einrichtung, die bis dahin jemals in Deutschland erbaut worden war. Die Kostenveranschlagung betrug die immense Summe von 300 000 Taler. Vgl. T. Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft: Forschung und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt /M. / New York 1992, 46–48. 67 T. Lenoir, Politik im Tempel der Wissenschaft, a. a. O., 25. 61

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V. Schachmatt dem Non-Ignorabimus? In seiner Rede Über die Grenzen des Naturerkennens behauptete Du Bois-Reymond nicht nur, daß es Erkenntnisgrenzen gibt. Ähnlich wie die »Mathematik eine Aufgabe für bewältigt hält, deren Unlösbarkeit sie bewies«68, beanspruchte Du Bois-Reymond den Nachweis der Richtigkeit seiner Behauptung erbringen zu können. Als Beweisform wählte Du Bois-Reymond den indirekten Beweis, auch reductio ad absurdum genannt. Ein indirekter Beweis ist ein Beweis, der vom Gegenteil dessen ausgeht, was bewiesen werden soll, also von einer Annahme, von der gezeigt wird, daß sie falsch ist, weil aus ihr ein Widerspruch abgeleitet werden kann. In einem ersten Schritt stellte Du Bois-Reymond die These auf, daß der (mechanische) Materialismus wahr und universell gültig ist. Wäre dies der Fall, müßte man auf seiner Basis, so die Schlußfolgerung Du Bois-Reymonds, alles erklären können, dürfte »also nichts zu erklären übrig«69 lassen. Daß dem nicht so sei, sah Du Bois-Reymond durch ein Gedankenexperiment belegt, welches auf der Idee eines universalen Weltgeistes fußt, dem personifizierten Sinnbild der mechanistischen Weltbeschreibung, dem Traum oder Alptraum bzw. dem »Endziel der Naturwissenschaften«, wie Helmholtz sich auszudrücken pflegte, nämlich »die allen anderen Veränderungen zugrunde liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik aufzulösen.«70 Bei Laplace ist zu lesen: »Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blick gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewußt hat, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.«71 68

E. Du Bois-Reymond, Goethe und keine Ende (1882), in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond (1886), Bd. II, a. a. O., 164. Vgl. Du Bois-Reymonds Brief an Dreher aus dem Jahre 1889: »Die ›Grenzen des Naturerkennens‹ sowohl wie ›die sieben Welträthsel‹, und Alles, was ich sonst in diesem Sinne geschrieben habe, gehen aus von dem Grundbestreben, die Welt mechanisch zu begreifen, und sofern das nicht gelingt, den unlösbaren Rest des Exempels bestimmt und klar auszusprechen. Dies glaube ich für meinen Theil befriedigend geleistet zu haben und komme damit zu einem Ruhepunkte des Denkens, ähnlich dem eines Mathematikers, welcher die Unmöglichkeit der Lösung einer Aufgabe bewiesen hat.« Zit. n. E. Dreher, Die Grundlagen der exakten Naturwissenschaften im Lichte der Kritik, a. a. O., 114. 69 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 442. 70 H. Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften, a. a. O., 40. 71 Zit. n. E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 443.

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In der ideal geordneten Welt des Laplaceschen Geistes ist der Zustand eines jeden Objekts zu jedem Zeitpunkt und damit jeder Vorgang und jedes Ereignis eindeutig bestimmt bzw. determiniert. Der Laplacesche Geist wäre sozusagen ein »vor- und rückwärts gewandter Prophet«72; für ihn wäre »›das Weltganze nur eine einzige Tatsache und eine große Wahrheit‹.«73 Doch es gebe etwas, »was der Laplace’sche Geist nicht zu durchschauen«74 vermag. Sein »mathematisch überlegender Verstand«75 stünde ratlos vor der Frage nach »den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ›Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot‹.«76 Er könne nicht erklären, »warum ein Akkord König’scher Stimmgabeln mir wohl-, und warum Berührung mit glühendem Eisen mir wehtut«77. Denn »[i]n seiner aus bewegter Materie aufgebauten Welt regen sich zwar die Hirnmolekeln wie in stummem Spiel. Er übersieht ihre Scharen, er durchschaut ihre Verschränkungen, und Erfahrung lehrt ihn ihre Gebärde dahin auslegen, daß sie diesem oder jenem geistigen Vorgang entspreche; aber warum sie dies tue, weiß er nicht.«78 Selbst für einen Laplaceschen Geist sei »›die Wahrnehmung, und was davon abhängt, aus mechanischen Gründen […] unerklärlich‹.«79 »Auch im Besitze der Weltformel jener dem unsrigen so unermeßlich überlegene, aber doch ähnliche Laplace’sche Geist wäre hierin nicht klüger als wir; ja nach Leibniz’ Fiktion mit solcher Technik ausgerüstet, daß er Atom für Atom, Molekel für Molekel, einen Homunculus zusammensetzen könnte, würde er ihn zwar denkend machen, aber nicht begreifen, wie er dächte.«80 Die Plausibilität der Argumentation Du Bois-Reymonds gegen einen allumfassenden wissenschaftlichen Erklärungsanspruch steht und fällt mit besagtem Gedankenexperiment. Wer wollte leugnen, daß wir Menschen im Gegensatz zu einem Laplaceschen Geist wissen, wie es ist, etwas wahrzunehmen, zu fühlen, 72

Ebd. Ebd., 444. 74 Ebd., 446. 75 Ebd., 459. 76 Ebd., 458. 77 Ebd., 459. 78 Ebd., 460. Vgl. Du Bois-Reymonds Verweis auf das Mühlengleichnis von Leibniz. Es lautet: »Stellt man sich eine Maschine vor, deren Bau Denken, Fühlen, Wahrnehmen bewirke, so wird man sie sich in denselben Verhältnissen vergrößert denken können, so daß man hineintreten könnte, wie in eine Mühle. Und dies vorausgesetzt wird man in ihrem Inneren nichts antreffen als Teile, die einander stoßen, und nie irgend etwas woraus Wahrnehmung sich erklären ließe.« (Zit. n. E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 78). 79 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 77 f. 80 Ebd., 69. 73

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zu empfinden? Bei näherer Betrachtung stellt jedoch das Gedankenexperiment mit dem Laplaceschen Geist den zentralen Schwachpunkt der Argumentation dar. Der Widerspruch, den Du Bois-Reymond auf der Basis seines Gedankenexperimentes konstruiert, ergibt sich daraus, daß die zur Diskussion stehende Theorie mit dem Alltags- und Erfahrungswissen konfrontiert wird. Wie jeder Mensch hat auch Du Bois-Reymond gelernt, seine Sinne zu gebrauchen, zu laufen und zu essen, ein bestimmtes Schmerzverhalten zu verinnerlichen, kurz: Er hat Lebenserfahrungen gesammelt. Im lebensweltlichen Kontext erfährt der Mensch sich stets als Teil der Welt. Diese Erfahrungen prägen unser individuelles Selbstverständnis ebenso wie unseren Umgang mit den Mitmenschen. Es ist der überkommene Hintergrund, mit Wittgenstein gesprochen, der als Vergleichsmaßstab zur Beurteilung dessen herangezogen wird, was der Laplacesche Geist (nicht) zu wissen und zu können imstande ist. Verkannt wird dabei, daß – einmal abgesehen davon, daß der Laplacesche Geist Sinnbild für den Mechanismus, nicht notwendig für den Materialismus ist – die Hypothese des Laplaceschen Geistes keine Person ist, der kognitive Fähigkeiten (wie Wissen) zugeschrieben werden könnten, sondern allenfalls eine Personifikation. Eine philosophische Position oder ein Weltbild, eine Theorie oder ein Modell kann selbst nichts wissen. Es sind wir Menschen, die damit Wissens- und Erklärungsansprüche verbinden. Schon Mauthner warf Du Bois-Reymond vor, daß Laplace mit seiner spielerischen Idee eines Weltgeistes nicht die »Vorstellung von einer außerordentlichen, aber doch eigentlich nicht übermenschlichen Intelligenz«81 intendierte. Du Bois-Reymond habe sie als solche ausgelegt. Dieser Kunstgriff zeige lediglich, daß »Du Bois-Reymond da ein Ende des menschlichen Denkens erblickte, wo sein eigenes, an den Materialismus geschultes Denken zu Ende gekommen war«82, was laut Mauthner einer »Bankrotterklärung der mechanischen oder materialistischen Weltanschauung«83 gleichkommt. Ohne Polemik, aber doch kritisch meinte Nägeli, die Vorstellung eines allwissenden Geistes als Versinnbildlichung der Hypothese einer möglichen Vollständigkeit mechanischer Naturbeschreibung führe ins Reich der metaphysischen Spekulation, die man gemäß Du Bois-Reymonds eigenem metaphysikkritischen Grundsatz des »Entia non sunt creanda sine necessitate«84 vermeiden

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F. Mauthner, Das philosophische Werk, Bd. I / 2: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1910), Wien 1997, 270. 82 Ebd., 279. 83 Ebd. 84 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 72.

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sollte. »Die Natur ist überall unerforschlich, wo sie endlos oder ewig wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden.«85 Aus diesem Grunde bezeichnete Nägeli »das Problem von Laplace von vornherein als nichtig.«86 Der Mensch kann nur von etwas wissen, das zu etwas anderem in Beziehung gesetzt und mit etwas anderem verglichen werden kann, weshalb »das Gebiet des Vorstellbaren und Wissbaren alles Endliche und Relative an den Dingen«87 betreffe. Metaphysische Fragen seien prinzipiell nicht entscheidbar, d. h. weder beweisbar noch widerlegbar, sondern Glaubenssache. Der Glaube und damit »das Gebiet des Mystischen und Unbegreiflichen«88 beginne, sobald es um »das Absolute, Unendliche, Ewige, Göttliche«89 gehe. Versteht man die Frage, ob Wissenschaft alles zu erklären vermag, als Entscheidungsfrage, dann kommen als Antwortmöglichkeiten nur ein Ja oder ein Nein bzw. ein Unentscheidbar in Betracht. Bedacht wird im Hinblick auf eine solche Betrachtungsweise nicht, daß Fragen auch falsch gestellt sein können. Dieser Einwand gegen Du Bois-Reymond stammt u. a. von Mach. Zwar war es, so Mach, »ein wesentlicher Fortschritt, daß Du Bois-Reymond die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist. Den wichtigen Schritt der Einsicht, daß ein prinzipiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten Fragestellung beruhen muß, hat er allerdings nicht getan. Denn er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt.«90 Über alles etwas aussagen zu wollen, hieße über nichts etwas zu sagen bzw. sagen zu können. Dies wäre nicht nur ein sinnloser Versuch. Er wäre in seinem Anspruch auch vermessen. Ob man gerechtfertigt behaupten kann, etwas erklärt zu haben, hängt vom Kontext ab, ergibt sich »auch aus der Situation des Sprechenden und der Angeredeten«.91 Und schließlich: Wer versuchte, aus 85

C. W. von Nägeli, Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss, a. a. O.,

573. 86

Ebd. Ebd., 558. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1900), Jena 1911, 256. 91 E. Mach, Beschreibung und Erklärung (1894), in: E. Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen (1896), Leipzig 1910, 411. Vgl. ebd., 426 f.: »Faßt man die Naturwissenschaft als etwas ganz oder fast ganz Fertiges, Erlernbares, als mitteilender Lehrer, so ist hierdurch eine Vorliebe für Erklärungen bedingt. Für den Forscher ist dieselbe Wissenschaft ein Werdendes, Veränderliches, Ephemeres; […] Welche Tatsachen in bezug auf Erklärung und Forschung im höchsten Range der Bewertung, im Vordergrunde des Interesses stehen, hängt von Zeitumständen ab.« 87

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den Atombewegungen des Hirns Denken, Fühlen, Wollen zu erklären, nähme fälschlicherweise an, letzteres sei jeweils ein durch die physikalische Brille erforschbares Objekt. »›Wie sollte es aber möglich sein, aus den Atombewegungen des Hirns die Empfindung zu erklären?‹ So hören wir fragen. Gewiß wird dies nie gelingen, sowenig als aus dem Brechungsgesetz jemals das Leuchten und Wärmen des Lichtes folgen wird. Wir brauchen eben das Fehlen einer sinnreichen Antwort auf solche Fragen nicht zu bedauern. Es liegt gar kein Problem vor.«92 »Mach hat am deutlichsten gesehen, daß die Ignoramus-Ignorabimus-Parole fürs Verständnis des Tuns der Wissenschaften die Folge hat, den Widersinn sichtbar zu machen, der in jedem Versuche steckt, das Subjekt des Naturerkennens als Objekt unter Objekten innerhalb der erkannten Natur selbst auffinden zu wollen.«93 Um dies zu illustrieren, hat sich Mach ein Bild einfallen lassen. 92

E. Mach, Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung (1882), in: E. Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen (1896), Leipzig 1910, 239. 93 H. Lübbe, Wissenschaft und Weltanschauung, a. a. O., 140.

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Es zeigt den Physiker in seinem Arbeitszimmer. Der Gelehrte liegt auf einem Kanapee, die Beine übereinandergeschlagen – offenbar nichts Besonderes. Ungewöhnlich, fast schon seltsam, ist die Perspektive. »Es fehlt, so scheint es, das Wichtigste, das Gesicht.«94 Nur umrißhaft sind angedeutet: ein Augenbrauenbogen, die Nasenspitze und der Schnurrbart. Um so deutlicher ist das zu sehen, was im Blickfeld der liegenden Gestalt liegt: das Bücherregal an der linken Wand, der Holzfußboden, das große Fenster mit Ausblick in die Landschaft. Um die (ohnedies stets unvollständig bleibende) Bildinterpretation zu unterbrechen – Mach hat sich hier einen Scherz erlaubt. Über den Entstehungshintergrund seiner Zeichnung ist in der Analyse der Empfindungen zu lesen: »Zur Entwerfung dieser Zeichnung bin ich etwa um 1870 durch einen drolligen Zufall veranlaßt worden. Ein längst verstorbener Herr v. L., dessen wahrhaft liebenswürdiger Charakter über manche Excentricität hinweg half, nötigte mich eine Schrift von Chr. Fr. Krause zu lesen. In derselben findet sich folgende Stelle: ›Aufgabe: Die Selbstanschauung ›Ich‹ auszuführen. Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus.‹ Um nun dieses philosophische ›Viel Lärm um Nichts‹ scherzhaft zu illustrieren, und zugleich zu zeigen, wie man wirklich die Selbstanschauung ›Ich‹ ausführt, entwarf ich die obige Zeichnung.«95 Mach parodiert hier mit Humor und nicht ohne ernsten Hintergedanken den Versuch einer Verbildlichung phänomenologischer Welt- und Leibverbundenheit. Der Witz seines Selbstbildnisses besteht darin, daß der Betrachter des Bildes genau das zu sehen bekommt, was sich im Gesichtskreis des auf dem Bild dargestellten Mannes, also Mach selbst, befindet. Geht es nach Lübbe, hätte man nicht besser das Subjekt-Objekt-Problem auf den Punkt bringen oder, vielleicht besser gesagt, ins Bild bringen und in Szene setzen können. Doch bei näherer Betrachtung verhält es sich mit der Aufgabe der Welt- und Selbstanschauung nicht ganz so einfach. In der Zeichnung ist nicht nur kein Gesicht zu sehen. Es fehlt auch die Darstellung des Blattes Papier, auf dem Mach seine Selbstanschauung festhielte. Der Akt des Zeichnens ist lediglich durch die bleistifthaltende Hand am rechten Bildrand angedeutet. Das einzige Blatt, das es gibt, ist jenes, auf dem die Zeichnung abgedruckt ist. Natürlich wäre es denkbar und machbar gewesen, das Blatt, auf dem er sich selbst porträtierte, darzustellen, etwa auf dem Schoß des Gelehrten. Ließe sich dann nicht nach dem Bild im Bilde, nach dem Beobachter des Beobachters des Beobachters usw. fragen? Doch halt: Fragen können falsch formuliert und Aufgaben falsch gestellt sein. Die Skizze Machs ist eben nur ein Bild. 94

M. Sommer, Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt / M. 1987, 19. 95 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen, a. a. O., 16.

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VI. Und nochmals: Der Mensch als Forscher und Objekt der Forschung Am Ende seiner 1984 in der englischen Originalausgabe erschienenen Studie Die Grenzen der Wissenschaft kommt Rescher zu dem Resultat: »Die Wissenschaft hat also ihre Grenzen. Sie besitzt nicht den Stein des Weisen: sie kann nicht alle die Fragen beantworten, die für uns wichtig sind.«96 Zum einen ist Wissen nur ein Wert unter vielen, zum anderen wissenschaftliche Erkenntnis nur eine Form der Erkenntnis unter anderen. Folgt man Rescher, ändert dies jedoch nichts an der Tatsache, daß die Wissenschaft »auf ihrem eigenen Territorium souverän ist. Innerhalb des Wirkungskreises ihrer eigenen Rechtsprechung sozusagen ist die Wissenschaft die oberste Instanz, weil sie dort allein und konkurrenzlos steht. Was auch immer ihre Schranken sein mögen, die Wissenschaft ist unser einziges Rüstzeug, wenn wir angemessen mit jenen Themen umgehen wollen, die ihren wahren Zuständigkeitsbereich konstituieren.«97 Diese Worte klingen wie ein später Refrain des Standpunktes, den schon Virchow, Du Bois-Reymond und andere wissenschaftliche Wortführer des 19. Jahrhunderts vertreten und verteidigt haben. Auch diese betonten immer wieder die Begrenztheit der wissenschaftlichen Erkenntnis und plädierten zugleich für die Freiheit und Autonomie der Wissenschaft. So bestand Du Bois-Reymond darauf: »Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturforscher Herr und Meister«98; und Virchow: »Innerhalb dieser Grenzen verlangen wir Freiheit.«99 Doch ist es wirklich so einfach, wie Rescher über hundert Jahre später meint, wenn er sagt, daß die Art von Wissen um den Menschen, mit dem die Wissenschaft umgeht, »das Wissen der äußeren Beobachtung und nicht der Gemeinsamkeit«100 ist? Die Wissenschaft, so Rescher, betrachtet »den Menschen, wenn er ihr Studienobjekt ist, als ein Ding und nicht als eine Person. […] Die Tatsache, daß ein Mensch eine Ansammlung von chemischen Elementen, ein Gebilde aus Fleisch und Knochen ist, das von irgendwelchen Wesen im Urschlamm abstammt, ist kein Grund, warum er nicht auch ein Freund sein sollte. Objektiv gesehen ist das Spielen einer Geige nichts weiter als das Schaben auf einer Darmseite, ein glühender Sonnenuntergang nichts weiter als eine Flut von Lichtstrahlen. Hindert sie das daran, eine manchmal geradezu über-

96

N. Rescher, Die Grenzen der Wissenschaft, Stuttgart 1985, 338. Ebd., 345. 98 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 460. 99 R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaft, a. a. O., 34. 100 N. Rescher, Die Grenzen der Wissenschaft, a. a. O., 337. 97

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irdische Schönheit zu erreichen? Hier von einem Konflikt zu sprechen hieße, sich zu verstricken in eine Konfusion verschiedener Betrachtungsperspektiven – verschiedener Denk- und Frageebenen. Die Wissenschaft steht zu diesen Problemen nicht im Gegensatz, sie ist hier einfach irrelevant; sie selbst beachtet sie einfach nicht, hat sie doch anderes zu tun.«101 Man denke sich nun aber folgendes Beispiel: Ein Team von Wissenschaftlern hat ein Meßgerät zur Registrierung von Schmerzen entwickelt. Seine Zuverlässigkeit soll an Menschen getestet werden. Zur Messung des Schmerzes werden den Probanden Elektroden am Kopf befestigt, sodann Schmerzen zugefügt, indem man sie z. B. mit Nadeln sticht oder mit Elektroschocks behandelt. Eine Versuchsperson, mit der man in dargestellter Weise verfährt, schreit fürchterlich und krümmt sich vor Schmerzen. Die Versuchsleiter blicken auf den Bildschirm, der die neuronale Aktivität und Intensität des Schmerzes anzeigen soll. Doch sie sehen nichts. Kein noch so geringes Ausmaß von Schmerz ist ablesbar. Simuliert der Proband? Täuscht er die Schmerzen nur vor? Soll man ihm Glauben schenken oder dem Meßapparat? Bei allen Plädoyers für das Recht der Wissenschaft auf Forschungsfreiheit: Wenn in der Wissenschaft der Mensch zum Untersuchungsgegenstand wird, »der Abstand zwischen dem Menschen als Forscher und dem Menschen als erforschtem Objekt eng wird«102 und »sich die Forschung, die doch dem Menschen dienen soll, gegen den Menschen«103 wendet, dann und immer dann steht der Wissenschaftler nicht nur vor Wissens-, sondern vor Gewissens- und Verantwortungsfragen, die eine Handlungsentscheidung verlangen – darüber, ob und welches Spiel man spielt. So mag zwar Rescher mit der Feststellung Recht haben: »Wo verschiedene Spiele gespielt werden, gibt es keine Konkurrenz.«104 Doch bleibt nicht die Frage, »was für ein Spiel ist jetzt überhaupt zu spielen?«105 Blicken wir am Ende zum Anfang zurück und fragen erneut: Gibt es Grenzen der Erkenntnis? Worin bestehen sie? Können wir davon wissen? Ist (für uns Menschen) ein Standpunkt denkbar, von dem aus sich entscheiden ließe, ob es (keine) Grenzen gibt? – Wäre es möglich, alles zu wissen, was es zu wissen gäbe, 101

Ebd., 337 f. J. Mittelstraß, Die Häuser des Wissens: wissenschaftstheoretische Studien, Frankfurt / M. 1998, 78. 103 Ebd. 104 N. Rescher, Die Grenzen der Wissenschaft, a. a. O., 339. 105 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hrsg. von G. H. von Wright unter Mitarb. von H. Nyman, Neubearb. des Textes durch A. Pichler, Frankfurt / M. 1994, 63. Die andere Version des Zitates lautet: »sondern immer wieder ist die Frage: ist dieses Spiel jetzt überhaupt zu spielen & welches ist das rechte Spiel?« 102

Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede

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dann gäbe es nichts (mehr), was sich noch wissen ließe. Das hieße, die Suche nach Wissen wäre an ihr Ziel und damit an ihr Ende gelangt. Also doch an eine Grenze? An welche Grenze? Der Blick zurück auf den Ignorabimus-Streit gibt keine endgültigen Antworten auf diese Fragen. Wenn er uns eine Lektion erteilt, dann vielleicht diejenige, daß die deskriptive Frage nach den Grenzen der Erkenntnis von der normativen Frage nach den Grenzen der Wissenschaft unterschieden werden sollte, auch wenn beide Fragenkomplexe de facto bis heute oftmals vermengt werden.

II. WIRKUNGEN IN DEN WISSENSCHAFTEN

Hans-Jörg Rheinberger

Der Ignorabimus-Streit in seiner Rezeption durch Carl Wilhelm von Nägeli* Emil Du Bois-Reymonds Rede von 1872 Über die Grenzen des Naturerkennens und die darin ausgesprochene Verzichtserklärung ist ein Bericht zur Lage der Naturwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert, ein Wetterleuchten am Horizont der Krise des Positivismus.1 Sie war, wie Andrea Reichenberger meint, aber auch ein »diplomatischer Schachzug« im Kulturkampf um Wissenschaft und Weltanschauung in Deutschland nach der Reichsgründung.2 Und sie war, wie man mit einem Wort von Hermann Lübbe sagen kann, gehalten »im Selbstgefühl des Repräsentanten einer Wissenschaft, die es sich bereits wieder leisten kann, die weltanschaulich Besorgten unter den Feinden ihrer jüngsten Fortschritte zu schonen«.3 Du Bois-Reymond, etwa Mitte Fünfzig und seit 1867 Ständiger Sekretär der Physikalisch-Mathematischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften, mitten in den Verhandlungen über den Bau des neuen Physiologischen Instituts an der Berliner Universität, nutzte das Forum der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig und plädierte in seiner Rede geradezu leidenschaftlich für eine Terrainverteilung. Die Naturwissenschaften müssen erstens, so der Elektrophysiologe Du Bois-Reymond, letztlich alle Erscheinungen reduzieren auf die Bewegung kleinster Teilchen, sie können aber ihre mechanischen Grundbegriffe – Materie, Kraft, Bewegung – nicht weiter begründen, sondern müssen sie setzen; * Für wertvolle Hinweise danke ich Kurt Bayertz. 1

Einen Überblick vermittelt F. Vidoni, Ignorabimus! Emil Du Bois-Reymond und die Debatte über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1991. 2 A. Reichenberger, Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede: ein diplomatischer Schachzug im Streit um Forschungsfreiheit, Verantwortung und Legitimation der Wissenschaft, in diesem Band. 3 H. Lübbe, Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du Bois-Reymond, in: G. Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert: Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim 1981, 129–148, 130.

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und sie stehen zweitens machtlos vor den Erscheinungen des Bewußtseins und des Denkens. Aus der ersten Grenze zieht Du Bois-Reymond den radikalen epistemologischen Schluß, daß »das Naturerkennen, welches vorher als unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig befriedigend bezeichnet wurde, in Wahrheit dies nicht tut, und kein Erkennen ist«, jedenfalls nicht im Sinne einer Letzterklärung, sondern »gleichsam nur Surrogat einer Erklärung« darstellt, eine gelegentlich »äußerst nützliche Fiktion«.4 Daß Du Bois-Reymond hier viel radikaler argumentiert als bloß der mechanischen Naturerklärung ihren beschränkten Ort zuzuweisen, sondern daß er sie gleichzeitig auch noch als Erklärung zur Fiktion deklariert, ist in der darauf folgenden heftigen Diskussion zunächst gar nicht so richtig wahrgenommen worden. Aus der zweiten Grenzziehung folgt ein ebenso radikales ontologisches Bekenntnis zu einem klaren Dualismus. Die Erscheinungen des Bewußtseins sind, so Du Bois-Reymond, »aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar«.5 Damit fallen sie als Gegenstände der Reflexion auch nicht in den Kompetenzbereich und unter das Regime der nach dem mechanischen Ideal vorgehenden Naturwissenschaften. Es wird also ein Bezirk freigesetzt, den Du Bois-Reymond in seiner Rede zwar nicht näher spezifiziert, der aber mindestens die Geisteswissenschaften, Teile der Psychologie, Religion und persönliche wie politische Entscheidungen umfaßt. Du Bois-Reymond konzediert diesen Bezirk den Nicht-Naturwissenschaftlern, er reklamiert ihn aber in seiner Eigenschaft als naturwissenschaftlicher Kulturträger auch für sich selbst.6 Im Jahr des Todes und aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts konnte Ernst Mach festhalten: »War es doch ein wesentlicher Fortschritt, dass Dubois die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntnis doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist. Den wichtigeren Schritt der Einsicht, dass ein prinzipiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten Fragestellung beruhen muss, hat er allerdings nicht getan. Denn auch er hielt, wie unzählige andere, das Handwerkszeug einer Spezialwissenschaft für die eigentliche Welt«.7 Am Schluß seiner Mechanik hatte Mach das Problem wie folgt auf den Begriff ge4

E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, zweite vervollständigte Auflage mit einer Gedächtnisrede von Julius Rosenthal, Bd. I, Leipzig 1912, 441–473, 447. 5 Ebd., 452. 6 Zum Thema Labor und Kultur bei Emil Du Bois-Reymond vgl. ausführlich S. Dierig, Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil Du Bois-Reymond und seine Laboratorien in Berlin, Göttingen 2006. 7 E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1896), Jena 91922, 256.

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bracht: »Die Mechanik fasst nicht die Grundlage, auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine Seite derselben.«8 Wenn »das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts eine Zeit war, in der Physiker sich gerne selbst zu den von ihnen erreichten Erfolgen beglückwünschten«,9 so mag Du Bois-Reymonds Rede zumindest im Rückblick so etwas wie einen Wendepunkt andeuten. Ich will den Weg hier nicht abschreiten, der von seiner Verzichtserklärung zur Grundlegung einer neuen epistemologischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften führte, die in Machs Lehre von der Denkökonomie ihren ersten pointierten Ausdruck fand. Stattdessen möchte ich die Auseinandersetzung analysieren, die der Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli 1877, fünf Jahre später, auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München mit der Rede Du Bois-Reymonds führte, auf der sich auch der denkwürdige Schlagabtausch zwischen Ernst Haeckel und Rudolf Virchow über die Deszendenztheorie abspielte. In den folgenden Jahren schrieb Nägeli dann seine eigene Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, welcher er bei der Veröffentlichung 1884 sein um neun Zusätze erweitertes Referat über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis beifügte.10 Wir werden sehen, daß Nägelis Auseinandersetzung mit Du Bois-Reymond sowohl eine epistemologische wie eine ontologische Kritik enthält. Hier soll versucht werden, diese in ihren Grundzügen darzustellen. In einer dem Referat vorangestellten Vorrede erklärt Nägeli den Inhalt seines Vortrags als »das Ergebnis der Gedankenarbeit eines ganzen Lebens«, des Lebens eines strengen Realisten, der aller Metaphysik abhold ist. Er attestiert seiner hastigen Ausarbeitung jedoch den Charakter einer »Gelegenheitsschrift«, der die Spuren ihrer Entstehung auf einer Gebirgsreise anhafteten.11 Nägeli war mit seiner Münchner Rede kurzfristig für den verhinderten Wiener Mineralogen Gustav Tschermak eingesprungen. Er mag wohl gespürt haben, daß die Stränge seiner Argumentation sich nicht an allen Stellen kohärent ineinander fügten. Er verstand sie aber dennoch insgesamt als Alternative zu einem strikten Ignorabimus, nicht zuletzt auch als die Alternative eines Biologen gegenüber der Perspektive eines Nervenphysikers. Die Basislinie seiner Argumentation besteht kurz und bündig darin, »dass das Gebiet des Vorstellbaren und Wissbaren alles Endliche und Relative an den Dingen, das Gebiet des My-

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E. Mach, Die Mechanik historisch-kritisch dargestellt (1883), Darmstadt 1976 (unveränderter reprographischer Nachdruck der 9. Auflage), Leipzig 1933, 484–485. 9 J. D. Barrow, Impossibility. The Limits of Science and the Science of Limits, Oxford 1998, 55. 10 C. W. von Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München / Leipzig 1884. 11 Ebd., 555–559.

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stischen und Unbegreiflichen aber das Absolute, Unendliche, Ewige, Göttliche ist«. Diese Grenze will Nägeli aber nur als die »unüberschreitbare Linie für das Wissbare überhaupt« verstanden wissen.12 Sie sagt weder etwas über den Umfang des Wissens diesseits noch etwas über den Charakter der Glaubenssachen jenseits dieser Linie aus. Sehen wir uns nun etwas näher an, wie Nägeli seine Argumentation aufbaut. Auch ihm geht es um die Schranken naturwissenschaftlicher Erkenntnis, er möchte sie jedoch anders als Du Bois-Reymond und vor allem umfassender bestimmen. Zunächst grenzt sich Nägeli als theoretisch motivierter Naturforscher von dem ab, was er als den naiven Relativismus der »sogenannten Praktiker« bezeichnet, der eine »sichere und bleibende Erkenntnis natürlicher Erscheinungen« überhaupt für unmöglich hält.13 Was den Wissenschaftler vom Praktiker unterscheidet, ist die Methode: Es ist das wissenschaftliche Experiment, das im Idealfall die theoretische Gestalt einer Gleichung mit gerade einer Unbekannten annimmt. Aber auch über den methodisch vorgehenden Naturforscher, der in der Regel die Grenze seines Wissens an der Grenze der für ihn feststehenden Tatsachen zieht, will Nägeli hier hinausgehen und die grundsätzliche Frage klären, ob es eine Grenze gibt, an der naturforschendes Erkennen überhaupt Halt machen muß. Genau dieses Ziel aber hat Nägeli zufolge Du Bois-Reymond mit seiner Rede verfehlt. Sie war im Urteil Nägelis gar keine Rede über die Grenzen des Naturerkennens, wie es der Titel verhieß, sondern in Wahrheit eine über die »Nichtigkeit oder Unmöglichkeit des Naturerkennens« überhaupt, wie es der Münchner Botaniker klar sah und für die zeitgenössische Debatte unmißverständlich festhielt.14 An der Möglichkeit des Naturerkennens überhaupt war Nägeli aber unbedingt gewillt festzuhalten. Alles Naturerkennen läuft über die sinnliche Wahrnehmung und damit eine materielle Wechselwirkung mit der Welt. Obwohl die sinnliche Wahrnehmung evolutionär nicht auf Erkenntnis, sondern auf Lebensbewältigung orientiert ist und uns somit im Einzelnen über die Beschaffenheit der Dinge täuschen kann, wie Nägeli meint, vermag sie uns letztlich aber doch deswegen zu einer im »Object begründeten Wahrheit« zu führen, weil die Naturwissenschaften ein kollektives Unternehmen sind: ein Prozeß einer intersubjektiven Eliminierung von Irrtümern.15 Die Wahrnehmung scheitert aber an der Endlosigkeit des Raumes und der Zeit. Die Natur kann deshalb »als Ganzes nicht erfasst werden«, und zwar grundsätzlich nicht. Deshalb beruht auch die Du Bois-Rey12 13 14 15

Ebd., 558 f. Ebd., 560. Ebd., 564. Ebd., 566.

Der Ignorabimus-Streit in seiner Rezeption durch C. W. von Nägeli

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mondsche Idealvorstellung eines Laplaceschen Geistes auf einem Trugschluß.16 Alles Erkennen bleibt im endlichen Horizont der sinnlichen Wahrnehmung und darf auch nur zu Schlüssen innerhalb dieses Horizontes in Anspruch genommen werden. An diesem Punkt argumentiert Nägeli gegen Du Bois-Reymonds mechanizistische Reduktion mit der Berufung auf einen epistemologischen Pluralismus. Er gesteht zwar zu, daß in den »elementaren Gebieten des Stofflichen« für das ursächliche Erkennen das mechanische Paradigma gilt. Dies impliziert für ihn jedoch nicht, daß es auch für »die höheren Gebiete des Stofflichen« Gültigkeit besitzt, vielleicht nicht einmal für die »Gestaltung« überhaupt. Das muß nicht heißen, daß damit zugleich auch auf Messen und Quantifizierung verzichtet werden muß. Im Gegenteil: Alle »Erkenntnis der natürlichen Dinge beruht […] darauf, dass wir sie messen entweder durch einander oder durch sich selber«. Aber das richtige Maß muß jeweils aus den Dingen selbst abgeleitet werden, mit denen man es zu tun hat: »Indem ich die naturwissenschaftliche Erkenntniss als eine mathematische und zugleich als eine relative bezeichne, welche die Dinge jeweilen nach einem aus ihnen selbst abgeleiteten Maass beurtheilt, weiche ich wesentlich von meinem Vorgänger, Du Bois Reymond, ab […]«.17 Nägeli operiert hier demnach mit einem viel weiteren Begriff der Naturwissenschaften und verwirft es grundsätzlich, diese auf die Mechanik zu reduzieren. Er folgt Du Bois-Reymond auch nicht einmal in der Forderung, alle Naturwissenschaft müsse mit den kleinsten Dingen beginnen. Gemessen werden kann überall, wo Selbstähnlichkeit und damit Vergleichbarkeit gegeben ist. Die Naturwissenschaften können also »ihren Anfang überall [finden], wo der Stoff sich zu Einheiten gleicher Ordnung gestaltet hat, die unter einander verglichen und durch einander gemessen werden können«. Damit finden die naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht in einer Grunddisziplin wie etwa der Mechanik ihre Berechtigung, auf der sie notwendigerweise aufzubauen und auf die sie sich letztlich zurückführen zu lassen hätten; sie finden vielmehr ihre Berechtigung jeweils »wesentlich in sich selber«. Sie entwickeln ihre eigenen Maße und damit auch ihre eigenen Mess- und Experimentalregimes. Der Raum der Naturwissenschaften ist plural verfaßt und damit nach vorne offen: »Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche erkennen, das in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung fällt«.18 Wir müssen uns nun der zweiten, der ontologischen Frage zuwenden. Wie verhält sich Nägeli zu Du Bois-Reymonds kategorischer Feststellung, das Bewußtsein sei dem Zugriff der Naturwissenschaften entzogen, ja geradezu der 16 17 18

Ebd., 573. Ebd., 580 ff. Ebd., 583 ff.

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Forderung, daß es ihnen zu entziehen sei? Man kann sich schlecht dagegen wehren, sagt Nägeli, denn wer so argumentiert, stellt sich damit selbst außerhalb der Naturwissenschaft und kann somit auch nicht mehr von naturwissenschaftlichen Argumenten getroffen werden. Naturwissenschaftliche Argumentation kann aber die Überflüssigkeit der Annahme plausibel machen, das Bewußtsein bewege sich grundsätzlich jenseits aller naturwissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten. »Die Aufgabe wäre also die, zu erkennen, wie die Kräfte des unorganischen Stoffes in dem zu Organismen gestalteten Stoffe sich combiniren, dass ihre Resultirenden Leben, Gefühl, Bewusstsein darstellen. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in weiter Ferne; aber sie ist möglich«.19 Nägeli hält in diesem Zusammenhang zwei Argumente bereit. Zum einen folgt er Du Bois-Reymond in der Problembeschreibung, daß nämlich die materiellen Bedingungen, die dem Geistigen zugrunde liegen, sehr wohl ausgemacht werden können, daß jedoch »das Zustandekommen« des Geistigen aus dem Materiellen dadurch nicht plausibel zu machen ist. So verhält es sich aber mit emergenten Phänomenen überhaupt, und wo immer eine Ursache eine Wirkung zeitigt, behauptet Nägeli: »Es wäre ein Irrthum, anzunehmen, dass wir das Zustandekommen des Naturlebens überhaupt aus seinen Ursachen begreifen«. Die Schwierigkeiten, die wir damit haben, sind im Bereich des Unorganischen aber nicht kleiner als im Bereich der Bewußtseinserscheinungen. »Wir wissen aus Erfahrung, dass in der unorganischen Welt die Ursache in der Wirkung aufgeht, aber es ist uns unfassbar, wie die Übertragung geschieht«.20 Zum anderen greift Nägeli an dieser Stelle zu einer radikalen, hylozoistischen Überdeterminierung seines Arguments. Sowenig die Empfindung dem Menschen abgesprochen werden kann, kann sie es den höheren Tieren. Dann ist aber schwer einzusehen, warum sie nicht auch den niederen Tieren zukommen sollte, ebenso wenig den Pflanzen, und schließlich auch nicht den unorganischen Körpern. Und so kommt er zu der zunächst etwas überraschend anmutenden Lösung, daß die Verschiedenheit der Naturkörper nur eine gradweise ist und daß der Geist von Anfang an mit dabei war: »Fassen wir das Geistesleben in seiner allgemeinsten Bedeutung als den immateriellen Ausdruck der materiellen Erscheinung, als die Vermittlung von Ursache und Wirkung, so finden wir es überall in der Natur. Geistige Kraft ist das Vermögen der Stofftheilchen, auf einander einzuwirken«. Der Geist hat seine Existenz in der Vermittlung von Ursache und Wirkung schlechthin. Er ist der Kausalnexus, der in seiner entwickeltsten Form, dem kausalen Naturwissen – so könnte man hinzufügen – gewissermaßen zu sich selbst kommt. Konsequenterweise gibt es in der Natur dann auch nur gradweise Unterschiede. »Diese Anschauung«, 19 20

Ebd., 591–592. Ebd., 594, Hervorhebung hinzugefügt.

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meint Nägeli, »befriedigt auch vollständig unser causales Bedürfnis. Es ist für den Naturforscher eine logische Nothwendigkeit, in der endlichen Natur nur gradeweise Unterschiede gelten zu lassen. Wie es für alles Räumliche, ebenso für alles Zeitliche ein Maass gibt, so muss es auch ein gemeinsames Maass für die geistigen Vorgänge geben«.21 Im fünften »Zusatz« zu seiner Rede, der über »Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen« und über »morphologische Wissenschaften« handelt, hat Nägeli diesen Gradualismus allerdings qualifiziert: »Die Ausdehnung der Erkenntnis und der Erinnerung auf alle Körper ist die Folge einer unrichtig angewendeten Analogie. Man meint, es könne in der Reihe der natürlichen Dinge, da ja alle aus derselben Substanz bestehen, nicht irgendwo etwas gänzlich Neues auftreten, und es müssen daher die Eigenschaften der zusammengesetzten Körper auch schon den einfachen zukommen. Aber die Identität in allem Seienden beschränkt sich auf die elementaren Kräfte und Bewegungen. Von solchen kann allerdings in dem Zusammengesetzten nichts Neues beginnen. Das Neue liegt in der Zusammensetzung selbst. Auf jeder höheren Stufe der Zusammensetzung sind die elementaren Kräfte und Bewegungen auf eine vorher nicht da gewesene Art combinirt«.22 Dem »neuen Dualismus« von Du Bois-Reymond setzt Nägeli also, hierin dem lautstark gegen den Berliner Physiologen zu Feld ziehenden Ernst Haeckel aus vorsichtiger Distanz folgend,23 ontologisch einen Monismus entgegen, der in einem merkwürdigen Kontrast zu seinem epistemologischen Pluralismus steht. Er hält ihn zumindest für eine Lösung, die »mehr mit unseren Erfahrungen und unseren theoretischen Vorstellungen übereinstimmt« als eine dualistische Position.24 Warum allerdings dieser »richtige Materialismus« ein streng »empirischer« und »kein philosophischer« sein soll,25 bleibt Nägelis Geheimnis. Doch blieb Nägeli mit dem Versuch einer solchen Lösung nicht allein. Ein Blick in den abschließenden von August Weismanns Vorträgen über Deszendenztheorie zeigt, daß der Freiburger Zoologe Weismann zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also fast ein Vierteljahrhundert später, seine – den Nägelischen 21

Ebd., 598–599. Ebd., 655–656. 23 Häckel sprach noch Jahre nach dem Tod Du Bois-Reymonds, in seiner auf dessen Rede zum Leibniztag der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften im Juli 1880 Bezug nehmenden Schrift über die Welträtsel martialisch von den »dogmatischen Machtsprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der Berliner Akademie der Wissenschaften«. (E. Haeckel, Die Welträthsel (1899), Volksausgabe, Bonn 1903, 74.) 24 C. W. von Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, a. a. O., 594. 25 Ebd., 600. 22

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übrigens diametral entgegengesetzten – evolutionsbiologischen Überlegungen mit dem gleichen Argument und unmißverständlichem Bezug auf Nägeli abschließt, wenn auch mit vorsichtiger Infragestellung seines Erklärungspotentials: »Man hat in neuerer Zeit öfters darauf hingewiesen, dass die psychischen Funktionen des Körpers sich in der Stufenfolge der Organisation ganz allmälig erst steigern und von niedersten Anfängen genau entsprechend der Organisationshöhe der Art langsam emporsteigen bis zur Intelligenz des Menschen; dass sie bei niederen Tierformen unmerklich beginnen, so dass wir nicht angeben können, wo eigentlich ihr Anfang liegt, und man hat daraus mit Recht geschlossen, dass die Elemente der Psyche nicht erst in den histologischen Teilen des Nervensystems ihren Ursprung nehmen, sondern aller lebendigen Substanz eigen sind; man hat weiter gefolgert, dass schon die anorganische Materie sie enthalte, wenn auch in unerkennbarem Zustand, und dass ihr Hervortreten bei der lebenden Substanz gewissermaßen nur ein Summationsphänomen sei. Wenn wir Recht haben mit unserer Annahme einer Urzeugung, so kann es ja wohl nicht anders sein, aber begriffen haben wir den Geist doch noch nicht damit, dass wir dies sagen, sondern höchstens uns den Vorteil und das Recht gesichert, diese Welt, soweit wir sie kennen, als ein Einheitliches vorzustellen – Monismus«.26 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Nägeli unter epistemologischen Gesichtspunkten einem Pluralismus zuneigt, der sich pragmatisch an den Untersuchungsgegenständen orientiert und der Du Bois-Reymond in seiner unbedingten mechanischen Reduktion also nicht folgt. Er folgt ihm aber auch nicht in dem Schluß, daß sich aus der Unableitbarkeit der mechanischen Grundbegriffe ergebe, alle mechanische Theorie sei allein »nützliche Fiktion«. Unter ontologischen Gesichtspunkten jedoch entscheidet sich Nägeli für einen hylozoistischen Monismus. In beiden Positionen kann man die Vorliebe eines Biologen – gegenüber einem Physiker der Nerven und der Muskeln – erblicken, der als seinen Gegenstand ein organisiertes, komplexes, evolvierendes System vor Augen hat, dem es also letztlich darum geht, um es mit den späteren Worten Max Hartmanns auszudrücken, die »spezifischen Gesetze der Komplizierung [zu ermitteln], die das Wesen dieser besonderen, individualisierten Naturkörper bestimmen«.27 Wilhelm Ostwald hat 1895 in seiner Rede auf der 67. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Lübeck bemerkt: »In dem langen Streite, welcher sich an diese Rede geknüpft hat, ist, soviel ich sehen kann, Du Bois-Reymond allen Angriffen gegenüber sachlich der Sieger geblie26

A. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, Bd. II, zweite, verbesserte Auflage, Jena 1904, 327 f. 27 M. Hartmann, Die Kausalität in Physik und Biologie (1937), in: Gesammelte Vorträge und Aufsätze II: Naturphilosophie, Stuttgart 1956, 152.

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ben, denn alle seine Gegner sind von derselben Grundlage ausgegangen, aus der er sein ignorabimus folgerte, und seine Schlüsse stehen ebenso sicher da, wie jene Grundlage. Diese Grundlage, welche inzwischen von keinem in Frage gestellt worden war, ist die mechanistische Weltanschauung, die Annahme, dass die Auflösung der Erscheinungen in ein System bewegter Massenpunkte das letzte Ziel ist, welches die Naturerklärung erreichen könnte. Fällt aber diese Grundlage, und wir haben gesehen, dass sie fallen muss, so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn«.28 Das stimmt nicht ganz. Carl von Nägeli ist zumindest ein Stück weit auf diesem Weg gegangen. Aufs Ganze gesehen aber hat er sich nicht dem entziehen können, was Ernst Mach einmal als die »mechanische Mythologie« bezeichnet hat, und er glaubte dieser entkommen zu können im Rückgriff auf eine Position, die Mach zweifellos unter dem Stichwort einer noch älteren »animistischen Mythologie« rubriziert hätte.29

28

W. Ostwald, Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, 67. Versammlung, Lübeck 1895. 29 E. Mach, Die Mechanik historisch-kritisch dargestellt, a. a. O., 443.

Dietrich von Engelhardt

Das Ignorabimus Du Bois-Reymonds in Medizin und Psychiatrie

Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) gehört mit Rudolf Virchow (1821–1902), Hermann von Helmholtz (1821–1894), Ernst Haeckel (1834–1919), Ernst Mach (1838–1916), Ludwig Eduard Boltzmann (1844–1906), Wilhelm Ostwald (1853–1932) zu den deutschen Medizinern und Naturforschern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich intensiv mit philosophischen, wissenschaftstheoretischen und sozialkulturellen Dimensionen ihrer Disziplinen beschäftigen und deren Ausführungen auch bei Geisteswissenschaftlern und besonders Philosophen Beachtung gefunden haben. Von der Forschung wurden bislang vor allem die Rezeption der Philosophie bei Du Bois-Reymond sowie umgekehrt die Rezeption Du Bois-Reymonds in der Philosophie und ebenfalls den Naturwissenschaften untersucht. Der folgende Beitrag wendet sich deshalb nach entsprechenden Hinweisen auf die Naturwissenschaften speziell medizinischen Disziplinen zu.1 Wie sehr die von Du Bois-Reymond ausgelöste Debatte auch heute an Bedeutung noch nicht verloren hat, zeigen gegenwärtige Auseinandersetzungen zwischen Neurobiologen, Philosophen, Pädagogen, Psychologen und Juristen über die Beziehung von Gehirn und Bewußtsein, über Erziehung und Umwelt, über Freiheit und Verantwortung.

1

K. Bayertz, Siege der Freiheit, welche die Menschen durch die Erforschung des Grundes der Dinge ertragen. Wandlungen im politischen Selbstverständnis deutscher Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 10 (1987), 169– 183 u. K. Bayertz, Das leidige Ignorabimus. Ein Abgesang auf den naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 189–202; G. Domin, Einige philosophiehistorische Fragen zu den theoretischen Auseinandersetzungen Emil du Bois-Reymonds, in: Naturwissenschaft – Tradition – Fortschritt, Beiheft zu NTM, Berlin 1963, 112–118; D. von Engelhardt, Du Bois-Reymond ›Über die Grenzen des Naturerkennens‹ – eine naturwissenschaftliche Kontroverse im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Communicationes de Historia Artis Medicinae, 80 (1976), 9–25; D. von Engelhardt, Du Bois-Reymond im Urteil der zeitgenössischen Philosophie, in: G. Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert. Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim 1981, 187–205; D. von Engelhardt, Kausalität und Konditionalität in der modernen Medizin, in: H. Schipperges (Hg.), Pathogenese. Grundzüge und Perspektiven einer Theoretischen Pathologie, Berlin 1985, 32–58; C. Gradmann, Geschichte als Naturwissenschaft: Ernst Hallier und Emil du Bois-Reymond als Kulturhistoriker, in: Medizinhistorisches Journal 35 (2000), 31–54; K. Johnsson, Ignorabimus. En debatt om naturvetenskapens gränser i den tyska och svenska kulturkampen, in: Lychnos, (1985), 89–153; F. Herneck, Emil Du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung, in: Forschung

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I. Resonanz in den Naturwissenschaften Die Grenzziehung Du Bois-Reymonds löst nicht nur in der Philosophie, sondern ebenfalls vor allem in den Naturwissenschaften und auch in der Medizin Diskussionen aus, wobei die Grenzen zwischen diesen Disziplinen nicht immer klar zu ziehen sind. In den Kontroversen geht es um die Freiheit der Forschung, die Naturerkenntnis als Ursachenerklärung oder Beschreibung, die Relation von Mechanismus und Organismus, den Nativismus, die Leib-Seele Beziehung, die Willensfreiheit, das Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Noch mehr als in der Philosophie werden in diesen Auseinandersetzungen Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie mit Wissenschaftspolitik und allgemeiner Politik verbunden – das gilt für Reaktionen der Zustimmung wie der Ablehnung. Die Diskussionen greifen in den Naturwissenschaften und der Medizin auch über Deutschland hinaus. Du Bois-Reymonds Reden werden in andere Sprachen übersetzt und im Ausland erörtert. 1878 setzt sich der französische Mathematiker und Physiker Joseph Boussinesq (1842–1929) in seiner Studie Conciliation du véritable déterminisme avec l’existence de la vie et de la liberté morale mit Du Bois-Reymond auseinander und skizziert eine Möglichkeit, Mechanismus, Freiheit und Ethik zu verbinden. 1879 stimmt der niederländische Physiologe und Ophthalmologe Franciscus Cornelis Donders (1818–1889) in seinem Eröffnungsvortrag auf dem 6. Congrès Périodique International des Sciences Médicales in Amsterdam Du Bois-Reymonds Grenzziehung der Naturerkenntnis zu: »Ajoutons, que tout nous port à croire que les mouvements moléculaires de cette substance et les manifestations psychiques, sont congénères, – qu’il y a entre eux des rapports absolus. Mais quant à la nature de ces

und Wirken. Festschrift zur 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität Berlin, Bd. 1, Berlin 1960, 229–251; R. Malter, ›Kausalitätstrieb‹ und Erkenntnisschranke. Zur philosophischen Grundposition Emil Du Bois-Reymonds, in: G. Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert, a. a. O., 45–77; G. Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert: Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim 1981; K. E. Rothschuh, Emil Du Bois-Reymond, in: Dictionary of Scientific Biography, Bd. 4, New York 1971, 200–205 u. K. E. Rothschuh / E. Tutte, Emil Du Bois-Reymond (1818–1896). Bibliographie, Originalien und Sekundärliteratur, in: Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin, Festschrift für Georg Uschmann, Acta Historica Leopoldina 9 (1975), 113–136; F. Vidoni, Emil Du Bois-Reymond und die Debatte über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1991 (ital. 1988); S. Wollgast, Einleitung, in: E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hrsg. von S. Wollgast, Hamburg 1974, V–LX u. S. Wollgast, Emil du Bois-Reymonds naturwissenschaftlicher Materialismus, in: Wissenschaft und Fortschritt 29 (1979), 235–239.

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rapports, la plus grande des énigmes, nous ne pouvons nous en faire aucune idée.«2 Das Verhältnis der physischen und psychischen Phänomene bleibe »inexpliqué et inexplicable«3, was nur ein anderer Ausdruck für die Formel ›Ignoramus – Ignorabimus‹ sei. Der weißrussische Physiologe Sergej Ivanovič Čir’ev (auch Tschirjew, 1850–1919), der bei Du Bois-Reymond und Carl Ludwig (1816–1895) in Leipzig studiert und eine Physiologie des Menschen (russ. 1888) veröffentlicht hat, würdigt Du Bois-Reymond 1897 in einer knappen Studie in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie.4 1894 wendet sich der schwedische Physiologe Hjalmar Öhrvall (1851–1929) in einem Zeitschriftsaufsatz gegen die dualistische Position von Du Bois-Reymond. Zustimmend wird in einem Nekrolog in den Proceedings of the Royal Society of London 1905 an Du Bois-Reymonds Grenzziehung erinnert: »He did so in common with his three great contemporaries, Helmholtz, Brücke, and Ludwig, and with them helped to introduce into physiology further (but not final) physical and chemical analysis.«5 Du Bois-Reymonds Schüler Isidor Rosenthal (1836–1915) läßt eine positive Würdigung in der französischen Revue Scientifique von 1897 erscheinen: »Il insistait sur les limites restreintes de nos connaissances en démontrant que l’hypothèse du mouvement de partie infiniment petites n’expliquera jamais comment ces mouvements peuvent devenir conscience et sensation.«6 Der finnische Physiologe Robert Tigerstedt (1853–1923) entwirft 1897 in der schwedischen Zeitschrift Hygiea ebenso ein anerkennendes Bild wie ebenfalls 1897 der ungarische Physiologe Lajos Thanhoffer (1843–1909) in den Sitzungsberichten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Gleichzeitig läßt sich ein zunehmendes Desinteresse unter den Naturforschern und Medizinern der Zeit an wissenschaftstheoretischen Fragen beobachten – vergleicht man in dieser Hinsicht die Situation um 1850–1900 mit der Zeit des Deutschen Idealismus und der Romantik um 1800. Diesem Desinteresse entspricht allerdings ein paralleles Desinteresse der Philosophen und allgemein der Geisteswissenschaftler an den Naturwissenschaften und ebenso der Medizin. Die Erörterungen über Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie werden immer weniger von Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern gemeinsam geführt. Theoretische Positionen und Konzepte von Philosophen sind seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres auch repräsentativ für 2

F. C. Donders, Discours d’ouverture, in: 6. Congrès Périodique International des Sciences Médicales, Compte-rendu 6 (1879) 1880, 15–37. 3 Ebd., 32. 4 S. I. Tschirjew (= Čir’ev), Emil Du Bois-Reymond. 1818–1896, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie (1897), 192. 5 A. D. W., Emil Du Bois-Reymond. 1818–1896, in: Proceedings of the Royal Society of London (1905), 126. 6 I. Rosenthal, Emile du Bois-Reymond, in: Revue Scientifique, 4.sér., 7 (1897), 393.

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das Selbstverständnis der Naturwissenschaftler und Mediziner; ähnliches gilt umgekehrt ebenfalls für wissenschaftstheoretische Beiträge, die von Naturforschern und Medizinern verfaßt werden. Unter den naturwissenschaftlichen Reaktionen verdienen aus wissenschaftshistorischer Sicht besondere Beachtung die Abhandlungen des Biologen Ernst Haeckel und des Botanikers Carl von Nägeli (1817–1891), die wie Du Bois-Reymonds Rede vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte vorgetragen und ebenfalls in andere Sprachen übersetzt werden. Die Auseinandersetzung mit Du Bois-Reymond ist nicht selten zugleich eine Auseinandersetzung mit Haeckel und auch Virchow. Reaktionen auf Du Bois-Reymond gibt es bereits vor der IgnorabimusRede von 1872. Der Mechanismus-Standpunkt von Du Bois-Reymond und seine Kritik an Haeckels Eintreten für Darwin wird zum Beispiel von Rudolf Wagner (1806–1861) in seiner Besprechung 1861 der Gedächtnisrede Du Bois-Reymonds auf Johannes Müller von 1858 behandelt, wobei sich Wagner ausdrücklich vom vergangenen Vitalismus distanziert, dem »Archäus« des Jean Baptiste van Helmont, (1577–1644) der »vis essentialis« von Christian Wolff (1679–1754), dem »nisus formativus« von Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) sowie der »Lebenskraft« der romantischen Naturforscher und idealistischen Naturphilosophen.7 Haeckel protestiert 1877 in seinem Vortrag Ueber die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft gegen das »leidige Ignorabimus« Du Bois-Reymonds, da niemand vorhersagen könne, »welche ›Grenzen des Naturerkennens‹ der menschliche Geist im weiteren Gange seiner erstaunlichen Entwickelung noch künftig überschreiten«8 werde. Die Beziehung von Materie und Bewußtsein stelle kein Problem dar, da Atome und Zellen beseelt seien. Die Zellseele soll aus Atomseele entstanden sein und selber »durch eine erstaunliche Reihe von allmählichen Entwickelungsstufen sich bis zur Menschenseele emporgearbeitet«9 haben. Bewegung und Empfindung – die Grundphänomene der körperlichen und geistigen Welt – werden identifiziert. Du Bois-Reymonds Grenzen hält Haeckel bereits in der Gegenwart für überwunden und zwar von seinem monistischen System, das nach ihm die Basiswissenschaft der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften abgebe. Eine Begründung, in welcher Weise im Monismus Du Bois-Reymonds zwei

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R. Wagner, Bericht über die Arbeiten in der allgemeinen Zoologie und der Naturgeschichte des Menschen im Jahre 1861, in: Archiv für Naturgeschichte, 28 (1862) (2), 1–48. 8 E. Haeckel, Ueber die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammtwissenschaft, Stuttgart 1877; auch in: Amtl. Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 19. 9 Ebd., 22.

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Probleme sich nicht mehr stellen, liefert Haeckel allerdings nicht. Die ideologische Verteidigung des Monismus ist ihm wichtiger als die Analyse erkenntnistheoretischer Fragen. Da Haeckel die Entwicklungslehre zu einer Weltanschauung erheben will, zur Grundlage von Staatswissenschaft, Jurisprudenz, Philosophie und Theologie, von Gesellschaft, Politik und Kultur, erscheint ihm jenes ›Ignorabimus‹, ausgesprochen von einem anerkannten und berühmten Naturforscher der Zeit, als eine gefährliche Waffe in den Händen der philosophischen und theologischen Gegner des Monismus; nur zu bereitwillig hätten diese Du Bois-Reymonds Grenzziehung als ein ›testimonium paupertatis‹ der Naturwissenschaft aufgegriffen und für sich genutzt. Erkenntnistheoretisch fallen dagegen von Nägelis Einwände aus, die dieser im Jahre 1877 in seiner Rede Ueber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss gegen Du Bois-Reymond vorbringt. Aus der Interpretation von Subjekt (Ich), Objekt (Natur) und Erkenntnis gewinnt von Nägeli einen Begriff der Naturerkenntnis als Erkenntnis der Empirie. Auch der Laplace’sche Geist sei beschränkt und dies aufgrund der Unendlichkeit der Natur, sowohl in der Dimension des Raumes als auch in der Dimension der Zeit: »Die Natur ist überall unerforschlich, wo sie endlos oder ewig wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden, denn ein Process des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, führt nicht zur Erkenntnis. – Deswegen erscheint auch das Problem von Laplace von vorneherein als nichtig.«10 Anders als Du Bois-Reymond setzt auch von Nägeli dem naturwissenschaftlichen Erkennen eine Grenze; selbst ein denkbares Ideal der Naturerkenntnis bleibe stets unerreichbar, der naturwissenschaftliche Progreß könne einen Abschluß nie finden. Die zwei Grenzen Du Bois-Reymonds lehnt von Nägeli, was er in seinen Publikationen Die Individualität der Natur (1856) und Die Bewegung im Pflanzenreich (1859) noch nicht getan hat, dagegen ab. Zum einen spricht von Nägeli den organischen Kräften analoge Kräfte schon der anorganischen Natur zu; von den Elementen und Kristallen führe eine Entwicklung zunehmender Komplexität über Pflanzen- und Tierzellen und das embryonale und kindliche Bewußtsein zu den höchsten Formen des Geistes. In diesem Sinne habe die Naturwissenschaft die Aufgabe, »das Bewusstsein durch die unbewusste Empfindung bis zum empfindungslosen Reiz der Stofftheilchen zu verfolgen.«11 Das Problem der Beziehung von Materie und Bewußtsein lasse sich zum anderen über das Verständnis der Naturerkenntnis im Sinne von Gustav Robert Kirchhoff (1824–1887), James Clerk Maxwell (1831–1879) und Ernst Mach (1836–1916) als ›Naturbeschreibung‹ überwinden; Kausalität 10

C. W. von Nägeli, Ueber die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss, in: Amtl. Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 31. 11 Ebd., 40.

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wird durch Deskription ersetzt; damit relativiert oder erübrigt sich auch die Frage des ontologischen Überganges von der Materie zum Bewußtsein. Der aus seiner Sicht »niederschmetternden« Wendung: ›Ignoramus und Ignorabimus‹ stellt von Nägeli den zuversichtlichen Satz entgegen: »Wir wissen und wir werden wissen.«12 Du Bois-Reymond reagiert auf seine naturwissenschaftlichen Kritiker, mehrfach geht er auf die von Haeckel und von Nägeli vorgetragenen Einwände ein. Eine umfassende Darstellung und weitere Begründung seines Standpunktes enthält die Arbeit Die sieben Welträtsel aus dem Jahre 1880. Du Bois-Reymond hält Boussinesq vor, ihn im Blick auf die fundamentale Unterscheidung von belebter und unbelebter Natur mißverstanden zu haben. Während »in den unorganischen Individuen, den Kristallen, die Materie sich in stabilem Gleichgewicht« befinde, herrsche »in den organischen Individuen, den Lebewesen, mehr oder minder vollkommenes dynamisches Gleichgewicht der Materie.«13 Haeckel wiederum habe die erkenntnistheoretische Argumentation seiner Rede nicht begriffen; man müsse es aber wohl einem »mehr in Anschauung von Formen geübten Morphologen« verzeihen, »wenn er Begriffe wie Wille und Kraft nicht auseinanderzuhalten vermag.«14 Im übrigen stelle sich selbst unter der Annahme von Atomseelen und Plastidulseelen erneut das Problem der Beziehung von Stofflichkeit und Geistigkeit. Auch von Nägelis Kritik kann Du Bois-Reymond nicht überzeugen. Das Ignorabimus lasse sich nicht umgehen, indem man Naturerkenntnis auf die Ebene »menschlicher Einsicht« reduziere; ein deskriptiver Erkenntnisbegriff sei inakzeptabel, besonders in seiner Ausdehnung auf alle Wirklichkeitsbereiche. Vor allem müsse aber die Gleichsetzung einer mechanischen Erklärung des Bewußtseins mit Beobachtungen von Korrelationen zwischen körperlichen Vorgängen und Bewußtseinsphänomenen abgelehnt werden. Für die aus seiner Sicht meist mißglückten Reaktionen der Naturwissenschaftler macht Du Bois-Reymond auch die Philosophie verantwortlich; sie sei durch ihr unklares oder unentschiedenes Verhältnis zur positiven Religion und vor allem durch ihre schwer verständliche Sprache zu einer esoterischen und wirkungslosen Disziplin geworden. Ideologische Verabsolutierung der Naturwissenschaft wie Auseinanderfallen von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften seien gleichermaßen die Folgen dieser Entwicklung.

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Ebd., 41. E. Du Bois-Reymond, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft (1877), in: E. Du Bois-Reymond, Reden, Bd. 1, Leipzig 21912, 567–629; engl. in: Popular Science Monthly, 13 (1878), 257–290; span. Madrid 1878; in: E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 183. 14 Ders., 21912, Bd.2, 72. 13

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Während von Haeckel die Kontroverse weitergeführt und immer wieder ins Politische ausgedehnt wird, hält sich von Nägeli zurück. In der Anthropogenie (1874) zählt Haeckel Du Bois-Reymond zu den Gegnern des geistigen Fortschritts, zu den Anhängern der kulturfeindlichen ›ecclesia militans‹ und der ›schwarzen Internationale‹.15 In Freie Wissenschaft und freies Leben (1878) wird Du Bois-Reymonds ›Ignorabimus‹ und Virchows ›Restringamur‹ die fortschrittsoptimistische Losung ›Impavidi progrediamur‹ entgegengestellt. Du Bois-Reymonds »Ignorabimus-Rede« von 1872 sei »nur der erste Teil desselben Berliner Kreuzzugs gegen die Freiheit der Wissenschaft«16 gewesen, dessen zweiter Teil dann Virchows »Restringamur-Rede« von 1877 dargestellt habe. In den Welträthseln (1899), ausdrücklich auf Du Bois-Reymonds Die sieben Welträtsel von 1880 bezogen, verteidigt Haeckel noch einmal engagiert und umfassend seine Position; der Monismus hat nach ihm alle Welträtsel gelöst oder als Dogma entlarvt.

II. Medizin, Physiologie, Psychiatrie, Psychosomatik Du Bois-Reymonds ›Ignorabimus‹ findet nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern ebenfalls in medizinischen Disziplinen, wenngleich nicht so intensiv, explizite wie implizite Beachtung. Themen der Rezeption und Resonanz sind vor allem der Ursachenbegriff, die Leib-Seele Beziehung, der Dualismus von Erklären und Verstehen. Virchow, der Du Bois-Reymonds Position nahe steht, die Unterscheidung zwischen prinzipiell lösbaren und grundsätzlich unlösbaren Problemen allerdings nicht aufgreift, verbindet die theoretische Grenzziehung mit wissenschaftspolitischen Auswirkungen. In seiner Rede über Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben (1877) verlangt Virchow, die Naturforscher sollten sich von Haeckels Überhöhung oder Verabsolutierung der Naturwissenschaften zu einer Weltanschauung distanzieren, um die Unterstützung in Politik und Öffentlichkeit nicht zu gefährden oder zu verlieren. Haeckels Konzept einer ›Deszendenzreligion‹ wie seine Forderung, die Abstammungslehre in den Schulunterricht einzuführen, sollten entschieden zurückgewiesen werden; es käme vielmehr mehr denn je darauf an, durch »Mässigung, durch einen gewissen Verzicht auf Liebhabereien und persönliche Meinungen es möglich zu machen, dass die günstige Stimmung der Nation, die wir besitzen, nicht 15

E. Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen: Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimesund Stammes-Geschichte, Leipzig 1874, XIII. 16 E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, Stuttgart 1878, 274.

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umschlage.«17 Haeckels ›Atomseele‹ und ›Plastidulseele‹ seien unbewiesene Hypothesen und könnten keineswegs als eine überzeugende Lösung für die Probleme der Beziehung von Kraft und Stoff, Materie und Bewußtsein angesehen werden. Entsprechende Theoreme könnten erst nach dem empirischen Nachweis akzeptiert werden, wie aus der Summierung von Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff die Seele entstehe. Dabei könne es wohl sein, daß man eines Tages im Stande sein werde, »die psychischen Vorgänge mit physischen in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen.« Zur Zeit handele es sich bei diesen Vorstellungen allein um »ein blosses Spiel mit Worten«, was auch für Haeckels Ausführungen zum Übergang von der anorganischen in die organische Natur gelte. Geistiges kann nach Virchow nur angenommen und erforscht werden, wo es nachweisbar ist. »Wenn ich Anziehung und Abstoßung für geistige Erscheinungen, für psychische Phänomene erkläre, dann werfe ich einfach die Psyche zum Fenster hinaus, dann hört die Psyche auf, Psyche zu sein. Man mag zuletzt die Vorgänge des menschlichen Geistes chemisch erklären, aber zunächst haben wir doch nicht die Aufgabe, meine ich, diese Gebiete durcheinander zu bringen. Wir haben vielmehr die Aufgabe, sie strikte da festzuhalten, wo wir sie eben erkennen. Und wie ich immer Wert darauf gelegt habe, dass man nicht in erster Linie die Übergänge des Unorganischen ins Organische aufsuche, sondern zuerst den Gegensatz des Unorganischen und Organischen fixiere und in diesem Gegensatze seine Studien mache, so behaupte ich auch, dass es einzig förderlich ist, und ich habe die festeste Überzeugung, dass wir gar nicht weiterkommen, wenn wir nicht das Gebiet der geistigen Vorgänge fixieren da, wo uns wirklich geistige Erscheinungen entgegentreten, – und dass wir nicht geistige Erscheinungen vermuten, wo sie vielleicht vorhanden sein können, wo wir aber gar keine sichtbaren, hörbaren, fühlbaren, überhaupt erkennbaren Erscheinungen wahrnehmen, die als geistige bezeichnet werden könnten.«18 Der österreichische Psychiater Carl Langwieser, Verfasser der Studien Versuch einer Mechanik der psychischen Zustände (1871) und Der Bewusstseinsmechanismus im Gehirne des Menschen (1897), lehnt in seinem Aufsatz Du BoisReymond’s ›Grenzen des Naturerkennens‹ (1873) die doppelte Grenzziehung sowohl im Blick auf das Verhältnis von Stoff und Kraft als auch Materie und Bewußtsein ab. Der Autor will nicht allein die Unhaltbarkeit dieser Auffassung nachgewiesen, sondern auch in positiver Weise gezeigt haben, »dass schon jetzt an der Möglichkeit einer Mechanik des menschlichen Geistes nicht mehr 17

R. Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in: Amtl. Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 66. 18 Ebd., 162 f.

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gezweifelt werden kann.«19 Im übrigen soll neben der entsprechenden Analyse der Sinnesempfindungen gezeigt werden, daß die »freie Selbstbestimmung das Resultat eines Mechanismus sein kann.«20 Der Mediziner Max Cohn, ein Schüler Du Bois-Reymonds, bleibt in seinem Vortrag von 1918 vor der Berliner Gesellschaft für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin im Bereich der Philosophie und Naturwissenschaften, zitiert Positionen von Philosophen der Vergangenheit und Gegenwart, so z. B. auch Arthur Schopenhauer (1788–1860), Rudolf Hermann Lotze (1827–1881), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Hans Vaihinger (1852–1933) und geht nicht auf mögliche Konsequenzen in der Medizin ein. Hingewiesen wird auf die Übereinstimmung mit dem Konditionalismus von Max Verworn (1863– 1921), der gemäß der Formel von Nietzsches Koordination statt Ursache-Wirkung-Beziehung auch für das Verhältnis physischer und psychischer Phänomene Geltung beanspruchen könne. Mit den physiologischen Arbeiten eines Johannes Müller, Ernst Heinrich Weber (1795–1878), Franciscus Cornelis Donders, Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Wilhelm Preyer (1841–1897), Ewald Hering (1834–1918) u. a. sei Du Bois-Reymond »zu einem Vorläufer der modernen experimentellen Psychologie« geworden. »Vor allem die Fortschritte der Sinnes- und Nervenphysiologie, zu denen du Bois-Reymonds unendlich viel beigetragen, haben doch erst die Pforte des Psychischen gesprengt.«21 Den skeptischen Agnostizismus Du Bois-Reymonds gegenüber Ethik und Religion kann Cohn allerdings nicht teilen. Eine zentrale Aufgabe der Zukunft sei es vielmehr, die Einheit oder Verbindung der Naturwissenschaften – jenseits von idealistischer Überhöhung und materialistischer Verflachung – zu erkennen: »Hiermit ist auch unsere heutige Stellung zur Ethik und zum Glauben vorgezeichnet. Vornehmlich für uns Naturwissenschaftler und Mediziner. Ethik und Religion sind selbst geschaffene Idealwelten, die das einheitliche Weltbild der modernen Naturwissenschaften unangetastet lassen müssen und können, wollen sie nicht ihre Grenzen überschreiten.«22 Der Mediziner Ernst von Below (1845–1910) weist in seiner Studie Du BoisReymond und die Metaphysik (1897) zwar auf mögliche Folgen für »Schulhygiene, Tropenhygiene, Welthygiene wie Volkshygiene«23 hin, wendet sich dann aber seinerseits den philosophischen Aspekten zu, erkennt in der Grenzziehung Du Bois-Reymonds die Möglichkeit einer Versöhnung von Physik und Meta-

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C. Langwieser, Du Bois-Reymond’s ›Grenzen des Naturerkennens‹, Wien 1873, 6. Ebd., 36. 21 M. Cohn, Emil Du Bois-Reymond’s Weltanschauung und die Entwickelung der Wissenschaft, in: Klinisch-therapeutische Wochenschrift, 26 (1919), Sp. 218. 22 Ebd., Sp. 238. 23 E. von Below, Du Bois-Reymond und die Metaphysik, in: Die Kritik 4 (1897), 224. 20

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physik und damit auch Chancen, Krieg, Leib- und Geldherrschaft zu überwinden: »Nachdem sich die Welt aus dem Zeitalter des Kannibalismus zu dem der Leibes-Sklaverei und von diesem zu dem des Geldsklaventhums durchgerungen hat, sträubt sich jene Macht gegen das heilige Entwickelungsgesetz der Natur, gegen die Forderungen des herandämmernden vierten Zeitalters des Altruismus, welches sich in Bodenreform, Frauenfrage, Genossenschaftswesen und Verinnerlichung unserer Religiosität geltend macht.«24 Metaphysische Ausführungen im Anschlusse an Emil du Bois-Reymond legt der Psychologe und Philosoph Christian von Ehrenfels (1859–1932) in den Sitzungs-Berichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien von 1886 vor und hält nach einer eingehenden Wiedergabe und Analyse die behaupteten Grenzen in einem psychischen Monismus für überwunden: »Unsere Grundthese von der alleinigen Existenz des Psychischen ist hier deutlich ausgesprochen. Wir setzen an Stelle des Leibes die Functionen der grauen Hirnsubstanz, an Stelle des Willens, (bei Schopenhauer ein unklarer Begriff), psychische Phänomene überhaupt, an Stelle der äusseren Naturobjecte äussere Naturprocesse.«25 Konkreten Folgen für spezifische Themen der Sinnesphysiologie oder Psychosomatik wendete sich von Ehrenfels in dieser Studie nicht zu. Dem Ursachenbegriff kommt unter den verschiedenen Prinzipien und Begriffen eine zentrale Bedeutung für die Medizin zu. An den Krankheitsursachen werden Therapie, Prävention und auch Rehabilitation orientiert. Der Kranke fragt seinerseits nach Ursache und Sinn seiner Erkrankung, sein Interesse gilt in allgemeinen allerdings eher der Prognose als der Ätiologie oder genauen Diagnose. Besonders intensiv fallen die Diskussionen über den Ursachenbegriff um 1900 unter den Leitbegriffen ›Kausalismus‹ und ›Konditionalismus‹26 aus. Die entsprechenden Auseinandersetzungen werden vom Verhältnis der Medizin zu den Naturwissenschaften beeinflußt, vom naturwissenschaftlichen und insbesondere mathematisch-physikalischen Wissenschaftsbegriff und seiner Gültigkeit in der Medizin, von philosophischen und naturwissenschaftstheoretischen Reflexionen über den Ursachenbegriff in der Tradition von Francis Bacon (1562–1626), John Locke (1632–1704), David Hume (1711–1776), Immanuel Kant (1724–1804), Auguste Comte (1798–1857), John

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Ebd., 231. C. von Ehrenfels, Metaphysische Ausführungen im Anschlusse an Emil du BoisReymond, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Classe, 112 (1886), 495. 26 D. von Engelhardt, Du Bois-Reymond im Urteil der zeitgenössischen Philosophie, in: G. Mann, (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert. Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim 1981, 187–205. 25

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Stuart Mill (1806–1873). Zugleich wirkt sich die auch in der Medizin – wie in den Naturwissenschaften – seit dem 19. Jahrhundert zunehmende Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften aus; philosophische Analysen und Argumentationen werden immer weniger in der Medizin beachtet, das Interesse an theoretischen Problemen verliert sich; Philosophie wird nicht selten sogar für unnütz und schädlich bezeichnet. Theoretische Studien erscheinen in den physikalischen, biologischen und medizinischen Disziplinen zunehmend unabhängig voneinander, ohne gegenseitige Kenntnis und Beeinflussung. Entscheidende Voraussetzung und zugleich wesentliches Medium der medizinischen Erörterung von Kausalität und Konditionalität ist in jenen Jahren die Kontroverse zwischen Virchows Zellularpathologie und der Bakteriologie mit Konsequenzen für die Therapie. Hinzu kommen Diskussionen über die Bedeutung der Umweltbedingungen auf den Gebieten der Epidemiologie und Hygiene. Virchow versteht Krankheit als Zellerscheinung; Krankheitsursachen werden ausdrücklich vom Krankheitsgeschehen getrennt. Äußere Reize können die Zelle stören oder lähmen, gleiche Reize müssen aber nicht zu gleichen Auswirkungen führen, ausschlaggebend ist die Reaktionsweise der Zelle, der »dritte Stand« neben Blut und Nerven, und die innere Krankheitsursache (Prädisposition). Krankheit ist nach Virchow die Unfähigkeit des Organismus, schädigende Einflüsse auszubalancieren: »Die Krankheit beginnt in dem Augenblicke, wo die regulatorische Einrichtung des Körpers nicht ausreicht, die Störungen zu beseitigen. Nicht das Leben unter abnormen Bedingungen, nicht die Störung als solche erzeugt die Krankheit, sondern die Krankheit beginnt mit der Insuffizienz der regulatorischen Apparate.«27 Aus der Bakteriologie ergeben sich seit Ende der siebziger Jahre gewichtige Einwände gegen die Zellularpathologie. Die alte Vorstellung von einer äußeren lebendigen Krankheitsursache erhält durch die Forschungen von Louis Pasteur (1822–1895), Robert Koch (1843–1910) und ihren Anhängern eine empirische Bestätigung. 1877 auf der 50. Naturforscher- und Ärzteversammlung wirft Edwin Klebs (1834–1913) Virchow wie der Medizin seiner Zeit überhaupt vor, das Prinzip der Ätiologie in der Krankheitslehre zu wenig berücksichtigt zu haben. Physiologie, Histologie, pathologische Anatomie und pathologische Physiologie hätten erstaunliche Fortschritte gemacht, die Genese der Krankheit sei dagegen »nur wenig und dann meist in durchaus oberflächlicher theoretischer Weise berührt«28 worden. Das habe auch die Therapie gelähmt, 27

R. Virchow, Über die heutige Stellung der Pathologie, in: K. Sudhoff (Hg.), Rudolf Virchow und die deutschen Naturforscher-Versammlungen, Leipzig 1922, 93. 28 E. Klebs, Über die Umgestaltung der medicinischen Anschauungen in den letzten drei Jahrzehnten, in: Amtlicher Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 47.

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ihre Entwicklung zu einer Kausaltherapie behindert, sie auf das Niveau einer symptomatischen und allein expektativen Therapie beschränkt. Erst in jüngster Zeit, auch unter dem Eindruck der Erfahrungen der Antisepsis, bahne sich eine Veränderung an: »Unsere Aufgabe aber wird sein zu zeigen, daß in Wahrheit die gewonnenen Erfahrungen bereits nöthigen, die Ursache zahlreicher und wichtiger Krankheiten außerhalb des Körpers aufzusuchen und daß diese Krankheitsursachen parasitärer Natur«29 sind. Mechanische und chemische Einwirkungen stehen nach Klebs an Bedeutung den parasitären Infektionen nach; mechanische Störungen seien ebenso wenig als Krankheiten anzusehen wie angeborene oder erworbene Anomalien. Virchow reagiert unmittelbar noch während der Tagung von 1877 auf die Einwände seines Schülers Klebs in der Rede Über die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben. Man könne noch keineswegs behaupten, daß »alle contagiösen oder gar alle infectiösen Krankheiten durch lebendige Ursachen bedingt«30 seien; zweifellos gebe es Infektionskrankheiten, die durch organische Gifte entstünden. Klebs hält in seiner Erwiderung Über Cellularpathologie und Infectionskrankheiten im folgenden Jahr 1878 an der Kritik fest. Die unterschiedliche Reaktion des Körpers auf gleiche Reize lasse sich nur über die Wirksamkeit zusätzlicher äußerer Bedingungen, über Ansteckung oder Infektion erklären. Eine eigene Zellkraft gebe es nicht, die Veränderungen erleide die Zelle in passivem Zustand, sie führten sekundär »zu eigentümlichen Umwandlungen des ganzen Organs.« Die Zellularpathologie könne nicht als allgemeine Krankheitstheorie angesehen werden; es sei nicht zu bestreiten, »daß die bis dahin geltende cellular-pathologische Theorie nicht genügt, um die wichtigsten Erscheinungen auf diesem Gebiet zu erklären, und daher für den Fortschritt auf diesem, auch in practischer Beziehung so eminent wichtigen Gebiet ein erhebliches Hindernis darstellt.«31 Auch Virchow gibt seinen Standpunkt nicht auf: Ein neues Fundament der Pathologie habe Klebs nicht zu entwickeln vermocht, das Zellularprinzip behalte seine Gültigkeit, die Zelle könne weiterhin »als Trägerin sowohl des Lebens, als der Krankheit«32 angesehen werden. Der Streit zwischen Zellularpathologie und Bakteriologie lenkt die Aufmerksamkeit auf den Ursachenbegriff in grundsätzlicher Hinsicht; hier spielt das Ignorabimus explizit und mehr noch implizit eine Rolle. Der sogenannte 29

Ebd., 48. R. Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben, in: Amtl. Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 70. 31 E. Klebs, Über die Umgestaltung der medicinischen Anschauungen in den letzten drei Jahrzehnten, in: Amtlicher Bericht der 50. Vers. Dt. Naturforscher und Ärzte (1877), 41–55; auch Leipzig 1878, 129. 32 R. Virchow, Krankheitswesen und Krankheitsursachen, in: Archiv für pathologische Anatomie, Physiologie und klinische Medizin 79 (1880), 8. 30

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›Konditionalismus‹, vertreten vor allem von Max Verworn (1863–1923) und David von Hansemann (1858–1920), soll einen neuen Zugang versprechen; die Gegenposition wird ›Kausalismus‹ genannt. In der Monographie Kausale und konditionale Weltanschauung von 1912 formuliert der Physiologe Verworn eine weit beachtete Kritik am gängigen Ursachenbegriff. Verworn versteht den Konditionalismus auch als einen Beitrag zu den Diskussionen der Philosophie und Weltanschauung der Zeit, als Einschränkung von Haeckels Monismus und Ostwalds Energetismus, als Grundlage eines spezifischen Psychomonismus. Der Konditionalismus oder Konditionismus, wie Verworn ebenfalls sagt, soll Mystik und Scheinprobleme überwinden, die sich aus dem Kausalismus ergeben. Mit dem Ursachenbegriff lasse die Naturwissenschaft leider »auf ihren exaktesten Gebieten noch immer einen Rest des alten Mystizismus«33 fortleben; Du Bois-Reymonds Grenzziehung der menschlichen Erkenntnis habe ihn dagegen gelehrt, daß alles Reden von Kraft als Ursache unzulänglich sei.34 Mit dem Konditionalismus ließen sich Du Bois-Reymonds zwei Grenzen (Zusammenhang von Kraft und Stoff, Beziehung von Bewußtsein und Materie) überwinden. Der Konditionalismus besteht nach Verworn aus 5 Grundsätzen: 1) Es gibt keine isolierten oder absoluten Dinge; alle Dinge, d. h. alle Vorgänge oder Zustände sind bedingt durch andere Vorgänge oder Zustände ( = Satz vom Bedingtsein alles Seins und Geschehens). 2) Es gibt keinen Vorgang oder Zustand, der nur von einem einzigen Faktor abhängig ist; alle Vorgänge oder Zustände sind bedingt durch zahlreiche Faktoren ( = Satz von der Pluralität der Bedingungen). 3) Jeder Vorgang oder Zustand ist identisch mit der Summe seiner Bedingungen; nur unter gleichen Bedingungen sind gleiche Vorgänge oder Zustände vorhanden, und umgekehrt: verschiedene Vorgänge und Zustände setzen verschiedene Bedingungen voraus ( = Satz von der eindeutigen Gesetzmäßigkeit). 4) Jeder Vorgang oder Zustand ist identisch mit der Summe seiner Bedingungen; die Gesamtheit der Bedingungen stellt den Vorgang oder Zustand vor ( = Identitätssatz). 5) Sämtliche Bedingungen eines Vorganges oder Zustandes sind für sein Zustandekommen gleichwertig, insofern sie notwendig sind ( = Satz von der effektiven Äquivalenz der bedingenden Faktoren).35 Der Konditionalismus soll nach Verworn nicht nur vermeintliche Grenzen der Erkenntnis prinzipiell oder theoretisch überwinden, sondern auch konkrete Auswirkungen haben: auf das Leib-Seele Problem – hier wird der psychophysische Parallelismus durch einen Psychomonismus ersetzt –, auf die Prinzipien des Organismus – hier werden Finalismus und Teleologie konditionalistisch 33 34 35

M. Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung, Jena 1912, 8. Ebd., 8. Ebd., 45 f.

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gedeutet –, auf die Vererbungslehre – hier wird der Begriff der Vererbungssubstanz und Vererbungstendenz verworfen –, auf die Frage nach der Unsterblichkeit – sie soll nicht möglich sein – und schließlich auch auf die Pathologie, wobei Verworn auf von Hansemanns ebenfalls 1912 erschienene Monographie Über das konditionale Denken in der Medizin verweist. Die ätiologische Krankheitsauffassung lasse sich wie allgemein die Ursachenvorstellung nicht halten. Auf den Ursachenbegriff könne in der Medizin schlechthin verzichtet werden; eine wissenschaftshistorische Selektion im Sinne von Darwins Evolutionslehre werde diesen Begriff ohnehin bald überflüssig machen. Der Pathologe von Hansemann, ein Schüler Virchows, der das Konditionalprinzip in verschiedenen Publikationen detailliert auf Phänomene und Prozesse der Medizin anwendet, leitet Irrtümer und Mißerfolge in der Medizin von dem vorherrschenden Kausalprinzip ab; dieses Prinzip könne den »strengen Regeln der Logik und der Wissenschaft«36 nicht genügen. Allerdings gehe es ihm nicht um Aufhebung des Kausaldenkens, sondern um seine Ergänzung. Ätiologie dürfe mit Ursachenlehre nicht gleichgesetzt werden, besser verstehe man unter ihr eine »Lehre der veranlassenden Bedingungen.«37 Seine theoretische Beschäftigung mit der Medizin und der Ursachenproblematik verbindet von Hansemann wie auch Verworn mit allgemeinwissenschaftlichen und weltanschaulichen Konsequenzen. Die angemessene Berücksichtigung des Ursachenbegriffes im Sinne des Konditionalismus werde viele Lücken in der Theorie schließen und zahllose praktische Fehlentwicklungen überwinden: »Nur von diesem Standpunkt aus können wir den Ausspruch du Bois-Reymonds ›ignoramus et ignorabimus‹ verstehen, wenn wir das ignoramus zugeben und zugleich das ignorabimus zeitlich begrenzen.«38 Im übrigen müsse stets zwischen der theoretischen Position und der praktischen Umsetzung unterschieden werden. Alle Bedingungen einer Erkrankung zu berücksichtigen, könne von keiner Therapie geleistet werden. Ebenso müsse dieser Unterschied auch bei der Frage des freien Willens berücksichtigt werden: »Vom streng philosophischen Standpunkte aus gibt es keinen freien Willen. Wenn man das aber in die Praxis übertragen und jedem Menschen den freien Willen absprechen wollte, so würde man jede Handlung, auch die unmoralischste, jedes Verbrechen entschuldigen müssen, und man wäre nicht berechtigt, einen Menschen für seine Taten verantwortlich zu machen.«39

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D. von Hansemann, Über das konditionale Denken in der Medizin und seine Bedeutung für die Praxis, Berlin 1912, V. 37 Ebd., 2. 38 Ebd., 4. 39 D. von Hansemann, Über das konditionale Denken in der Medizin und seine Bedeutung für die Praxis, in: Berliner Klinische Wochenschrift, 1 (1912), 2504.

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Der Konditionalismus von Verworn und von Hansemann löst Reaktionen nicht allein in der Medizin, sondern auch in anderen Wissenschaften aus. Besonders beachtet werden Pluralitätssatz, Äquivalenzsatz und Identitätssatz. Die Diskussionen über den Ursachenbegriff erhalten Impulse, die Auffassung vom komplexen Zusammenwirken ätiologischer Faktoren wird bekräftigt mit entsprechenden Folgen für die praktische Anwendung des Ursachenbegriffs. Die Ätiologie hält der Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939), der auf Du Bois-Reymonds Ignorabimus zwar explizit nicht eingeht, aber im Kontext dieser Diskussionen steht, für ein vorzügliches Beispiel des von ihm kritisierten autistisch-undisziplinierten Denkens in der Medizin; obwohl sich gerade für Ärzte Pluralität und Differenz der Ursachen nahelegten, verfielen sie doch immer wieder auf monokausale Ableitungen: »in tausend konkreten Fällen rechnet man doch wieder nur mit einer einzigen Ursache, statt mit vielen (»Bedingungen« nach Verworn).«40 Der Mediziner und Medizintheoretiker Richard Koch (1882–1949) lehnt seinerseits im Sinne der Konditionalisten den Ursachenbegriff ab, der die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen übersteige: »Ärztlich viel verwendbarer ist der Begriff der Bedingung, den von Hansemann und Verworn zum Ersatz heranziehen.«41 Aber auch in dieser Fassung seien Grenzen zu ziehen, sei Kausalität auf bestimmte Erscheinungsbereiche zu beschränken: »Diese Beschränkung befreit uns von den letzten Resten der spiritualistischen Naturerklärung, von materialistischen Abstraktionen, die der Erklärung hindernd im Wege stehen und auch von den Unvollkommenheiten der mechanistischen und vitalistischen Erklärung der Lebenserscheinungen.«42 Neben die kausale Erklärung wird von Koch in der Tradition von Mach die Methode der Beschreibung gestellt – eine angemessene Methode nach ihm auch für die Wissenschaften des Lebendigen und nicht ein Verzicht auf Wissenschaftlichkeit, wie es ein Wissenschaftsbegriff nahe legen könnte, der Naturerkenntnis im Sinne von Du Bois-Reymond als Reduktion auf Mechanik verstehen möchte: kein »ignorabimus, sondern die Ausschaltung des Zielens der Erkenntnis in das vollständig Leere hinein.«43 Der Internist Gustav von Bergmann (1878–1955) plädiert für eine Verbindung von kausaler und finaler Betrachtungsweise in der Biolo-

40

E. Bleuler, Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung, Zürich, Nachdruck Zürich 1919, 41927, n. 1962, 73. 41 R. Koch, Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kenntnis des ärztlichen Denkens, Wiesbaden 1917, 21920, 138. 42 Ders., Über Kausalität, in: Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Technik, 10 (1928), 395. 43 Ders., War Georg Ernst Stahl ein selbständiger Denker?, in: Archiv für Geschichte der Medizin, 18 (1926), 48.

Das Ignorabimus Du Bois-Reymonds in Medizin und Psychiatrie

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gie und Medizin. Ohne Zweifel stoße man mit der Teleologie an die Grenzen der Naturerkenntnis und müsse jenes berühmte ›Ignoramus, Ignorabimus‹ von Du Bois-Reymond angesichts der Unfähigkeit des menschlichen Verstandes zugeben, das Verhältnis von Materie und Bewußtsein sowie die Beziehung von Kraft und Stoff wirklich erfassen zu können.44 Allgemeine Geltung gewinnt dann in der Medizin ein Dreierschema ätiologischer Faktoren, in dem sich die Standpunkte der Zellularpathologie, Bakteriologie sowie Epidemiologie wiederfinden. Multifaktorialität, Interdependenz und spezifische Gewichtung und Relationierung charakterisieren dieses Dreierschema – mit unterschiedlicher Terminologie und Akzentuierung in den verschiedenen medizinischen Disziplinen. In der Psychiatrie zum Beispiel wird von der Krankheitsursache, den Krankheitsbedingungen und der Lebenskonstellation gesprochen, nach jeweiliger Dominanz einer dieser Kategorien wird dann weiter untergliedert. Die Ursachendiskussion verbindet sich in der Medizin und vor allem der Psychiatrie schließlich mit dem Methodendualismus von Erklären und Verstehen, der beispielhaft in der Psychopathologie des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers (1883–1969) vertreten wird: Erklären als Methode der Naturwissenschaften und Verstehen als Methode der Geisteswissenschaften. Psychosen können nach Jaspers nicht vollständig verstanden, sondern müssen auch erklärt werden; Neurosen lassen sich dagegen im Prinzip verstehen, das heißt auf seelische, soziale oder kulturelle Voraussetzungen zurückführen. Entsprechende Folgen ergeben sich für psychosomatische Erkrankungen. Die Dichotomie von Erklären und Verstehen in der Medizin besitzt ihre Basis in der neuzeitlichen Tendenz zur Objektivität und Naturalisierung, der verschiedentlich die Bedeutung der Subjektivität und Geistigkeit entgegengestellt wurden. Jaspers steht mit seinen Überlegungen in einer Tradition, die mit den Namen Giovanni Battista Vico (1668–1744), Friedrich Schleiermacher (1768– 1834), Johann Gustav Droysen (1808–1884), Wilhelm Dilthey (1833–1911), Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936) zusammenhängt und die von ihm auch explizit aufgegriffen und beurteilt wird. Nach Jaspers lassen sich vor dem Hintergrund dieser Positionen verschiedene Verstehenstypen neben dem kausalen Erklären, das ebenfalls unterschiedliche Formen besitzt, auseinanderhalten: 1) statisches Verstehen als Vergegenwärtigung psychopathischer Zustände über die Selbstschilderung des Patienten, daneben auch Ausdrucksverstehen über Gestik und Mimik; 2) genetisches Verstehen als Ableitung des Seelischen aus Seelischem (Entwicklung), auch psychologisches Verstehen genannt, mit idealtypischer Evidenz und ergänzbar durch empirische Überprüfung; 3) rationales Verstehen als Verstehen logischer 44

G. von Bergmann, Funktionelle Pathologie, Berlin 1932.

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Dietrich von Engelhardt

oder theoretischer Zusammenhänge in Denkinhalten gegenüber dem einfühlenden Verstehen individueller Zustände dieser Inhalte beim Patienten selbst; 4) kausales Erklären als Ableitung von Seelischem aus Außerbewußtem (Prozeß); 5) geistiges Verstehen als Beziehung auf Inhalte, auf Bedeutung, auf Bilder, auf Ideen; 6) existentielles Verstehen als Betrachtung, wie der Mensch seine Freiheit ergreift oder unfrei bleibt, wie sein Umgang mit den Grenzsituationen des Lebens ausfällt; 7) metaphysisches Verstehen als Verstehen des psychisch Kranken oder der psychischen Krankheit als spezifischer Weise des In-der-Welt Seins. Während sich existentielles Verstehen auf die Betrachtung richtet, wie der Mensch seine Freiheit ergreift oder verfehlt, wie ihm der Umgang mit den Grenzsituationen des Daseins gelingt oder mißlingt, wird im metaphysischen Verstehen »das Psychotische zu einem Gleichnis allen Menschseins.«45 Kausales Erklären ist nach Jaspers eine unbegrenzte Methode, auch in den Naturwissenschaften, während Verstehen grundsätzlich an Grenzen stoße: einerseits wegen der Abhängigkeit von Außerbewußtem (Körper) und andererseits wegen der Freiheit des Menschen, die sich der Logik der Wissenschaft entzieht. Immer wieder wird von Jaspers zugleich großes Gewicht auf empirische Objektivität gelegt: »Wir verstehen, soweit uns die objektiven Daten der Ausdrucksbewegungen, Handlungen, sprachlichen Äußerungen, Selbstschilderungen im einzelnen Fall dies Verstehen mehr oder weniger nahelegen. Zwar können wir losgelöst von aller konkreten Wirklichkeit einen seelischen Zusammenhang evident verständlich finden. Im wirklichen Einzelfall aber können wir die Realität dieses verständlichen Zusammenhangs nur in dem Maße behaupten, als die objektiven Daten gegeben sind.«46 Der Sinnaspekt der Krankheit darf nach Jaspers aber nicht überschätzt oder verabsolutiert werden. Körperkrankheiten müssen bei allen möglichen psychischen Hintergründen auch als Naturvorgänge ernstgenommen werden, als unbegreifliche Ereignisse, als Tatsachen, denen gegenüber von Sinn oft erst in der Ebene oder Art der Reaktion, der Annahme oder Verleugnung, der Verarbeitung durch den Kranken gesprochen werden könne. Das Verstehen hat Grenzen, Krankheiten haben auch eine Seite, die nur der kausalen Erklärung zugänglich ist. Entsprechend kritisch werden von Jaspers die Psychosomatik und Psychoanalyse mit ihrem Hang zur Psychologisierung beurteilt. Immer wieder werden von Jaspers in seinen philosophischen Veröffentlichungen wie auch in den programmatischen Publikationen zur Universität und dem medizinischen Studium die grundsätzlichen Grenzen nicht nur der Naturwissenschaft, sondern der Wissenschaft überhaupt hervorgehoben. »Wissenschaftlich ist das Wissen mit dem Bewußtsein von den jeweils bestimmten Grenzen des 45 46

K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913, n. 91973, 257. Ebd., 252.

Das Ignorabimus Du Bois-Reymonds in Medizin und Psychiatrie

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Wissens; unwissenschaftlich ist alles Totalwissen, als ob man im Ganzen Bescheid wüßte.«47 Die Diskussionen in der Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik über die Unterscheidung von Erklären und Verstehen brechen in den folgenden Jahrzehnten bis in die Gegenwart nicht ab und werden auch in der Philosophie aufgegriffen. In seiner Abhandlung Philosophie und Psychiatrie (1929) interpretiert der Philosoph Richard Hönigswald (1875–1947) Geisteskrankheit als mißlungene Verständigung; Verständigung konstituiere in der Psychopathologie »nicht nur den Begriff ›Symptom‹; Tatsachen der Verständigung selbst sind hier Symptome.« Der Geisteskranke werde vom Psychiater »verstanden« und zugleich »nicht verstanden«. Von dem Psychiater Ludwig Binswanger (1881– 1966) werden »Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse« unterschieden und an konkreten Details in ihrer jeweiligen Leistung und Begrenztheit erörtert. Angeregt von der Phänomenologie Edmund Husserls (1859–1938) wie der Philosophie Martin Heideggers (1889–1976) wird dem psychopathologischen Verstehen ein objektiver Sinn gegeben. »Die verschiedenen Psychosen, Neurosen und Psychopathien werden jetzt als bestimmte Abwandlungen des apriorischen Gefüges über die transzendentalen Strukturen des Menschseins, der ›condition humaine‹, wie die Franzosen sagen«48 aufgefaßt.

III. Perspektiven Die Auseinandersetzungen über Du Bois-Reymonds Grenzen der Naturerkenntnis sind ein wesentliches Dokument der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von zugleich grundsätzlicher und auch gegenwärtiger Bedeutung. Zur Resonanz kommt es neben der Philosophie und den Naturwissenschaften auch in medizinischen Disziplinen wie der Physiologie, Psychiatrie und Psychosomatik. Die Auseinandersetzungen verlaufen explizit und implizit; neue Quellen werden sich aber noch entdecken lassen und das Bild weiter konkretisieren und differenzieren. Die anhaltende Aktualität des Themas belegen die Diskussionen der vergangenen Monate und nicht zuletzt in Deutschland das 2005 veröffentlichte Manifest von 11 Neurobiologen. Für eine komparative Medizin- und Wissenschaftsgeschichte ergeben sich in synchroner und diachroner Perspektive vor allem folgende Fragen: 1) Unterschiede und Übereinstimmungen in der Philosophie, den Naturwissenschaften 47

Ders., Die Erneuerung der Universität, 1945, in: K. H. Bauer, Vom neuen Geist der Universität. Dokumente, Reden und Vorträge 1945 / 46, Berlin 1947, 23. 48 L. Binswanger, Karl Jaspers und die Psychiatrie, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 51 (1943), 1–13.

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und der Medizin, 2) im Blick auf Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspolitik, 3) in den thematischen Konkretionen oder Beispielen, differenziert nach: noch lösbar (›ignoramus‹) und prinzipiell unlösbar (›ignorabimus!‹), 4) Interdisziplinarität und Internationalität der Auseinandersetzungen, 5) Fortführung in den verschiedenen naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen bis in die Gegenwart, 6) Bedeutung für Theorie und Praxis der Naturwissenschaften und Medizin, vor allem Psychiatrie und Psychosomatik, 7) Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Naturforscher und Mediziner, 8) Konsequenzen für Psychologie, Pädagogik, Jurisprudenz und allgemein das Natur- und Menschenbild.

Cord Friebe

Das bleibende Rätsel der Kraft: Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus im Lichte der modernen Physik

Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus scheint schnell erledigt: Als Kind seiner Zeit habe er einen mechanistischen Materialismus vertreten und daher naturwissenschaftliche Erkenntnis gleichgesetzt mit dem Wissen der klassischen Mechanik. Nur vor diesem Hintergrund aber entstehe dieses Rätsel von Materie und Kraft, da es nur ihr gemäß Punktteilchen und Fernkräfte gebe. Inzwischen, und das heißt spätestens seit Einsteins spezieller Relativitätstheorie, sei jede physikalische Theorie der Nahewirkung verpflichtet, und seit dem Aufkommen der Quantentheorie überwinde die Physik das Punktteilchen-Konzept, wie es in aktuellen Ansätzen immer deutlicher werde.1 Von einer unüberwindbaren Schranke des Naturerkennens könne hinsichtlich des Daseienden und seines Vermögens, Wirkungen zu erzeugen, also keine Rede sein. Doch Du Bois-Reymond überrascht einen heutigen Wissenschaftstheoretiker mit einigen eigenartigen Thesen, die er mit dem Rätsel von Materie und Kraft verbunden sieht, so daß es durchaus fraglich ist, ob wir überhaupt verstanden haben, worin das Rätsel eigentlich bestehen soll. Eigenartig ist nämlich erstens, daß Du Bois-Reymond als mechanistischer Materialist in der »Mechanik des Stoßes« alles einsichtig findet und erst eine »actio in distans« als problematisch ansieht. Denn Hume hatte doch längst aufgeklärt, daß (auch) bei Stoßvorgängen empirisch außer Regularität nichts zu holen ist, daß man also auch dort keine Notwendigkeit und vor allem keinen Wirkungszusammenhang, keine Mitteilung sieht. Eigenartig ist zweitens, daß das Rätsel von Materie und Kraft noch einen dritten Punkt beinhaltet, nämlich »die schon von Aristoteles erörterte Frage nach dem Anfang der Bewegung«2. Was hat dieses Problem mit dem spezifischen Weltbild von Punktteilchen und Fernwirkungen zu tun? Wieso ist die Frage nach dem Anfang der Bewegung sogar »einerlei«3 mit der nach dem Wesen von Materie und Kraft? Und drittens schließlich verwundert die Erwägung, daß die beiden Grenzen des Naturerkennens vielleicht nur eine 1

In der algebraischen Quantenfeldtheorie wirken Operatoren von vornherein auf Raum(-Zeit)gebieten statt auf Punkten (vgl. R. Haag, Local Quantum Physics, Berlin 1992), und in der Stringtheorie ist die Überwindung des Punktteilchen-Konzepts gar populär geworden (vgl. P. C. Davies, Superstrings: a theory of everything?, Cambridge 1989). 2 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens (1872), in: Est. Du BoisReymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 1, Leipzig 21912, 450. 3 Ebd.

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sind, daß der Hiat zwischen dem »stummen Spiel bewegter Materie« und unseren Empfindungen eventuell überwunden wäre, wenn man das Wesen von Materie und Kraft begriffen hätte.4 Wo ist auch nur im Ansatz ein Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Ignorabimus erkennbar?5 Verstanden, worin genau nach Du Bois-Reymond das Rätsel von Materie und Kraft besteht, hat man also erst dann, wenn man erstens sagen kann, was an der Fernwirkung im Unterschied zum Stoß problematisch ist, wieso zweitens alles auf das Problem des Anfangs der Bewegung hinausläuft, und wenn man schließlich angeben kann, worin der Zusammenhang von Kraft und Bewußtsein bestehen könnte. Und erst dann kann überhaupt die Frage aufkommen, wie es um das erste Ignorabimus im Lichte der modernen Physik bestellt ist. Dementsprechend wird es zunächst in dem folgenden ersten Abschnitt darum gehen, das »schlechthin Widersinnige«6 an der Kausalität zwischen räumlich entfernten Objekten zu benennen. Im zweiten Abschnitt wird die Behauptung aufgestellt und erläutert, daß eben dieses Widersinnige essentiell noch im Kraftkonzept der modernen Physik enthalten ist und daß daher von einem bleibenden Rätsel der Kraft gesprochen werden kann. Dies wird schließlich in den darauf folgenden Abschnitten gegen mögliche Einwände verteidigt und damit argumentativ begründet.

I Während »durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte […] an sich unbegreiflich, ja widersinnig«7 seien, entspreche alle durch »Übertragung in Berührungsnähe«8 erzeugte Bewegung einem unserer sinnlichen Anschauung vertrauten Bild. Ebenso wie Du Bois-Reymond argumentiert auch Friedrich Albert Lange: Bei idealen Gasen nämlich sei »die alte Mechanik des Stoßes gleichsam in neuem Glanze wieder erstanden«, und »anscheinend« sei dort »die seit Newton aus der Mechanik entschwundene Anschaulichkeit wiederhergestellt«. Nun könne man die Hoffnung hegen, daß »die jetzt noch von 4

Vgl. ebd., 473. Den hält auch Lange für naheliegend: »Eine tiefer gehende Andeutung finden wir nur gegen Schluß des Vortrags: Du Bois-Reymond wirft hier die Frage auf, ob nicht die beiden Grenzen des Naturerkennens vielleicht die nämlichen seien […] Daß beide Probleme identisch sind, ist in der Tat wohl mehr als bloß wahrscheinlich.« (F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1875), Bd. 2, hrsg. u. eingeleitet von A. Schmidt, Frankfurt / M. 1974, 605). 6 Ebd., 597. 7 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 448. 8 Ebd. 5

Das bleibende Rätsel der Kraft

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der Theorie beibehaltenen Fernewirkungen der Kräfte früher oder später verschwinden und in ähnlicher Weise auf den sinnlich anschaulichen Stoß zurückgeführt werden möchten, wie dies mit der Wärmewirkung geschehen ist.«9 Während in die Ferne wirkende Kräfte ein großes Rätsel darstellen, ist Kausalität bei Stoßvorgängen anschaulich; darin sind Du Bois-Reymond und Lange sich also einig. Gerade dies ist aber zunächst gar nicht nachvollziehbar: Weder nämlich herrscht bei der gegenseitigen Abstoßung von zwei räumlich voneinander entfernten Objekten weniger Regularität zwischen den betreffenden Ereignissen als beim Stoß zweier folglich sich berührender, noch ist die »Übertragung« oder die »Entstehung« der Bewegung, die bei räumlich entfernten Gegenständen gar widersinnig sei, bei Berührung zu sehen. Was soll dann aber am Stoß anschaulicher sein als an der Fernwirkung? Seit Hume ist doch bekannt, daß anschaulich mehr als Regularität in keinem Fall zu haben ist – also gerade auch beim Stoß nicht. Wenn zwei Billardkugeln aneinanderstoßen, ist eben nicht zu erkennen, wie in der zweiten Billardkugel die Bewegung erzeugt wird bzw. wie sie von der ersten übertragen wird. Zu sehen ist immer nur, daß die eine Kugel aufhört, sich zu bewegen (oder langsamer wird), während die andere anfängt, sich zu bewegen (oder schneller wird). Darüber hinaus ist erstaunlich, daß das Rätsel der Kraft nach Du Bois-Reymond und Lange ein ganz anderes ist, als man beispielsweise vom Physikunterricht her erwarten kann. Da von ihnen die Fernkraft immer nur der »Mechanik des Stoßes« entgegengesetzt wird, es also um den Gegensatz geht einer Wirkung zwischen räumlich entfernten Objekten und sich berührenden, kommt es in keiner Weise darauf an, ob bei räumlich entfernten Objekten die Kraft instantan übertragen wird oder nicht. Einsteins spezielle Relativitätstheorie läßt sich daher nicht als Antwort auf Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus deuten, da das, was Physiker unter »Nahewirkung« verstehen, ihm gemäß noch immer eine Fernwirkung ist. Denn, ob die Vermittlung der Wirkung zwischen Lichtjahre voneinander entfernten Objekten nun Jahre dauern muß (wie nach Einstein) oder instantan vollzogen werden kann (wie nach Newton), ist für Du Bois-Reymond ganz gleichgültig. Lange, an dieser Stelle (bloß) ausführlicher, gibt deutlich zu verstehen, daß das Problem alleine die Vermittlung ist. Dieses und jenes nämlich werde »nach der auf die Gravitationslehre gebauten Mechanik nicht mehr durch direkte stoffliche Berührung bewirkt, sondern eben durch jene ganz und gar unsinnlichen Kräfte [vermittelt].«10 Weder also ist 9

F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 647 (kursiv im Original). Ebd., 639 (kursiv von mir). »Vermittelt« ist von mir ergänzt, berechtigt durch den Satz ein paar Zeilen vorher: »War doch alle Wirkung […] vermittelt durch die unsinnliche, im leeren Raum konstruierte Kraft.« (Kursiv von mir). 10

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»Bewirken« (bzw. »Wirkung«) für sich betrachtet ein Problem (wie noch bei Hume), noch ist relevant, ob die Vermittlung Zeit in Anspruch nimmt oder nicht. Vielmehr ahnt Lange schon, daß eine momentan in alle Ferne wirkende Gravitation eine »nicht einmal wahrscheinliche Hypothese«11 ist, ohne in einer Nahewirkungstheorie im Sinne der Physiker eine Lösung des Rätsels zu erwarten. Nur die unvermittelte Wirkung durch direkte Berührung halten sie für intelligibel. Was gibt daher, so muß man nun fragen, stoffliche Berührung zu erkennen – zusätzlich zu der Berührung selber? Was sieht man denn, außer daß die Objekte sich berühren? Diese Fragen könnte man auf den ersten Blick für falsch gestellt halten, da doch offensichtlich sei, daß es für Du Bois-Reymond (und Lange) nicht etwa im Fall des Stoßes noch etwas Zusätzliches zu erkennen gibt, sondern vielmehr im Fall räumlich entfernter Objekte noch etwas Zusätzliches postuliert werden muß – nämlich jene Kraft. Die vermittelte Wirkung sei im Unterschied zur unmittelbaren bei direkter Berührung der Objekte gerade deshalb ein Problem, weil das Mittel, wie sie mehrfach betonen, »ganz und gar unsinnlich« ist. Wäre die Kraft sinnlich wahrnehmbar, gäbe es kein erstes Ignorabimus. Da sie beide keine kausalitätsskeptische Position vertreten wie noch Hume und wie später Russell, ist dies aber wenig überzeugend: Sie dürften nicht folgern, daß die Fernwirkung etwas »schlechthin Widersinniges« sei, weil sie »ganz und gar unsinnlich« ist. Denn jede Kausalitätsauffassung muß über bloße Regularität hinausgehen und hat daher – ob als Apriorität bei Kant, als kontrafaktische Abhängigkeit bei David Lewis oder als Handlungsanalogon bei Georg Henrik von Wright – unsinnliche Aspekte.12 Daß Kausalität zwischen räumlich entfernten Objekten anscheinend13 noch ein weiteres unsinnliches Element verlangt, macht sie nicht schon »widersinnig«. Man sollte somit erstens davon ausgehen, daß Kausalität nicht schon als solche unanalysierbar ist, und daß zweitens in beiden betrachteten Fällen sowohl die Regularität aufeinanderfolgender Ereignisse als auch die räumliche Beziehung der beteiligten Objekte gleichermaßen anschaulich sind. Worin unterscheidet sich dann die »Mechanik des Stoßes« von der »Fernwirkung« im Sinne Du Bois-Reymonds? Die Antwort darauf ergibt sich vor dem Hintergrund des klassischen Fallbeispiels des antiken Stoikers Chrysipp:

11

Ebd., 655. Zu einem Überblick über verschiedene Kausalitätsauffassungen vgl. M. Heidelberger, Kausalität. Eine Problemübersicht, in: Neue Hefte für Philosophie, 32 / 33 (1992), 130–153. 13 Dann nämlich, wenn man eine Transfertheorie von Kausalität vertreten will, was weder Du Bois-Reymond noch Lange als solches in Frage stellen. 12

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»Wenn du beispielsweise einen zylindrischen Stein über ein schräges Stück Boden stößt, dann bildest du für ihn sicherlich die Ursache seines schnellen Hinabrollens und bewirkst dessen Anfang; doch alsbald rollt der Stein vorwärts, nicht weil du es noch bewirken würdest, sondern wegen seiner Gestalt und der Rollfähigkeit seiner eigenen Form.«14

Solange der Stein gestoßen wird, ist die Ursache seines Hinabrollens außerhalb von ihm, d. h. etwas anderes als er. Sobald aber die dem Stoiker unsichtbare Schwerkraft wirkt, rollt er aufgrund seiner eigenen Form, und das heißt: von selbst. Unterstellt man, daß Bewegung durch Kausalität »erzeugt« werden muß, was für sich betrachtet »ganz und gar unsinnlich« ist, so macht anscheinend die Berührung immerhin noch sichtbar, daß das bewegte Objekt sich nicht von selbst bewegt. Dieses Anschauliche geht bei der Fernwirkung verloren: Trotz Regularität, rational einsichtigem Feldkonzept in der modernen Physik und analytisch durchdrungener »kontrafaktischer Abhängigkeit« kann man es »drehen und wenden, wie man will, immer stößt man auf ein letztes Unbegreifliches, wo nicht gar auf etwas schlechthin Widersinniges«15 – nämlich auf einen Rest von Selbstverursachung. Wo keine Berührung stattfindet, ist nicht auszuschließen, und darin könnte das Rätsel bestehen, daß das zu bewegende Objekt es von selber tut – denn so erscheint es doch. Das aber wäre nun in der Tat aus der Perspektive eines Materialisten – und womöglich nicht nur aus dieser – etwas »schlechthin Widersinniges«. Als widersinnig kann man nämlich zum einen generell das Konzept von Selbstverursachung ansehen, muß doch bei Kausalität erstens gewährleistet sein, daß Ursache und Wirkung voneinander unterscheidbar sind und daß sie zweitens in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen.16 Beides scheint dort nicht erfüllbar zu sein, wo etwas seine eigene Wirkung ist. Zum anderen kommt in diesem Falle noch das Eigenartige hinzu, daß das (vermeintlich) selbstbewegte Objekt einen äußeren Anlaß benötigt: Nur »angestoßen«17 durch das andere Objekt setzt das eine sich in Bewegung, was schon die bloße Regularität bezeugt und was auf den Widerspruch hinauszulaufen droht, daß etwas, obwohl durch etwas anderes bewegt, sich doch von selbst bewegt. Unter dieser Interpretation des ersten Ignorabimus ist aber nicht nur verständlich, worin das »schlechthin Widersinnige« der Fernwirkung besteht, sondern darüber hinaus wird mit einem Schlage sowohl offensichtlich, warum

14

Zit. nach Gellius, 7.2.6–13, in: A. A. Long / D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen: Texte und Kommentare, übers. von K. H. Hülser, Stuttgart / Weimar 2000, 463. 15 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 567. 16 Es scheint Konsens darin zu bestehen, daß jede Theorie von Kausalität diese beiden Forderungen erfüllen muß. 17 Dies ist hier eine hoffentlich sinnige Metapher.

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das Rätsel von Materie und Kraft im Grunde »einerlei« ist mit der klassischen Frage von Aristoteles nach dem »Anfang« der Bewegung, als auch, worin die Gemeinsamkeit mit dem zweiten Ignorabimus bestehen könnte. Denn erstens läßt sich Chrysipps Beispiel, das gewissermaßen dem ersten Ignorabimus als Subtext zugrunde liegt, als Antwort auf das Problem interpretieren, das Aristoteles an einschlägigen Stellen mit dem Konzept von Selbstbewegung hat:18 In jedem Einzelfall von Wirkung steckt ein neuer »Anfang« von Bewegung. Und zweitens beinhaltet das Rätsel des Bewußtseins als Selbstbewußtsein das analoge Problem der Unterscheidbarkeit und Asymmetrie – nämlich hier das Verhältnis von demjenigen, dem etwas bewußt ist, und demselben, das bewußt ist, was materialistisch betrachtet wiederum ununterscheidbar zusammenzufallen droht.19 Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, daß Du Bois-Reymond auch im Kraftkonzept der modernen Physik noch immer auf ein »letztes Unbegreifliches« stoßen würde: Das Rätsel der Kraft, nun verstanden als das Problem der Selbstbeteiligung der Wirkung an der Verursachung, die ein Rest von Animismus offenbart, ist noch bis heute ungelöst.

II Im Gravitationsfeld fallen alle Körper gleich schnell. Dieses seit Galilei bekannte empirische Resultat ist höchst erstaunlich, da es eine unerklärliche Gleichheit von träger und schwerer Masse impliziert. Betrachten wir ein Objekt in geradlinig-gleichförmiger Bewegung. Nach einer gewissen Zeit weiche das Objekt von diesem Verhalten ab. Seine Bewegung werde entweder ungleichförmig, nicht länger geradlinig, oder weder geradlinig noch gleichförmig; kurzum: es werde beschleunigt. Dieses Abweichen von der geradlinig-gleichförmigen Bewegung erklären Physiker durch den Einfluß einer Kraft, also etwa durch den Einfluß eines Magnetfeldes. Das Kraftkonzept impliziert zunächst, wie es in Newtons Trägheitsgesetz zum Ausdruck kommt, daß das Objekt eine Eigenschaft hat, aufgrund derer es in geradlinig-gleichförmiger Bewegung verbleibt, solange keine Kraft wirkt. Daß das Objekt träge ist, daß es also die Eigenschaft der Trägheit, der trägen Masse hat, besagt, daß

18

Zum Problem von Selbstbewegung (bei Aristoteles) vgl. beispielsweise M. L. Gill / J. G. Lennox (Hg.), Self-Motion. From Aristoteles to Newton, Princeton 1994. Der Zusammenhang von Chrysipps Beispiel, Aristoteles Konzept von Selbstbewegung und dem ersten Ignorabimus wird im folgenden noch ausführlich erörtert. 19 Zum Problem des Selbstbewußtseins vgl. beispielsweise Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, hrsg. und mit einem Nachw. vers. von M. Frank, Frankfurt / M. 1991.

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es einer Kraft bedarf, um das Verhalten des Objekts zu ändern. Nur weil es träge ist, ist ein äußerer Einfluß nötig, um das Objekt zu beschleunigen. Wegen der Trägheit geschieht die Beschleunigung nicht von selbst. Das Kraftkonzept der Physik impliziert aber desweiteren, und dies ist erst seit Einstein wirklich aufgefallen, daß das zu beeinflussende Objekt noch eine weitere Eigenschaft besitzt, aufgrund derer das Objekt die Kraft spürt. Eine Eigenschaft, die es für die einwirkende Kraft sensibel macht. Eine solche Eigenschaft heißt »Ladung«, wobei verschiedene Kräfte verschiedene Ladungen implizieren: elektrische Ladung, starke und schwache Kernladung, gravitative Ladung (Schwere bzw. schwere Masse). Trägheit und Ladung sind also qualitativ verschiedene, ja gegensätzliche Eigenschaften: Aufgrund der einen setzt das Objekt der Kraft einen Widerstand entgegen,20 aufgrund der anderen wird es für sie sensibel. Quantitativ gilt: Je träger ein Objekt ist, desto mehr Kraft muß aufgewandt werden, um ein Objekt auf eine bestimmte Weise zu beschleunigen, je stärker es geladen ist, desto weniger ist nötig. Das Ergebnis der Galileischen Fallversuche, daß alle Objekte sich im Gravitationsfeld gleich verhalten, bedeutet beispielsweise, daß doppelt so träge Objekte auch doppelt so schwer sind. Es bedeutet insbesondere, daß Objekte, die träger werden, als sie waren, auch gleichermaßen schwerer werden, als sie waren. Trägheit und Schwere haben, kurz gesagt, stets denselben Wert, d. h. obwohl sie qualitativ verschieden, ja gegensätzlich sind, sind sie dennoch quantitativ stets gleich. Diese quantitative Korrelation qualitativ gegensätzlicher Eigenschaften bleibt in der Newtonschen Physik unerklärt, sie ist ihr großes Rätsel. Die empirisch verifizierte Gleichheit von träger und schwerer Masse war Einsteins Ausgangspunkt bei der Entwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie. Sie »erklärt« jetzt diese quantitative Gleichheit, und zwar auf eine beeindruckend einfache, aber auch aufschlußreiche Weise: Weil Trägheit und Schwere keine qualitativ verschiedenen Eigenschaften seien, so Einstein, sei quantitativ gar kein Unterschied möglich. Gegensätzliche Eigenschaften miteinander zu identifizieren, kann aber nur bedeuten, die eine zugunsten der anderen zu eliminieren. Da jedes materielle Objekt träge ist, impliziert die Identifizierung in diesem Fall die Eliminierung der Schwere. Einsteins Identifizierung der trägen mit der schweren Masse bedeutet also, daß es keine schwere Masse gibt. Ungeladene Objekte aber spüren keine Kraft, wie man

20

Die Fähigkeit, im Bewegungszustand zu verharren, solange keine Kräfte wirken, und diejenige, der einwirkenden Kraft einen »Widerstand« entgegenzusetzen, sind nicht unbedingt identisch. Im Konzept »Trägheit« ist beides enthalten. Vgl. J. E. McGuire, Natural Motion and Its Causes: Newton on the ›Vis Insita‹ of Bodies, in: M. L. Gill / J. G. Lennox (Hg.), Self-Motion, a. a. O., 305–329.

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leicht einsieht, wenn man etwa ein elektrisch ungeladenes Teilchen durch ein Magnetfeld schießt. Daß es keine schwere Masse gibt, impliziert also, daß kein Objekt die vermeintliche Kraft der Gravitation spüren würde. Gravitation ist mithin als das, was sie ist, und als was es sie nach wie vor gibt, keine Kraft. Sie ist – so Einsteins positive Bestimmung – die Geometrie des Raumes (bzw. der Raum-Zeit).21 Im Anschluß an Einstein hat einer der ersten philosophischen Interpreten der neuen Gravitationstheorie, Hans Reichenbach, »universelle Kräfte«, die auf alle Körper gleichermaßen wirken, von »differentiellen Kräften« unterschieden, die (im relevanten Sinne) verschiedene Objekte auch verschieden behandeln.22 Danach läßt sich Einsteins Vorgehen so deuten, daß physikalische Kräfte eo ipso differentielle Kräfte sind. Zum Sinn des Kausalitäts-Konzepts in der Physik gehört demnach nicht nur das Trägheitsprinzip, wonach ein äußerer Einfluß nötig ist, um das Verhalten eines Objekts zu ändern, sondern zusätzlich eine Eigenschaft des zu beeinflussenden Objekts, aufgrund derer es für den äußeren Einfluß empfänglich ist – eine bestimmte Ladung. Ein Objekt besitzt gemäß der gegenwärtigen Physik, so kann man interpretieren, ebenso wie schon bei Aristoteles nicht nur einen passiven Aspekt (Materie, Masse), sondern auch einen aktiven (Form, Ladung).23 Es ist dieser zweite Aspekt, ohne den es zu einer Wirkung nicht käme, über den Quine ein gegenwärtiges Ignorabimus ausspricht, das im Grunde das erste von Du Bois-Reymond ist: »The disposition [d. i. Ladung] is a property, in the object, by virtue of which the circumstances c cause the object to do a. The ›by virtue‹ here is what defies explanation.«24

III Zur Erläuterung und Verteidigung der soeben aufgestellten These betrachten wir ein elektrisch geladenes Teilchen in einem veränderlichen Magnetfeld. Von seiner geradlinig-gleichförmigen Anfangsbewegung erfahre es eine Ablenkung nach links. Es lassen sich zwei Warum-Fragen stellen: 21

Für eine knappe, aber verständliche Darstellung der allgemeinen Relativitätstheorie vgl. J. Audretsch, Ist die Raum-Zeit gekrümmt? Der Aufbau der modernen Gravitationstheorie, in: J. Audretsch / K. Mainzer (Hg.), Philosophie und Physik der Raum-Zeit, Mannheim / Wien / Zürich 1988, 52–82. 22 Vgl. H. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (1928), in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von A. Kamlah, Bd. 2, Braunschweig 1977. 23 Entsprechend ist, technisch gesprochen, die Masse die Invariante der äußeren Raum-Zeit-Symmetrie, während Ladungen die Invarianten der inneren Eich-Symmetrien sind. 24 W. V. O. Quine, The Roots of Reference, La Salle 1974, 8 (kursiv von mir).

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Warum bewegte sich das Teilchen nach links? Warum bewegte sich das Teilchen nach links, als das Magnetfeld eingeschaltet wurde? Lassen wir nun die Antworten lauten: Weil ein Magnetfeld eingeschaltet wurde, Weil das Teilchen elektrisch negativ geladen war, so wird nach Geert Keil ein entscheidender Unterschied offenbar.25 Im ersten Fall werde ein verursachendes Ereignis genannt und im zweiten »ein Grund dafür, warum das bereits genannte verursachende Ereignis den besagten Effekt hatte und nicht einen anderen«26 – oder keinen. Der Grund dafür, warum das genannte Ereignis (Einschalten des Magnetfeldes) überhaupt verursachend ist – nämlich die Ladung des abzulenkenden Teilchens –, sei ein »nichtkausaler Beitrag«,27 und zwar deshalb, weil die Abhängigkeit der Bewegung des Teilchens von seiner Ladung keine zwischen Ereignissen ist.28 Das aber ist nur scheinbar eine Begründung, in Wahrheit aber bloß die tautologische Wiederholung der Behauptung. Worum es geht, sieht Keil nämlich ganz klar: Wenn der »Grund« dafür, warum ein Ereignis wie das Einschalten eines Magnetfeldes »den besagten Effekt hatte«, gar nicht in diesem Ereignis selber liegt, sondern ausgerechnet in dem Objekt, das gerade beeinflußt werden soll, wenn also der Grund für die Kausalität zwischen zwei Ereignissen letztlich doch im bewirkten Ereignis selber liegt, dann ist anscheinend der Animismus nicht aus der Welt. Diesen abzuwehren, ist denn auch sein Ziel: »Die Annahme, daß Naturdinge von sich aus oder kraft ihrer essentiellen Eigenschaften etwas tun, ist Animismus«29 – und das soll heißen: Unsinn. Dann aber meint er mit »nichtkausalem Beitrag« insbesondere, daß diese Eigenschaften (Ladungen) keine Selbstverursachung indizieren. Warum sie dies nicht tun, obwohl kausalitätstypische kontrafaktische Abhängigkeiten zwischen diesen Eigenschaften und der bewirkten Ablenkung bestehen, wäre zu begründen, was nicht geschieht. Denn daß diese kontrafaktischen Abhängigkeiten keine zwischen zwei verschiedenen Ereignissen sind, schließt Kausalität innerhalb dieses einen Ereignisses ja gerade noch nicht aus. Davor aber, so fügt Keil dann hinzu, schütze uns Newtons Trägheitsgesetz – »Von

25

Vgl. G. Keil, Handeln und Verursachen, Berlin / New York 2000, 311. Sein Beispiel ist freilich ein anderes. 26 Ebd., 312. 27 Ebd., 310, Anm. 21. 28 Vgl. ebd., 312. 29 Ebd., 313.

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der aristotelischen dynamis trennt uns das Trägheitsprinzip«30 –, was an dieser Stelle der Argumentation immer wieder derselbe Irrtum ist. Zwar geht Ingvar Johansson fehl, wenn er die Trägheitsbewegung eines Körpers selber als Selbstbewegung versteht,31 und zwar schon deshalb, weil nur dann wahr sein kann, daß »trivially, inertial motion involves changes, changes of place«32, wenn man Newtons absoluten Raum voraussetzt. Demgegenüber ist das Entscheidende an der Trägheitsbewegung, daß durch bloßen Wechsel des Bezugssystems – also nicht etwa dynamisch durch Abbremsen – jegliche Bewegung verschwindet – nämlich nicht nur die relative gegen das gewählte Bezugssystem, sondern wegen fehlender Trägheitskräfte in diesem Bezugssystem auch die Bewegung mit ihm. Die Trägheitsbewegung kann daher stillgestellt werden durch eine dem Objekt äußere Perspektive, obwohl doch bei Selbstbewegung die Ursache gerade keine äußere sein kann. Sie kann ferner stillgestellt werden durch eine (äußere) Perspektive, und also nicht durch eine weitere Ursache, die der vermeintlich vorhandenen entgegenwirken müßte. Daher braucht die Trägheitsbewegung gar keine aktuale Ursache und ist somit erst recht nicht selber schon ein Fall von Selbstbewegung. Vor dieser sind wir aber nicht allein schon deshalb geschützt: Wovor tatsächlich und ausschließlich das Trägheitsprinzip uns bewahrt, ist vielmehr, wie ausgeführt, daß Objekte ihren Bewegungszustand ohne äußeren Einfluß wechseln können. Es schützt, so könnte man polemisieren, nur vor causa sui ex nihilo, nicht aber vor causa sui ex aliquo, und bewahrt uns daher nur vor einer Vergöttlichung der Objekte, nicht aber vor dem Rest an Animismus.33 Um diesen auszuschließen, hat man zusätzlich zum Trägheitsprinzip die Rolle der Ladung zu betrachten, was insbesondere deshalb vonnöten ist, da man noch einen weiteren Beitrag des Objekts der Wirkung an der Verursachung benennen kann, und so Quines Diktum bislang noch doppeldeutig ist: Das Vermögen, »by virtue of which the circumstances c cause the object to do a«, könnte auch die Fähigkeit des Objekts sein, auf eine actio mit einer reactio zu reagieren, ohne die es zu einer Verursachung ebenfalls nicht käme. Dieser Beitrag des zu beeinflussenden Objekts ist nun tatsächlich ein nichtkausaler, denn die reactio ist eine Kraft, die vom Objekt der eigentlichen Wirkung ausgeht und auf das Objekt der eigentlichen Ursache hinzielt, ohne doch in diesem Objekt, das einzig in Frage kommt, irgendetwas zu bewirken. Beim 30

Ebd. Vgl. I. Johansson, Intentionality and Tendency: How to Make Aristotle Up-To-Date, in: K. Mulligan (Hg.), Language, Truth and Ontology, Dordrecht / Boston / London 1992, 180–192, insbes. 184: »inertial motion […] involves self-changes«. 32 Ebd. 33 Zu den unterschiedlichen Varianten von causa sui vgl. G. Prauss, Die Welt und wir, Bd. I/2, Stuttgart 1993, 970. 31

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vollständig elastischen Stoß, bei dem Newtons drittes Axiom von der quantitativen Gleichheit von actio und reactio ebenso gilt wie sonst, geht alle Bewegung des stoßenden Objekts über auf das gestoßene, ohne daß Bewegung des gestoßenen Objekts ihrerseits auf das stoßende Objekt überginge. Keineswegs ist wegen der reactio durch die eigentliche Wirkung die eigentliche Ursache noch in irgendeinem Sinne Wirkung der eigentlichen Wirkung. Vielmehr bewirken weder actio noch reactio für sich alleine irgendetwas, sondern beide Kräfte sind die nichtkausalen Beiträge der beiden beteiligten Objekte, die nur zusammen Kausalität ergeben zwischen dem einen Ereignis als einziger Ursache und dem anderen als einziger Wirkung.34 Und dies alles geschieht gemäß der modernen Physik nur dann, wenn das zu beeinflussende Objekt geladen ist, wenn es also an dieser Fremdverursachung einen Beitrag der Form des Objekts der Wirkung (seiner Ladung) gibt, der immer noch nicht aufgeklärt ist. Die Ladung indiziert den rätselhaften Selbstverursachungs-Anteil des Objekts der Wirkung an der Verursachung, so die Behauptung, die (offenbar unwissentlich) Susan Sauvé Meyer in einer scharfsinnigen Aristoteles-Interpretation stützt, wie der folgende Abschnitt zeigen soll.

IV Der antike Subtext von Du Bois-Reymonds erstem Ignorabimus steht im Kontext von »Schicksal und Verantwortung« und handelt daher vom Problem des »Anfangs« der Bewegung in uns als Handelnden. Er sei vollständig zitiert: »Wenn du beispielsweise einen zylindrischen Stein über ein schräges Stück Boden stößt, dann bildest du für ihn sicherlich die Ursache seines schnellen Hinabrollens und bewirkst dessen Anfang; doch alsbald rollt der Stein vorwärts, nicht weil du es noch bewirken würdest, sondern wegen seiner Gestalt und der Rollfähigkeit seiner eigenen Form. Genauso setzt die Ordnung, das Gesetz und die Unausweichlichkeit des Fatums die verschiedenen Arten von Ursachen und ihre Anfänge in Bewegung; aber die Durchführung unserer Entschlüsse und Gedanken und die Handlungen selbst werden von den individuellen Besonderheiten eines jeden und von den jeweiligen Eigenheiten des Geistes gesteuert.«35

Den gegensätzlichen Auffassungen der alten Philosophen, wonach einerseits alles durch das Fatum geschieht, das Notwendigkeit der Art eines Zwanges mit sich bringe, und anderseits es freiwillige Seelenbewegungen gibt ohne jeden 34

Das Vermögen zur reactio ist unmittelbare Konsequenz der bloßen Existenz des Objekts – im Gegensatz zur Ladung. Das Gesetz von actio und reactio gilt daher schon in der Mechanik des Stoßes und ist für Du Bois-Reymond kein Problem. 35 Zit. nach Gellius, a. a. O.

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äußeren Einfluß, setze Chrysipp, so interpretiert Cicero,36 einen Mittelweg entgegen. Er wolle zum einen, daß sich nichts ohne vorausliegende, d. h. äußere Ursache ereigne, zum anderen aber daran festhalten, daß Handlungen in unserer Macht liegen. Daher habe er zwischen verschiedenen Arten von Ursachen unterschieden und vertreten, daß äußere Ursachen nur »mithelfende und Nebenursachen« seien, während die wesentliche Ursache vielmehr im bewegten Objekt selber liege. Eben dies zeige das Beispiel von der Walze: Obwohl solche Objekte nur durch einen äußeren Einfluß zur Bewegung veranlaßt werden können, rolle die Walze (einstweilen) doch »aufgrund [ihrer] eigenen Natur«37 – und das heißt: von selbst. Man folgert: »Wie also derjenige, der die Walze angestoßen hat, ihr zwar den Beginn der Bewegung, aber nicht die Fähigkeit zur Drehung vermittelt hat, so wird der vorgestellte Gegenstand der Seele zwar die entsprechende Vorstellung einprägen […]; aber die Zustimmung dazu wird in unserer Macht liegen.«38

Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Handelnde diese Zustimmung, die in seiner Macht liegt, etwa auch verweigern könnte, oder daß die Walze trotz dem Anstoß (und der Schwerkraft) das Rollen aufgrund ihrer Natur unterlassen könnte. Die Vereinbarkeit von Schicksal und Freiheit bzw. von externer Ursache und Selbstbewegung beruht gerade darauf, daß die Seelenbewegung und die Fähigkeit zum Rollen die Selbstverursachungs-Anteile an den Fremdverursachungen sind – nämlich Anteile am notwendigen Zusammenhang zwischen dem äußeren Ereignis als auslösender Ursache und der Handlung (bzw. dem Rollen) als Wirkung. Mit Aristoteles könnte man nun scheinbar die Behauptung stärken, daß es sich bei dieser »Fähigkeit zum Rollen« um einen nichtkausalen Beitrag der Walzenform handelt. Um einen Selbstverursachungs-Anteil könne es sich nämlich deshalb nicht handeln, weil die Walze und der Handelnde – wenn ein äußerer Impuls als Bedingung gegeben ist – hier nicht anders können. Der entscheidende Unterschied zwischen einer Bewegung aus Natur – d. h. von selbst – und einer Bewegung bloß der Natur gemäß liege doch nach Aristoteles, so der Einwand, gerade darin, daß das selbstbewegte Tier auch anders kann, während Feuer nach oben steigen muß und Erde nach unten fällt (wenn man sie nicht gerade mit Gewalt daran hindert). Was sich aus sich selbst heraus bewege, müsse auch aus sich selbst heraus in Ruhe kommen können.39 Damit

36

Vgl. Cicero, De fato, 39–43, in: A. A. Long / D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen, a. a. O., 461–463. 37 Ebd., 462. 38 Chrysipp, zit. nach Cicero, ebd., 462 39 Vgl. Aristoteles, Physik, VIII.4, 255a5–10.

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steht allerdings Aristoteles in offenem Gegensatz zu Platon, der im Phaidros das Charakteristische von Selbstbewegung gerade darin sah, daß das Selbstbewegte »Immer-Bewegtes« sei.40 Während alles Fremdbewegte gerade dadurch, daß es durch anderes als sich bewegt wird, von diesem anderen auch verlassen werden könne – und daher durch etwas Drittes dynamisch stillgestellt –, ist das Selbstbewegte ja selbst die Ursache seiner eigenen Bewegung. Es werde daher von seiner Ursache »nie im Stich gelassen« und kann somit, so läßt sich folgern, durch etwas Drittes nur ausgelöscht, aber nicht angehalten werden: Insofern es existiert, ist es (selbst)bewegt.41 Doch auch Aristoteles selbst kann nicht auf die Behauptung festgelegt werden, daß etwas, das sich selbst bewegt, sich auch selbst anhalten können muß, bzw. daß die Fähigkeit zur Selbstbewegung sowohl impliziert, sich selbst in Bewegung setzen, als auch, sich selbst in Ruhe halten zu können. Denn dem Konzept von Selbstbewegung in Physik VIII. 4–5, wonach es nichts Externes geben kann, was uns bewegt, steht die bekannte Lehre geradezu entgegen, wonach wir doch vom »Objekt der Begierde« angeregt werden.42 Wenn es nämlich hinreichende, der Handlung äußere und vorhergehende Bedingungen gibt, dann liegt anscheinend die Ursache in etwas anderem und nicht in uns selbst. Der Vorschlag des Stoikers Chrysipp läßt sich nun als Antwort auf das von Aristoteles aufgeworfene, doch nicht gelöste Problem verstehen:43 Wenn man eben zwischen »vollkommenen und Hauptursachen« auf der einen und »mithelfenden und Nebenursachen« auf der anderen Seite unterscheide, dann könne man aufrecht erhalten, daß etwas sich selbst bewegt, obwohl äußere Bedingungen vorliegen, mit denen die Wirkung nicht ausbleiben kann. Diesen Bedingungen entsprächen dann nur unwesentliche Ursachen, wie es eine solche beispielsweise jener Stoß gegen die Walze sei. Die wesentliche Ursache liege hingegen im bewegten Objekt selber und bestehe in seiner Form, die mithin die eigentliche causa efficiens dieses Vorgangs sei: »The external entity, which brings about the change that precipitates the elemental movement, is only the accidental cause of the elemental movement, and hence is not really its efficient cause in the proper sense of ›cause‹.«44 40

Vgl. Platon, Phaidros, 245c–e, ferner Nomoi X, 893b ff. Dazu H.-U. Baumgarten, Handlungstheorie bei Platon. Platon auf dem Weg zum Willen, Stuttgart 1998, 171 ff. 41 Mit Platon hätte man daher auch nie erwogen, es könne sich bei der Trägheitsbewegung um Selbstbewegung handeln. 42 Vgl. Aristoteles, De motu animalium 6, 700b24–29 und De anima III.10, 433a 17–21. 43 Vgl. zu dieser Strategie S. Sauvé Meyer, Self-Movement and External Causation, in: M. L. Gill / J. G. Lennox (Hg.), Self-Motion, a. a. O., 65–80, dort insbesondere 76 f. 44 Ebd., 77. Die Form des Selbstbewegten ist also causa formalis und causa efficiens in einem.

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Worin aber besteht der Unterschied zwischen den wesentlichen und den unwesentlichen Ursachen bzw. den Haupt- und Nebenursachen? Darauf gibt Sauvé Meyer eine für unseren Zusammenhang aufschlußreiche Antwort. Zum Verständnis ist dabei zunächst das Beispiel von der Walze durch das vom Kreisel zu ergänzen.45 Denn erst beide Beispiele Chrysipps im Vergleich zeigen nach Sauvé Meyer das ihnen Eigentümliche – nämlich, daß die beiden Objekte auf denselben Stoß qualitativ unterschiedlich reagieren: Die Walze rollt in gerader Linie, der Kreisel dreht sich. Und bei Aristoteles reagiert nur der lasterhafte Mensch beim Anblick des Goldes, indem er es stiehlt. Daraus folgert sie, daß man generell eine äußere unwesentliche, bloß mithelfende Ursache dadurch charakterisieren kann, daß verschiedene Objekte/Personen auf sie unterschiedlich reagieren: »By contrast, an external object of perception that is the nonaccidental cause of a desire it precipitates would be an object that any human being would react to in the same way.«46

Dies ist ein wahrlich erstaunliches Resultat, denn das bedeutet, daß nur solche Objekte äußere Wirkursachen »in the proper sense of ›cause‹« sein können, die im Sinne der heutigen Physik überhaupt nichts mehr verursachen. Denn diese Charakterisierung einer wesentlichen Ursache trifft genau das, was Reichenbach mit »universeller Kraft« bezeichnete, und was für Einstein und seine Nachfolger gerade keine physikalische Kraft ist. Eine physikalische Kraft ist stets eine »differentielle«, d. h. eine, auf die verschiedene Objekte unterschiedlich reagieren. Keine physikalische Kraft vermittelt demnach die wesentliche Wirkursache, und nichts Äußeres ist der gegenwärtigen Physik gemäß Ursache im »eigentlichen« Sinn von Ursache. Alle Objekte der Physik bewegen sich letztlich von selbst.47

V Zwischen zwei Ereignissen herrscht mehr als bloße Regularität – nämlich Kausalität: Das ist der Ausgangspunkt von Du Bois-Reymond. Ob das Kausalprinzip, wonach jedes Ereignis Wirkung einer Ursache ist, nun sogleich das Prinzip des Mechanismus ist, wonach es nichts als externe causa efficiens gibt, ist aber alles andere als klar. Anderes als »externe causa efficiens« – also etwa

45 46 47

Vgl. Cicero, De fato, a. a. O., 462. S. S. Meyer, Self-Movement and External Causation, a. a. O., 79, Anm. 26. Man sollte ergänzen: Außer in der zur Ruhe äquivalenten Trägheitsbewegung.

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causa finalis oder causa sui – ist jedoch für einen mechanistischen Materialisten völlig unverständlich. Also hofft er, alles auf Stoßvorgänge reduzieren zu können, weil diese doch immerhin ein anschauliches Bild dafür geben, daß das zu beschleunigende Objekt sich nicht von selbst bewegt. Jede durch unsinnliche Kräfte vermittelte Wirkung, ob als instantane Fernwirkung oder als speziellrelativistische »Nahewirkung«, bewahrt hingegen einen Rest von Animismus: In jeder solchen Fremdverursachung steckt ein neuer Anfang von Bewegung – nämlich Selbstbewegung des zu beschleunigenden Objekts –, weshalb das Rätsel der Kraft, das erste Ignorabimus, eben »einerlei« ist mit jenem klassischen Problem des Aristoteles. Ein Blick auf die moderne Physik bestätigt Du Bois-Reymonds Intuition: Ein Objekt muß etwas in bzw. an sich haben, um Kräfte spüren zu können – eine bestimmte Ladung. Zu einer Fremdverursachung kommt es nur dann, wenn das verursachte Ereignis an seinem eigenen Zustandekommen mitbeteiligt ist. Dieser Beitrag des Objekts in der Wirkung ist noch bis heute ungeklärt und aus der Perspektive des Materialismus auch unerklärbar. Doch damit ist das Rätsel der Kraft noch längst nicht erschöpfend behandelt. In der Tat nämlich sind Kräfte »ganz und gar« unsinnlich, also prinzipiell unbeobachtbar, und gerade nicht so etwas wie elektromagnetische Felder, die sich noch als quasi-empirische Objekte auffassen ließen. In modernen Quantenfeldtheorien sind Botenteilchen, welche Wirkungen übertragen, vielmehr »virtuelle«, also zwar wirkliche (und nicht etwa bloß mögliche), aber unbeobachtbare Teilchen.48 Der ontologische Status solcher nichtempirischen Gegenstände ist höchst umstritten und wohl nur jenseits des Materialismus zu klären. Dieses Problem aber muß andernorts erörtert werden.49

48

Selbst deren Existenz wird bestritten; vgl. P. Teller, An Interpretive Introduction to Quantum Field Theory, Princeton / New Yersey 1995, 140, und R. Weingard, Virtual Particles and the Interpretation of QFT, in: H. R. Brown / R. Harré (Hg.), Philosophical Foundations of Quantum Field Theory, Oxford 1990, 45. 49 Zu einem Klärungsversuch vgl. schon C. Friebe, Substanz / Akzidens-Ontologie physikalischer Objekte. Eine transzendentalphilosophische Deutung der modernen Physik, Freiburg / München 2001, Kap. 3.

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»Das ›Ignorabimus‹ ist sinnlos.«1 Der Wiener Kreis und die Rückkehr eines alten Problems in der Quantenmechanik Während des akademischen Jahres 1929/30 nutzen zwei Protagonisten des Wiener Kreises die Gelegenheit, an herausgehobener Stelle vor einem größeren akademischen Publikum zu sprechen, zu einer detaillierten Kritik an Emil Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede. Der vorliegende Beitrag untersucht, was sie dazu veranlaßte, eine Jahrzehnte zurückliegende Debatte wieder aufzugreifen und das längst zu einer Metapher über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im allgemeinen gewordene Ignorabimus wieder in einen wissenschaftlichen Kontext zu stellen. Denn bereits die intellektuellen Vorbilder des Wiener Kreises hatten die weitreichenden philosophischen Schlußfolgerungen Du Bois-Reymonds energisch zurückgewiesen. Zudem war das mechanistische Weltbild, auf dem diese letztlich beruhten, längst überwunden, und zwar nicht nur durch ein neues, wie dies Wilhelm Ostwalds Energetik um die Jahrhundertwende propagiert hatte, sondern durch die Einsicht, daß ein ontologischer Reduktionismus im klassischen Sinne unhaltbar war. Meine These ist, daß aus neopositivistischer Perspektive die Debatten über die Interpretation der Quantenmechanik die Gefahr in sich bargen, daß sich in der Atomphysik ein neues Ignorabimus auftat – und zwar genau dort, wo es Du Bois-Reymond verortet hatte: in der Materie und den sie beherrschenden Kräften. Zwar lagen zu diesem Zeitpunkt die grundlegenden Arbeiten von Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg gerade einmal drei Jahre zurück. Doch hatten Heisenberg, Max Born und vor allem Niels Bohr bereits 1927 die grundlegenden Züge derjenigen Interpretation formuliert, die für mehrere Jahrzehnte vorherrschen würde.2 Daraus ergab sich einerseits, daß in Gestalt von Heisenbergs Unschärferelation eine mathematisch präzise Erkenntnisgrenze gezogen 1

Überschrift von § X,16 in P. Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, Wien 1932. Die Literatur über die Geschichte der Quantentheorie ist umfangreich. Mara Beller, Quantum Dialogue. The Making of a Revolution, Chicago 1999, zeigt, daß das Jahr 1927 nicht nur ein bedeutender Wendepunkt in der Physik des 20. Jahrhunderts war, sondern auch in der Art und Weise, diese zu interpretieren und öffentlich zu diskutieren. Allerdings ist das Buch nicht von Einseitigkeiten frei, da die Autorin die Kopenhagener Deutung von ganzem Herzen ablehnte. Einen ausgewogeneren Überblick gibt Helge Kragh, Quantum Generations. A History of Physics in the Twentieth Century, Princeton 1999. In deutscher Sprache und von einem der Beteiligten ist Friedrich Hund, Geschichte der Quantentheorie, Mannheim / Zürich 1984. 2

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war, während Du Bois-Reymonds Ignorabimus gegenüber Materie und Kraft auf einer philosophischen Überlegung beruht hatte, die um 1930 niemanden mehr überzeugen konnte. Andererseits schien durch die zentrale Rolle des Beobachters im quantentheoretischen Meßprozeß ein Punkt ausgezeichnet zu sein, der selbst nicht innerhalb der physikalischen Theorie der Materie formulierbar war. Die hier vertretene These widerspricht nicht der Tatsache, daß zur selben Zeit im Wiener Kreis darüber diskutiert wurde, wie metaphysische Behauptungen von der Art des Ignorabimus eindeutig als solche identifiziert und als sinnlose Sätze eliminiert werden konnten. Denn in dieser Hinsicht war das Ignorabimus nur eine von vielen metaphysischen Behauptungen aus dem Munde eines Wissenschaftlers – wenngleich eine historisch einflußreiche.

I. Drei akademische Reden Am 16. September 1929 eröffnete Philipp Frank, Professor der Physik an der Deutschen Universität Prag, den fünften deutschen Physiker- und Mathematikertag in Prag mit einem Vortrag über die Frage Was bedeuten die gegenwärtigen physikalischen Theorien für die allgemeine Erkenntnislehre? Franks Ziel war es, seine Kollegen davon zu überzeugen, daß die Herausforderungen, welche die moderne Physik an die allgemeine Erkenntnislehre herantrug, nur dann gemeistert werden konnten, wenn sich diese den in Mathematik und Physik gängigen wissenschaftlichen Methoden verschrieb. Verbleibe die Erkenntnislehre hingegen einer eigenständigen philosophischen Methode verpflichtet, drohten ewig unlösbare Rätsel im Stile des Ignorabimus. Franks Freund, der angewandte Mathematiker Richard von Mises, sekundierte mit Betrachtungen Über kausale und statistische Gesetzmäßigkeit in der Physik, in denen er zeigte, daß das Erklärungsideal des Laplaceschen Determinismus nicht erst durch die neuere Atomphysik unhaltbar geworden war, sondern bereits in der Mechanik der Flüssigkeiten aufgegeben werden mußte. Zwar erwähnte von Mises weder die Ignorabimus-Rede noch deren Autor, doch beruht Du Bois-Reymonds Argumentation ja gerade darauf, daß der Laplacesche Geist »die höchste denkbare Stufe unseres Naturerkennens vor[stellt].«3 Im Rahmenprogramm des Physikertages fand auch eine »Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften« statt, auf der sich der Wiener Kreis mit einem vom Verein Ernst Mach herausgegebenen Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung erstmals der Öffentlichkeit vorstellte.4 3

E. Du Bois-Reymond (1872), Über die Grenzen des Naturerkennens. Die sieben Welträtsel, Leipzig 1907, 23. 4 Richard von Mises wird im Manifest weder zu den Mitgliedern des Wiener Kreises

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Richard von Mises, war im selben Jahr Rektor der Universität Berlin. Einer der Höhepunkte eines jeden Rektorats war traditionell die Rede zur Erinnerung an den Stifter der Universität, König Friedrich Wilhelm III. Auch Du Bois-Reymond hatte just sechzig Jahre zuvor eine solche Rede gehalten, doch stand diese ganz unter dem Eindruck des deutsch-französischen Krieges.5 Von Mises griff daher die Ignorabimus-Rede (und zwei weitere Reden mit ähnlicher Stoßrichtung) auf und fragte nach den Unterschieden zwischen dem naturwissenschaftlichen Weltbild der Gegenwart und dem der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts.6 Hatte Du Bois-Reymond noch fest auf den Grundlagen des mechanischen Weltbildes und einer deterministischen Kausalität gestanden, so werde nun immer deutlicher, daß alle physikalischen Aussagen letztlich statistischer Natur seien. Zum Abschluß seines Vortrages betonte von Mises außerdem, daß mit einer Ablehnung des Ignorabimus auch der gängigen Rechtfertigung der Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften der Boden entzogen sei. Alle drei Reden erschienen alsbald in der vielgelesenen Wochenschrift Die Naturwissenschaften, in der neben Überblicksartikeln und Kurzmitteilungen aus den Einzeldisziplinen auch allgemeinere Themen Platz fanden. Wohl geplant durch den Herausgeber Arnold Berliner verbanden sich hier Reflexionen von führenden Naturwissenschaftlern über die geeignete Interpretation ihrer Theorien mit philosophischen Erörterungen über Geometrie, Wahrscheinlichkeit, Kausalität usw., deren Autoren meist jenen für die deutsche Wissenschaft so charakteristischen Typ des Physiker-Philosophen verkörperten. Darunter finden sich auch viele Mitglieder des Wiener Kreises. Häufig vertreten waren

noch zu den nahestehenden Autoren gezählt. Eine entsprechende Anfrage scheiterte, weil von Mises der Ton des Aufrufs mißfiel. Doch über die gemeinsame geistige Herkunft und die geteilten Grundüberzeugungen hinaus existieren viele Verbindungen zum Wiener Kreis, nicht zuletzt von Mises’ Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung, Den Haag 1939, das als Heft 7 der vom Wiener Kreis herausgegebenen Reihe Einheitswissenschaft erschien. Frank und von Mises haben auch nach der Prager Tagung in ihren philosophischen Arbeiten ständig aufeinander verwiesen. 5 E. Du Bois-Reymond, Über den deutschen Krieg. Rede am 3. August 1870 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1870. Auch von Mises Rede begann mit dem Gedenken an ein aktuelles historisches Ereignis, nämlich den Abzug der letzten französischen Truppen aus dem Rheinland. 6 In den Anmerkungen werden zitiert: Leibnizsche Gedanken in der neueren Naturwissenschaft (1870) und Die sieben Welträtsel (1880), ein Vortrag, der nach 1882 wiederholt zusammen mit der Ignorabimus-Rede in einem Bändchen abgedruckt wurde. Ebenso wird Franks »moderne Kritik des ›Ignorabimus‹« in der Prager Rede erwähnt; vgl. R. von Mises, Über das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart, in: Die Naturwissenschaften 18 (1930), 893.

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auch die Väter der Quantenmechanik, Max Planck, Niels Bohr, Max Born, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg.7 Die drei Reden erschienen mithin genau an der richtigen Stelle, um im Diskurs über die philosophischen Konsequenzen der Quantenmechanik wahrgenommen zu werden.

II. Erkenntnisoptimismus und Metaphysikkritik Es überrascht kaum, daß der Wiener Kreis sowohl die Prämissen als auch die Konklusion der Ignorabimus-Rede vehement ablehnte. So heißt es im Manifest: »Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt werden und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden können.«8

In der Ablehnung prinzipiell unlösbarer Fragen war der Wiener Kreis mehrere Jahrzehnte nach dem Ignorabimus-Streit jedoch keineswegs allein. Zudem waren die entscheidenden Argumente bereits von seinen geistigen Vorbildern vorgebracht worden. Andererseits war die vom Wiener Kreis ab Mitte der 1920er Jahre entwickelte wissenschaftslogisch orientierte Metaphysikkritik weitaus ambitionierter, als nur eine Erledigung des alten Ignorabimus zu sein. Sie mündete letztlich in den nur teilweise erfolgreichen Bemühungen um ein explizites Sinnkriterium wissenschaftlicher Aussagen. Exemplarisch für die Vorbilder seien hier zwei im Manifest genannte Vertreter derjenigen Strömungen genannt, als deren Synthese sich der Logische Empirismus verstand: der modernen Logik bzw. Mathematik und der empiristischen bzw. positivistischen Wissenschaftsauffassung. David Hilbert hatte schon in seinem berühmten Pariser Vortrag von 1900 die moderne Mathematik dadurch charakterisiert, daß es in ihr kein Ignorabimus gebe, weil jedes sinnvolle Problem auch eine (positive oder negative) Lösung besitze – sofern man nur bereit sei, den Lösungsbegriff geeignet zu fassen.9 Denn die axiomatische Methode erlaubt es der Mathematik, die 7

Vgl. zur weiteren Charakterisierung dieser Zeitschrift mein Kausalität in den Naturwissenschaften. Zu einem Milieuproblem in Formans These, in: H. Franz / W. Kogge / T. Möller / T. Wilholt (Hg.), Wissensgesellschaft: Transformationen im Verhältnis von Wissenschaft und Alltag, 85–128, (iwt-paper 25). Zugänglich unter: http.//bieson.ub.unibielefeld.de/volltexte/2002/90/html/Michael_Stoeltzner_Wissensgesellschaft.pdf. 8 Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien 1929, 15. 9 Dieser Aspekt wird besonders deutlich am 20. Problem. Vgl. D. Hilbert, Mathematische Probleme, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Mathematisch-Physikalische Klasse aus dem Jahre 1900, 253–297.

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Grenzen ihres Gegenstandsbereiches selbst zu definieren; außerhalb des durch die jeweiligen Axiome definierten Bereichs gibt es gar keine mathematischen Gegenstände. Glaubte Hilbert, dadurch die zentrale Stellung der Mathematik im Verband der Wissenschaften gesichert zu haben, so präsentierte Ernst Mach bereits ein Jahr vor der Ignorabimus-Rede eine Erkenntnislehre, die den Grundannahmen Du Bois-Reymonds diametral entgegengesetzt war.10 Auch wenn Machs neutraler Monismus später von manchen als Berkeleyscher Phänomenalismus mißverstanden wurde, so war es seiner Elementenlehre doch gerade darum zu tun, die klassische Frage nach den Substanzen als ein Scheinproblem zu entlarven. Letzten Endes sei die Wissenschaft nichts anderes als die – zunächst instinktive, später jedoch wohlüberlegte – »Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und die Anpassung der Gedanken aneinander.«11 Tatsachen waren, Mach zufolge, hinreichend stabile Komplexe von – tatsächlichen oder durch Gedanken ergänzten – Sinneselementen; sie standen keinen Einheiten einer ›wirklichen‹ (oder ›wahren‹) Welt gegenüber, die sie richtig oder falsch abbildeten, sondern stabilisierten sich durch ihre praktische Bewährung. Die zentrale Rolle des Anpassungsbegriffs macht klar, daß Machs naturalistische Erkenntnistheorie Anleihen beim Lamarckismus nahm und er einer mechanistischen Lesart Darwins – wie sie etwa Franks Doktorvater Ludwig Boltzmann vertrat – kritisch gegenüberstand. Für die wissenschaftliche Analyse waren die Machschen Tatsachen schlicht Komplexe aus funktionalen Beziehungen zwischen Elementen von der Form F (A, B, …, K, L, …, α, β, … ) = 0, die physikalischer (A, B, …), physiologischer (K, L, …) oder psychologischer (α, β, …) Natur sein konnten. Kausale Abhängigkeiten bzw. Naturgesetze bestanden ebenfalls in solchen funktionalen Abhängigkeiten. Dadurch glaubte Mach einerseits den Subjekt-Objekt-Dualismus umgehen zu können, indem sich funktionale Abhängigkeiten mühelos über diese so undurchlässig scheinende Grenze erstreckten, und andererseits die Kantische Kausalitätsauffassung zu überwinden. Denn letztlich war die Voraussetzung kausaler Abhängigkeit nur eine im Laufe der Evolution entstandene, biologisch vorteilhafte Denkgewohnheit. Auch waren die funktionalen Abhängigkeiten nicht darauf festgelegt, daß aus einer Ursache die zeitlich spätere Wirkung folgt.

10

E. Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Vortrag gehalten in der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften am 15. Nov. 1871, Prag 1872. Genauer entwickelt wurde Machs Erkenntnislehre in der Analyse der Empfindungen, Jena 1885, und den historisch-kritischen Schriften. 11 E. Mach, Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen, in: Scientia VII (1910), 226.

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Machs Elemente waren keine letzten Sinnesentitäten, keine Erfahrungsatome, sondern entsprachen der für den jeweiligen Zweck hinreichend feinen Zerlegung der Tatsachenkomplexe. Die Reduktion verschiedener Naturgesetze auf eine einzige Theorie, insbesondere auf die Mechanik, lehnte Mach vehement ab, nicht zuletzt weil er dadurch den umfassenden Charakter der Wissenschaften gefährdet sah. Die folgende Passage aus der Mechanik kann derart auch als Entgegnung auf Du Bois-Reymond gelesen werden, den ein solcher Reduktionismus und das damit verbundene Vollständigkeitsideal letztlich zur Erkenntnisskepsis führte. »Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Weltanschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewußtsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen.«12 Diese Passage, die in von Mises’ Rektoratsrede fast wörtlich referiert wird,13 bezeichnet auch ein wichtiges Element der vom Wiener Kreis propagierten wissenschaftlichen Weltauffassung, das Bewußtsein von der Vorläufigkeit einer jeden Erkenntnis. Doch bei aller Verehrung war man sich in Wien sehr wohl der Schwächen von Machs Erkenntnistheorie in bezug auf diejenigen Theorien bewußt, die auf abstrakte Grundprinzipien gestützt waren, etwa die statistische Mechanik und die Relativitätstheorie – so sehr letztere auch gerade Machsches Gedankengut enthielt. Diese Schwächen glaubte man durch Aufnahme des französischen Konventionalismus und der modernen Logik bzw. Mathematik – im Sinne von Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein und eben Hilbert – umgehen zu können. Die logische Analyse wurde zum zentralen Mittel der Wissenschaftsphilosophie in zweierlei Hinsicht. Einerseits bestand sie in der Rückführung wissenschaftlicher Aussagen auf das empirisch Gegebene. Den Erfahrungssätzen standen die analytischen Sätze der Logik und Mathematik gegenüber, die lediglich ›tautologische‹ Umformungen im Sinne Wittgensteins waren. Zwischen beiden existierte keine Brücke von synthetischen Erkenntnissen a priori. Die Verbindung beruhte auf Konventionen und rechtfertigte sich letztlich durch ihre praktische Bewährung. Ziel der logischen Analyse war es andererseits, die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis herauszuarbeiten und versteckte Reste von metaphysischen Vorstellungen, die sich dieser Einordnung widersetzten, zu eliminieren. Metaphysik erschien lediglich als emphatischer Ausdruck eines Lebensgefühls, für das die Lyrik oder die Musik adäquatere Medien darstellten. In diesem Sinne war dann auch Du Bois-Reymonds Wahlspruch »Ignorabi12

E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt (1883), hrsg. von R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Berlin 1988, 479. 13 R. von Mises, Über das naturwissenschaftliche Weltbild …, a. a. O., 892.

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mus« beredter Ausdruck eines Zeitgefühls – und er ist in der Literatur ja auch so rezipiert worden. Während die Metaphysikkritik zur Zeit des Manifests noch im eben skizzierten Sinne epistemologisch orientiert war, vertrat insbesondere Rudolf Carnap später das Programm einer Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache.14 Sätze der Metaphysik sollten so eindeutig identifizierbar sein wie ungrammatische Sätze. Zur Illustrierung dieses Programms bot die Heideggersche Philosophie einen überaus reichhaltigen Fundus von – im Sinne der Carnapschen Definition – sinnlosen Sätzen. Spätestens mit der sogenannten Protokollsatzdebatte zwischen Carnap, Otto Neurath und Moritz Schlick, die just zur Zeit der hier untersuchten Reden einsetzte, hatte die Frage nach einem geeigneten Sinnkriterium den engeren Bereich der Metaphysikkritik verlassen und war in ein Grundlegungsprogramm gemündet. Frank und von Mises waren an diesen wissenschaftslogischen Debatten kaum beteiligt. Frank hatte ebenso wie Neurath Bedenken, daß Carnaps Wissenschaftslogik den Kontakt mit den empirischen Wissenschaften vernachlässigte und zu einer neuen Scholastik führen könnte. Und von Mises betrachtete die Metaphysik gar nicht als sinnlos, sondern lediglich als innerhalb eines engen Schulgebäudes mit anderen Sätzen verbindbar und damit nutzlos für alle anderen Lebensbereiche.15 Nach dieser kurzen Skizze der allgemeinen Ansichten über Sinnkriterium und Erkenntnisgrenzen im Wiener Kreis, worin das Ignorabimus keine Sonderstellung hatte, sollen nun die spezifischen Elemente der Reden des Jahres 1929/30 untersucht werden.

III. Das Ignorabimus und die Schulphilosophie Franks Eröffnungsrede stellte den in Prag versammelten Physikern eine Alternative, die durchaus polemisch gemeint war. Entweder man akzeptiere den Standpunkt der Schulphilosophie, wonach das Wesen von Raum, Zeit und Kausalität nur durch eine besondere philosophische Erkenntnismethode erfaßt werden könne, und handele sich so unlösbare, ewige Rätsel ein. Vor diesem Hintergrund erscheine dann die Quantenmechanik als »eine Zersetzung

14

R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, Berlin 1928; Ders., Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (1931), 219–241. Vgl. auch das Vorwort von Thomas Mormann in: R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Hamburg 2004. 15 Und zwar im Kleinen Lehrbuch des Positivismus, a. a. O., § 6. Eine kurze Einführung in die Protokollsatzdebatte findet sich in Kap. 4 der Einleitung von M. Stöltzner / T. Uebel (Hg.), Wiener Kreis, Hamburg 2006.

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des rationalen Denkens«, ihre Formeln seien nur »Vorschriften zur Darstellung der Versuchsergebnisse, aber keine Erkenntnis der Wirklichkeit«. »Für den aber, der diese nichtwissenschaftlichen Methoden nicht anerkennt, sind die gegenwärtigen physikalischen Theorien eine Bestärkung in der Überzeugung, daß auch in Fragen, wie denen nach Raum, Zeit und Kausalität ein wissenschaftlicher Fortschritt existiert, der mit dem Fortschritt unserer Erfahrungen Hand in Hand geht, […] daß es also keine Grenzen gibt, wo die Physik in die Philosophie übergeht, wenn man nur die Aufgabe der Physik im Sinne von Ernst Mach, etwa mit den Worten von Carnap, als die Aufgabe formuliert: ›Die Wahrnehmungen systematisch zu ordnen und aus vorliegenden Wahrnehmungen Schlüsse auf zu erwartende Wahrnehmungen zu ziehen.‹«16

Und Frank skizzierte die Geschichte dieser gemeinsamen Fortschritte seit den Zeiten Machs, einschließlich der Beiträge von Konventionalismus und Pragmatismus, so daß dem Leser die wissenschaftliche Weltauffassung als unvermeidliche Konsequenz des naturwissenschaftlichen Fortschrittes erscheinen mußte. Als Beispiel für die verheerenden Wirkungen der Schulphilosophie diente Frank nun die Ignorabimus-Rede. »[S]ie hat in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Weltauffassung die Rolle eines Ganges der Naturforscher nach Canossa gespielt. Wenn wir uns überlegen, durch welche Argumente DuBois-Reymond zu seinem Ignorabimus gelangte, so müssen wir bei dem heutigen Stande der Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften zu der Überzeugung kommen, daß es Zeit ist, die ganze Frage noch einmal aufzurollen und einmal wieder nachzusehen, ob der verzweifelte Standpunkt gegenüber der naturwissenschaftlichen Erkenntnis wirklich unausweichlich ist.«17

Nach Franks Ansicht war eine solche Erkenntnisskepsis keineswegs angezeigt, obwohl in den zurückliegenden zwanzig Jahren Relativitätstheorie und Quantenmechanik den liebgewonnenen physikalischen Anschauungen vieles abverlangt hatten. Franks Wiederaufrollen der Ignorabimusproblematik besaß einen spezifischen und einen allgemeinen Aspekt. Zunächst erforderte die Quantenmechanik eine Modifikation des Kausalitätsbegriffes, weil der von Du Bois-Reymond vorausgesetzte Laplacesche Determinismus unhaltbar geworden war. Obwohl Frank zu dieser Zeit gerade an einer einschlägigen Monographie arbeitete, be16

Alle in P. Frank, Was bedeuten die gegenwärtigen physikalischen Theorien für die allgemeine Erkenntnislehre?, in: Die Naturwissenschaften 17 (1929), 993 f. Wieder abgedruckt in: M. Stöltzner / T. Uebel (Hg.), Wiener Kreis, a. a. O., 133–168. 17 Ebd., 971 f.

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schränkte er sich in seiner Prager Rede auf Andeutungen über die aus einem Festhalten am Determinismus resultierenden Mißinterpretationen der Quantenmechanik und verwies auf die Ausführungen seines Freundes von Mises.18 Statt dessen attackierte Frank die allgemeinen Grundvoraussetzungen Du BoisReymonds, die er unter dem Etikett »Schulphilosophie« zusammenfaßte. Auch diese führten zwangsläufig zu Mißverständnissen der Quantenmechanik. Zunächst zur allgemeinen Kritik. »Die Schulphilosophie, mag sie sich nun Realismus oder Idealismus nennen, ist charakterisiert durch eine bestimmte Auffassung von dem, was man Wahrheit nennt, also auch durch eine bestimmte Auffassung über das, was man als Problemstellung ansehen kann.«19 Dieser gemeinsame Kern jenseits der fundamentalen Meinungsverschiedenheiten zwischen den philosophischen Schulen bestehe in der Korrespondenztheorie der Wahrheit, derzufolge die Wahrheit unabhängig von unserem Wissen über sie existiere und ein Urteil umso wahrer sei, je getreuer es diese Wahrheiten abbilde. Selbst Kants kritische Philosophie habe daran nichts wesentliches geändert. Denn akzeptiere man die konstitutive Rolle des menschlichen Erkenntnisvermögens, so warteten die Wahrheiten – für ein so organisiertes Wesen – immer noch wie die Nuß in der Schale darauf, endlich herausgeholt zu werden. »Man sieht leicht, daß diese Auffassung der Wahrheit jede Art von Fragen erlaubt und überhaupt nur schwer dazu kommt, zwischen sinnvollen und sinnlosen Problemstellungen unterscheiden zu können. Denn auf jede Frage kann ja die Antwort hinter der Hülle der Tatsachen stecken, wenn man nur energisch genug bohrt. Es könnte dann im Prinzip auch möglich sein, solche Fragen zu beantworten wie die nach dem Wesen von Materie und Kraft. Wenn aber die Schale der Nuß so hart ist, daß sie nie durchbohrt werden kann, so daß die Antwort nicht herausgeholt werden kann, nennt man die Frage eine ›ewig unlösbare‹ und spricht resigniert ›ignorabimus‹.«20

Ebenso unlösbar sei die für die Schulphilosophie charakteristische Frage nach der Existenz der Außenwelt, die Realist und Idealist gegensätzlich beantworten, ohne damit irgendein nachprüfbares Erlebnis zu verbinden. »Wenn wir uns aber auf den Boden der rein wissenschaftlichen Weltauffassung stellen, so wissen wir, daß eine Lösung eines wissenschaftlichen Problems nur darin bestehen kann, […] in der eindeutigen Bezeichnung der Erlebnisse durch ein Zeichensystem Fortschritte zu machen.«21 Und diese Fortschritte schließen auch unsere Auffassungen von Raum, Zeit und Kausalität mit ein.

18

Im Vorwort zu Das Kausalgesetz und seine Grenzen, a. a. O., macht Frank deutlich, daß von Mises auch eine wichtige Rolle für die dort vertretenen Anschauungen spielte. 19 P. Frank, Was bedeuten…, a. a. O., 973. 20 Ebd., 973. 21 Ebd., 990.

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Das auf Schlick22 zurückgehende Kriterium der Eindeutigkeit der Zuordnung zwischen Erlebnissen und den Zeichen der physikalischen Theorie trat Frank zufolge an die Stelle der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Stimmten etwa die Werte von verschiedenen Messungen einer Naturkonstante, etwa des Planckschen Wirkungsquantums h, überein, so bestätigten sich diese wechselseitig, insbesondere wenn die Messungen auf gänzlich verschiedenen Wegen unternommen wurden. Doch im Gegensatz zum metaphysischen Realisten Planck konnte man Frank zufolge daraus nichts über einen ›wahren Wert‹ von h erfahren oder gar behaupten, daß nur diese Annahme die Übereinstimmung der verschiedenen Messungen erkläre. Bestenfalls könne man behaupten, daß ein solcher »wahrer Wert« durch eine Folge von übereinstimmenden Messungen definiert werde. Die Erben von Du Bois-Reymonds Frage nach dem Wesen von Materie und Kraft innerhalb der modernen Physik waren nun einerseits die Frage nach der ›wirklichen‹ (oder ›wahren‹) Länge eines Körpers im Gegensatz zur ›scheinbaren‹, was das Verständnis von Einsteins spezieller Relativitätstheorie erschwerte, und andererseits diejenige nach der ›wirklichen‹ Lage und Geschwindigkeit eines Elektrons, die durch die Heisenbergsche Unschärferelation für immer unbeobachtbar bleiben mußte. Beide Fragen werden von unserer physikalischen Anschauung nahezu zwangsläufig nahegelegt. Doch der Vorwurf der Unanschaulichkeit, der gerade in den Polemiken um die Relativitätstheorie eine zentrale Rolle gespielt hatte, erwachse ebenfalls auf dem Boden der Schulphilosophie, und zwar – wie Frank schon ein Jahr zuvor in den Naturwissenschaften hervorgehoben hatte – aus einer »metaphysischen Weltanschauung, die sich aus zwei Teilen zusammensetzt, die zuerst sehr ungleichartig aussehen, aber sich doch gegenseitig bedingen. Erstens: der materialistischen Weltauffassung, nach der alles Geschehen in letzter Linie auf die Bewegung absolut harter kleiner Teilchen im Leeren zurückgeführt werden kann. […] Zweitens: der idealistischen Philosophie mit ihrer Sonderstellung der geheimnisvollen Dreizahl von Raum, Zeit, Kausalität (oder Raum, Zeit, Materie), wo mit Hilfe des, wie mir scheint, widersinnigen Begriffs der ›reinen‹ Anschauung eine kühne Brücke geschlagen wird, die von der mystischen Intuition zum wirklichen optischen Anschauungserlebnis hinüberführt. Dadurch gelingt es, den Namen ›anschaulich‹ auch auf das anzuwenden, das prinzipiell unanschaulich ist, wie […] Elektronenbahnen.«23

Beschränke man sich hingegen auf das tatsächlich Anschauliche, unsere Erlebnisse und Beobachtungen, so gelange man geradewegs zur wissenschaftlichen Weltauffassung. 22

Und zwar auf die Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin ²1925. P. Frank, Über die Anschaulichkeit physikalischer Theorien, in: Die Naturwissenschaften 16 (1928), 124. 23

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Aus der Kritik an der Schulphilosophie folgte nicht, daß Frank seine in Prag versammelten Kollegen dazu aufforderte, ihre Theorien »rein physikalisch« zu betrachten. Denn es zeige sich, daß die Physiker »je weniger sie über philosophische Fragen nachzudenken pflegen, desto mehr in ihrem Denken von den Traditionen der Schulphilosophie erfüllt sind. […] In allem Wissen, das uns von der Volksschule an eingeflößt wird, in allen Metaphern unserer Sprache ist sie implizit enthalten; ihre Anwesenheit wird gar nicht bemerkt, da sie durch eine Jahrhunderte andauernde Tradition zur Gewohnheit geworden ist; der ›reine Empiriker‹ verwendet sie unter dem harmlosen Namen ›gesunder Menschenverstand‹. Daher ist es auch kein Wunder, daß gerade der spekulationsfeindliche Physiker leicht geneigt ist, dem ›ignorabimus‹ von DuBois-Reymond mit seiner Preisgabe der naturwissenschaftlichen Weltauffassung leicht zuzustimmen.«24

Die Schulphilosophie – sei es die Aristotelische oder die Kantische – war mithin letztlich »eine Versteinerungsform der früheren physikalischen Theorien«.25 Es galt beide zu überwinden. Franks Aufruf zu einer konsequent wissenschaftlichen Weltauffassung traf nicht auf ungeteilte Zustimmung. Schon der dritte Vortragende der Prager Eröffnungssitzung, der theoretische Physiker Arnold Sommerfeld, machte klar, daß er und seine Vorredner »in der Bewertung der philosophischen Hintergründe [der Quantenmechanik] ziemlich weit voneinander abweichen«.26 Machs Gegnerschaft gegen den Atomismus und seine Skepsis gegenüber der Relativitätstheorie, so Sommerfeld, haben die Fruchtlosigkeit des Positivismus für die Physik hinlänglich erwiesen, auch wenn die derzeitige Fassung der Quantenmechanik die Einschränkung auf beobachtbare Größen zu unterstützen scheine. Insbesondere erfinde der Physiker nicht die Naturgesetze, »sondern er hat dafür dankbar zu sein, daß es ihm vergönnt ist, einen Bruchteil von der großartigen Einheit und Harmonie der Naturgesetze zu entdecken«.27 Aus der Tatsache, daß die Frequenz des von Atomen ausgestrahlten bzw. absorbierten Lichts sowohl vom Anfangs- als auch vom Endniveau der Bindungsenergie abhängt, zog Sommerfeld weitreichende metaphysische Konsequenzen. »Die Quantenphysik schafft sich so eine neue Kausalität, welche von der mechanischen Zwangsläufigkeit verschieden ist und der Vielheit der Quantenübergänge Rechnung trägt.«28 Indem derart die deterministische Kau-

24

P. Frank, Was bedeuten…, a. a. O., 974. Ebd., 991. 26 A. Sommerfeld, Einige grundsätzliche Bemerkungen zur Wellenmechanik, in: Physikalische Zeitschrift 30 (1929), 866. 27 Ebd., 866. 28 Ebd., 868. 25

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salität um die Finalität erweitert werde, legen die Verhältnisse im Atom Verbindungen mit der Biologie nahe. In den Augen des Wiener Kreises war dies eine metaphysische Behauptung, die letztlich aus einem zu engen Kausalitätsbegriff erwuchs. Denn in Machscher Perspektive waren die Niveauübergänge schlicht durch exzellent bestätigte funktionale Abhängigkeiten beschrieben. Aus dem Welle-Teilchen Dualismus – d. h. der Tatsache, daß atomare Teilchen unter manchen Versuchsbedingungen typische Welleneigenschaften besaßen, unter anderen jedoch typische Teilcheneigenschaften – zog Sommerfeld sogar eine Konsequenz, die dem Ignorabimus ziemlich nahe kam und beide Erkenntnisgrenzen miteinander verschmolz. »Weder der materialistische noch der spiritualistische Monismus hat bisher die Zwitternatur des organischen Daseins in Leib und Seele befriedigend gelöst. Jetzt sehen wir einen ähnlichen Dualismus in den Grundlagen der Physik auftreten. Gewiß sollen wir uns nicht leichten Herzens damit zufrieden geben. Wenn aber in der Physik wirklich beide Arten der Betrachtung sich als unentbehrlich erweisen sollten, so könnte dies vielleicht auch auf die unendlich viel schwierigeren, unendlich vorsichtig anzufassenden, aber nicht aus der Welt zu schaffenden Fragen des Zusammenwirkens von Seele und Leib ein halbes Licht werfen.«29

Sommerfelds Wort wog schwer unter den Kollegen, denn er hatte nicht nur maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der älteren Bohrschen Quantentheorie gehabt, sondern war auch der akademische Lehrer von Heisenberg und Pauli. Vergleichen wir nun seine Argumentation mit derjenigen Du Bois-Reymonds, so tritt deutlich zutage, daß durch die Verbindung beider Dualismen die Lösung beider Probleme auf eine unendlich ferne Zukunft verschoben wurde. Du Bois-Reymond hatte um den Preis des Ignorabimus die der idealistischen Naturphilosophie inhärenten geistigen Faktoren aus der materialistischen Welt verbannt. Er vertrat mithin ein strenges Demarkationskriterium für das wissenschaftlich Erklärbare und glaubte daran, das innerhalb dieser Grenzen Erklärbare auch in absehbarer Zeit tatsächlich erklären zu können. Nun aber wurde von Sommerfeld das scheinbare Eindringen geistiger Faktoren in die Atomphysik – sei es durch den Dualismus, die Rolle des Beobachters im Meßprozeß oder die erwähnte Finalität – als endgültige Überwindung des Materialismus willkommen geheißen, so daß ein solches Demarkationskriterium weder zur Verfügung stand noch erwünscht war. Die philosophischen Probleme, so wie sie die Schulphilosophie stellte, waren daher nicht mehr von der Wissenschaft zu trennen. Dem Eindringen geistiger Faktoren spielte auch die Unanschaulichkeit in die Hände; die neue Physik war nicht mehr mecha-

29

Ebd., 870 f.

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nistisch, sondern mathematisch – ein Schlagwort, gegen das Frank 1935 zu Felde zog.30 Auch seine Auseinandersetzung mit Sommerfelds philosophischen Thesen fand nach 1930 eine Fortsetzung.31

IV. Kausalität und statistische Gesetzmäßigkeit Nach Frank sprach Richard von Mises Über kausale und statistische Gesetzmäßigkeit in der Physik. Ein wichtiges Ziel seiner Prager Rede wie auch der im darauffolgenden Sommer gehaltenen Rektoratsrede Über das naturwissenschaftliche Weltbild der Gegenwart war es, einen Ausgleich anzubahnen »in dem die heutige Physik durchziehenden Zwiespalt zwischen Kausalität und Statistik.«32 Setze man nicht a priori voraus, daß die wirkliche Welt deterministisch sei bzw. der Determinismus eine Denknotwendigkeit darstelle, so zeige die Geschichte der Physik überdeutlich: »Das Kausalprinzip ist wandelbar und wird sich dem unterordnen, was die Physik verlangt.«33 Und diese Wandlung vollzog sich nicht revolutionär und ausschließlich als Folge der Quantenmechanik. Vielmehr hatten die Schwierigkeiten im Einlösen des Laplaceschen Erklärungsideals seit der Jahrhundertwende kontinuierlich zugenommen und »der berühmte Laplacesche Dämon, der Vollzugsbeamte des Determinismus, der aller mathematischen Schwierigkeiten Herr ist,«34 konnte immer weniger für die Vorhersage des Verhaltens konkreter physikalischer Systeme leisten. Die Entwicklung entbehrte nicht einer gewissen Ironie. »Gerade von dem Zurückgehen auf die Elementarvorgänge innerhalb der räumlich ausgedehnten Massen hatte sich Laplace die restlose Determinierung des Weltablaufs versprochen, und schon die erste ernsthafte Durchführung einer Untersuchung dieser Art führte auf die Notwendigkeit einer völlig geänderten Grundeinstellung.«35 Denn in den 1890er Jahren vollzog Boltzmann die entscheidende Wendung, indem er mit der objektiven Wahrscheinlichkeit einen der Laplaceschen Auffassung völlig fremden Begriff in Spiel brachte. Doch es waren nicht ausschließ-

30

P. Frank, Das Ende der mechanistischen Physik, Wien 1935. Die Ignorabimus-Debatte wurde dort jedoch nicht mehr aufgenommen. 31 Vgl. hierzu und zum Finalitätsproblem P. Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, a. a. O., § IV, 26. 32 R. von Mises, Über kausale und statistische Gesetzmäßigkeit in der Physik, in: Die Naturwissenschaften 18 (1930), 153. Hinzu kommt die wohlbekannte Ironie, daß sich Laplaces Dämon in der Einleitung zu seiner Wahrscheinlichkeitstheorie fand, die allerdings auf dem subjektiven Nichtwissen aufgebaut war. 33 Ebd., 146. 34 Ebd., 146. 35 R. von Mises, Über das naturwissenschaftliche Weltbild …, a. a. O., 887 f.

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lich physikalische Grundlagenfragen wie der Boltzmannsche Atomismus oder die von diesem noch nicht als statistische Schwankungserscheinung erkannte Brownsche Bewegung, welche ein solch radikales Umdenken erzwangen. Auch die Kontinuumsmechanik, die Forschungen an Wasserrädern und Flugzeugen, sowie die Elastizitätslehre kämen nur dann über elementare Voraussagen hinaus, wenn man einen konsequent statistischen Ansatz wähle.36 »Die deterministischen Ansätze der klassischen Physik lassen sich [zwar] rein formal […] aufrechterhalten, aber sie werden in vielen Fällen […] leerlaufend, sie verlieren den Charakter einer kausalen Erklärung, sie tragen zur Erkenntnis, zur Beschreibung, zur Voraussage des Erscheinungsablaufes nichts mehr bei.«37

Welche Konsequenzen dieses Scheitern hatte, hing von den jeweiligen philosophischen Grundüberzeugungen ab. Wer in den Grundbegriffen der theoretischen Physik »Dinge sieht, denen eine von der Aufgabe der Naturbeschreibung unabhängige Existenz zukommt, wird den Determinismus grundsätzlich bewahrt und nur praktisch ausgeschaltet sehen. Für denjenigen aber, der diese Begriffsbildungen nur als Hilfsmittel auffaßt, die […] dazu dienen, eine Orientierung in der Erscheinungswelt zu ermöglichen, für den fallen die Grenzen der Anwendbarkeit und die Grenzen des Determinismus selbst zusammen.«38 Von Mises ließ keinen Zweifel daran, daß er die zweite Alternative favorisierte. Denn das zentrale Element der wissenschaftlichen Erklärung sei ganz im Sinne Machs die Rückführung auf Einfacheres. »Die Newtonsche Mechanik bildet nur solange ein brauchbares Mittel kausaler Naturerklärung, als relativ einfache Kraftgesetze verwickeltere Bewegungsvorgänge zur Folge haben.«39 Für den konsequenten Empiristen von Mises brachte die Quantenmechanik den prinzipiell statistischen Charakter aller physikalischen Aussagen nur deutlicher zum Ausdruck. War man davon überzeugt, daß »jede physikalische Aussage einen durch Beobachtung, durch ein wirkliches Experiment prüfbaren Tatbestand zum Ausdruck bringen muß«40, so erhalte man bei jeder Messung letztlich immer ein statistisches Kollektiv von endlichen Dezimalbrüchen, das bei Abwesenheit systematischer Fehler durch eine Gaußverteilung beschrieben werde, deren Mittelwert als Ergebnis der Messung anzusehen sei. Der klassische Laplacesche Determinismus beruhe nun auf der willkürlichen Zusatzannahme,

36

Diese Thesen hatte von Mises bereits acht Jahre zuvor unter einem weitaus plakativeren Titel vertreten; vgl. Über die gegenwärtige Krise der Mechanik, in: Die Naturwissenschaften 10 (1922), 25–29. 37 R. von Mises, Über kausale und statistische Gesetzmäßigkeit …, a. a. O., 147. 38 Ebd., 147. 39 Ebd., 146. 40 Ebd., 150.

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daß »die Streuungen der betreffenden Verteilungen kleiner und kleiner werden und schließlich gegen Null gehen. […] Aber die Annahme der unbegrenzten Steigerbarkeit der Genauigkeit widerspricht unmittelbar jeder atomistischen Hypothese.« Und zur Messung atomarer Vorgänge, müsse man »sich vorstellen, daß es Meßinstrumente gibt, deren Feinheit noch die atomaren Dimensionen übertrifft, und würde damit jeden physikalischen Inhalt preisgeben.«41 Von Mises bezog sich hier auf Heisenbergs Illustration der Unschärferelation durch ein Gedankenexperiment, bei dem die Beobachtung atomarer Teilchen mit Hilfe von Photonen genau die vorhergesagten Störungen hervorrief. Daß Messungen derart durch den Beobachtungsvorgang beeinflußt werden, war im Grunde nichts Ungewöhnliches. So mißt man magnetische Feldstärken mit einem geladenen Probekörper, der auf das Feld rückwirkt. Das grundlegend Neue an der Quantenphysik war hingegen, daß aufgrund der von der Heisenbergschen Unschärferelation gesetzten Grenze für die gleichzeitige Meßbarkeit bestimmter Größen der Fall der Meßunschärfe (etwa durch Rückwirkung) nicht mehr von demjenigen zu unterscheiden war, wo man (wie in der Kontinuumsmechanik) zu statistischen Meßgrößen übergehen mußte. »Im Makroskopischen steckt das Indeterministische teils in den Beobachtungsgegenständen, teils kommt es durch die Meßvorgänge hinein; jede Mikrophysik aber führt das statistische Element mit sich, da dies allein den Übergang zur Massenerscheinung vermittelt und jede Messung schon eine solche ist.«42 Die Quantenmechanik integrierte mithin die Meßfehler bereits in die Theorie; ihre grundlegenden Entitäten waren bereits statistische Kollektive, während man in der klassischen Physik noch die Illusion des ›wahren Werts‹ einer Größe zumindest formal aufrechterhalten konnte. Die von Frank gestellte Eindeutigkeitsforderung war liberal genug, um für beide Fälle zu gelten. »Diese Zuordnung zwischen Erlebnissen und Zeichen ist mehr oder weniger ins einzelne gehend. Wenn sie sich sehr detailliert an die Erlebnisse anschmiegen läßt, sprechen wir von kausaler Gesetzmäßigkeit, bei mehr pauschaler Zuordnung von statistischer. Ich glaube aber nicht, daß man hier bei genauer Analyse einen strengen Unterschied wird feststellen können. Wir wissen heute, daß man mit Hilfe von Lagen und Geschwindigkeiten keine kausalen Gesetze für die einzelnen Elektronen aufstellen kann. Daraus folgt aber nicht, daß man nicht vielleicht einmal Zustandsgrößen finden wird, mit Hilfe deren man das Verhalten dieser Teilchen, mehr ins einzelne gehend, wird verfolgen können als mit Hilfe der Wellenfunktion, der Häufigkeiten. Wenn wir durch eine sog. Einzelbeobachtung eine Zahl feststellen, so wird dabei doch auch nur ein Mittelwert beobachtet, da niemals ›Punkterlebnisse‹ aufgezeichnet werden. Die Zuordnung der Zeichen zu den Erlebnissen enthält also,

41 42

Beide ebd., 152. Ebd., 153.

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streng genommen, immer ein statistisches oder, wenn wir so sagen wollen, kollektives Element. Es kann immer nur von einer mehr oder weniger ins einzelne gehenden Zuordnung die Rede sein.«43

Daraus folgt auch, daß es in der Atomphysik keinen absoluten Zufall im Sinne der ›Schulphilosophie‹ gibt. Denn es existieren eben keine genau bestimmten Lagen und Geschwindigkeiten eines Elektrons, deren Unterscheidung jenseits der Heisenbergschen Unschärferelation liegt, so daß die ›wahren‹ Lagen und Geschwindigkeiten innerhalb dieses Rahmens vollkommen zufällig sind und wir bloß hiervon niemals Kenntnis erlangen können. Zwar betonte von Mises: »Alle physikalischen Behauptungen erscheinen jetzt als Annäherungen, die sich prinzipiell nicht vervollkommnen lassen und wesentlich den Charakter statistischer Aussagen tragen.«44 Doch markierte dies keine Erkenntnisgrenze, sondern war die Bedingung einer jeden wissenschaftlichen Beobachtung. Man konnte auch problemlos zugestehen, wie dies Frank in obiger Passage tat, daß man in Zukunft sehr wohl Beschreibungen des atomaren Geschehens finden könne, die weniger summarisch seien und – anders als die Quantenmechanik – eine Vorhersage des Verhaltens einzelner Elektronen ermöglichen. Gerade der letzte Punkt ist aus heutiger Sicht nicht unwichtig, weil die von manchen Proponenten der Kopenhagener Deutung45 vertretene These von der Endgültigkeit der Quantenmechanik oftmals als notwendige Folge des empiristischen Sinnkriteriums verstanden wurde. Manche Äußerungen von Logischen Empiristen weisen in der Tat in diese Richtung.46 Es ist nach dem in Abschnitt II Gesagten jedoch klar, daß Machianer wie Frank und von Mises diese Meinung nicht teilen konnten. Die heutige Sachlage in den Debatten um die Quantenmechanik kommt derjenigen erstaunlich nahe, die von Mises für die klassische Physik diagnostiziert hatte. Denn man kann alternative Theori-

43

P. Frank, Was bedeuten…, a. a. O., 993. R. von Mises, Über das naturwissenschaftliche Weltbild …, a. a. O., 890. 45 Diese summarische Bezeichnung für die Auffassungen Bohrs, Heisenbergs und anderer hat sich erst überraschend spät einbürgert; vgl. D. Howard, Who Invented the ›Copenhagen Interpretation‹? A Study in Mythology, in: Philosophy of Science 71 (2004), 669–682. 46 So etwa das Ende des Aufsatzes von Moritz Schlick, Quantentheorie und Erkennbarkeit der Natur, in: Erkenntnis 6 (1936), 326. Dort heißt es ohne die von Frank gemachte Einschränkung: »Die Grenze der Erkennbarkeit ist nur dort, wo nichts mehr da ist, worauf eine Erkenntnis sich richten könnte. Wo die Quantentheorie eine Grenze der Kausalerkenntnis setzt, […] da bedeutet das nicht, daß die weiteren noch vorhandenen Gesetzmäßigkeiten uns unbekannt bleiben müßten, sondern es bedeutet, daß weitere Gesetzmäßigkeiten nicht bestehen und nicht gesetzt werden können, weil die Frage nach ihnen sinnlos ist.« 44

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en formulieren, in denen scharf bestimmte Teilchenbahnen zumindest formal existieren. Allerdings sind diese unbeobachtbar, weil die Alternativtheorien mit der Quantenmechanik empirisch äquivalent sind; auch haben solche Theorien andere unerwünschte Eigenschaften und sind kaum mit der speziellen Relativitätstheorie vereinbar. Mit der Einsicht in die prinzipiell statistische Natur des physikalischen Geschehens und die Anpassungsfähigkeit des Kausalitätsideals galt für von Mises das Ignorabimusproblem innerhalb der Naturwissenschaften als erledigt. Das »Ignorabimus hat für uns keine andere Bedeutung als für den Mathematiker die nüchterne Erkenntnis von der Unmöglichkeit der Quadratur des Zirkels und anderer ähnlicher Aufgabenstellungen, die dadurch, daß man sie auf die richtige Form bringt, zugleich erledigt und annulliert werden.«47 Doch es blieb noch die Wirkung auf die Geisteswissenschaften.

V. Das Ignorabimus und die Geisteswissenschaften Während von Mises den Einfluß der Ignorabimus-Rede auf die historische Entwicklung der Wissenschaften als gering veranschlagte, war ihre Wirkung nach außen umso größer. »Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß die in den achtziger Jahren lebhaft werdende Bewegung, die in Reaktion auf das machtvolle Vordringen der Naturwissenschaften im allgemeinen Bildungsbewußtsein die sog. Autarkie, die Eigengesetzlichkeit der Geisteswissenschaften zu begründen suchte, ihre Ansichten über die Naturwissenschaft der Zeit von den DuBoisschen Reden und ähnlichen Äußerungen bezog. Bis in die neueste Zeit findet man bei den Vertretern geisteswissenschaftlicher Fächer Anschauungen über das Wesen der Naturwissenschaft, die jener längst abgeschlossenen Epoche entstammen.«48

Von diesen »Vertretern« nannte von Mises explizit Wilhelm Dilthey und den Neukantianer Heinrich Rickert.49 In weniger polemischem Ton und weniger dialektisch als Frank konstatiert mithin auch von Mises einen Sedimentationsprozeß, durch den ein inzwischen überwundenes naturwissenschaftliches Weltbild zur Charakterisierung der ge-

47

R. von Mises, Über das naturwissesnschaftliche Weltbild…, a. a. O., 892; im Orginal das gesamte Zitat kursiv. 48 Ebd., 886. 49 Die Anmerkungen zitieren Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, Leipzig /Berlin 1923, und Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Tübingen / Leipzig 1902.

»Das ›Ignorabimus‹ ist sinnlos.«

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samten Naturwissenschaft verwendet wird. Während Frank zur Verhinderung dieses Prozesses eine wissenschaftliche Weltauffassung propagierte, hielt sich der weniger modernistisch gestimmte von Mises enger an sein großes Vorbild Ernst Mach und nahm – im Vergleich zu Frank – dem Konventionalismus gegenüber eine etwas reservierte Stellung ein. »Schon die weitgehende Einstimmigkeit, mit der von den Physikern Theorien verworfen und angenommen werden, spricht gegen das Vorhandensein freier Konventionen.«50 Die Entscheidung der Physiker sei nicht von der ›Wirklichkeit‹ erzwungen, sondern erfolge nach pragmatischen Kriterien wie der Einfachheit, die sich allesamt dem Machschen Ökonomieprinzip unterordnen. Spezifischere methodische Vorschriften an die Wissenschaft existieren nicht. Die Wissenschaft verschließe sich keiner Methode, die geeignet sei, Erkenntnis zu vermitteln, und besitze keine anderen Grenzen als diejenigen, »die menschlichem Wissen, d. h., mitteilbarem Erkennen, überhaupt gesetzt sind. […] Es gibt dem Ziele, dem Inhalt und der Methode nach nur eine Wissenschaft, die Nachbildung der Welt durch Begriffe; die Zweiteilung in Geistes- und Naturwissenschaften hat nur praktische und vorläufige Bedeutung, sie ist keine systematisch notwendige und endgültige.«51 Dabei räumte von Mises den Geisteswissenschaften ein, »daß sie die lebensnäheren, lebenswichtigeren und vor allem die unendlich viel schwierigeren Probleme behandeln,«52 für deren Lösung die empirischen Wissenschaften erst mit der Zeit geeignete Denkmittel ausbilden. Auch gebe es unterschiedliche Gewichtungen. »Während man in diesen einer neuen Erkenntnis, einem neuen Grundgedanken nur dann hohe Bedeutung beimißt, wenn er de facto einen großen Teil der in Frage stehenden Problematik durchdringt, wenn er sich quantitativ auf weitem Feld auswirkt, üben oft die wichtigsten physikalischen Theorien, wenigstens im Anfang ihrer Entwicklung, nur geringen Einfluß an irgendeiner entlegenen Stelle aus.«53 Die Polemiken um die Relativitätstheorie und die auch heute noch nicht abgeschlossenen Interpretationsdebatten um die Quantenmechanik haben jedoch gezeigt, daß die philosophische Tragweite solcher Theorien dennoch zu Beginn ihrer Entwicklung enorm sein kann. Genau dies war ja das Motiv, warum Frank und von Mises das Ignorabimus an so prominenter Stelle wieder thematisierten.

50 51 52 53

R. von Mises, Über das naturwissenschaftliche Weltbild…, a. a. O., 891. Ebd., 892 f. Ebd., 892. 890 f.

III. PHILOSOPHISCHE WIRKUNGEN DES IGNORABIMUS

Michael Pauen

Die Grenzen des Erkennens: Von Du Bois-Reymond zur aktuellen Philosophie des Geistes Du Bois-Reymonds Ignorabimus ist sicherlich die prägnanteste Formulierung für eines der zentralen und gleichzeitig auch hartnäckigsten Probleme der Leib-Seele-Debatte, nämlich für die Frage, ob es prinzipiell möglich ist, eine plausible naturalistische Erklärung für das Auftreten spezifischer geistiger Eigenschaften zu geben. Du Bois-Reymonds Pessimismus gegenüber der Möglichkeit einer solchen Erklärung wird bis heute von vielen Autoren geteilt; akzeptiert wird im allgemeinen außerdem, daß es völlig unklar ist, wie eine solche Erklärung auszusehen hätte. Du Bois-Reymond ist jedoch keineswegs der erste, der das Problem diagnostiziert. Das Problem wird schon in der Antike diskutiert; in der neuzeitlichen Philosophie beschäftigt sich u. a. Leibniz mit der Frage und unter Du Bois-Reymonds Zeitgenossen hat sich – früher, ausführlicher und intensiver als Du Bois-Reymond selbst – Friedrich Albert Lange hierzu in seiner Geschichte des Materialismus (11866; zweite Fassung 1873–75) geäußert. Es ist wichtig, diese epistemische Frage nach der Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften von einem anderen zentralen Problem der Leib-Seele-Debatte zu unterscheiden, nämlich der metaphysischen Frage, ob geistige Eigenschaften materielle Eigenschaften sind. Fragt man nach der Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften, dann interessiert man sich nicht primär für die Identität oder Nicht-Identität von Geist und Materie, im Mittelpunkt steht vielmehr, ob es prinzipiell möglich ist, unser Wissen über die Welt, wie wir es aus der Perspektive der dritten Person erworben haben, zur Erklärung der Bewußtseinserfahrungen zu verwenden, wie sie uns aus der Perspektive der ersten Person zugänglich sind. Natürlich sind die Antworten auf beide Fragen nicht völlig unabhängig voneinander. Wenn man z. B. die metaphysische Position vertritt, daß geistige Eigenschaften materielle Eigenschaften sind, dann liegt die Forderung sehr nahe,

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Theorien über neuronale Prozesse müßten eigentlich zur Erklärung geistiger Eigenschaften herangezogen werden. Vertritt man dagegen die epistemische Position, daß eine solche Erklärung prinzipiell nicht möglich ist, dann scheint sich die metaphysische Annahme anzubieten, geistige Eigenschaften seien nicht mit materiellen Eigenschaften zu identifizieren. Gerade dieser zuletzt genannte Zusammenhang ist jedoch keineswegs zwingend; viele Skeptiker gegenüber der Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften, unter ihnen auch Du Bois-Reymond und Lange, sind mehr oder minder überzeugte Monisten. Nach einigen begrifflichen Vorüberlegungen werde ich im folgenden ersten Teil meines Papiers zunächst einen kurzen Überblick über die wichtigsten Strategien bei der Beantwortung dieser Frage sowie deren Zusammenhang mit den zentralen metaphysischen Positionen geben. Im zweiten Teil werde ich an einigen exemplarischen Beispielen kurz auf die Auseinandersetzung mit dem Problem in der älteren philosophischen Tradition eingehen, um dann im dritten Teil die Positionen von Lange, Du Bois-Reymond und Fechner vorzustellen. Im vierten Teil werde ich die Entwicklung in dieser Frage seit den 1970er Jahren verfolgen. Dabei kommt es mir zum einen darauf an, welche Klärungen in den letzten Jahren erreicht worden sind, zum zweiten möchte ich die wichtigsten Positionen, die heute bezogen werden, herausarbeiten. Im fünften und letzten Teil werde ich einen eigenen systematischen Vorschlag für die Lösung des Problems machen.

Begriffliche Vorüberlegungen Es liegt auf der Hand, daß jeder Vergleich von antiken und gegenwärtigen Positionen zum Leib-Seele Problem größere Schwierigkeiten aufwirft. Abgesehen von tiefgreifenden geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Veränderungen, die insbesondere die metaphysischen und theologischen Hintergrundannahmen betreffen, hat es hier auch einen substantiellen Wandel auf der begrifflichen Ebene gegeben. Besonders deutlich wird dies, wenn man den heutigen Begriff des Bewußtseins den antiken Seelenvorstellungen gegenüberstellt, an deren Stelle dieser Begriff in der aktuellen philosophischen Diskussion getreten ist. Offensichtlich ist hier zum einen die begriffliche Differenzierung: Die vormoderne Seele ist nicht nur Geist in einem allgemeinen Sinne, also Trägerin von Bewußtsein, kognitiven Funktionen und emotionalen Erfahrungen, vielmehr steht sie auch für das Selbstbewußtsein und den Willen, sie ist nicht zuletzt vegetatives Prinzip,1 und sie verkörpert in vielen Traditionen einschließlich der christlichen die transzendente Herkunft des Menschen. Die 1

Systematisiert in Aristoteles’ De Anima.

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Genesis unterscheidet daher ausdrücklich zwischen der Erschaffung des Leibes durch die Formung der bereits vorhandenen Materie und der Beseelung des Menschen durch den Atem, der unmittelbar von Gott stammt. Die begriffliche Differenzierung setzt schon in der antiken Philosophie, insbesondere bei Aristoteles ein. Einige der ursprünglichen Funktionen wie etwa die vegetativen und transzendenten, spielen in der Leib-Seele Debatte keine Rolle mehr; andere werden heute durch eigenständige Termini wie »Selbstbewußtsein« oder »Wille« bezeichnet. Als entscheidender Begriff innerhalb der Leib-Seele Debatte hat sich mittlerweile die substantivierte Form des Infinitivs »bewußt sein« herauskristallisiert, wie sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Christian Wolff geprägt2 und später u. a. auch von Du Bois-Reymond verwendet wird. Mittlerweile hat eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs »Bewußtsein« stattgefunden; die wichtigsten Varianten sind das reine Wachbewußtsein, das kognitive Bewußtsein, das phänomenale Bewußtsein und das Selbstbewußtsein.3 Während viele Autoren der Ansicht sind, daß die Erklärung der kognitiven Bewußtseinsfunktionen keine unüberwindbaren Schwierigkeiten aufwirft, hat sich das sogenannte »phänomenale Bewußtsein« als das eigentliche Zentrum der Debatte über die Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften erwiesen. Phänomenales Bewußtsein steht dabei für die schwer faßbaren qualitativen Aspekte bewußter Erfahrungen, also die sogenannten »Qualia«, die darüber entscheiden, wie sich ein bestimmter Zustand anfühlt, »wie es ist«, einen Schmerz zu empfinden, Schokolade zu schmecken, eine Farb- oder eine Glücksempfindung zu haben. So hilflos und ungenau derartige begriffliche Umschreibungen auch sein mögen, offenbar beziehen sie sich auf einen ganz zentralen Aspekt unserer bewußten Erfahrung. Es wird sich außerdem herausstellen, daß die Schwierigkeiten, die bei der sprachlichen Erfassung dieser Zustände auftreten, eine wesentliche Rolle für die Probleme spielen, die die Erklärung dieser Eigenschaften bereitet. Es gibt jedoch noch einen zweiten begrifflichen Aspekt, unter dem sich die heutige Diskussion über das Leib-Seele-Problem von älteren Diskussionen unterscheidet. Ich habe bislang stets von geistigen oder materiellen »Eigenschaften« gesprochen; falls es um einzelne Vorkommnisse solcher Eigenschaften geht, kann man auch von Ereignissen oder Zuständen sprechen. Diese Redeweise hat sich heute weitgehend eingebürgert. Bewußtsein wird daher ganz wörtlich als die Eigenschaft des »Bewußt Seins« verstanden. Im Gegensatz dazu neigen ältere Autoren eher dazu, den Geist oder die Seele als eine Art von Einzelding zu 2

Vgl. hierzu Historisches Wörterbuch der Philosophie, Artikel Bewußtsein. Vgl. M. Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes: eine Einführung, Frankfurt / M. 2001, 20–33; P. Lanz, Das phänomenale Bewußtsein. Eine Verteidigung, Frankfurt / M. 1996, 75. 3

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betrachten, das prinzipiell auf ähnliche Weise vorhanden und beschreibbar ist wie andere Einzeldinge. Es hat sich mittlerweile herausgestellt, daß diese hypostasierende Redeweise zu unnötigen Schwierigkeiten führt, u. a. weil sie schon auf der sprachlichen Ebene eine Festlegung auf den Dualismus impliziert.4 Da umgekehrt aber die Rede von geistigen Eigenschaften und Zuständen keine prinzipiellen systematischen Schwierigkeiten bei der Darstellung der älteren Positionen aufwirft, werde ich mich im folgenden im allgemeinen an sie halten. Schließlich noch eine Klarstellung zu dem Begriff »Reduktion«. Der Begriff wird hier im terminologischen und nicht im alltagssprachlichen Sinne gebraucht. Es geht also nicht darum, etwas zu vermindern, sondern lediglich darum, etwas – in der Regel eine Theorie oder eine Aussage – auf etwas anderes – in der Regel eine andere, allgemeinere Theorie oder Aussage – zurückzuführen. Zwar ist es zumindest umstritten, ob damit nicht zuweilen der Verzicht auf bestimmte Theorien verbunden ist; in keinem Falle kommen auf diese Weise jedoch die von den Theorien beschriebenen Entitäten abhanden: Wärme und Kälte verschwinden nicht aus unserer Welt, wenn es gelingt, die Thermodynamik auf die statistische Mechanik zurückzuführen.

I. Die wichtigsten Positionen Ausgehend von diesem Verständnis von Reduktion lassen sich drei unterschiedliche Positionen unterscheiden, die man dem Problem der Erklärung geistiger Eigenschaften gegenüber einnehmen kann. Die erste läßt sich als reduktionistisch bezeichnen; hier wird angenommen, daß es letztlich allein auf allgemeine naturwissenschaftliche Theorien ankomme. Hat man auf dieser Ebene alles erklärt, dann hat man alle erklärungsbedürftigen Probleme gelöst. Bewußtsein ist kein eigenständiger Gegenstand wissenschaftlicher Erklärungen, ein spezifisches Problem der Erklärung geistiger Eigenschaften existiert nicht. Hier handelt es sich mithin um eine radikale Variante des Materialismus, der sich die mechanischen Materialisten des 19. Jahrhunderts zurechnen lassen. In neuerer Zeit ist sie vor allem durch Eliminative Materialisten wie Paul Feyerabend, Paul Churchland und – zeitweilig – Richard Rorty vertreten worden, aber auch die Auffassungen Daniel Dennetts sowie der semantische Physikalismus von Autoren wie Ryle oder Carnap gehen in diese Richtung. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß sich die genannten Positionen abgesehen von der erwähnten Gemeinsamkeit weitgehend unterscheiden können. Im Gegensatz dazu geht 4

Zur Kritik vgl. G. Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969; J. Kim, Mind in a Physical World. An Essay on the Mind-Body Problem and Mental Causation, Cambridge / Ma. 1998.

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die zweite Position davon aus, daß geistige Eigenschaften erklärungsbedürftig sind, es wird jedoch unterstellt, daß die notwendigen Erklärungen prinzipiell scheitern müssen. Dies ist die Position von Lange und Du Bois-Reymond; auch heute noch dürfte sie die Mehrheitsmeinung innerhalb der Philosophie des Geistes darstellen. Wie schon erwähnt, hat diese Position eine gewisse Affinität zum Dualismus, sie wird jedoch keineswegs nur von Dualisten, sondern auch von erklärten Physikalisten vertreten. Auch die letzte Option betrachtet geistige Eigenschaften als Gegenstände reduktiver Erklärungen. Hier wird jedoch unterstellt, daß die geforderte Erklärung prinzipiell möglich ist. Ich werde am Ende dieses Papiers für diese Position argumentieren.

II. Zur Vorgeschichte des Problems Ältere Fassungen Bemühungen, das Auftreten geistiger Eigenschaften zu erklären, gibt es bereits in der Antike. Sie spielen eine besondere Rolle in religiösen Schöpfungsmythen ebenso wie in philosophischen Ursprungsspekulationen. In beiden Fällen beziehen sich die Erklärungsansprüche auf ein sehr umfassendes Gebiet, das hier diskutierte Problem spielt daher im allgemeinen nur eine Nebenrolle. Insbesondere in religiösen Schöpfungsmythen dominiert dabei die dualistische Unterscheidung von Leib und Seele, die oft zu einem separaten Schöpfungsakt führt. Dabei muß die Seele allerdings nicht als »immateriell« im heute üblichen Sinne verstanden werden. Häufig ist viel- Abb.: Krieger tragen einen toten Kameraden, dessen Seele gerade seinen Körper verläßt. mehr die Rede von einer besonders Aus: Rohde, Psyche, XXXII. feinen Form von Materie, z. B. einem »Hauch«, wie er sich etwa in der biblischen Schöpfungsgeschichte findet und auch die ursprüngliche Bedeutung von »ψωχ« ausmacht; erkennbar auch daran, daß die Seele bei Homer im Tod ausgehaucht wird.5 Ähnliches gilt für 5

Vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946, 22 f.

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den »Atman« der indischen Religionsphilosophie, der schon in der vedischen Periode (1000–750 v. Chr.) den Kern der Persönlichkeit eines Menschen beschreibt. Etymologisch ist »Atman« mit »Atem« verwandt.6 Ein zweiter wesentlicher Aspekt der Differenz von Geist und Körper ergibt sich daraus, daß der Schöpfungsakt der Seele häufig eine wesentlich engere Beziehung zum göttlichen Schöpfer zuweist als dem Leib. Dies gilt für die Genesis ebenso wie für den Timaios, der nur den höchsten Seelenteil auf den Demiurgen selbst zurückführt, die sterblichen Seelenteile und vor allem den Körper aber untergeordneten Göttern überläßt: »Nach dieser Aussaat aber überließ er [der Demiurg] es den jungen Göttern, sowohl die sterblichen Leiber zu gestalten als für das übrige zu sorgen, was noch zur menschlichen Seele hinzugefügt werden müsse.«7 Angesichts der dualistischen Gegenüberstellung von Geist und Materie kann es hier also keine wirklich reduktive Erklärung auf der Basis des allgemeinen Weltwissens geben. Immerhin lassen sich zuweilen gewisse Ansätze zu einer solchen Erklärung beobachten, die u. a. deshalb möglich sind, weil die Trennung von Geist und Materie in älteren Theorien im allgemeinen nicht so strikt ist wie später bei Descartes: Die Seelensubstanz wird wie gesagt häufig nicht als immateriell aufgefaßt. Dabei läßt sich schon der Verweis auf die besonders feine oder edle Seelensubstanz als Versuch verstehen, den Unterschied von Geist und Körper zumindest durch einen Rückgriff auf allgemeines Weltwissen verständlich zu machen, ein Versuch, der etwa im Timaios sehr detailliert ausgeführt wird. Die eigentliche Erklärung für das Auftreten geistiger Eigenschaften beruft sich jedoch nicht auf das Wissen über die Welt, sondern auf ein transzendentes Wissen über den göttlichen Schöpfungsakt. Ausdrückliche Skepsis bezüglich einer möglichen Erklärung des Zusammenhangs von Geist und Körper äußert Augustinus, der in der Civitas dei davon spricht, daß »jene andere Weise, in welcher Geister mit Leibern derart verknüpft werden, daß Lebewesen entstehen, durchaus wunderbar und dem Menschen unbegreiflich« sei.8 Die beiden anderen Positionen spielen in der Antike eine wesentlich geringere Rolle. Gewisse Vorläufer der reduktionistischen Bemühungen kann man z. B. im antiken Atomismus bei Demokrit erkennen, der behauptet, daß Farb-, Geschmacks- und Wärmeempfindungen nur Gegenstände der Meinung seien; »in Wirklichkeit« gebe es nur Atome und die bloße Leere.9 Lukrez bietet schon

6

Vgl. H. von Glasenapp, Die Philosophie der Inder. Eine Einführung in ihre Geschichte und ihre Lehren, Stuttgart 4 / 1985, 36, 42 f. 7 Platon, Timaios 42d–e. 8 Aurelius Augustinus, De civitate dei, XXI, 10; zit. n.: Ders., Vom Gottesstaat, übers. von W. Thimme, eingel. u. komm. von C. Andresen, München ³1991, 701. 9 Demokrit, Diels-Kranz 68 B 9, B10; vgl. A 123, aber auch A 135.

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den Ansatz zu einer reduktiven Erklärung, indem er geistige Fähigkeiten als eine Art von Systemeigenschaft erklärt. Sie entsteht aus der spezifischen Organisation von Atomen, die jeweils für sich genommen noch keine geistigen Eigenschaften besitzen: »Entscheidend für Urkörper, die Empfindsamkeit stiften, sind zum ersten die Kleinheit, zum zweiten die Form und zum letzten jeweils die Arten ihrer Bewegung, Ordnung wie Lage.«10

Neuzeit In der Neuzeit wird das Problem u. a. von Pascal wieder aufgegriffen, der seine Behauptung von der prinzipiellen Rätselhaftigkeit des Menschen vor allem darauf stützt, daß dieser nicht begreifen könne »was der Körper ist und noch weniger, was der Geist ist und am wenigsten von allem, wie ein Körper und ein Geist vereint sein können.«11 Dieselbe These vertritt Leibniz in der Monadologie, der dort an einem Gedankenexperiment zu demonstrieren sucht, daß es prinzipiell ausgeschlossen ist, geistige Eigenschaften aus dem Zusammenwirken der Bestandteile eines materiellen Systems zu erklären. Stellt man sich den Geist nämlich als eine Maschine vor, die so groß ist, daß man sich in ihr bewegen kann, dann zeigt sich, daß auch eine beliebig genaue Untersuchung niemals den Geist zutage fördern wird. »Untersucht man alsdann ihr Inneres, so wird man in ihm nichts als Stücke finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus man eine Perzeption erklären könnte.«12

Leibniz’ Behauptung erscheint zunächst bestens nachvollziehbar. Bemerkenswerterweise findet sich eine ganz ähnliche Argumentation bei Carl Vogt,13 also einem Vertreter des mechanischen Materialismus, der im allgemeinen nicht für seine differenzierten Darstellungen bekannt ist. Die Passage zeigt jedoch, daß

10

Lukrez, De rerum natura, II 894–96; zit. n.: Ders., Vom Wesen des Weltalls, übers. von D. Ebener, Leipzig 1989, 112 f. 11 Blaise Pascal, Pensées, 72; zit. n.: Ders., Über die Religion und einige andere Gegenstände, übertr. u. hrsg. von E. Wasmuth. Berlin 1937, 48. 12 G. W. Leibniz, Monadologie 17, zit. n.: Ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von A. Buchenau, Leipzig 1904 / 06, Bd. II, 439. 13 »Aber weshalb gerade jenes Gewebe Bewußtsein, diese Zusammenziehung erzeuge, werden wir allerdings niemals erklären können, und unser höheres Denken wird uns niemals über die Tatsache hinausbringen können, daß es eben einmal so ist. Was aber dem einen Organe recht ist, ist dem andern billig.« (C. Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Berlin 1971, Bd. II, 624 f.).

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Vogt keineswegs ein so engstirniger Reduktionist war, wie es der immer wieder zitierte Vergleich des Verhältnisses von Geist und Körper mit dem des Urins zu den Nieren glauben machen könnte.

III. Die Diskussion im 19. Jahrhundert Friedrich Albert Lange Eine ausführliche und sehr reflektierte Auseinandersetzung mit dem Problem, die einige wesentliche Aspekte der neueren Diskussion antizipiert, findet sich bereits in der ersten, 1866 erschienenen Fassung von Langes Geschichte des Materialismus. Von Interesse ist dies im vorliegenden Zusammenhang auch deshalb, weil Lange damit die These Du Bois-Reymonds von der prinzipiellen Unerklärbarkeit geistiger Eigenschaften vorwegnimmt, ja es spricht einiges dafür, daß Du Bois-Reymond durch Lange zu seiner Behauptung angeregt wurde.14 Lange behauptet nämlich bereits, daß dieses Problem eine der prinzipiellen Grenzen des Materialismus darstelle, hält gleichzeitig jedoch an der Notwendigkeit einer materialistischen Forschungsstrategie fest, ja er betont, daß diese »Grenze des Materialismus« nur dann zutage trete, »in dem wir ihn mit strengster Consequenz durchführen«.15 Dualistische Theorien oder gar das »Seelengespenst, auf den Trümmern der Scholastik spukend«,16 würden dagegen das eigentliche Problem nur verschleiern, indem sie einen »salto mortale aus der Wissenschaft in die Mythologie«17 vollziehen, wie ihn Lange schon in der Leibnizschen Monadenlehre zu erkennen glaubt.18 Lange seinerseits unterstellt demgegenüber die Identität geistiger und materieller Eigenschaften, so daß »eben der subjektive Zustand des empfindenden

14

Zwar wird Lange in dem Ignorabimus Vortrag nicht ausdrücklich erwähnt, wohl aber in der Akademie-Rede über La Mettrie von 1875, wo Du Bois-Reymond zudem auf die erste Auflage verweist. Denkbar ist außerdem, daß Du Bois-Reymond die Rückführung des Vogtschen Sekretionsgleichnisses auf Cabanis von Lange [F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1873 / 75, Bd. II, 134] übernommen hat. Vgl. auch die Einleitung des Herausgebers in: E. Du BoisReymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von S. Wollgast, Hamburg 1974, XXIV. 15 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866, Bd. I, 456. 16 Ebd., 427. 17 Ebd., 453. 18 Ebd., 214–221.

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Individuums zugleich für die äussere Beobachtung ein objektiver, eine Molekularbewegung ist.«19 Dies bedeutet, daß eine vollständige Erforschung der physischen Kausalkette vom Reiz bis zur Reaktion möglich sein muß, ohne daß dabei eine Interaktion von Seele oder Bewußtsein zu erwarten wäre.20 Lange ist also von der Fruchtbarkeit des materialistischen Forschungsprogramms überzeugt, ja er glaubt, daß dessen Grenzen überhaupt nur sichtbar werden, wenn man dieses Programm so konsequent wie eben möglich durchführt. So ist denn auch in Langes Augen das Bemühen um eine möglichst weitgehende Aufklärung der physischen Grundlagen des Bewußtseins nicht nur wegen des zu erwartenden Erkenntnisgewinns sinnvoll, sondern auch weil dabei gleichzeitig deutlich wird, daß dieses Programm an der Erklärung geistiger Eigenschaften scheitern muß.21 Das Problem stellt sich schon den antiken Atomisten und hat bis in Langes eigene Gegenwart nichts an Sprengkraft verloren. Gleich mehrfach spricht Lange von der »Unmöglichkeit des Uebergangs äusserer, vielfacher Bewegung in ein einheitliches Inneres in Empfindung und Vorstellung.«22 So heißt es in der ausführlicheren zweiten Fassung mit Bezug auf die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Perspektive der dritten Person und der mentalen Perspektive der ersten Person: »Bei allen Fortschritten der Wissenschaft, bei allen Umbildungen des Atombegriffs ist diese Kluft gleich gross geblieben und sie wird sich um nichts verringern, wenn es gelingt, eine vollständige Theorie der Gehirnfunktionen aufzustellen und die mechanischen Bewegungen sammt ihrem Ursprung und ihrer Fortsetzung genau nachzuweisen, welche der Empfindung entsprechen, oder anders ausgedrückt, welche die Empfindung bewirken.«23

Zentrale Punkte der heutigen Debatte nimmt Lange vorweg, wenn er Empfindungen, also offenbar die phänomenalen Eigenschaften, als paradigmatische

19

Ebd., 456. »Wir müssen die physische Causalreihe ohne irgend welche Berücksichtigung des sogenannten Bewusstseins das Hirn hindurch bis zu der ersten Veranlassung der ganzen plötzlichen Bewegung zurückverfolgen. […] Ich will die Leitungen sehen, die Wege der lebenden Kraft, den Umfang, die Fortpflanzungsweise und die Quellen der physikalischen und chemischen Processe, aus welchen die Nervenimpulse hervorgehen.« (Ebd., 453 f.). 21 Langes Position ist hier allerdings insofern nicht ganz konsistent, weil sich der Autor im Besitze eines theoretischen Argumentes für die Unerklärbarkeit geistiger Eigenschaften glaubt; eine Notwendigkeit der Bestätigung dieser Position durch ein empirisches Programm besteht also eigentlich nicht. 22 Ebd., 228. 23 Ebd., 15. 20

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Beispiele für diejenigen Bewußtseinseigenschaften verwendet, an denen unsere Erklärungsbemühungen scheitern müssen: »Die Wissenschaft darf nicht daran verzweifeln, mittelst dieser gewaltigen Waffe [i. e. »die Auflösung der Erscheinungen in die Bewegung kleinster Teilchen«; M. P.] dahin zu gelangen, selbst die verwickeltsten Handlungen und die bedeutungsvollsten Bewegungen eines lebenden Menschen nach dem Gesetze der Erhaltung der Kraft aus den in seinem Gehirn unter Einwirkung der Nervenreize frei werdenden Spannkräften abzuleiten, allein es ist ihr auf ewig verschlossen, eine Brücke zu finden, zwischen dem, was der einfachste Klang als Empfindung eines Subjektes, als meine Empfindung ist und den Zerstreuungsprozessen im Gehirn, welche die Wissenschaft annehmen muß, um diese nämliche Schallempfindung als einen Vorgang in der Welt der Objekte zu erklären.«24

Lange scheint hier zu unterstellen, daß die Erklärung der behavioralen und kognitiven Prozesse im Gegensatz zu der der phänomenalen Eigenschaften keine prinzipiellen Schwierigkeiten bereitet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man den Hinweis auf die »verwickeltsten Handlungen und die bedeutungsvollsten Bewegungen« so verstehen kann, daß hierunter z. B. auch sprachliches Handeln zu verstehen ist, was notwendigerweise auch ein Verständnis der diesem zugrundeliegenden kognitiven Prozesse einschließen würde. Lange bringt sogar einen Vorläufer des heute geläufigen »Absent-Qualia« oder »Zombie« Gedankenexperimentes, um die Behauptung zu belegen, daß auch vollständiges Wissen über die materiellen Bedingungen des Bewußtseins keinen Aufschluß über die bewußten Prozesse selbst gibt. So behauptet er, »dass also das ganze Thun und Treiben der Menschen, des Einzelnen, wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich vor sich geht, ohne dass übrigens auch nur in einem einzigen dieser Individuen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung u. s. w. vor sich ginge.«25

Zwar ist eine eindeutige Interpretation dieser Stelle schwierig, weil Lange die heute übliche Unterscheidung zwischen dem kognitiven und dem phänomenalen Bewußtsein fehlt; es spricht aber viel dafür, daß es ihm, ebenso wie der aktuellen Diskussion vor allem um das phänomenale Bewußtsein, also um den qualitativen Charakter bewußter Prozesse geht. Dies zeigt sich auch daran, daß Lange immer wieder von Klang-, Farb-, und Wärmeempfindungen spricht;26 außerdem verweist er auf die Einheitlichkeit, durch die diese subjektiven Emp-

24 25 26

Ebd., 15 f. Ebd., Bd. II, 155. Vgl. Ebd., Bd. I, 18.

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findungen sich zusätzlich von der Vielfalt der externen physikalischen Prozesse unterscheiden.27 Lange betont zudem den systematischen Unterschied der hier diskutierten Frage der Erklärbarkeit geistiger Zustände von der Frage, ob geistige Zustände materielle Zustände sind – eine Frage, die Lange ganz offensichtlich bejaht. Die Behauptung, daß geistige Prozesse nicht auf der Basis naturwissenschaftlicher Theorien erklärt werden können, rechtfertige noch nicht den Dualismus. Ganz explizit wendet sich Lange gegen den Versuch von »Theologen und theologisirenden Philosophen«, die »ganz munter über das [von der Naturforschung; M. P.] verlassene Feld ausschwärmen und mit grosser Autorität dasjenige lehren, was die Naturforschung nicht weiss.«28

Du Bois-Reymond Lange nimmt hier also die zentrale Aussage der Ignorabimus-Rede vorweg, derzufolge die Erklärung des Bewußtseins eine prinzipielle Schranke der wissenschaftlichen Welterklärung darstellt. Zieht man in Betracht, daß Du BoisReymond sich später ganz ausdrücklich auf Lange bezieht,29 dann kann man davon ausgehen, daß auch die Ignorabimus-Rede unter dem Einfluß Langes steht. Dies bedeutet allerdings nicht, daß sich die Position Langes generell mit der Du Bois-Reymonds decken würde. Anders als Du Bois-Reymond geht Lange nämlich davon aus, daß die Grenzen des Materialismus ein Argument für die Wiederbelebung einer revidierten Fassung des transzendentalen Idealismus liefern, der als die metaphysische und wissenschaftstheoretische Basis des materialistischen Forschungsprogramms begriffen wird.30 Lange stützt 27

Vgl. Ebd. Bd. I, 390: »Es fehlt uns im Atom das zusammenfassende, eine Vielheit von Stößen in die Einheit der Empfindungsqualität umsetzende Prinzip. Es ist immer dieselbe Schwierigkeit, vor der wir stehen. Man denke sich das Atom wie man wolle – mit starren oder beweglichen Teilchen, mit Unteratomen, ›innerer Zustände‹ fähig oder nicht: auf die Frage, wo und wie die Stöße aus ihrer Mannigfaltigkeit in die Einheit der Empfindung übergehen, ist nicht nur keine Antwort da, sondern es fehlt auch, sobald man der Sache auf den Grund geht, jede Denkbarkeit, geschweige denn Anschaulichkeit eines solchen Vorganges.« 28 Ebd., Bd. II, 157. 29 Vgl. E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 82, 88, 90, 162. Die Verweise finden sich in den Akademie-Reden La Mettrie und Die sieben Welträtsel. 30 Eine Diskussion dieser Argumentation verbietet sich hier; es erscheint mir jedoch mehr als zweifelhaft, ob das Erklärungslückenproblem tatsächlich Zweifel an der materialistischen Metaphysik schürt, die über die Skepsis an der Identitätsbehauptung hinausgeht. Umgekehrt scheint Langes Argumentation gegen den naiven Realismus, den

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sich dabei allerdings nicht nur auf das Erklärungslückenproblem, sondern auch auf die Physiologie der Sinnesorgane. Diese liefere den Beweis dafür, daß wir die Welt nicht so sehen, wie sie wirklich ist. Die Errungenschaften des materialistischen Forschungsprogramms werden damit zum Argument gegen die materialistische Metaphysik, zeigen sie doch, daß uns »unsere wirkliche Organisation […] daher ebenso unbekannt [bleibt], wie die wirklichen Aussendinge.«31 Die Wissenschaft selbst widerlegt also den naiven Realismus einer materialistischen Metaphysik. Diese muß zugunsten eines transzendentalen Idealismus aufgegeben werden, der allerdings bei Lange seinerseits auf eine empirische Grundlage gestellt wird: »Die Physiologie der Sinnesorgane«, so Lange, »ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus«.32 Mit anderen Worten: Nicht transzendentalphilosophische Überlegungen, sondern die Physiologie der Sinnesorgane informiert uns über die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis. Entscheidend im gegenwärtigen Zusammenhang sind jedoch die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten zwischen Du Bois-Reymond und Lange bezüglich der prinzipiellen Grenzen des Materialismus. Du Bois-Reymond illustriert dies bekanntlich durch den Verweis darauf, daß auch eine vollständige, »astronomische« Kenntnis des Gehirns die gewünschte Erklärung nicht liefern könne, und auch hier ergibt sich das eigentliche Rätsel wieder aus der Differenz zwischen der subjektiven Empfindung auf der einen Seite und den basalen Eigenschaften der Atome, insbesondere ihrer Organisation und Bewegung. »Die astronomische Kenntnis des Gehirnes, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen. […] Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein mobile perpetuum es wäre. Aber auch sonst sind sie unbegreiflich.«33

Auf den ersten Blick erscheint Du Bois-Reymonds These ebenso plausibel wie die oben zitierte Überlegung Leibniz’. Ähnliches gilt für seine zweite Formuer der materialistischen Metaphysik unterstellt, auch ohne naturwissenschaftliche Forschungen zur Sinnesphysiologie nachvollziehbar. Argumentieren könnte man allerdings, daß der transzendentale Idealismus besonders gute Möglichkeiten zum Verständnis der erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Sinnesphysiologie bietet. 31 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., Bd. I, 493. 32 Ebd., 482. 33 E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 70.

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lierung, es sei »durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden.«34 Genauso wie bei Lange geht es also um die Frage, ob eine Erklärung von Bewußtsein auf der Grundlage von Informationen über Struktur und Bewegung von Atomen zumindest prinzipiell möglich ist. Ganz offensichtlich haben wir intuitiv eine starke Tendenz, diese Frage negativ zu beantworten. Bei näherer Betrachtung kann man allerdings zweifeln, wie weit diese Plausibilität trägt: Einmal abgesehen davon, daß vor allem das letzte Zitat eine gewisse Tendenz zeigt, Bewußtsein nicht als komplexe Systemeigenschaft neuronaler Aktivitäten, sondern als Eigenschaft von einzelnen Atomen zu begreifen, stellt sich die Frage, ob unser Vorstellungsvermögen nicht erst einmal durch den vermutlich langwierigen Prozeß der Entwicklung angemessener Theorien über kognitive und emotionale Prozesse und deren neuronale Basis erweitert werden muß, bevor es zum Richter über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer grundlegenden Erklärung des Bewußtseins erhoben werden kann. Festzuhalten ist in jedem Falle, daß Du Bois-Reymonds These von der »Unbegreiflichkeit des Bewußtseins aus mechanischen Gründen«35 ebensowenig wie die Langes als Plädoyer für den Dualismus zu verstehen ist: »Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage, ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde.«36 Tatsächlich gibt Du Bois-Reymond immer wieder seine Präferenzen für die Theorie der psychophysischen Identität zu erkennen. Auch in dem zweiten zentralen Punkt deckt sich Du Bois-Reymonds Position im wesentlichen mit der von Lange, wobei abermals angesichts der fehlenden Differenzierung zwischen phänomenalem und kognitivem Bewußtsein eine gewisse Unsicherheit bleibt. Vor allem in den Welträtseln unterscheidet Du Bois-Reymond ganz ausdrücklich zwischen der Erklärung der »Empfindungen«, die in seinen Augen prinzipiell unmöglich ist und daher zu den »transzendenten« Problemen gezählt wird, während er eine Erklärung von rationalem Denken und Sprechen für prinzipiell möglich hält: »Wie groß auch der zwischen den höchsten Tieren und den niedrigsten Menschen übrig bleibende Sprung und wie schwer die hier zu lösenden Aufgaben seien, bei einmal gegebenem Bewußtsein ist deren Schwierigkeit ganz anderer Art als die, welche 34 35 36

Ebd., 71. Ebd., 167. Ebd., 75.

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der mechanischen Erklärung des Bewußtseins überhaupt entgegensteht.«37 Für diese Interpretation spricht zudem Du Bois-Reymonds ausdrücklicher Hinweis in der Ignorabimus-Rede, demzufolge es ihm gar nicht um höhere geistige Vorgänge gehe, vielmehr gewinne seine »Betrachtung gerade an Eindringlichkeit durch den Gegensatz zwischen der vollständigen Unwissenheit, in welcher astronomische Kenntnis des Gehirnes uns über das Zustandekommen auch der niedersten geistigen Vorgänge ließe.«38 Hinzu kommt zweitens, daß sich Du Bois-Reymond in seinen Beispielen auf das phänomenale Bewußtsein konzentriert: So nennt er die Empfindung von Lust und Schmerz, den Geschmack von Süßem und den Geruch von Rosenduft.39

Gustav Theodor Fechner Nach der zeitgenössischen Terminologie wäre Du Bois-Reymond ebenso wie Lange ein Vertreter des auf Gustav Theodor Fechner40 zurückgehenden sogenannten »psychophysischen Parallelismus«. Hierbei handelt es sich um eine Variante der Identitätstheorie, die nicht mit dem – dualistischen – Parallelismus Leibnizscher Prägung zu verwechseln ist.41 Fechner selbst hatte bereits erkannt, daß die Behauptung, geistige Prozesse seien mit physischen Prozessen identisch, problematisch bleibt, solange man keine Erklärung liefern kann für die offensichtliche Differenz zwischen der Erfahrung psychischer Prozesse und neuronalen Vorgängen, so wie wir sie mit Hilfe geeigneter Verfahren untersuchen können. Fechner liefert eine solche Erklärung, von der man zumindest auf den ersten Blick annehmen könnte, sie würde das hier diskutierte Problem wenn nicht lösen, so doch zumindest auflösen. Fechner zufolge kommt die Differenz zwischen der geistigen und der physischen Ebene einfach durch unseren unterschiedlichen Zugang zustande. Während wir zu unseren eigenen psychischen Prozessen einen unmittelbaren Zugang aus der Innenperspektive der ersten Person haben, besitzen wir zu den damit identischen physischen Vorgängen immer nur einen Zugang aus der Außenperspektive der dritten Person: 37

Ebd., 174. Ebd., 72. 39 Ebd., 71. 40 Vgl. M. Heidelberger, Wie das Leib-Seele Problem in den Logischen Empirismus kam. In: M. Pauen / A. Stephan, Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr der Identitätstheorie?, Paderborn 2004, 40–72, hier 44. 41 Zu den rezeptionsgeschichtlichen Beziehungen vgl. M. Heidelberger, Die innere Seite der Natur: Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Göttingen 1989, sowie M. Pauen, Vorläufer der Identitätstheorie? Über das Verhältnis Spinozas zu neueren Varianten des Monismus, in: Studia Spinozana (2004), 34–55. 38

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»Körper und Geist oder Leib und Seele oder Materielles und Ideelles oder Physisches und Psychisches, […] sind nicht im letzten Grund und Wesen, sondern nur nach dem Standpunkt der Auffassung oder Betrachtung verschieden. Was sich selbst auf innerm Standpunkt als geistig, psychisch erscheint, vermag einem Gegenüberstehenden vermöge dessen dagegen äußern Standpunkt nur in anderer Form, welche eben die des leiblich materiellen Ausdrucks ist, zu erscheinen. Die Verschiedenheit der Erscheinung hängt an der Verschiedenheit des Standpunkts der Betrachtung und der darauf Stehenden. In sofern hat dasselbe Wesen zwei Seiten, eine geistige, psychische, sofern es sich selbst, eine materielle, leibliche, sofern es einem anderen als sich selbst in anderer Form zu erscheinen vermag, nicht aber haften etwa Körper und Geist oder Leib und Seele als zwei grundwesentlich verschiedene Wesen an einander.«42

Nun könnte man Fechners Unterscheidung zwischen der Außen- und der Innenperspektive zunächst als metaphorisch und letztlich unklar kritisieren.43 Ich glaube aber, daß diese Kritik unberechtigt ist. Der zentrale Aspekt der Differenz, der für sich genommen schon die von Fechner intendierte Erklärung liefert, läßt sich nämlich recht genau benennen: Außen- und Innenperspektive unterscheiden sich in jedem Falle dadurch, daß nur für die Außen-, nicht aber für die Innenperspektive die – möglicherweise apparativ unterstützte – sinnliche Wahrnehmung konstitutiv ist. Zieht man in Betracht, daß Wahrnehmungsprozesse notwendigerweise die Transformation der wahrgenommenen Sinnesreize oder Reizkonstellationen erfordern, dann muß man eine grundlegende Differenz zwischen der Außen- und der Innenperspektive erwarten. Eine solche Transformation findet ja nur in der Außenperspektive statt. Es ist jedoch nicht schwer zu sehen, daß das von Du Bois-Reymond diagnostizierte Problem hiermit nicht gelöst wird: Wir erhalten damit nur eine ganz allgemeine Erklärung dafür, daß irgendein Unterschied bestehen muß, nicht jedoch die spezifische Erklärung, warum eine bestimmte neuronale Aktivität mit einer bestimmten Erfahrung identisch ist, warum also etwa die neuronale Aktivität XYZ eine Schmerzempfindung und nicht etwa eine Lustempfindung realisiert. Fechners Erklärung ist ganz offensichtlich mit beiden Möglichkeiten vereinbar und liefert daher nicht die gesuchte Antwort – auch wenn sie eine grundlegende Voraussetzung für eine solche Antwort bilden mag. Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, wenn diese Antwort von späteren Vertretern des Leib-Seele Monismus immer wieder aufgegriffen wurde, so z. B. von 42

G. Th. Fechner, Zend-Avesta. Gedanken über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkt der Naturbetrachtung, 2 Bde., Leipzig 1922, Bd. II, 135. 43 Vgl. L. Stubenberg, Chisholm, Fechner und das Geist-Körper Problem, in: Grazer Philosophische Studien XXVIII (1986), 187–210.

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Ernst Mach,44 von Herbert Feigl45 und – wohl nicht zufällig – von Thomas Nagel.46

III. Die aktuelle Debatte in der Philosophie des Geistes Thomas Nagel war gleichzeitig einer der ersten, die die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des nach wie vor ungelösten Problems der Erklärung geistiger Eigenschaften zurückgelenkt haben, ein Problem, das für die frühen Vertreter der Identitätstheorie kaum eine Rolle gespielt hatte.47 Dies gilt auch für den Funktionalismus, eine der in den siebziger und achtziger Jahren dominierenden Varianten des Monismus, derzufolge geistige Eigenschaften eindeutig über ihre »funktionale Rolle« bestimmt werden können. Mit der funktionalen Rolle waren dabei sämtliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen eines mentalen Zustandes gemeint, also nicht nur die Verhaltensdispositionen, sondern auch die Ursachen und Wirkungen auf der mentalen Ebene. Schmerzen wurden also nicht nur charakterisiert durch die (behaviorale) Tendenz, Schmerztabletten zu nehmen oder die Quelle des Schmerzes zu beseitigen, sondern auch durch den Wunsch, künftig bestimmte Situationen zu vermeiden, also einen menta-

44

»Ich bin von dem ursprünglichen Fechnerschen Parallelismus ausgegangen. Aber selbst die Betrachtung des Psychischen und Physischen als zwei Seiten eines Dritten, kann ich nicht so verächtlich finden. Es liegt ein besonnener Kompromiß des Spiritualismus mit dem Materialismus darin, der zu weiteren wissenschaftlichen Konsequenzen führt. Setzen wir statt dessen zwei Beobachtungsweisen desselben Vorganges, so wird an dieser Formel kein Naturforscher mehr Anstoß nehmen.« [E. Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena 1918, 305]. Auf die Probleme der Vorstellung, Geist und Materie seien zwei Seiten eines Dritten, kann hier nicht weiter eingegangen werden; es ist jedoch höchst fraglich, ob sie mit der Identitätsannahme vereinbar ist. 45 »The ›mental‹ states or events (in the sense of raw feels) are the referents (the denotata) of the phenomenal terms of the language of introspection, as well as of certain terms of the neurophysiological language. For this reason I have in previous publications called my view a ›double-language theory‹. But, as I have explained above, this way of phrasing it is possibly misleading in that it suggests a purely analytic (logical) translatability between the statements in the two languages. It may therefore be wiser to speak instead of twofold access or double knowledge.« (H. Feigl, The ›Mental‹ and the ›Physical‹, Minneapolis 1967, 80). 46 Th. Nagel, Consciousness and Objective Reality, in: The Mind-Body Problem. A Guide to the Current Debate, hrsg. von R. Warner und T. Szubka. Oxford 1994, 63–68, hier 67; Ders., The View from Nowhere, New York 1986, 30. 47 Man kann allerdings bei U. T. Place ein Bewußtsein für das Problem feststellen, vgl. U. T. Place, Is Consciousness a Brain Process?, in: V. C. Chappell, The Philosophy of Mind, Englewood Cliffs, N. J. 1962, 101–109, hier 108.

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len Zustand. Die Funktionalisten reagierten damit auf einen – allgemein als überzeugend empfundenen – Einwand gegen einen rein behavioristischen Ansatz. Diesem Einwand zufolge sorgt die gegenseitige Abhängigkeit geistiger Zustände voneinander dafür, daß diese niemals eindeutig alleine durch Verhaltensdispositionen zu erfassen sind. So wird etwa der Glaube, daß es draußen regnet, in mir nur dann die Neigung auslösen, einen Schirm mitzunehmen, wenn ich den Wunsch habe, trocken zu bleiben, und die Überzeugung, daß ein Regenschirm ein hierzu geeignetes Mittel ist. Ein besonderer Vorteil des Funktionalismus schien darin zu bestehen, daß er eine problemlose Identifikation der zugehörigen physischen Zustände erlaubte: Offensichtlich mußte es sich hier nur um genau die Zustände handeln, die die entsprechenden funktionalen Rollen besitzen, die also über die hierfür erforderlichen Kausaleigenschaften verfügen. Auf den ersten Blick also eine schlüssige Theorie, tatsächlich hatte sie jedoch einen wichtigen Schwachpunkt, auf den Thomas Nagel 1974 in seinem mittlerweile klassischen Aufsatz Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? hinwies.48 Nagels Überlegungen sind zwar rezeptionsgeschichtlich unabhängig entstanden, der Sache nach aber eng mit denen Langes und Du Bois-Reymonds verwandt. Im Mittelpunkt steht das bereits im Titel erwähnte Fledermaus-Gedankenexperiment. Nehmen wir an, wir hätten ein vollständiges physiologisches Wissen über die physischen, insbesondere die neuronalen Prozesse einer Fledermaus – also das, was Du Bois-Reymond die »astronomische Kenntnis« nennt. Offenbar würde uns auch diese Kenntnis keinen Aufschluß darüber geben, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, wie es sich also aus der Perspektive der ersten Person anfühlt, z. B. mit Hilfe einer Orientierung durch Ultraschall durch die Nacht zu fliegen. Bestenfalls können wir uns mit Hilfe eines Analogieschlusses vorstellen, wie dies für uns Menschen wäre, nicht aber, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein. Offenbar besteht hier also eine »Erklärungslücke« (»explanatory gap«) – so eine Bezeichnung für das hier diskutierte Problem, die sich im Titel eines einige Jahre später erschienen Aufsatzes von Joseph Levine49 befindet und sich mittlerweile eingebürgert hat. Da das Gedankenexperiment von vornherein ein vollständiges physiologisches Wissen unterstellt, kann die Ursache für diese Erklärungslücke nicht in Mängeln unseres derzeitigen Wissensstandes zu suchen sein. Genausowenig handelt es sich um ein Problem, das nur auf die Fledermausforschung beschränkt ist, vielmehr sieht es so aus, als würde es sich hier um eine prinzipi48

Th. Nagel, What is it Like to be a Bat?, in: Philosophical Review 83 (1974), 435–

450. 49

J. Levine, Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, in: Pacific Philosophical Quarterly LXIV (1983), 354–361.

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elle Grenze unseres naturwissenschaftlichen Wissens handeln. Dafür sprechen auch vergleichbare Gedankenexperimente, die zu zeigen scheinen, daß auch von einem beliebig genauen Wissen über die physische Basis des Bewußtseins praktisch keine Rückschlüsse auf die qualitativen Eigenschaften der Bewußtseinserfahrung gezogen werden können. Wir können uns problemlos vorstellen, daß das molekülidentische Duplikat einer normalsichtigen, bewußten Person entweder überhaupt kein Bewußtsein hat oder völlig andere bewußte Erfahrungen macht, also z. B. dort grün sieht, wo wir normalerweise rot sehen würden etc. Wenn hier wirklich Identität auf der physisch-funktionalen Ebene besteht, dann kann nichts von dem, was wir mit Hilfe der Naturwissenschaften herausfinden könnten, uns eine Erklärung für die verbleibenden Unterschiede auf der Ebene des phänomenalen Bewußtseins liefern. Vergleicht man die skizzierten Positionen in der neueren Philosophie des Geistes mit den Auffassungen von Lange und Du Bois-Reymond, dann wird man in der zentralen These zunächst eine bemerkenswerte Übereinstimmung feststellen können. Nach wie vor geht es um genau die prinzipielle Grenze des Naturerkennens bei der Erklärung geistiger Eigenschaften, die bereits am Ende des 19. Jahrhunderts diagnostiziert worden war. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die neuere Diskussion einfach nur wiederholt, was schon vor mehr als 100 Jahren festgestellt worden war. Von einer Weiterentwicklung kann nämlich erstens angesichts der bereits genannten Differenzierungen des Bewußtseinsbegriffs die Rede sein. Sie haben die Voraussetzung für die explizite Festlegung darauf geschaffen, daß es sich hier um ein Problem der Erklärung insbesondere der phänomenalen Qualitäten bewußter Prozesse und nicht um Schwierigkeiten bei der Erklärung kognitiver Eigenschaften handelt. Wichtiger noch sind allerdings Fortschritte bei der Klärung der Frage, worin eigentlich die Besonderheiten phänomenaler Eigenschaften bestehen, die dafür verantwortlich sind, daß diese Eigenschaften solche grundsätzlichen Schwierigkeiten bei einer naturwissenschaftlichen Erklärung aufwerfen. Diese Klärungen sind vor allem deshalb wichtig, weil die Argumente von Lange und mehr noch von Du Bois-Reymond angreifbar sind. Die Argumente stützen sich nämlich auf die Vorstellbarkeit bzw. Unvorstellbarkeit von Erklärungen und fordern damit die Replik heraus, daß viele der heute geltenden Erklärungen aus der Sicht früherer Generationen sicherlich auch nicht vorstellbar waren. Die heute gängige Argumentation, die u. a. auf Arbeiten von Levine, Kim und Chalmers, in Deutschland von Ansgar Beckermann50 zurückgeht, setzt 50

J. Levine, Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, in: Pacific Philosophical Quarterly LXIV (1983), 354–361; J. Kim, Emergenz, Reduktionsmodelle und das Mentale, in: M. Pauen / A. Stephan, Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr zur Identitätstheorie?, Paderborn 2002; D. J. Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory,

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daher an einem etwas anderen Punkt an. Ausgangspunkt ist die Annahme, daß es normalerweise durchaus möglich ist, höherstufige Eigenschaften, die wir aus dem Alltag kennen, durch einen Rückgriff auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die mikrophysikalischen Bestandteile der Entitäten, an denen diese Eigenschaften auftreten, zu erklären. So können wir etwa die Veränderungen im Aggregatzustand von Wasser problemlos auf die molekulare Ebene zurückverfolgen. Ähnliches gilt für die Phänomene, die bei der Erwärmung oder Abkühlung anderer Substanzen auftreten, beispielsweise die Ausdehnung von Gasen. Solche Phänomene lassen sich auf die Gesetzmäßigkeiten der statistischen Mechanik zurückführen und auf diese Weise »reduktiv erklären«. Es dürfte unnötig sein, hier noch einmal zu wiederholen, daß reduktive Erklärungen keine Gefahr für die Phänomene darstellen, die Gegenstand solcher Erklärungen sind. Eis verschwindet nicht aus unserer Welt, wenn wir die mikrophysikalischen Grundlagen seiner Entstehung erklären. Solche Erklärungen tragen lediglich zu unserem Verständnis dieser Phänomene bei und sie tun dies, indem sie den Rückgriff auf allgemeine Naturgesetze erlauben. Natürlich setzt dies zunächst einmal voraus, daß wir die grundlegenden mikrophysikalischen Prozesse verstanden haben, die die Grundlage der von uns beobachteten höherstufigen Phänomene darstellen. Wir müssen also die Gesetzmäßigkeiten kennen, die letztlich zur Erklärung herangezogen werden sollen. Wenn wir nicht wissen, wie sich H2O-Moleküle bei Temperaturen unterhalb von 0°C verhalten, haben wir keine guten Chancen, das Frieren von Wasser mikrophysikalisch zu erklären. Doch selbst eine vollständige Kenntnis der mikrophysikalischen Gesetzmäßigkeiten alleine wäre offenbar unzureichend. In diesen mikrophysikalischen Gesetzen ist nämlich nicht die Rede von »Wasser«, sondern von »H2O«. Wir benötigen daher zusätzlich noch eine Verbindung zwischen der alltagssprachlichen Ebene, auf der wir von Wasser sprechen, und der Ebene der mikrophysikalischen Gesetze, in der von H2OMolekülen die Rede ist. Dazu reicht nicht die empirische Feststellung aus, daß sich bislang alle unsere Fälle von Wasser als Fälle von H2O erwiesen haben. Diese empirische Tatsache bliebe für sich genommen nämlich unerklärt – warum haben sich unsere Fälle von Wasser als Fälle von H2O erwiesen und nicht als Fälle von XYZ? Doch wenn wir dies nicht verstehen, dann bleibt natürlich auch jede Erklärung unverstanden, die auf dieser Voraussetzung beruht. Mittlerweile sind viele Autoren der Ansicht, daß wir hier eine begriffliche Verbindung zwischen beiden Ebenen benötigen, die ihrerseits eine funktionale New York / Oxford 1996; A. Beckermann, Können mentale Phänomene neurobiologisch erklärt werden?, in: G. Roth / W. Prinz, Kopf-Arbeit: Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen, Heidelberg 1996, 413–425; M. Pauen, Das Rätsel des Bewußtseins: eine Erklärungsstrategie, Paderborn 1999.

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Analyse der höherstufigen Begriffe voraussetzt. Eine begriffliche Verbindung hat den großen Vorteil, daß sie völlig unproblematisch zu verstehen ist. Wenn wir verstehen, wie die begrifflichen Beziehungen zwischen »H2O« und »Wasser« sind, dann verstehen wir natürlich auch, inwiefern sich Erklärungen, in denen von H2O die Rede ist, auf Wasser beziehen. Der Rückgriff auf eine funktionale Analyse liegt vor allem deshalb nahe, weil Ursachen und Wirkungen einfach der zentrale Gegenstand auf allen Ebenen der wissenschaftlichen Analyse sind. Man gewinnt auf diese Weise also eine »ontologisch neutrale« Sprache, die es erlaubt, verschiedene Ebenen der wissenschaftlichen Beschreibung miteinander zu verknüpfen – und genau darum geht es hier ja. Um zu einer funktionalen Analyse zu gelangen, müssen wir also nach solchen Merkmalen von Wasser suchen, die etwas mit den Wirkungen dieser Substanz bzw. mit den Ursachen von Veränderungen dieser Substanz zu tun haben. Eine erste Analyse von Wasser könnte demnach darauf verweisen, daß es sich hier um eine geruchs- und geschmacklose Substanz handelt, die durchsichtig ist, ein spezifisches Gewicht von 1 hat etc. Wenn es um eine Erklärung um das Gefrieren von Wasser geht, dann müßten wir dasselbe noch mit »Eis« machen. In diesem Falle könnten wir z. B. darauf verweisen, daß Eis nicht durchsichtig ist, daß sein spezifisches Gewicht unter dem von nicht gefrorenem Wasser liegt, daß es seine Form nicht den Gefäßen anpaßt, in denen es aufbewahrt wird, und daß es eindringenden Gegenständen einen wesentlich größeren Widerstand entgegensetzt, als dies bei nicht gefrorenem Wasser der Fall ist. Würde es gelingen, die wesentlichen Verwendungskriterien unserer alltagssprachlichen Begriffe von Wasser und Eis auf diese Weise zu erfassen, und sollte es sich herausstellen, daß H2O oberhalb und unterhalb von 0°C genau diese Kriterien erfüllt, dann können wir nicht nur sicher sein, daß H2O Wasser bzw. Eis ist, vielmehr würden wir auch verstehen, warum alles, was wir über die entsprechenden Veränderungen von H2O sagen, auch für die Verwandlung von Wasser in Eis gelten muß – H2O würde dann nämlich genau die Kriterien erfüllen, die unserer alltagssprachlichen Verwendung von »Wasser« und »Eis« zugrunde liegen. Mit anderen Worten: Wenn wir eine Erklärung dafür haben, warum H2OMoleküle bei bestimmten Temperaturen Kristallgitterstrukturen ausbilden, dann könnten wir unter diesen – zugegebenermaßen idealen – Bedingungen auch sicher sein, daß diese Erklärungen auch für das Frieren von Wasser gelten. Und könnten wir dann noch zeigen, daß die Bildung von Kristallgitterstrukturen u. a. zu einer festeren Bindung der Moleküle aneinander führt und folglich die Anpassung an äußere Objekte bzw. das Eindringen solcher Objekte verhindert, dann würden wir verstehen, daß die Bildung von Kristallgitterstrukturen tatsächlich nichts anderes sein kann als die Vereisung. Einer Übertragung unserer mikrophysikalischen Erklärung auf das makrophysikalische Phänomen

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stünde also nichts mehr im Wege. Natürlich gibt es solche idealen Bedingungen in der wirklichen Welt normalerweise nicht – mikro- und makrophysikalische Phänomene »passen« einfach nicht so gut zusammen – aber in einigen Fällen sind die Beziehungen doch so eng und stabil, daß nur wenig Raum für vernünftige Zweifel an der Geltung der mikrophysikalischen Erklärung bleibt. Zieht man zusätzlich zu diesen Überlegungen noch die oben skizzierten Gedankenexperimente in Betracht, dann ist leicht zu erkennen, woher die prinzipiellen Schwierigkeiten bei der Erklärung phänomenaler geistiger Eigenschaften rühren. Offenbar ist es nämlich einfach unmöglich, phänomenale Eigenschaften in solchen funktionalen Analysen, also in Beschreibung von Ursachen und Wirkungen zu erfassen. Genau das war ja der Einwand, den Thomas Nagel gegen den Funktionalismus erhoben hatte, das gleiche gilt für die genannten Gedankenexperimente. In all diesen Fällen sind die funktionalen Eigenschaften einfach dadurch vollständig festgelegt, daß wir entweder alles auf der physisch-funktionalen Ebene wissen oder es mit identischen Objekten zu tun haben, also etwa einer Person und ihrem molekülidentischen Duplikat. Gleichzeitig zeigen die Gedankenexperimente, daß die phänomenalen Eigenschaften damit völlig unbestimmt bleiben können. In Nagels Fledermaus-Gedankenexperiment ist dies nur Gegenstand einer – plausiblen – Behauptung; in den anderen Fällen sind solche Variationen direkter Gegenstand der Gedankenexperimente, nämlich dann, wenn angenommen wird, daß mein molekülidentisches Duplikat im Gegensatz zu mir gar keine Bewußtseinseigenschaften besitzt oder aber ein gegenüber meinem eigenen völlig invertiertes Farbempfinden hat. Ein Fortschritt gegenüber den Argumenten von Leibniz oder Du Bois-Reymond wird damit insofern erreicht, als es nun nicht mehr auf die Vorstellbarkeit bestimmter Theorien ankommt, die zwischen atomaren Strukturen und Bewußtsein vermitteln. Über die Möglichkeit und die explanatorische Kraft solcher Theorien kann man sehr wenig Zuverlässiges sagen, so lange man sie noch nicht kennt. Hier ist der Ansatzpunkt vielmehr unsere unmittelbare phänomenale Erfahrung, und die ist jedem von uns gegenwärtig. Wenn also phänomenale Eigenschaften prinzipiell nicht in funktionalen Analysen zu erfassen sind und wenn solche funktionalen Analysen die Bedingung für eine reduktive Erklärung darstellen, dann sind phänomenale Eigenschaften eben nicht reduktiv erklärbar. Da es sich hier um ein begriffliches Problem handelt, gibt es keinen Anlaß für die Hoffnung, daß der wissenschaftliche Fortschritt hieran jemals etwas ändern wird. Der wissenschaftliche Fortschritt kann nur unser empirisches Wissen vermehren, doch Grundlage der Argumente ist ja von vornherein die Annahme, daß wir bereits vollständiges empirisches Wissen besitzen. Diese Klärung zeigt allerdings nicht nur, worin das eigentliche Problem besteht; sie zeigt auch, an welcher Stelle man ansetzen muß, wenn man sich um eine Lösung des Problems bemühen will.

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Eine solche Lösung scheint jedoch nicht in Sicht. Wenn aber die psychophysische Beziehung tatsächlich prinzipiell unverständlich bleiben muß, stellt dies nicht doch einen Einwand gegen den Monismus dar? Es sollte klar sein, daß die prinzipielle Differenz zwischen dem Erklärungslückenproblem und der Frage nach dem ontologischen Status mentaler Eigenschaften diesen Einwand noch nicht aus der Welt schafft. Die Differenz läßt es lediglich zu, daß man die Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften bezweifeln und dennoch – wie Lange, Du Bois-Reymond, Nagel oder Levine – daran festhalten kann, daß geistige Eigenschaften physische Eigenschaften sind. Dies bedeutet aber nicht, daß es sinnvoll oder gerechtfertigt sein muß, beide Positionen gleichzeitig zu vertreten. Wenn ein bestimmter geistiger Prozeß identisch mit einem bestimmten physischen Prozeß ist, dann muß sich die Erklärung für den physischen Prozeß gleichzeitig auch auf den geistigen Prozeß beziehen – schließlich handelt es sich ja voraussetzungsgemäß um ein und denselben Prozeß. Doch wenn dies so ist, dann müssen Zweifel an der Übertragbarkeit der Erklärung immer auch zu Zweifeln an der Behauptung der psychophysischen Identität führen. Dies gilt vor allem deshalb, weil es einfach nicht zu erwarten ist, daß wir irgendwann einmal wirklich zwingende Belege für die Identitätsbehauptung finden werden. Solche Zweifel hätten sich übrigens auch dann eingestellt, wenn es auf die Dauer mißlungen wäre, bestimmte Oberflächeneigenschaften von Wasser durch die Molekulareigenschaften von H2O zu erklären. In diesem Fall hätten wir uns gefragt, ob wir nicht einfach einen bestimmten Bestandteil von Wasser übersehen haben, der uns die geforderte Erklärung liefern kann – Wasser wäre also nicht H2O, sondern allenfalls H2O + X. Wie weit die Zweifel reichen, die durch das Erklärungslückenproblem begründet werden, ist allerdings umstritten. Während Nagel, Levine und auch Beckermann davon ausgehen, daß sich hieraus zwar ein gravierendes Problem für den Physikalismus ergibt, daß man aber dennoch an dieser Position festhalten könne, behaupten z. B. Kripke, David Chalmers oder Martine Nida-Rümelin, daß die Existenz einer Erklärungslücke den Rückschluß zuläßt, daß geistige Eigenschaften nicht mit neuronalen identisch sein können. Kripke zufolge gelten Identitätsannahmen desjenigen Typs, wie sie in der Leib-Seele Debatte eine Rolle spielen, entweder notwendigerweise, oder aber sie sind falsch. Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Indizien dafür, daß eine solche notwendige Beziehung nicht besteht. Es ist z. B. ohne weiteres vorstellbar, daß Geist ohne Materie oder Materie ganz ohne Geist auftritt. Dies scheint zu zeigen, daß hier keine notwendige Beziehung besteht; die Identitätsbeziehung wäre demnach falsch. Offensichtlich haben wir es hier mit einem erläuterungsbedürftigen Argument zu tun. Dabei betreffen die meisten Zweifel weniger die Voraussetzung der Notwendigkeit von Identitätsbehauptungen als vielmehr die Frage, unter welchen Bedingungen diese Notwendigkeit bestritten werden müßte. Chris

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Hill etwa hat gezeigt, daß die bloße Existenz von Zweifeln eher ein psychischer Sachverhalt ist, aus dem nicht notwendigerweise ein Einwand bezüglich der Notwendigkeit der Aussage folgt, die Gegenstand dieses Zweifels ist.51 Eine nähere Diskussion dieses Problems würde hier jedoch zu weit führen, da sie eine Reihe zusätzlicher Annahmen über die Besonderheiten sogenannter rigider Designatoren, über den modalen Status von Identitätsbehauptungen oder über die sogenannte zweidimensionale Semantik voraussetzt. Ich werde daher auf diese Thesen hier nicht weiter eingehen und mich statt dessen mit Zweifeln an dem Erklärungslückenargument selbst befassen.

IV. Zweifel am Erklärungslückenargument Solche Zweifel sind nicht sonderlich neu. Schon Du Bois-Reymond mußte sich bekanntlich u. a. mit den Einwänden Haeckels auseinandersetzen, der dem ›allgewaltigen Sekretär und Diktator der Berliner Akademie‹ einen Rückfall in den Dualismus vorwarf, der vor allem durch die ›spiritualistische Philosophie‹ sowie das ›Heerlager der ecclesia militans‹ begrüßt worden sei. Haeckel selbst kann hier nur ein »physiologisches Problem« erkennen, das »auf die Erscheinungen im Gebiete der Physik und Chemie zurückzuführen sei«.52 Haeckels Argumentation ist jedoch wenig überzeugend: Zum einen geht sie einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Du Bois-Reymond aus dem Weg, indem sie ihn fälschlicherweise zu einem Dualisten erklärt. Haeckel meint sich daher mit einer Widerlegung des Dualismus begnügen zu können, ohne auf das Erklärungslückenargument einzugehen. Wenig überzeugend ist zweitens auch die Quintessenz von Haeckels Monismus, derzufolge jedes Atom eine Seele besitzt.53 Abgesehen von dem spekulativen Charakter dieser Annahme, hat sie keinen explanatorischen Wert. Will man nicht davon ausgehen, daß die bloße Aggregation von Atomseelen Bewußtsein hervorbringt, und damit Bergen und großen Gebäuden ein Maximum an Bewußtheit zuschreiben, dann muß man zugestehen, daß die Atomseelen auf eine ganz spezifische Weise organisiert sein müssen, um menschliches Bewußtsein hervorzubringen, nämlich z. B. so wie im menschlichen Gehirn. Damit aber bleibt weiterhin zu klären, warum 51

Ch. S. Hill, Imaginability, Conceivability, Possibility, and the Mind-Body Problem, in: Philosophical Studies LXXXVII (1997), 61–85. 52 E. Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Stuttgart 1984, 234. 53 »Wir gründen darauf unsere Überzeugung, daß auch schon den Atomen die einfachste Form der Empfindung und des Willens innewohnt – oder besser gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und Strebung (Tropesis)–, also eine universale ›Seele‹ von primitivster Art (noch ohne Bewußtsein! –). (E. Haeckel, Die Welträtsel, a. a. O., 286).

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diese und nicht eine andere Form der Organisation Bewußtsein hervorbringt; auf die Annahme von Atomseelen kann man also einfach verzichten. Ein solcher Verzicht scheint auch deshalb ratsam, weil Haeckel nicht erklären kann, wie Atome ihre psychischen Fähigkeiten gewinnen.54 In neuerer Zeit sind weitere Einwände gegen das Erklärungslückenargument vorgebracht worden. Patricia Churchland behauptet, daß es sich hier um ein »Argument from Ignorance« handle, das fälschlicherweise unsere jetzige Unwissenheit zu einer unüberwindlichen Barriere hochstilisiere.55 In Wirklichkeit werde die wissenschaftliche Entwicklung jedoch früher oder später zu einer Lösung des Problems führen. Aus der Tatsache, daß wir uns diese heute noch nicht vorstellen können, seien keinerlei interessante Schlußfolgerungen zu ziehen. Wie unten noch genauer zu zeigen sein wird, glaube auch ich, daß die Vertreter des Erklärungslückenargumentes die Konsequenzen der wissenschaftlichen Entwicklung unterschätzen. Für sich genommen liefert der bloße Verweis auf den wissenschaftlichen Fortschritt jedoch keinen tragfähigen Einwand, zumal wie erwähnt die Rolle der Vorstellung in den neueren Fassungen des Argumentes modifiziert worden ist. Notwendig ist in jedem Falle eine konkrete Auseinandersetzung mit demjenigen Argument, das die Erklärungslükkentheoretiker vorbringen, um zu zeigen, daß der wissenschaftliche Fortschritt prinzipiell nichts an dem Scheitern funktionaler Analysen phänomenaler Eigenschaften ändern kann. Ohne eine Auseinandersetzung mit diesem Argument läuft der Verweis auf den wissenschaftlichen Fortschritt ins Leere, denn dessen Existenz bestreitet kein Erklärungslückentheoretiker. Eine ganz andere Strategie ist von David Papineau vorgeschlagen worden.56 Papineau verweist darauf, daß Identitätsbeziehungen nicht erklärungsbedürftig sind. Tatsächlich wäre es absurd, nach einer Erklärung dafür zu verlangen, daß ich mit mir selbst identisch bin. Mehr noch: Wenn ein bestimmter geistiger

54

Vgl. ebd., 229; E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 165 f. 55 »A prominent item in the fallacy roster is argumentum ad ignorantiam – argument from ignorance. The canonical version of this fallacy uses ignorance as the key premise from which a substantive conclusion is drawn. The canonical version looks like this: We really do not understand much about a phenomenon P. (Science is largely ignorant about the nature of P.) Therefore: we do know that: (1) P can never be explained, or (2) Nothing science could ever discover would deepen our understanding of P, or (3) P can never be explained in terms of properties of kind S.« (P. S. Churchland, The Hornswoggle Problem, in: Journal of Consciousness Studies 3, issue 5 / 6 (1996), 406). 56 D. Papineau, Mind the Gap, in: Philosophical Perspectives 12 (1998), 373–388; vgl. hierzu auch die kritische Diskussion von Michael Schütte, Reduktion ohne Erklärung. Phänomenale Eigenschaften aus der Perspektive des Aposteriori-Physikalismus, Paderborn 2004.

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Prozeß mit einem physischen Prozeß identisch ist, dann bezieht sich natürlich die Erklärung des physischen Prozesses auch auf den geistigen Prozeß, schließlich handelt es sich hier in Wirklichkeit um ein und denselben Prozeß – von einer Erklärungslücke scheint hier also gar keine Rede sein zu können. Wie oben bereits erwähnt, führt diese Strategie jedoch nicht zum Ziel. Natürlich hat Papineau recht, daß die Erklärung für einen physischen Prozeß sich faktisch auch auf einen damit identifizierten psychischen Prozeß bezieht – wenn die Identitätsbehauptung zutrifft. Unglücklicherweise ergibt sich aus diesem Zusammenhang im Umkehrschluß, daß Zweifel an der Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Erklärungen auf geistige Prozesse zu Zweifeln an der Identitätsbehauptung werden. Und da es kaum zu erwarten ist, daß wir jemals unbezweifelbare Beweise für die Wahrheit der Identitätsbehauptung vorbringen können, kann man das Erklärungslückenargument nicht mit Verweis auf die psychophysische Identität zurückweisen, vielmehr wirft dieses Argument zusätzliche Zweifel an der Identitätsbehauptung auf. Jeder Vertreter der Identitätstheorie muß daher ein großes Interesse daran haben, das Erklärungslükkenargument zurückzuweisen. Die bislang skizzierten Strategien stellen das Erklärungslückenargument also nicht grundsätzlich in Frage. Dennoch glaube ich, daß man hier einen erfolgreichen Einwand vorbringen kann. Ich habe diesen Einwand an anderen Stellen ausführlich und z. T. auch in einer stärker formalisierten Form dargestellt. Hier möchte ich es bei einer kurzen, weniger formalen Darstellung lassen. Grundlage des Einwands ist eine Annahme, die in der Diskussion über die Erklärungslücke, soweit ich das sehen kann, unumstritten ist, nämlich daß wir einen privilegierten Zugang zu unseren eigenen phänomenalen Zuständen haben. Gemeint ist damit, daß jede Person z. B. zu den qualitativen Aspekten ihrer Schmerzerfahrungen einen Zugang hat, der jeder anderen Person verschlossen ist. Trotz der Plausibilität dieser Behauptung ist es nicht ganz einfach, konkrete Kriterien für einen solchen privilegierten Zugang anzugeben. Eine Minimalbedingung dürfte jedoch sein, daß das Subjekt eines phänomenalen Zustands zumindest im Prinzip in der Lage ist, massive Unterschiede oder Veränderungen dieses Zustands zu erkennen, also z. B. eine Grünempfindung von einer Rotempfindung zu unterscheiden. Genauso sollte man prinzipiell in der Lage sein, den Unterschied zwischen der Abwesenheit und der Anwesenheit solcher Zustände zu erkennen. Beginnen möchte ich mit einem Gedankenexperiment. Es greift die in der Diskussion über die Erklärungslücke weit verbreitete Vorstellung auf, daß es prinzipiell möglich ist, sich zu einer bewußtseinsfähigen Person einen physisch und funktional identischen Doppelgänger vorzustellen, der selbst keinerlei Bewußtsein hat. Normalerweise werden diese Doppelgänger als »Zombies«

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bezeichnet. Stellen Sie sich nun aber vor, es gäbe einen »Teilzeit-Zombie,« der manchmal so wie wir in ganz normalen Bewußtseinszuständen ist, manchmal aber so wie andere Zombies keinerlei Bewußtsein besitzt. Stellen Sie sich weiterhin vor, dieser Teilzeit-Zombie verspüre zu einem bestimmten Zeitpunkt einen heftigen Schmerz. Einige Zeit später, der Zombie ist mittlerweile wieder »bewußtlos«, kommt er wieder in exakt den gleichen physischen Zustand, spürt aber aufgrund seiner Bewußtlosigkeit nichts. Noch ein wenig später tritt das Bewußtsein wieder ein und der Zombie denkt nun an die beiden vorangegangenen Situationen zurück. Die entscheidende Frage ist nun, ob der Zombie in der Lage sein wird, die beiden Zustände, also den der Anwesenheit und den der Abwesenheit von Schmerz, voneinander zu unterscheiden – das müßte er, weil er sonst die Minimalbedingung für den geforderten privilegierten Zugang zu seinen eigenen phänomenalen Zuständen verfehlen würde. Doch wenn er in beiden Fällen in exakt dem gleichen physischen und funktionalen Zustand war, dann können sich auch die Gedächtnisspuren nicht voneinander unterscheiden.57 Mit anderen Worten: der Teilzeit-Zombie wird nicht in der Lage sein, die beiden Zustände voneinander zu unterscheiden, und er verletzt damit die Minimalbedingung für den privilegierten Zugang zu phänomenalen Zuständen. Ein zweites Problem ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ausfälle überhaupt nicht ins Gedächtnis gelangen. Der Teilzeit-Zombie kann nämlich auch das Ausmaß dieser Ausfälle nicht abschätzen. Da er die Ausfälle niemals bemerkt, kann er sich auch niemals an sie erinnern. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Teilzeit-Zombie ständig in Zuständen von abwesendem Bewußtsein ist, wird er wie sein bewußtseinsfähiger Doppelgänger der Überzeugung sein, ganz normale bewußte Erfahrungen zu machen. Er ist also prinzipiell unfähig, zu erkennen, daß er ein Teilzeit-Zombie ist. Diese Konsequenz allerdings ist fatal: Wenn nämlich Teilzeit-Zombies prinzipiell nicht erkennen können, daß sie Teilzeit-Zombies sind, dann stellt sich die Frage, woher ich denn wissen kann, daß ich kein Teilzeit-Zombie bin – wenn dies der Falle wäre, würde sich dies ja auch meiner Erkenntnis entziehen.

57

Die Einwirkung immaterieller geistiger Prozesse kommt hier aus zwei Gründen nicht in Betracht: Zum einen soll es hier ja um ein Problem des Physikalismus gehen – für einen Dualisten steht ja von vornherein fest, daß geistige Eigenschaften nicht auf der Basis von Wissen über physische Eigenschaften erklärbar sein können. Zweitens schließt aber auch die Forderung nach funktionaler Identität eine solche Einwirkung aus. Natürlich kann man sich problemlos vorstellen, daß in dem zweiten Falle angesichts der Abwesenheit immaterieller geistiger Zustände auch die Wirkung dieser Zustände auf das Gedächtnis ausbleiben muß, so daß die Differenz zu erkennen wäre. Dies verstößt jedoch gegen die Forderung nach funktionaler Identität, die beiden Zustände des Zombies würden sich in diesem Falle nämlich hinsichtlich ihrer Wirkungen (auf das Gedächtnis) unterscheiden und wären damit nicht mehr funktional identisch.

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Natürlich sind dies absurde Konsequenzen. Vermeiden kann man sie allerdings nur, wenn man eine Voraussetzung aufgibt, die dem Erklärungslückenargument zugrunde liegt, nämlich die Annahme, daß phänomenale Eigenschaften völlig unabhängig von kausalen oder funktionalen Eigenschaften variieren können. Mit anderen Worten: Wenn man an einer zentralen Voraussetzung der Diskussion über phänomenale Eigenschaften, nämlich dem privilegierten Zugang, festhalten will, dann muß man zugeben, daß eben doch eine Verbindung zwischen den phänomenalen Eigenschaften und funktionalen Merkmalen besteht und damit zwischen der Perspektive der ersten und der der dritten Person. Hierfür spricht übrigens noch ein zweites Gedankenexperiment. Stellen Sie sich zwei Neugeborene vor, zwischen denen es keinerlei physisch-funktionale Unterschiede gibt. Unterschiede gibt es jedoch auf der Ebene der phänomenalen Eigenschaften: Eines der Neugeborenen hat nämlich »invertierte« Schmerz- und Lustempfindungen. Es empfindet immer dort Schmerz, wo normale Menschen einschließlich des anderen Neugeborenen Lust empfinden, und umgekehrt Lust dort, wo andere Schmerzen empfinden würden. Stellen Sie sich nun vor, beide Neugeborene hätten kurz nach ihrer Geburt ein Erlebnis, das wir normalerweise als lustvoll erfahren würden, doch nur eines der Neugeborenen empfindet Lust – das andere spürt aufgrund der Verkehrung der phänomenalen Eigenschaften Schmerzen. Offensichtlich ist nicht zu erwarten, daß das Neugeborene, das Schmerzen empfindet, sich genauso verhält wie dasjenige, das eine angenehme Empfindung hat. Das gleiche gilt für den umgekehrten Fall, also dann, wenn beide Kinder leicht verletzt werden: Schwer vorzustellen, daß das Neugeborene, das aufgrund seiner invertierten Empfindung Lust empfindet, sich genauso verhalten wird wie das andere Kind, das hier Schmerzen spürt. Wenn wir dies aber nicht erwarten, dann verbinden wir offenbar doch die phänomenale Erfahrung von Schmerzen mit bestimmten funktionalen, von außen erkennbaren Eigenschaften. Natürlich ist diese Verbindung bei weitem nicht dazu geeignet, den Zusammenhang zwischen der subjektiven, phänomenalen Ebene und der objektiven Beschreibungsebene der dritten Person herzustellen. Dennoch wird damit die Grundlage der Behauptung zerstört, daß eine solche Verbindung prinzipiell unmöglich sei. Prinzipiell unmöglich wäre eine solche Verbindung wie gesagt nur dann, wenn es überhaupt keine Verbindung zwischen der funktionalen und der subjektiven Ebene gäbe. Die skizzierten Überlegungen haben jedoch noch eine weitere wichtige Konsequenz. Schauen wir uns dazu noch einmal das Argument an, das zeigen soll, daß die Erklärungslücke nicht durch empirische Erkenntnisse geschlossen werden kann. Aus der Tatsache, daß es sich um ein rein begriffliches Problem handelt, wird gefolgert, daß von der empirischen Forschung kein Fortschritt in

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dieser Sache zu erwarten ist. Gestützt wird diese Annahme in den Gedankenexperimenten u. a. dadurch, daß man sich vollständiges physisch-funktionales Wissen und gleichzeitig tiefgreifende Variationen auf der phänomenalen Ebene vorstellen kann. Kommen wir noch einmal zu diesem zweiten Punkt: Natürlich können wir heute versuchen, uns vorzustellen, wir wüßten »alles« über die neuronalen Grundlagen von Schmerz. Doch was stellen wir uns dann vor? In jedem Falle nicht die wirklichen wissenschaftlichen Erkenntnisse, denn die besitzen wir ja noch gar nicht. Doch wie wollen wir ausschließen, daß es einmal empirische Erkenntnisse z. B. über das Schmerzverhalten gibt, die tatsächlich zu unseren subjektiven Erfahrungen »passen«, also nicht so beziehungslos neben diesen Erfahrungen stehen, wie die abstrakte Aktivität von einigen Neuronen, die ebensogut der Realisierung von Sprache oder aber irgendwelchen völlig unbewußten Steuerungsprozessen dienen könnte? Schon heute gibt es vergleichbare Erkenntnisse. So wissen wir, daß unsere scheinbar völlig homogene Schmerzempfindung auf der Aktivität unterschiedlicher neuronaler Zentren basiert, die sich offenbar auch in der Entwicklungsgeschichte unabhängig voneinander herausgebildet haben.58 Eines dieser Zentren ist für die Empfindung von Art und Ort der Verletzung zuständig, das andere liegt der aversiven Qualität des Schmerzes sowie dem Einfluß dieser Empfindung auf unser Verhalten zugrunde. Patienten, bei denen man dieses Zentrum aus medizinischen Gründen entfernt hatte, berichteten nachher, daß sie zwar noch Schmerzen verspürten, diese aber nicht mehr wirklich unangenehm seien. Der entscheidende Punkt hier ist, daß Unterschiede in den neuronalen Aktivitäten, so wie sie aus der Perspektive der dritten Person festzustellen sind, aus der Perspektive der ersten Person nachvollzogen werden können – wenn nur eines dieser Zentren aktiv ist, fühlen sich die Schmerzen anders an und sind offenbar auch mit anderen subjektiv wahrnehmbaren Verhaltenstendenzen verbunden. Offenbar bestehen hier also Verbindungen zwischen der neuronalen und der phänomenalen Ebene, die die Bedingungen für eine funktionale Analyse verbessern, und es spricht einiges dafür, daß sich diese Verbindungen auf die Dauer weiter ausbauen lassen. Es kommt hinzu, daß die empirischen Forschungen nicht auf die Ebene der Neurobiologie beschränkt sind, vielmehr werden wir auf die Dauer auch mehr über die psychologischen Eigenschaften von Schmerzen und anderen phänomenalen Zuständen erfahren, und es ist nicht zu sehen, warum gerade solche Erkenntnisse nicht zu einer weiteren Verbesserung der Bedingungen einer funktionalen Analyse beitragen sollten. 58

Vgl. P. Rainville / G. H. Duncan / D. D. Price / B. Carrier / M. C. Bushnell, Pain Affect Encoded in Human Anterior Cingulate But Not Somatosensory Cortex, in: Science 277 (1997), 968–971.

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Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt. Es kann überhaupt kein Zweifel an dem prinzipiellen Unterschied zwischen empirischem Erkenntnisgewinn und begrifflichen Festlegungen geben. Es ist etwas völlig anderes, ob ich Erkenntnisse z. B. über Verhalten und Lebensgewohnheiten bestimmter Fische gewinne oder ob ich mich entschließe, meine begrifflichen Kriterien z. B. für die Klassifikation bestimmter Lebewesen als Fische, als Fische einer bestimmten Art etc. zu verändern. Doch auch hier rechtfertigt der zweifellos bestehende Unterschied nicht die Annahme einer vollständigen Unabhängigkeit: Natürlich können unsere begrifflichen Normen von empirischen Erkenntnissen beeinflußt werden. So haben bestimmte Erkenntnisse der Biologie über die Artmerkmale von Säugetieren zu einer Revision unseres Begriffs von Fischen geführt. Als Folge dieser Revision bezeichnen wir nicht mehr alle Tiere, die ausschließlich im Wasser leben und deren Extremitäten als Flossen ausgebildet sind, als Fische. Auch unser Begriff von Wasser oder Wärme hat sich unter dem Eindruck empirischer Erkenntnisse verändert, ja es ist sehr wahrscheinlich, daß einem Menschen des 18. Jahrhunderts, der unter Wasser eine homogene Substanz verstand und unter Wärme einen Vorgang, der im wesentlichen auf der Zuund Abnahme von Wärmestoff beruhte, unsere heutigen wissenschaftlichen Erklärungen völlig unverständlich waren. John Locke behauptet sogar, daß die Verfestigung von Wasser zu Eis prinzipiell unverständlich sei, und vergleicht dieses Problem ausdrücklich mit den Schwierigkeiten bei der Erklärung von Bewußtsein: »The cause of coherence of atoms in extended substances incomprehensible. […] the particles of water are also so perfectly loose one from another, that the least force sensibly separates them. Nay, if we consider their perpetual motion, we must allow them to have no cohesion one with another; and yet let but a sharp cold come, and they unite, they consolidate; these little atoms cohere, and are not, without great force, separable. He that could find the bonds that tie these heaps of loose little bodies together so firmly; he that could make known the cement that makes them stick so fast one to another, would discover a great and yet unknown secret: and yet when that was done, would he be far enough from making the extension of body (which is the cohesion of its solid parts) intelligible, till he could show wherein consisted the union, or consolidation of the parts of those bonds, or of that cement, or of the least particle of matter that exists. Whereby it appears that this primary and supposed obvious quality of body will be found, when examined, to be as incomprehensible as anything belonging to our minds.«59

Mittlerweile kennen wir die Auflösung dieses Rätsels, doch es ist wie gesagt fraglich, ob sie von Locke wirklich als Antwort auf seine Frage akzeptiert 59

J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Buch II, Kap. XXIII, §26.

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würde. Wenn uns diese und andere mikrophysikalische Erklärungen für makrophysikalische Phänomene heute nachvollziehbar erscheinen, dann dürfte dies nicht zuletzt daran liegen, daß sich unsere Begriffe für die entsprechenden makrophysikalischen Phänomene wie Wasser und Wärme unter dem Einfluß empirischer Erkenntnisse verändert haben. Erst wenn man Wasser nicht mehr als eine homogene Substanz auffaßt, sondern als eine Verbindung unterschiedlicher Elemente, deren Atome Moleküle bilden, zwischen denen abhängig von Temperatur bzw. kinetischer molekularer Energie unterschiedliche Formen der Bindung möglich sind, erst dann erscheinen die heutigen Erklärungen für die Bildung von Eis, nämlich die kreuzweise Verbindung von Wasserstoff- und Sauerstoff-Atomen unterschiedlicher Moleküle, plausibel. Ich sehe kein theoretisches Argument, das einen vergleichbaren Einfluß der empirischen Forschung auf unsere mentalistischen bzw. phänomenalen Begriffe und die diesbezüglichen Intuitionen ausschließen kann. Es ist vielmehr zu erwarten, daß die heute bereits vorhandenen, sehr rudimentären Intuitionen über die Ursachen und Wirkungen phänomenaler Zustände unter dem Einfluß empirischer Erkenntnisse konkretisiert und korrigiert werden. Somit bleibt es zumindest prinzipiell möglich, daß sich aus einer späteren Perspektive eben doch eine Verbindung herstellen läßt zwischen den – heute noch fehlenden – empirischen Erkenntnissen über die physischen Grundlagen von Schmerzempfindung einerseits und den – von den mittlerweile vorhandenen empirischen Erkenntnissen beeinflußten – phänomenalen Begriffen und den entsprechenden Intuitionen andererseits. Trotz der Modifikation der Argumentation, die die neuere Diskussion im Vergleich zu Du Bois-Reymond, Lange und Leibniz erbracht hat, läßt sich also ein vergleichbarer Einwand auch gegen die neueren Fassungen des Argumentes erheben. Wie gesagt: Wir können uns heute nicht vorstellen, wie eine solche Verbindung aussehen könnte und natürlich ist es unklar, ob es sie jemals geben wird. In jedem Falle ist kaum zu erwarten, daß sie einmal so eng sein wird, wie die Verbindung zwischen Wasser und H2O. So plausibel also die Argumente für eine prinzipielle Erklärungslücke auf den ersten Blick erscheinen mögen, einer näheren Betrachtung halten sie nicht stand. Von einer prinzipiellen Grenze des Erkennens wird man also an dieser Stelle nicht sprechen können, auch wenn vieles darauf hindeutet, daß unsere Erkenntnisse und Erklärungsmöglichkeiten hier niemals so weit reichen werden, wie es in anderen Gebieten der Fall ist. Dies bedeutet auch, daß die Schwierigkeiten bei der Erklärung phänomenaler Eigenschaften kein theoretisches Argument zugunsten des Dualismus begründen können. Genausowenig glaube ich allerdings umgekehrt, daß es wirklich schlagkräftige theoretische Argumente gegen den Dualismus gibt. In beiden Fällen, also bei der Frage der Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungen wie auch bei der Auseinandersetzung

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zwischen Monismus und Dualismus, wird es letztlich wohl entscheidend auf empirische Erkenntnisse ankommen. Aufgabe der Philosophie ist dabei nicht eine Vorwegnahme solcher Erkenntnisse, sondern eine möglichst genaue Fassung der einander gegenüberstehenden Positionen, aus der dann Kriterien für empirische Erkenntnisse abgeleitet werden können, die für oder gegen eine Position sprechen.

Fazit Fassen wir zusammen. Das Problem der Erklärbarkeit geistiger Eigenschaften beschäftigt schon antike Texte; besondere Bedeutung hat es im allgemeinen für Vertreter materialistischer Auffassungen, doch auch Dualisten berufen sich auf dieses Problem. Eine die heutige Diskussion in wesentlichen Zügen vorwegnehmende Diagnose des Problems findet sich bereits bei Lange und Du Bois-Reymond, dies betrifft insbesondere die Unterscheidung zwischen dem epistemischen Problem der Erklärung geistiger Eigenschaften und dem metaphysischen Problem der Identifikation geistiger und physischer Eigenschaften. Die neuere Diskussion, die, angestoßen durch einen Aufsatz Thomas Nagels, sich dieses Problems verstärkt seit der Mitte der 1970er Jahre annimmt, ist zum einen durch die Einführung des Begriffs der phänomenalen Eigenschaften zu einer genaueren Bestimmung der betroffenen bewußten Prozesse gelangt, zum zweiten hat sie die Ursachen genauer bestimmt, die einer reduktiven Erklärung entgegenstehen. Offenbar handelt es sich um ein begriffliches Problem, das sich aus den Problemen bei der funktionalen Analyse phänomenaler Begriffe ergibt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß die Annahme einer völligen Unabhängigkeit von phänomenalen und funktionalen Merkmalen zu unakzeptablen Konsequenzen führt. Gesteht man jedoch zu, daß phänomenale Begriffe zumindest rudimentäre funktionale Implikationen haben, dann entfällt der prinzipielle Unterschied zwischen diesen und anderen Begriffen. Wenn also andere wissenschaftliche und vorwissenschaftliche Begriffe sich unter dem Eindruck wissenschaftlicher Entwicklungen verändern, dann kann dies auch bei phänomenalen Begriffen geschehen. Damit würde der grundsätzliche Einwand gegen die Erklärbarkeit phänomenaler Eigenschaften entfallen, ja es erscheint zumindest prinzipiell möglich, die explanatorische Kluft zwischen der Perspektive der ersten Person und wissenschaftlichen Erkenntnissen über die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse zu verringern. Wie weit die Erfolge solcher Bemühungen reichen werden, ist allerdings ebenso unklar wie ihre physikalistischen Voraussetzungen: Auch wenn die bislang vorliegenden Erkenntnisse für den Physikalismus und gegen den Dualismus sprechen, so

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ist diese Frage Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Forschungsprozesses, dessen endgültiges Ergebnis nicht durch philosophische Überlegungen vorweggenommen werden kann.

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»Das Rätsel gibt es nicht.« Von Emil Du Bois-Reymond über Wittgenstein zum Wiener Kreis

I. Die Autorität der Naturwissenschaften 1. – Das 19. Jahrhundert wird vielfach als eine Epoche naiver Wissenschaftsund Fortschrittsgläubigkeit abgebucht. Dabei werden die heftigen Kontroversen übersehen, die in jenem Jahrhundert um die Naturwissenschaften, um die weltanschauliche Tragweite und ihre Rolle bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme geführt wurden. Der von Emil Du Bois-Reymond 1872 angestoßene Ignorabimus-Streit war eine dieser Kontroversen, wahrscheinlich die philosophisch folgenreichste. Gleich zu Beginn seiner Rede hatte Du Bois-Reymond hervorgehoben, daß die Naturwissenschaften unser Kausalitätsbedürfnis nicht zu befriedigen vermöchten und »kein Erkennen« seien. Und als ob das noch nicht deutlich genug gewesen wäre, fügte er hinzu, daß die klassische Mechanik – immerhin die erfolgreichste Theorie der bisherigen Wissenschaftsgeschichte – keine echte Naturerklärung bieten könne, sondern nur das »Surrogat einer Erklärung«1. Das war eine starke Behauptung, die man nur als einen Angriff auf die epistemische Autorität der Naturwissenschaften deuten konnte: als einen Angriff auf ihre Fähigkeit zur kognitiven Welterschließung und auf die aus dieser Fähigkeit resultierende Überlegenheit gegenüber allen anderen Formen des Erkennens und des Wissens. Die Sprengkraft dieser Behauptung wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die neuzeitliche Naturwissenschaft von Beginn an mit dem Versprechen nicht nur von immer mehr und immer genauerer Erkenntnis angetreten war, sondern vor allem auch mit dem Anspruch auf eine Erkenntnis der Wirklichkeit, wie sie tatsächlich ist.2 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien kein vernünftiger Zweifel daran möglich, daß dieses Versprechen eingehalten worden war. Die Naturwissenschaften hatten Fortschritte gemacht und nichts deutete darauf hin, daß es mit dem Wachstum

1

E. Du Bois-Reymond, Ueber die Grenzen des Naturerkennens, in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 1, Leipzig 1886, 111. 2 Vgl. z. B. B. Nelson, Die Anfänge der modernen Revolution in Wissenschaft und Philosophie. Fiktionalismus, Probabilismus, Fideismus und katholisches ›Prophetentum‹; sowie: ›Probabilisten‹, ›Anti-Probabilisten‹ und die Suche nach Gewißheit im 16. und 17. Jahrhundert, beide in: Ders., Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt / M. 1977, 95–139 und 165–171.

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des Erkennens zu Ende gehen könnte. Wenn Du Bois-Reymond mit seinem Ignorabimus etwas anderes behauptete, so mußte dies als ein Angriff auf das Erkenntnispotential der Naturwissenschaft und ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen Erkenntnisformen, insbesondere natürlich Philosophie und Theologie, wahrgenommen werden. Es half nur wenig, wenn einige Theoretiker einräumten, daß Du Bois-Reymond zwar die Grenzen eines bestimmten Typus von Wissenschaft (nämlich der klassischen Mechanik) identifiziert habe, aber bestritten, daß es sich dabei um die Grenzen der Wissenschaft überhaupt handele.3 Zwar lassen sich gute Gründe für diese Diagnose anführen, aus ihr ergeben sich aber zwei philosophisch weitreichende Schlußfolgerungen. (i) Der Fortschritt der Wissenschaft ist nicht linear; er besteht nicht in einer (quantitativen) Anhäufung von Einsichten, sondern ist durch (qualitative) Umbrüche gekennzeichnet, in denen sich der konzeptuelle Rahmen des Erkennens, die Erkenntnisweise prinzipiell verändert. Solche ›Paradigmenwechsel‹ verwandeln das Naturerkennen in eine Reihe separater Bilder, deren Abfolge nicht mehr als fortschreitende Enthüllung der einen Wahrheit gelesen werden kann. (ii) Aus eben diesem Grunde muß der Anspruch aufgegeben werden, die ›letzten‹ Bestandteile der Welt und ihre ›tiefsten‹ Strukturen identifizieren zu können. Der Fehler der mechanistischen Naturauffassung bestand darin, ein bestimmtes Bild, eine bestimmte Auffassungsweise der Natur mit der Natur selbst, mit ihrem innersten Wesen zu identifizieren. Wenn sich die Auffassungsweise grundlegend ändern kann, dann muß davon ausgegangen werden, daß wir es immer nur mit vorläufigen Beschreibungen, niemals aber mit endgültigen Erklärungen zu tun haben. Wenn selbst die klassische Mechanik uns nur ein mögliches, aber nicht definitives Bild der Natur liefert, dann muß das für alle anderen denkbaren naturwissenschaftlichen Theorien ebenso gelten. Damit waren die Fundamente erschüttert, auf denen auch die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften beruhte. Solange man davon ausgehen kann, daß uns die naturwissenschaftliche Erkenntnisweise einen privilegierten Zugang zur Welt eröffnet, liegt die Forderung nahe, daß die damit gewonnenen Erkenntnisse die Grundlage eines modernen Weltbildes abgeben können und müssen. Genau diese Überzeugung vertrat der naturalistische Szientismus des 19. Jahrhunderts4 in seinen beiden wichtigsten Varianten: zum einen der Mate-

3

Neben Wilhelm Preyer gehören vor allem Ernst Mach und Wilhelm Ostwald zu dieser Gruppe. Vgl. dazu K. Bayertz, Das ›leidige Ignorabimus‹. Ein Abgesang auf den naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, in: A. Arndt /W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 191 ff. 4 Natürlich nicht nur der des 19. Jahrhunderts: Die verschiedenen Versionen des naturalistischen Szientismus des 19., des 20. und des 21. Jahrhunderts unterscheiden

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rialismus à la Karl Vogt, Jakob Moleschott oder Ludwig Büchner; zum anderen die vielfältigen Bemühungen um ein darwinistisch fundiertes Weltbild, insbesondere in Gestalt des Monismus. Das Ziel dieses naturalistischen Szientismus besteht darin, die traditionellen Weltanschauungen durch eine Kritik ihrer theistischen, idealistischen, metaphysischen, spekulativen Basis zu überwinden und durch eine wissenschaftlich fundierte Weltanschauung zu ersetzen. Wenn es nun unüberschreitbare Grenzen des Naturerkennens gibt, dann werden diese Bemühungen in zweifacher Hinsicht fragwürdig. (i) Eine begrenzte Naturwissenschaft kann nicht mehr das Ganze der Realität erfassen und konfrontiert eine auf ihr aufbauende Weltanschauung mit einem Dilemma: Entweder werden die Lücken spekulativ gefüllt, dann gibt eine solche Weltanschauung ihren entscheidenden Vorzug gegenüber den traditionellen Weltbildern auf, die ja ebenfalls metaphysisch oder spekulativ begründet waren; oder sie läßt die Lücken offen, dann verliert sie ihren Anspruch auf Vollständigkeit. Genußvoll konnte Friedrich Albert Lange den Finger in die von Du Bois-Reymond geschlagene Wunde legen: »Wenn irgend etwas ›unbegreifbar‹ bleibt, so kann der Materialismus wohl noch eine vortreffliche Maxime der Naturforschung sein (und das ist er nach unserer Ansicht auch), aber er ist keine Philosophie mehr. Andre Philosopheme, wie namentlich die Skepsis, können das Unbegreifliche in sich aufnehmen oder wohl gar aus der Unbegreiflichkeit der Dinge ihr Princip machen; der Materialismus ist von Hause aus eine positive Philosophie, welche ihre Fundamentallehren mit dogmatischer Bestimmtheit vorträgt und zu deren wichtigsten Behauptungen es gehört, dass aus diesen Lehren die ganze Welt mit Leichtigkeit zu begreifen sei.«5 Ist dies schon schmerzlich genug, so kommt noch etwas anderes hinzu. (ii) Mit seiner zweiten Grenze bestreitet Du Bois-Reymond die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit des Empfindens und des Denkens, der gesamten subjektiven Welt also. Damit war einer »materialistischen« Weltdeutung aber gerade der Bereich entzogen, auf den es ihr besonders ankam. »Idealistischen« oder »dualistischen« Theorien war dann eine naturwissenschaftlich unantastbare Domäne zugesprochen, die ihnen ihr Überleben auf immer sicherte. Dies eingestehen zu müssen, wäre einer Kapitulation vor der zentralen Aufgabe gleichgekommen, in deren Erfüllung der naturalistische Szientismus seine Mission sah. Es wäre das Eingeständnis gewesen, daß die Naturwissenschaften gar keine Basis für eine Weltanschauung sind, denn gerade das ist es, was eine ›Weltanschauung‹ ausmachen sollte: daß sie den Zusammenhang von objektiver und subjektiver Welt darlegt. sich nicht grundsätzlich, sondern nur durch die naturwissenschaftlichen Theorien, auf die sie sich jeweils stützen. 5 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. 2, Iserlohn ²1875, 125 f.

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2. – Es ist angesichts solcher Implikationen leicht begreiflich, daß Du Bois-Reymonds Rede ein heftiges und höchst kontroverses Echo hervorrief.6 Auf der einen Seite des Spektrums nahmen Vertreter eines traditionalistischen Christentums oder eines philosophischen Vulgäridealismus das Ignorabimus als eine Bestätigung dessen, was sie schon immer behauptet hatten; Literaten oder feuilletonistische Zeitdiagnostiker begrüßten es als das Erwachen aus einem positivistisch-mechanistischen Alptraum, nach dem nun der wohlige Schlummer des fin de siècle beginnen konnte. Dem standen auf der anderen Seite Entsetzen und Empörung gegenüber. Für Ludwig Büchner oder Ernst Haeckel war das »Ignorabimus« ein Schlachtruf des Obskurantismus.7 Wer die epistemische und/oder die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften in Frage stellte, war für sie ein Feind jeglicher Aufklärung und jeglichen Fortschritts. – Es ging in diesem Streit also nicht nur um Subtilitäten der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, sondern um eine Schlüsselfrage der modernen Gesellschaft. Die erste Ausgangsthese des vorliegenden Beitrages lautet: Der über die philosophischen Fachfragen hinausweisende Gegenstand des Ignorabimus-Streites war die Frage, wem die Deutungsmacht für die Probleme der modernen Gesellschaft und für die adäquaten Lösungen dieser Probleme zukommen soll. Sollte diese Deutungsmacht den Naturwissenschaften zukommen, oder sollte sie bei der christlichen Theologie, der idealistischen Philosophie oder den Geisteswissenschaften verbleiben? Zu beachten ist dabei, daß der Ignorabimus-Streit zu einem Zeitpunkt geführt wurde, an dem sich die relativen Gewichte der streitenden Parteien bereits beträchtlich verschoben hatten. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet, erweist sich nahezu nichts an Du Bois-Reymonds Rede als neu und originell. Es ist daher bisweilen Verwunderung darüber geäußert worden, daß sie ein solches Aufsehen erregen konnte.8 Dabei wird übersehen, daß die Pro6

Vgl. K. Bayertz, Das ›leidige Ignorabimus‹, a. a. O. Aber nicht nur für Materialisten wie Büchner oder Monisten wie Haeckel. Auch Albert Schweitzer beklagt: »Seit Du Bois-Reymond’s (1818–1896) Vorträgen ›Über die Grenzen des Naturerkennens‹ (1872) fängt es für eine gewisse Naturwissenschaft fast an, zum guten Tone zu gehören, sich in Weltanschauungsfragen für unzuständig zu erklären. Nach und nach bildet sich etwas wie eine moderne Lehre von der zwiefachen Wahrheit aus.« (A. Schweitzer, Kultur und Ethik. Kulturphilosophie. Zweiter Teil, München 61947, 203). 8 Du Bois-Reymond gehörte selbst zu den Verwunderten, ebenso wie zu denen, die die inhaltliche Unoriginalität seiner Rede hervorhoben, als er im Jahre 1880 auf das Thema der Erkenntnisgrenzen zurückkam: »meine Aufstellungen enthielten Nichts, was bei einiger Belesenheit in älteren philosophischen Schriften nicht Jedem bekannt sein konnte, der sich darum kümmerte.« (E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträthsel, in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond, Bd. 1, Leipzig 1886, 382). 7

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vokation der Rede nicht in ihrem Inhalt als solchem lag; sie lag eher darin, daß er von diesem Redner vorgebracht worden war: von einem national wie international hoch angesehenen Repräsentanten der Naturwissenschaften! Inhaltlich ähnliche Einsprüche von außen – von theologischer oder philosophischer Seite – hatte es vorher schon viele gegeben; zu viele, als daß sie noch Eindruck zu machen in der Lage gewesen wären. Die »Ignorabimus«-These war etwas Neues und Unerwartetes, weil sie als ein Einspruch von innen wahrgenommen wurde.9 Meine zweite Ausgangsthese besagt daher, daß das überwältigende Echo auf die Rede als Ausdruck und Bekräftigung des enormen sozialen Prestigegewinns eben der Naturwissenschaften angesehen werden kann, deren Begrenztheit in ihr behauptet wurde. Das Wort eines führenden Naturwissenschaftlers hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts längst mehr Gewicht als das eines Philosophen, Theologen oder anderen »Geisteswissenschaftlers«10. Betrachtet man den Ignorabimus-Streit als eine Auseinandersetzung um diese Deutungsmacht, so wird nicht nur die Erbitterung begreiflich, mit der er geführt wurde, sondern auch die Tatsache, daß er kein rasches Ende fand. Die Frage nach der Autorität der (Natur-)Wissenschaften bezieht sich auf ein strukturelles Problem moderner Gesellschaften, für das es keine definitive theoretische Lösung gibt, sondern nur vorläufig und prekär bleibende praktische Lösungen. Und gerade weil es auf der Basis eines klugen Arguments nicht konsensuell beizulegen ist, muß es fortlaufend be- und verhandelt werden. In dieser fortlaufenden Be- und Verhandlung bleiben die Frontlinien zwischen den gegnerischen Parteien nicht starr, sondern verschieben sich bald in die eine, bald in die andere Richtung. Für die an Du Bois-Reymonds Rede anschließende Debatte während des 19. Jahrhunderts ist dies mehr oder weniger befriedigend gezeigt worden. Es ist die dritte Ausgangsthese des vorliegenden Beitrages, daß diese Debatte über die Jahrhundertwende hinaus fortgesetzt wurde und bis in die 1930er Jahre anhielt. Über mehr als sechs Jahrzehnte blieb das Ignorabimus, wenn schon nicht der, so doch ein Bezugs- und Kristallisationspunkt für philosophische Auseinandersetzungen über die Autorität der Naturwissenschaften. Ich werde dies in den beiden folgenden Abschnitten anhand der frühen Philosophie Ludwig Wittgensteins und der Philosophie 9

Vgl. den programmatischen Titel des 1873 erschienenen Aufsatzes von Eduard von Hartmann: Anfänge naturwissenschaftlicher Selbsterkenntnis, in: Gesammelte Studien und Aufsätze gemeinverständlichen Inhalts, Leipzig ³1876, 445–459. 10 Es ist wenig bekannt, daß sich der Terminus »Geisteswissenschaften« im Zusammenhang der »Ignorabimus«-Debatte durchsetzte. In dem Aufsatz von Eduard von Hartmann nimmt er bereits eine zentrale Rolle ein, und auch später bei Dilthey wird er im Zusammenhang des »Ignorabimus«-Themas entwickelt. Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. I, Leipzig / Berlin 1922, 4–14.

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des Wiener Kreises zu zeigen versuchen. Dabei werde ich zunächst auf die epistemische, dann auf die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften eingehen.

II. »Dem Denken eine Grenze ziehen« 3. – »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen. / Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). / Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.«11 Mit diesen programmatischen Formulierungen aus dem Vorwort seines Tractatus hebt Wittgenstein das Gewicht hervor, das dem Thema »Grenzen« in seinem Frühwerk zukommt; in der Feststellung des Denk- und Sagbaren sieht er »den ganzen Sinn des Buches«. Ein Hinweis auf die Rede Du Bois-Reymonds oder auf die anschließende Debatte findet sich im Tractatus nicht; und auch an anderen Stellen seines Werkes läßt sich ein solcher Bezug nicht nachweisen. Ein solcher Bezug ist in der Sekundärliteratur bisher (meines Wissens) nicht diskutiert worden; oft wird angenommen, daß wir es mit einer Rückbesinnung auf kantische Denkmotive zu tun haben: Nach Erik Stenius war Wittgenstein »in wesentlichen Punkten ein Kantianer«12. Natürlich kann und soll ein Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie Kants nicht ausgeschlossen werden. Es liegt aber wesentlich näher, die prominente Rolle, die das Thema »Grenzen« bei Wittgenstein spielt, mit der Ignorabimus-Debatte und ihren Ausläufern in Verbindung zu bringen. Für eine solche Verbindung gibt es mindestens zwei historisch-biographische Hinweise. Erstens wurde der Ignorabimus-Streit von Beginn an als eine öffentliche Auseinandersetzung geführt, die eine weitreichende Ausstrahlung in die gesamte Kultur hatte. Es kann daher als wahrscheinlich angesehen werden, daß Wittgenstein mit den Problemen und Positionen dieser Debatte grundsätzlich

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L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition, hrsg. von B. McGuinness / J. Schulte, Frankfurt / M. 1989, 2. – Zitate aus dem Tractatus werden im folgenden nicht als Fußnoten, sondern durch Hinzufügung der Dezimalnumerierung im unmittelbaren Anschluß an das Zitat nachgewiesen. 12 E. Stenius, Wittgensteins Traktat. Eine kritische Darlegung seiner Hauptgedanken, Frankfurt / M. 1969, 279. – D. Pears, Ludwig Wittgenstein, München 1971, 44 ff.

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vertraut war. Tatsächlich befand sich nach Angaben von Brian McGuinness ein Exemplar einer zweiten einschlägigen Rede Du Bois-Reymonds mit dem Titel Die sieben Welträtsel in der Bibliothek der Geschwister Rudolf (Rudi) und Margarete (Gretl) Wittgenstein. Es gehörte damals zur Allgemeinbildung, »philosophische oder für philosophisch geltende Schriften zu lesen. Rudis Exemplar der Welträtsel von Emil du Bois Reymond stand in Gretls Bücherschrank«13. Daß Wittgenstein die Ignorabimus-These zumindest aus zweiter Hand gekannt haben muß, ergibt sich weiterhin aus der Tatsache, daß Fritz Mauthner im ersten Band seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache expressis verbis auf Du Bois-Reymond eingeht. Es ist wenig bedeutsam für den vorliegenden Kontext, daß Mauthners Ausführungen zu Du Bois-Reymond zwar nicht in jeder Hinsicht ablehnend, aber durchaus ironisch und distanziert waren: »Was immer Du Bois-Reymond in seiner unbewußten Rhetorik und Scholastik über die Grenzen des Erkennens und über die Welträtsel geredet hat, das ließe sich in diesem einen Satze zusammenfassen, daß Physik nicht Physiologie, Physiologie nicht Psychologie werden kann. Der Grund liegt aber nicht in mystischen Dingen, sondern im Wesen der Sprache, welche ein Werkzeug ist zum Verstehen der Außenwelt und darum ungeeignet zu Urteilen über die Innenwelt.«14 Da Wittgenstein Mauthners Buch kannte und im Tractatus erwähnt, kann es als eine Quelle für Wittgensteins Bekanntschaft mit der »Ignorabimus«-These angesehen werden. Die zitierte Stelle aus dem Vorwort des Tractatus läßt aber auch eine philosophisch bedeutsame Transformation des Themas erkennen. (i) Zunächst spricht Wittgenstein nicht mehr von den Grenzen des (Natur-)Erkennens, sondern von den Grenzen des Denkens. Damit nimmt er eine Radikalisierung der Fragestellung vor, denn der Begriff des Denkens ist weiter als der des Erkennens: Vieles, das nicht erkannt werden kann, kann dennoch gedacht werden. (ii) Sodann korrigiert er seine eigene Rede von den »Grenzen des Denkens«, denn es gehe, genau gesagt, um die Grenzen des Ausdrucks der Gedanken: um die Grenzen der Sprache. Damit ist der Übergang von den klassischen ontologischen oder bewußtseinstheoretischen Paradigmen der Philosophie zu einer sprachtheoretischen Agenda angedeutet, für den Wittgensteins frühe Philosophie wegweisend gewesen ist. Die Sprache wird nicht mehr als ein bloßes Ausdrucksmittel von mentalen Prozessen (Gedanken) aufgefaßt, sondern als der einzige und ›letzte‹ Gegenstand der philosophischen Analyse; mentale Prozesse werden ebenso aus der Philosophie vertrieben wie metaphysische Objekte. An 13

B. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, übers. von J. Schulte, Frankfurt / M. 1988, 76. 14 F. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Leipzig ³1923, Bd. 1, 235; vgl. auch 291 ff.

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die Stelle der Frage nach den Grenzen des Denkens (das Erkennen eingeschlossen) tritt damit die Frage nach den Grenzen dessen, worüber wir uns sinnvoll verständigen können. Die Radikalisierung besteht darin, daß selbst die entschiedensten Skeptiker nicht bezweifelt haben, daß die Individuen sich (beispielsweise über die Unmöglichkeit der Erkenntnis) sinnvoll verständigen können. Nach Wittgenstein muß aber der Frage nach den Grenzen des Erkennens die Frage nach den Grenzen des sprachlichen Ausdrucks vorgeschaltet werden: Noch bevor wir entscheiden können, ob ein Satz wahr oder falsch ist, muß er als sinnvoll und verständlich identifiziert werden. Nun reicht es uns in der Regel aber nicht, daß ein Satz sinnvoll und verständlich ist; wir verlangen darüber hinaus auch, daß er wahr ist. Während der Sinn von Sätzen eine logische Eigenschaft ist, geht es bei ihrer Wahrheit um eine empirische Beziehung zur Welt.15 Hier liegt ein zweites zentrales Ziel des Tractatus, der zeigen will, daß und unter welchen Bedingungen eine adäquate Darstellung der Welt möglich ist. Wesentliche Voraussetzungen dafür waren nach Wittgenstein in den sprachtheoretischen Arbeiten Gottlob Freges und Bertrand Russells geschaffen worden; auf ihrer Basis entwickelt der Tractatus seine berühmte Abbildtheorie des Satzes: »Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. / Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.« (4.01) Obwohl der Tractatus kein im engeren Sinne wissenschaftstheoretisches Buch ist, sondern eine allgemeine Theorie der Repräsentation formuliert, kommt den Naturwissenschaften dennoch eine Schlüsselstellung in ihm zu, denn für Wittgenstein sind alle Sätze, die sowohl sinnvoll als auch wahr sind, Teil der Naturwissenschaften; umgekehrt bestehen die Naturwissenschaften nur aus Sätzen, die diese beiden Bedingungen erfüllen: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften).« (4.11) Kurz: Die Naturwissenschaften bilden eine Gesamtheit von Sätzen, die jeweils Bilder oder Modelle der Wirklichkeit sind.16 Aus dieser Theorie ergeben sich drei Konsequenzen hinsichtlich der epistemischen Autorität der Naturwissenschaften. Erstens unterstreicht sie die Möglichkeit (und Wirklichkeit) adäquater Abbildung der Welt durch die Naturwissenschaft, denn diese Naturwissenschaft besteht ausschließlich aus 15

Dies gilt natürlich nicht für logisch wahre Sätze. Bekanntlich folgt Wittgenstein hier dem Vorbild von Heinrich Hertz, dessen Prinzipien der Mechanik er während seines Studiums in Berlin gelesen hatte. Auch Hertz hatte im Hinblick auf die Mechanik von »Bildern« und »Modellen« gesprochen. In unserer Naturerkenntnis machen wir uns ihm zufolge »innere Scheinbilder oder Symbole der äusseren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände«. (H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik. In neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894, Nachdr. Darmstadt 1963, 1). 16

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wahren Sätzen. Mit dieser Bekräftigung ihrer epistemischen Autorität werden die Naturwissenschaften aber auf ihre instrumentelle Funktion reduziert: auf ihre Zuverlässigkeit und prognostische Leistungsfähigkeit. Im Hinblick auf ihr Potential, das ›Wesen‹ der Dinge zu erfassen, legt eine Bildtheorie demgegenüber eine eher agnostische Position nahe. Bezeichnend dafür ist Hertz’ Ausdruck »Scheinbilder«17. Wittgenstein schließt sich dieser Position an und stellt sich ausdrücklich in die Tradition derer, die (neben Hertz vor allem Ernst Mach) jeglichen Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften im Sinne einer kognitiven Erfassung des Wesens dessen, was ›da draußen‹ wirklich ist, zurückgewiesen haben und die Aufgabe der Naturwissenschaften auf eine möglichst exakte Beschreibung der Tatsachen festlegen wollten. »Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, daß die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.« (6.371) Diese Zurückweisung jeglichen Erklärungsanspruchs mag an Du Bois-Reymond erinnern, der in seiner Rede ja auch von dem bloßen »Surrogat einer Erklärung« gesprochen hatte. Die Ähnlichkeit der Formulierung darf aber nicht über eine Differenz hinwegtäuschen, die sich aus Wittgensteins sprachphilosophischer Wende ergibt. Während Du Bois-Reymond die unübersteigbaren Grenzen des Naturerkennens ontologisch (im Wesen der Wirklichkeit) lokalisiert hatte, liegen sie für Wittgenstein in der Sprache, d. h. in den Möglichkeiten sinnvollen Sprechens. Da sinnvolle Sätze für ihn dadurch charakterisiert sind, daß sie die Welt abbilden, kann es im Umkehrschluß keine sinnvollen Sätze über Sachverhalte geben, von denen wir uns kein Bild machen können, die also unerkennbar sind. Mit einem Wort: Die Möglichkeiten sinnvollen Sprechens sind so festgelegt, daß es kein sinnvolles Sprechen über Unerkennbares geben kann. Am Ende des Tractatus heißt es folgerichtig: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. / Das Rätsel gibt es nicht. / Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.« (6.5) Eine Pointe der Transformation ontologischer in sprachliche Überlegungen besteht offenbar darin, daß mit ihr alles

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Hertz läßt an der bloß instrumentellen Aufgabe der Naturwissenschaften keinen Zweifel: »Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewussten Naturerkenntnis, dass sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können […] – Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, dass sie irgend eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der That wissen wir auch nicht, und haben auch kein Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.« (Ebd., 1 f.).

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Unerkennbare zum Verschwinden gebracht wird, zumindest als Gegenstand rationaler Kommunikation. An die Stelle des Unerkennbaren tritt der »Unsinn«. Im Hinblick auf die epistemische Autorität der Naturwissenschaften hat Wittgensteins Tractatus somit eine wichtige zweite Konsequenz: Die Naturwissenschaften liefern nicht nur wahre Erkenntnis, sondern darüber hinaus (potentiell) alle mögliche wahre Erkenntnis. Es gibt ja keine unbeantwortbaren Fragen und keine unlösbaren Rätsel mehr; alle Probleme, die sinnvollerweise gestellt werden können, sind mit den Mitteln der Naturwissenschaften auch lösbar. Dies ergibt sich aus Wittgensteins Strategie, die Grenzen des Sagbaren nicht von einem ›jenseitigen‹ oder ›äußeren‹ Standpunkt aus zu ermitteln, sondern aus einer Festlegung dessen abzuleiten, was sagbar ist, von ›innen‹ also. Die Philosophie soll »das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. / Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. / Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.« (4.114 und 4.115) Auf diese Weise wollte Wittgenstein ein Paradox lösen, das im Verlauf des Ignorabimus-Streites mehrfach angesprochen worden war. Um eine bestimmte Linie als Grenze identifizieren zu können, muß man über sie bereits hinaus sein; dann aber kann von einer echten, unüberschreitbaren Grenze nicht mehr die Rede sein. Wittgenstein selbst hatte dieses Paradox in der bereits zitierten Passage des Vorworts so formuliert: »Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt).« Auf der Basis der sprachphilosophischen Reformulierung scheint sich das Paradox aber aufzulösen, denn es bleibt jenseits der Grenze eben nichts als »Unsinn«. Drittens schließlich ergibt sich aus Wittgensteins philosophischem Ansatz die Schlußfolgerung, daß die Naturwissenschaft nicht nur wahre und (potentiell) lückenlose Erkenntnis der Welt bereitstellt, sondern auch die einzige Erkenntnis der Welt. Denn aus der These, daß die Gesamtheit der sinnvollen und wahren Sätze mit der Gesamtheit der Naturwissenschaften zusammenfällt, folgt ja nicht nur, daß alle Erkenntnis naturwissenschaftliche Erkenntnis ist, sondern auch, daß es außer den Naturwissenschaften keine Erkenntnis der Welt geben kann. Alle anderen Formen geistiger Tätigkeit sind damit epistemisch depotenziert: Weder Philosophie, noch Theologie, noch Literatur oder »Geisteswissenschaften«, noch normative Disziplinen wie Ethik, Ästhetik oder Jurisprudenz können den Anspruch erheben, Abbilder der Welt zu liefern. (6.53) 4. – Als Wittgenstein im Jahre 1918 die Arbeit am Tractatus beendete (gedruckt wurde er drei Jahre später), erschien Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre. Die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens wird auch hier aufgewor-

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fen; und sie wird mit expliziter Bezugnahme auf das Ignorabimus, zugleich aber in kritischer Distanz und mit einer gegenläufigen Tendenz beantwortet: »Wir besitzen in dem System der quantitativen Begriffe ein wundersames und das einzige Mittel zur Erkenntnis der Welt, soweit sie uns nicht gegeben, nicht bekannt ist, und wir haben nun gar keine Veranlassung mehr zu glauben, daß dies Mittel versagen müßte gegenüber der gegebenen Welt der bekannten Qualitäten. Wir glauben vielmehr an seine universelle Anwendungsmöglichkeit, solange nicht streng erwiesen ist, daß wir uns damit im Irrtum befinden. Noch nie hat es in der Wissenschaft sich bewährt, solchen Glauben zu früh aufzugeben; nichts lähmt die Forschung so sehr wie die Verkündung eines Ignorabimus, und wir müssen uns davor hüten, es vorzeitig auszusprechen. / Wir sind also von der Überzeugung durchdrungen, daß alle Qualitäten des Universums, daß alles Sein überhaupt insofern von einer und derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden kann. In diesem Sinne bekennen wir uns zu einem Monismus. Es gibt nur eine Art des Wirklichen – das heißt für uns: wir brauchen im Prinzip nur ein System von Begriffen zur Erkenntnis aller Dinge des Universums, und es gibt nicht daneben noch eine oder mehrere Klassen von erfahrbaren Dingen, für die jenes System nicht paßte.«18 Diese Überlegungen erinnern in zwei Punkten an das, was naturalistische Szientisten wie Büchner oder Haeckel gegen das Ignorabimus eingewandt hatten. Zum einen werden die bisherigen Erfolge der Naturwissenschaften in die Zukunft extrapoliert und auf diese Weise zum Argument gegen jegliche Reden von Erkenntnisgrenzen. Es wäre kurzsichtig, fahrlässig und gefährlich, die Möglichkeit eines ›Versagens‹ der naturwissenschaftlichen Erkenntnismittel auch nur in Betracht zu ziehen, denn dies könnte die Forschung lähmen. Zum zweiten wird die von Du Bois-Reymond behauptete Erklärungslücke zwischen der quantitativ-mechanisch erfaßbaren Welt der Atome und dem qualitativ bestimmten Reich der psychischen Phänomene negiert. Schlick bestreitet einen solchen Dualismus und insistiert demgegenüber auf der durchgängigen Erklärbarkeit der gesamten Welt mit Hilfe eines einheitlichen Systems von Begriffen. Damit greift er ein zentrales Motiv des naturalistischen Szientismus auf und führt es fort; seine Erkenntnislehre »enthält in sich alle brauchbaren Momente, die etwa dem Materialismus des vorigen Jahrhunderts so großen Erfolg verschafften bei einem Publikum, das, von erkenntnistheoretischen Bedenken unbeschwert, seinen starken Drang nach Einheit und Geschlossenheit des Weltbildes auf diese Weise befriedigt fühlte. Ja, auch der in jüngst verflossener Zeit erneuerte Materialismus, der sich mit dem allgemeineren

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M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, 276 f.

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Namen des Monismus zu schmücken pflegte, fand aus den gleichen Gründen bei einem gleichen Publikum begeisterte Aufnahme. Was an diesen Weltanschauungen so großen Reiz ausübte, war tatsächlich ein berechtigter Zug, der auch in einer durch strengste Kritik geläuterten Weltansicht in vollem Umfange erhalten bleiben darf und muß: es ist das Vertrauen in die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit der quantitativen Denkmittel, deren sich die Physik zur Erkenntnis ihrer Welt bedient. Daß dieses Vertrauen in dem Satze ausgesprochen wurde: ›alles Sein ist Materie‹, war freilich eine naive, unzureichende, philosophisch verfehlte Formulierung, zumal ein völlig unkritischer Begriff von Materie zugrunde gelegt wurde, was denn auch zur Folge hatte, daß der Materialismus unfähig war, einfachste philosophische Probleme auch nur zu sehen, geschweige denn zu lösen. Er setzte übrigens eine Art von mechanistischer Welterklärung voraus, die inzwischen von der Naturwissenschaft selbst aufgegeben wurde.«19 So sehr Schlick hier an die naturalistisch-szientistischen Einheitsprogramme des 19. Jahrhunderts anknüpft, so sehr distanziert er sich von zentralen Elementen dieser Programme, insbesondere von ihren ontologischen Fundamenten. Der Materialismus und der Monismus waren davon ausgegangen, daß die prinzipielle Unbegrenztheit des Naturerkennens und seine Einheitlichkeit ihre Wurzeln in der einheitlichen Struktur der Materie haben. Für den »erkenntnistheoretisch abgeklärten« Monismus, wie ihn Schlick vertritt, ist dies nicht akzeptabel. An die Stelle der ontologischen tritt eine erkenntnistheoretische Begründung; der Monismus beruht jetzt auf dem »Vertrauen in die unbegrenzte Anwendungsmöglichkeit der quantitativen Denkmittel, deren sich die Physik zur Erkenntnis ihrer Welt bedient«. Schlick schließt sich damit der bereits Jahrzehnte zuvor von Ernst Mach und anderen vollzogenen Wende zu einem Denken an, das ontologische Behauptungen grundsätzlich ablehnt und stattdessen die Denkform bzw. die Denkmittel in den Mittelpunkt rückt. Diese »erkenntniskritische« Wende war eine Reaktion auf die Einsicht, daß naturwissenschaftliche Erkenntnis notwendig historisch ist, daß sie also kein feststehendes und unverrückbares Bild der Natur zu zeigen vermag, sondern stets nur eine Abfolge wechselnder Bilder der Natur. Wenn dies der Fall ist, dann tut die wissenschaftsorientierte Philosophie gut daran, den von den Materialisten und Monisten eingeschlagenen Weg zu meiden: Anstatt die historisch-vergängliche ›Substanz‹ der Naturwissenschaften, ihre Resultate in Gestalt der klassischen Mechanik oder der Theorie Darwins zu ›verallgemeinern‹, sollte sie die naturwissenschaftliche Einstellung gegenüber der Welt, ihre Methode und Denkmittel universalisieren. Auf diese Weise können zentrale Motive des materialistischmonistischen Programms beibehalten werden, ohne seine als diskreditiert gel19

Ebd., 277.

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tenden »metaphysischen« Elemente übernehmen zu müssen. An die Stelle des naturalistischen ist damit ein methodologischer Szientismus getreten. In seinem zehn Jahre nach Schlicks Erkenntnislehre veröffentlichten Logischen Aufbau der Welt folgt Rudolf Carnap konsequent dieser Linie. Ungeachtet aller Kritik an der »metaphysischen« Naivität des vormaligen Materialismus stellt er einige grundlegende Gemeinsamkeiten mit dem von ihm vertretenen Logischen Empirismus fest: »Da alle geistigen Gegenstände auf psychische und alle psychischen auf physische zurückführbar sind, so kann die Basis des Systems in das Gebiet der physischen Gegenstände gelegt werden. Man kann diese Systemform als ›materialistisch‹ bezeichnen, da der Aufbau eines Konstitutionssystems dieser Form besonders für den Standpunkt des Materialismus naheliegt. Es ist jedoch wichtig, die logisch-konstitutionale Seite einer Theorie deutlich zu trennen von ihrer metaphysischen Seite. Gegen den wissenschaftlichen Materialismus ist von dem logischen Gesichtspunkt der Konstitutionstheorie aus nichts einzuwenden. Seine Behauptung, daß alle psychischen (und sonstigen) Gegenstände auf physische zurückführbar seien, besteht zu Recht. Die darüber hinausgehende Behauptung des metaphysischen Materialismus, daß alle psychischen Vorgänge ihrem Wesen nach physische seien, daß nichts als Physisches existiere, wird von der Konstitutionstheorie und überhaupt von der (rationalen) Wissenschaft weder aufgestellt noch bestritten.«20 Es besteht also eine Kontinuität vom naturalistischen Szientismus des 19. Jahrhunderts über die Philosophie des Tractatus und des jungen Schlick bis hin zur Position des Wiener Kreises im Hinblick auf zwei eng miteinander verknüpfte Thesen: (i) Es gibt keine Fragen/Probleme, die der naturwissenschaftlichen Erkenntnis prinzipiell unzugänglich wären; daher gibt es keine Grenzen des Naturerkennens. (ii) Weil es solche Grenzen nicht gibt, kann es nur eine Wissenschaft geben; Philosophie, Theologie oder Geisteswissenschaft als Erkenntnis kann es nicht geben. Ich gehe hier vor allem auf die erste dieser beiden Thesen ein. Sie wird in den Schriften des Wiener Kreises immer wieder bekräftigt, und dabei wird mit einer bemerkenswerten Häufigkeit auf Du Bois-Reymond und seine Ignorabimus-These (die immerhin ein halbes Jahrhundert zurücklag) angespielt. Nach Philipp Franck beispielsweise geht das Wissenschaftsprogramm des Wiener Kreises von Physikern aus, die versuchen, »im ganzen Bereich ihrer Weltauffassung nur konkret Erlebtes als Element zuzulassen, wie es jeder Physiker am Experimentiertisch tut«21. Daß die Rede von Grenzen der Naturwissenschaft diesem methodologisch reformierten Szientismus ebenso suspekt und ge20

R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg ²1961, 80. Ph. Franck, Was bedeuten die gegenwärtigen physikalischen Theorien für die allgemeine Erkenntnislehre?, in: Erkenntnis 1 (1930 / 31), 133. 21

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fährlich vorkommen mußte, wie sie Jahrzehnte zuvor einem Ludwig Büchner oder Ernst Haeckel erschienen war, liegt auf der Hand. Du Bois-Reymonds Ignorabimus-Rede sei, so klagt Franck, »von den Verkleinerern der naturwissenschaftlichen Weltauffassung mit Triumph« zitiert worden und habe »in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Weltauffassung die Rolle eines Ganges der Naturforscher nach Canossa«22 gespielt. Und er hält demgegenüber fest: »Nirgends ist ein Punkt, wo der Physiker sagen muß: hier endet meine Aufgabe und von hier an hat der Philosoph zu tun.«23 Es geht also darum, die Wissenschaft vor ihren »Verkleinerern« in Schutz zu nehmen und die prinzipielle Unbegrenztheit sowie die universelle Zuständigkeit des von ihr repräsentierten Erkenntnistypus hervorzuheben. Doch damit war bloß ein Motiv für die Ablehnung des Ignorabimus angegeben, kein Argument. Ein solches Argument finden wir auch in Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre nicht.24 – Ein Argument lieferte aber die im Tractatus vollzogene sprachphilosophische Wende, nach der die Grenze nicht dem Erkennen, sondern dem sinnvollen Sprechen gezogen werden muß; und zwar derart, daß alles, was jenseits der Grenze liegt, nicht etwa unerkennbar, sondern »Unsinn« sei. Für die Vertreter des Wiener Kreises wurde Wittgensteins These vom »Unsinn« zum Schlüsselargument in der Frage nach den Grenzen der Wissenschaft. Wenn Carnap in den Schlußparagraphen des Logischen Aufbaus der Welt auf das Thema »Aufgabe und Grenzen der Wissenschaft« zu sprechen kommt, so insistiert er darauf, daß die Wissenschaft keine Grenzen hat: »es gibt keine Frage, deren Beantwortung für die Wissenschaft grundsätzlich unmöglich wäre.«25 Begründet wird diese Aussage mit einer geeigneten Bestimmung dessen, was »Beantwortbarkeit einer Frage« bedeutet, die darin besteht, daß (i) nur sinnvolle Fragen beantwortbar sind und (ii) sinnvoll nur solche Fragen sind, die im Rahmen einer empiristisch verstandenen Wissenschaft beantwortbar sind.26 Ähnlich argumentiert in seinen späteren Schriften auch Moritz Schlick. »Es ist eine der wichtigsten Behauptungen der von mir vertretenen Philosophie, daß es viele Fragen gibt, die empirisch nicht beantwortet werden können, aber keine einzige wirkliche Frage, zu der sich nicht logisch eine Lösung finden 22

Ebd., 128. Ebd., 150. 24 Man beachte die Formulierungen Schlicks: »Wir glauben vielmehr an seine [= des Systems der quantitativen Begriffe] universelle Anwendungsmöglichkeit […]« und »Wir sind also von der Überzeugung durchdrungen […]«. Vgl. Zitat zu Fußnote 19. Hervorhebungen von mir, K. B. 25 R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., 254. 26 Carnap verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Tractatus. Ebd., 255 und 261. 23

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ließe.« Das zentrale Argument für diese These beruht jetzt auf einer »Bedeutungsanalyse unserer Fragen«.27 Wenn wir eine Frage genau verstehen wollen, dann müssen wir nach Schlick herauszufinden versuchen, auf welchem Wege eine Antwort auf sie gegeben werden kann. Das ist eine Anwendung des empiristischen Sinnkriteriums auf Fragen. Dabei stellt sich nun heraus, daß es drei Sorten von Fragen gibt: (a) Solche, bei denen ein Lösungsweg klar angegeben und auch beschritten werden kann. (Beispiel: »Wie groß ist die Entfernung von Punkt A zu Punkt B?«) Diese Fragen sind sinnvoll und (empirisch) beantwortbar; sie sind unproblematisch. (b) Solche, bei denen ein Lösungsweg angegeben, aber aus kontingenten Gründen nicht beschritten werden kann. (Beispiel: »Was tat Platon an seinem fünfzigsten Geburtstag morgens um acht Uhr?«) Diese Fragen sind sinnvoll, aber unbeantwortbar, doch das muß uns nicht beunruhigen. (c) Solche, bei denen kein Lösungsweg angegeben werden kann. (Beispiel: »Was ist das Wesen der Zeit?«) Solche Fragen sind nicht nur nicht beantwortbar: Sie sind sinnlos. Es ist, wie Schlick sagt, logisch unmöglich, sie zu beantworten. Die Frage »kann überhaupt keine Frage sein: Sie ist nichts als eine sinnlose Wortreihe mit einem Fragezeichen dahinter.«28 Fassen wir zusammen: Im Hinblick auf die epistemische Autorität der Naturwissenschaften treten Wittgenstein und die Vertreter des Wiener Kreises als energische Verteidiger auf. Sie insistieren (i) auf der prinzipiellen Grenzenlosigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und (ii) auf ihrer Exklusivität: Es gibt nur einen Typus von (Natur-)Erkenntnis, und ihn finden wir in den (Natur-)Wissenschaften. Im Hinblick auf den »Ignorabimus«-Streit stellen sie sich daher – gegen Du Bois-Reymond und alle, die ihm beipflichten – auf die Seite des naturalistischen Szientismus, indem sie das erste Gebot unterstreichen, das dieser im Namen der Naturwissenschaften aufzurichten versuchte: Du sollst keine andere Erkenntnisweise neben mir haben!

III. »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.« 5. – Im Hinblick auf die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften trennen sich aber die Wege des methodologischen Szientismus von denen seines naturalistischen Vorläufers. Für die Vertreter des letzteren war die Ignorabimus-These vor allem deshalb eine unerträgliche Provokation, weil sie ihrem zentralen Anliegen die Grundlage entzog: eine dem modernen Zeitalter und 27

M. Schlick, Unanswerable Questions, in: The Philosopher 13 (1935), 98–104. Deutsche Übersetzung unter dem Titel Unbeantwortbare Fragen in: M. Schlick, Philosophische Logik, hrsg. von B. Philippi, Frankfurt / M. 1986, 262. 28 Ebd., 263.

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seinen Fortschritten angemessene Weltanschauung zu errichten, auf deren Basis alle theoretischen und praktischen Probleme rational lösbar werden sollten. »›Entwickelung‹ heisst von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können. […] Der lebhafte Kampf, welcher im letzten Decennium um die Entwickelungslehre entbrannt ist, muss früher oder später nothwendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Dieser glänzendste Sieg des erkennenden Verstandes über das blinde Vorurtheil, der höchste Triumph, den der menschliche Geist erringen konnte, wird sicherlich mehr als alles Andere nicht allein zur geistigen Befreiung, sondern auch zur sittlichen Vervollkommnung der Menschheit beitragen.«29 Die wissenschaftliche Lösbarkeit war also nicht auf die theoretischen Probleme beschränkt, sondern sollte auch für die der Wertung, Sinngebung und normativen Orientierung gelten. Haeckels Monismus umfaßte eine Anthropologie, eine Psychologie, eine Kosmologie und eine Theologie; im Rahmen der letzteren lieferte er – gleichsam nebenbei – eine »monistische Religion«, eine »monistische Sittenlehre« und gab im letzten Abschnitt eine »Lösung der Welträtsel«.30 Ähnlich verkündete sein Mitstreiter Wilhelm Ostwald, »die Wissenschaft, wie wir Monisten sie erfassen«, sei keine akademische Angelegenheit, sondern durchdringe »unser ganzes Leben, denn sie ist Lebenskunde als Grundlage der Lebenskunst«.31 Genau hier zieht Wittgenstein im Tractatus eine Trennungslinie, wie sie schärfer kaum sein könnte. »Wir fühlen daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.« (6.52) Das war eine klare Botschaft im Hinblick auf die weltanschauliche Autorität der Naturwissenschaften: Diese Autorität ist gleich null. Die Begründung dafür ergibt sich zwingend aus den metaphysischen und sprachphilosophischen Voraussetzungen des Tractatus. Da die naturwissenschaftlichen Sätze die Welt abbilden, wie sie ist, und die Welt aus der Gesamtheit der Tatsachen besteht, gehört alles Fragen nach Orientierung – aller »Sinn« oder »Wert« – nicht zu ihren Gegenständen. »Der Sinn der Welt muß außerhalb ihr liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles 29

E. Haeckel, Natürliche Schöpfungs-Geschichte, Bd. 1, Berlin 1868, XVIIf. – In seinem pünktlich zur Jahrhundertwende erschienenen Buch Die Welträthsel hat Haeckel diesen universellen Problemlösungsanspruch noch einmal bekräftigt: »Ja, Entwickelung ist auch hier das Zauberwort, welches alle ›Welträtsel‹ (– bis auf das eine letzte, das Substanzproblem! –) zur Lösung führt.« (E. Haeckel, Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Leipzig 131922, 413). 30 Vgl. E. Haeckel, Die Welträthsel, a. a. O. 31 W. Ostwald, Monistische Sonntagspredigten. Erste Reihe, Leipzig 1911, 5. – Ironischerweise erschien Wittgensteins Tractatus 1920 in den von Ostwald herausgegebenen Annalen der Naturphilosophie.

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wie es geschieht, es giebt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe so hätte er keinen Wert. / Wenn es einen Wert giebt der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig.« (6.41) Neu war diese Diagnose natürlich nicht. Wittgenstein sprach in ebenso apodiktischen wie nüchternen Worten aus, was andere vor ihm in literarischerem Jargon verkündet hatten;32 er stellt sich also in eine Tradition, für die der naturalistische Szientismus zu den Hauptgegnern gehörte. Vor dem Hintergrund der ambitionierten Sinn-, Moral- und Religionsstiftungsansprüche der Monisten kann kaum davon ausgegangen werden, daß ein Satz wie der folgende ins Blaue formuliert war: »Die Darwinsche Theorie hat mit der Philosophie nicht mehr zu schaffen, als irgend eine andere Hypothese der Naturwissenschaft.« (4.1122) – Mit einem Wort: Wittgenstein stellt die Frage nach den Grenzen des Sagbaren nicht bloß als ein erkenntnis- oder wissenschaftstheoretisches, sondern auch und vor allem als ein weltanschauliches Problem. Hier sieht er auch die alleinige Aufgabe der Philosophie. War ›Philosophie‹ für die Materialisten und Monisten zwar nicht als eigenständige Erkenntnisweise oder Disziplin neben den Naturwissenschaften akzeptabel, immerhin aber doch als eine Verallgemeinerung ihrer Resultate und als Kompilation einzelner Ergebnisse zu einem zusammenhängenden Weltbild, so will Wittgenstein nicht einmal davon etwas wissen. Aus seiner Bildtheorie der Repräsentation ergibt sich, daß Sätze, die nicht zu den Naturwissenschaften gehören, »sinnlos« sind; und dies muß natürlich auch für genuin philosophische Sätze gelten. »Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. / […] / Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind.« (4.003) Im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Sätzen haben philosophische Sätze keinen Realitätsbezug; streng genommen gibt es gar keine ›philosophischen‹ Sätze. Philosophie ist eine Tätigkeit, deren Resultat das Klarwerden von Sätzen ist. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, die Bedeutung von Aussagen über die Welt zu klären; und das schließt ein: die Grenzen dessen abzustecken, was die Naturwissenschaften sinnvoll sagen können. »Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. / Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. / Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. / Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt.« (4.113–4.115) Zu diesem »Unsagbaren« gehören alle Sätze welt32

Vgl. z. B. den von Walther Rathenau (unter dem Pseudonym W. Hartenau) veröffentlichten Aufsatz: Ignorabimus, in: Die Zukunft 22 (1898), 524–536.

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anschaulichen Inhalts: Sätze über die Existenz und die Eigenschaften Gottes, über den Sinn der Welt und des Lebens. Wittgenstein faßt alle diese Fragen samt den zugehörigen Antworten unter dem Terminus »Ethik« zusammen und hebt noch einmal hervor: »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. / Die Ethik ist transcendental. / (Ethik und Ästhetik sind Eins.)« (6.421) Der Tractatus ist lange Zeit als ein Werk der theoretischen Philosophie wahrgenommen und interpretiert worden, als ein epochaler Beitrag zur Sprachphilosophie, zur philosophischen Logik oder auch zur Metaphysik. Dies liegt zum einen daran, daß die Überlegungen des Tractatus zum größten Teil solchen sprachphilosophischen, logischen und metaphysischen Fragen gewidmet sind; und zum anderen daran, daß genau diese Teile des Tractatus für die zeitgenössischen Philosophen, insbesondere die des Wiener Kreises, anschlußfähig waren. Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß diese Teile nicht die eigentliche Botschaft des Tractatus enthalten. Diese Botschaft ist im Tractatus nur angedeutet, aber nicht ausgeführt; sie findet sich auf den letzten Seiten des Textes und wurden zunächst als einigermaßen verschroben angesehen. Wittgenstein selbst hat die Verborgenheit seiner zentralen Botschaft in einem Brief an Ludwig von Ficker angedeutet: »[…] der Sinn des Buches ist ein ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe, weil er Ihnen vielleicht ein Schlüssel sein wird: Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, NUR so zu begrenzen ist.«33 Wir stoßen hier auf dasselbe Motiv der Begrenzung von innen, das Wittgenstein auch in der definitiven Fassung des Vorwortes benutzt hatte – dort allerdings nicht in Bezug auf das Ethische, sondern auf das Sagbare. Die Briefstelle läßt nun erkennen, was sich hinter den Grenzen des Sagbaren seiner Auffassung nach befindet: nicht bloß eine Wüstenei des »Unsinns«, sondern auch »das Ethische« und »der Sinn«. Tatsächlich umfaßt der technische Begriff »Unsinn« bei Wittgenstein zwei verschiedene Komponenten. Zum einen das auch im Alltagsverständnis Unsinnige oder Sinnlose; zum anderen alles, was dem Leben Sinn gibt (sich aber nicht im Rahmen der Naturwissenschaften aussprechen läßt). David Pears spricht treffend davon, daß Wittgenstein »einen feinen Unterschied zwischen gutem und bösem Unsinn« machte.34 Beiden Arten von »Unsinn« ist gemeinsam, daß sie nicht »sagbar« sind; aber das heißt nicht, daß sie für Wittgenstein gleich ge33

Hier zitiert nach A. Janik / St. Toulmin, Wittgensteins Wien, übers. von R. Merkel, München / Wien 1984, 261. 34 D. Pears, Ludwig Wittgenstein, München 1971, 56.

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wesen wären. Die eine dieser beiden Arten umfaßt vielmehr genau das, worauf es im Leben ankommt: eben »das Ethische« und »den Sinn«. 6. – Der entscheidende Differenzpunkt zwischen Wittgenstein und den Vertretern des Wiener Kreises besteht darin, daß die letzteren den feinen Unterschied übersahen oder ignorierten, den Wittgenstein zwischen den beiden Arten von »Unsinn« machte. In diese Richtung weist eine viel zitierte Äußerung des mit Wittgenstein persönlich bekannten Paul Engelmann: »Eine ganze erste Schülergeneration konnte ihn für einen Positivisten halten, weil er mit diesen wirklich etwas enorm Wichtiges gemein hat: Er zieht die Grenzlinie zwischen dem, worüber man sprechen kann, und dem, worüber man schweigen muß, genauso wie sie. Der Unterschied ist nur, daß die nichts zu verschweigen haben. Der Positivismus meint, das, worüber man sprechen kann, sei das allein Wichtige im Leben. Das und nichts anderes ist seine Pointe. Während Wittgenstein davon durchdrungen ist, daß es für das Leben des Menschen allein auf das ankommt, worüber man, nach seiner Meinung, schweigen muß. Wenn er trotzdem seine ungeheure Mühe darauf richtet, dieses Unwichtige zu umgrenzen, so ist es ihm dabei nicht darum zu tun, die Küstenlinie dieser Insel, sondern diese Grenze des Ozeans so peinlich genau festzustellen.«35 Das ist eine notwendige Richtigstellung, ohne die das eigentliche Anliegen Wittgensteins nicht adäquat begriffen werden kann. Das »Unsagbare« ist für ihn nur in einer sprachphilosophisch-technischen Bedeutung des Wortes das »Sinnlose«. Der Fehler der logischen Empiristen bestand darin, dieses Wort in seiner landläufigen Bedeutung genommen – und damit mißverstanden – zu haben. Bisweilen klingt bei den logischen Empiristen eine Ahnung davon an. So vermochte etwa Carnap nicht einfach darüber hinwegzusehen, daß sich die Lebensprobleme durch eine Definition dessen, was eine Frage ist, zwar aus der Theorie, nicht aber aus dem Leben eliminieren lassen. »Die stolze These, daß für die Wissenschaft keine Frage grundsätzlich unlösbar sei, verträgt sich durchaus mit der demütigen Einsicht, daß wir auch mit der Beantwortung sämtlicher Fragen nicht etwa die vom Leben uns gestellte Aufgabe schon gelöst haben würden. […] Wenn auch die Bedeutung der Wissenschaft für das Leben in modernen Strömungen vielfach unterschätzt wird, so wollen wir uns dadurch doch nicht zu dem entgegengesetzten Fehler verleiten lassen. Vielmehr wollen wir gerade uns selbst, den in der Wissenschaft Arbeitenden gegenüber deutlich bekennen, daß das Leben zu seiner Bewältigung die Anspannung aller Kräfte der verschiedensten Art verlangt, und uns vor dem kurzsichtigen Glauben hüten, die Forderung des Lebens könne allein mit Hilfe der Kraft des begrifflichen Denkens erfüllt wer35

P. Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, hrsg. von B. F. McGuinness, Wien / München 1970, 77.

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den.«36 Wittgensteins Diktum, daß unsere »Lebensprobleme« noch gar nicht berührt sind, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, klingt hier offensichtlich an. Carnap fährt fort: Es »gibt zwar für uns kein ›Ignorabimus‹; trotzdem gibt es unter den Lebensrätseln vielleicht unlösbare. Das ist kein Widerspruch. ›Ignorabimus‹ würde bedeuten: es gibt Fragen, deren Antwort zu finden uns grundsätzlich versagt ist. Die ›Lebensrätsel‹ aber sind keine Fragen, sondern Situationen des praktischen Lebens. Das ›Rätsel des Todes‹ besteht in der Erschütterung durch den Tod eines Mitmenschen oder in der Angst vor dem eigenen Tod. Es hat nichts zu tun mit den Fragen, die sich über den Tod stellen lassen, wenn auch die Menschen, sich selbst mißverstehend, zuweilen das Rätsel durch Aussprechen solcher Fragen zu formulieren glauben. Diese Fragen können von der Biologie grundsätzlich (wenn auch im heutigen Stadium nur zum geringen Teil) beantwortet werden. Aber diese Antworten helfen dem erschütterten Menschen nicht, und darin zeigt sich jenes Selbstmißverstehen. Das Rätsel besteht vielmehr in der Aufgabe, mit der Lebenssituation ›fertig zu werden‹, die Erschütterung zu verwinden, vielleicht sogar für das weitere Leben fruchtbar zu machen.«37 Die Strategie dieser Passage besteht offenkundig darin, eine Dichotomie zwischen empirisch-wissenschaftlich beantwortbaren Fragen und praktischpsychologisch zu bewältigenden Problemen zu behaupten und die Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen beiden oder einer Transformation von Elementen der einen in Elemente der anderen Seite zu negieren. Ungeachtet der Versicherung, daß der Wissenschaft damit keine Allmacht zugeschrieben werden solle, geht der Tenor der logischen Empiristen insgesamt dahin, die empirisch nicht beantwortbaren Fragen für »sinnlose« zumindest insofern zu erklären, als eine rationale Verständigung über sie von vornherein unmöglich sei. Dies wird deutlich in dem von Carnap gemeinsam mit Hans Hahn und Otto Neurath veröffentlichten programmatischen Aufsatz Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis. Die philosophischen (und weltanschaulichen) Probleme lassen sich nach dieser Gemeinschaftsarbeit in zwei Gruppen aufgliedern: »Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden.«38 Dies ist ein deutlich anderer Akzent. In den Vordergrund rückt

36

R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., 260. Ebd., 260 f. 38 R. Carnap / H. Hahn / O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis (1929), in: O. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. von R. Hegselmann, Frankfurt / M. 1979, 87. 37

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nun die »Entlarvung« aller naturwissenschaftlich unlösbaren Probleme als »Scheinprobleme«. Was sich nicht in empirische Fragen transformieren läßt, bleibt nicht Teil dessen, was Wittgenstein »unsere Lebensprobleme« genannt hatte, sondern wird zum »Scheinproblem«. Der methodologische Szientismus des Wiener Kreises setzt in diesem Punkt die eliminativen Bestrebungen des naturalistischen Szientismus fort; seine Behauptung ist nicht nur, daß die Wissenschaft zu bestimmten Problemen nichts zu sagen hat, sondern daß diese eben deshalb auch gegenstands- oder bedeutungslos, wenn nicht gar irrational sind. Dieser antimetaphysische Eliminativismus war nicht Wittgensteins Anliegen gewesen. Gleichwohl darf die Tragweite dieser Differenz nicht überschätzt werden, denn in zwei wichtigen Punkten sind sich Wittgenstein und die Vertreter des Wiener Kreises einig. (i) Beide folgen einem szientistisch verengten Rationalitätsverständnis; Rationalität wird mit empirischer bzw. logischer Entscheidbarkeit gleichgesetzt. (ii) Diesen rationalen Aussagen (oder Problemen) stehen schroff solche gegenüber, die in Termini von Empirie und Logik nicht entscheidbar sind. Dies ist der weite Bereich des »Unsinns«, von dem es zwar unterschiedliche Arten geben mag, der aber gleichwohl in keinem Sinne intersubjektiv kommunizierbar oder rational diskutierbar ist. Wittgenstein selbst spricht vom »Mystischen«39 und hebt an anderer Stelle hervor, daß wir es hier mit einem radikal ›persönlichen‹ Bereich zu tun haben: »Ich habe in meinem Vortrag über Ethik zum Schluß in der ersten Person gesprochen: Ich glaube, daß das etwas ganz Wesentliches ist. Hier läßt sich nichts mehr konstatieren; ich kann nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen. / Für mich hat die Theorie keinen Wert. Eine Theorie gibt mir nichts.«40

39

»Der Trieb zum Mystischen kommt von der Unbefriedigtheit unserer Wünsche durch die Wissenschaft.« (L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, a. a. O., 177). 40 L. Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 3: Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, hrsg. von B. F. McGuinness, Frankfurt / M. 1984, 116 f.

IV. DAS IGNORABIMUS IN DER WISSENSCHAFTS- UND ERKENNTNISTHEORETISCHEN DISKUSSION

Hans Jörg Sandkühler

Repräsentation – Grenzen und Entgrenzung der Erkenntnis. Von der Abbildung der Realität zur Befreiung des Sehens phänomenaler Wirklichkeit I. Der Ausgangspunkt: Emil Du Bois-Reymond über die Grenzen der Erkenntnis Die Karriere des Topos Grenzen der Erkenntnis beginnt, so wird häufig gesagt, in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts mit E. Du Bois-Reymond. Dieser Befund ist nicht falsch; die Feststellung greift aber zu kurz. Die Rede Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) ist ein Glied in der langen Kette epistemologischer Reflexion in Philosophie und Wissenschaften. Sie beginnt mit Protagoras’ anthropos metron, und Bacon, Galilei sowie Hume sind Kettenglieder, ohne die es keine Entwicklung zu dem für die Philosophie und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert wegweisenden Theorem gegeben hätte, das Kant in seiner kritischen Philosophie begründet hat: Die Grenzen aller Erkenntnis sind dort erreicht, wo der Bereich der Erfahrung überschritten wird. In den epistemologischen Diskussionen von Naturwissenschaftlern – vor allem von Physiologen und Physikern – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kann die Problematisierung der Erkenntnisgrenzen nur deshalb als neu und provokant1 erscheinen, weil in einer kurzen Phase von etwa zwanzig Jahren 1

Der Topos Grenzen der Erkenntnis hat gegenwärtig eine bemerkenswerte Konjunktur. Im Internet sind hierzu 101.000 Einträge aufgelistet; zu Du Bois-Reymond finden sich 8.750 Einträge. Stichproben zeigen, daß der affirmative Bezug auf den Topos und auf dessen Protagonisten weit häufiger ist als kritische Zurückweisung. Es lassen sich im wesentlichen drei Typen des Bezugs unterscheiden: (i) Rationalitäts- und Wissenschaftskritik, verbunden mit Präferenzen für alternative Wissenskulturen, z. B. fernöstliche Traditionen und Weisheitslehren, (ii) Esoterik und (iii) neuerdings verstärkt Debatten im Kontext der Neurowissenschaften (nicht zuletzt zum Problem der Willensfreiheit), in denen entweder Naturalisten / Reduktionisten die Annahme von Grenzen

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spontane oder explizite Wissenschaftsphilosophien bzw. -ideologien sich vom traditionell philosophisch erörterten Erkenntnisproblem verabschieden zu können glauben und der Überzeugung verschreiben, die den Empirizismus, Induktivismus und Positivismus der 1820er bis 1830er Jahre kennzeichnet: Die von Wissenschaftlern und Experten beobachteten und quantifizierten ›Tatsachen‹ ermöglichen – zumindest in the long run – eine grenzenlose Kenntnis von allem, was existiert, und diese Kenntnis ermöglicht rationale Beherrschung der physischen und sozialen Realität. Du Bois-Reymonds Rede ist ein Indiz dafür, daß diese Überzeugung, die freilich den Habitus im Labor und im Technik-Diskurs wie auch in oppositionellen sozialen Bewegungen und in politischer Rhetorik weiterhin prägt, in Philosophie, Wissenschaften und Künsten zusammenbricht. Daß Naturwissenschaftler Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten einräumen, wird in der Abkehr von positivistischen Überzeugungen bald zur Selbstverständlichkeit. So schreibt z. B. Rudolph Virchow 1864 – unter Berufung auf Kant –, »daß es besonders dem Naturforscher unmöglich ist, über eine gewisse Grenze der Forschung hinauszukommen, und daß wir resignieren müssen darauf, ein System des Alls zu entwerfen […]«.2 In seiner Polemik gegen den zeitgenössischen Materialismus3 wertet er es als Indiz für den Realismus der der Naturalisierbarkeit verwerfen oder aber selbstkritische Bestandsaufnahmen unter Titeln wie Es gibt Grenzen der Erkenntnis – auch für die Hirnforschung (so in: Gehirn und Geist 6 / 2004) die Problematik wiederbeleben; es ist dabei auffällig, wie mangels wissenschafts- und philosophiehistorischer Kenntnis das Rad des Grenzen-Problems neu erfunden wird. 2 R. Virchow, Über den vermeintlichen Materialismus der heutigen Naturwissenschaften, in: Amtliche Berichte der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte (1864), 39. 3 Zur Geschichte des Materialismus in Deutschland vgl. z. B. F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, Dordrecht / Boston 1977; A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1988; A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000. Der physiologisch argumentierende Materialismus folgt dem traditionellen Sensualismus; Moleschott verteidigt den von Cabanis übernommenen Satz, »daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«, und schreibt: »Der Vergleich ist unangreifbar […]: Das Hirn ist zur Erzeugung der Gedanken ebenso unerläßlich wie die Leber zur Bereitung der Galle.« (J. Moleschott in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, 2 Bde., Berlin 1971, 284). Vor allem L. Büchner hat diese Denkweise in seinem Hauptwerk Kraft und Stoff. Empirisch naturwissenschaftliche Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung (1855) vertieft. Seine zentrale These, die er als Resultat »empirisch-philosophischer Naturbetrachtung« versteht, lautet, »daß das makroskopische wie das mikroskopische Dasein in allen Punkten seines Entstehens, Lebens und Vergehens nur mechanischen Gesetzen gehorcht«. Wegen der »Identität der Natur- und Vernunft-

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Naturwissenschaft, daß sie einräume, bezüglich der »Thaten des Bewußtseins« inkompetent zu sein.4 Andere haben ähnlich gedacht. Der junge Ernst Mach ist ein Beispiel; er argumentiert 1863 in seinen Vorträgen über Psychophysik: »Man kann nicht sagen, Gedanken seien physikalische Vorgänge im Gehirn. Wenn wir die physikalischen Vorgänge noch so genau untersuchen, so finden wir wohl Molekularbewegungen, aber keine Gedanken. Die elektrischen Ströme im Gehirn sind doch wesentlich etwas Anderes, als die Vorstellung der grünen Farbe, welche das untersuchte Subjekt vielleicht eben hat. Es sind eher unsere Vorstellungen, die wir das Hirn untersuchend finden und nicht jene des untersuchten Hirns.«5 Du Bois-Reymond6 radikalisiert 1872 die Problemstellung zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt mit seiner Ignorabimus-These, der er 1880 in der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften mit seinem Vortrag Die sieben Welträtsel eine Dubitemus-These folgen läßt: Jenseits der Erkenntnisgrenzen der Naturwissenschaften liegen vier von sieben »Welträtseln« – das Wesen von Materie und Kraft, der Ursprung der Bewegung, die Entstehung der einfachen Sinnesempfindungen und die Willensfreiheit.7 Während eine früher und auch heute gängige Redeweise das Problem dadurch entschärft, daß man aus einem ›Wir-wissen-es-noch-nicht‹ die Hoffnung auf Fortschritte der Erkenntnis ableitet, schließt die These ›Wir-werden-es-nicht-wissen‹ diese Hoffnung für alle Zukunft aus. Führt dies in Irrationalismus oder Spekulation statt Empirie? Du Bois-Reymond ist ein vehementer Kritiker der Hegelschen spekulativen Philosophie und dessen, was er die »Geisteskrankheit der falschen Naturphilosophie« nennt.8 Er ist ein Verfechter der Anwendung physikalischer Methoden in der Physiologie und des Konzepts der mathematischen Beschreibung empirischer Daten. Warum also gerade bei ihm ein Ignorabimus? 1872 schickt er gesetze«, aus der er die »Grundgleichheit des Erkenntnisvermögens im ganzen Weltall« (L. Büchner in: D. Wittich, Vogt, Moleschott, Büchner, a. a. O., 380 f.) folgert, fordert Büchner, »daß die Naturwissenschaften die Basis jeder auf Exaktheit Anspruch machenden Philosophie abgeben müssen«. (Ebd., 348 f.). Auf dieser Grundlage konzipiert er die Prinzipien der, wie er sagt, »materialistischen Weltanschauung«. (Ebd., 511 ff.). 4 Ebd., 41. 5 E. Mach, Vorträge über Psychophysik, Wien 1863, 39 (Hervorh. von mir). 6 Zur Biographie vgl. P. W. Ruff, Emil du Bois-Reymond, Leipzig 1981. Zur neueren Forschung vgl. z. B. G. Mann (Hg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jh.: E. du Bois-Reymond, Hildesheim 1981, F. Vidoni, Ignorabismus! E. du Bois-Reymond e il dibattito sui limiti della conoscenza scientifica nell’ Ottocento, Milano 1988 (dt. Übers. Frankfurt/M./ Bern / New York 1991). 7 E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hrsg. von S. Wollgast, Berlin 1974, 159–187. 8 Ebd., 212.

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seiner Rede in der Berliner Akademie der Wissenschaften Über Geschichte der Wissenschaft als Motto eine der Xenien Schillers voraus: »Naturforscher und Transzendentalphilosophen. Feindschaft sei zwischen euch, noch kommt das Bündnis zu frühe / Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.« Er gibt hier eine Skizze der Entwicklung der Naturwissenschaften und kommt zu folgender Bilanz: »Die Naturforschung […] ist an mehreren Punkten bis an die Grenze ihres Gebietes gelangt.« Von Interesse ist die Schlußfolgerung: »Die Physiologie der Sinne führt so unmittelbar an die Erkenntnistheorie«. Doch es scheine nur so, »als strecke die Naturwissenschaft der Spekulation zu erneutem Bunde eine Hand entgegen.« Tatsächlich könne die Naturforschung aus »der Methode der Philosophie« keinen Vorteil ziehen; »ihr Ziel und der Weg dazu«, die »mit zweifelloser Klarheit und Gewißheit vorgezeichnet« seien, ließen dies nicht zu. Denn das Ziel und der Weg sind: »Erkenntnis der Körperwelt und ihrer Veränderungen und mechanische Erklärung der letzteren, durch Beobachtung, Versuch und Rechnung«.9 Als Du Bois-Reymond anläßlich der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig 1872 seinen Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens hält, stellt er ihn unter das Motto: »In Nature’s infinite book of secrecy / A little I can read«. Was ist es, was man im Buch der Natur nicht lesen kann? Du Bois-Reymond definiert einleitend »Naturerkennen« als »Zurückführen der Veränderungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome«. Er wertet es als »psychologische Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich befriedigt fühlt.« Er nimmt Bezug auf Kant und geht zugleich über Kant hinaus: »Kants Behauptung […], ›daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei‹ – ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen, daß für Mathematik Mechanik der Atome gesetzt wird.«10 Die von der Philosophie unterstellte Existenz von Substanzen und Qualitäten wird physiologisch bestritten: »Daß es in Wirklichkeit keine Qualitäten gibt, folgt aus der Zergliederung unserer Sinneswahrnehmungen.«11 Die Zielrichtung der Argumentation wird in der These deutlich, »daß das Naturerkennen, welches vorher als unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig befriedigend bezeichnet wurde, in Wahrheit dies nicht tut und kein Erkennen ist. Die Vorstellung, wonach die Welt aus stets dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte alle Bewegung erzeugen, ist 9 10 11

Ebd., 51 f. Ebd., 55. Ebd., 58.

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gleichsam nur Surrogat einer Erklärung.« Philosophische Hypothesen können dieses Defizit freilich nicht beheben. Denn es hat seine Gründe »in unserem Unvermögen, etwas anderes, als mit den äußeren Sinnen entweder, oder mit dem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen«. Es trägt nichts zum »Verständnis der Dinge« bei, wenn wir andere Entitäten behaupten als jene, die quantifizierend festgestellt werden können.12 Es sind zwei Probleme, bei deren Lösung die Naturerkenntnis kapitulieren muß. Das erste betrifft das Wesen von Materie und Kraft. Was Materie sei, so hatte Helmholtz schon früher gesagt, könne man nicht wissen, weil der Begriff ›Materie‹ das Ergebnis einer Abstraktion und eines Urteils sei, d. h. weil man »überhaupt zu ihrer Kenntniß nur durch die Wirkungen« komme, »welche von ihnen aus auf unsere Sinnesorgane erfolgen, und weil […] wir aus diesen Wirkungen auf ein Wirkendes schließen«.13 Das zweite Problem betrifft die »Verbindung von Leib und Seele im Menschen«: »[E]s tritt nunmehr, an irgendeinem Punkt der Entdeckung des Lebens auf Erden, den wir nicht kennen […], etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas wiederum, gleich dem Wesen von Materie und Kraft, und gleich der ersten Bewegung, Unbegreifliches. Der […] Faden des Verständnisses zerreißt, und unser Naturerkennen gelangt an eine Kluft, über die kein Steg […] trägt: wir stehen an den Grenzen unseres Witzes. Dies neue Unbegreifliche ist das Bewußtsein.« Du Bois-Reymond will den Beweis dafür antreten, »daß nicht allein bei dem heutigen Stande unserer Kenntnis das Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist […], sondern daß es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nicht erklärbar sein wird.«14 Diese These gilt nicht etwa nur für entwickelte Formen des Bewußtseins, sondern, wie der Physiologe später erläutert, auch für »das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung«.15 Was darüber hinaus zu sagen bleibt, ist im Irrealis zu sagen: »Es wäre grenzenlos interessant, wenn wir […] mit geistigem Auge in uns hineinblickend die zu einem Rechenexempel gehörige Gehirnmechanik sich abspielen sähen wie die Mechanik einer Rechenmaschine«. Es wäre … Doch die neben »den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren […] für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen«. Zwischen den »bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn« und dem Satz »Ich fühle Schmerz«, der einen subjektiven phänomenalen Zustand ausdrückt, gibt es keine »denkbare Verbindung«. Selbst wenn wir eine uner12 13 14 15

Ebd., 60 f. H. von Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1, Leipzig 1882, 15 f. E. Du Bois-Reymond, Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, a. a. O., 65. Ebd., 170.

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meßlich große Kenntnis des Gehirns hätten, so würde sie uns doch nichts anderes enthüllen »als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen«.16 An anderer Stelle formuliert du Bois-Reymond lakonisch, die Menschen würden nie wissen, »wie die Materie denkt«.17 Hiermit sind die Grenzen der Erkenntnis der Natur abgesteckt: Für Du BoisReymond ist es die »mechanische Weltanschauung«18, die unsere Erkenntnis zwischen zwei Grenzen einschließt, Grenzen, »welche einerseits [durch] die Unfähigkeit, Materie und Kraft, andererseits [durch] das Unvermögen, geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen zu begreifen«, gesetzt sind. »Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturforscher Herr und Meister […]; über diese Grenzen hinaus kann er nicht, und wird er niemals können.«19 Das Fazit, kurz und bündig: »Ignorabimus«.20 Der Topos Grenzen der Erkenntnis zeigt mehr an als nur die Selbstkritik postpositivistischer Naturwissenschaften; er bezeichnet – weit allgemeiner – eine Krise in den Wissenschaften. Er verweist auf das epistemologische Vakuum, das entstanden war, weil die Philosophie ihre Funktion als Kritik der Möglichkeitsbedingungen und Grenzen von Erkenntnis nicht mehr erfüllen konnte bzw. in den Wissenschaften nicht mehr erfüllen durfte. Du Bois-Reymonds Ignorabimus und Dubitemus verweisen auf (i) systematische und (ii) auf historische wissenskulturelle Kontexte, in denen die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und die Möglichkeit einer Befreiung des Wissens aus den Grenzen des vermeintlich ›Gegebenen‹ thematisiert wird.

II. Kontexte I: Die Idee der Repräsentation, epistemologische Skepsis und die Krise der wissenschaftlichen Erkenntnis Kants Antwort auf die Frage nach Grenzen der Erkenntnis bedeutet einen epistemischen Schock für jene rationalistische Moderne, in der das Problem der Gewißheit von Erkennen und Wissen in der Überzeugung gelöst schien, das Erkennen referiere direkt auf Entitäten und gehorche keinen anderen Gesetzen als Gesetzen des Seins selbst. Mit Kant und nach Kant tritt Zweifel an die Stelle dieser Gewißheit; in einer Formulierung Ernst Cassirers: »[W]elche Gewißheit besteht dafür, daß das Symbol des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu

16 17 18 19 20

Ebd., 70 f. Ebd., 140. Ebd., 72. Ebd., 73. Ebd., 77.

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besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen?«21 Zeichen und Symbole referieren nicht direkt auf die Realität an sich; sie transformieren Realität in phänomenale Wirklichkeit und gehören zu dem Buch der Natur, das wir selbst schreiben. Mit dieser Einsicht steht ein Konzept zur Disposition, das der Sicherung von Erkenntnisgewißheit hatte dienen sollen – ein bestimmtes Konzept von Repräsentation22, das in eine Paradigmen- und Weltbildkrise geführt hatte, so z. B. des Positivismus in den Naturwissenschaften und des Realismus / Naturalismus in Malerei und Literatur. Die Problemgeschichte von ›Repräsentation‹ ist durch die Konkurrenz passivisch-rezeptorischer, abbildtheoretischer und aktivisch-konstruktionaler Theorieprogramme gekennzeichnet.23 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und bis heute24 ist die Debatte über das Repräsentationsproblem jedoch mit einem Diskurs über philosophische, wissenschaftliche und andere kulturelle Krisenphänomene verbunden. Im 19. Jahrhundert wird eine vielstimmige Krisendebatte über den Status von Repräsentationen geführt; an ihr beteiligt sind vor allem die neue Physiologie des Sehens (J. Müller, H. von Helmholtz u. a.), die positivismus-kritische philosophy of the inductive sciences (W. Whewell, J. S. Mill), Vertreter der Ignorabimus-These zu den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis wie Du Bois-Reymond und wieder auf Kant orientierende Philosophien, schließlich Künstler. Es wird ein bestimmtes Verständnis von Repräsentation entweder grundlegend modifiziert oder durch unterschiedliche, im wesentlichen konstruktionale semiotische Paradigmata ersetzt; als obsolet verworfen wird ein naives – sei es positivistisch, sei es naturalistisch motiviertes – Verständnis eines ontologischen und epistemologischen Abbild-Realismus, der ungeachtet bereits vorausgehender Kritik an dieser Realismus-Variante eine kausale Verursachung von Repräsentation aufgrund direkter Referenz auf externe ›Tatsachen‹ behauptet.25 21

E. Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von B. Recki, Hamburg 1998 ff., 6, 305 f. Cassirer hebt in Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) die hieraus folgende epistemische Relativität hevor und spitzt zu: »Die schärfere Fassung des Prinzips der Relativität der Erkenntnis stellt dieses Prinzip nicht als eine bloße Folge aus der allseitigen Wechselwirkung der Dinge hin, sondern erkennt in ihm eine vorausgehende Bedingung für den Begriff des Dinges selbst. Hierin erst besteht die allgemeinste und radikalste Bedeutung des Relativitätsgedankens«. (Ebd., 330). 22 Vgl. hierzu ausführlich S. Freudenberger / H. J. Sandkühler (Hg.), Kultur und Symbol: ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart 2003. 23 Vgl. E. Scheerer u. a., Repräsentation, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992. 24 Vgl. W. Nöth / C. Ljungberg (Hg.), The crisis of representation: semiotic foundations and manifestations in culture and the media, Berlin 2003. 25 Eine ausführliche Problematisierung der Abbildtheorie der Repräsentation und

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Bezogen auf die Empirie der Wissenschaften heißt dies: Der Inhalt von Beobachtungssätzen wird nicht vom Beobachteten selbst diktiert; es gibt vielmehr ein Möglichkeitsspektrum der Erfahrung und eine Freiheit der Zeichen-Zuweisung. Der »Begriff des Zeichens ermöglicht die Orientierung in der Welt als Orientierung an ›etwas‹, das zugleich frei läßt. […] Das Zeichen bleibt gegenüber jeder Interpretation ›stehen‹ für andere Interpretationen, durch andere Personen und durch ›dieselbe‹ Person zu einer anderen Zeit.«26 Als Fazit dieser Debatte27 ist festzuhalten: Es entsteht im 19. Jahrhundert in Philosophien, Wissenschaften und Künsten ein neuer Geist, der sein Veto gegen den Materialismus und den Positivismus einlegt; er ist auf das Subjekt zentriert, kritisch und methodisch skeptisch. Die Sprache, in der er sich ausdrückt, ist nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv: Wir schreiben der Natur die Gesetze unseres Geistes vor. Wenn in diesem Sinne auch die Erkenntnis der Natur nicht durch eine Objektivität ausgezeichnet werden kann, die durch die ›Gegebenheit‹ der Objekte und durch eine Korrespondenz von Theorie und Realität garantiert ist, dann ist der Weg frei zu einer umfassenden Änderung des Weltbildes: (i) Kognitive Prozesse und Aussagen über die Realität sind wesentlich davon abhängig, welche Auffassungen zur Beziehung zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit jeweils präferiert werden; diese Auffassungen sind ihrerseits Teile von allgemeineren Rahmen, d. h. von Visionen und Bildern der Welt und von uns selbst. (ii) Es gibt keine Garantie der Richtigkeit für unsere Erkenntnisse durch die Dinge selbst und deren Eigenschaften; wir erkennen unter bestimmten kulturellen epistemischen Bedingungen – z. B. Begriffs- und Beschreibungsschemata, symbolischen Formen. Deshalb gibt es Wahrheiten nur kontextuell und indexikalisch; jede Wahrheit ist mit dem Index des Schemas versehen, auf dessen Basis sie gesagt wird. (iii) Erkenntnisse sind nicht unabhängig von intentionalen propositionalen Einstellungen, d. h. von Überzeugungen, Meinungen und Wünschen; die Objektivität von Propositionen ist immer ›geladen‹ mit der Subjektivität der propositionalen Einstellungen. (iv) Weil Erkenntnisse den Status von Konstruktionen haben und kontextuell und perspektivisch sind, sind sie relativ; sie können nicht a priori gegen skeptische Einwände gesichert werden.

zugleich ein Plädoyer für eine kritische Repräsentationstheorie bietet E. Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff bereits 1910. 26 J. Simon, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Zeichen und Interpretation, Frankfurt / M. 1994, 12. 27 Vgl. ausführlich H. J. Sandkühler, Mundos posibles. El nacimiento de una nueva mentalidad cientifica, Madrid 1999 u. H. J. Sandkühler, Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart / Weimar 2002; ich habe in veränderter Form Passagen aus 2002 übernommen.

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III. Kontexte II: Veränderungen im Selbstverständnis der Wissenschaften Im Prozeß, den sie gegen die ›spekulative‹ Philosophie und gegen die ›philosophische‹ Erkenntniskritik führen, nehmen sich die ›positiven‹ Wissenschaften zunächst in geradezu euphorischer Stimmung vor, alle wissenschaftliche Erkenntnis auf die ›Empirie der Tatsachen‹ zu gründen.28 Als eine ›wissenschaftliche‹ Alternative etabliert sich der physikalistisch argumentierende (ältere) Positivismus.29 Über die äußere und innere Natur, die menschliche Erkenntnis, die Wissenschaften und die Entwicklung der Gesellschaft wird seit der Physique Sociale A. Comtes in einer anderen als ›kritischen‹ Sprache gesprochen. Doch die Kritik an der transzendentalen und spekulativen Philosophie war, wie sich bald zeigen sollte, voreilig. Das Problem, daß es keine Tatsachen ohne Theorien gibt, ja daß Tatsachen ›kleine Theorien‹ sind, hat die Kritiker eingeholt und schon bald eine Krise des Empirismus, Induktivismus und Positivismus ausgelöst. Eine erste wegweisende Folge ist, daß in der Form von Wissenschaftstheorien der induktiven Wissenschaften die Erkenntnistheorie rehabilitiert wird. Ein Symptom vergleichbaren Umdenkens ist die veränderte Beziehung zwischen Physiologie und Philosophie; an ihrem Beispiel und am späteren Neukantianismus ist zu sehen, warum in den Naturwissenschaften erneut ein Bedürfnis nach philosophischer Epistemologie entsteht. Dieser Prozeß verläuft freilich nicht widerspruchsfrei. Wie es zu Kants Kritik Gegentendenzen gegeben hat (so z. B. die naturalistische Idéologie A.-L.C. Destutt de Tracys als Ideenanalyse auf physiologischer Grundlage), gibt es auch Widerspruch selbst gegen einen moderaten, d. h. ontologisch neutralen Idealismus in der Theorie der Erkenntnis. In den ›positiven‹ Wissenschaften

28

Der erste der Vorträge vor der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, den Carl Gustav Carus 1822 unter dem Titel Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften gehalten hat, war für längere Zeit auch der letzte, der sich von der einsetzenden Polemik gegen die Naturphilosophie distanzierte: »Naturbetrachtung und spekulative Betrachtung können und dürfen […] nicht geschieden sein«. (C. G. Carus 1822 in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin / Heidelberg / New York 1987, 4.) 20 Jahre später erschienen derartige Anforderungen an das Studium der Natur angesichts der Fortschritte der empirischen Wissenschaften (noch) als sinnlos. Eine der heftigsten Attacken gegen die Naturphilosophie findet sich 1840 in J. von Liebigs Über das Studium der Naturwissenschaften, in der er den Zustand der Chemie in Preußen thematisiert. Dort heißt es: »Kann man solche Schwindler Naturforscher oder Philosophen nennen, die den ersten Grundsatz der Naturforschung und Philosophie, nur das Beweisbare und Bewiesene für wahr gelten zu lassen, auf die gewissenloseste Weise verletzen?« 29 Vgl. B. Plé, Positivismus, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, 2 Bde., Hamburg 1999.

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treten immer wieder Materialismus, Naturalismus und Reduktionismus als Gegenspieler auf, die weiterhin den alten Text deklamieren, alles lasse sich mit den Mitteln der Physik als Element der physischen Welt erklären, auch das Bewußtsein oder der Geist. Ihr Scheitern ist aber bereits um 1850 offensichtlich. In den Wissenschaften kommt es hinsichtlich des Status der ›natürlichen Welt‹ zu einem Erwachen, und es gelingt zunehmend, dem ›Heißhunger nach Objektivität‹ zu widerstehen,30 weil Perspektivität, d. h. der Subjekt-Standpunkt des Beobachters und Experimentators, zu einem Thema kritischer Selbstvergewisserung wird.31

1. Tatsachen, Theorien und Interpretation: Die Krise des Positivismus und die Philosophie der Wissenschaften Mit dem positivistischen Programm gerät auch das empirizistische Verständnis der Naturwissenschaften in dem Maße in eine Krise, wie das Verhältnis von Tatsachen und Theorien problematisch wird. Die Frage nach dem Status jener ›natürlichen‹ Entitäten, die von den Naturwissenschaften untersucht werden und deren ›Gegebenheit‹ unproblematisch zu sein schien, kann offensichtlich mit dem schlichten Hinweis auf ihre ›objektive‹ (d. h. bewußtseinsunabhängige) ›Gegebenheit‹ nicht mehr angemessen beantwortet werden. Man begreift, daß es keine Identität zwischen der ›Realität‹ und den Aussagen über das in der Erkenntnis erscheinende Wirkliche gibt. Die ontologische Frage nach dem Wirklichen wird reformuliert; sie lautet jetzt: Auf welche Weise sind Entitäten der phänomenalen Wirklichkeit in Realia transformiert, wenn Seiendes in Gestalt einer empirischen Theorie oder eines Gesetzes ausgesagt wird? In den Wissenschaften erinnert man sich an eine fast vergessene Theorie, die schon bald wieder zu faszinierender Aktualität kommt – an die kritische Philosophie Kants. Hatte nicht Kant zwischen empirischer und rationaler Erkenntnis – »cognitio ex datis« und »cognitio ex principiis« – unterschieden und damit eine Lö-

30

Vgl. T. Nagel, Die Grenzen der Objektivität. Philosophische Vorlesungen, übers. u. hrsg. von M. Gebauer, Stuttgart 1991, 124. 31 William James notiert hierzu: »Up to about 1850 almost everyone believed that sciences expressed truths that were exact copies of a definite code of non-human realities. But the enormously rapid multiplication of theories these latter days has well-nigh upset the notion of any one of them being a more literally objective kind of thing than another. There are so many geometries, so many logics, so many physical and chemical hypotheses, so many classifications, each one of them good for so much and yet not good for everything that the notion that even the truest formula may be a human device and not a literal transcript has dawned upon us.« (W. James, The Meaning of Truth, in: The Works of William James, Vol. II, Cambridge /Ma. / London 1975, 40).

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sung auch des epistemologischen Problems der Beziehung zwischen Tatsachen und Theorien sowie zwischen Induktion und Deduktion angeboten? Um 1840 steht eine Rehabilitierung philosophischer Kritik in den Wissenschaften auf der Tagesordnung. Vor allem von der Philosophie der induktiven Wissenschaften um 1840 ist zu lernen, warum und wie es zu einer veränderten Einstellung kommt. Wenn allgemeine Ideen wie die der Kausalität und Gesetze nicht aus der Erfahrung des Singulären abgeleitet werden können, dann ist die Idee der Konstruktion des Allgemeinen in der Wissenschaft durch Abstraktion und Synthesis, also durch kategoriale Leistungen des Bewußtseins, eine ebenso unausweichliche Schlußfolgerung wie jene, daß Aufklärung des Bewußtseins über sich selbst nicht auf naturalistischem Wege zu leisten ist. Wohin der Weg führt, kann am Beipiel William Whewells und John Stuart Mills gezeigt werden. Die Erinnerung an Kant und die Tradition seit Bacon ist besonders offensichtlich bei Willliam Whewell (1794–1864), dem prominenten Vertreter der ›Cambridge Inductivists‹, der sich als physikalischer Astronom, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker einen Namen gemacht hat.32 Die fundamentale These seiner Philosophie der Naturwissenschaften, die er aus der Geschichte der empirischen Wissenschaften ableitet, lautet: Die Wissenschaft entwickelt sich von induktiv gestützten Generalisierungen zu hypothetischdeduktiven Theorien. In seiner History of the Inductive Sciences (1837, 31857) sind ›induktive Wissenschaften‹ so charakterisiert: »by Induction is to be understood that process of collecting general truths from the examination of particular facts, by which such sciences have been formed«. 1840 erscheint The Philosophy of the Inductive Sciences (21847). In beiden Werken steht die Problematik von »Facts and Ideas« im Zentrum des Interesses. Whewell verteidigt das Prinzip der Induktion, doch er räumt explizit ein, daß für die Bildung der Wissenschaft zwei Elemente erforderlich sind – eben »Facts and Ideas«. Wissenschaft gründet in Beobachtung; zur Beobachtung gehört aber intrinsisch die Leistung des Denkens (»inward effort of Thought«); »Sense and reason« bilden eine unauflösbare Einheit; keines dieser beiden Elemente kann allein substanzielles allgemeines Wissen begründen. »The impressions of sense, unconnected by some rational and speculative principle, can only end in a practical acquaintance with individual objects; the operations of the rational faculties, on the other hand, if allowed to go on without a constant reference to external things, can lead only to empty abstractions and barren ingenuity.« Man kann sich in der Wissenschaft nicht mit den Tatsachen der Beobachtung in ihrer bloßen Faktizität begnügen; 32

Vgl. R. R. Yeo, Defining Science. William Whewell, Natural Knowledge, and Public Debate in Early Victorian Britain, Cambridge 1993.

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sie sind vielmehr eine Herausforderung für die Reflexion – »facts to reason upon«.33 Whewell widmet sich im 1. Buch von The Philosophy of the Inductive Sciences unter den Titeln Theories and Facts und Ideas and Sensations einer Analyse der »fundamentalen Antithesis der Philosophie« zwischen »Gedanken und Dingen«. Er schreibt: »that in all human Knowledge both Thoughts and Things are concerned. In every part of my knowledge there must be some things about which I know, and an internal act of me who knows. […] Without Thoughts, there could be no connexion; without Things, there could be no reality.«34 Die Akte des Denkens (»acts of thought«) und »Ideen« – wie die der Kausalität – mischen sich direkt in unsere Wahrnehmungen externer Entitäten ein; wie bei Kant kommen sie nicht etwa erst in einem zweiten Akt des Erkennens auf die Bühne, sondern sensorische Wahrnehmung und begriffliche Verarbeitung sind simultan. Bei der Abwägung der Bedeutung des Denkens für die Wahrnehmung kommt Whewell zu dem Ergebnis, daß die Akte des Denkens fünfzig Prozent des Erkennens ausmachen: »they half create«.35 So ist innerhalb einer Konzeption empirischen wissenschaftlichen Wissens eine Wende zu dem für die ›Logik der Induktion‹ charakteristischen Paradigma vorbereitet, zum Paradigma der Interpretation: »Nature is the Book, and Man is the Interpreter«. Die Naturwissenschaften sind nicht etwa nur im übertragenen Sinne, sondern tatsächlich Interpretationen der Natur.36 Das Ziel, eine ›Logik‹ der naturwissenschaftlichen Forschung – eine Logik der Induktion – zu etablieren, verfolgt auch J. S. Mill (1806–1873). Seine Theorie führt zu der These: Alles, was wir an der Realität als wirklich erfassen, ist relativ zu Leistungen des Bewußtseins. Die Methodologie der experimentellen Forschung ist der Gegenstand von Mills A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, in dem es um die Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation geht.37 Auch Mill konzentriert sich auf das Problem der Induktion; er definiert sie »als die Geistesverrichtung […], durch die man allgemeine Wahrheiten entdeckt und beweist«38: »[D]ie Induktion ist das Verfahren, ver-

33

W. Whewell, History of the Inductive Sciences (1837, 31857). Part one, in: The Historical and Philosophical Works of William Whewell, coll. and ed. by G. Buchdahl and L. L. Laudan, Vol. II, London 1967, 5 f. 34 W. Whewell, The Philosophy of the Inductive Sciences (1840, 21847). Part one, in: The Historical and Philosophical Works of William Whewell, hrsg. von G. Buchdahl / L. L. Laudan, Vol. V, London 1967, 17 f. 35 Ebd., 25 f. 36 Ebd., 37 f. 37 Vgl. Buch III des System of Logic. 38 J. S. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung (1843), unter Mit-

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möge dessen wir schließen, daß, was von gewissen Individuen einer Klasse wahr ist, auch von der ganzen Klasse wahr ist, oder daß das, was zu gewissen Zeiten wahr ist, unter gleichen Umständen zu allen Zeiten wahr sein wird.«39 Das, was Whewell das Zusammenknüpfen (colligation) der Tatsachen40 und Bacon und Locke ›abstraction‹ genannt haben, will Mill »streng logisch als Beschreibung« konzipieren. Wie aber – so sein vorrangiges Problem – ist »Verallgemeinerung aus der Erfahrung« möglich?41 Mill beantwortet diese für die Wissenschaften entscheidende Frage vor allem im 4. Buch seiner Logik unter dem Titel Von den Hilfsverrichtungen der Induktion. Er schreibt der Beobachtung den ersten Rang unter den ›Hilfsverrichtungen‹ zu. Doch auch er kommt nicht umhin, eine ›zweite Säule‹ des Wissens zu berücksichtigen. Dem »Anscheine nach« sei zwar bei jeder Induktion die Bedingung erfüllt, »daß das, was man für beobachtet hält, auch wirklich beobachtet worden, daß es eine Beobachtung und nicht ein Schluß sei«. Dies trifft aber nur scheinbar zu. Denn was man für ein Ergebnis der Beobachtung hält, ist etwas ganz anderes – eine brisante Mischung aus zehn Prozent Beobachtung und neunzig Prozent Folgerungen42: »Wir können nicht eine Tatsache beschreiben, ohne mehr als die Tatsache vorauszusetzen. Die Wahrnehmung ist nur die Wahrnehmung eines einzelnen Dinges; aber sie beschreiben, heißt einen Zusammenhang zwischen ihr und jedem anderen Dinge behaupten, das irgend einer der gebrauchten Ausdrücke entweder bezeichnet oder mitbezeichnet.«43 Die Wissenschaftslogik muß deshalb um eine Theorie präempirischer Voraussetzungen ergänzt werden, unter denen Mill der Sprache große Bedeutung beimißt44: Alle Beobachtungen und Abstraktionen sind sprachlich verfaßt; eine wichtige Funktion hat vor allem das »naming«.45 Mit den Namen erhalten die Dinge ihre Bedeutungen. Mill teilt die Schlußfolgerung, zu der auch Whewell gekommen ist: Es gibt keine wissenschaftliche Erkenntnis, die nicht »aus der Auslegung von Induktionen« entspringt.46 Die ›positiven Wissenschaften‹ dieser Zeit sind den Wegweisern der Philosophie der induktiven Wissenschaften zunächst nur zögerlich gefolgt. Im Labor spricht man zu Zeiten Whewells und Mills und noch bis etwa 1860 die Sprache

wirkung d. Verf. übers. und mit Anm. vers. von Th. Gomperz, in: J. St. Mill, Gesammelte Werke, Neudruckausgabe der letzten deutschen Auflagen in 12 Bänden, Bde. 2 und 4, Aalen 1968, Bd. 2, 332. 39 Ebd., 337. 40 Ebd., 344. 41 Ebd., 358 f. 42 Ebd., Bd. 4, 2. 43 Ebd., 5. 44 Zur Notwendigkeit einer Analyse der Sprache vgl. ebd., 17 ff. 45 Ebd., 26 ff. 46 Ebd., Bd. 2, 331 (Hervorh. von mir).

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des Positivismus, gerade so, als habe man ›Befehlen der Dinge‹ zu gehorchen. Die Selbstgewißheit der Positivisten verflüchtigt sich erst in der Krise der Naturwissenschaften, die Theoretiker wie J. Müller, H. von Helmholtz oder E. Du Bois-Reymond auf den Plan ruft.

2. Physiologie, Philosophie und Semiotik47 Die Ablösung der sich als ›positiv‹ verstehenden Wissenschaften von der Philosophie hat im 19. Jahrhundert zunächst den Autonomieanspruch einer immer größer werdenden scientific community erfüllt, die der philosophischen Spekulation eine Absage erteilt und sich der Empirie zuwendet; zugleich verliert die Philosophie ihre Nähe zu den Wissenschaften. Diese Feststellungen sind zutreffend, enthalten aber nur die halbe Wahrheit. Denn nach einer Phase beiderseitiger Entfremdung sind bald neue Formen und Prozesse von Interaktionen zwischen der Philosophie und den Wissenschaften zu beobachten, vor allem mit den Naturwissenschaften. Zunächst sind es diese Wissenschaften, die erneut die Nähe zur Philosophie suchen, bevor man sich auch in der Philosophie auf die Notwendigkeit einer engen Beziehung zu den Wissenschaften besinnt.48 Diese Beziehung wird aus zwei Gründen wieder intensiviert: (i) Ideen der Philosophie des Deutschen Idealismus wirken, mehr oder weniger untergründig, im Denken von Naturwissenschaftlern fort; (ii) auch aus internen Gründen der Wissenschaftsentwicklung entsteht ein erneutes Bedürfnis nach philosophischer Theorie. Es besteht ein Bedarf an Prinzipien, wie sie – im Gegensatz zum neueren Materialismus und Naturalismus – in der Erkenntnistheorie und in der Logik der Wissenschaften gefunden werden können. Ein besonders signifikantes Beispiel fruchtbarer Wechselwirkung ist die Physiologie der Sinneswahrnehmungen. Die Physiologie, zunächst eine anatomische Wissenschaft, befindet sich in einem Prozeß des Übergangs vom traditionellen spekulativen Prinzip der ›Lebenskraft‹, die sich in den Erscheinungen des Lebens der Organismen äußern soll, zu einem physikalistischen Paradigma der Deutung von Lebensvorgängen. Der Wegbereiter der modernen Physiologie in Deutschland ist Johannes 47

Vgl. M. Ritzer, Physiologische Anthropologien. Zur Relation von Philosophie und Naturwissenschaften um 1850, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus, a. a. O. 48 Vgl. E. Ströker, Natur und ihre Wissenschaft in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, in: L. Schäfer / E. Ströker (Hg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Freiburg / München 1995; E. Ströker, Philosophie und Wissenschaften. Zur Frage ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Philosophie und Wissenschaften. Formen und Prozesse ihrer Interaktion, Frankfurt/M. / Berlin / Bern 1997.

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Müller. Noch in seinem Handbuch der Physiologie des Menschen (1833/38), das den Stand der Forschung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts repräsentiert, spielt die ›Lebenskraft‹ eine wichtige Rolle. Seine Nachfolger plädieren jedoch bald für eine naturwissenschaftliche Kritik des Vitalismus; sie halten zunächst eine Reduktion aller Funktionen des Lebens auf Molekularbewegungen für möglich. Dies provoziert jedoch wiederum eine Reaktion, die sich im Topos Grenzen der Erkenntnis in den Naturwissenschaften ausdrückt. Repräsentativ für diesen Prozeß sind die Physiologen H. von Helmholtz und E. Du Bois-Reymond. Beide sind Schüler Müllers.49 Im Zentrum von Müllers Interesse stand die Physiologie der Sinne. Während man sich bisher den physikalischen Bedingungen der Wahrnehmung gewidmet und für das Sehen besondere Aufmerksamkeit auf die Gesetze der Optik gerichtet hatte, bemühte sich Müller um eine theoretisch gestützte Physiologie auf »philosophische[r] Grundlage«50, die »philosophisch und empirisch zugleich« sein sollte.51 Er konzentrierte sich auf die »Sinnlichkeit des Sehorgans«52 und auf das Sehen als Subjekt-Aktivität.53 Diese verweise auf eine tiefere Dimension, als sie von der bisherigen Auffassung der passiven Beziehung zwischen dem optischen Reiz der Wahrnehmung, der Retina als Medium und dem Bild als Produkt erfaßt worden war – auf die transformierende Aktivität und Kreativität des Bewußtseins, auf den Geist. Müller ist ein kritischer Realist: Es gibt die ›äußeren Dinge‹, doch sie sind nicht Ursache, sondern Anlaß einer Wahrnehmung, durch die wir nicht primär auf materielle Entitäten verwiesen sind, sondern auf unsere Leiblichkeit und durch die Erfahrung der Leiblichkeit auf unser Selbstbewußtsein. Mit Bezug 49

Vgl. J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, Leipzig 1826; K. Post, Johannes Müllers philosophische Anschauungen (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 21), Halle 1905; M. Hagner / B. WahrigSchmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, Berlin 1992. 50 J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, a. a. O., xviii. 51 Ebd., xviii. Vgl. M. Hagner / B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Johannes Müller und die Philosophie, a. a. O. 52 J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, a. a. O., xvii. 53 Eine auffällige Parallele gibt es in der Philosophie dieser Jahrzehnte. L. Feuerbach zeigt sich in den 1840er Jahren besonders intensiv am Problem des Empirischen interessiert. In seinen Reflexionen zu einer »Empirie, welche auf Kritik beruht«, fordert er anzuerkennen, »daß auch das Sehen Denken ist«. (L. Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Bd. 9, Kleinere Schriften II (1839–1846), Berlin 31990, 85, 145). In seiner Theorie zeigt sich die neue Nähe zwischen Philosophie und Wissenschaft. Er kennt die Physiologie Müllers, den er als »modernen physiologischen Idealisten« bezeichnet. (L. Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Bd. 11, Kleinere Schriften IV (1851–1866), Berlin 21982, 179 f.).

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auf das Sehen schreibt er: »Wir mögen uns die Mahnung gelten lassen, daß Licht, Dunkel, Farbe, Ton, Wärme, Kälte, und die verschiedenen Gerüche und Geschmäcke, mit einem Worte, was Alles uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheiten der äußeren Dinge, sondern die realen Qualitäten unserer Sinne sind, daß die thierische Sensibilität allein in diesen rein subjectiven Zweigen ausgebildet ist, wodurch das Nervenmark hier nur sich selbst leuchtet, dort sich selbst riecht und schmeckt. […] Die Wesenheit der äußeren Dinge und dessen, was wir äußeres Licht nennen, kennen wir nicht, wir kennen nur die Wesenheiten unserer Sinne.«54 Einen hierdurch motivierten wichtigen Denkanstoß, auf den sich viele später bezogen haben, gab eine Rede, die H. von Helmholtz 1869 unter dem Titel Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften hielt. Helmholtz wollte so viel an Realismus retten wie möglich und soviel an kritischer Erkenntnistheorie integrieren wie notwendig. Er bestand darauf, daß ein Naturgesetz »nicht bloß ein logischer Begriff [ist], den wir uns zurecht gemacht haben als eine Art mnemotechnischen Hilfsmittels, um die Tatsachen besser zu behalten«. Die Naturgesetze können vielmehr »in den Tatsachen« entdeckt werden.55 Helmholtz hielt auch daran fest, daß die Physik einen Gegenstand habe, doch die Art und Weise, wie er diesen Gegenstand bestimmte, wurde zum Symptom der ›kritischen Wende‹. Helmholtz teilt seine Prämissen mit Müller, wie 1855 seine Schrift Über das Sehen der Menschen belegt. Schon dort heißt es: »Wir nehmen nie die Gegenstände der Aussenwelt unmittelbar wahr, sondern wir nehmen nur Wirkungen dieser Gegenstände auf unsere Nervenapparate wahr, und das ist vom ersten Augenblicke unseres Lebens an so gewesen.«56 Die Erregungen, die zu Wahr54

J. Müller, Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere, a. a. O., 49 f. 55 Vgl. H. von Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften, (1869), in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin / Heidelberg / New York 1987, 35. Zu Helmholtz’ epistemologischen, im Kontext der Sinnesphysiologie entwickelten Auffassungen vgl. C. U. Moulines, Hermann von Helmholtz. A Physiological Approach to the Theory of Knowledge, in: H. N. Jahnke / M. Otte (Hg.), Epistemological and Social Problems of the Sciences in the Early Nineteenth Century, Dordrecht / Boston / London 1981, 66 ff. und D. Cahan (Hg.), Hermann von Helmholtz and the Foundation of Nineteenth-Century Science, Berkeley u. a. 1994; L. Krüger, Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, Berlin 1994; M. Heidelberger, Philosophische Argumente in empirischer Wissenschaft. Das Beispiel Helmholtz, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Interaktionen zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Francis Bacon und Ernst Cassirer, Frankfurt/M. / Berlin / New York 1995, 1997. 56 H. von Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen (1855), in: Ders., Vorträge und Reden, Bd. 1, Braunschweig 1984, 395.

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nehmungen führen, können externe Ursachen haben; Helmholtz eröffnet aber auch die Alternative, daß sie aus der »eigenen Tätigkeit des Geistes« stammen.57 Seine Nähe zur kantischen Tradition wird besonders deutlich hinsichtlich des Problems der Kausalität. Das Kausalgesetz ist ein Apriori, »ein vor aller Erfahrung gegebenes Gesetz unseres Denkens […]«.58 An anderer Stelle heißt es ebenso nachdrücklich, das Kausalgesetz sei ein »wirklich a priori gegebenes, ein transzendentales Gesetz. Ein Beweis desselben aus der Erfahrung ist nicht möglich.«59 Das Argument der Helmholtzschen Kritik an der sensualistischen Theorie der Repräsentation als Abbildung ist bekannt; es stammt von Müller. Das Argument ist semiotischer Art; es besagt, man könne die physiologischen Erkenntnisse nicht als Abbildung von Natur auffassen. Müller habe nämlich aufgedeckt, »daß keinerlei Art von physikalischer Gleichheit der subjektiven Gleichheit verschieden gemischter Lichtmengen von gleicher Farbe entspricht. Es geht aus diesen und ähnlichen Tatsachen die überaus wichtige Folgerung hervor, daß unsere Empfindungen nach ihrer Qualität nur Zeichen für die äußeren Objekte sind und durchaus nicht Abbilder von irgendwelcher Ähnlichkeit. Ein Bild muß in irgendeiner Beziehung seinem Objekt gleichartig sein; wie zum Beispiel eine Statue mit dem abgebildeten Menschen gleiche Körperform, ein Gemälde gleiche Farbe und gleiche perspektivische Projektion hat. Für ein Zeichen genügt es, daß es zum Erscheinen komme, so oft der zu bezeichnende Vorgang eintritt, ohne daß irgendwelche andere Art von Übereinstimmung als die Gleichzeitigkeit des Auftretens zwischen ihnen existiert. Nur von dieser letzteren Art ist die Korrespondenz zwischen unseren Sinnesempfindungen und ihren Objekten.«60 Es ist allerdings offensichtlich, daß bei Helmholtz dieser kritische semiotische Ansatz und die Rettung des Realismus unvermittelt nebeneinander bestehen. Einerseits betont er, »daß unsere Sinnesempfindungen nur Zeichen für die Veränderungen in der Außenwelt sind, und nur in der Darstellung der zeitlichen Folge die Bedeutung von Bildern haben.« Andererseits zieht er im folgenden Satz eine hieraus nicht ableitbare Schlußfolgerung: »Eben deshalb sind sie aber auch imstande, die Gesetzmäßigkeiten in der zeitlichen Folge der Naturphänomene direkt abzubilden.«61 57

H. von Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung (1878), in: Ders., Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 51984, 222. 58 H. von Helmholtz, Ueber das Sehen des Menschen, a. a. O., 396. 59 H. von Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, a. a. O., 278. 60 H. von Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften, a. a. O., 56 f. Hervorh. von mir. Zu einer Variante dieser Passage vgl. H. von Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, 226. 61 H. von Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften, a. a. O., 59.

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Wenn Helmholtz 1878 nach den Thatsachen in der Wahrnehmung fragt, dann formuliert er seine Frage nicht zufällig in der Sprache der Philosophie: »Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? In welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?«62 Es ist nicht nebensächlich für ihn, daß er seine Antwort in der Sprache Kants gibt. Für seinen Weg sind epistemologische Prämissen maßgebend, auf deren Grundlage er gegen den Materialismus und zugunsten eines modifizierten Idealismus plädiert. Es kann nicht überraschen, daß der Physiologe in seiner Rede über die Naturwissenschaften 1869 explizit vor »übertriebenem Empirismus«63 warnt. Für die innerhalb der Naturwissenschaften einsetzenden selbstkritischen epistemologischen Tendenzen wird das Stichwort von den Grenzen der Erkenntnis zum Topos. Die Natur verliert ihre ›Objektivität‹, sofern unter ›Objektivität‹ verstanden wird, daß Entitäten und Eigenschaften von Entitäten unabhängig von Leistungen des menschlichen Bewußtseins seien. Was unter ›Natur‹, verstanden wird, ist abhängig von der Wahl eines ›epistemologischen Profils‹ (Gaston Bachelard), von gewählten Interpretanten, Begriffsschemata, Theorierahmen, Sprachspielen, kurz: von einem zwischen Subjekt und Objekt vermittelnden Dritten. Dieses Dritte gehört zu einer veränderten epistemischen Kultur,64 zu der zunächst die Wissenschaften, dann die Philosophie und nicht zuletzt die Malerei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beitragen.

3. ›Sehen‹ statt ›repräsentieren durch Abbildung‹ In den Künsten artikuliert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine epistemologische Avantgarde. Es entsteht ein neues Paradigma des Sehens65: »Zu den wichtigsten Entwicklungen, die im neunzehnten Jahrhundert in der Geschichte der Wahrnehmung stattfanden, gehört die Emergenz von Modellen des subjektiven Sehens, die sich relativ unvorbereitet in der Zeit von 1810 bis 1840 in zahlreichen Disziplinen bemerkbar machte. Innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogen die vorherrschenden Diskurse und Praktiken des Sehens den Bruch mit einem klassischen Regime der Visualität […] Noch vor der Mitte des Jahrhunderts waren wichtige Strömungen in den Wissenschaften, in Phi-

62

H. von Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung, a. a. O., 222. H. von Helmholtz, Über die Entwicklungsgeschichte der neueren Naturwissenschaften, a. a. O., 60. 64 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in H. J. Sandkühler, Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, a. a. O. 65 Zur Entwicklung der Theorie des Sehens vgl. R. Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997. 63

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losophie, Psychologie und Kunst auf verschiedenen Wegen zu dem Ergebnis gekommen, daß weder das Sehen, noch irgendein anderer Sinn auf essentielle Objektivität oder Gewißheit Anspruch erheben könne. Durch das wissenschaftliche Werk von Hermann von Helmholtz, Gustav Theodor Fechner und vielen anderen waren um 1860 die Konturen einer allgemeinen epistemologischen Unsicherheit sichtbar geworden, in der die Wahrnehmungserfahrung jene Garantien, die einst ihre privilegierte Beziehung zu den Fundamenten des Wissens begründet hatten, verloren hatte.«66 Auffällig ist, wie nachdrücklich sich Maler in ihren kunsttheoretischen Reflexionen auf die zeitgenössische Physiologie des Sehens beziehen.67 Wie in der Physiologie wird auch in der Kunst die Idee abbildender Repräsentation verabschiedet: Repräsentieren heißt Zeichen schaffen, nicht Kopien. Die Kunst entzieht sich der ontologischen Verpflichtung auf ›Realität‹; sie wendet sich vom Realismus der ›Darstellung der Natur‹ und von naturalistischen Idealen ab, denen sie sich zuvor verpflichtet wußte. Sie gibt das Ideal der Isomorphie von Repräsentiertem und Repräsentation auf und löst die Konturen des ›Gegebenen‹ – sei es durch Farbe, sei es durch Sprache – in neue Formen und geschaffene Welten (Welt-Versionen) auf. Was sie anstrebt, ist freilich kein antirealistischer Subjektivismus, sondern Kreativität des Gestaltens und Sehen, nicht anarchisch, sondern gemäß Gesetzen von Farbe bzw. Sprache, für deren Aufdeckung zunehmend wissenschaftliche Theorien wegweisend werden. Einen Ausgangpunkt bietet vor allem die Müllersche und Helmholtzsche Physiologie; sie erlaubt die Autonomisierung des Sehens und das Verstehen des phänomenalen Status von ›Wirklichkeit‹: »Die Idee eines subjektiven Sehens 66

J. Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt / M. 2002, 21. So beruft sich z. B. Paul Signac auf Helmholtz’ Physiologie des Sehens, der auch Georges Seurat beeinflußt habe. Vgl. A. Distel, Signac au temps d’harmonie, Paris 2001, 117. J. Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt / M. 2002, 173 f., schreibt hierzu: »[Es] findet zwischen 1810 und 1830 eine entscheidende Verschiebung von der geometrischen Optik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die auf den Eigenschaften des Lichts und seiner Brechung und Reflexion basierte, hin zu einer physiologischen Optik statt […] Diese Verschiebung kulminierte in der Publikation der drei Bände von Helmholtz‘ Handbuch der physiologischen Optik zwischen 1856 und 1860. […] Helmholtz’ vielgelesenes Werk hatte unter anderem zur Folge, daß die Lehre vom Auge als transparentem Organ bald in jeder Hinsicht diskreditiert war und an deren Stelle eine umfassende Auffassung vom Sehen in all seiner anatomischen und funktionalen Komplexität trat. Der Apparat des Auges figuriert in diesem Text nicht als makellos, sondern kennt bei seiner Verarbeitung der visuellen Information eingebaute Abweichungen, Irrtumstendenzen und Unregelmäßigkeiten.« Zum Einfluß der Helmholtzschen Theorie nicht nur auf andere wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch auf die Künste, vor allem auf Musiktheorie und Musik, vgl. H. Hörz, Brückenschlag zwischen Kulturen. Helmholtz in der Korrespondenz mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern, Marburg 1997. 67

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– die Vorstellung, daß unsere perzeptuelle und sensorische Erfahrung weniger von der Natur eines externen Reizes als von der Zusammensetzung und dem Funktionieren unseres sensorischen Apparats abhängig ist – gehört zu den Bedingungen für das historische Auftreten eines autonomen Begriffs vom Sehen, will sagen für die Abtrennung (oder Befreiung) der perzeptuellen Erfahrung von einer notwendigen Beziehung zur Außenwelt.«68 Baudelaire schreibt in seinem Bericht über die Salon-Ausstellung von 1859 über den ›modernen Maler‹; für ihn bestehe die Kunst »nicht mehr in einem immer genaueren Abschildern der Natur, sondern in der eigenständigen, persönlichen Erfindung, in der Einbildungskraft«. Modernité gründet in der »Herrschaft der Phantasie«, die »ein schöpferisches Gegengewicht zur Realität« bildet. Baudelaire zitiert den Satz Delacroix’ »Die Natur ist nur ein Wörterbuch« und erläutert: »Um den Sinn dieses Satzes in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, muß man sich den vielfältigen alltäglichen Gebrauch eines Wörterbuchs vor Augen halten. Wir suchen Wortbedeutungen, Wortwurzeln und Ableitungen darin, wir entnehmen ihm alle Bausteine für einen Satz oder eine Erzählung, aber niemand hat je ein Wörterbuch als Komposition im künstlerischen Sinn des Wortes verstanden. Die Maler, die der Einbildungskraft folgen, suchen in ihrem Wörterbuch die Bausteine, die zu ihrem Entwurf passen, und selbst diesen Bausteinen verleihen sie ein ganz neues Aussehen, indem sie sie kunstvoll einsetzen. Wer keine Einbildungskraft hat, kopiert das Wörterbuch.«69 ›Natur‹ oder ›Realität‹ sind nicht Namen für ein immer schon Gegebenes und Bekanntes; sie sind Signaturen einer phänomenalen Wirklichkeit, die noch unbekannt ist und gesehen werden muß, um sein zu können. Claude Monet reflektiert dies in einer Sprache, die an Kant erinnert: »Während ihr auf philosophische Weise versucht, die Welt an und für sich zu erfassen, konzentriere ich lediglich alle meine Bemühungen auf ein Maximum an Erscheinungen, die in engem Zusammenhang zu uns noch unbekannten Wirklichkeiten stehen.«70 Was der Impressionismus71 in die Malerei einführt, ist die Fixierung

68

J. Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, a. a. O., 22. K. Herding, Die Moderne: Begriff und Problem, in: M. Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, I, Reinbek bei Hamburg 1991, 184. André Malraux interpretiert Delacroix, Satz in Les voix de silence so: »Wenn Delacroix sagt, die Natur sei ein Wörterbuch, so meint er damit, ihre Wörter seien ohne Sinnzusammenhang (genauer gesagt, sie besäßen ihre eigene Syntax, welche nicht die der Kunst ist); und es sei Aufgabe des Künstlers, aus ihnen Entlehnungen zu machen.« (A. Malraux, Stimmen der Stille, Berlin / Darmstadt / Wien 1960, 337). 70 Zit. nach G. van der Kemp, Ein Besuch in Giverny, Versailles 1994, 20. 71 Diese Bezeichnung mit zunächst pejorativer Bedeutung wählt der Kunstkritiker Leroy anläßlich einer Ausstellung von 165 Gemälden im Atelier des Fotografen Nadar 1874. Zu einer umfangreichen Darstellung der Malerei des französischen Impressionis69

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dessen, was stabil und konstant ist und doch nur als transistorisches ›Wollen einer Idee‹ existiert: der Aspekt (Mallarmé) als Form perspektivischer Wahl und der symbolische Ausdruck der frei gewählten Sehweise. Der Mangel an Bestimmtheit, das Ungenaue, die Auflösung gegenständlicher Form mittels des Lichts, ist gewollt.

Abb. 1: Claude Monet, Impression, soleil levant, 1872.

Dieses Bild gilt als Taufakt des ›Impressionismus‹. Was dessen Prinzipien ausmacht, ist allerdings mit Monet zu spät datiert. Den Anstoß zu einem neuen Sehen der Wirklichkeit gibt bereits J. M. W. Turner (1775–1851): »Er fand zu einem Bild der Natur, wie es vordem nicht gesehen werden konnte. Noch heute kann ein Blick auf seine späten Bilder wirken, als sähe man die Welt zum ersten Mal – als eine Welt der Farbe und des Lichtes. Daß Turners Bilder die Welt auf neue Weise sehen machen, hat John Ruskin, der prägende Kunsttheoretiker der Romantik in England und der erste leidenschaftliche Verteidiger von Turners Malerei, schon 1843 in seinen ›Modern Painters‹ ausgesprochen: ›Die ganze Wirkungskraft der Malerei im Technischen beruht auf unserer Fähigkeit, jenen Zustand zurückzugewinnen, den man die Unschuld des Auges nennen könnte, das ist eine Art von kindlicher Sehweise, die die farbigen Flecken als solche mus vgl. I. F. Walther (Hg.), Malerei des Impressionismus 1860–1920. Teil I Der Impressionismus in Frankreich, Köln u. a. 2006.

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wahrnimmt ohne Wissen von ihrer Bedeutung – so wie ein Blinder sie sehen würde, wenn ihm mit einem Mal die Sehkraft zurückgegeben wird.‹«72 Turners Bild-Welten verlangen nicht nach verstandesmäßiger Erklärung; sie fordern das Auge. Seit den 1830er Jahren beginnt Turner, sich der »allgemeinen Tendenz zur Abbildlichkeit, die die Epoche des Realismus und der Photographie einleitete, entgegenzustellen«.73

Abb. 2: Light and Colour (Goethe’s Theory) – the Morning after the Deluge – Moses Writing the Book of Genesis, 1843.

Für die späteren Impressionisten werden optische Theorien wegweisend; für Turner ist es Goethes Farbenlehre, mit der er 1843 vertraut wird: »Goethe schreibt bezüglich der Wirkung bildlicher Farbgestaltungen: ›Wird nun die Farbentotalität von außen dem Auge als Objekt gebracht, so ist sie ihm erfreulich, weil ihm die Summe seiner eignen Tätigkeit als Realität entgegen kommt.‹ Turners Kommentar: ›this is the object of Paintg [painting]‹74 […] Goethe: ›Gerade das, was ungebildeten Menschen am Kunstwerk als Natur auffällt, das ist nicht Natur (von außen), sondern der Mensch (von innen).‹«75 Turners Weg von einem zunächst durchaus an imitatio orientierten Darsteller der Natur zur Malerei der 1840er Jahre »erweist sich als schrittweise Überwindung der Abbildlichkeit.«76 72

M. Bockmühl, J. M. W. Turner 1775–1851. Die Welt des Lichtes und der Farbe, Köln 2006, 6. 73 Ebd., 46. 74 M. Bockmühl zit. N.: J. Gage, Coulour in Turner. Poetry and Truth, London 1969, 48. 75 M. Bockmühl, J. M. W. Turner 1775–1851, a. a. O., 84 f. 76 Ebd.

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Abb. 3: J. M. W. Turner, Junction of the Severn and Wye, 1811.

Auf diesem Wege verschwinden Gegenstände, um einem anderen Sehen Räume zu öffnen. Dies ist Turners Beitrag zur Überwindung abbildhafter Repräsentation.

Abb. 4: J. M. W. Turner, The confluence of Severn and Wye, 1840.

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Abb. 5: J. M. W. Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway, vor 1844.77

Monet, Pissarro, Degas, Renoir und andere werden gemeinsam an Turners Leistung erinnern: »Eine Gruppe französischer Maler, welche die gleichen ästhetischen Ziele haben und sich passioniert der Übersetzung der Form in Bewegung und der flüchtigen Erscheinung des Lichts widmen, kann nicht vergessen, daß ihnen auf diesem Wege ein großer englischer Meister vorangegangen ist, der berühmte Turner.« Programmatisch formuliert Paul Cézanne: »Malen heißt nicht einfach die Natur nachahmen, sondern eine Harmonie unter zahlreichen Bezügen herstellen, sie in ein eigenes Tonsystem übertragen, indem man sie nach dem Gesetz einer neuen und originalen Logik entwickelt.«78 Emile Blémont schreibt unter dem Eindruck des Neuen in der Malerei zu den Prinzipien der Impressionisten: »Sie ahmen nicht nach, sie übersetzen, sie interpretieren, sie gehen darauf aus, die Resultate der mannigfachen Linien und Farben, die das Auge vor einem Naturaspekt aufs Mal erfaßt, herauszuarbeiten.«79 77

Welche Bedeutung die Beschleunigung zeitlicher Abläufe durch moderne Technologie (Eisenbahn) für Wahrnehmungsveränderungen in der Malerei hat, zeigt Wagner unter dem Titel Wirklichkeitserfahrung und Bilderfindung, in: Dies. (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, I, Reinbek bei Hamburg 1991. 78 P. Cézanne, Über die Kunst, Gespräche mit Gasquet, Briefe, Hamburg 1957, 80. 79 Zit. nach H. Graber, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Claude Monet. Nach eigenen und fremden Zeugnissen, Basel 1943, 213.

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Die Impressionisten ›entdecken‹ die Wirklichkeit nicht, denn zu entdecken ist nur Gegebenes und nur mit ›unschuldigem Auge‹. Sie transformieren ein intendiertes Wirkliches in Bilder und zeigten ihren Zeitgenossen »neue, ungeahnte Möglichkeiten, die Welt zu sehen, die gewissen visuellen Erlebnissen besser entsprachen als alle Malerei, die es bisher gegeben hatte. Die Maler überzeugten das kunstverständige Publikum so gründlich, daß das Bonmot entstehen konnte, die Natur ahme die Kunst nach. Oder, wie Oscar Wilde es einmal ausdrückte, es gebe den Londoner Nebel erst, seitdem Whistler ihn gemalt habe.«80

Abb. 6: Claude Monet, Le Parlement, trouee de soleil dans le brouillard, 1904.

Wie in den Wissenschaften wird auch in der Malerei die Verpflichtung zu abbildender Repräsentation aufgegeben: »Nach Cézanne hat die Malerei das Abbildungsverhältnis zur Welt durch ein Schöpfungsverhältnis ersetzt.«81 Es geht »um das Problem der Wahrheit mit oder ohne Repräsentation […]«.82 Die erlebte aktive Perspektive des Wahrnehmens und Verstehens einer Welt, die ›um mich herum‹ ist und nicht ›vor mir‹, tritt, wie Maurice Merleau-Ponty in seinen Stu-

80

E. H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, 365. 81 Ch. Jamme, ›Malerei der Blindheit‹. Phänomenologische Philosophie und Malerei, in: G. Pöltner (Hg.), Phänomenologie der Kunst. Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1999, Frankfurt /M. / Berlin / Bern 2000, 115. 82 Ebd., 123.

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Abb. 7: Paul Cézanne, Die »großen« Badenden, 1898–1905.

dien zu Paul Cézanne83 zeigt, an die Stelle des passiven Abbildens. Diese Kunst will nicht die Dinge aus den Dingen repräsentieren, sondern eine Sehweise in Dinge formen, die so erst in die Welt kommen und die Wirklichkeit erweitern. Kunst ist eine ›Operation mit dem Ausdruck‹, nicht aber Repräsentation im Sinne von ›Darstellung‹. Im Impressionsmus und im Neoimpressionismus des späten 19. Jahrhunderts wird der Ausdruck des Wirklichen durch eine auf das Sehen und die Malerei ›angewandte Wissenschaft‹ geschaffen84, bei der Müllers und Helmholtz’ Physiologie des Sehens Pate steht. Der Ausdruck entsteht als »composition raisonné«.85 83

Vgl. Le doute de Cézanne (1945) in: M. Merleau-Ponty, Sens et non-sens, Paris 1996, 13–33. Diesen Hinweis verdanke ich Christoph Jamme; vgl. Ch. Jamme, ›Malerei der Blindheit‹, a. a. O. 84 Pissaro schreibt 1888 an Signac, seit Seurat gehe es um die Idee, die angewandte Wissenschaft in der Malerei praktisch werden zu lassen; vgl. A. Distel, Signac au temps d’harmonie , a. a. O., 107. 85 Während ihres Pariser Aufenthalts notiert Paula Modersohn 1900: »Konstruktion ist hier Schlagwort.« (Zit. nach H. Uhde-Bernays (Hg.), Künstlerbriefe über Kunst. Bekenntnisse von Malern, Architekten und Bildhauern aus fünf Jahrhunderten, Dresden 1956, 625).

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Das neue Prinzip der ›division‹ – der methodischen Trennung der Elemente – und die Technik, Farben nicht mehr ›nach der Natur‹ auf der Palette anzumischen, sondern durch Punkte aus reinen Farben eine ›Mischung im Sehen‹ (›mélange optique‹) herzustellen, entspricht, so Signac, einer »präzisen wissenschaftlichen Methode«.86 Bei der ›division‹ entsteht aus dem Atomismus der Farbpunkte ein streng komponiertes Ganzes nicht von abgebildeten Gegenständen, sondern von Licht: die ›mélange optique‹. George Seurats Werke zeigen, »wie eine sensori-

Abb. 8: Georges Seurat, Brücke von Courbevoie, 1886–87.

sche Welt auseinandergenommen, wieder synthetisiert und dargestellt wird«, und dies ist »untrennbar von dem Problem, wie eine Welt von Objekten, Individuen und sozialen Beziehungen sich selbst organisiert. Seine Bilder sind Sammlungen von Hypothesen darüber, wie Elemente oder Dinge kombiniert, wie diverse Aggregate von verschiedenen formalen Operationen produziert (oder aufgelöst) werden.«87 Den Chenal de Gravelines formt Seurat 1890 in mehreren Variationen. In der Serie läßt ihn der Maler in Aspekten, in Farbe, Atmosphäre, jeweils neu entstehen. Der Gegenstand ist identisch, diktiert aber keinen identischen

86

Paul Signac in seiner theoretischen, Seurat gewidmeten Arbeit D’Eugène Delacroix au néo-impressionisme (1899); zit. nach den Auszügen in: A. Distel, Signac au temps d’harmonie, a. a. O., 114 ff. Die ›division‹ besteht in der »séparation méthodique des éléments – lumière, ombre, couleur locale, réactions« (ebd., 118). 87 J. Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, a. a. O., 146.

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Abb. 9: Georges Seurat, Le chenal de Gravelines, 1890.

Ausdruck. Was sich verändert, ist die Bedeutung, die ihm durch das Licht zukommt. Das befreite, autonome Sehen nimmt freilich keine Beliebigkeit für sich in Anspruch, sondern gibt sich methodisch eine Ordnung. Der Neoimpressionismus ist einer neuen, auf physiologischer Grundlage wissenschaftlich entwickelten Farbenlehre verpflichtet, so vor allem bei Paul Signac. Würde man »wissenschaftlich« mit einem positivistischen und empirizistischen Ideal in Verbindung bringen, so müßte dieses ›Neue‹ als Paradoxie erscheinen. Doch das Programm Signacs folgt – wie die neue Farbenlehre – der nach-positivistischen Helmholtzschen Physiologie. Das Bild hat nicht die Aufgabe, photographisch abzubilden oder das Wirkli-

Abb. 10: Cercle Chromatique des Chemikers Michel Eugène Chevreul.

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Abb. 11: Paul Signac, Application du Cercle chromatique de Mr Charles Henry, Lithographie für die Saison 1888–1889 des Théatre Libre d´Antoine. 88

che zu illustrieren.89 Die Photographie hat »keine eigene Sprache […], weil sie vielmehr zitiert als übersetzt«.90 Sie gehört zu einer anderen Kultur und hat eine andere Funktion: »Die Kamera wurde 1839 erfunden. Auguste Comte beendete gerade seinen Cours de Philosophie Positive. Der Positivismus, die Kamera und die Soziologie wurden gemeinsam groß. Was der Praxis aller zugrunde lag, war der Glaube, daß die beobachtbaren, quantifizierbaren Fakten, wie sie von Wissenschaftlern und Experten festgehalten wurden, dem Menschen eines Tages eine derart vollständige Kenntnis von Natur und Gesellschaft vermitteln würden, daß er fähig wäre, über beide zu gebieten. Präzision würde an die Stelle der Metaphysik treten, Planung würde soziale Konflikte lösen, Wahrheit würde die Subjektivität verdrängen, und alles, was dunkel und verborgen in der menschlichen Seele war, würde durch empirisches Wissen erleuchtet werden.«91 88

Die Lithographie dient zugleich als Ankündigung der Publikation: Cercle chromatique de M. Charles Henry pésentant tous les compléments et toutes les harmonies de couleur avec une introduction sur la théorie générale de la dynamogénie, autrement dit du contraste, du rythme et de la mesure. Der Mathematiker Henry hat 1885 auch eine Introduction à une ésthétique scientifique veröffentlicht. 89 Zur kritischen Einstellung Signacs zur Photographie vgl. D’Eugène Delacroix au néo-impressionisme (1899); in: A. Distel, Signac au temps d’harmonie, a. a. O., 115. 90 J. Berger / J. Mohr, Eine andere Art zu erzählen (1982). Unter Mitarbeit von N. Philibert. Aus dem Engl. V. K. Stromberg, Frankfurt / M. 2000, 96. 91 Ebd., 99.

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In ihren theoretischen Selbstverständigungsdebatten grenzen sich impressionistische und neoimpressionistische Maler vom positivistischen Objektivitätsideal ab. Dessen Erkenntnisgrenzen werden überwunden; das Sehen und Erkennen wird entgrenzt. Der Maler wählt Sehweisen, in denen das Reale chiffriert wird, um es als Wirkliches zu dechiffrieren. So entstehen Seinsweisen durch die Herstellung von Sinn: »In jedem Akt des Sehens liegt die Erwartung von Sinn. Diese Erwartung ist etwas anderes als der Wunsch nach einer Erklärung. Derjenige, der sieht, mag vielleicht hinterher erklären; aber vor jeder Erklärung steht die Erwartung dessen, was die Erscheinungen vielleicht selbst offenbaren werden.«92 Die geschaffenen Gegenstände – der Kunst wie der Wissenschaften – haben keine Orte im Raum und in der Zeit der Natur, sondern sie erhalten sie der Topographie der Kultur: »Der Bruch mit dem Repräsentationsmodell bedeutet die Auflösung des Paradigmas der Ordnung in das der Geschichte bzw. der Zeit.«93 Die Entitäten phänomenaler Wirklichkeit entstehen als Zeichen, Symbole, Übersetzungen, Interpretationen und als solche Mittel der Wirklichkeitsherstellung. Weltsichten und Weltversionen sind nicht durch determinierte Wahrheitsund Gültigkeitsbedingungen privilegiert, die den einen einzigen ausgezeichneten Grund im Sein hätten. In der Malerei begegnet die Welt in den Ordnungen der Bilder, in denen Subjekte auf ihre Weise diese Begegnung suchen. Auch in der Philosophie wird dieses Prinzip zeitgleich formuliert, im Rückgriff auf die kantische Erkenntniskritik und in Nähe zur Physiologie.

IV. Wir fangen mit dem Denken an Einer der Sätze, die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als Indiz einer einschneidenden Veränderung (i) des philosophischen Denkens über die Natur und die Theorie der Naturwissenschaften sowie (ii) insgesamt der Wissenskultur gelesen werden können, lautet: Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst. Er steht im Mittelpunkt des epistemologischen Programms, das unter dem Namen ›Neukantianismus‹ Epoche gemacht hat. Sein Autor ist Hermann Cohen; er schreibt ihn 1902 in seiner Logik der reinen Erkenntnis. Wir fangen mit dem Denken an. Es ist offensichtlich, daß diese Aussage sich auf das Problem bezieht, das von Kant artikuliert wurde und das in der kantischen Tradition immer wieder gelöst werden sollte. Ebenso offensichtlich ist, daß Cohens Aussage in ihrer Radikalität einen Bruch mit zwei für Kant cha92 93

Ebd., 117. Ch. Jamme, a. a. O., 124.

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rakteristischen Prinzipien bedeutet: Denn erstens werden die Gegenstände der Erkenntnis – also etwa die Natur – nicht mehr durch feststehende apriorische Formen konstituiert, sondern durch ein offenes, dynamisches System von Urteilen; und zweitens bleibt vom Realismus der Dinge, wie sie an sich selbst sind, nichts mehr übrig. Hier zeigt sich, was ›Neukantianismus‹ – und zwar nach dem Selbstverständnis dieser Bewegung selbst – bedeutet: Mit Kant über Kant hinaus. Fragen wir, warum und wie es zu diesem Mit Kant über Kant hinaus gekommen ist, so sind im wesentlichen zwei Gründe zu nennen. Der erste Grund liegt in der Entwicklung der Philosophie, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch in einer Isolierung befindet.94 Die Überzeugung wird immer stärker, daß nach dem Ende des spekulativen Idealismus eine Theorie der Welt und eine Theorie des Wissens von der Welt ohne Metaphysik – sei es der Ideenwelt, sei es der Dingwelt – notwendig seien. Diese Theorie soll aber auch dem Sachverhalt Rechnung tragen, daß weder der Materialismus noch der Positivismus akzeptable neue Wege eröffnet haben. Auch die Versuche, den Idealismus neu zu begründen, sind – so ist man überzeugt – gescheitert: Der Idealismus sei nur das schiere Gegenteil des Materialismus; wie letzterer beanspruche er, die Welt monistisch, aus einem einzigen Prinzip, erklären zu können. Da dieses einzige Prinzip die Idee bzw. der Geist ist, ist der Konflikt mit den Naturwissenschaften und der empirischen Methode programmiert. Auf der anderen Seite erweist sich der Positivismus als naiv und simplistisch, weil er mit seinem Prinzip – der verabsolutierten Erfahrung – auf eine ›gegebene fertige Welt‹ fixiert ist und den gerade in den Naturwissenschaften inzwischen anerkannten engen Zusammenhang von Induktion und Deduktion und von Beobachtung und Interpretation nicht berücksichtigt. Anders gesagt: Weil die Welt der Idealisten keine wirkliche Welt und die Welt der Positivisten eine geistlose Welt ist, wächst das Bedürfnis nach einer Theorie, in der die Welt und die Konstitution der Welt durch das Erkennen eine Einheit bilden – eine Einheit im Wissen ohne Grenzen. Der zweite Grund dafür, daß nach Hegel und Schopenhauer erneut Kant die Bühne des 19. Jahrhunderts betritt, liegt in den Wissenschaften. Die Idee der Fundierung von Wissenschaft allein aus Daten der Beobachtung und aus einer Nomologie, die sich auf eine noch von Skepsis unbehelligte Idee der Kausalität stützt, ist fragwürdig geworden. In der Wissenschaft selbst kündigt sich die Einsicht an, ›Gesetze der Natur‹ seien Sätze der Gesetzgebung durch die Wissenschaft. Was Nomologie war, wird Nomothetik. Innerhalb der Natur94

Vgl. zur institutionellen Situation der Philosophie und zur Entstehung des Neukantianismus v. a. K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt / M. 1986.

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wissenschaften werden – nicht zuletzt durch die Entdeckung nichteuklidischer Geometrien – die Voraussetzungen für das geschaffen, was der Neukantianismus in der Sprache der Philosophie formuliert. Für viele Wissenschaftler führt der Weg aus der Krise zu Kant. Bemerkenswerterweise ist es ein Physiologe und Physiker, der an das Kantische Modell der Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaften erinnert und es als nachahmenswertes Muster empfiehlt: Hermann von Helmholtz in seinem Vortrag Über das Sehen des Menschen (1855). Als einer der ersten beklagt er die Entfremdung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, die bei Kant noch nicht bestanden habe, und räumt selbstkritisch ein: »Man hört die Naturforscher sich gern und laut dessen rühmen, die großen Fortschritte ihrer Wissenschaft in der neuesten Zeit hätten angehoben von dem Augenblicke, wo sie ihr Gebiet von den Einflüssen der Naturphilosophie ganz und vollständig gereinigt hätten […]«.95 Bald mehren sich die Stimmen innerhalb verschiedener Naturwissenschaften, die Helmholtz’ Kritik teilen und auf Kant als den Ausweg aus dem Dilemma verweisen. So schreibt z. B. 1862 Wilhelm Wundt, der Begründer der Psychologie in Deutschland: »Kants Erkenntniskritik ist die Basis, auf der die empirischen und die philosophischen Wissenschaften dieses Jahrhunderts ruhen. Die Empirie entnimmt für sich das realistische Moment, die positiven Ergebnisse seiner Kritik […] Die Grundansichten, welche in der Physiologie der Sinne der Hauptsache nach noch jetzt gültig sind, leiten ihren Ursprung aus der Kantschen Philosophie her, die einen meistens unbewußten Hauptbestandteil unserer ganzen wissenschaftlichen Bildung und Denkrichtung ausmacht.«96 Das Wort ›Erkenntnistheorie‹ wird 1862 in Eduard Zellers Schrift Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie zwar nicht erstmals verwendet, aber man kann diese Schrift als Symptom dafür nehmen, daß sich die Disziplin in einem kantischen Geist etabliert hat. Zeller definiert die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft, »welche die Bedingungen untersucht, an welche die Bildung unserer Vorstellungen durch die Natur unseres Geistes geknüpft ist, und hiernach bestimmt, ob und unter welchen Voraussetzungen der menschliche Geist

95

H. von Helmholtz, Philosophische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von H. Hörz / S. Wollgast, Berlin 1971, 45 f. An J. E. Erdmann schreibt Helmholtz mit Brief vom 6. Mai 1871: »Ich freue mich sehr, dass sich allmählig ein besseres Verständnis zwischen den Philosophen und den Naturforschern wieder eröffnet, und hoffe, dass beide sich wieder so eng an einander schliessen werden wie es in alter Zeit war.« (H. Hörz, Brückenschlag zwischen Kulturen. Helmholtz in der Korrespondenz mit Geisteswissenschaftlern und Künstlern, Marburg 1997, 318). 96 W. Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, Leipzig 1862, 92.

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zur Erkenntnis der Wahrheit befähigt ist […].«97 In genau dieser Bestimmung wird die Erkenntnistheorie für die Wissenschaften interessant, und diese Theorie ist vom Neukantianismus zu erwarten, der theoretische Ausgangspunkte sowohl beim klassischen, durch Kant interpretierten Empirismus als auch bei der Physiologie des 19. Jahrhunderts findet. Die Marburger Schule sieht in der transzendentalen Methode das Erbe Kants, das es erlaubt, die Philosophie zu erneuern. Die Philosophie hat die Aufgabe, die Faktizität der wissenschaftlichen Erkenntnis transzendental zu begründen; sie muß also die Bedingungen der Möglichkeit und der Geltung wissenschaftlicher Aussagen analysieren und rechtfertigen. Die Philosophie ist in erster Linie Erkenntniskritik, und zwar vorrangig Kritik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Sie grenzt sich so vor allem von der empirischen Psychologie ab. Es soll nachgewiesen werden, daß die apriorischen Grundsätze der Mathematik und der Naturwissenschaft ihren Ursprung im reinen Denken haben. In Kants Theorie der Erfahrung (1871) macht es sich H. Cohen nicht zur Aufgabe, Kant philologisch zu rekonstruieren, sondern ihn – in Kritik an realistischen Inkonsequenzen von Kants Begriff der Erfahrung – zu radikalisieren: Bereits die Empfindung, die der Anschauung ihren Gegenstand gibt, ist vom Verstandesdenken geformt. Es gibt keine Dinge-an-sich als Basis der Empfindung und der sinnlichen Wahrnehmung und in diesem Sinne auch keine Natur, die der Erkenntnis einfach vorgegeben wäre. Die Philosophie der Erkenntnis wird zur Methodologie der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis, deren Muster die Mathematik ist. Der Kantische Realismus, der sich in der Kritik der reinen Vernunft in der Problemstellung ausdrückt, »wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können«98, wird eliminiert: »Wir fangen«, heißt es später in Cohens Logik der reinen Erkenntnis, »mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst […]«.99 Für Cohen ist die Unterstellung eines ›Gegebenen‹ ein Vorurteil; in seiner Analyse der ›reinen‹ Erkenntnis ist dem Denken nur das ›gegeben‹, was es selbst erzeugen kann. Das ›erzeugende‹ Denken wird als Ursprung schlechthin, als »Prinzip des Ursprungs« bestimmt: »Denken ist Denken des Ursprungs. Dem Ursprung darf nichts gegeben sein […]«.100 P. Natorp kommt in einem späteren programmatischen Aufsatz, den er 1912 unter dem Titel Kant und die Marburger Schule veröffentlicht, zu keiner anderen Bilanz: Die Anschauung sei lange Zeit »als denkfremder Faktor in der Erkenntnis« aufgefaßt worden, als »dem Denken gegenüber- und entgegenste97 98 99 100

Zitiert nach R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 21904, Bd. 1, 299. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 117. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 21914, 13. Ebd., 36.

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hend«. Nun wisse man: Anschauung »ist Denken«.101 Was man unkritisch als ›Gegebenheit‹ genommen habe, sei nichts als das ›Postulat der Wirklichkeit‹ – also eine Forderung der Naturwissenschaft – und habe keine andere als modale Bedeutung. Natorp räumt zwar ein, daß die Naturwissenschaften ohne ›Tatsachen‹ nichts beginnen können. Doch er betont, die Stabilität und Absolutheit der räumlich-zeitlichen Ordnung, von der man bisher ausgegangen sei, sei nicht gegeben. Das ›Faktum der Wissenschaft‹ beweise nichts anderes, als daß es eine Intention der Erkenntnis gebe, die sich auf diese Ordnung richte. Fassen wir zusammen: Was die Naturwissenschaften ›Beobachtung‹ einer externen Welt nennen, ist Interpretation mit den Mitteln des Denkens, nicht zuletzt Interpretation durch Theorien. Experimente erzeugen die Untersuchungsgegenstände und zwingen sie in die interne Logik naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Die in der Naturwissenschaft präsente ›Natur‹ ist eben jene Natur, wie sie durch die Wissenschaft für uns entsteht. Die Heidelberger Schule begründet die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bzw. Kulturwissenschaften; es geht dabei nicht um eine ontologische Unterscheidung auf der Ebene der Gegenstände, sondern um eine Differenzierung auf der Ebene der Methoden. W. Windelband hält 1894 als Rektor der Universität Straßburg unter dem Titel Geschichte und Naturwissenschaft eine programmatische Rede; sie gibt wichtige Impulse für eine erneute intensive Debatte über die Methodologie der Wissenschaften. Windelband nimmt kritisch Stellung zur traditionellen ontologischen Unterscheidung empirischer Wissenschaften nach ihren Gegenständen – nach ›Natur‹ oder ›Geist‹.102 Er schlägt vor, die wissenschaftlichen »Disziplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer Erkenntnisziele« zu gliedern, um so »eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften« vorzunehmen zu können.103 Der Unterschied wird jetzt darin gesehen, daß für die nomothetischen Wissenschaften »das generelle, apodiktische Urteil« und für die idiographischen Wissenschaften »der singulare, assertorische Satz« charakteristisch ist:104 »die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum andern Teil den einmaligen, in sich bestimmten

101

P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, in: Kant-Studien, Bd. 17, 1912, 204. Vgl. zu einer übereinstimmenden Kritik H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1898), Tübingen 31915, 6 / 71926, 12. 103 W. Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Tübingen 51915, 143 f. 104 Ebd., 144. 102

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Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die andern Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist […] in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.«105 Der Dualismus der nomothetischen und idiographischen Methoden ist unaufhebbar: »Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen.«106 Heinrich Rickert, Nachfolger Windelbands in Heidelberg, begleitet die Arbeit an diesem Ansatz, setzt ihn fort und modifiziert ihn. Auch er widmet sich der kritischen methodologischen Rekonstruktion der Erfahrungswissenschaften und der Bedeutung der Werte und Normen für die Sonderstellung der historischen Disziplinen. Er nimmt jedoch begriffliche Änderungen vor, indem er von Kulturwissenschaften statt von Geisteswissenschaften spricht;107 er ersetzt Windelbands Unterscheidung zwischen ›nomothetisch‹ und ›idiographisch‹ durch die Differenz zwischen ›generalisierenden‹ und ›individualisierenden‹ Verfahren;108 schließlich mindert er die Rolle der ›Tatsachen‹ und legt den Akzent stärker auf die Konstruktivität der Erkenntnis und auf die Konstitution von ›Gegenständen‹. Die generalisierenden Naturwissenschaften organisieren – besser gesagt: konstituieren – die mannigfaltigen Erscheinungen der Wirklichkeit durch Gesetze; in den individualisierenden historischen Kulturwissenschaften übernehmen die Werte die entsprechende Funktion. Rickert schreibt: »Durch die Werte, die an der Kultur haften, und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität als eines realen Trägers von Sinngebilden erst konstituiert.«109 In Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft formuliert Rickert 1899 das Prinzip der Konstitution als Prinzip der Perspektivität: »Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle.«110 Dieser Perspektivismus, den zu gleicher Zeit auch Ernst Cassirer begründet, hat eine epistemologische Prämisse, die auch andere Neukantianer teilen – die Kritik am metaphysischen Realismus. Rickert betont, daß man mit dem »Begriff der Außenwelt im eigentlichen Sinne des Wortes […] in Wahrheit ebensowenig wie mit dem Begriff des immanenten Objektes über Tatsachen

105

Ebd., 145. Ebd., 160. 107 Vgl. zur Begründung H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, a. a. O., 1 ff. 108 Vgl. ebd., 60. 109 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft a. a. O., 81. 110 Ebd. 106

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des Bewußtseins« hinausgelangt: »Die ›Außenwelt‹ also, nach deren Existenz wir fragen, darf weder die außerhalb meines Körpers gelegene noch das unmittelbar gegebene Objekt des Bewußtseins sein. Es bleibt demnach nur […] die Wirklichkeit ›außerhalb‹ meines Bewußtseins oder die transzendente Realität übrig, gegen die sich der Zweifel zu richten hat, und für welche die Bezeichnung ›Außenwelt‹ nicht gebraucht werden sollte.«111 Es gibt, so kann man bilanzieren, Grenzen der Erkenntnis nur dort, wo sich das menschliche Erkennen Grenzen von jenem metaphysischen Realismus vorschreiben läßt, der in der positivistischen Doktrin die Naturwissenschaften auf eine von der Erkenntnis unabhängige ›Außenwelt‹ verpflichtet. Du Bois-Reymonds Grenzen-Theorem ist durch diese Idee von Naturwissenschaft provoziert.

111

H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen / Leipzig 1902, 3 / 41921, 18 f.

Myriam Gerhard

Du Bois-Reymonds Ignorabimus als naturphilosophisches Schibboleth »When Bishop Berkeley said ›there was no matter,‹ and proved it – ‘twas no matter what he said: They say his system ‘tis in vain to batter, Too subtle for the airiest human head; And yet who can believe it? I would shatter Gladly all matters down to stone or lead, Or adamant, to find the world a spirit, And wear my head, denying that I wear it.« Georg Gordon, Lord Byron1

Emil Du Bois-Reymonds Bestimmung der Grenzen der Naturerkenntnis wird von der Mehrzahl seiner Rezipienten als eine Art Rückzugsgefecht naturwissenschaftlicher Methoden begriffen. Allen Erfolgen der naturwissenschaftlichen Forschung zum Trotz manifestiere sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine auch für die Naturwissenschaften unüberwindbare Schranke. Der Anspruch des naturwissenschaftlichen Materialismus, alle Erscheinungen erklären zu können, scheint mit dem Eingeständnis des Ignorabimus von Kraft, Materie und der Entstehung des Bewußtseins gescheitert zu sein. Daß ein Naturwissenschaftler wie Du Bois-Reymond eine von den Naturwissenschaften nicht zu schließende Erklärungslücke konstatiert, mag als wissenschaftspolitischer Schachzug interpretiert werden. Eine Bemerkung Du Bois-Reymonds zur Wirkungsgeschichte seiner Ignorabimus-These läßt aber auch ein ganz anderes Verständnis der dem Ausspruch des Ignorabimus zugrundeliegenden Intention zu. Nicht eine Bescheidung der naturwissenschaftlichen Methode zugunsten der Geisteswissenschaften, vielmehr eine Kritik im Kantischen Sinne, die die Gegenstände möglicher Naturerkenntnis von den Gegenständen einer möglichen, aber sinnlosen metaphysischen Spekulation eindeutig scheidet, wäre demnach von Du Bois-Reymond beabsichtigt. Die Bestimmung dessen, was wir nicht wissen können, soll die Naturwissenschaften endgültig von naturphilosophischen Tendenzen befreien. Naturwissenschaft oder Naturphilosophie wäre somit die Frage, die noch immer einer endgültigen, vor allem allseits akzeptierten, Beantwortung harre und so sei der Streit um die Grenzen des Naturerkennens, um das Ignorabimus »förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth«2 geworden. 1

G. Gordon (Lord Byron), Don Juan (1818 / 19), in: Byron Poetical Works, hrsg. von F. Page, Oxford 1970, Canto the Eleventh I, 789. 2 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel. Vortrag gehalten in der öffentlichen

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Für Du Bois-Reymond ist es vor allem die Bestimmung der erkenntnistheoretischen Funktion der Materie, an der sich die Naturphilosophie von der Naturwissenschaft scheide. Der folgende Beitrag sucht Du Bois-Reymonds Bestimmung der Materie in Abgrenzung zu der von ihm kritisierten naturphilosophischen Bestimmung der Materie darzulegen, um zu überprüfen, ob und inwiefern der Begriff der Materie überhaupt zu einem Schibboleth werden konnte.

I. Goethe und die Grenze des Naturerkennens In der den Ignorabimus-Streit aufgreifenden Schrift Die sieben Welträtsel bezeichnet Du Bois-Reymond es als eine »triviale Wahrheit«3 daß der Wahlspruch4 der naturwissenschaftlichen Vernunft nicht anders als »Ignorabimus!« lauten könne. Während die Rätsel der Körperwelt dem Naturforscher nicht generell verborgen blieben, müsse der Naturforscher gegenüber dem Rätsel, was Kraft und Materie seien, einer möglichen Lösung entsagen. Das Ignorabimus des Naturwissenschaftlers ist ihm ein Faktum der naturwissenschaftlichen Vernunft. Auch Goethe, der den nicht unzweifelhaften Ruf eines Fürsprechers der Naturphilosophie genoß, konstatiert dem Forscher, durch Faust personifiziert, eine Erkenntnisgrenze. Die Frage nach dem ersten Prinzip alles Seienden, die Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, gibt ihm ein Rätsel auf, das Faust mit allen Mitteln zu lösen sucht. Die Schwierigkeit des Rätsels offenbart sich Faust im Johannes-Evangelium. »Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort! Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!

Sitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Feier des Leibnizischen Jahrestages am 8. Juli 1880, in: Ders., Ueber die Grenzen des Naturerkennens: zwei Vorträge, Leipzig 1882, 62. 3 Vgl. ebd., 61. 4 Vgl. E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens: ein Vortrag in der zweiten öffentlichen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872, Leipzig 1872.

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Doch auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.«5

Fausts Versuch, das »heilige Original«6, das Johannes-Evangelium, in sein »geliebtes Deutsch zu übertragen«7, verweist auf die sachhaltige Schwierigkeit, alles Entstehen und Vergehen auf ein Prinzip zurückzuführen. Selbst wenn es gelänge, alle Erscheinungen auf ein solches Prinzip zurückzuführen und damit ihrem Grunde nach zu erklären, so bleibt das Prinzip selbst – sofern es sich nicht auf ein anderes zurückführen läßt – unerklärt. Eben diese Unerklärbarkeit eines absoluten Erklärungsprinzips macht Du Bois-Reymond zum Gegenstand seiner Rede Über die Grenzen des Naturerkennens. So ist es für Du BoisReymond eine bloße Fiktion, die Kraft als dasjenige zu erkennen, worauf alles Entstehen und Vergehen letztendlich zurückgeführt werden könne. Die Kraft als Erklärungsprinzip der Bewegung und Veränderung bleibe selbst erklärungsbedürftig, das »bloße Surrogat einer Erklärung«8. Dieser Mangel liege in der Natur des menschlichen Intellektes begründet, der »von vornherein am Begreifen von Materie und Kraft scheitert.«9 Die Grenze des Naturerkennens sei darauf zurückzuführen, daß der Erklärungsgrund lediglich als ein gesetzter, ein behaupteter Erkenntnisgrund, nicht aber als Existenzgrund des Explanandum fungieren könne. Das Prinzip, auf das alle Naturerscheinungen zurückgeführt werden sollen, sei nichts weiter als eine erkenntnistheoretische Hypothese. Sobald aber das Wesen dieses Erklärungsprinzips, z. B. das Wesen der Materie oder der Kraft, bestimmt werden soll, stoße das erkennende Subjekt notwendig an seine Grenze, die »an sich transcendent«10 bleibe. Daß der menschliche Intellekt »von vornherein am Begreifen von Materie und Kraft scheitert«11, ist demnach nicht in der Endlichkeit, der Mangelhaftigkeit des menschlichen Verstandes begründet. Selbst »der von laplace gedachte, über den unseren so weit erhabene Geist würde in diesem Punkt nicht klüger sein als wir«12. Vielmehr sei es die erkenntnistheoretische Funktion als absolutes, als unbedingtes Prinzip, die Kraft und Materie selbst zu einem Jenseitigen werden lasse. Auch Goethes Faust erfährt eine Grenze seines Naturerkennens, 5

J. W. Goethe, Faust I, in: Johann Wolfgang Goethe. Werke in sechs Bänden, Bd. III, hrsg. von E. Staiger / W. Höllerer / H.-J. Weitz u. a., Frankfurt / M. / Leipzig 1993, 40. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 8. 9 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 67. 10 Ebd., 76. 11 Ebd., 67. 12 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 12 f. Vgl. E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 68.

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doch entspricht sie nicht dem Ignorabimus Du Bois-Reymonds. In seiner 1882 gehaltenen Rektoratsrede Goethe und kein Ende kritisiert Du Bois-Reymond den naturphilosophischen Grundtenor, den Goethe in seinem Faust erkennen lasse. Allein schon die von Faust in Erwägung gezogene Konsequenz aus dem Ignorabimus hält Du Bois-Reymond für eine »poëtische Übertreibung«13. Nicht die zum Selbstmord treibende Verzweiflung, sondern die reinste Beruhigung gehe einher mit dem Bewußtsein der eigenen Erkenntnisgrenze, »schon deshalb, weil zu wissen, dass und warum man nicht weiss, Wissen ist: wie denn Mathematik eine Aufgabe für bewältigt hält, deren Unlösbarkeit sie bewies.«14 Du Bois-Reymonds Kritik beschränkt sich aber nicht allein auf den Vorwurf der poetischen Übertreibung. Fausts Ignorabimus zeitige nicht nur unrealistische Konsequenzen, sondern mache zudem keinen Sinn. Der Dualismus von Materialismus und Spiritualismus scheint Faust unbezweifelbar zu sein, so daß sein Nicht-Wissen des Materiellen ihm den Weg in die Geisterwelt, wenn nicht gar eröffnet, so doch immerhin offenhält. »Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, daß wir nichts wissen können! […] Drum hab ich mich der Magie ergeben, Ob mir durch Geistes Kraft und Mund Nicht manch Geheimnis würde kund; Daß ich nicht mehr mit sauerm Schweiß Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau alle Wirkenskraft und Samen Und tu nicht mehr in Worten kramen.«15

Weil Faust keinen Zweifel an der Existenz einer Geisterwelt aufkommen lasse, die Erscheinung des Erdengeistes ihm den Dualismus verbürge, seien ihm »so wichtige Fragen gelöst, dass ihm auf das Uebrige, beispielsweise das Wesen

13

E. Du Bois-Reymond, Goethe und keine Ende. Rede bei Antritt des Rectorates der Koenigl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October 1882 gehalten, Leipzig 1883, 15. 14 Ebd. 15 J. W. Goethe, Faust I, a. a. O., 17.

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von Materie und Kraft, soviel nicht mehr ankommen kann.«16 Doch eben die Beantwortbarkeit der Fragen nach dem Wesen von Kraft und Materie sind für Du Bois-Reymond mit dem Ignorabimus unauflöslich verschränkt. Nicht die unmittelbare Schau aller Wirkenskraft, vielmehr die rationale Einsicht in die Unerkennbarkeit des Wesens der Naturkräfte soll aus dem Ignorabimus folgen. Anders als die Anerkennung der Beschränktheit des Naturerkennens, führe die Überzeugung von der Wirklichkeit einer jenseitigen Welt zur Resignation des Forschers.17 »[…] stelle man sich vor, wissenschaftlich gebildete Männer voll ernsten Erkenntnistriebes und von sittlicher Haltung, deutsche Professoren wie Faust mit einem Wort, erführen Dinge, welche ihnen die Ueberzeugung vom Dasein einer übersinnlichen Welt mit der unbedingten Gewißheit einer naturwissenschaftlichen Thatsache aufdrängten. […] Wer vermöchte den in unserer Weltanschauung bewirkten Umschwung zu schildern? Also es war doch so, und all unsere Schulweisheit ging fehl! Würden wir unter der Gewalt solcher Katastrophe nicht zerknirscht, nicht anbetend zusammensinken? Kaum dass uns Lust bliebe, die leuchtenden Gestalten spectroskopisch zu studiren, oder etwas von ihrer Substanz für die chemische Untersuchung aufzufangen.«18

Eben dieses Motiv des Naturforschers, seinen Gegenstand bis in das letzte Element zu untersuchen, auf das Innerste, was die Welt zusammenhält, zurückzuführen, bliebe Faust verschlossen. Die geistige Schau führe nicht das Anliegen des Naturforschers zu seinem erhofften Resultat, sondern beruhige den Wissenschaftler mit einer Geisterschau, die jede naturwissenschaftliche Tätigkeit obsolet werden lasse. Die theoretische Naturwissenschaft könne jedoch nicht eher ruhen, »als bis sie die Erscheinungswelt auf Bewegungen letzter Elemente zurückführte […]. Von dieser Art der Thätigkeit, und dem geistigen Bedürfniss, welche sie voraussetzt und zu befriedigen sucht, hatte goethe sichtlich keine Ahnung.«19 Für Du Bois-Reymond bleibt das Wesen der Natur unerkennbar. Materie und Kraft, die das Innerste der Welt bestimmten, seien selbst kein möglicher Gegenstand der Naturerkenntnis. Von dieser Unerkennbarkeit des Innersten der Natur bleibe die Naturwissenschaft aber unberührt. Die Naturwissenschaft 16

E. Du Bois-Reymond, Goethe und keine Ende, a. a. O., 16. Drängte sich »die Ueberzeugung vom Dasein einer übersinnlichen Welt mit der unbedingten Gewissheit einer naturwissenschaftlichen Thatsache« [ebd., 18] auf, bliebe dem Forscher kaum die Lust »die leuchtenden Gestalten spectroskopisch zu untersuchen, oder etwas von ihrer Substanz für die chemische Untersuchung aufzufangen.« (Ebd.). 18 Ebd., 18 f. 19 Ebd., 29. 17

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ist für Du Bois-Reymond nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die Erkenntnis von Funktionszusammenhängen der Naturerscheinungen. Wird die Materie als Funktion und nicht als Substanz begriffen, so kann der Naturforscher seinen Trieb mit der Zurückführung aller Erscheinungen auf Bewegungen letzter Elemente befriedigen, ohne die letzten Elemente selbst erkennen zu müssen. Goethes Anspruch an die Naturerkenntnis ist hingegen ein anderer. Wenn das Innerste der Natur nicht erkannt werden könne, dann bleibe allein der Weg der »geistigen Schau«, die intellektuelle Anschauung. Angesichts dieser Konsequenz verwundert es nicht, daß Du Bois-Reymond Goethe die Kenntnis des Begriffs der mechanischen Kausalität vollkommen abspricht.20 Diese Unkenntnis sei auch verantwortlich für das mangelhafte Verständnis der naturwissenschaftlichen Tätigkeit.

II. Physikalischer vs. philosophischer Atomismus Naturerkennen bzw. naturwissenschaftliches Erkennen definiert Du Bois-Reymond als »Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen«21. Dieses Naturerkennen scheint das Kausalitätsbedürfnis des Naturforschers zu befriedigen. Doch erklärt Du Bois-Reymond diese Vorstellung des Atomismus zu einem bloßen »Surrogat einer Erklärung.«22 Für den »Zweck unserer Physikalisch-mathematischen Überlegungen«23 sei der Atomismus zwar brauchbar, sobald aber über die Grenzen der an die atomistische Vorstellung zu stellenden Forderungen hinausgegangen werde, verfalle die Erklärung in unaufhebbare Widersprüche. Der Grund für diese Schwierigkeit liege in der mangelhaften Unterscheidung zwischen einem physikalischen und einem philosophischen Atom. Während das physikalische Atom eine »in sich schlüssige und unter Umständen nützliche Fiction der mathematischen Physik«24 sei, sei das philosophische Atom »ein Unding«25. Gemäß der philosophischen Vorstellung sei das Atom »eine angeblich nicht weiter teilbare Masse trägen wirkungslosen Substrates, von welcher durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte ausgehen«26. Soll dem Atom eine objektive Realität zugesprochen werden, muß es als ein Reales im Raum vorgestellt werden können.

20 21 22 23 24 25 26

Vgl. Ebd. E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 2. Ebd., 8. Ebd., 9 Ebd., 10. Ebd. Ebd.

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Mit dem gleichen Argument fordert schon Kant die unendliche Teilbarkeit der Materie: Der Materie könne nur unter der Voraussetzung eine objektive Realität zugesprochen werden, daß sie als ein Reales im Raume vorstellbar sei. Die Teilbarkeit der Materie erscheint so mit der Teilbarkeit des Raumes verschränkt. Läßt sich die Teilbarkeit des Raumes begründen, so ist an eine Unteilbarkeit der Materie nicht zu denken. Der Beweis der unendlichen Teilbarkeit des Raumes impliziert aber nur unter der Voraussetzung, »daß in jedem Theile des Raumes materielle Substanz sei«27, den Beweis der unendlichen Teilbarkeit der Materie. Umgekehrt muß, sofern der Raum die Form der Materie (als das Reale im Raum) ist, jeder Teil der Materie sich im Raum befinden. Werden sowohl die Möglichkeit eines leeren Raumes als auch die Möglichkeit einer ortsunbestimmten Materie geleugnet, so folgt daraus die Untrennbarkeit von Raum und Materie. Wenn der Raum und das den Raum Erfüllende nicht voneinander zu trennen sind, muß auch das im Raum Existierende auf die gleiche Art und Weise teilbar sein. Die Problematik des Verhältnisses von mathematischer Teilbarkeit des Raumes und physischer Teilbarkeit der Substanz thematisiert Kant in seinen Metaphysische(n) Anfangsgründe(n) der Naturwissenschaften von 1786.28 Die Auflösung dieser Schwierigkeit soll der Mathematik zu einer sicheren Anwendung auf die Naturwissenschaften verhelfen. Der Lösungsansatz stützt sich jedoch nicht auf den Begriff der Materie als einer intensiven Größe, die die Anwendung der Mathematik ermögliche, sondern darauf, daß sowohl der Raum als auch die Materie bloß in der Vorstellung als subjektive Vorstellungsarten, nicht aber an sich wirklich seien. Die Materie unter der Bezeichnung des Realen oder der Substanz im Raum als dasjenige, was nur durch sein Verhältnis zum Erkenntnisvermögen bestimmt sei, stimmt nicht überein mit der Materie als dem Realen in der Erscheinung, was als intensive Größe ein Moment von Selbständigkeit gegenüber der Wahrnehmung hat. Die Substanz im Raum ist für Kant keine einfache Substanz oder Monade, sondern eine unendlich teilbare Erscheinung. Die Annahme einer physischen Monadologie führte auf eine unvollständige Anwendbarkeit der Mathematik auf die Naturwissenschaften, denn eine kontinuierliche Erfüllung des Raumes durch physische Monaden läßt sich nicht denken. Kants Vorstellung der Substanz im Raum als eine unendlich teilbare Erscheinung entspricht somit der äußerst »nützlichen Ficktion« Fechners, insofern sie kein Moment von Selbständigkeit gegenüber der Wahrnehmung hat und allein durch ihr Verhältnis zum Erkenntnisvermögen bestimmt ist. Das Dilemma des philosophischen Atomismus läßt sich für Du Bois-Reymond folgendermaßen zusammenfassen: Entweder das 27

I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. IV, Berlin 1968, 481. 28 Vgl. Anmerkung 2 zum 4. Lehrsatz der Dynamik, ebd., 505 ff.

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Atom hat in der Wirklichkeit Bestand, existiert demnach im Raum und muß folglich entgegen seiner Bestimmung wie der Raum teilbar sein, oder das Atom ist ein Unding. Die physikalische Vorstellung des Atomismus entgehe dieser Schwierigkeit, indem sie das Atom als eine »verschwindend klein gedachte, ihres Namens ungeachtet in der Idee aber nocht theilbare Masse«29 vorstelle. Als Hypothese, als Fiktion könne das physikalische Atom uneingeschränkt als Erklärungsgrund der Naturerscheinungen fungieren, solange die Grenze nicht überschritten werde und nach dem Wesen des hypostasierten Atoms geforscht werde. Die Supposition der unendlichen Teilbarkeit der Materie sei für die naturwissenschaftliche Erkenntnis zwingend, denn hören »wir nun irgendwo willkürlich mit der Theilung bei angeblichen philosophischen Atomen auf, die nicht weiter theilbar, vollkommen hart und überdies an sich wirkungslos und nur Träger der Centralkräfte sein sollen: so verlangen wir von einer Materie, die wir uns unter dem Bilde der Materie denken, mit der wir Umgang haben, ohne dass wir irgend ein neues Erklärungsprincip einführen, dass sie neue, ursprüngliche, das Wesen der Körper aufklärende Eigenschaften entfalte.«30 Du Bois-Reymonds Kritik der Theorien der Materie und der Kraft bleibt in seinem Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens rudimentär. Doch unterläßt er es nicht, in einer Anmerkung31 auf Gustav Theodor Fechners Arbeit Über die physikalische und philosophische Atomenlehre von 1855 hinzuweisen, die er seinen Überlegungen zugrundelegt. Fechner wendet sich vor allem gegen die dynamische Auffassung von Kraft und Materie, die ihren Ausgang bekanntlich von Kant genommen habe.32 Die Zurückführung des Materiebegriffs auf den Kraftbegriff kennzeichnet Fechner, mit Kant übereinstimmend, als die wesentliche Bestimmung der dynamischen Naturauffassung.33 »Das allgemeine Princip der Dynamik der materiellen Natur ist: daß alles Reale der Gegenstände äußerer Sinne […] als bewegende Kraft angesehen werden müsse […]«.34

Für Fechner ist die dynamische Naturauffassung das Synonym schlechthin für die verfehlte Naturphilosophie. Es ist vor allem Schelling, gegen den die 29

E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 9. Ebd., 12. 31 Vgl. Anmerkung 5 zu Seite 12, ebd., 37. 32 Vgl. G. Th. Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre (1855), hrsg. von E. Bock, Wien / New York 1995, 110. 33 Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, a. a. O., 534: »vielmehr besteht alle Naturphilosophie in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zur Erklärung der Wirkungen der ersten zulangen«. 34 Ebd., 523. 30

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Kritik an einer apriorischen Konstruktion der Materie aus einander entgegengesetzten Kräften sich richtet. Die »a priori abgeleitete Construktion der Materie« gibt für Schelling »die Grundlage zu einer allgemeinen Theorie der Naturerscheinungen«,35 die alle möglichen Spezifikationen umfasse. Aus einer erfahrungsunabhängigen Konstruktion soll die Materie, nicht als ein Substrat überhaupt, sondern in der Mannigfaltigkeit aller möglichen Erscheinungsformen deduziert werden. In dieser Konsequenz geht Schelling jedoch über Kant hinaus. Für Kant ist es die Aufgabe der dynamischen Naturphilosophie, die systematische Vernunfteinheit der Erklärungen zu konstituieren. Die dynamische Naturphilosophie »welche aus Materien nicht als Maschinen, d. i. bloßen Werkzeugen äußerer bewegenden Kräfte, sondern ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften der Anziehung und Zurückstoßung die specifische Verschiedenheit der Materie ableitet«36, könne nicht dazu dienen, ausschließlich aus der Erfahrung zu erschließende Kräfte a priori einzusehen. Somit sei es undenkbar, mannigfaltige Spezifikationen der Materie aus den Kräften konstruieren zu wollen. »Der Begriff der Materie wird auf lauter bewegende Kräfte zurückgeführt […]. Allein wer will die Möglichkeit der Grundkräfte einsehen? […] [Man kann sich] doch nicht anmaßen, eine derselben als wirklich anzunehmen, weil zur Befugnis eine Hypothese zu errichten unnachahmlich gefordert wird: daß die Möglichkeit dessen, was man annimmt, völlig gewiß sei, bei Grundkräften aber die Möglichkeit derselben niemals eingesehen werden kann.«37

Die Bestimmung des Begriffs der Materie kann für Kant nicht über das hinaus gehen, was unter einem allgemeinen Begriff der Materie überhaupt subsumiert werden könne.38 Anders als Schelling setzt Kant die Materie als das Subjekt der Bewegung seinem Dasein nach metaphysisch voraus. Nicht das Dasein, sondern das Wesen der Materie, das erste, innere Prinzip alles dessen, was 35

F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), in: Schellings Werke, hrsg. von M. Schröter, 453, SW III, 453. 36 I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, a. a. O., 532. 37 Ebd., 524. 38 Vgl. ebd., 524 f.: »Man hüte sich aber über das, was den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt möglich macht, hinaus zu gehen und die besondere oder sogar specifische Bestimmung und Verschiedenheit derselben a priori erklären zu wollen. […] Denn die Möglichkeit der Gestalten sowohl als der leeren Zwischenräume läßt sich mit mathematischer Evidenz darthun; dagegen, wenn der Stoff selbst in Grundkräfte verwandelt wird (deren Gesetze a priori zu bestimmen, noch weniger aber eine Mannigfaltigkeit derselben, welche zu Erklärung der specifischen Verschiedenheit der Materie zureichte, zuverlässig anzugeben, wir nicht im Stande sind), uns alle Mittel abgehen, diesen Begriff der Materie zu construiren und, was wir allgemein dachten, in der Anschauung als möglich darzustellen.«

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zur Möglichkeit der Materie gehört,39 soll mit der Konstruktion der Materie aus den beiden Grundkräften erklärt werden. Kants metaphysische Naturwissenschaft »legt den empirischen Begriff einer Materie […] zum Grunde und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist […]«.40 Die »Nachforschung der Metaphysik hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zu Grunde liegt«, könne allein dazu dienlich sein, die Naturphilosophie »auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten […]«.41 Allein die Supposition dynamischer Erklärungsgründe lasse, so Kant, auf eine Begründung bestimmter Gesetze hoffen. Zu einer Deduktion bestimmter Gesetze könnten die dynamischen Erklärungsgründe hingegen keinen Ansatz bieten. Fechners Kritik richtet sich nicht gegen die von Kant geforderten dynamischen Erklärungsgründe, sondern gegen die vor allem von Schelling gestützte Vorstellung der Konstruktion der Materie ihrer Existenz nach aus der Entgegensetzung von Repulsions- und Attraktionskraft.42 Die Behauptung, ein »Konflikt entgegengesetzter Kräfte«43 sei dasjenige, »was aus der Kraft den Körper macht«44, ist seines Erachtens unhaltbar. Weit davon entfernt als Erklärungsgrund fungieren zu können, seien »weder dieser Konflikt noch die den Körpern vorgängigen Kräfte«45 selbst begründet. Vielmehr fallen sie »in jenen transzendenten Äther, in dem die Worte umsonst herumschiffen, einen festen Ankerplatz zu finden.«46 Der philosophische Begriff der Materie sei kaum mehr als ein Hirngespinst, »die der Materie aprioristischen Kräfte des Philosophen sind nicht unmittelbar aufzeigbar und bloß erläuterbar durch dieselben aposteriorischen Kräfte, welche der Physiker vor Augen hat«.47 Weil die die Materie ursprünglich konstituierenden Kräfte selbst ausschließlich in der Erfahrung zu erkennen seien, sei die aprioristische Erklärung der Materie schon in ihrem Ansatz undenkbar. Die Philosophie verwende zur Erklärung der Materie ein Prinzip, das selbst »in einem (gesetzlichen) Bezuge von Materien begründet«48 sei. Dem Physiker sei die Kraft nicht etwas Ursprüngliches, sondern »weiter nichts als ein Hilfsausdruck zur Darstellung der Gesetze des Gleichge-

39 40 41 42

Vgl. ebd., 468 *). Ebd., 470. Ebd., 534. Vgl. G. Th. Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre, a. a. O.,

110. 43 44 45 46 47 48

Ebd., 112. Ebd., 113. Ebd. Ebd. Ebd., 116. Ebd.

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wichts und der Bewegung«49 der Materie. Daraus folgt für Fechner auch, daß die Materie »die allgemeinste Unterlage der Naturerscheinung«50 ist. Der Physiker begreife die Materie als »dasjenige, was sich dem Tastgefühle bemerklich macht, das ist eben das Handgreifliche […]«.51 Der Philosoph hingegen verfolge den Begriff der Materie in die Leere, indem er ihn »hinter das Erscheinliche zurückzuverfolgen meint«52. Doch hinter das Handgreifliche, hinter die Erscheinung könne die Naturerkenntnis nicht zurück. Die Materie sei nur als Erscheinung, nicht aber als Ding an sich erkennbar. »Die Sachlage ist die, daß die physikalische Atomistik, indem sie eine Gliederung und Untergliederung der Körper über das scheinbare Kontinuum hinaus in diskrete Teile fordert, behauptet und beweist, und darin liegt ihr Wesen, doch über die Beschaffenheit der letzten Glieder, der Grundatome, noch nichts Bestimmtes auszusagen vermag.«53

Dieses Unvermögen, über die letzten Glieder etwas Bestimmtes auszusagen, macht den Kern des von Du Bois-Reymond ausgesprochenen Ignorabimus aus. Der Wahlspruch der naturwissenschaftlichen Vernunft muß Du Bois-Reymond trivial erscheinen, hebt er doch nur hervor, was schon 17 Jahre vor seinem Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens ausgesprochen wurde. Aber auch Fechner gilt Du Bois-Reymond nicht als erster Verkünder der Grenzen des Naturerkennens. So habe schon La Mettrie mit »der aufrichtigen Bescheidenheit des Naturforschers […] die beiden Grenzen des menschlichen Erkennens«54 bezeichnet. Der Streit, den Du Bois-Reymonds Ignorabimus ausgelöst hat, macht deutlich, wie sehr die Auseinandersetzung um den Begriff und die Funktion der Naturwissenschaften noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der naturwissenschaftlichen Praxis hinterherläuft. In seiner 1880 an der Akademie der Wissenschaften gehaltenen Rede Die sieben Welträtsel bezeugt Du Bois-Reymond sein Erstaunen über die Reaktionen auf seine Ignorabimus-Rede. Ihm sei bekannt gewesen, daß »falsche Begriffe weit verbreitet seien; fast aber schämte ich mich, den Deutschen Naturforschern so abgestandenen Trunk zu schenken […]«.55 Zu trivial56 erscheint ihm die Rede von der Grenze naturwissenschaftli49

Ebd., 113. Ebd., 101. 51 Ebd., 100. 52 Ebd., 104. 53 Ebd., IV. 54 E. Du Bois-Reymond, La Mettrie. Rede in der öffentlichen Sitzung der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zur Gedächtsnisfeier Friedrichs II. am 28. Januar 1875 gehalten, Berlin 1875, 25. 55 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 61 f. 56 Vgl. ebd., 61. 50

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cher Erkenntnis. Der Streit um das Ignorabimus ist ihm weniger Ausweis der »Neuheit«57 seiner Überlegungen, als ein Indiz für die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart. Nicht die naturwissenschaftliche Methode, die gesunde Verallgemeinerung der Induktion, sondern »die erbliche Neigung zu ungezügelter Speculation«58 drohe in Deutschland sich (wieder) durchzusetzen. »Im Abscheu der falschen Naturphilosophie erwachsen, müssen wir erleben, dass das uns folgende Geschlecht, welches wir strenge geschult zu haben glaubten, in Fehler zurückfällt, von denen das Geschlecht vor uns sich zürnend abwandte.«59

Die Frage der Erkennbarkeit von Kraft und Materie, der Erkennbarkeit dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, trennt die naturphilosophische von der naturwissenschaftlichen Betrachtung. Für den Naturwissenschaftler Du Bois-Reymond markieren Kraft und Materie eine transzendente Grenze der möglichen Naturerkenntnis. In diesem Methodenstreit zwischen Naturwissenschaftlern und Naturphilosophen fand die Auseinandersetzung um die Grenzen des Naturerkennens einen von Du Bois-Reymond offensichtlich unvorhergesehenen Nährboden. Das »Wort Ignorabimus, in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schibboleth.«60

In diesem Sinne läßt sich das Ignorabimus nicht als Bescheidung oder gar als Beschneidung des naturwissenschaftlichen Anspruchs begreifen, sondern vielmehr als eine Rückbesinnung auf die Naturwissenschaften als positive Wissenschaften, die sich von jeglicher Spekulation fernzuhalten haben. Doch auch diese Forderung der strikten Trennung von (positivem) Wissen und metaphysischer Spekulation ist keine »Neuheit«61: »our days are too brief for affording Space to dispute what no one ever could Decide, and everybody one day will Know very clearly – or at least lie still. And therefore will I leave off metaphysical Discussion, which is neither here nor there«62 57

Ebd., 62. E. Du Bois-Reymond, Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart. Festrede gehalten in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtstagsfeier seiner Majestät des Kaisers und Königs am 23. März 1882, Berlin 1882, 6. 59 Ebd. 60 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, a. a. O., 62. 61 Ebd. 62 G. Gordon (Lord Byron) Don Juan, a. a. O., Canto the Eleventh, IVf., 789. 58

Alexander C. T. Geppert

Okkultismus als Anti-Ignorabimus: Zur Geschichte einer epistemischen Mesalliance, 1872–1913 »Dieses Gebiet, auf welchem wir dem Ignorabimus entrinnen können, ist der Okkultismus.« Carl du Prel (1910)1

I. Città occulta, 1872–1877 Emil Du Bois-Reymond hielt seinen epochemachenden Vortrag Über die Grenzen des Naturerkennens vom 14. August 1872 gleichsam fünf Jahre zu früh, als daß sich deutsche Okkultisten und Spiritisten von Beginn an intensiv an dem sich daraufhin entzündenden Ignorabimusstreit hätten beteiligen können. Obgleich es nicht unwahrscheinlich ist, daß an der in Leipzig abgehaltenen 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte auch mit dem Übersinnlichen liebäugelnde Wissenschaftler teilnahmen, hielt sich zu diesem Zeitpunkt das in der Öffentlichkeit geäußerte Interesse am Studium des Übersinnlichen noch in vergleichsweise engen Grenzen.2 Organisierten Okkultismus gab es in Deutschland 1872 kaum. Die 1848 von Klopfgeistern und automobilen Tischen im Hause eines Farmers in Hydesville bei New York ausgelöste amerikanische rapping mania hatte im Jahre 1853 über die respektable Gesellschaft der norddeutschen Hansestädte auch Deutschland erreicht und sich hier ebenfalls schnell zu einer weit verbreiteten Mode der gesellschaftlichen Abendunterhaltung im bürgerlichen Salon entwickelt. Gleichwohl hatte das Interesse am Tischrücken und -klopfen um die Jahrhundertmitte nur saisonalen Charakter, ebbte bereits nach wenigen Monaten wieder ab und zeitigte zumindest in 1

C. du Prel, Der Tod. Das Jenseits. Das Leben im Jenseits, München 1899, hier zitiert nach der 3. Auflage, Leipzig 1910, 84. Der vorliegende Text knüpft an einige Überlegungen an, die ich an anderer Stelle gemeinsam mit Andrea Braidt unter dem Titel Moderne Magie. Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880–1930 [in: Dies. (Hg.), Orte des Okkulten, Wien 2003 (=Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14.4), 7–36] vorgestellt habe; dort finden sich auch ausführliche Hinweise auf die umfangreiche und in weiten Teilen bislang nur unzureichend erschlossene zeitgenössische Literatur. Für Kommentare und Kritik danke ich Peter Becker, Dorothee Dehnicke, Till Kössler und Thomas Laqueur. 2 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens. In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehaltener Vortrag, in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 1, Leipzig 21912, 441–473. H. Schipperges (Hg.), Die Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1968.

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Deutschland kaum längerfristige, traditionsbildende oder gar institutionalisierende Wirkungen.3 Im Gegensatz zum englischen plebeian spiritualism, welcher eine klassenbezogene Gesellschaftskritik unmittelbar mit dem sozialkritischen Potential der von ihm propagierten Zukunftsentwürfe zu verbinden trachtete, entwikkelte sich in Deutschland kein auf soziale Reformen setzender Spiritismus der Unterschichten. Auch im Göttinger Materialismus-Streit von 1854 spielten im engeren Sinne spiritistische oder im philosophischen Sinne spiritualistische Positionen keine entscheidende Rolle, obwohl dort für die Okkultisten Entscheidendes verhandelt wurde.4 Die »Zeit des Spiritismus in Deutschland«, faßte der Bonner Philosophieprofessor Jürgen Bona Meyer (1829–1897) die

Abb. 1 und 2: Experiment mit Holzringen, Darmsaiten und einem kleinen Tisch, in: F. Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2.2, Leipzig 1878, Tafel XIII.

Situation im Mai 1877 knapp zusammen, sei »noch nicht gekommen«. Etwas überpointiert haben Historiker wie Ulrich Linse oder Diethard Sawicki dementsprechend für die zweite Hälfte der 1850er bis in die späten 1870er Jahre das Bild einer »dunklen Zeit« des deutschen Spiritismus gezeichnet und generell ein »öffentliches Desinteresse« konstatiert, das sich etwa an der geringen Anzahl von Vereinsgründungen, Publikationsziffern und Auflagenhöhen ablesen lasse.5 3

Vgl. E. Isaacs, The Fox Sisters and American Spiritualism, in: H. Kerr / Ch. L. Crow (Hg.), The Occult in America. New Historical Perspectives, Urbana / Chicago 1983, 79–110. Der Import des amerikanischen table moving in den deutschen Kontext lässt sich bis zu einem einzigen ›Gründungstext‹ zurückverfolgen: K. Andrée, Geisterklopfen und Tischrücken in den Hansestädten, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (Beilage) 94 (04.04.1853), 1497 f. 4 Mehr als fünfzig Jahre später zusammenfassend F. Klimke, Der deutsche Materialismusstreit im neunzehnten Jahrhundert und seine Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart, in: Frankfurter Zeitgemässe Broschüren 26.9 (15.06.1907), 249–285. Zum begrifflichen Unterschied zwischen Spiritualismus und Spiritismus siehe unten. 5 J. B. Meyer, Der Glaube an Geistererscheinungen in unserer Zeit. Eine Schilderung und Betrachtung, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches

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Ungewöhnlich präzise kann nur wenige Monate später, im Winter 1877/78, ein radikaler Stimmungsumschwung diagnostiziert werden. Als der Astrophysiker Johann Karl Friedrich Zöllner (1834–1882) seine so genannten, später berühmt gewordenen »Knotenexperimente« mit dem berüchtigten und in London wegen Betrugs verurteilten amerikanischen Medium »Dr.« Henry Slade (1840–1905) durchzuführen begann, um die Existenz einer vierten Dimension wissenschaftlich zu beweisen [Abb. 1 und 2], mutierte Leipzig mit der »blühendsten deutschen Universität« und dem dort seit 1872 beheimateten Verlag von Oswald Mutze zur veritablen città occulta und galt bald als »Mittelpunkt für den deutschen Spiritismus.«6 Dies erwies sich wiederum als Initialzündung für die Entstehung einer breitenwirksamen spiritistischen Bewegung, die sich von dort in ganz Deutschland ausbreitete – und somit das Ende der etwa zwei Jahrzehnte anhaltenden Baisse des Übersinnlichen. »Deutschland hat sich bis ganz vor kurzem dem Spiritismus gegenüber recht kühl verhalten,« umriß der katholische Präses G. Hagemann wenige Jahre später in einem Literaturbericht knapp den neuen Stand der Dinge, »erst durch das Zusammentreffen des Amerikaners Slade mit Friedrich Zöllner, dem berühmten Leipziger Astrophysiker, kam die spiritistische Frage […] in lebendigen Fluß.«7 Zur selben Zeit wurden mit Psychische Studien: Monatliche Zeitschrift, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet ebenfalls eine der in den folgenden Jahren auf diesem Gebiet meistgelesenen und einflußreichsten Zeitschriften gegründet, die immerhin bis 1925 kontinuierlich publiziert wurde.8 Ein derartig gestiegenes Interesse an der Beschäftigung mit dem Jenseitigen und Übersinnlichen hielt bis etwa um die Jahrhundertwende an und erlebte während des Ersten

Leben 11.17 / 18 (28.04. / 05.05.1877), 265–267, 283–836, hier 284. U. Linse, ›Das Buch der Wunder und Geheimwissenschaften.‹ Der spiritistische Verlag Oswald Mutze in Leipzig im Rahmen der spiritistischen Bewegung Sachsens, in: M. Lehmstedt / A. Herzog (Hg.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, 219–244, hier 224; D. Sawicki, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn 2002, 282–296. 6 [A. Dove], Der Spiritismus in Leipzig, in: Im Neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 19 (02.05.1878), 721–735, hier 722; als überaus kritische Replik auf diese Satire G. C. Wittig, Der Spiritismus in Leipzig. Von einem Anonymus. Eine kritische Besprechung, in: Psychische Studien 5.6 (Juni 1878), 254–264. Der Spiritismus, in: Illustrirte Zeitung 1796 (01.12.1877), 443 f. 7 G. Hagemann, Der Spiritismus und seine Literatur, in: Literarischer Handweiser. Zunächst für das katholische Deutschland 19.9 / 263, 19.10 / 264, 19.11 / 265, 19.16 / 270, 19.17 / 271 (27.04., 11.05., 25.05., 17.08., 07.09.1880), 257–262, 289–292, 321–326, 481–486, 513–516, hier 262. 8 Psychische Studien. Monatliche Zeitschrift, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet, 52 Bde., Leipzig 1874–1925.

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Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit eine zweite, europaweit bis dato ungekannte Hochkonjunktur, nicht zuletzt aufgrund der mit der hohen Anzahl von Kriegstoten einhergehenden Verlusterfahrungen und dem Bedürfnis nach kollektiver Trauerarbeit. Einer der prominentesten Zeitgenossen, der mit Hilfe eines Mediums Kontakt zu seinem im Krieg gefallenen Sohn und anderen Angehörigen im Jenseits aufzunehmen suchte und sich bald in einer Vielzahl von Publikationen stark für den Spiritismus einzusetzen begann, war der Erfinder des berühmtesten Rationalisten des 19. Jahrhunderts schlechthin, Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930).9 Die Reaktionen der sich zusehends formierenden und organisierenden Okkultisten auf Du Bois-Reymonds Vorstoß blieben jedoch auch nach 1877/ 78 eher verhalten und gut überschaubar, obschon die von dem Berliner Physiologen losgetretene Debatte noch jahrzehntelang fortgesetzt wurde und sich das von ihm geprägte »ignoramus? ignorabimus!« zu einem häufig zitierten Schlagwort entwickelte.10 »Ignorabimus (lat., ›wir werden es nie erkennen‹), durch Du Boys-Reymonds Rede Über die Grenzen des Naturerkennens (1872) verbreiteter Ausdruck; jetzt sprichwörtlich gebraucht, um die Schranken der menschlichen Erkenntnis zu bezeichnen,« hieß es etwa mehr als dreißig Jahre später in der sechsten Auflage von Meyers Großem Konversationslexikon.11 Rudolf Virchows »restringamur« (»wir müssen uns beschränken«) oder Ernst Haeckels »impavidi progrediamur« (»unerschrocken schreiten wir vorwärts«) spielten auf Du Bois-Reymonds Ausspruch an und funktionierten überhaupt nur als Referenz, erwiesen sich jedoch auch im Entferntesten nicht so erfolgreich und folgenreich wie das Original. Aufgrund seines radikalen Infragestellens der erkenntnistheoretischen Ansprüche der Naturwissenschaften und des damit einhergehenden Strebens nach einem alleinigen Weltdeutungsmonopol hätte eine aktive Beteiligung am Ignorabimus-Streit auf Seiten der schnell wachsenden Zahl der mit dem Übersinnlichen liebäugelnden Privatiers und Wissenschaftler wohl grundsätzlich nahe gelegen. Doch die in der Öffentlich-

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Conan Doyle publizierte von 1916 bis 1930 zu diesem Thema zahlreiche Schriften in unterschiedlichen Formaten, darunter elf Bücher. Vgl. nur Ders., A New Revelation. Spiritualism and Religion, in: The New York Times (26.11.1916), 5 / 3; Ders., Spiritualism and Rationalism. With a Drastic Examination, London 1920; Ders., The Wanderings of a Spiritualist, London 1921. Dazu brilliant Alex Owen, ›Borderland Forms‹. Arthur Conan Doyle, Albion’s Daughters, and the Politics of the Cottingley Fairies, in: History Workshop Journal 38 (1994), 48–85. 10 K. Bayertz, Das ›leidige Ignorabimus‹. Ein Abgesang auf den naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 189–202, hier insbes. 200. 11 Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 9, Leipzig / Wien 61908, 747.

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keit von Vertretern des Okkultismus geäußerten Reaktionen auf diese Art von claim und selbsterklärter, exklusiver Zuständigkeit blieben lange Zeit überaus zurückhaltend. Obgleich die Okkultisten beständig genau diejenigen Grenzen des Naturerkennens für sich zu überschreiten beanspruchten, deren Existenz und prinzipielle Unüberwindbarkeit Du Bois-Reymond in seinem Vortrag postuliert hatte, und Streit somit hätte vorprogrammiert sein müssen, lassen sich direkte Querverbindungen und unmittelbare Bezugnahmen zwischen Okkultismus und Ignorabimus in den Quellen in sehr viel geringerem Maße nachweisen als zunächst erwartet. Zu einer expliziten Auseinandersetzung kam es nicht. Von einer zeitnahen und vollständigen Rezeption kann somit keine Rede sein, wohl aber von einem komplizierten und sich in der Tat über Jahrzehnte erstreckenden Mißverhältnis. Wie aber ist dieses Ausbleiben einer dezidierten Reaktion zu erklären? Warum nahmen Vertreter des Okkultismus entweder kaum oder ausschließlich hochpolemisch zu Du Bois-Reymonds Vorstoß Stellung, obwohl sein Versuch einer doppelten Grenzziehung ihre Sache im Kern traf? Aus welchem Grund blieben ihre Antworten auf seine Generalattacke über Jahrzehnte hinweg so verhalten, wieso entwickelte keiner ihrer zahlreichen Anwälte, Popularisierer und Fürsprecher eine systematische Gegenposition und vertrat diese mit Nachdruck in der Öffentlichkeit? Der vorliegende Aufsatz deutet diesen kontraintuitiven Befund als ›epistemische Mesalliance‹ und versucht, anhand der weitgehend ausgebliebenen Auseinandersetzung mit dem Ignorabimus einige der erkenntnistheoretischen Grundannahmen des Okkultismus freizulegen. Gleichzeitig ist es umgekehrt die beständige, fast schon penetrante Kritik an den für absolut willkürlich erachteten Grenzziehungs- und Absetzungsversuchen der etablierten Naturwissenschaften, welche die Thematisierung dieser Grundlagen im Kontext des Ignorabimus-Streites als des letzten der drei großen wissenschaftstheoretischen und weltanschaulichen Fundamentalauseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts rechtfertigt.

II. Transzendentalphysik als werdende Wissenschaft: Die heuristische Vorläufigkeit des Okkultismus, 1870–1900 Wer sich heute mit Praktiken, Repräsentationsformen und Wahrnehmungsweisen des Übersinnlichen im späten 19. Jahrhundert auseinandersetzt, stößt auf eine nahezu unüberschaubare Vielzahl teils überlagernder, teils korrelierender, partiell indes gegenseitig ausschließender Begrifflichkeiten, die sich zudem in ihrem Verhältnis zueinander historisch immer wieder verschoben haben. Es fällt dementsprechend schwer, eindeutige und vollständig trennscharfe Abgrenzungen zwischen zeitgenössischen Bezeichnungen wie »Okkul-

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tismus«, »Spiritismus«, dem oftmals synonym verwendeten »Spiritualismus«, »Mediumismus«, »Wunder-« oder »Aberglauben« vorzunehmen, welche heute allesamt der Geschichte der westlichen Esoterik zugerechnet und als unterschiedliche Varianten alternativer Modernitäten verstanden werden.12 Als weitreichender und umfassender historischer Oberbegriff kann der des Okkultismus gelten. 1856 von dem Franzosen Alphonse-Louis Constant alias Eliphas Lévi (1810–1875) geprägt, fungierte der Terminus lange als keineswegs pejorativ besetzte und überaus gebräuchliche Sammelbezeichnung, welche noch um 1900 synonym mit dem ebenfalls direkt auf Lévi zurückgehenden Begriff »Esoterik« verwendet wurde. Menschen bezeichneten sich selbst als »Okkultisten«, weil sie die verborgene Seite der Natur zu erkennen intendierten oder zu erforschen beanspruchten; gleichzeitig wurde der Begriff stellvertretend zur Bezeichnung geheimer Praktiken, bislang verborgen gebliebener Einsichten oder nicht-öffentlicher Rituale verwendet. Eigen- und Fremdwahrnehmung differierten dabei erheblich: Während Kritiker den Protagonisten okkultistischer Praktiken und Experimente immer wieder gravierende methodische Unzulänglichkeiten und vorsätzlichen Betrug nachzuweisen suchten, insistierten diese regelmäßig auf der Nähe zu den empirischen Naturwissenschaften und ihrer etablierten ›harten‹ Methodologie. Carl Kiesewetter (1854–1895) bezeichnete etwa in seiner 1891 erschienenen Geschichte des Neueren Occultismus okkulte Vorgänge als «alle jene von der offiziellen Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens […], deren Ursachen den Sinnen verborgene, occulte, sind.« In strikter Abgrenzung zum »spekulativen Occultismus« sei, so Kiesewetter weiter, der moderne Okkultismus nicht nur als integraler, sondern sogar als zentraler Bestandteil der Naturwissenschaften zu begreifen. Er habe sich der experimentellen Erforschung unsichtbarer, in der Natur aus- und auf den Mensch einwirkender Kräfte verschrieben und wende dafür schlechterdings dieselben empirischen, intersubjektiv kontrollierbaren Methoden an, welche in den Naturwissenschaften längst als Standards etabliert und erfolgreich kodifiziert worden seien.13 Ganz ähnlich wollte der Münchner Privatgelehrte, philosophische Schriftsteller, promovierte Infanterieoffizier und bekennende Spiritist Carl Freiherr du Prel (1839–1899) [Abb. 3] den Okkultismus durch

12

Vgl. etwa W. J. Hanegraaff, Beyond the Yates Paradigm. The Study of Western Esotericism between Counterculture and New Complexity, in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 1.1 (2001), 5–37 und H. Zander, Spiritismus in Deutschland, in: ebd., 3.1 (2003), 83–93. Zuletzt Thomas Laqueur, Why the Margins Matter. Occultism and the Making of Modernity, in: Modern Intellectual History 3.1 (2006), 11–135. 13 C. Kiesewetter, Geschichte des Neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheym bis zu Carl du Prel, Leipzig 1891, XI.

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direkten Bezug auf die empirischen Wissenschaften positioniert wissen. »Der Occultismus ist nur unbekannte Naturwissenschaft«, erklärte du Prel in seiner populären, 1893 in Reclams Universal-Bibliothek erschienenen Schrift Der Spiritismus: »Er wird bewiesen werden durch die Naturwissenschaft der Zukunft; aber prinzipielle Einwendungen kann schon der Naturforscher von heute nicht mehr machen.«14 Reproduktion und Erklärung der mittels strikt kontrollierter Experimente gewonnenen Forschungsergebnisse wurden indes auf die Zukunft verschoben. Zöllner, Kiesewetter, du Prel und viele andere führten denn auch über Jahrzehnte hinweg erregte Debatten um die Möglichkeit anderer Wirklichkeiten als der mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Mitteln erfaßbaren Natur. Sie begriffen sich selbst als avantgardistische cutting edge-Wissenschaftler, die dicht an der Grenze aktuell verfügbarer Wissensbestände operierten und sie beständig auszudehnen, wenn nicht gar zu überwinden trachteten. Gleichwohl schienen ihre para- und a-normalen ›Erkenntnisse‹ sogar ihnen selbst ohne das Antizipieren einer zumindest in Aussicht stehenden, zukünftigen Normalität nicht ausreichend legitimiert und damit auch nicht wissenswert. Zumindest idealtypisch läßt sich der Spiritismus vom Okkultismus abgrenzen. Er ist weniger durch den paradoxen Versuch charakterisiert, ›über-‹ oder ›präwissenschaftliche‹ Phänomene mit Hilfe von Methoden zu ergründen, die den Abb. 3: Carl Freiherr du Prel, in: PsyNaturwissenschaften direkt entlehnt sind. chische Studien 48.4 (April 1921), 196. Als sein zentrales Merkmal gilt vielmehr der Glaube an die Existenz von Geistern, die nicht an das Raum-Zeit-Kontinuum gebunden sind und aus dem Jenseits heraus im Diesseits wirken können. So definierte etwa der Generalmajor a. D. Josef Peter 1922 den Spiritismus als diejenige Lehre, »welche an das Fortleben der Seele des Menschen glaubt und an die Möglichkeit, daß die Verstorbenen – die ›Geister‹ – mit den Lebenden verkehren können.«15 Peter zufolge müsse 14

C. du Prel, Der Spiritismus, Leipzig [1893], 15; Ders., Die Magie als Naturwissenschaft, 2 Bde., Jena 1899, hier Bd. 1: Die magische Physik, 8. Zur Person etwa den Nachruf In memoriam Carl du Prel, in: Psychische Studien 51.9 (1924), 559 f. 15 J. Peter, Geschichte des neueren Spiritismus, Pfullingen (Württemberg), 2 / 31922, 5.

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vor allem zwischen einem ernsthaften Spiritismus und dem »Offenbarungsspiritismus« unterschieden werden; nur letzterer würde sich der Praxis des absichtsvollen Anrufens, der »Zitationen von Abgeschiedenen« bedienen. Im eigentlichen und alleine ernstzunehmenden Spiritismus hingegen träten menschliche Medien als Vermittler zwischen den Lebenden im Diesseits und den Geistern im Jenseits auf, in deren Körper sich die Geister kurzfristig und vorübergehend reinkarnieren würden. In eigens einberufenen und nach strengem Reglement abgehaltenen Sitzungen, den so genannten Séancen, teilten die zumeist weiblichen und idealiter präpubertären Medien dann die Botschaften der Verstorbenen in »Trancereden« mit. Häufig kam es zu Übertragungsschwierigkeiten, so daß die Nachrichten im Anschluß aufwendig dechiffriert werden mußten.16 Allerdings waren auch hier die begrifflichen Grenzen und definitorischen Unterscheidungen überaus fließend. Beispielsweise gab es eine große Anzahl ›gemäßigter‹ Spiritisten, die nicht an die Existenz von Geistern per se, wohl aber an die natürliche Echtheit der während der Séancen produzierten und von ihnen sorgfältig dokumentierten Phänomene glaubten. Diese vermochten sie kaum hinreichend zu erklären, legten jedoch besonderen Wert darauf, daß sie zumindest als Ergebnisse exakter, oftmals experimentell gestützter Beobachtungen gelten konnten. Er bekenne sich nur insofern zum Spiritismus, ließ so ein emeritierter Professor für Maschinentechnik 1898 die Leser seiner »Erfahrungen auf dem Gebiete des Spiritismus« wissen, »als ich die Möglichkeit der Echtheit und objektiven Realität der sogenannten spiritistischen Phänomene behaupte, während ich hinsichtlich der Erklärung derselben noch keinen über jeden Zweifel erhabenen Anhaltspunkt habe.«17 Gerade in einem philosophiehistorischen Kontext muß eindeutig zwischen Spiritismus einerseits, Spiritualismus andererseits unterschieden werden, selbst wenn sich der zweite Begriff in den Quellen häufig im Sinne des ersten gebraucht findet und hier auch unter Zeitgenossen nur selten terminologische Einigkeit herrschte. Grundsätzlich war Spiritualismus im deutschen Sprachraum bereits sehr viel früher als philosophischer Begriff etabliert, der allgemein eine Weltsicht bezeichnete, nach der das zukünftige Leben im Jenseits als das eigentliche galt, während die irdische Existenz als ein kurzes Zwischenstadium begriffen wurde und lediglich der Vorbereitung auf das Nachher diente. Etwa ab den 1870er Jahren erhielt der Begriff des Spiritualismus dann dadurch eine zusätzliche Bedeutung, daß ihn angloamerikanisch orientierte Anhänger des Spiritismus als Eigenbezeichnung zu verwenden begannen. Diese glaubten an Kontakte zu Geistwesen aus dem Jenseits und versuchten so, sich von einem für plebejisch und marktschreierisch gehaltenen kardecianischen spiritisme 16 17

Ebd., 10–15. M. Seiling, Meine Erfahrungen auf dem Gebiete des Spiritismus, Leipzig 1898, 1.

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abzusetzen.18 Dem angloamerikanischen spiritualism entspricht im Deutschen folglich Spiritismus, nicht Spiritualismus. Auch wenn beide oftmals uneindeutig verwendet und fälschlicherweise immer wieder miteinander verwechselt werden, sind die beiden Begriffe im Deutschen auch heute noch keineswegs deckungsgleich: Wie skizziert steht Spiritualismus für die ältere, fest umrissene philosophische Lehre, die alles Wirkliche als Geist beziehungsweise dessen Erscheinungsformen begreift, während nur der Begriff Spiritismus im oben beschriebenen Sinne den Glauben an Erscheinungen der Geister von Verstorbenen aus dem Jenseits bezeichnet. Okkultismus und Spiritismus standen damit in einem mindestens doppelten Spannungs- und Konkurrenzverhältnis: einerseits zur empirischen Naturwissenschaft und zum philosophischen Materialismus, andererseits zu Religion, Religiosität und romantischer Naturphilosophie. Strukturelle Überschneidungen, Anleihen und Übernahme einzelner organisatorischer Elemente gab es in beide Richtungen. Für den Bereich der Religiosität sei nur an die von David Blackbourn so eindringlich analysierten Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen in den Jahren nach 1876 erinnert, welche in einen Zusammenhang mit den sehr viel langfristigeren Prozessen der Säkularisierung und Entkirchlichung, dem in den frühen 1870er Jahren einsetzenden Kulturkampf sowie anderen religiösen Erweckungsbewegungen zu stellen sind. Sie fielen damit zeitlich präzise mit dem eingangs beschriebenen Wiedererstarken der öffentlichen Präsenz des deutschen Spiritismus ab den späten 1870er Jahren zusammen. Die Beschleunigung des religiösen Strukturwandels im 18. und 19. Jahrhundert hatte eine weitgehende Proliferation religiöser Gruppierungen zur Folge, so dass um die Jahrhundertwende ein extrem breites Spektrum parallel nebeneinander bestehender Organisationsformen mit einer sowohl horizontal als auch vertikal großen sozialen Varianz existierte. Thomas Nipperdey hat hierfür den Begriff der »vagierenden Religiosität« geprägt. Die Übergänge von spiritistischen, an Geister glaubenden Bewegungen über charismatisch-chiliastische Sekten, bei der sich Geisterwesen im Rahmen ekstatischer Rituale ebenfalls zu Wort melden konnten, bis hin zu strikt hierarchisch strukturierten Logen und kirchenähnlichen Organisationsformen waren dabei sehr fließend.19 18

Unter dem Pseudonym Allan Kardec wurde der französische Schriftsteller und Spiritist Hippolyte Léon Denizard Rivail (1804–1869) nach 1860 international bekannt, insbesondere durch sein Buch der Geister (Wien 1868). 19 D. Blackbourn, Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany, Oxford 1993; L. Hölscher, Säkularisierungsprozesse im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. Ein Vergleich zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, in: H.-J. Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen 1991, 238–258; Th. Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, hier 143.

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Exakten Mitgliederzahlen der okkultistischen Zirkel und Organisationen des späten 19. Jahrhunderts beizukommen ist unmöglich, zumal sich ein Großteil der Aktivitäten im nicht-organisierten und häufig bewußt nach außen abgeschotteten privaten Bereich abspielte. Gleichzeitig galt es, gezielt in der Öffentlichkeit zu wirken, da nur so die Rekrutierung neuer Mitglieder und damit die Stärkung der Bewegung möglich war. Als internationales Vorbild galt die 1882 in London gegründete Society for Psychical Research. Zu den bekannteren deutschen Gruppierungen zählten der 1877 gegründete, 1884 neukonstituierte spiritualistische Verein Psyche und die Wissenschaftliche Vereinigung »Sphinx« in Berlin; 1896 wurde als Dachorganisation der Verband deutscher Okkultisten gegründet. Etwa ab den 1890er Jahren lassen sich dann spiritistische Vereine in ganz Deutschland nachweisen, von denen mehrere gemeinsam ab 1893 eine Vereinszeitschrift herausgaben, die unter dem Titel Die Übersinnliche Welt: Monatsschrift für wissenschaftliche Begründung des Okkultismus immerhin bis 1926 erschien und als deren Zweck die »möglichst allseitige Untersuchung und Erörterung übersinnlicher Tatsachen und Fragen« angegeben wurde.20 In quantitativer Hinsicht handelte es sich bei der Mehrzahl dieser zum Teil recht kurzlebigen Gruppierungen um marginale Zusammenschlüsse, die gleichwohl zentrale Fragen zu stellen vermochten und damit vor allem philosophie- und wissenschaftshistorisch bedeutsame Auseinandersetzungen wie den Materialismus- oder auch den Ignorabimus-Streit zumindest an sozialer Breitenwirkung um einiges übertrafen. Zu den von ihnen massenwirksam verhandelten Problemen zählten etwa die Frage nach dem grundsätzlich Wissbaren, der Verlässlichkeit menschlicher Sinneswahrnehmung, der Grenze zwischen Leben und Tod sowie der Möglichkeit eines Weiterlebens im Jenseits. Selbstverständlich wurden im diskursiven Spannungsfeld von Wissenschaft, Religion und Öffentlichkeit zahlreiche höchst kontroverse (Selbst-)Verständigungsdebatten über denjenigen Ort ausgetragen, der dem Studium des Jenseitigen, Übersinnlichen und Metaphysischen inner- oder außerhalb der Wissenschaften zuzuweisen sei, beispielsweise 1879 zwischen dem Hallenser Philosophieprofessor Hermann Ulrici (1806–1884), dem Leipziger Wahrnehmungspsychologen Wilhelm Wundt (1832–1920) und dem Philosophen Immanuel Hermann von Fichte (1796–1879), Johann Gottlieb Fichtes Sohn und seit 1842 selbst Ordinarius in Tübingen.21 Und wenn es umgekehrt auch 20

Hilfreich, aber nicht immer zuverlässig H.-J. Glowka, Deutsche Okkultgruppen 1875–1937, München 1981; vgl. auch L. Engel (Hg.), Adress-Buch vereinter WahrheitSucher. Vereint mit dem Adress-Almanach okkultischer Vereine und Zeitschriften, zusammengestellt von Max Rahn, Bitterfeld 1896. Die Übersinnliche Welt. Monatsschrift für wissenschaftliche Begründung des Okkultismus, 33 Bde., Berlin 1893–1926. 21 Vgl. H. Ulrici, Der sogenannte Spiritismus – eine wissenschaftliche Frage, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 74 (1879), 239–271; W. Wundt, Der

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entschieden zu kurz greifen würde, Wirkung und Bedeutung des IgnorabimusStreites für dieses, in den 1870er Jahren kaum streng umrissene, da überhaupt erst im Entstehen begriffene Feld als grundsätzlich ›außerhalb‹ der Wissenschaften gelegen zu klassifizieren, ist er aus okkultismushistorischer Perspektive jedoch sicherlich nicht zu solchen zentralen Selbstverständigungsdebatten zu rechnen. Wenn man dennoch nach einer charakteristischen Metapher suchen möchte, scheint das Bild eines ebenso verhaltenen wie verzögerten Echos wohl eher zuzutreffen als jenes einer Spiegelung. Obschon die Suche nach der einen Weltformel im Okkultismus keinerlei Rolle spielte und »Geister« paradoxerweise in einem sehr viel konkreteren Sinn als im Du Bois’schen thematisiert wurden, waren die Grenzen des Naturerkennens für Okkultismus wie für Ignorabimus gleichermaßen konstitutiv, wenngleich auf diametral entgegen gesetzte Art und Weise. Während Du BoisReymond zufolge alle Wissenschaft mit dem »Supernaturalismus« überhaupt aufhörte, setzte sie für überzeugte Okkultisten dort erst richtig an. In der Tat erblickte Zöllner in den von ihm untersuchten Phänomenen dann auch nichts weniger als die »empirischen Fundamente einer neuen, in der Bildung begriffenen, Wissenschaft«, die er, darin selbst einem Vorschlag des Philosophen Fichte folgend, als »Transcendentalphysik« bezeichnet wissen wollte.22 Explizit wissenschafts- oder erkenntnistheoretische Aussagen lassen sich nur höchst vereinzelt in der weit verzweigten, nahezu unüberschaubaren und längst nicht annähernd vollständig aufgearbeiteten okkultistischen Literatur der ›langen Jahrhundertwende‹ nachweisen. Indes stellt der immer wieder erhobene Anspruch auf eine wissenschaftliche, d. h. eine auf Empirie und Experimente

Spiritismus. Eine sogenannte Wissenschaftliche Frage. Offener Brief an Herrn Prof. Dr. Hermann Ulrici in Halle, Leipzig 1879; H. Ulrici, Ueber den Spiritismus als wissenschaftliche Frage. Antwortschreiben auf den offenen Brief des Herrn Professor Dr. W. Wundt, Halle 1879; J. Leeser, Herr Professor Wundt und der Spiritismus, Leipzig 1879; F. Zöllner, Der Spiritismus und die sogenannten Philosophen. Offener Brief an Dr. Wilhelm Wundt, ord. Professor der Philosophie an der Universität Leipzig, in: Ders., Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, 1–82. M. E. Marshall / R. A. Wendt, Wilhelm Wundt, Spiritism, and the Assumptions of Science, in: W. G. Bringmann / R. D. Tweney (Hg.), Wundt Studies. A Centennial Collection, Toronto 1980, 158–175. 22 E. Du Bois-Reymond, Die sieben Welträtsel, in: Est. Du Bois-Reymond (Hg.), Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd. 2, Leipzig 21912, 65–98 (dazu P. Haffner, Das Ignoramus und Ignorabimus der neueren Naturforschung, in: Frankfurter Zeitgemässe Broschüren 4.6 (1883), 155–182, hier insbes. 180–182); F. Zöllner, Nachtrag zur Metaphysik des Raumes, in: Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 2.2, Leipzig 1878, 1173–1189, hier 1182; Ders., Die transcendentale Physik und die sogenannte Philosophie. Eine deutsche Antwort auf eine ›sogenannte wissenschaftliche Frage‹, in: Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, Leipzig 1879, XXIV; I. H. von Fichte, Der neuere Spiritualismus, sein Werth und seine Täuschungen. Eine anthropologische Studie, Leipzig 1878, 101.

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gestützte Methodologie zweifellos nicht nur das zentrale Merkmal, sondern auch das Paradoxon schlechthin der Beschäftigung mit dem Übersinnlichen dar. Seinem Selbstverständnis nach rekurrierte der Okkultismus beständig auf das System der Wissenschaften, strebte jedoch in letzter Konsequenz die eigene Selbstauflösung an, da – so die Hoffnung – das, was zuvor noch als ›okkult‹ zu beschreiben war, irgendwann von den Naturwissenschaften vollständig erklärt werden würde. »Naturgesetze können nicht durchbrochen werden: ›Wunder‹ giebt es nicht; es geschieht nichts Übernatürliches,« hieß es etwa apodiktisch in einer vom Verein Psyche herausgegebenen Broschüre: »Was geschieht, vollzieht sich auf natürlichem Wege; nur kommt es darauf an, die noch unbekannten Gesetze, nach welchen sich die sogenannten Wunder vollziehen, zu entdecken und festzustellen.«23 Über Jahrzehnte hinweg begriff sich der Okkultismus als »werdende Wissenschaft«, wie eine Anfang der 1920er Jahre im Berliner »Pyramidenverlag Dr. Schwarz« erscheinende Buchreihe betitelt war. Vehement insistierten die Okkultisten auf der heuristischen Vorläufigkeit ihres gemeinsamen Unternehmens – und weigerten sich rundheraus, das Postulat einer »beschränkten Begreiflichkeit, einer Begreiflichkeit innerhalb der beschränkten Grenzen unseres Erkenntnisvermögens« anzuerkennen, als das das Ignorabimus in einer nach Du Bois-Reymonds Tod am 26. Dezember 1896 gehaltenen Gedächtnisrede etwas umständlich zusammengefaßt wurde. Damit hatten die Vertreter des Okkultismus allen in aufwendigen Experimenten und sorgfältigst dokumentierten Versuchsreihen evozierten merkwürdigen Phänomenen zum Trotz den Schulwissenschaften auch über Jahre hinweg jedoch nicht viel mehr als das kontinuierlich neu formulierte Versprechen eines für die nahe Zukunft zu erwartenden durchschlagenden Erfolges ihres Wissenschaftsmodells entgegenzusetzen.24

III. Negation als Reaktion: Ignorabimus-Rezeption im Okkultismus Aufgrund der eingangs beschriebenen ›Fünfjahreslücke‹ stieß der Ignorabimus-Streit in okkultistischen Zirkeln zunächst kaum auf Resonanz.25 Eine erste Reaktion signalisierte jedoch sogleich Abwehr und gab damit die Tonart 23

Spiritualistischer Verein Psyche, Berlin (Hg.), Der Spiritualismus. Entwickelung [sic!], Wesen und Tendenz desselben, Berlin 1891, 12. 24 H. Merlin, Was ist Okkultismus und wie erlangt man okkulte Kräfte? Einführung in den modernen Okkultismus und die Geheimwissenschaften der alten Kulturvölker, Berlin 1903, 10–24. Th. W. Engelmann, Gedächtnissrede auf Emil du Bois-Reymond, in: Abhandlungen der Königlichen Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom Jahre 1898, Berlin 1898, 1–24, hier 13. 25 Dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb die einzige zu diesem Thema vorliegende Monographie (F. Vidoni, Ignorabimus! Emil Du Bois-Reymond und die Debatte

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vor: Im November 1874 erschien in den von Alexander Aksákow (1832–1903), einem russischen Staatsrat, Schriftsteller und überzeugten Spiritisten, herausgegebenen Psychischen Studien eine mehrseitige Besprechung, die neben ihrem defensiven Charakter vor allem durch den Vorwurf einer unzulässigen Transgression auf Seiten Du Bois-Reymonds auffiel. Der Autor, Franz Hoffmann (1804–1881), Herausgeber der sämtlichen Werke des Münchener Philosophen Franz von Baader (1765–1841) und selbst Professor für theoretische und praktische Philosophie an der Universität Würzburg, besprach hier Du BoisReymonds Rede gemeinsam mit einer bereits in Pamphletform publizierten ausführlichen Kritik eines Wiener Nervenarztes namens Carl Langwieser und wies sie in ihren weit reichenden Ansprüchen entschieden zurück.26 Mit der unverhohlenen Absicht, den Materialismus gründlich zu desavouieren und dabei nicht selten die Grenze zur reinen Polemik überschreitend, versuchte Hoffmann sowohl Widersprüche zwischen verschiedenen Arbeiten Du Bois-Reymonds als auch den Mangel an innerer Kohärenz des Ignorabimusvortrages aufzuzeigen, welchen er als reine Meinungsmache und »unwissenschaftliches Gerede von einem berühmten Naturforscher« abtat, das man nicht für möglich hielte, »wenn man es nicht gedruckt vor Augen sähe.«27 In erster Linie warf Hoffmann dabei Du Bois-Reymond und dessen Kritiker Langwieser vor, sich ohne die Grundlage einer tragfähigen Erkenntnistheorie auf weit reichende, aber ungerechtfertigte metaphysische Aussagen zu kaprizieren: »Was berechtigt denn den Materialisten, der consequenterweise keine apriorischen Erkenntniselemente anerkennen kann, Vorgänge zu behaupten, die nie Gegenstand der Erfahrung sein konnten und können? Wird denn hier nicht die todte Seinslehre in die absolute Werdenslehre aufgelöst und der Wirrwarr nicht verdoppelt? […] Die Erfahrungswissenschaft als solche kann gar nichts über das wahre Wesen der Dinge, über Materie, Kraft, Leben, Geist und Gott ausmachen. Diese Untersuchungen gehören der Philosophie, insonderheit der Metaphysik an, und wer darüber mitsprechen will, muss erst wissen, was Philosophie und Metaphysik ist.«28

Du Bois-Reymond selbst hatte sich Hoffmann zufolge eine unzulässige Grenzüberschreitung zuschulden kommen lassen, indem er den Zuständigkeitsbereich des Naturwissenschaftlers gezielt verlassen habe und nunmehr auf über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. / Bern 1991) diesem verwickelten und nur wenig übersichtlichen Rezeptionsstrang nicht weiter nachgeht. 26 F. Hoffmann, Über die Grenzen des Naturerkennens. Zwei Recensionen, in: Psychische Studien 1.11 (November 1874), 502–508; C. Langwieser, Du Bois-Reymond’s ›Grenzen des Naturerkennens‹, Wien 1873. 27 F. Hoffmann, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 504. 28 Ebd., 507 f.

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fremdem Terrain wildere, von dem er qua Profession nichts verstehen könne und für das ohnehin seit langem ganz andere Disziplinen, insbesondere die Metaphysik, verantwortlich zeichneten. Etwa anderthalb Jahre später veröffentlichte Hoffmann in derselben Zeitschrift dann einen weiteren, Der Spiritualismus und die deutsche Philosophie überschriebenen Aufsatz, aus welchem sein eigener, dezidiert pro-spiritistischer Ansatz sehr viel deutlicher hervorgeht als aus der umfangreichen, wenngleich weitgehend defensiven Besprechung von Du Bois-Reymonds Rede. Unter Rückgriff auf Kant, beide Fichtes, Schleiermacher, Hegel, Schelling, Schopenhauer und andere versuchte Hoffmann hier nachzuweisen, daß seit Leibniz im Grunde nicht ein einziger der bedeutenderen deutschen Philosophen »ohne alle Verwandtschaft zu spiritualistischen Ideenkeimen« gewesen sei. Aufgrund des Publikationsortes wie der Tatsache, daß Hoffmann wiederholt Themen wie Magnetismus, Somnambulismus, Psychologie, das Weiterleben der Seele im Jenseits, psychische Kräfte, Hellsehen, Ekstase etc. ins Feld führte, kann zweifellos davon ausgegangen werden, daß als sein Referenzrahmen nicht der philosophische Spiritualismus, sondern der in den 1870er Jahren immer stärker in Mode kommende Spiritismus im oben beschriebenen Sinne diente. Auch wenn die aneinander gereihten Zitate zwar ausführlich kommentiert, aber kaum durch ein eigenes Argument zusammengehalten wurden, lag das wissenschaftsstrategische Ziel einer solchen Bricolage deutlich auf der Hand: Das Herstellen bis dato vermeintlich unbeachtet gebliebener historischer Kontinuitäten diente nicht nur wie stets der Legitimierung des eigenen Ansatzes. Vielmehr galt es, das entsprechende Terrain für sich zu reklamieren und so eine feindliche Übernahme durch die »Naturwissenschaft, […] die Weltbesiegerin unserer Tage« in Gestalt von Du Bois-Reymond noch gerade rechtzeitig zu verhindern. Hatte Hoffmann den Physiologen und Wissenschaftspolitiker zunächst rundheraus für unzuständig erklärt, versuchte er nun unter Rückgriff auf eine bestimmte philosophiehistorische Traditionslinie den Nachweis zu führen, daß dies ohnehin noch nie anders gewesen war. Grenzüberschreitungen waren erstrebenswert, so lange sie alleinige Sache der Philosophie blieben. Grenzen zwischen den Wissenschaften durften dabei indes keinesfalls infrage gestellt, geschweige denn übertreten oder verschoben werden – und schon gar nicht von einem Naturwissenschaftler.29 Eine zweite, in ihrer eigentümlichen und überaus komplexen Mischung aus Polemik, Apologie und Eklektik schwierig und kaum erschöpfend zu deutende Intervention von über 130 Seiten Länge erschien erst 1878, das heißt sechs 29

F. Hoffmann, Der Spiritualismus und die deutsche Philosophie, in: Psychische Studien 3.4 (April 1876), 171–176, hier 171. Ders., Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 502.

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Jahre nach Du Bois-Reymonds Rede und damit nach Ende der ›Fünfjahreslücke‹. Auch hier wurde um gezogene und überschrittene, neu gezogene und wiederum überschrittene Grenzen gestritten, und dies in gleich mehrfachem Sinn. Bezeichnenderweise hatte diese Reaktion derjenige verfaßt, auf dessen kontrovers diskutierte Experimente die neue Präsenz des Spiritismus im öffentlichen Leben des deutschen Kaiserreiches überhaupt erst zurückzuführen war: der bereits erwähnte Leipziger Astronom und Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner [Abb. 4]. Dessen akademische Karriere war zunächst in durchaus üblichen Bahnen und ohne besondere Auffälligkeiten verlaufen: Nach Studium und Promotion in Berlin und Basel wurde er in Leipzig habilitiert, wo er 1866 auch eine Professur erhielt. Anfangs durch Publikationen zur Photometrie hervorgetreten, hatte er sich dann der Astronomie zugewandt und als einer der ersten ihre Physikalisierung vorangetrieben. Abb. 4: Karl Friedrich Zöllner, in: Einen gewissen Knick erlebte Zöllners Karriere M. Wirth, Friedrich Zöllner, Leipjedoch 1872, als er mit der Veröffentlichung zig 1882, Frontispiz. eines Aufsehen erregenden und ob seiner wissenschaftskritischen Polemik höchst kontrovers aufgenommenen Werkes Über die Natur der Cometen: Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss das angestammte Terrain des Astrophysikers langsam, aber unwiderruflich zu verlassen begann. Fortan widmete er sich vorrangig, wenngleich keineswegs ausschließlich erkenntnistheoretischen Fragestellungen und entwickelte aus dieser Perspektive ein leidenschaftliches und sehr rigides Interesse für den Spiritismus. Über die Experimente mit Slade wurde Karl Friedrich Zöllner zu einem seiner vehementesten und öffentlich wirksamsten Verfechter in Deutschland, der nicht nur selbst den Naturwissenschaften entstammte, sondern zudem mit einem echten Professorentitel aufwarten konnte. Beides, alle Konventionen mißachtende Kollegendiffamierung wie unerbitterliches Eintreten für die spiritistische Sache, ließen ihn jedoch zusehends in die persönliche Isolation geraten und zu einem professionellen Außenseiter werden.30 30

J. C. F. Zöllner, Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss, Leipzig 1872, 31883. Zu Zöllner liegen zwei unterschiedliche Biographien vor, die beide ihre eigenen Schwierigkeiten haben. Vgl. F. Koerber, Karl Friedrich Zöllner. Ein deutsches Gelehrtenleben. Nebst einem vollständigen, alphabetischen Sachregister zu den wissenschaftlichen Werken F. Zöllners, Berlin 1899, sowie D. B. Herrmann, Karl Friedrich Zöllner, Leipzig 1982. Für eine Übersicht über seine Publikationen siehe J. Hamel,

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Zöllners buchstäbliche ›Abrechnung‹ mit dem Ignorabimus findet sich im ersten Band seiner so genannten Wissenschaftlichen Abhandlungen. Unter diesem Titel gab er ab 1878 seine eigenen gesammelten Werke in vier Bänden gleichsam prämortem selbst heraus, wenngleich in wenig zwingend scheinender Reihenfolge und mit nur schwerlich erkennbarem inneren Zusammenhang. Seine im Kometenbuch zum ersten Mal erprobte ›rhetorische Großstrategie‹ findet sich hier weiter verfolgt und noch ausgebaut: Einerseits spiegelt die Vielzahl der behandelten Themen und vorhandenen Textsorten Zöllners Erkenntnisinteressen und vielfältige Aktivitäten, andererseits steht als Ergebnis ein absolut unklassifizierbares wissenschaftskritisches Konglomerat, das alle Genregrenzen geflissentlich ignoriert und an polemischer Schärfe oftmals kaum zu übertreffen ist. Ganz offensichtlich orthodox naturwissenschaftlich ausgerichtete Abhandlungen wechseln sich dabei mit philosophischen Spekulationen ab, sind aber stets von ausufernden Fremd- und Eigenzitaten, Querverweisen und überscharfer Kollegenschelte durchwirkt. Zöllners Schriften seien alles zugleich, hat ein Wissenschaftshistoriker treffend dieses eruptive, alle Gattungsbegriffe sprengende und literarische Konventionen gezielt mißachtende Potpourri wissenschaftspolitischer, erkenntnistheoretischer und rein persönlicher Abrechnungen wie aggressiven Kollegen-bashings charakterisiert: »physikalische Abhandlung, historischer Exkurs, philosophische Betrachtung, vaterländischer Appell, persönliche Polemik, Zeitungsausschnittsammlung, Poesiealbum und Reprintunternehmen: ein nicht abreißender polemischer Erguß von mehr als 3500 Seiten in ganzen zweieinhalb Jahren.«31 Wie angedeutet zieht sich Zöllners Abrechnung mit Du Bois-Reymond dabei über 130 Seiten lang hin. Grundsätzlich ging Zöllner ähnlich induktiv

Bibliographie der Schriften von Karl Friedrich Zöllner, 1834–1882, Berlin-Treptow 1982. Siehe darüber hinaus in chronologischer Reihenfolge F. Luttenberger, Friedrich Zöllner, der Spiritismus und der vierdimensionale Raum, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 19 (1977), 195–214; F. Krafft, Astrophysik contra Astronomie. Das Zurückdrängen einer alten Disziplin durch die Begründung einer neuen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), 89–110; W. H. Stromberg, Helmholtz and Zöllner. Nineteenth-Century Empiricism, Spiritism, and the Theory of Space Perception, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 25.4 (1989), 371–383; K. B. Staubermann, Tying the Knot. Skill, Judgement and Authority in the 1870s Leipzig Spiritistic Experiments, in: British Journal for the History of Science 34.1 (2001), 67–79; A. Kümmel / J. Steckiewicz, Leipzig 1877. Medienepistemologische Zugänge zu Karl Friedrich Zöllners Experimenten mit Henry Slade, in: A. C. T. Geppert / A. B. Braidt (Hg.), Orte des Okkulten, Wien 2003, 72– 95. Mit Abstand am besten Ch. Meinel, Karl Friedrich Zöllner und die Wissenschaftskultur der Gründerzeit. Eine Fallstudie zur Genese konservativer Zivilisationskritik, Berlin 1991. 31 C. F. Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, 4 Bde., Leipzig 1878–1881, hier Bd. 1, Leipzig 1878, Über Emil Du Bois-Reymond’s Grenzen des Naturerkennens, 289–416. Ch. Meinel, Wissenschaftskultur der Gründerzeit, a. a. O., hier 43, 34.

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wie Hoffmann vor, tat dies aber in einer unvergleichlichen Schärfe und mit zunehmender Radikalität: Anstelle einer direkten Konfrontation mit Du Bois-Reymonds Zentralthesen oder einer expliziten Begründung, warum das »Supernaturalistische« sich keineswegs in einem »überaus schwierige[n] mechanische[n] Problem« erschöpfe, versuchte er mit Hilfe einer Vielzahl, oftmals seitenlanger Zitate zunächst Du Bois-Reymond eines halben Dutzend »logischer Denkfehler« zu überführen und begriffliche Inkonsistenzen wie methodologische Mängel nachzuweisen. Zusätzlich führte Zöllner ältere Arbeiten von Mayer und Kant gegen Du Bois-Reymond und Helmholtz ins Feld, um die grundsätzliche intellektuelle Unoriginalität ihres gesamten Unterfangens aufzuzeigen. Aufgrund des unsicheren Fundamentes würden alle ihre Überlegungen notwendig »in ein Nichts« zusammen fallen, und man werde ihnen zukünftig höchstens »einen historischen Werth zuerkennen« können.32 Interessanterweise spielten auch hier explizit pro-okkultistische Sachargumente keinerlei Rolle, obwohl Du Bois-Reymonds Ausführungen gleich mehrfach diese Möglichkeit eröffnet hätten. Vielmehr begaben sich beide, Hoffmann wie Zöllner, auf das angestammte Terrain des Gegners und versuchten ihn dort zu schlagen, selbst wenn sie sich für ihre wiederholten Attacken stets Nebenkriegsschauplätze aussuchten, auf denen sie dann eher konzeptionell provozierten als argumentativ stritten. Zöllners Auseinandersetzung mit den von Du Bois-Reymond postulierten Erkenntnisgrenzen erschöpfte sich in ätzender Kritik und beleidigender Polemik: Immer wieder geißelte er das »ebenso hochmüthige wie unlogische ›Ignorabimus‹«, echauffierte sich über die »leeren Phrasen Emil Du Bois-Reymond’s in seinen Reden über die Grenzen des Naturerkennens« und machte wiederholt – »falls es jemandem noch nicht deutlich geworden sein sollte« – darauf aufmerksam, daß er sich keineswegs zu den Bewunderern von dessen Scharfsinn rechne.33 Zöllners Angriffe gingen so weit, daß er Du Bois-Reymond »mangelhafte Literaturkenntnis« nachzuweisen suchte, ein »kurzes Gedächtnis« und »unbegrenzte Selbstgefälligkeit« diagnostizierte, ihm »eine grosse Beschränktheit seines […] Denkvermögens« bescheinigte und zuletzt punktgenaue Verbesserungsvorschläge für zukünftige Auflagen machte.34 Nach etwa zwei Dritteln kippt der Text dann vollends und wird zur reinen Anklageschrift. Immer wieder breche bei Du Bois-Reymond der Franzose durch, polemisierte Zöllner, und seine »Eitelkeit sowie die Hohlheit und das Widerspruchsvolle seiner Phrasen« stempelten ihn schlichtweg zum undeut32

E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 451. C. F. Zöllner, Über Emil du Bois-Reymond, a. a. O., 292. 33 Ebd., 369. C. F. Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, XLIV, 36. 34 C. F. Zöllner, Über Emil Du Bois-Reymond, a. a. O., 326, 308, 359, 334.

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schen »Victor Hugo in der Wissenschaft.«35 Zöllners nicht enden wollende Abrechnung kulminiert zu guter Letzt in einem ebenso abstrusen wie bizarren Szenario: In Form einer 40 Seiten langen literarischen Fiktion, in deren Verlauf unter anderem der Geist Friedrichs des Grossen, Bismarck, Newton, Luther, Kant, Gutenberg, Kopernikus, Kepler, der Kaiser mit seiner Frau, ein Geistlicher sowie »drei Geister erschlagener Germanen vom Teutoburger Walde« auftreten, wird Du Bois-Reymond am Sedantag 1877 der Prozeß gemacht, um »dem eitlen Scheine die Maske vom Antlitz zu reissen und einen übermüthig gewordenen Franzosen vor den Augen der ganzen Welt intellectuell und moralisch zur Raison zu bringen!« Zur Strafe wird er zunächst gezwungen, seitenweise aus Fichtes Reden an die deutsche Nation vorzulesen. Daß sich der fiktive Du Bois-Reymond in seiner anschließenden Verteidigungsrede die Behauptung der Existenz unüberwindlicher Grenzen »auf dem Gebiete des Sittlichen ebenso wie auf dem der Erkenntniss« noch einmal zu wiederholen traut, hilft ihm herzlich wenig – zuletzt wird der »Delinquent« kurzerhand zum Tode durch Sturz von der Loreley verurteilt und das Urteil zur großen Genugtuung aller Beteiligten in einer dramatischen Szene unmittelbar vollstreckt: »Der Berg [erbebte] von unterirdischem Donner, die Riesen verschwanden und unter dreimal donnerndem Hurrah! des geistigen Leibregiments der Hohenzollern schlugen die Wogen des Rheines hoch aufspritzend über dem Haupte des Schuldigen zusammen.« Sein noch im Sterben mehrfach ausgerufenes »Laboremus! Laboremus!« wird von den Bergen zurückgeworfen und als Echo auf ein frommes »Oremus! Oremus!« verkürzt. Zöllner selbst gerierte sich als Richter, Hohepriester und Rächer der von Du Bois-Reymond so schmählich verratenen Wissenschaften in einer Person. Dessen Grenzüberschreitungen schienen ihm so ungeheuerlich, dass er keinen anderen Ausweg sah, als Du BoisReymond in der Fiktion dafür zum Tode verurteilen zu lassen.36 Zumindest in diesem einen Fall scheinen Zöllners Attacken zusätzlich von einem handfesteren persönlichen Motiv getragen worden sein, auch wenn sich dieses aus den vorhandenen Akten nur in groben Umrissen erschließen läßt und die beschriebene Transgression ohnehin nicht befriedigend erklären kann. Zöllner und Du Bois-Reymond kannten sich offenkundig seit vielen Jahren: Zöllner selbst führte in einem frühen handschriftlichen Lebenslauf an, noch während seines Studiums in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre an der Berliner Universität Vorlesungen zur Nervenphysik bei Du Bois-Reymond gehört zu haben. Knapp zwei Jahrzehnte später reagierte dieser in einem persönlich an Zöllner gerichteten Schreiben zunächst eher verhaltend auf das ihm zugesandte 35

Ebd., 371. Ebd., 372–416, Zitate 393, 372, 399, 410 [alle Hervorhebungen im Original, ACTG]. 36

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Exemplar des Kometenbuches, sah sich aber spätestens dann zu einer scharfen Kurskorrektur veranlaßt, als Zöllner mit Du Bois-Reymonds vermeintlicher Zustimmung groß für sich und sein Buch zu werben begann. Als Du BoisReymond daraufhin in der Öffentlichkeit nicht den leisesten Zweifel an seiner grundlegenden Ablehnung des Zöllnerschen Werkes und seiner Geringschätzung der sich dort findenden, für seine Begriffe nur naturwissenschaftlich sich gerierenden philosophischen Spekulationen ließ, ging Zöllner zum Gegenangriff über. Er überschüttete Du Bois-Reymond mit einer Vielzahl offener Briefe und fügte der zweiten, 1872 veröffentlichten Auflage des Kometenbuches gleich eine achtzigseitige, »Zur Abwehr« überschriebene Beilage an, in der er »zur Erläuterung über die subjective und objective Berechtigung [seiner] Polemik und zur Widerlegung von schriftlich an [ihn] gelangten Verdächtigungen« auch Auszüge ihrer privaten Korrespondenz veröffentlichte. Der dritten Auflage wurden Du Bois-Reymonds privat an Zöllner gerichtete Briefe vollständig als aufklappbare Faksimiles beigegeben.37 Daß somit in der Folge noch ganz andere, weit über die mit dem Ignorabimus-Streit verbundenen epistemischen Differenzen hinaus und ins Persönliche hinein reichende Fragen zwischen den beiden Kontrahenten zur Verhandlung anstanden, lag auf der Hand und wird selbst ohne jegliches Psychologisieren überdeutlich. Einer der ganz wenigen weitgehend unparteiischen Beobachter, der sich sowohl zum Okkultismus als auch unmittelbar zum Ignorabimus-Streit äußerte, war drittens und letztens der eingangs bereits kurz erwähnte Philosoph Jürgen Bona Meyer, der seit 1868 einen Lehrstuhl in Bonn bekleidete. Bereits im Sommer 1877 publizierte er einen mehrteiligen, durchgängig in einem wohlwollenden Tonfall gehaltenen Artikel in der Gegenwart, in dem er die »Thatsache dieser Wiederbelebung des Geisterglaubens« zum Anlaß nahm, einen ebenso sachlichen wie kritischen Überblick über die Entwicklung von Okkultismus und Spiritismus in Westeuropa und den USA zu geben.38 Meyer zeigte sich durchaus angetan von den »vielen erzählten Thatsachen« und experimentell erzielten Ergebnissen und konnte eine gewisse Sympathie nicht verhehlen. Gleichzeitig forderte er aber eine stärkere Verwissenschaftlichung ein, bevor die okkultistische »Wunderwelt als Wahrheit anerkannt« werden könne. Die Spiritisten, stellte er – hier keine Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen machend –, zudem klar, »legen besonders Gewicht darauf, daß nach ihrer Auffassung durch die Thatsachen das Dasein selbstständiger geistiger Substanzen neben der Körperwelt als festgestellt 37

D. B. Herrmann, Zöllner, a. a. O., 11. Nachlass Emil Du Bois-Reymond, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. J. C. F. Zöllner, Natur der Cometen, Leipzig 31883, 357–443, hier 357, Anhänge 17 und 18. 38 J. B. Meyer, Glaube an Geistererscheinungen, a. a. O., 265.

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gelten kann. Sie betrachten sich insofern als […] Gegner des Materialismus, der den Geist nur als eine Function des Körpers kennen will.«39

Sieben Jahre später leitete derselbe Autor dann einen seiner regelmäßig in der Zeitschrift für die gebildete Welt über das gesammte Wissen unserer Zeit und über alle wichtigen Berufszweige erscheinenden Berichte, in dem er den Ignorabimus-Streit seiner Leserschaft ausführlich vorstellte, mit der Bemerkung ein, daß »der Streit über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Metaphysik« im Grunde auf die »alte Frage nach den Grenzen des Wissens« hinausliefe – stellte aber ansonsten keinerlei direkten Bezug zwischen den beiden Debatten her.40 Dies muß insofern als symptomatisch gelten: Obwohl eindeutig dieselbe Frage – wenngleich aus zwei diametral entgegen gesetzten Perspektiven – zur Diskussion stand, gab es nur vereinzelt Berührungspunkte. Dadurch, daß sie sich standhaft weigerten, jegliche feste Grenzen des Wissens anzuerkennen, erwiesen sich die im Kampf gegen den Materialismus vereinten Okkultisten als szientistischer als die Naturwissenschaftler selbst. »Die Welt ist eben im Allgemeinen noch nicht reif für die wissenschaftliche Behandlung jener Erscheinungen,« hieß es etwa in einem Nachruf auf den 1882 verstorbenen Zöllner.41 Durch Meyers ersten Artikel sah sich denn der ehemalige Chefredakteur des New Yorker Demokrat, Georg Blöde, zu einem »Glaubensbekenntnis eines Spiritualisten« überschriebenen Leserbrief an die wöchentlich erscheinende Gegenwart veranlasst, in dem er den Spiritualismus – gemeint war der Spiritismus – als »die größte Bewegung des Jahrhunderts« bezeichnete und apodiktisch konstatierte: »Der Spiritualismus ist die naturgemäße und nothwendige Reaction gegen den zum Gemeingut der Culturwelt der Gegenwart und zur Grundlage alles ihres Strebens gewordenen »Materialismus.« Der Gegensatz dieser ist zwar an sich ein uralter, aber in Bezug auf die Waffen, mit welchen der moderne Spiritualismus seinen uralten Gegner bekämpft, ist dessen Bewegung in der Gegenwart eine neue Erscheinung. Der Spiritualismus kämpft mit denselben Waffen, wie der Materialismus. Er ist nicht Theorie, Speculation, metaphysische Träumerei, seine Grundlagen sind Thatsachen und das Experiment. Den Anspruch, welchen der moderne Spiritualismus auf Grund dieser erhebt, ist: daß die neue »Geistkunde« zu einem integrirenden und abschließenden Zweige der Naturwissenschaft erhoben und entwickelt werde. 39

Ebd., 284. J. B. Meyer, Der Ignorabimus-Streit, in: Zeitschrift für die gebildete Welt über das gesammte Wissen unserer Zeit und über alle wichtigen Berufszweige 5 (1884), 168–176, hier 168. 41 M. Wirth, Friedrich Zöllner. Ein Vortrag zum Gedächtniss gehalten im AkademischPhilosophischen Verein zu Leipzig am 4. Mai 1882, Leipzig 1882, 25. 40

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Die neue Geistkunde ist nicht Auflösung, sondern Erfüllung der modernen Wissenschaft.«42

Positiv gewendet sollte »Geistkunde« so nicht nur vollständig in das System integriert, sondern gleich zur neuen Leitwissenschaft erhoben werden. Das okkultistische Pendant zum Du Bois’schen Begriffspaar ignoramus und ignorabimus müßte demnach wohl transcendimus und extendemus lauten – und war insofern nicht weit von dem naturwissenschaftskritischen und nahezu konstruktivistischen creabimus entfernt, welches der unter dem Anagramm W. Hartenau publizierende Industrielle und spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau (1867–1922) im März 1898 als positiven Alternativbegriff vorschlug und anstelle des starren und überkommenen Ignorabimus »mit entschlossener Hand an die Thore der Zukunft« geschrieben wissen wollte.43 Zusammenfassend lassen sich drei Gründe dafür anführen, daß die Vertreter des Okkultismus zunächst kaum zu Du Bois-Reymonds Vorstoß Stellung bezogen und ihre unmittelbare Beteiligung an der andernorts heftig hin- und herwogenden Debatte auch in den darauf folgenden Jahrzehnten eher dürftig ausfiel: Erstens ist auf unterschiedliche konjunkturelle Verläufe zu verweisen. Effektiv begannen Okkultismus und Spiritismus in Deutschland erst ein halbes Jahrzehnt nach dem Leipziger Vortrag vom August 1872 Fuß zu fassen und sich zu einer ebenso massen- wie breitenwirksamen Bewegung zu entwickeln, einiger publizistischer Vorläufer und entsprechender Denkschriften zum Trotz. Umgekehrt war der Ignorabimus-Streit auch im Winter 1877/78 noch lange nicht beigelegt, hatte aber nach fünf Jahren eindeutig an Schwungkraft eingebüßt. Zweitens handelte es sich bei den Vertretern von Schulwissenschaften einerseits und denen des Okkultismus andererseits um soziokulturell höchst unterschiedlich verortete Personengruppen. Zweifelsohne entwickelte sich der

42

G. Blöde, Glaubensbekenntnis eines Spiritualisten, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 11.26 (30.06.1877), 416–418, hier 417 [Hervorhebungen im Original, ACTG]. Vgl. auch Chr. Ed. Baumstark, Naturforschung und Wunderglaube, in: Deutsche Blätter. Eine Monatsschrift für Staat, Kirche und sociales Leben (März 1875), 178–190, und F. Wollny, Naturwissenschaft und Occultismus, Berlin 1902. 43 W. Hartenau [= Walther Rathenau], Ignorabimus, in: Die Zukunft 25 (19.03.1898), 524–536, hier 536: »Das stolze letzte Zeitalter des Realismus und der Naturwissenschaft ist verwelkt; es hat Früchte getragen, aber nicht für den Geist. […] Ja, es giebt jenseits der Naturerkenntnis eine Erkenntniss, die freier und reicher, nicht obgleich, sondern weil sie persönlicher ist. Darum löschen wir von den alten Tafeln das starre Gebot ›Ignorabimus‹ und schreiben mit entschlossener Hand an die Thore der Zukunft: ›Creabimus‹.«

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Okkultismus im späten 19. Jahrhundert zu einer ebenso popularen wie populären Massenbewegung, aus deren Kreisen zur Selbst- und Fremdlegitimation immer wieder Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit erhoben wurde. Mitnichten bedeutete dies jedoch, daß er in der akademisch verfaßten Wissenschaft entsprechend angekommen oder von deren Vertretern vollständig akzeptiert worden wäre. Selbst innerhalb eingefleischter okkultistischer Zirkel gab es viele, die mindestens eine höhere Schule oder sogar die Universität besucht hatten – Quantität und Qualität der unzähligen Abhandlungen, Aufsätze, Pamphlete und Anleitungen zum Thema lassen keinen anderen Schluß zu. Dennoch schlugen nur die wenigsten eine akademische Karriere ein, sondern forschten und publizierten vielmehr als Privatpersonen und -gelehrte. Als solche sahen sie sich vermutlich kaum veranlaßt, sich aktiv an rein akademischen, primär in Professorenkreisen und Intellektuellenzirkeln geführten Debatten zu beteiligen. Aus einer solchen Perspektive müssen die beiden Philosophen Hoffmann und Meyer sowie der Astrophysiker Zöllner eindeutig als Ausnahmen gelten: Als ordentliche Professoren mit einem ausgewiesenen Interesse am Studium des Übersinnlichen versuchten sie, sich zwischen beiden sozialen Welten gleichermaßen zu bewegen, und es ist kein Zufall, daß gerade Zöllner – der herausragendste und lautstärkste Dissident, zugleich der »letzte deutsche Professor, der im 19. Jahrhundert mit eigenen Veröffentlichungen zugunsten des Spiritismus auftrat« – schlußendlich an diesem soziokulturellen Spagat scheiterte.44 Über punktuelle Zusammenstöße hinaus gelang es den Vertretern von Schulwissenschaften und Okkultismus deshalb nicht, miteinander ins Gespräch zu kommen und die epistemische Mesalliance aufzulösen, weil sie in sehr unterschiedlichen sozialen Kreisen beheimatet waren, an die sie ihre jeweiligen Vorträge und Publikationen primär adressierten. Das dritte und letzte Argument bezieht sich auf einander ausschließende Erkenntnisansprüche und inkompatible Wahrheitsbehauptungen. Es ist das grundlegendste und mit dem Begriff der ›epistemischen Mesalliance‹ bereits angedeutet worden. Die ausgebliebene Auseinandersetzung muß auf Seiten der Okkultisten nicht nur grundsätzlich als Konsequenz eines weit reichenden Szientismus, sondern zugleich auch als Resultat eines klassischen Positionierungsdilemmas begriffen werden. Einerseits nahmen die Okkultisten für sich in Anspruch, als einzige jenseits der überkommenen Grenzen des Naturerkennens zu operieren und so das Weltdeutungsmonopol der etablierten Schulwissenschaft aufbrechen zu können. Andererseits hofften sie, durch hyperwissenschaftliche Vorgehensweise von der unangefochtenen Autorität der Naturwissenschaften zu profitieren, um so in naher Zukunft eine vergleichbare gesellschaftliche Respektabilität zu erlangen und ähnlich weit reichende Anerkennung zu 44

D. Sawicki, Leben mit den Toten, a. a. O., 305.

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genießen. Auf der einen Seite stellten sie deren epistemische Grundlagen so gründlich wie nötig und nachhaltig wie möglich infrage, auf der anderen Seite meinten sie, unbedingt der weltanschaulichen Autorität der Naturwissenschaften zu bedürfen und sich vor allem in habituell-methodologischer Hinsicht an diesen orientieren zu müssen, um überhaupt nur ansatzweise gesellschaftlich akzeptiert und nicht länger als (ver-)störender Fremdkörper im System der Wissenschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wahrgenommen zu werden. Zusammen genommen führte beides in die diskursive Sackgasse, zu einer selbstverschuldeten Bewegungsunfähigkeit, die zwar zeitweilig durch ironische Spitzen und polemische Attacken durchbrochen, nicht aber grundsätzlich aufgehoben werden konnte. Selbst hier, an den alles andere als fixierten und dafür umso vehementer umkämpften Rändern des Wissenschaftssystems bewahrheitete sich das berühmte Wort vom »naturwissenschaftlichen Zeitalter«, das Werner von Siemens (1816–1892) 1886, knapp fünfzehn Jahre später, ebenfalls vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in die Debatte einbrachte und welches im folgenden als Diagnose und Losung, Referenzpunkt und Formel zugleich eine dem Ignorabimus-Schlagwort ganz ähnliche Karriere erlebte und sich selbst zum viel beschworenen Signum entwickelte.45 Mit seiner lange nachwirkenden Rede »Die Grenzen des Naturerkennens« habe »der geistvolle Berliner Physiologe« Du Bois-Reymond passenderweise nur ein Jahr nach der Reichsgründung mit zwei kurzen Stichworten nichts weniger als »das Herrschaftsgebiet der mächtig voranschreitenden Naturwissenschaft« abgesteckt, kommentierte ein anderer, nicht minder einflussreicher Berliner Gelehrter, der Pädagoge und Philosoph Eduard Spranger (1882–1963).46 Es war genau dieser umfassende und überaus erfolgreich durchgesetzte Herrschaftsanspruch der Naturwissenschaften, der zur Lähmung der Okkultisten führte, da er eine klaffende Lücke in ihrem Argumentationsgang offenbarte. Der Versuch der Partizipation an der weltanschaulichen Autorität der Naturwissenschaften bei gleichzeitiger Herausforderung ihrer epistemischen Grundlagen erwies sich als unmöglich und führte zu einem Dilemma, das zu lösen auch keine noch so überscharf formulierte Polemik helfen konnte. Einmal in die Defensive geraten, gelang es den Okkultisten nicht mehr, sich daraus zu befreien.

45

W. Siemens, Das naturwissenschaftliche Zeitalter, in: Tageblatt der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin 59.3 (19.09.1886), 92–96. 46 E. Spranger, Gedenkrede zur 150-Jahr-Feier der Gründung der Friedrich-WilhelmsUniversität in Berlin. Rede bei der feierlichen Immatrikulation am 31.05.1960, Tübingen 1960; hier zitiert nach ders., Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen, Tübingen 1966, 211 f.

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IV. Ignorabimus 1913 Versteckte Seitenhiebe und diffamierende Anspielungen auf den IgnorabimusStreit lassen sich im umfangreichen okkultistischen Schrifttum der Jahrhundertwende immer wieder nachweisen, doch finden sich diese niemals als an zentraler Stelle ausgeführt. So verwies etwa Du Prel in seiner Einleitung in das Studium der Geheimwissenschaften – einem Bändchen, das auf einer zunächst in der Sphinx publizierten Serie von Artikeln beruhte, die dann noch einmal gemeinsam als Das Rätsel des Menschen Anfang der 1890er Jahre bei Reclam in Leipzig erschienen – gleich mehrfach ironisch-distanzierend auf Du Bois-Reymonds Ausspruch. Am Ende eines langen Absatzes, in dem die ganz unzweifelhaften Vorzüge der »transcendentalen« gegenüber der physiologischen Psychologie für nichts weniger als die Lösung des Leib-Seele-Problems hervorgehoben wurden, hieß es beispielsweise resümierend: »Wir unsererseits haben also keinen Grund zu dem Seufzer: Ignorabimus.« 1899, knapp zehn Jahre später, leitete er einen großen Essay über das Leben im Jenseits mit dem Satz ein: »Die Frage, von welcher Beschaffenheit unser künftiges Leben sein wird, gilt als eine von jenen, von denen es heißt: ignoramus, ignorabimus!« Exakte Kenntnis der entsprechenden Debatten und ihrer Bedeutung bei der Leserschaft nicht voraussetzend, stand das Ignorabimus inzwischen verkürzt für den Vorwurf selbstverschuldeter Ignoranz, an der es aus der Perspektive der etablierten Schulwissenschaften auch zukünftig nichts zu ändern gebe. Daß es sich von einer solchen, überaus unwissenschaftlichen, da vorurteilsbeladenen Haltung abzugrenzen galt, lag dann auf der Hand. Rhetorisch entscheidend war allerdings allein die mit großer Geste immer wieder aufs Neue vollzogene Abwehr- und Absetzbewegung, das ritualisierte (Wieder-)Herstellen entsprechender Distanz, nicht der präzise Verweis auf die entsprechenden Debatten und ihren argumentativen Gehalt. Auf eine paradoxe Art und Weise trug die ›Verschlagwortung‹ des Ignorabimus zur Fixierung genau jener Grenzen bei, die die Okkultisten so in Rage brachten.47 Effektiv und vollständig aufgelöst wurde die epistemische Mesalliance schließlich erst 1913, das heißt vierzig Jahre nach Du Bois-Reymonds Vortrag, zu einem Zeitpunkt, als die Debatte viel von ihrer Brisanz eingebüßt hatte. Es ist bezeichnend, daß die scheinbar so offenkundige diskursive Verknüpfung

47

C. du Prel, Das Rätsel des Menschen. Einleitung in das Studium der Geheimwissenschaften, Leipzig 1892, 52; vgl. auch 15, 85; ders., Tod, 82; ders., Die Magie als Naturwissenschaft. Erster Teil: Die magische Physik, Jena 1899, 39, 50 f.; ders., Der Aberglaube und die Wissenschaft, in: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 10 (1881), 1177–1189; ders., Materialismus und Moral, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 29.14 (03.04.1886), 215–218.

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von Ignorabimus und Okkultismus auch jetzt nicht von einem ihrer jeweiligen Vertreter, sondern von dritter Seite hergestellt und an einem kaum weniger abgelegenen und selbst nicht minder obskuren Ort vollzogen wurde: in dem heute als nahezu unspielbar geltenden dramatischen Hauptwerk des so genannten »konsequenten Naturalisten« Arno Holz (1863–1929) [Abb. 5].48 Der zeitlebens um sein wirtschaftliches Überleben kämpfende, posthum indes zu einigem Ruhm gelangte und dann von Helmut Heißenbüttel sogleich zu einem »Vater der Moderne« gekürte Berliner Schriftsteller veröffentlichte in diesem Jahr eine über 450 Seiten lange Wissenschaftlertragödie, die exakt diesen Titel trug: Ignorabimus. Sie erschien als letztes Stück eines dreiteiligen Fin-de-Siècle-Zyklus Berlin: Die Wende einer Zeit in Dramen, an dem Holz seit 1896 gearbeitet hatte und auf dessen Erfolg er große Hoffnungen setzte. Ihre gänzlich unüberschaubare Anlage, die ausufernde Form und sprachliche Sperrigkeit, eine Unzahl detaillierter Regieanweisungen sowie nicht zuletzt Holz’ vehementes Ablehnen aller textlichen Kürzungen haben jedwede ernsthafte Theaterrezeption indes bis heute nahezu vollständig verhindert. Nach seiner Veröffentlichung scheint das umfangreiche, zwölfstündige Stück überhaupt nur zweimal zur Aufführung gelangt zu sein, 1927 in DüsAbb. 5: Arno Holz. Zentral- und seldorf und 1986 im italienischen Prato nahe Landesbibliothek Berlin, Historische Sammlungen, Arno-HolzFlorenz.49 Archiv. Die konstruierte Dramatik dieser genu48

A. Holz, Ignorabimus, Dresden 1913. Vgl. dazu E. Nidden, Ignorabimus, in: Kunstwart und Kulturwart 27.1 (Oktober 1913), 7–11. 49 1896 erschien die Komödie Sozialaristokraten, 1908 die Tragödie Sonnenfinsternis. Vgl. im vorliegenden Kontext vor allem D. Schickling, Interpretationen und Studien zur Entwicklung und geistesgeschichtlichen Stellung des Werkes von Arno Holz, Diss. phil. Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen, Tübingen 1965, 212–238; W. Beimdick, Arno Holz. ›Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen‹. Untersuchungen zu den Werken des Zyklusfragments, Diss. phil. Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster (Westfalen), Münster 1966, insbes. 239–255; G. Schulz, Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens, München 1974, hier 122–128; H. Scheuer, Arno Holz’ ›Wende einer Zeit in Dramen‹. Vom Milieustück zum Seelendrama, in: Text + Kritik 121 (Januar 1994), 53–61; vgl. auch »Faust von Holz«, in: Der Spiegel 24 (09.04.1986), 186–189 sowie D. Polaczek, Lärm und Aberglauben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.06.1986). Holz’ in Versform abgefasste Autobiographie (Kindheitsparadies, Berlin 1924) ist hierzu unergiebig.

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inen Schmonzette, ihre verschachtelte Komplexität und hochkonzentrierte Aufladung mit einer Vielzahl basaler Probleme menschlichen Zusammenlebens würden jeder besseren Telenovela des frühen 21. Jahrhunderts zur Ehre gereichen und lassen eine maßstabsgetreue Zusammenfassung zu einem Ding schierer Unmöglichkeit werden. Obgleich das Stück quasi in real time innerhalb von nur zwölf Stunden, von Mittag bis Mitternacht, an einem einzigen Tag, dem 13. Mai 1912, und an einem einzigen Ort, der Berliner Villa des hoch angesehenen Universitätsrektors Prof. Dr. Dufroy-Regnier, spielt, werden in einer komplizierten und mehrfach verschränkten Familienkonstellation multiple Fälle angekündigten, vollzogenen oder gar erzwungenen Suizids, unkontrollierte Ausbrüche ekstatischer Leidenschaft, unterschiedliche Episoden vorund außerehelichen Geschlechtsverkehrs, Zwischenfälle mit wiederholt miteinander verwechselten Zwillingsschwestern, gebrochene Eide und unheilbare Krankheiten, getötete oder langfristig ins Kloster abgeschobene Kinder sowie Neid, Mißgunst und Betrug aller Couleur unter den fünf dort versammelten Personen be- und verhandelt. Diese Ereignisse, deren Mehrzahl schon für sich genommen mehr als genug Stoff für je eigene Tragödien bieten würde, haben sich zum Teil bereits vor mehreren Jahren zugetragen. Sie kommen aber erst jetzt, im Verlauf einer großen Séance im Hause des Naturwissenschaftlers ans Tageslicht und spitzen sich zuletzt derart dramatisch zu, daß sie zum Tod von Dufroy-Regniers mediumistisch begabter Tochter Marianne führen, welche während der Sitzung von ihrer verstorbenen Zwillingsschwester heimgesucht wird. Im Vordergrund des Gesamtstückes stehen dabei weniger die angesichts eines solchen Arsenals von Sünden, Lastern und Verfehlungen eigentlich nahe liegenden Fragen von individueller Schuld, Verstrickung und Einsamkeit auf der einen, Reue, Vergebung und göttlicher Erlösung auf der anderen Seite, sondern mindestens ebenso großkalibrige, faustische Probleme von Weltanschauung, Kontingenzbewältigung und Daseinsdeutung. Dabei hat sich Holz ganz offensichtlich intensiv bei Aksákow und du Prel über spiritistische und okkultistische Debatten der Zeit informiert und vor allem bei letzterem eine Vielzahl direkter Anleihen gemacht.50 So verstricken sich seine Protagonisten immer wieder in leidenschaftliche Auseinandersetzungen und Fundamentaldebatten um den Okkultismus und die (Un-)Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis. Sofern man denn überhaupt von einer solchen sprechen kann, erwächst die Hauptspannung des Stückes keineswegs aus der ohnehin unüberschaubaren Vielzahl verschränkter Einzeldramen, sondern der epistemischen Polarität von Materialismus und Okkultismus. Erst bei Holz treffen die beiden hauptsächlichen Protagonisten – Emil Du Bois-Reymond und Karl Friedrich Zöllner 50

Dazu W. Beimdick, Holz, a. a. O., 245–255.

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– dann auch wirklich aufeinander, und das über 450 Seiten hinweg. Holz lässt beide in kaum verhohlener Gestalt auftreten, ersteren in Form des Hausherrn Dufroy-Regnier, letzteren – allerdings im Vergleich sehr viel weniger eindeutig modelliert – als dessen Stiefbruder Dr. Ludwig Adrian Brodersen, der mit einer »Mundus explicatus! Das gelöste Welträtsel oder der durchhaune gordische Knoten« betitelten Arbeit habilitiert worden ist, eine viel versprechende akademische Karriere indes frühzeitig durch sein vehementes Eintreten für die okkultistische Sache ruiniert hat. Ignorabimus bezieht keine eindeutige Position zum Für und Wider von Okkultismus vs. Ignorabimus. Jede Gesamtaussage des Dramas geht in dem kakophonisch anmutenden Potpourri sich gegenseitig neutralisierender Äußerungen der fünf Protagonisten und der Vielzahl der höchst detaillierten Regieanweisungen notwendig und vollständig unter. Und selbst wenn der Streit gleichen Namens nie direkte Erwähnung findet, wurde erst an diesem alles andere als zentralen Ort und zu einem solch späten Zeitpunkt die direkte Verknüpfung des naturwissenschaftlichen und okkultistischen Diskurses hergestellt. Daß dies überhaupt nur in einem fiktiven, von einem Außenseiter verfaßten Text möglich war, welcher zudem auf Jahre hinaus folgenlos, da nahezu unrezipiert und ungespielt blieb, ist dann auch keineswegs als historischer Zufall zu werten, sondern muß als weiterer Ausdruck eines tief greifenden und grundsätzlich unversöhnlichen Mißverhältnisses begriffen werden. Lediglich auf derartig neutralem und von niemandem reklamierten Terrain konnten epistemische Grenzen überwunden werden, und selbst dort nur höchst bedingt. Auch vierzig Jahre nach Begründung dieses merkwürdigen Spannungsverhältnisses war der Okkultismus dem Ignorabimus alles andere als entronnen.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Kurt Bayertz, seit 1993 Professor für praktische Philosophie an der Universität Münster;. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Anthropologie und politische Philosophie. Wichtige Publikationen: GenEthik. Probleme der Technisierung menschlicher Fortpflanzung, Reinbek 1987 (übersetzt ins Englische und Chinesische), Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004 (2. Aufl. 2006). Dietrich von Engelhardt, seit 1983 Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität zu Lübeck; 1998–2002 Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin, 2002–2004 Vorsitzender der Ethikkommission für Forschung zu Lübeck, seit 2003 Vorsitzender des Klinischen Ethikkomitees (KEK) der Universität zu Lübeck. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Medizin, Geschichte der Medizinischen Ethik, Ethik im Medizinstudium, Medizin in der Literatur der Neuzeit, Naturwissenschaften und Medizin in Idealismus und Romantik, Umgang des Kranken mit der Krankheit (Coping). Wichtige Publikationen: (Hg.), Ethik im Alltag der Medizin: Spektrum der medizinischen Disziplinen, Berlin 1989, Basel ²1997; Medizin in der Literatur der Neuzeit, Bd. 1–2, Hürtgenwald 1991/2000; Krankheit, Schmerz und Lebenskunst: Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999. Cord Friebe, PD Dr. phil., Vertretung einer Oberassistenten-Stelle am Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie der Universität Bonn (Prof. Dr. Andreas Bartels);. Arbeitsschwerpunkte: Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, Theoretische Philosophie Kants. Wichtige Publikationen: Theorie des Unbewußten. Eine Deutung der Metapsychologie Freuds aus transzendentalphilosophischer Perspektive, Würzburg 2005; Teilen, Trennen und Vereinen: EPR ohne Holismus, in: Journal für General Philosophy of Science – Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 35, 2 / 2004; Kant und die Spezielle Relativitätstheorie, erscheint in: Kant-Studien, voraussichtlich 2008. Alexander C. T. Geppert, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin; Fellow am Minda de Gunzburg Center for European Studies der Harvard University. Arbeitsschwerpunkte: Raum- und Stadtgeschichte, Geschichte der Emotionalität sowie Historiographie- und Wis-

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

senschaftsgeschichte; Habilitationsprojekt zur Geschichte des Weltraums und des außerirdischen Lebens in der europäischen Imagination des 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikationen: A. C. T. Geppert / U. Jensen / J. Weinhold (Hg.), Ortsgespräche: Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005; A. C. T. Geppert / L. Passerini (Hg.), New Dangerous Liaisons: Discourses on Europe and Love in the Twentieth Century, Oxford 2007; Brief Cities: Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe, London 2007. Myriam Gerhard, seit 2004 Juniorprofessorin für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Naturphilosophie, Klassische Deutsche Philosophie. Wichtige Publikation: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie. Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes, Berlin 2002. Walter Jaeschke, Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Direktor des Hegel-Archivs. Arbeitsschwerpunkt: Klassische deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart 2003; Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986; Editionen insbesondere von Werken Hegels und Friedrich Heinrich Jacobis. Günther Mensching, Professor für Philosophie an der Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Mittelalters und der Aufklärung, Geschichte des Materialismus, Metaphysik und Sozialphilosophie. Wichtige Publikationen: Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Frankfurt /M. 1971; Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992; Thomas von Aquin, Frankfurt 1995. Michael Pauen, Professor für Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Visiting Professor am Institute for Advanced Study in Amherst, Massachusetts, Fellow an der Cornell-University und am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst, Ernst-Bloch-Förderpreis 1997. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Kultur- und Geschichtsphilosophie. Wichtige Publikationen: Illusion Freiheit?, Frankfurt /M. 2004; Feeling Causes, in: Journal of Consciousness Studies (2006); Does Free Will Arise Freely, in: Scientific American (2003). Andrea A. Reichenberger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Philosophie des Instituts für Humanwissenschaften an der Universität Paderborn.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Arbeitsschwerpunkte: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikation: Riegls Kunstwollen. Versuch einer Neubetrachtung, SanktAugustin 2003. Hans-Jörg Rheinberger, Professor Dr., Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Biologie, Geschichte und Epistemologie des Experiments, Historische Epistemologie. Wichtige Veröffentlichungen: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001 / Frankfurt /M. ³2006; Iterationen, Berlin 2005, Epistemologie des Konkreten, Frankfurt /M. 2006. Hans Jörg Sandkühler, Professor für Philosophie an der Universität Bremen; Leiter der Deutschen Abteilung Wissenskulturen, Transkulturalität, Menschenrechte des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris). Arbeitsschwerpunkte: Epistemologie und Rechts- und Staatstheorie. Wichtige Publikationen: Enzyklopädie Philosophie, 2 Bde., Hamburg 1999; Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart / Weimar 2002 (Franz. Ausgabe Paris 2003), Handbuch Deutscher Idealismus, Stuttgart / Weimar 2005. Michael Stöltzner, Dr. phil, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung der Bergischen Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Geschichte der Physik und angewandten Mathematik, die Geschichte der Wissenschaftstheorie, die Epistemologie der angewandten Wissenschaft, Kausalität und Prinzipien formaler Teleologie. Wichtige Publikationen: M. Stöltzner / Th. Uebel (Hg.), Wiener Kreis, Hamburg 2006; John von Neumann and the Foundations of Quantum Physics, Dordrecht 2001; Appraising Lakatos. Mathematics, Methodology, and the Man, Dordrecht 2002. Renate Wahsner, Prof. Dr., Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsschwerpunkte: Philosophiegeschichte in Verbindung mit Wissenschaftsgeschichte; epistemologische Grundlagen und Probleme der Physik; Deutscher Idealismus; klassische Naturphilosophie. Wichtige Publikationen: H.-H. v. Borzeszkowski / R. Wahsner, Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff, Darmstadt 1989; Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt / M. u. a. 1996, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft, Aachen 2006.