Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit 9783787317776, 9783787320103

Gegenstand dieser in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts vehement ausgetragenen öffentlichen Debatte war die von den Ma

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit
 9783787317776, 9783787320103

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 1: Der Materialismus-Streit

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 1: Der Materialismus-Streit Band 2: Der Darwinismus-Streit Band 3: Der Ignorabimus-Streit

FELIX MEINER VERLAG



H AM BURG

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 1: Der Materialismus-Streit

Herausgegeben von

kurt bayertz, myriam gerhard und walter jaeschke

FELIX MEINER VERLAG



HA M BU RG

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1777-6

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Marcel Simon-Gadhof. Umschlagabbildung: © akg-images. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer, Bad Langensalza«. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Kurt Bayertz / Myriam Gerhard /Walter Jaeschke Einleitung .. . .. .. .. ... .. ... .. .. ... .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. ........................

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I. DER MATERIALISMUS DES 19. JAHRHUNDERTS IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Günther Mensching Philosophie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Der Materialismus im 19. Jahrhundert und seine Geschichte .............

24

Kurt Bayertz Was ist moderner Materialismus? .. .. .. .. ... .. .. ... .. ........................

50

II. DER MATERIALISMUS ALS THEORETISCHE KONZEPTION UND SEINE WIRKUNGEN Renate Wahsner Der Materialismusbegriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts ..............

71

Michael Pauen Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke. Wissenschaftlicher Materialismus und die Philosophie der Naturforscher im Vergleich mit dem Physikalismus der Gegenwart......

102

III. DER MATERIALISMUS IN DER PHILOSOPHISCHEN DEBATTE SEINER ZEIT Myriam Gerhard Die philosophische Kritik am naturwissenschaftlichen Materialismus im 19. Jahrhundert .. ... .. .. .. ... .. ... .. .......................

127

Gudrun Kühne-Bertram Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Materialismusstreits in den Philosophien von Schülern F. A. Trendelenburgs ...................

142

6

Inhalt

IV. MATERIALISMUS, ANTHROPOLOGIE UND HIRNFORSCHUNG Reinhard Mocek Materialismus und Anthropologie im 19. Jahrhundert ....................

177

Michael Hagner Hirnforschung und Materialismus .. .. ... .. .. ................................

204

V. MATERIALISMUS, POLITIK UND GESELLSCHAFT Christian Jansen »Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«. Der nachrevolutionäre Paradigmenwechsel in den 1850er Jahren im deutschen oppositionellen Diskurs und sein historischer Kontext ....................

223

Andreas Arndt Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx ...............................

260

VI. MATERIALISMUS, LITERATUR UND THEOLOGIE Monika Ritzer Faktum – System – Substanz. Reflexe der Naturwissenschaft in der Literatur zwischen 1835 und 1855 .. .. ... .. .. ................................

275

René Buchholz » ... zersetzt er Kultur und Sittlichkeit«. Über einige Schwierigkeiten theologischer Materialismusrezeption .. ... .. ................................

309

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . .................................

333

Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke

Einleitung

Der hier vorliegende Band zum Materialismus-Streit ist der erste von insgesamt drei Bänden, in denen das spannungsreiche und wechselvolle Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft, Religion und Weltanschauung im 19. Jahrhundert aus interdisziplinärer Perspektive untersucht wird. Die beiden folgenden Bände werden sich mit dem Darwinismus-Streit und dem Ignorabimus-Streit befassen. Mit den Beiträgen dieser drei Bände wird erstmals eine zusammenhängende Darstellung und Deutung der drei weit über das 19. Jahrhundert hinaus einflußreichen Debatten zum Materialismus, Darwinismus und Ignorabimus vorgelegt. Die Bände sind hervorgegangen aus Tagungen, die im November 2002, 2003 und 2004 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden haben. Im Namen aller Teilnehmer möchten die Herausgeber der Leitung des ZiF für die freundliche und großzügige Einladung danken, die eine intensive Auseinandersetzung und Diskussion des Themas ermöglicht hat. Für den Druck sind die Beiträge geringfügig überarbeitet worden.

I. Philosophiegeschichte als Problemgeschichte1 Daß die Naturwissenschaften kein eng begrenztes Feld des Wissens darstellen, sondern eine das gesamte materielle wie auch geistige Leben der Gesellschaft durchdringende Macht, bedarf heute kaum noch der Erläuterung oder des Beweises. Offensichtlich ist auch, daß diese Durchdringung ein oft schmerzlicher, von heftigen Auseinandersetzungen begleiteter Prozeß war und noch immer ist. Obwohl dieser Prozeß bereits wesentlich früher begann, nimmt er im 19. Jahrhundert insofern eine entscheidende Wendung, als sich die Naturwissenschaft hier endgültig als ›dritte Kraft‹ neben ihren beiden wichtigsten weltanschaulichen Konkurrenten, vor allem Philosophie und Religion, etablierte – und diese im Bewußtsein zahlreicher Zeitgenossen sogar überflügelte. Im Grundsatz ist diese Tatsache unbestritten. Nur wenige Epochen der Geschichte der Philosophie sind gründlicher untersucht als die des 19. Jahrhun1

Die ersten drei Abschnitte der Einleitung beziehen sich gleichermaßen auf alle drei Debatten. Der vierte Abschnitt bezieht sich ausschließlich auf den Materialismus-Streit.

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derts. Im Hinblick auf Deutschland gilt dies in besonderem Maße für das erste, von Hegel und seiner Schule dominierte Drittel, sowie für das letzte Drittel, das vor allem von Nietzsche einerseits und dem Neukantianismus andererseits geprägt war. Gleichwohl läßt eine nähere Betrachtung erkennen, daß es auch in diesem insgesamt so gut bekannten Jahrhundert eine Reihe bedeutsamer Konstellationen und Entwicklungen gab, denen die philosophiehistorische Forschung bislang nur ungenügende Aufmerksamkeit hat zuteil werden lassen. Dazu gehören vor allem jene dem »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«2 unmittelbar folgenden Jahrzehnte um die Jahrhundert mitte. Zu den Gründen für diese relativ geringe Beachtung gehört die Fokussierung der Forschung zum einen auf die innerphilosophische Entwicklung und zum anderen auf bedeutende Denker und ihre herausragenden philosophischen Leistungen; beides zusammen führt oft zu einer Darstellungsweise, die die Geschichte der Philosophie als eine Abfolge von einzelnen Persönlichkeiten und ihrer innovativen Werke erscheinen läßt.3 Ein in mancher Hinsicht anders akzentuiertes Bild ergibt sich demgegenüber dann, wenn man Philosophiegeschichte als Problemgeschichte schreibt.4 Aus einer solchen Perspektive stellt sich die Geschichte der Philosophie nicht so sehr als eine Reihe einzelner Autoren und ihrer Werke dar, sondern eher als eine Sequenz von Prozessen der Problemgenese einerseits und Versuchen zur Problemlösung andererseits. Obwohl die zunehmende Bedeutung der Naturwissenschaften sicher nicht das einzige grundlegende Problem war, mit dem sich die Philosophie des 19. Jahrhunderts konfrontiert sah, gehört sie doch zu ihren wichtigsten und war überdies mit einigen anderen (vor allem: mit den durch Industrialisierung, Urbanisierung, Proletarisierung etc. verbundenen gesellschaftlichen Verwerfungen) eng verknüpft. Der ungeheure Aufschwung, den die Naturwissenschaften in dieser Zeit erfuhren, und nicht zuletzt auch die Anfänge ihrer praktischen (d. h. technischen) Wirksamkeit in verschiedenen Lebensbereichen haben das zeitgenössische Bewußtsein nachhaltig beeindruckt und das philosophische Denken mit einer schweren Herausforderung konfrontiert. Diese läßt sich auf (mindestens) zwei verschiedenen Ebenen lokalisieren: Die offensichtlichen Fortschritte der Naturwissenschaften warfen die Frage 2

K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt / M. 1969. – Es verdient hervorgehoben zu werden, daß in Löwiths bekannter Untersuchung weder der Materialismus-Streit noch die Auseinandersetzungen um den Darwinismus und um die Ignorabimus-These einer Behandlung für würdig empfunden werden. 3 Z. B. W. Hogrebe, Deutsche Philosophie im XIX. Jahrhundert, München 1987. 4 Zu den wenigen Beispielen gehört: H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt / M. 1983.

Einleitung

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nach einer erkenntnistheoretischen Analyse ihrer spezifischen Denkweise und Arbeitsmethodik auf, die in der Lage war, die unübersehbaren Erfolge bei der empirischen Erfassung der Natur zu erklären. Vor allem der Neukantianismus sowie die verschiedenen Spielarten des Positivismus und Empirismus haben sich dieser Aufgabe intensiv gewidmet. Der »sichere Gang« der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Objektivitätsanspruch ihrer Resultate konfrontierten die Philosophie darüber hinaus mit einem Erkenntnistypus, der einen von ihr unabhängigen und ihr sogar überlegenen epistemischen Zugang zur Welt reklamierte. Die Mutter der Naturwissenschaften muß plötzlich befürchten, daß ihre Töchter ihr den Rang ablaufen; sie sieht sich in die Defensive gedrängt und dem Zwang ausgesetzt, »immer wieder ihre Unentbehrlichkeit, ja ihre Existenzberechtigung nachweisen zu müssen […]«.5

II. Ein weltanschauliches Reformprogramm Nun bestand die Reichweite dieser zweiten Herausforderung nicht allein darin, daß sie die Philosophie als eine abgelebte Gestalt des Geistes erscheinen ließ, die durch »modernere« und erfolgreichere Formen der Erkenntnis abzulösen war; sondern daß sie damit eo ipso ihre weltanschauliche Autorität in Frage stellte. Zur Debatte stand damit also nicht nur die epistemische Autorität der Philosophie, sondern auch ihre Tragfähigkeit als Basis eines »zeitgemäßen« Weltbildes. Eine zunächst noch zahlenmäßig kleine, dann aber immer rascher anwachsende Zahl von Autoren gewann den Eindruck, daß die individuell wie gesellschaftlich gleichermaßen bedeutsame Funktion der Orientierung in der Welt von Philosophie und Religion auf die Naturwissenschaften zu übertragen sei. Solche »expansionistischen«6 Bestrebungen, die den Naturwissenschaften eine über ihre disziplinären Fachgrenzen hinausreichende normative Relevanz für die Orientierung in der Welt und für die Gestaltung der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zuschreiben, gewannen um die Jahrhundertmitte in ganz Europa an Boden,7 spielten in Deutschland jedoch eine besonders große Rolle. Von »Materialisten« wie Ludwig Büchner und »Darwinisten« wie Ernst Haeckel wurden die Naturwissenschaften zur einzig rationalen Basis jeglicher Weltanschauung er- und zum innerweltlichen Erlö-

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Ebd., 89. Diesen Ausdruck verwendet in ähnlichem Kontext erstmalig L. R. Graham, Between Science and Values, New York 1981. 7 Vgl. M. Mandelbaum, History, Man and Reason. A Study in Nineteenth-Century Thought, Baltimore / London 1974. 6

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sungsmittel verklärt. Die gleichzeitig einsetzende breite und einflußreiche Bewegung zur Popularisierung der Naturwissenschaften trug dazu bei, daß dieses Programm weltanschaulicher Reformation auf naturwissenschaftlicher Basis nicht auf akademische Kreise beschränkt bleibt, sondern in erhebliche Teile des Bildungsbürgertums und der Arbeiterschaft diffundiert.8 Daß diese Entwicklung strukturelle Ursachen hatte, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf parallele Bemühungen in anderen europäischen Ländern. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß die Situation in Deutschland durch spezifische historische Ereignisse mitbestimmt und radikalisiert war. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 befand sich das liberale und demokratische Bürgertum hier in einer schwierigen Lage. Unter den Bedingungen der verschärften Restauration gab es keine Hoffnung auf die angestrebte nationale Einigung und politische Demokratisierung. Eher schon ließ sich aus dem Fortschritt der Wissenschaft die Hoffnung auf langfristige Änderungen schöpfen. Da die herrschenden Kreise sich zur Rechtfertigung ihrer repressiven Maßnahmen auf die Religion stützten, boten sich die Naturwissenschaften um so mehr als Bündnispartner für oppositionelle Bewegungen an. Die Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus – Ludwig Büchner, Carl Vogt und Jakob Moleschott – waren nicht die einzigen, wohl aber die bekanntesten und in mancher Hinsicht auch die radikalsten Vertreter dieses weltanschaulich-politischen Reformprogramms.9 Politische Motive spielten in ihrem Kampf gegen die christliche Religion eine zentrale Rolle.10 Ähnliches gilt für die traditionelle Philosophie, die aufgrund ihrer idealistisch-illusionären Ausrichtung für die Niederlage der Revolution mitverantwortlich gemacht wurde. Die »Ideen von 1848«, so befand man im Nachhinein, hätten keine solide Basis in der Wirklichkeit gehabt, sondern auf den Wolkengebilden des Idealismus beruht.11 8

A. Kelly, The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860–1914, Chapel Hill 1981. – K. Bayertz, Spreading the Spirit of Science: Social Determinants of the Popularization of Science in Nineteenth-Century Germany, in: T. Shinn / R. Whitley (Hg.), Expository Science: Forms and Functions of Popularisation, Dordrecht 1985, 209–227. – A. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998. 9 H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, München 1974, 124–170. – F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth-Century Germany, Dordrecht 1977. 10 W. Bröker, Politische Motive naturwissenschaftlicher Argumentation gegen Religion und Kirche im 19. Jahrhundert. Dargestellt am »Materialisten« Karl Vogt, Münster 1974. Vgl. R. Bucholz, Körper – Natur – Geschichte: materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie, Darmstadt 2001, insbes. 89 f. 11 Th. Ziegler, Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1899, 295 ff.

Einleitung

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III. Drei zentrale Auseinandersetzungen Gegenstand einer über Fachkreise weit hinausreichenden öffentlichen Debatte wurde der im Namen der Naturwissenschaften erhobene weltanschauliche Reformanspruch erstmals im Rahmen des Materialismus-Streites der 50er Jahre. Obgleich Ludwig Feuerbach seine Kritik am Hegelschen Idealismus schon in den 30er Jahren vorgetragen hatte und obgleich Vogt und Moleschott ihre publizistische Tätigkeit in den 40er Jahren begonnen hatten, fand das materialistische Programm erst nach der Revolution einen größeren Widerhall. Ausgelöst wurde die Debatte, als der Göttinger Physiologe Rudolf Wagner 1854 auf der 31. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte einen Vortrag hielt, in welchem er den Materialismus scharf angriff und die Bedeutung der christlichen Religion als geistige Basis der Naturforschung verteidigte: Indem der Materialismus die unsterbliche Seele des Menschen leugne, bringe er die Naturwissenschaften in den Verdacht, »die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zu zerstören […]«.12 Carl Vogt, der bereits einige Jahre zuvor öffentlich gegen Wagner polemisiert hatte, veröffentlichte daraufhin eine Streitschrift unter dem Titel Köhlerglaube und Wissenschaft13, die großes Aufsehen erregte. Noch nachhaltiger wirkte allerdings das 1855 von Ludwig Büchner veröffentlichte Buch Kraft und Stoff, das bis zum Jahrhundertende 19 Auflagen erleben sollte. Abgesehen von den inhaltlichen Einzelheiten besteht die Bedeutung dieser Auseinandersetzung darin, daß hier erstmals auf breiter populärer Basis das Programm einer Weltanschauungs- und Gesellschaftsreform auf naturwissenschaftlicher Basis propagiert wurde. Unter den philosophischen Reaktionen auf den Materialismus ragt die 1866 erstmals erschienene monumentale Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange heraus. Historisch weit ausholend rechtfertigte Lange den Materialismus für den Bereich der Naturforschung, kritisierte aber seine Verabsolutierung zu einer allgemeinen Weltanschauung, die an die Stelle von Philosophie und Religion treten könnte. Damit war eine Formel für die ›friedliche Koexistenz‹ der Naturwissenschaften einerseits, der Philosophie und Religion andererseits gefunden; freilich ohne daß diese sich umgehend durchgesetzt und dem Weltanschauungskampf zwischen den Lagern ein Ende bereitet hätte. Die beiden Fragen, (a) ob und inwieweit die Naturwissenschaften sich tatsächlich von ihren philosophischen und religiösen Ursprüngen abzukoppeln vermögen und (b)

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R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz, in: Amtlicher Bericht über die 31. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Göttingen, Göttingen 1854, 15–22. 13 C. Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen, Gießen 1855.

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ob und wieweit Philosophie und Religion sich den Resultaten der naturwissenschaftlichen Forschung zu beugen haben, blieben auch weiterhin umstritten. Dies wurde schon wenige Jahre später deutlich, als das 1859 publizierte Hauptwerk Darwins über die Entstehung der Arten in Deutschland bekannt wurde und eine ebenso heftige wie andauernde Diskussion auslöste. Dieser Darwinismus-Streit schloß sich nicht nur zeitlich unmittelbar an den Materialismus-Streit an, sondern setzte ihn sowohl in inhaltlicher als auch (zumindest teilweise) personeller Hinsicht fort. Es ging dabei einerseits um die wissenschaftliche Akzeptabilität der Evolutionstheorie; andererseits war diese spezielle Frage auf eine intrikate Weise mit der allgemeinen Frage nach der philosophischen und weltanschaulichen Autorität der Naturwissenschaften verknüpft. In dieser einen Theorie kristallisierten sich alle Ansprüche, die im Rahmen des Materialismus-Streites für die Naturwissenschaften insgesamt erhoben worden waren. Vor allem Ernst Haeckel (aber nicht nur er) trat mit der These auf, daß die Darwinsche Theorie den Schlüssel zur Lösung aller ungelösten wissenschaftlichen und philosophischen Rätsel bereitstelle: »›Entwickelung‹ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können […].«14 Neben Haeckel beteiligten sich zahlreiche andere Autoren an der Realisierung dieses Programms einer Reformulierung der gesamten Weltanschauung in allen ihren Bereichen in darwinistischen Termini.15 Während auf der einen Seite die Evolutionstheorie in die Rolle einer quasi-Religion gedrängt wurde, begann sich die Theologie – und teilweise auch die Philosophie – aus der Deutung der empirischen Welt zurückzuziehen; oder gar Versatzstücke des Darwinismus zu übernehmen.16 Es wäre allerdings voreilig, das 19. Jahrhundert pauschal als das »Jahrhundert der Naturwissenschaften«17 auszuzeichnen und den materialistischen bzw. darwinistischen Weltanschauungsreformern eine unangefochtene Hegemonie zuzuschreiben. Dieses Reformprogramm war von Beginn an heftig umstritten und hatte zu keinem Zeitpunkt ein Deutungsmonopol inne. Auf besondere Weise sichtbar wurde dies im Rahmen des Ignorabimus-Streites, der im Jahre 1872 von dem berühmten und einflußreichen Physiologen Emil Du Bois-Rey14

E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, ²1870, XVIII. E.-M. Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1995. 16 Besonders eindrücklich und folgenreich: D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis, Bonn 1872. Zahlreiche weitere Auflagen folgten. 17 So der berühmte Titel eines von Werner von Siemens 1886 gehaltenen Vortrages. Abgedruckt in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin 1987, 143–55. 15

Einleitung

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mond ausgelöst wurde. Von den beiden vorgenannten Debatten unterscheidet diese Auseinandersetzung sich dadurch, daß es hier zunächst »nur« um eine erkenntnistheoretische Frage zu gehen schien: Du Bois-Reymond hatte nämlich behauptet, daß es zwei unüberwindliche Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gebe; innerhalb dieser Schranken sei das Erkennen zwar unbegrenzt, diese Schranken selbst aber seien unüberwindlich.18 Damit stellte Du Bois-Reymond – unbeabsichtigt – einen zentralen Punkt des materialistisch-darwinistischen Weltanschauungsreformprogramms in Frage: die Fähigkeit der Naturwissenschaft, die Basis eines nicht nur objektiven, sondern auch vollständigen Weltbildes bereitstellen zu können: Es mußten, wenn Du Bois These richtig war, entscheidende Lücken in einem naturwissenschaftlich fundierten Weltbild bleiben. Es kann daher nicht verwundern, daß die Thesen von den Grenzen des Naturerkennens einen heftigen (bis ins 20. Jahrhundert hinein geführten) Streit auslöste, in dessen Verlauf die »expansionistischen« Ansprüche der Materialisten und Darwinisten zunehmend unter Druck gerieten – freilich ohne daß die religiöse Weltdeutung die verloren gegangenen Positionen hätte zurückerobern können.

IV. Der Materialismus-Streit Der Materialismus hat keinen guten Ruf. Dies gilt nicht nur für das Alltagsverständnis von »Materialismus« als einer platten, auf die fleischlichen Gelüste fixierten Lebenshaltung, sondern auch für den philosophischen Materialismus. Selbst Ernst Bloch macht sich Gedanken darüber, weshalb »die meisten großen Philosophen noch nicht Materialisten waren«19. Auch wenn er sich mit dem »noch nicht« von der herrschenden Meinung abgrenzt, schließt er sich mit dieser Frage doch dem für geradezu selbstverständlich gehaltenen Urteil an, nach dem die Vertreter des Materialismus – von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu denen beispielsweise Hobbes zählt – als Philosophen zweiten Ranges zu gelten haben. Dabei wird den deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts nicht einmal ein solcher Platz in der zweiten Reihe zugebilligt. Ihre philosophische Seichtigkeit ist geradezu sprichwörtlich, und in vielen Arbeiten zur Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts werden sie nicht einmal einer Erwähnung

18

E. du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Leipzig ²1912, 441–73. – Zur anschließenden Debatte vgl. u. a. F. Vidoni, Ignorabimus! Emil Du Bois-Reymond und die Debatte über die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. / Bern 1991. 19 E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt / M. 1972, 18.

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für würdig befunden. Es ist daher bezeichnend, daß die einzige neuere Monographie zu diesem Thema nicht von einem Philosophie-, sondern von einem Wissenschaftshistoriker stammt.20 Dies hängt offenbar mit Kriterien philosophischer Qualität und Vorstellungen von philosophischer »Tiefe« zusammen, die hier nicht diskutiert werden können. Die in dem hier vorliegenden Band versammelten Beiträge möchten diese Kriterien zwar nicht unbedingt verabschieden, sich von ihnen aber auch nicht die Freiheit und Unbefangenheit einer genaueren Betrachtung jener von Carl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner repräsentierten materialistischen Theorieströmung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen lassen. Ihre gemeinsame Voraussetzung besteht darin, daß eine solche genauere Betrachtung des historischen Entstehungskontextes, der Struktur und der Wirkung dieser Theorieströmung nicht nur von philosophiegeschichtlichem Interesse ist, sondern auch über einige Bedingungen heutigen Philosophierens (sei es direkt oder indirekt) Aufschluß zu geben vermag. Die Beiträge versuchen den naturwissenschaftlichen Materialismus als eine Antwort auf eine bestimmte philosophische, weltanschauliche, gesellschaftliche und politische Problemlage zu verstehen und auch ernstzunehmen. Daß dieses Ernstnehmen nicht zur Kritiklosigkeit verdammt, wird der Leser bei der Lektüre der Beiträge leicht bemerken; der Ertrag, zu dem es führt, ist aber beträchtlich. Er zeigt sich an den Klärungen und Präzisionen, die sich aus den – im übrigen sehr unterschiedlichen – Beiträgen im Hinblick vor allem auf vier Problemkomplexe ergeben.

1. Der historische Kontext Der erste von ihnen betrifft den historischen Kontext, in dem der deutsche Materialismus des 19. Jahrhunderts auf die Bühne tritt. Aus der Tatsache, daß der von einer Kontroverse zwischen Rudolf Wagner und Carl Vogt ausgelöste »Materialismus-Streit« seit Mitte der 50er Jahre einen ganzen Schwall kontroversen Schrifttums erzeugte, ist schon von einigen Zeitgenossen geschlossen worden, daß es sich dabei um eine Reaktion auf die gescheiterte Revolution von 1848 gehandelt haben müsse. Da die hochfliegenden idealistischen »Ideen von 1848« an der harten Wirklichkeit des Militärs gescheitert waren, suchte das in seinen nationalen und demokratischen Ambitionen frustrierte deutsche Bürgertum nach weltanschaulicher Kompensation; es sah sich nach einem 20

F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, Dordrecht 1977. – Zu den philosophischen Aspekten siehe hingegen A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000.

Einleitung

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geistigen Bündnispartner um und fand ihn in den aufstrebenden Naturwissenschaften, die dann die Basis für einen realistischen, wirklichkeitsnahen und damit auch wirkmächtigen neuen Typus von Philosophie bilden sollte. Der Materialismus wäre demnach die resignative Antwort auf die triumphierende Reaktion der 50 Jahre. – Diese Diagnose ist sicher nicht in jeder Hinsicht falsch, greift aber doch in wichtigen Punkten zu kurz. (1) Zunächst ist auf die einfache Tatsache hinzuweisen, daß die materialistische Philosophie in Deutschland nicht erst nach 1848 auftrat, sondern lange vorher. Ludwig Feuerbachs kritische Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Idealismus beginnt bereits in den 30er Jahren, im Verlaufe derer er sich zunehmend von Hegel distanziert. Zum vollständigen »Bruch« mit der Hegelschen Philosophie und der Einsicht in die »Notwendigkeit einer Veränderung« kommt es allerdings erst in der Auseinandersetzung um Feuerbachs 1841 publiziertes Hauptwerk Das Wesen des Christentums. Sein Materialismus findet in den folgenden Jahren eine Reihe von Anhängern, zu denen nicht nur Karl Marx und Friedrich Engels zählen. Eine betont materialistische Position vertrat vor der Revolution auch Carl Vogt in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Zoologie an der Universität Gießen.21 Kurz: Materialistische Theorieansätze waren also schon vor 1848 in Deutschland präsent und wurden auch diskutiert, allerdings in eher kleinen Zirkeln. Was die (Niederlage der) Revolution beschleunigt hat, war aber die Rezeption dieser Theorieansätze in breiten Teilen der Bevölkerung. Tatsächlich breitet sich das materialistische Schrifttum seit den 50er Jahren in einem auch und gerade nach heutigen Maßstäben erstaunlichen Maße aus. Ludwig Büchners Programmschrift Kraft und Stoff erscheint erstmals 1855 und wird zu einem der am weitesten verbreiteten Bücher im 19. Jahrhundert, nicht nur in Deutschland, sondern aufgrund zahlreicher Übersetzungen in der ganzen Welt.22 (2) Diese nachrevolutionäre Phase, in der der Materialismus-Streit hohe Wellen schlägt, kann nicht auf eine Periode der Resignation (auf Seiten des Bürgertums) und der Reaktion (von Seiten der herrschenden Feudalaristokratie) reduziert werden. Wie der Beitrag von Christian Jansen deutlich macht, blieben viele der an der Revolution von 1848 beteiligten Akteure auch nach der Niederlage politisch aktiv, verfolgten ihre Ziele nun aber mit veränderten Mitteln. Man favorisierte nun eine längerfristig angelegte »Realpolitik«; zwischen ihrer theoretischen Formulierung23 und dem Materialismus lassen 21

C. Vogt, Über den heutigen Stand der beschreibenden Naturwissenschaften, Gießen

1847. 22

A. Daum, Wissenschaftspopularisierung, a. a. O., 296. L. A. Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1853), hrsg. und eingel. von H.-U. Wehler, Frankfurt / M. / Berlin / Wien 1972. 23

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sich verschiedene sachliche und personelle24 Beziehungen feststellen. Statt als resignativer Rückzug kann der Materialismus daher durchaus als Facette einer in sich differenzierten Bewegung der Modernisierung der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Bewußtseins angesehen werden, die durch die beschleunigte Industrialisierung und die Fortschritte der zeitgenössischen Naturwissenschaften starken Rückenwind bekam. (3) Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die philosophische und weltanschauliche Entwicklung in Deutschland in einem größeren europäischen Kontext betrachtet werden muß. Selbst wenn der Materialismus à la Vogt, Moleschott und Büchner zunächst ein deutsches Phänomen war, so kann er darauf nicht reduziert werden. Zum einen nämlich fällt auf, daß in anderen europäischen Ländern vergleichbare antispekulative und naturwissenschaftsbezogene Denkbewegungen aufkamen. Der Positivismus in Frankreich und der Utilitarismus in Großbritannien springen als verwandte Strömungen sofort ins Auge. Gegen die These vom Materialismus als einer rein deutschen Angelegenheit spricht darüber hinaus die rasche und breite Rezeption dieser Autoren in anderen europäischen Ländern. Daß die Schriften vor allem von Büchner überall in Europa weite Verbreitung und ein lebhaftes Echo fanden, zeigt deutlich genug, daß in ihnen epochale und keine spezifisch deutschen Probleme angesprochen wurden.

2. Eine breite weltanschauliche und kulturelle Strömung Betrachtet man den naturwissenschaftlichen Materialismus in seinem historischen Kontext, so wird zugleich auch erkennbar, daß seine Reduktion auf die Schriften eines Trios von Autoren korrekturbedürftig ist. Es steht zwar außer Zweifel, daß Vogt, Moleschott und Büchner aufgrund ihrer literarischen Produktivität und ihrer ubiquitären Präsenz in den Medien (Büchner war u. a. Autor der Gartenlaube) die bekanntesten und einflußreichsten Repräsentanten dieser Strömung waren; es wäre aber falsch, den Materialismus in Deutschland oder gar in Europa auf diese drei führenden Köpfe zu reduzieren. Eine historisch gründlicher angelegte Betrachtung läßt demgegenüber erkennen, daß wir es mit einer nicht nur thematisch, sondern auch personell außerordentlich breiten weltanschaulichen Strömung zu tun haben, die in ihren einzelnen Filiationen nur schwer zu überblicken ist. Der Beitrag von Reinhard Mocek läßt dies am Beispiel der Anthropologie des 19. Jahrhunderts exemplarisch erkennen. Materialistische Orientierungen und Theoreme lassen sich auch bei Autoren nachweisen, die sich selbst (z. T. aus politischen Gründen) niemals 24

Vgl. J. Moleschott, Für meine Freunde: Lebens-Erinnerungen, Gießen 1895, 170.

Einleitung

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als »Materialisten« bezeichnet haben. Sie sind deshalb in der Sekundärliteratur nicht unter diesem Rubrum registriert worden; aber auch, weil vieles von dem, was im 19. Jahrhundert noch als »materialistisch« oder zumindest »materialismusverdächtig« galt, heute längst Allgemeingut geworden ist. Wenn es zutrifft, »daß der Materialismus nichts anderes ist als die äußere Erscheinung der Glaubenslosigkeit; er ist, um einen anderen Ausdruck zu gebrauchen, das Princip der Diesseitigkeit«25, dann haben wir in ihm eine ungeheuer breite (und erfolgreiche) weltanschauliche Strömung vor uns. Daß eine solche Definition zu einer Verwässerung des Materialismusbegriffs führt und daher wenig hilfreich ist, sollte uns zunächst aber nicht davon abhalten, zur Kenntnis zu nehmen, daß »Materialismus« damals – von seinen Befürwortern wie von seinen Gegnern – nicht bloß als eine Philosophie, sondern als eine übermächtige Bewegung angesehen wurde, die das ganze kulturelle und geistige Leben umfaßt. Der heutige Leser wird es mit Gelassenheit aufnehmen, wenn Matthias Schleiden »die tiefe Unsittlichkeit der materialistischen Lehren«26 beklagt; aber er wird nicht ohne weiteres erwarten, Flauberts Madame Bovary als Beweis dafür angeführt zu finden. Aus der Perspektive der Zeitgenossen aber waren die Verbindungen zwischen dem in Kunst und Literatur um die Jahrhundertmitte einsetzenden »Realismus« und dem im letzten Drittel des Jahrhunderts sich ausbreitenden »Naturalismus« einerseits und dem materialistischen Denken in der Philosophie evident. Zu den Verbindungsgliedern zwischen beiden Seiten gehörten (neben der »sozialen Frage«) die Fortschritte der Naturwissenschaften. Der Beitrag von Monika Ritzer analysiert diesen Zusammenhang am Beispiel wichtiger literarischer Texte. Die Literatur des 19. Jahrhunderts hat den zeitgenössischen Aufschwung der Naturwissenschaften durchaus nicht ignoriert, und sie hat im Zusammenhang mit ihrer ästhetischen Verarbeitung dieses Aufschwunges auch materialistische Ideen und Positionen – teils kritisch, teils affirmativ – reflektiert.

3. Der Materialismus als philosophische Lehre Doch wenngleich »Materialismus« im 19. Jahrhundert nicht nur eine eng umrissene Gruppe philosophischer Theorien bezeichnet, sondern eine breite kulturelle Bewegung, so ist damit das Problem einer genaueren Charakterisierung der philosophischen Lehren von Vogt, Moleschott und Büchner natürlich noch 25

Anonymus, Der Materialismus unserer Zeit, in: Deutsche Vierteljahres Schrift, Viertes Heft (1855), 1–58, hier: 12 passim. 26 M. J. Schleiden, Ueber den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte, Leipzig 1863, 54.

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nicht erledigt. In den Beiträgen dieses Bandes wird dieser Problemkomplex vornehmlich unter drei Gesichtspunkten diskutiert. (1) In philosophiehistorischer Perspektive ist das Problem zu klären, welchen Platz der naturwissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts in der Geschichte des Materialismus einnimmt. Es ist oft behauptet worden, daß Carl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner unoriginelle Denker gewesen seien, die in ihren Schriften lediglich den französischen Materialismus des vorangegangenen Jahrhunderts aufgewärmt und unter Verwendung aktueller naturwissenschaftlicher Erkenntnisse reformuliert hätten. Wenn wir die Resultate des einschlägigen Schrifttums, die in ihm entfalteten Inhalte betrachten, so drängt sich eine solche Diagnose unweigerlich auf. Grundsätzlich neue und originelle philosophische Einsichten sucht der Leser bei Vogt, Moleschott oder Büchner vergebens. Andererseits findet man bei ihnen aber kaum Hinweise auf die Literatur der materialistischen Tradition; und man wird auch nicht sagen können, daß diese Autoren bei La Mettrie, Diderot oder d’Holbach stillschweigend abgeschrieben hätten. Günther Mensching weist in seinem Aufsatz darauf hin, daß die materialistische Philosophie keine kontinuierliche Lehrtradition aufweise, sondern in der Geschichte immer wieder neu zum Vorschein komme und sich dabei – aller inhaltlichen Parallelen ungeachtet – jeweils für ihre Zeit charakteristischen Problemstellungen verdanke. Dies führt zu der Frage, was die konkrete Problemstellung war, aus der der Materialismus des 19. Jahrhunderts entstand. (2) Einen wichtigen Hinweis auf die Antwort gibt das Selbstverständnis der führenden Repräsentanten des Materialismus: Dieses ist explizit antiphilosophisch. Man stand nicht nur der zeitgenössischen (akademischen) Philosophie ablehnend gegenüber, sondern der gesamten philosophischen Tradition. Zwar wurden die Vertreter des Materialismus von diesem Unwerturteil ausgenommen, die gelegentlichen Sympathieerklärungen für sie blieben aber pauschal und führten nicht zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihren Lehren. Ihre Thesen und Theorien schöpften Vogt, Moleschott und Büchner vornehmlich aus den zeitgenössischen Naturwissenschaften; und in diesem – ihrem Selbstverständnis nach überaus engen – Bezug auf die empirischen und exakten Wissenschaften ihrer Zeit sahen sie die unüberwindliche Stärke ihrer Theorie, für die sie den Titel »Philosophie« nicht nur nicht reklamierten, sondern energisch zurückwiesen. Hier schließen die Überlegungen an, die Kurt Bayertz in seinem Beitrag entwickelt. Für ihn besteht die Spezifik der einschlägigen Vertreter in eben diesem engen Anschluß an die Naturwissenschaften, mit dem sich der Materialismus des 19. Jahrhunderts einerseits von allen vorhergegangenen Materialismen abgrenzt, mit dem er andererseits aber auch als eine der frühesten Verkörperungen eines neuen Typus von »Philosophie« gelten kann, der im 20. Jahrhundert dann Karriere machen wird: des Typus der »wissen-

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schaftlichen Philosophie«. Die eigentlich bedeutsamen Charakteristika des naturwissenschaftlichen Materialismus liegen demnach nicht auf der inhaltlichen Ebene, sondern müssen in einer neuartigen »Form« des Philosophierens, in seiner wissenschaftsorientierten Denkhaltung und Weltauffassung gesehen werden. Verfolgt man die Geschichte des Materialismus bis in die Gegenwart, so läßt sich eine Entwicklung kennzeichnen, die von einem substantiellen Verständnis zu einem sich an Grundsätzen und Methoden der Naturwissenschaften orientierenden Materialismus reicht. Michael Pauen verdeutlicht in seinem Aufsatz die systematischen Verwandtschaften und rezeptionsgeschichtlichen Kontinuitäten zwischen dem naturwissenschaftlichem Materialismus des 19. Jahrhunderts und der gegenwärtigen Ausprägung des Materialismus. Die Streitpunkte und Grenzlinien zwischen den Vertretern und den Kritikern des Materialismus weisen – allen Differenzen zum Trotz – auch 150 Jahre nach Beginn des Materialismus-Streites keine wesentlichen Unterschiede auf. (3) Natürlich stellte sich das Problem der Wissenschaft nicht nur für den Materialismus, sondern für jede Form des philosophischen Denkens im 19. Jahrhundert. Daran schließt sich die Frage nach seiner Beziehung zu zeitgenössischen Alternativen an. Zum einen ist hier an materialistische Alternativen zu denken. Andreas Arndt analysiert in seinem Beitrag daher die grundlegenden Differenzen zum historischen Materialismus, die nicht nur auf eine politische Gegnerschaft zu Vogt oder Büchner reduziert werden können, sondern grundlegend philosophischer Natur sind. Auch Renate Wahsner legt in ihrem Aufsatz dar, daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein von Feuerbach und Marx entwickelter Begriff von Materie (und Materialismus) vorlag, der sich von den Extrapolationen aus naturwissenschaftlichen Theorien, wie sie der naturwissenschaftliche Materialismus vorlegte, grundlegend unterschied: Materie wird hier nicht als ein absolutes Substrat, sondern als Moment eines Wechselwirkungsverhältnisses verstanden. – Zum anderen aber steht der Materialismus natürlich auch im 19. Jahrhundert in Opposition zu idealistischen Theorieansätzen. Die philosophische Kritik richtet sich gleichermaßen gegen die Konsequenzen des naturwissenschaftlichen Materialismus und die Unerklärbarkeit von Bewußtsein, freiem Willen und lebendigen Organismen auf der Grundlage der materialistischen Weltanschauung. Daß die Kritik ebenso uneinheitlich ist wie der kritisierte Materialismus, zeigt Myriam Gerhard in ihrem Beitrag. Die Einwände reichen vom Vorwurf unbegründbarer metaphysischer Voraussetzungen bis zu erkenntnistheoretischen Überlegungen zur Widerlegung von Sensualismus und Atomismus.

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Kurt Bayertz / Myriam Gerhard / Walter Jaeschke

4. Die Wirkungen des Materialismus Der vierte Problemkomplex bezieht sich auf die Wirkung des naturwissenschaftlichen Materialismus. Wenn man von einem weiten Materialismus-Begriff ausgeht, wie er oben im Anschluß an zeitgenössische Kritiker skizziert wurde, ist sein Einfluß auf die Kultur und Weltanschauung des 19. Jahrhunderts überwältigend. Für die Philosophie scheint man das auf den ersten Blick nicht sagen zu können. In der akademischen Philosophie hat er keine Anhänger, wohl aber eine Menge Feinde gewinnen können; die Ablehnung war hier ebenso heftig wie einhellig. Gleichwohl sollte man daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen: Eine Wirkung setzt nicht unbedingt voraus, daß materialistische Ideen positiv aufgenommen und weitergetragen oder ausgebaut wurden; sie kann dort gegeben sein, wo er kritisiert oder bekämpft wurde. Tatsächlich läßt sich zeigen, daß der Materialismus die philosophische Agenda des 19. Jahrhunderts nicht unwesentlich mitgeprägt hat. So ist schwer vorstellbar, wie der Neukantianismus ohne die materialistische Herausforderung seine spezifische inhaltliche Ausrichtung und Bedeutung hätte erlangen können.27 Inwiefern der Materialismus-Streit als ein Auslöser für die Orientierung junger Philosophen im Sinne von Abgrenzungs- bzw. Vermittlungsversuchen von Materialismus und Idealismus zu betrachten ist, wird in dem Beitrag von Gudrun KühneBertram ausführlich dargelegt. Die Rezeptionsgeschichte des Materialismus bei den dem Neukantianismus zugerechneten Philosophen läßt die durchaus eindrucksvolle Wirkung des Materialismus-Streites eindeutig erkennen. Und auch der logische Empirismus knüpft in entscheidenden Punkten an den Materialismus an: nicht an seine substantiellen Lehren, aber an seine antispekulativen Ambitionen, an seinen wissenschaftsorientierten Stil des Philosophierens und an sein szientistisch verkürztes Verständnis von Aufklärung. Wie auf der kulturell-weltanschaulichen Ebene gilt auch für die Philosophie, daß ein Teil seiner Wirkung dadurch unsichtbar bleibt, daß vieles ehedem »Materialistische« inzwischen sein Odium verloren hat und nachgerade alltäglich geworden ist. Wenn es die Anerkennung der weltanschaulichen Autorität der Naturwissenschaften ist, die der Materialismus des 19. Jahrhundert erstmals rückhaltlos praktiziert und propagiert, dann können die allzu offensichtlichen Parallelen zu heutigen Debatten kaum überraschen. Tatsächlich zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen um bestimmte Ergebnisse der Hirnforschung und ihre Tragweite für das menschliche Selbstverständnis, auf die auch Michael Hagner in seinem Beitrag anspielt, daß einige der grundlegenden Streitpunkte des 27

K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die Deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt / M. 1993, 321.

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19. Jahrhunderts bis heute keine für alle Seiten überzeugende Lösung gefunden haben. Die damaligen Frontlinien lassen sich ungeachtet aller wissenschaftlichen Fortschritte bis heute nachverfolgen. Dabei macht Hagner zugleich auch deutlich, daß für eine vorsichtige Zurückhaltung hinsichtlich der weltanschaulichen Autorität der Naturwissenschaften gute Gründe bestehen. Im historischen Abstand von mehr als einem Jahrhundert wird unübersehbar, daß dem wissenschaftsorientierten Materialismus (wie auch anderen, verwandten philosophischen Ansätzen) eine tiefe Ambivalenz innewohnt. Einerseits treibt er die Delegitimierung metaphysischer Weltbilder voran und zielt auf eine vernünftige Gestaltung der Welt; andererseits bleibt er aufgrund seiner szientistischen Verengung anfällig für menschenfeindliche Schlußfolgerungen aus wissenschaftlichen Theorien. Der Materialismus des 19. Jahrhunderts und seine unscharfen Ränder zu sozialdarwinistischen oder rassistischen Ideologien lassen erkennen, daß die Orientierung an den Naturwissenschaften keine Garantie gegen menschenfeindliche Ideologien bietet. Diese Ambivalenz kann zugleich als ein Grund für die Ausarbeitung einer Konzeption von Materialismus angesehen werden, die dessen ursprüngliche aufklärerisch-humanistische Motive nicht dem szientistischen Naturalismus opfert. Der Essay von René Buchholz macht deutlich, daß diese Motive bei weitem noch nicht in allen Kontexten ihre provokative Kraft verloren haben. An die körperliche Verwundbarkeit des Menschen und an die Legitimität seiner diesseitigen Interessen bleibt gegen den theologischen wie gegen den philosophischen Spiritualismus auch heute noch zu erinnern; ebenso wie gegen die in einem ganz anderen Sinne »materialistische« Rücksichtslosigkeit des globalen Kapitalismus.

I. DER MATERIALISMUS DES 19. JAHRHUNDERTS IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE

Günther Mensching

Philosophie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Der Materialismus im 19. Jahrhundert und seine Geschichte Wer vom Materialismus reden will, darf vom Idealismus nicht schweigen. Der Gegensatz der beiden Begriffe, in dem sich eine grundlegende und ausschließende Alternative zwischen zwei philosophischen Orientierungen ausdrückt, ist nicht älter als die Epoche, mit der dieser Beitrag sich beschäftigen will. Zudem haben die Glieder des Gegensatzpaares ihre Namen erst in der Neuzeit erhalten, wenn diese auch, gleichsam rückwirkend, für Antike und Mittelalter Geltung beanspruchen.1 Die klassische Geschichtsschreibung der Philosophie ist sich bis heute fast gänzlich mit Friedrich Albert Lange einig, der seine immer noch nicht überholte Geschichte des Materialismus mit der Feststellung beginnt: »Der Materialismus ist so alt wie die Philosophie, aber nicht älter.«2 1

Die Glieder des Gegensatzes sind nicht immer mit den gleichen Namen bezeichnet worden. So ist der Gegensatz zum Materialismus nicht durchwegs der Idealismus, sondern noch im 18. Jahrhundert der Spiritualismus, der zumindest neben der materiellen Natur noch eine unabhängige geistige Substanz annahm. Noch in Holbachs Système de la nature gibt es den Begriff des Idealismus nicht. An seiner Stelle steht »spiritualité« zur Bezeichnung der cartesianischen geistigen Substanz. (Vgl. P. Th. d’Holbach, Œuvres complètes, hrsg. von J.-P. Jackson, Bd. II, Paris 1999, 220.) Demgegenüber verwendet Leibniz den Begriff des Idealismus, um den Gegensatz der Philosophie Platons zu der Epikurs und Hobbes’ herauszustellen. Umgekehrt wurde im Gegensatz zum Idealismus zuweilen auch der Begriff des Realismus verwendet, der sich bei einigen Vertretern mit dem Naturalismus verbindet. (Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 157 und 172 f.) 2 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), Bd. I, Leipzig 1907, 1. Der zumeist wenig beachtete Untertitel des Werkes deutet an, daß Lange es nicht in bloß geistesgeschichtlichem Interesse geschrieben hat, sondern auch polemische Absichten hatte. Der Neukantianismus, den Lange mitbegründet hat, stand neben anderen Richtungen wie etwa die beginnende Neuscholastik und der Vitalismus dem Materialismus als unversöhnliche Gegner gegenüber. – Inzwischen ist der Ursprung des Begriffs »Materialismus« und seine früheste Verwendung wesentlich besser erforscht. Vgl. R. Geißler, Matérialisme, Matérialiste, in: R. Reica, Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Heft 5, hrsg. von R. Reichardt u. a., München 1986, 61–88.

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Günther Mensching

Selbst wenn man den Materialismus als eine durch bestimmte Lehrstücke charakterisierte Grundrichtung der Philosophie betrachtet, weist er keine Kontinuität in seiner Tradition auf. Zwar verfolgt die Ideengeschichte die materialistischen Lehren bis in die Antike zurück, aber die Behauptung einer substantiell identischen Lehrtradition, die eine deutlich gegen Spiritualismus oder Idealismus zu isolierende Grundströmung des Denkens ausmacht, ist überaus problematisch. In neuerer Zeit hat H. Ley3 die These der substantiellen Identität des Materialismus seit der Antike am schärfsten vertreten. Dem ist zu entgegnen, daß die rückblickend materialistisch erscheinenden Positionen zwar oft erstaunliche Parallelen untereinander aufweisen, sich aber jeweils konkreten, für ihre Zeit charakteristischen Problemstellungen verdanken.4 Zwar gibt es seit der Antike immer wiederkehrende Motive wie die Ewigkeit der materiellen Welt, die Körperlichkeit der Seele und die reine Immanenz der Naturvorgänge, die auf kein Telos gerichtet und von keinem lenkenden Intellekt bestimmt sind, aber sie sind zumeist wesentlich durch Argumente begründet, die nach neuzeitlicher Klassifizierung als idealistisch gelten müßten. Zumindest machen die materialistischen Philosopheme von Demokrit bis zum Diamat »idealistische« Voraussetzungen, die zuweilen völlig unerörtert bleiben. So läßt sich weder die Selbstorganisation chaotischer Materie zu einem geordneten Kosmos noch die Evolution der organischen Natur ganz aus dem Zufall erklären, abgesehen davon, daß auch die statistischen Gesetze des Zufalls »geistig« sind und dennoch Realität beanspruchen. Umgekehrt stützen sich die »idealistischen« Philosophien regelmäßig auf Elemente, die dem Grundprinzip, dem Ursprung des Vielen aus dem reinen Einen, widersprechen. Wenn dieses Ureine zudem seiner selbst bewußt ist, so ist von Parmenides bis zu Hegel dennoch nicht zu sagen, wie dieses Bewußtsein auch nur sich selbst als virtuellen Gegenstand ohne ein materielles Korrelat von Gegenständlichkeit überhaupt erzeugen kann. Der Materialismus ist zuweilen als gleichsam unterirdische Gegenströmung zu den stets offiziell bestimmenden idealistischen Richtungen verstanden

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Ley hat nicht nur die europäische Geistesgeschichte, sondern darüber hinaus archaische vorderorientalische und asiatische Kulturen einzubeziehen versucht. Für sie alle soll gleichermaßen gelten: »Materialismus und Idealismus sind die beiden Richtungen, nach denen sich die auftretenden Elemente des philosophischen Denkens objektiv ordnen lassen.« Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. I, Berlin 1966, 3. Das Verfahren einer solchen Einordnung ist nicht nur deshalb problematisch, weil es schematisch ist, sondern weil es seine Begriffe nicht als historische Topoi begreift. 4 Vgl. hierzu: G. Mensching, Le matérialisme: une tradition discontinue, in: Materia actuosa. Antiquité, âge classique, Lumières. Mélanges en l’honneur d’Olivier Bloch, Paris 2000, 513–525.

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worden. Dem liegt die Beobachtung zugrunde, daß häretische und politisch oppositionelle Strömungen mitunter Lehren vertreten haben, die dem materialistischen Kanon zugezählt werden. Es sei der Materialismus also der geistige Ausdruck der Unterdrückten, während der Idealismus die Sprache der Herrschaft spreche.5 Das ist aber nur teilweise und bedingt richtig. Die häretischen Strömungen des Mittelalters, die oft auch soziale Bewegungen begleiteten, sprachen insofern für Unterdrückte und wurden folglich selbst unterdrückt, aber sie waren zumeist überhaupt nicht materialistisch.6 Bei Amalrich von Bène und David von Dinant läßt sich eher ein pantheistischer Neuplatonismus feststellen, während der sogenannte lateinische Averroismus des 13. Jahrhunderts einige zentrale »materialistische« Lehren enthält, für die er 1277 verurteilt wurde, so die Ewigkeit der materiellen Welt und die deterministische Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen, zudem einige physischhedonistische Momente und das Vertrauen in die weltliche Wissenschaft, die allein die Wahrheit erkennen kann. Aber die nicht minder wichtige Theorie von der Einheit des Intellekts ist ganz neuplatonisch begründet.7 Indessen ist nicht zu übersehen, daß der Antagonismus erst im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis der aktuellen philosophischen Richtungen bestimmt, während »Idealismus« und »Materialismus« in den beiden Jahrhunderten zuvor kaum im Gegensatz zueinander gesehen wurden. Einige Naturwissenschaftler und die Platoniker von Cambridge bekämpfen im 17. Jahrhundert die Theorie, die alle Erscheinungen der Natur allein aus den Eigentümlichkeiten der Materie und der Bewegung erklären will.8 Leibniz ist

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Vgl. auch hierzu H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus. Auch Adorno hat diese These vertreten, jedoch mit in sich differenzierter polemischer Richtung, denn die eine Weltmacht berief sich zur Legitimation ihrer Herrschaft ja gerade auf den Materialismus: »Das Banausische und Barbarische am Materialismus verewigt jene Exterritorialität des Vierten Standes zur Kultur, die mittlerweile nicht mehr auf diesen sich beschränkt, sondern über die Kultur selber sich ausgebreitet hat. Materialismus wird zum Rückfall in die Barbarei, den er verhindern sollte; dem entgegenzuarbeiten ist nicht die gleichgültigste unter den Aufgaben einer kritischen Theorie.« (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt 1975, 204 f.). 6 Weitaus heftiger als vereinzelte materialistische Tendenzen hat die Kirche zu bestimmten Zeiten eschatologisch-revolutionäre Bewegungen verfolgt, wie sie sich z. B. im Franziskanerorden zeigten. Einzelheiten der historischen Konstellationen finden sich in dem immer noch grundlegenden Werk von H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt ²1961. 7 Vgl. hierzu K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989, sowie G. Mensching, Matérialisme et pensée médiévale, in: J. d’Hondt / G. Festa, Présences du matérialisme, Paris / Montréal 1999, 37–47. 8 Vgl. hierzu: O. Bloch, Le matérialisme, Paris 1985, 5 ff.

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Günther Mensching

vermutlich der erste, der die beiden Begriffe einander entgegensetzt, indem er die Positionen bezeichnet, die sich in der Nachfolge Descartes’ in der Frage des Verhältnisses von denkender und ausgedehnter Substanz, von Seele und Körper, gegenüberstanden, um den Gegensatz in seinem eigenen System der prästabilierten Harmonie zu überwinden: »L’Harmonie preétablie estant un bon truchement de part et d’autre. Ce qui fait voir ce qu’il y a de bon dans les hypotheses d’Epicure et de Platon, des plus grands Materialistes et des plus grands Idealistes, se reunit icy.«9 Der Begriff des Materialismus ist zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch recht selten und bezeichnet nicht eine einheitliche Schule, die sich unter einem programmatischen Titel versammelt hätte. Vielmehr wird der Name vor allem von Gegnern bestimmter Lehrmeinungen in polemischer Absicht verwendet. Charakteristisch sind die 1713 erschienenen Three Dialogues between Hylas and Philonous von George Berkeley. Die Protagonisten der Dialoge repräsentieren, schon durch ihre plakativen Namen, den Gegensatz von Materialismus und Idealismus.10 Der letztere soll nach Berkeley die besseren Argumente haben, indem er beweist, daß der material substance, also der metaphysischen und physikalischen Materie keine Existenz zukomme. Die Annahme beruhe vielmehr auf einem Schein, der durch die Einsicht in den Lehrsatz esse est percipi aufzulösen sei.11 Der Akzent ist kämpferisch gegen Atheismus und Skeptizismus gerichtet, gegen welche die »providence of a Deity« bereits auf dem Titel9

G. W. Leibniz, Reponse aux reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, sur le systeme de l’Harmonie preétablie, in: Ders., Die philosophischen Schriften, hrsg. von C. J. Gerhardt, Bd. IV, Berlin 1880 (ND Hildesheim 1978), 560. Leibniz erklärt im selben Zusammenhang, die materialistische Position sei eine »mauvaise doctrine de ceux qui croyent que l’ame est materielle suivant Epicure et Hobbes.« (A. a. O., 559). 10 Kants »Widerlegung des Idealismus« (KrV, B 274–279) reagiert außer auf Descartes auch auf Berkeley, dessen Position dort als dogmatisch bezeichnet wird. Der Begriff des Materialismus wird an dieser Stelle zwar nicht als Gegensatz zum Idealismus gebraucht, aber Kant verwendet ihn in seiner »Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele« (KrV, B 413–426) ausdrücklich im Gegensatz zum Idealismus. Beide werden hier als gleichermaßen zu widerlegende Positionen dargestellt. 11 Vgl. G. Berkeley, Three Dialogues between Hylas and Philonous, in: Ders., The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, hrsg. von A. A. Luce / T. E. Jessop, Bd. II, London 1949, 235 f.: »Hylas: But still, Philonous, you hold, there is nothing in the world but spirits and ideas. And this, you must needs acknowledge, sounds very oddly. Philonous: I own the word idea, not being commonly used for thing, sounds something out of the way. My reason for using it was, because a necessary relation to the mind is understood to be implied by that term. […] But however oddly the proposition may sound in words, yet it includes nothing so very strange or shocking in its sense, which in effect amounts to no more than this, to wit, that there are only things perceiving, and things perceived; or that every unthinking being is necessarily, and from the very nature

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blatt ausgespielt wird.12 In dieser Epoche ist Materialismus freilich vorwiegend die Kennzeichnung jener Position in der Psychologie, die den Cartesianischen Dualismus zugunsten der res extensa auflösen möchte, – eine Tendenz, die sich bei Descartes, dem Substanzendualismus zum Trotz, selbst bereits an einigen Stellen abzeichnet.13 Im späteren 18. Jahrhundert beginnt die radikale Aufklärung damit, sich den ursprünglich despektierlich gemeinten Titel des Materialismus affirmativ zuzueignen. Julien Offray de La Mettrie deklariert als einer der ersten seine Position als Materialismus. Die Anfangskapitel seines Traité de l’âme14 reduzieren programmatisch alle geistigen und seelischen Tätigkeiten und Qualitäten auf Eigentümlichkeiten der Materie. Seine wichtigste Intention war, Geist und Seele als bloße Funktionen des Körpers zu erweisen. In seinem berühmtesten Buch L’homme machine sucht er die Mechanik, die damals fortgeschrittenste Naturwissenschaft, zum Erklärungsmodell aller menschlichen Lebensäußerungen zu erheben. Indessen findet hier bereits das im 19. Jahrhundert beherrschende Motiv der Nahrungsaufnahme einen Platz. Die seelischen Zustände sind abhängig von den Stoffen, die dem Organismus zugeführt werden. Insofern wird bereits hier die Physiologie berücksichtigt, die später die Mechanik als Leitwissenschaft ablöst: »Quelle puissance d’un Repas! La joie renait dans un cœur triste; elle passe dans l’Ame des Convives qui l’expriment par d’aimables chansons, où le François excelle. Le Mélancolique seul est accablé, et l’Homme d’étude n’y est plus propre. La viande crüe rend les animaux féroces; les hommes le deviendroient par la même nourriture. Cette férocité produit dans l’Ame l’orgueil, la haine, le mépris des autres Nations, l’indocilité et autres sentimens, qui dépravent le caractère, comme des alimens grossiers font un esprit lourd, épais, dont la paresse et l’idolence sont les attributs favoris.«15 La Mettrie war als Arzt an den medizinischen Fragen besonders interessiert. Im übrigen will sein Materialismus nicht primär politisch wirken, sondern den Hedonismus als Lebensweisheit fördern.

of its existence, perceived by some mind; if not by any finite created mind, yet certainly infinite mind of God, in whom we live, and move and have our being.« 12 Ebd., 147. 13 Zu nennen sind hier besonders die Passagen der Principia philosophiae, in denen Descartes die Einwirkung der Nervenbewegung auf die Seele zu demonstrieren sucht, also IV, 189 sowie die bekannte Stelle, die der Seele den Sitz in der Zirbeldrüse zuweist: Traité des passions, Art. 34 und 35. Vgl. hierzu G. Mensching, Der Mechanismus als Modell der Anthropologie, in: I. D’Aprile u. a. (Hg.), Französische Aufklärung, Schriftenreihe für Philosophie und Kulturtheorie, Bd.1, Berlin 2001, 25–38. 14 Vgl. J. O. de La Mettrie, Traité de l’âme, in: Ders., Œuvres philosophiques, Bd. I, Paris 1984, Corpus des œuvres de philosophie en langue française. 15 J. O. de La Mettrie, l’homme machine, in: Ders., Œuvres philosophiques, Bd. I, 70.

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Schon vor La Mettrie (1709–1751) ist der Materialismus des 18. Jahrhunderts mit fast allen wesentlichen Motiven aufgetreten, aber er hat in diesem Stadium fast keine Beachtung gefunden. Das sogenannte Testament des Abbé Meslier vereinigt Atheismus, Materialismus und radikale Gesellschaftskritik in sich.16 Die Intention des clandestin schreibenden Dorfpfarrers Jean Meslier (1687–1729) aus den Ardennen richtet sich auf einen vollkommenen Umsturz des absolutistischen Regimes und seiner religiösen Stütze. Sein Interesse ist also vorwiegend politisch und sein Materialismus die Gegenposition zu der von den Herrschenden in betrügerischer Absicht aufrecht erhaltenen Religion. Die Naturwissenschaft spielt hier kaum eine Rolle. Die Religionen sind nichts als Betrug der Herrschenden, mit dem die Armen und Ungebildeten zum Gehorsam genötigt werden. Dagegen hilft vor allem das »klare Licht des Verstandes«, das die Gleichheit der Menschen vor allem aus der Gleichheit ihrer körperlichen Verfassung ableiten kann. Ein Privileg ist aus einer Naturordnung nicht mehr herzuleiten, die auf der cartesianischen res extensa beruht, denn hier gibt es keine hierarchisch angeordneten Entitäten mehr, sondern nur quantitativ bestimmbare Teile. Ohne eine revolutionäre Absicht, aber äußerst kritisch gegenüber dem »System der Spiritualität«, wie der Baron d’Holbach, der publizistisch aktivste Materialist des 18. Jahrhunderts, die Überzeugung von der höherrangigen oder gar alleinigen Realität der geistigen Seelensubstanz nennt,17 kämpft der Materialismus für die Entmythologisierung der trügerischen Hypostasen, um hinter dem Blendwerk fälschlich verdinglichter Begriffe zur wahrhaften Realität zu gelangen, welche der Gegenstand praktisch intendierter Wissenschaft werden

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Vgl. G. Mensching, Cartesianischer Materialismus und Revolution, in: Das Testament des Abbé Meslier, hrsg. von G. Mensching, Frankfurt 1976, 11–55. Die kritische Ausgabe des Testament ist der Hauptbestandteil der Œuvres de Jean Meslier, hrsg. von J. Deprun / R. Desné / A. Soboul, Paris 1970–72. Insbesondere die Kapitel der »Septième Preuve«, die sich mit der Widerlegung der traditionellen Metaphysik beschäftigen, führen alles Sein auf eine materialistisch verstandene res extensa zurück. Hier ist, wie an anderen Stellen deutlich, daß die materialistische Position sich aus einer »idealistischen« Gegenposition herausarbeitet. Trotz scharfer Gegnerschaft gegen den Cartesianismus teilt Meslier doch mit ihm wesentliche Momente. 17 P. Th. d’Holbach, Système de la nature, in: Ders, Œuvres philosophiques, hrsg. von J. P. Jackson, Bd. II, Paris 1999, 221: »On a imaginé l’esprit universel d’après l’âme humaine, l’intelligence infinie d’après l’intelligence finie; puis on s’est servi de la première pour expliquer la liaison de l’âme humaine avec le corps. On ne s’est point aperçu que ce n’était là qu’un cercle vicieux; et l’on n’a pas vu non plus que l’esprit ou l’intelligence, soit qu’on les suppose finis ou infinis, n’en seront pas plus propres à mouvoir la matière.« Auffällig an diesem Zitat, dem sich zahlreiche ähnliche anfügen ließen, ist, daß hier bereits der zentrale Gedanke der Religionskritik Ludwig Feuerbachs erscheint. Die Motivation ist freilich, historisch bedingt, eine andere.

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soll. Die Wissenschaft, die ihr Licht überall ausbreiten soll, wird zum universal wirksamen Mittel gegen den einstweilen herrschenden religiösen und politischen Obskurantismus: »Les progrès de la saine physique seront toujours funestes à la superstition, à qui la nature donnera des démentis continuels. L’astronomie a fait disparaître l’astrologie judiciaire; la physique expérimentale, l’étude de l’histoire naturelle et de la chimie mettent les jongleurs, les prêtres, les sorciers dans l’impossibilité de faire des miracles. La nature approfondie doit faire nécessairement disparaître le fantôme que l’ignorance avait mis en sa place.«18 Im Begriff Gottes, der traditionell als geistige Substanz bestimmt ist, fand dieser Materialismus den Inbegriff eines illusorischen Realitätsverständnisses, das die große Mehrheit der Menschen in Unmündigkeit festhält, während doch allein die vereinigte, enzyklopädisch organisierte Erforschung der sinnlich konkreten Natur die moralische und politische Autonomie der Menschheit bewirken können. Die Leitwissenschaft des aufklärerischen Materialismus ist die Mechanik, die noch das Kantische Verständnis von Naturwissenschaft geprägt hat. Dennoch ist es falsch, den französischen Materialismus hierauf zu reduzieren. Wissenschaft ist wohl die größte geistige Produktivkraft, aber sie soll um praktisch-politischer Zwecke willen betrieben werden. Daraus ergab sich ein in den Texten der Materialisten kaum reflektierter Widerspruch. Ihr Verständnis der Mechanik als der universellen, durch Erfahrung bestätigten Struktur der physischen und moralischen Welt hat einen strikten Determinismus zur Folge, dem gegenüber die Willensfreiheit illusionär ist. Andererseits verbindet sich mit der Aufklärung der Menschen über die natürlichen Determinanten ihres Handelns ein gesteigertes Freiheitspathos, das sich polemisch gegen die kirchliche Moral wendet.19 18

P. Th. d’Holbach, Système de la nature, a. a. O., 631. Das Modell der Argumentation, das Holbach gegen das von der Kirche immer noch aufrechterhaltene Weltbild richtet, hat frappierende Ähnlichkeit mit der Polemik Roger Bacons aus dem 13. Jahrhundert. Auch dieser unkonventionelle und dennoch den Traditionen der Hochscholastik tief verbundene Franziskaner wollte die Naturwissenschaft auf eine experimentelle Basis stellen und von theologischen Vorstellungen befreien sowie Astrologie und besonders die Magie durch physikalisch überprüfbare Optik und eine erstaunlich modern konzipierte Chemie bekämpfen. Es wäre dennoch abwegig, hier von Materialismus zu sprechen, bloß weil Bacon ein gesteigertes Vertrauen in die Naturwissenschaft hatte. Vgl. G. Mensching, Metaphysik und Naturbeherrschung im Denken Roger Bacons, in: Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Bd. I Antike und Mittelalter, hrsg. von L. Schäfer / E. Ströker, Freiburg / München 1993, 161–184. 19 Vgl. P. Th. d’Holbach, Système de la nature, a. a. O., 549 f.: »Prémunis de bonne heure par l’imposture, ils se croyent obligés de défendre soigneusement le bandeau dont elle couvre leurs yeux, et de lutter contre tous ceux qui tenteraient de l’arracher. Si leurs yeux accoutumés aux ténèbres s’entrouvrent un instant, la lumière les blesse et ils

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Die Enzyklopädie, an der viele Materialisten beteiligt waren, stellt die vereinigte Anstrengung einer ganzen Generation von Intellektuellen dar, die längst fällige politische und gesellschaftliche Emanzipation auf das damals erreichte Niveau der Wissenschaft zu erheben. Es ging um die Förderung der menschlichen Zivilisation als ganzer und noch nicht in erster Linie um die Verbesserung der Technologie in profitablen Industriezweigen. Die Begründung einer »Weltanschauung« war den Aufklärern zudem fern, auch wenn einige ihrer heutigen Kritiker ihr Vertrauen in die Vernunft für eine inzwischen zerfallene Ideologie halten. Der Primat einer wenn auch unkonventionellen Philosophie gegenüber den Wissenschaften und Künsten war den Enzyklopädisten für ihr Unternehmen wesentlich. Anknüpfend an Christian Wolffs Definition der Philosophie als der Wissenschaft von den möglichen Dingen insofern sie möglich sind, bestimmt Diderot die Aufgabe der Philosophie seiner Zeit: »Eine derartige Wissenschaft ist wahrhaftig eine Enzyklopädie; alles hängt in ihr zusammen, alles hängt von ihr ab. […] Die möglichen Dinge umfassen doch alles was der Geist und die Arbeit der Menschen zum Gegenstand haben kann; darum haben alle Wissenschaften und alle Künste ihre Philosophie. Es ist also klar: alles kann in der Jurisprudenz, in der Medizin, in der Politik geschehen, aber alles geschieht oder sollte zumindest aus einem bestimmten Grunde geschehen. Diese Gründe entdecken und sie bezeichnen heißt also die Philosophie der genannten Wissenschaften geben.«20 Neben der Freiheit war demnach die Einheit der Wissenschaft in der Vielheit ihrer Gegenstände ein Leitmotiv des aufklärerischen Materialismus. Daß diese Einheit nicht selbst wieder materiell sein kann, war Diderot im übrigen klar.21 Dieser Gedanke, der sich bei Diderot wie auch bei vielen seiner Zeitgenossen äußert, findet sich in verändertem Medium in Kants »transzendentalem Ideal« wieder. s’élancent avec furie sur celui qui leur présente un flambeau dont ils sont éblouis. En conséquence, l’athée est regardé comme un être malfaisant, comme un empoisonneur publique. Celui qui ose réveiller les mortels d’un sommeil léthargique où l’habitude les a plongés, passe pour un perturbateur; celui qui voudrait calmer leurs transports frénétiques passe pour un frénétique lui-même; celui qui invite ses associés à briser leurs fers ne paraît qu’un insensé ou un téméraire à des captifs qui croient que leur nature ne les a faits que pour être enchaînés et pour trembler.« 20 D. Diderot, Artikel Philosophie aus der großen Enzyklopädie, in: Ders., Philosophische Schriften, übers. von Th. Lücke, Bd. I, Berlin 1961, 395. 21 In seinen Veröffentlichungen zu Lebzeiten hat Diderot sich gehütet, allzu offen materialistische Lehrmeinungen zu äußern. Erst posthum sind seine einschlägigen Reflexionen in seinen Notizheften bekannt geworden. Einige sind unter dem Titel Eléments de physiologie herausgegeben worden. Die Gedanken kreisen unter anderem um das Verhältnis von Seele, Geist und Körper. Anders als die naturalistischen Materialisten des 19. Jahrhunderts hat Diderot die Aporien gesehen, in die sich eine materialistische Theorie des Geistes begibt. Zwar erwägt er, daß »der Unterschied zwischen der empfin-

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Der aufklärerische Materialismus hat mit der materialistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts viele inhaltliche Gemeinsamkeiten. Wichtiger als die Details ist jedoch die verschiedene Bedeutung, die den Motiven im jeweiligen historischen Kontext eigen ist. Die Aufklärung war sich sicher, daß der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis den moralischen und politischen Fortschritt der Menschheit zur Folge haben würde. Deshalb war ihre Polemik gegen die Kirche, die offiziell noch nicht einmal das Kopernikanische Weltbild akzeptierte, und gegen ein durchweg korruptes politisches System ein Kampf gegen eine historisch zum Untergang verurteilte Formation, auch wenn man sich vor deren Repräsentanten noch sehr in Acht nehmen mußte. Der zähe und am Ende erfolgreiche Kampf der Enzyklopädie mit Zensur und Exekutoren des absolutistischen Regimes sind hierfür beispielhaft. Der Materialismus im folgenden Jahrhundert ist im Gegensatz hierzu geradezu resignativ. Trotz des Stolzes auf die inzwischen spürbar gewachsene Erkenntnis der Natur ist die Zuversicht, eine grundlegende Änderung der politischen Verhältnisse vorzubereiten, nach 1848 fast verschwunden. Die Reaktion hatte für unabsehbare Zeit gesiegt, und so richten sich die praktischen Appelle der Materialisten auch eher an das Individuum als an die Menschheit. Eine revolutionäre Perspektive haben sie kaum mehr. Das war nach 1789 noch ganz anders. Die auf die Aufklärung folgende Epoche der Philosophie hat nämlich die Idee der Autonomie von Kants Moralphilosophie bis zu Schellings Freiheitsschrift zum Zentrum ihres Denkens gemacht. Darin hat der deutsche Idealismus die Aufklärung fortgesetzt und radikalisiert. Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit jener Erkenntnis, von der sich die Aufklärung den Menschheitsfortschritt versprach, führte zu der systematisch entfalteten Entdeckung, daß der menschlichen Subjektivität die Natur unter der notwendigen Voraussetzung einer Einheit erscheint, unter der sich das denkende Subjekt selbst begreift. Da dies aber nur vermöge sachhaltiger, d. h. das Wissen erweiternder Verstandesakte geschehen kann, müssen die Gegenstände der Er-

denden Seele und der vernünftigen Seele nur eine Sache des organischen Baus« sei. (Vgl. Elemente der Physiologie, in: D. Diderot, Philosophische Schriften, a. a. O., 715). Öfter aber äußert er Gedanken wie diesen: »Das Gehirn denkt ebensowenig von sich aus, wie die Augen von sich aus sehen und die anderen Sinne von sich aus wirken.« (Ebd., 648). Im selben Zusammenhang formuliert er ein Argument, das für den Materialismus bis heute unüberwindbar ist: »Betrachten Sie die weiche Substanz des Gehirns als eine empfindliche, lebende Wachsmasse, der alle möglichen Formen eingeprägt werden können, die keine der Formen, die ihr eingeprägt werden, wieder verliert und doch unaufhörlich neue Formen aufnimmt und bewahrt. Nun gut: das ist das Buch. Wo aber ist der Leser? Der Leser – das ist das Buch selbst, denn es ist ein empfindendes, lebendes und sprechendes Buch. […] Und wie kann es sich selbst lesen? Indem es das empfindet, was in ihm steht und es durch Laute ausdrückt.« (Ebd., 703).

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kenntnis ebenso unter der Bedingung jener Einheit stehen, die Kant transzendental nennt. Erfahrung ist also nicht planlose und in ihrer Attitüde passive Beobachtung, sondern synthetisches Urteilen, dem eine Regel zugrunde liegen muß, nach der Gegenstände und erkennender Verstand a priori aufeinander bezogen sind: »Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.«22 Aus der Selbstanalyse des Verstandes folgt nach Kant denknotwendig die vor jedem kontingenten Erfahrungsakt bestehende Beziehung des auf sich reflektierenden Denkens und seines Gegenstandes, die unter derselben Bedingung ihrer Erkennbarkeit stehen: »Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben in einer transzendentalen Apperzeption auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.«23 Der bei Kant im analytischen Rückgriff, also rekursiv erschlossene Begriff der ursprünglich-synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption erfüllt in seinem Denken eine funktionale Rolle; nicht aber ist er ein Substanzbegriff. Insofern gehen viele spätere Kritiker Kants im späteren 19. Jahrhundert fehl, wenn sie Kant die Materialität der Denkprozesse entgegenhalten. Die Ungreifbarkeit des Kantischen »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können«24, welches nur dann in Funktion tritt, wenn reale Mannigfaltigkeit synthetisiert wird, forderte indessen die Interpretationen heraus, die sich in den Systemkonzeptionen des deutschen Idealismus niederschlugen. Die Ideen von Autonomie und Selbstbewußtsein, die ihre revolutionäre Bedeutung praktisch-politisch in der französischen Revolution gezeigt hatten, durchdringen im historisch verspäteten Deutschland bis in die innerste Zelle ein theoretisches Denken, das als solches immer schon praktisch sein will. Der weltbürgerliche Zustand, der bei Kant noch als ein fernes Ziel der Menschheit erscheint, wird bei Fichte und Hegel zur Selbstrealisation des Absoluten, das mit dem transzendental verstandenen Selbstbewußtsein identisch ist. »Die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst und – damit er mit sich selbst übereinstimmen könne – die Übereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendigen praktischen Begriffen von ihnen, – den 22 23 24

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von R. Schmidt, Hamburg 1990, B 197. Ebd. Ebd., B 131 f.

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Begriffen, welche bestimmen, wie sie sein sollten, – ist das letzte höchste Ziel des Menschen. […] Es ist die vollständige Übereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst […].«25 Der »transzendentale Materialismus«26, der da lehrt, das reine Ich sei ein Produkt des Nicht-Ich, ist hiernach »völlig vernunftwidrig«27, weil dann der Mensch nicht mehr sich selbst Zweck wäre. Das Verhältnis zum Äußeren ist vielmehr umgekehrt: »Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll Mensch zu sein, und wenn er nicht Gott werden soll.«28 Dieses Selbstbewußtsein, das sich welthistorisch zu verwirklichen strebt, zielt auf eine Freiheit, die von keinerlei heteronomen Bedingungen mehr abhängig ist. Darunter zählt nicht allein die Institution politischer Herrschaft, sondern viel mehr noch die der Naturschranke, die der endlichen Erkenntnis gesetzt zu sein scheint. Erst wenn die vollständige Erkenntnis der gesamten Natur und aller Gestalten des Geistes erreicht ist, vollendet sich die Idee der Wissenschaft. Sie tritt als System auf, das nicht allein die Begriffe zur Einheit organisiert, sondern zugleich die Entfaltung aller Gegenstände leistet. In der Kontinuität der Reflexion sollte sich die Welt darstellen und mit dieser Darstellung identisch sein. Daraus, daß die wissenschaftlichen Begriffe der Reflexion angehören und auch der Gegenstand, auf den sie sich beziehen, nicht anders als begrifflich bestimmbar ist, folgt für Hegel, daß die Begriffe, und zumal die Wesensbestimmungen, in der Reflexion ihren alleinigen Ursprung haben. In diesem konsequentesten Idealismus, der die Tradition der europäischen Philosophie vollenden wollte, formuliert sich das Selbstbewußtsein einer Epoche, die vom Fortschritt der Erkenntnis als der sukzessiven Verwirklichung eines menschlichen Gattungssubjekts überzeugt war. Jede Einschränkung, die dieses Subjekt von einer unbotmäßigen Natur erfahren könnte, galt es aufzuheben: »Nämlich wir wollen die Natur erkennen, die wirklich ist, nicht etwas, das nicht ist; statt sie nun zu lassen, und sie zu nehmen, wie sie in Wahrheit ist, statt sie wahrzunehmen, machen wir etwas ganz Anderes daraus. Dadurch, daß wir die Dinge denken, machen wir sie zu etwas Allgemeinem; die Dinge sind aber einzelne, 25

J. G. Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hrsg. von F. Medicus, Bd. I, Leipzig 1911 (ND Darmstadt 1962), 227. 26 Ebd., 223. 27 Ebd. 28 Ebd., 227 f. Von hier aus ist deutlich, welche Antwort Fichte auf die Lehre des naturwissenschaftlichen Materialismus gegeben hätte, wenn er dessen Zeitgenosse gewesen wäre.

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und der Löwe überhaupt existiert nicht. Wir machen sie zu einem Subjectiven, von uns Producirten, uns Angehörigen und zwar uns als Menschen Eigenthümlichen.«29 Erst dann, wenn der Geist die Natur in der Verwandlung sich vollkommen angeeignet hat, ist seine Freiheit wirklich. Im Resultat der Aneignung ist das Subjekt nur bei sich; sein Denken kann sich dann nur auf sich beziehen, d. h. auf den Weg, den es aus blinder Naturbefangenheit bis zum Verschwinden jeder Fremdheit seines Gegenstandes zurückgelegt hat. Dieser Weg, den die Phänomenologie des Geistes darstellt, hat seine innere Folgerichtigkeit, die Hegel als Logik entfaltete. Da die Phänomenologie die Auflösung der »Dingheit« in die »Entäusserung des Selbstbewusstseyns«30 zum Resultat hat, konnte Hegel behaupten, mit der Logik dieses Denkens zugleich die Lehre von den allgemeinen Bestimmungen der Gegenstände, also Metaphysik vorzutragen. Die Selbstbewegung aller ihrer Begriffe ist somit deren Entfaltung im Medium des Denkens. Diese Spekulation soll alle sachlich gehaltvolle Erkenntnis allererst begründen. Allein von deren letztem Resultat aus erweist sich deren Wahrheit. Die Einheit des Selbstbewußtseins setzt sich dergestalt autonom, daß es sämtliche Bedingungen seiner Realität erzeugt, indem es sie von sich unterscheidet. So ist das Selbstbewußtsein am Ende das reine Sich-selbst-Unterscheiden, die sich auf sich beziehende Negativität, in der alle handgreifliche Materialität der Gegenstände aufgehoben ist. »In dem Wissen hat also der Geist die Bewegung seines Gestaltens beschlossen, insofern dasselbe mit dem überwundnen Unterschiede des Bewußtseyns behaftet ist. Er hat das reine Element des Daseyns, den Begriff, gewonnen. Der Inhalt ist nach der Freyheit seines Seyns das sich entäußernde Selbst, oder die unmittelbare Einheit des sich selbst wissens.«31 Nur für eine kurze Periode hat dieser absolute Idealismus überzeugen können. Wenige Jahre nach Hegels Tod ist die Struktur, die seine gesamte Philosophie durchzieht, zum Skandalon geworden. Die Entfaltung der Idee der Autonomie, die das Hegelsche System leisten wollte, indem es die Ablösung von der traditionellen Metaphysik in jedem ihrer Begriffe vollzog, schien eben jene spiritualistischen Theorien noch weit zu überbieten, welche die Aufklärung bekämpft hatte. Die sich auf sich beziehende Negativität, die prozessierende Negation der Negation, erhält sich als die Furie des Verschwindens, vor der die substantielle Unmittelbarkeit aller Seinssphären zunichte wird. Denken

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G. W. F. Hegel, System der Philosophie. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Bd. IX, Stuttgart 1965, 39. 30 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. von W. Bonsiepen / R. Heede, Hamburg 1980, 422. 31 Ebd., 431 f.

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scheint nach diesem Resultat zur Tautologie geschrumpft, denn letztlich vermag es nur sich zu erkennen und die Verschiedenheit zu diesem imaginären Gegenstand zu tilgen. Der historisch folgenreiche Protest, der sich hiergegen richtete, stammte aus dem engeren Umkreis der Hegelschen Schülerschaft. Ludwig Feuerbach spielt in der gesamten nachhegelschen Philosophie eine zentrale Rolle. Von ihm ging die Kritik an Hegel aus, die in den divergierenden Tendenzen des Materialismus im 19. Jahrhundert ihre Konsequenzen zeitigte. Die immanent philosophische Entwicklung der Argumente nimmt von Feuerbach ihren Ausgang.32 In seinen Schriften, zumal in der Kritik der Hegelschen Philosophie (1839), den Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie (1842) und in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843) formuliert er, charakteristisch für das Bewußtsein des Vormärz in Deutschland, die Position eines Denkens, dem die spekulative Philosophie der unmittelbar vorangegangenen Periode zur substanzlosen und realitätsfernen Metaphysik geworden ist. Dagegen formuliert Feuerbach das Postulat einer sich zur Praxis wendenden Philosophie, die die Abstraktionen der Hegelschen gleichsam entmythologisiert, d. h. sie auf das zurückführt, wovon bei ihrer Bildung abgesehen wurde. Noch Marx’ Impuls, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist Feuerbachschen Geistes. Wie in der Kritik der Religion, die Feuerbach berühmt machte, der Begriff Gottes als eine entfremdete Gestalt des menschlichen Denkens erwiesen werden sollte, so hat die Analyse der spekulativen Philosophie zum Resultat, daß ihre tragenden Begriffe falsche Hypostasen des an den lebendigen Menschen gebundenen Denkens seien: »Das Wesen der Theologie ist das transzendente, außer den Menschen gesetzte Wesen des Menschen; das Wesen der Logik Hegels das transzendente Denken, das Denken des Menschen außer den Menschen gesetzt.«33 Das Hegelsche Thema der Entfremdung variiert Feuerbach derart, daß die tragenden Begriffe der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik ihrerseits als entfremdete Resultate eines von seiner physisch-sinnfälligen Präsenz im einzelnen Menschen absehenden Denkens erscheinen: »Abstrahieren heißt das Wesen der Natur außer die Natur, das Wesen des Menschen außer den Menschen, das Wesen des Denkens außer den Denkakt setzen. Die Hegelsche Philosophie hat den Menschen sich selbst entfremdet, indem ihr ganzes

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Diese Abhängigkeit des naturwissenschaftlichen Materialismus von Feuerbach wird geistesgeschichtlich an den Quellen minutiös dargelegt bei F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, Dordrecht 1977. Der Autor spricht zu Recht von Feuerbach als »Father of German Materialism«. (Ebd., 13–28). 33 L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, in: Ders., Kleine Schriften, hrsg. von K. Löwith, Frankfurt 1966, 126. (Sämmtliche Werke, hrsg. von W. Bolin / F. Jodl, Bd. II, Stuttgart 1904, 226).

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System auf diesen Abstraktionen beruht. Sie identifiziert zwar wieder, was sie trennt, aber nur auf eine selbst wieder trennbare, mittelbare Weise. Der Hegelschen Philosophie fehlt unmittelbare Einheit, unmittelbare Gewißheit, unmittelbare Wahrheit.«34 Ohne die Kritik Hegels an allen diesen Topoi verstanden zu haben,35 findet Feuerbach diese unmittelbare Gewißheit und Wahrheit in der Rückwendung zum Wesen des Menschen, das er, anders als der Hauptstrom der europäischen Philosophie, als sinnliches Wesen versteht. Die Rückkehr zur Natur, in der Feuerbach – im Gegensatz zu Rousseau, dem man den Imperativ fälschlich zugeschrieben hat – das Heil der Menschheit sieht, wird für einen großen Teil der Philosophie des 19. Jahrhunderts zur maßgeblichen Losung, die primär als Protest gegen Hegel zu verstehen ist. Dabei ist es nur zu einem Teil die romantisch verklärte Natur, die hier zur Geltung gebracht werden soll; mindestens ebenso stark ist das Bedürfnis, die wissenschaftlich verstandene Natur zum maßgeblichen Objekt aller geistigen Betätigung zu erheben. Die Naturphilosophie, wie sie vor allem von Schelling betrieben wurde, sollte durch exakte Forschung abgelöst werden, aber die neue Wissenschaftlichkeit will zugleich eine neue Weltanschauung verbreiten. Feuerbachs eigenes Denken, das er selbst zuweilen als »materialistischen Anthropologismus« bezeichnet hat und das sich seit A. Schmidt auch als »anthropologischer Materialismus« charakterisieren läßt,36 gelangt von der im Deutschland des Vormärz revolutionär wirkenden Religionskritik zu einer affirmativen Lehre. Ist für die Hegelsche Spekulation die zu sich gelangende absolute Idee der Inbegriff der Wahrheit, in der alle vorgängige Unmittelbarkeit aufgehoben und auf der höchsten Stufe wiederhergestellt wird, so setzt

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Ebd., 128 [Sämmtl. Werke, 227]. Man könnte die gesamte Phänomenologie des Geistes als fortlaufende Widerlegung der Unmittelbarkeit lesen, der durch den bloßen Verweis auf die Natur kaum zu begegnen ist. Eben dies ist aber das entscheidende Argument Feuerbachs gegen Hegel: »Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wirklichkeit in ihrer Wahrheit und Totalität; aber der Inbegriff der Wirklichkeit ist die Natur (Natur im universellsten Sinne des Wortes). Die tiefsten Geheimnisse liegen in den einfachsten natürlichen Dingen, die der nach dem Jenseits schmachtende phantastische Spekulant mit Füßen tritt. Die Rückkehr zur Natur ist allein die Quelle des Heils.« (L. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in: Ders., Kleine Schriften, a. a. O., 122 f. [Sämmtl. Werke, 203.]) 36 Vgl. die Einleitung der von A. Schmidt herausgegebenen Ausgewählten Schriften mit dem Titel Anthropologischer Materialismus, Bd. I, Frankfurt / Wien 1967, 5–64. Zu Feuerbachs Selbstverständnis vgl. W. Jaeschke, Ludwig Feuerbach über Spiritualismus und Materialismus, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 23 ff. Der Beitrag arbeitet heraus, daß Feuerbach dem Materialismus seiner Nachfolger, besonders Moleschott, nur verhalten zugestimmt hat. 35

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Feuerbach dem das existierende, physisch empfindende Subjekt entgegen, das er geradezu zum Prinzip erhebt: »Das Denken ist das Prinzip der Schule, des Systems, die Anschauung das Prinzip des Lebens. In der Anschauung werde ich bestimmt vom Gegenstande, im Denken bestimme ich den Gegenstand. […] Nur aus der Negation des Denkens, aus dem Bewußtsein vom Gegenstande, aus der Passion, aus der Quelle aller Lust und Not erzeugt sich der wahre objektive Gedanke, die wahre objektive Philosophie.«37 Aus der Entfremdung der religiösen und spekulativen Abstraktionen zu sich zurückzukehren heißt demnach für Feuerbach, die physische Natur des Menschen zur Geltung zu bringen. Der Hegelschen Emphase des Selbstbewußtseins entgegnet er den Enthusiasmus der natürlichen Empfindung, mit der die Abstraktionen konkretisiert werden sollen. Das System wird gesprengt, indem die Argumente der empiristischen Tradition mit einem Naturpathos versetzt werden, dessen Herkunft romantisch ist und das doch als Wissenschaft auftreten will. Der revolutionäre Impetus der Feuerbachschen Philosophie, der um die Jahrhundertmitte eine ganze Generation geistig bestimmt oder mindestens angeregt hat, vollzieht im rückständigen Deutschland einen Sturz des obersten göttlichen Prinzips, um es als das verleugnete physisch bestimmte menschliche Gattungswesen zu entlarven. Dieser Umsturz, von der französischen Aufklärung weitaus radikaler ausgeführt und von Hegels Religionsphilosophie argumentativ vorbereitet, war politisch anstößig und hat die revolutionäre Fraktion der deutschen Intelligenz zu ihrer kritisch-materialistischen Gesellschaftstheorie angeregt. Dennoch läßt sich bei Feuerbach nicht übersehen, daß die Veränderung, die er intendiert, auf eine Reform des privaten Lebens hinausläuft, nicht unähnlich der Jugendbewegung um 1900, welche die vermeintlich allzu »hirnlastige« europäische Zivilisation durch Freikörperkultur, naturgemäße Ernährung und Kleidung, Volksgesang und nationale Herzensbildung verändern wollte. Die Resignation gegenüber den weitaus höher gespannten Intentionen der Aufklärung und des deutschen Idealismus ist unübersehbar. So will Feuerbach den vermeintlichen Dualismus von Seele und Leib aufheben. Realität ist nicht allein das Bewußtsein, sondern dessen materieller Träger. Gegen den asketischen Zug des Idealismus, der auf die sinnliche Fülle der Natur verzichte, setzt er den sinnlichen Menschen, dessen Existenz allem Denken vorausgesetzt ist, – ein Motiv das den Existentialismus nachhaltig bestimmt hat. Wieweit Kierkegaard hier von Feuerbach beeinflußt ist, wäre zu prüfen. An dieser Stelle setzt zudem die Marxsche Kritik an, die das Feuerbachsche Denken als einen »anschauenden Materialismus« charakterisiert, dem die

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L. Feuerbach, Vorläufige Thesen, a. a. O., 135 [Sämmtl. Werke, 235].

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Sinnlichkeit nicht als praktisch-gegenständliche Tätigkeit unter objektiven gesellschaftlichen Bedingungen erkennbar ist.38 Der Feuerbachsche Materialismus fällt zudem mit seinem zentralen Argument zurück in die von ihm negierte Metaphysik. Sind nämlich die obersten Begriffe von Theologie und philosophischer Spekulation Ausdruck des entfremdeten menschlichen Gattungswesens, die Metaphysik also die »esoterische Psychologie«39, so stellt doch das Gattungswesen seinerseits eine naturalistisch larvierte Abstraktion dar, deren Verhältnis zum einzelnen sinnlichen Menschen in dem von Feuerbach so verachteten Mittelalter zentrales Thema der Philosophie war.40 Konkretisiert er aber dieses Abstraktum dergestalt, daß das die Individuen übergreifende Allgemeine, das Gattungswesen, im Verhältnis der Einzelnen als Geschlechtswesen sich realisiere, so ist aller Beteuerung zum Trotz die differentia specifica des Menschen daraus nicht herleitbar, denn auch die meisten der höheren Tierspezies existieren in zwei Geschlechtern. Die Feuerbachsche Revolution hat demnach einen regressiven Zug, der in die vormenschliche Naturgeschichte zurückführt. Der Feuerbachsche Materialismus ist eine Kritik an der idealistischen Illusion, daß die Menschen sich selbst und alle Bedingungen ihrer Existenz aus reinem Selbstbewußtsein hervorbringen könnten, aber er befördert zugleich eine epochale Tendenz der europäischen Zivilisation um die Mitte des 19. Jahrhunderts: den resignativen Rückzug des bürgerlichen Selbstbewußtseins ins Private, dem die Ausbildung der untereinander konkurrierenden Weltanschauungen entspricht. Nachdem nämlich systematisch bürgerlich-kapitalistische Verhältnisse hergestellt waren, stellte sich heraus, daß das Bürgertum immer weniger deren Subjekt war. Das Werk der bürgerlichen Revolution war seinen Urhebern entfremdet. Um diese Situation ohne neue Illusion zu begreifen, bedurfte es freilich einer Theorie, die über die Feuerbachsche Entfremdungslehre kritisch hinausgeht. 38

So die bekannten Formulierungen der ersten und neunten Marxschen Feuerbachthesen. Vgl. MEW, Bd. 3, 5–7. 39 L. Feuerbach, Vorläufige Thesen, a. a. O., 127 [Sämmtl. Werke, 226]. 40 Nicht zufällig wird die berühmte Frage nach dem Verhältnis von Universale und Einzelding, um die sich der Universalienstreit seit dem 12. Jahrhundert drehte, zumeist am Beispiel des Menschen erörtert. Von Abaelards Logica Ingredientibus bis zu den Erörterungen des Duns Scotus zum Individuationsprinzip, zu Ockhams Suppositionslehre und schließlich Walter Burleys Tractatus de universalibus ist das Porphyrianische Schema der Gattungen und Arten immer wieder am Wesen des Menschen nicht nur logisch exemplifiziert worden. Vgl. hierzu die repräsentative Dokumentation von H.-U. Wöhler (Hg.), Texte zum Universalienstreit, 2 Bde., Berlin 1992–94. In der Periode Feuerbachs galten diese Diskussionen, in denen sich gleichwohl das moderne Bewußtsein herausbildete, nur mehr als spitzfindige Scholastik, – zum Schaden für das Selbstverständnis der Philosophie.

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Das Resultat der Feuerbachschen Kritik an Religion, Theologie und spekulativer Philosophie ließ indessen auch eine andere Interpretation zu, die den Materialismus variiert, um die Philosophie womöglich überhaupt zu verabschieden und an ihre Stelle eine Wissenschaft zu setzen, die auch dem Bedürfnis nach einer Orientierung des individuellen Lebens entspricht. Die Gruppe der Autoren Carl Vogt, Jacob Moleschott und Ludwig Büchner, um die der sogenannte Materialismusstreit entbrannte, sind die ersten, welche die Nachfolge Feuerbachs angetreten haben41 und zugleich der Philosophie ein gänzlich neues wissenschaftliches Fundament verschaffen wollten. Genau dieser Anspruch stand in dem Streit zwischen den genannten Autoren und dem Göttinger Physiologen Rudolf Wagner, dem Mediziner Rudolf Virchow und anderen im Zentrum. So schreibt Büchner im Vorwort zu Kraft und Stoff: »[Die Schulphilosophie; G. M.] sinkt von Tag zu Tag in der Achtung des Publikums und verliert in der spekulativen Hohlheit an Boden gegenüber dem raschen Emporblühen der empirischen Wissenschaften, welche es mehr und mehr außer Zweifel setzen, daß das makrokosmische und das mikrokosmische Dasein in allen Punkten seines Entstehens, Lebens und Vergehens nur mechanischen und in den Dingen selbst gelegenen Gesetzen gehorcht.«42 Zwar nimmt Büchner hier noch die Mechanik als Leitwissenschaft in Anspruch, aber das neue wissenschaftliche Fundament liegt bei ihm und bei den ihm nahestehenden Autoren mehr in der Physiologie und überhaupt in der Biologie. Das Phänomen, das es zu ergründen gilt, ist das Leben, – ein Bereich, der scheinbar der naturwissenschaftlichen Erklärung noch immer widerstand: »Ausgehend von der Erkenntnis jenes unverrückbaren Verhältnisses zwischen Kraft und Stoff als unzerstörbarer Grundlage muß die empirisch-philosophische Naturbetrachtung zu Resultaten kommen, welche mit Entschiedenheit jede Art von Supranaturalismus und Idealismus aus der Erklärung des natürlichen Geschehens verbannen […]. Der endliche Sieg dieser real-philosophischen Erkenntnis über ihre Gegner kann nicht zweifelhaft sein. Die Kraft ihrer Beweise besteht in Tatsachen, nicht in unverständlichen Redensarten.«43 In diesem programmatischen Sinne formierte sich um 1850 der explizite Materialismus, der sich vornehmlich an die drei genannten Namen knüpft,

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Auf die enge Beziehung der hier zu behandelnden Autoren zu Feuerbach ist öfters hingewiesen worden, zuletzt von Manuela Köppe, Zur Entstehung von Feuerbachs Schrift »Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit«, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 41 ff. 42 L. Büchner, Kraft und Stoff, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Berlin 1971, 348. 43 Ebd.

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die jedoch für eine breitere Bewegung stehen.44 Um den Autoren gerecht zu werden, ist es entscheidend zu bedenken, daß sie alle nicht Philosophen von Profession waren. Ihre Stellung zur Philosophie, ist, wie schon gesagt, ambivalent. Einerseits wurden sie nicht müde, fast alle traditionellen philosophischen Theoreme über die Natur und die gesamte Metaphysik, welcher Gestalt auch immer, als empirisch widerlegt zu deklarieren, andererseits wollten sie über die Grenzen ihrer Wissenschaft hinaus aufklärend wirken. Deshalb sind ihre Schriften primär als Popularisierung der Wissenschaft gedacht, der sie sich auch professionell gewidmet haben. Dies bildet eine gewisse Parallele zum Materialismus der Aufklärung, der etwa durch die publizistischen Kampagnen d’Holbachs und die Enzyklopädie breite Wirkung auf das damals herrschende Bewußtsein ausüben wollte. Die Differenz liegt jedoch darin, daß die Materialisten einen Gegner bekämpften, der selbst ein produktiver Erbe der Aufklärung war. In der Polemik gegen den spekulativen Idealismus zog der Materialismus – ohne dies zu reflektieren – gegen die sich selbst begreifende Aufklärung zu Felde. Dieser prinzipielle Mangel an Reflexion auf die traditionelle Vermittlung der eigenen Position und die programmatische Beschränkung auf eine Popularphilosophie erlauben es eigentlich nicht, an den Materialismus nach Hegel den Maßstab der großen Philosophie und ihrer Tradition anzulegen. Aber seine Repräsentanten äußern sich zu deren Themen mit Argumenten, die über ihre fachwissenschaftliche Kompetenz weit hinausgehen. Zudem ist populäre Selbstbeschränkung kein Schutz gegen grundsätzliche Einwände, wenn denn der Anspruch auf Wahrheit aufrechterhalten werden soll. Der Physiologe Jacob Moleschott, der Zoologe Carl Vogt und der Arzt Ludwig Büchner verstehen sich als Naturwissenschaftler, die aus den Ergebnissen ihrer Disziplinen allgemeine Schlußfolgerungen zogen, die als gesicherte Argumente gegen Philosophie und Theologie gewendet wurden, um das Volk von diesen schädlichen Bildungen des Geistes abzubringen. Insofern begreift etwa Moleschott, ähnlich wie die beiden anderen Autoren, seine Aufgabe als eine soziale: »Die Naturforscher sind die tätigsten Bearbeiter der sozialen Frage, die sich durch Waffen in der Hand wohl als Bedürfnis kundgeben, als offene Frage verraten, aber nie und nimmermals wird beantworten lassen. Ihre Lösung liegt in der Hand des Naturforschers, die von der Erfahrung der Sinne mit Sicherheit geleitet wird. Am Baum der Erkenntnis wächst das Bedürfnis, aber in dem Bedürfnis keimt die Macht, die es befriedigt. Das Wissen ist die unüberwindlichste Macht, es ist die Macht des Friedens. Erkenntnis ist nicht 44

Vgl. hierzu das 2. Kapitel in F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, a. a. O., 29 ff. Hier wird der gesamte Kontext beleuchtet, in dem der naturwissenschaftliche Materialismus entstanden ist und in welchen Kontroversen er sich zu behaupten suchte.

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nur der höchste Preis, sie ist auch die breiteste Grundlage eines menschenwürdigen Lebens.«45 Dem zeitgenössischen Erkenntnisstand entsprechend versucht Moleschott, an Justus Liebigs Forschungen anknüpfend, den sinnlichen physischen Menschen, der bei Feuerbach sein Recht erhalten soll, durch den Stoffwechsel zu erklären. Ist also das Wesen von Theologie und Philosophie die Anthropologie, so besteht deren Sachgehalt in der Darstellung der chemischen Stoffe und ihrer Reaktionen, insofern sie im menschlichen Körper zusammentreten: »Wenn der Satz, daß Mischung, Form und Kraft einander mit Notwendigkeit bedingen, daß ihre Veränderungen allezeit Hand in Hand miteinander gehen, daß eine Veränderung des einen Gliedes jedesmal die ganz gleichzeitige Veränderung der beiden anderen unmittelbar voraussetzt, auch für das Hirn seine Richtigkeit hat, dann müssen anerkannte stoffliche Veränderungen des Hirns einen Einfluß auf das Denken üben. Und umgekehrt, das Denken muß sich abspiegeln in den stofflichen Zuständen des Körpers.«46 Daraus leitet sich der Satz ab, der bei theologischen und philosophischen Gegnern Empörung hervorrief: »Ohne Phosphor kein Gedanke.«47 Der Gedanke ist daher »eine Bewegung des Stoffs […].«48 Die Entdeckung der physiologischen Gesetze des Stoffwechsels verleitet Moleschott zu der generellen These, daß die menschlichen Fähigkeiten, Tätigkeiten und Verhältnisse durch eine Diätetik zu beeinflussen seien. Die Praxis, die das menschenwürdige Leben befördern soll, läuft auf die Herstellung und Verbreitung von Reformkost hinaus. Daher der Moleschott untergeschobene Satz: »Der Mensch ist, was er ißt.« Es war dies aber keineswegs eine polemische Übertreibung spiritualistischer Gegner, vielmehr finden sich bei Carl Vogt eingehende Überlegungen zum Zusammenhang von Nahrung und Geist. Zunächst aber ist für ihn wie für die anderen Materialisten der Epoche49 klar, daß die physiologischen Gesetze, wie die Naturgesetze überhaupt, unausweichlich seien und ein freier Wille deshalb nicht existiere. Daraus folgt, daß die Gehirnsubstanz und ihre Funktionen ganz vom Einfluß des Stoffwechsels bestimmt sind, dem sich der Geist folglich nicht entziehen kann: »Der freie Wille existirt 45

J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner, a. a. O., 322. 46 Ebd., 264. 47 Ebd., 262. 48 Ebd., 284. 49 Wenn auch die Spezialforschung inzwischen Differenzen zwischen Vogt, Moleschott und Büchner festgestellt hat, so ist doch deren enger freundschaftlicher Gedankenaustausch und die Gemeinsamkeit der Grundgedanken noch weit besser belegt. Vgl. C. Kockerbeck (Hg.), Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Ernst Häckel, Briefwechsel, Marburg 1999, insbes. die eingehende Einleitung des Herausgebers, 9–81.

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nicht und mit ihm nicht eine Verantwortlichkeit und eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege und Gott weiß wer noch uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblicke Herren über uns selbst, über unsere Vernunft, über unsere geistigen Kräfte, so wenig als wir Herren sind darüber, daß unsere Nieren eben absondern oder nicht absondern sollen. Der Organismus kann sich nicht selbst beherrschen, ihn beherrscht das Gesetz seiner materiellen Zusammensetzung.«50 Gleichwohl knüpft sich an diese These die Überzeugung, daß unter den Menschen ein glückseliger Zustand erzeugt werden könne. Es kommt nur auf die richtige Zusammensetzung der Nahrung an, die noch wissenschaftlich erforscht werden muß. Eben darin besteht die moralisch-politische Aufgabe der Wissenschaft: »Diese wissenschaftliche Bearbeitung wird unermeßliche Resultate erzeugen – davon bin ich im Voraus überzeugt – Resultate, welche uns der geträumten glückseligen Zeit näher bringen, den politischen Haß, die Verfolgungslust der Parteien von der Erde verbannen werden.«51 Vogt ist davon überzeugt, daß die Teltower Bauern nur deshalb so konservativ sind, weil sie im Stoffwechsel »ihre Körperatome stets wieder durch Steckrübenatome ersetzen.«52 Es ist danach nur konsequent, wenn Vogt die Perspektive entwickelt, daß die Menschheit ihre soziale Planung mit dem Entwurf passender Diäten verbindet: »Ich glaube, man würde nur durch die zweckmäßige Anordnung der Nahrung […] Staatsmänner, Bureaucraten, Theologen, Revolutionärs, Aristokraten, Socialisten, ja sogar Referendarien je nach Belieben bilden können, und der unendliche Scharfsinn, der jetzt auf Constitutionen, Gesetze, Verordnungen und dergleichen Staatsgrundlagen verwendet wird, würde sich dann auf die Erfindung gewisser Brühen, Breie und Fleischarten richten, die jedenfalls dem menschlichen Geschlechte besser munden und doch dieselben Resultate haben würden.«53 Dem szientifischen Materialismus des 19. Jahrhunderts ist es um das Selbstbewußtsein im Sinne der geistigen Epoche vor ihm kaum noch zu tun. Der gesellschaftspolitische Enthusiasmus des Vormärz und der Revolutionszeit ist offenkundig verflogen und macht eigentümlichen weltanschaulichen Surrogaten Platz. Die großen Fortschritte von Chemie, Biologie und Physiologie schienen eine der philosophischen Spekulation immer fernere kausale Erklärung aller Lebensvorgänge zu ermöglichen. Viele Naturwissenschaftler hielten deshalb die theologischen und philosophischen Theorien über das Verhältnis von Leib

50 51 52 53

C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, Frankfurt / M. 1852, 445 f. C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt / M. 1851, 23. Ebd., 5. Ebd.

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und Seele für phantastische Erzählungen und ungenaue Konjekturen.54 Der Biologe Carl Vogt hat in seinen Schriften die strikte essentielle Identität seelischer und körperlicher Vorgänge behauptet: »Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen, daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeit begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken, daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirns wie eines Instrumentes bedient, mit dem sie arbeiten kann, wie es ihr gefällt, ist reiner Unsinn.«55 Der Kern dieser Argumentation, die den drei hier vornehmlich behandelten Autoren gemeinsam ist, ist ein Empirismus, der von allen Argumenten absieht, die seit Platon und Aristoteles bis zu Kant und Hegel gegen die Erfahrung als alleinige Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis vorgebracht wurden. Die Polemik gegen die Philosophie stützt sich jedoch auf vermeintlich unmittelbare Tatsachen, die aber nur durch spekulative Begriffe bestimmbar sind. Die metaphysisch unbeschwerte sinnliche Gewißheit kann die Evidenz der ins Feld geführten Tatsachen nicht begründen, denn diese beruht auf notwendigen Abstraktionen und synthetischen Schritten in der mathematischen Demonstration, die aus dem gegebenen Material nicht durch bloßes Sammeln von Erfahrung zu gewinnen sind. Die zeitgenössische materialistische Bewegung resümierend schreibt Ludwig Büchner am Ende seines Werkes Kraft und Stoff: »Gegen die nüchternen, aber schlagenden Waffen des physischen und physiologischen Materialismus kann der Idealismus nicht standhalten; der Kampf ist ein zu ungleicher. Der Realismus kämpft mit Tatsachen, welche jeder sehen und greifen kann, der Idealismus mit Vermutungen und Hypothesen. […] Die Hypothese in der Ausdehnung, wie sie von Religion und Philosophie benutzt 54

Gegen diese Überzeugung haben sich Rudolph Wagner und Rudolf Virchow ausgesprochen. Einerseits teilen diese Wissenschaftler die Voraussetzungen und die Kenntnisse ihrer Kontrahenten, andererseits machen sie geltend, daß die damals aktuellen Ergebnisse ihrer Disziplinen eben keineswegs zwingend zu deren materialistischen Konklusionen führen. Weder läßt sich der Ursprung der Spezies Mensch empirisch belegen noch ist die Materialität und die daraus folgende Sterblichkeit der Seele auf diesem Wege zu beweisen. Sie bleibt ein Glaube wie die gegenteilige Ansicht. Virchow hat in der Lehre der Materialisten bereits die Weltanschauung erkannt, die mit Wissenschaft nicht vereinbar ist. Für die Abgrenzung von Glauben und Wissen hat er geradezu einen Kantianischen Maßstab angelegt. Vgl. zu diesen Punkten das für die gesamte Thematik wichtige Buch von A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, hier besonders die Kapitel IV–VI, 96 ff. 55 C. Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner, a. a. O., 17 f.

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wird, verläßt den einzig sicheren Boden menschlichen Begreifens, die sinnliche Erkenntnis und erhebt die Phantasie der Willkür auf den Thron. […] Wer die Empirie verwirft, verwirft alles menschliche Begreifen überhaupt und hat noch nicht einmal eingesehen, daß menschliches Wissen und Denken ohne reale Objekte ein non ens ist. Denken und Sein sind ebenso unzertrennlich, als Kraft und Stoff, als Geist und Materie, und ein materieloser Geist ist eine willkürliche Annahme ohne jede reale Basis, eine Hypothese.«56 Kraft und Stoff, Geist und Materie sind nun aber keine Tatsachen, die »jeder sehen und greifen kann […].«57 Kraft und Stoff sind vielmehr im System der Newtonschen Mechanik definierte Begriffe, Geist und Materie entstammen der Metaphysik und sind nur im Kontext der platonischen, neuplatonischen oder aristotelischen Spekulation sowie durch deren mittelalterliche und neuzeitliche Variationen bestimmt. Als gleichsam in Reagenzgläser abgefüllte Proben der empirisch demonstrierbaren Realität wandeln sie sich zu weltanschaulichen Gemütsstimuli, denn sie sind eben keine Gegenstände möglicher Erfahrung. Der naturwissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts bezieht seine Argumente aus einer Verkehrung partikular gültiger Erkenntnis von exakt bestimmbaren und begrenzten Naturerscheinungen in Thesen über die Welt als ganze. Die Totalität der Natur aber ist nicht selbst eine empirische Tatsache, sondern eine spekulative Bedingung für die Stimmigkeit der wissenschaftlichen Einzelergebnisse: »Das All aber in empirischer Bedeutung ist jederzeit nur komparativ. Die absolute Größe (das Weltall), der Teilung, der Abstammung, der Bedingung des Daseins überhaupt, mit allen Fragen, ob es durch endliche, oder ins Unendliche fortzusetzende Synthesis zustande zu bringen sei, geht keine mögliche Erfahrung etwas an.«58 Wird dieser erreichte Stand der kritischen Reflexion überhaupt ignoriert, so fällt das Denken besinnungslos in eine Metaphysik zurück, die weit weniger kritisch ist als die gesamte Tradition von Platon bis Hegel. Es entsteht Weltanschauung. Der Begriff ist, wörtlich genommen, genau der bezeichnete Widerspruch: Welt ist die Totalität die in keiner Anschauung gegeben werden kann. Wird sie aber in wenigen handlichen, d. h. partikularen Begriffen dem als Adressaten vorgestellten »Volk« in »allgemeinverständlicher Darstellung«59 dargeboten, so leistet dieses Surrogat für die verachtete Philosophie in Wahrheit weniger als diese. Seine Plausibilität beruht auf verkürztem Denken: Naturwissenschaftliche Begriffe erscheinen als greifbare Sachen, da von ihrer Genese in der Kontinuität der Reflexion abgesehen wird. Es war daher kein 56 57 58 59

L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 511. Ebd. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 511. So das Titelblatt der Originalausgabe von Büchners Kraft und Stoff.

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Wunder, daß sich auch unter den Naturwissenschaftlern der Zeit Widerstand gegen die Materialisten regte.60 Die materialistischen Autoren, die aus Feuerbachs Lehren die Konsequenzen zogen, kritisieren die Philosophie, weil sie ihre gedanklichen Ausgeburten für die Realität gehalten habe. Sie unterschlagen indessen, daß ihre sämtlichen Schlüsselbegriffe die Einheit der Reflexion voraussetzen, die in der großen Philosophie bis zu Hegel das zentrale Thema des Denkens war. Die Einheit der Natur, Kraft, Materie, Entwicklung, Naturgesetz und viele andere sind sämtlich Reflexionsbestimmungen. Dabei ist den populären Materialisten zugute zu halten, daß sie bei aller Feindschaft gegenüber der Philosophie die Unauflöslichkeit des von den Begriffen letztlich Bezeichneten festgehalten haben, ohne allerdings zu bemerken, daß die Naturerscheinungen einen Grund haben, der nicht selbst erscheint, weil dessen reales Dasein nicht Begriff ist. Die Nichtidentität und der von ihm mit dem Anspruch auf Wahrheit bezeichneten Sache läßt sich diesem Materialismus als gültiges Argument gegen die Verabsolutierung der Begriffe entnehmen, aber er selbst verdinglicht seine tragenden Begriffe, so daß er am Ende naiver ist als der Idealismus, dem er nicht ohne Rancune Unwissenschaftlichkeit vorwirft.

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Auf diese Seite der Kontroverse um den Materialismus kann hier nicht eingegangen werden. Es sei daher verwiesen auf die instruktive Arbeit von Kurt Bayertz, Das »leidige Ignorabimus«. Ein Abgesang auf den naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus, a. a. O., 189–202. – Die Differenz von argumentierender Philosophie und einer Weltanschauung, die im Grunde das Surrogat für den verlorenen Glauben darstellt, wird an einem thematisch einschlägigen Rückblick auf Zeiten deutlich, die dem modernen Bewußtsein als fern jeder strengen Wissenschaft zu sein scheinen. Im Mittelalter hat es gleichwohl überaus rationale Auseinandersetzungen über das pro und contra spekulativer Theoreme gegeben, die den Glauben zentral berühren, während der naturwissenschaftliche Materialismus dieselben Fragen sehr einfach entscheidet. Für ihn ist der Stoff ohne ernsthafte Widerrede unendlich und ewig, ebenso die ihm immanenten Gesetze. (Vgl. das zweite und dritte Kapitel von Büchners Kraft und Stoff, die der »Unsterblichkeit« und »Unendlichkeit« des Stoffes gewidmet sind.) In Auseinandersetzung mit Averroes prüft Thomas von Aquin sehr eingehend die Argumente für und gegen die dem christlichen Glauben entgegengesetzte Lehre von der Ewigkeit der Welt. Die eigene Position, die die Schöpfung zu beweisen sucht, demonstriert sich indirekt, durch die Widerlegung der gegnerischen Argumente. Das Ergebnis ist keineswegs aus dem Dogma der Schöpfung vorgegeben, vielmehr ergibt sich, daß die Ewigkeit der Welt zwar nicht beweisbar sei, aber die Schöpfung ist ebenfalls nicht vollkommen beweisbar, da sie vom Willen Gottes abhänge. Der Glaubensartikel stützt sich demnach auf die rationale Unmöglichkeit seines Gegenteils. Im Grunde ist bei Thomas die gesamte Erörterung bereits auf das Medium der Reflexion bezogen, in dem allein die unterscheidende Beziehung von Glauben und Wissen ihren Sinn erhält. (Vgl. für mehrere Stellen: Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, III, c. 31–38.)

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Der Gegensatz von Idealismus und Materialismus, der fast das ganze 20. Jahrhundert eine beherrschende Denkfigur war, ist in gewisser Weise obsolet. Die Aporien beider Seiten des Gegensatzpaares erfordern eine Lösung in einer anderen Denkweise. Das läßt sich just an dem Autor zeigen, der als der prominenteste moderne Materialist gilt. Die Feuerbachsche Religionskritik und ihr anthropologisch-materialistischer Impuls haben auch die Version des Materialismus angeregt, die als Marxsche Theorie epochale Bedeutung erlangt hat. Eine kurze Betrachtung eines Motivs aus den Frühschriften61 soll dies illustrieren. Bereits Marx’ früheste philosophische Schriften zeugen für seine materialistische Präokkupation. Die Dissertation Differenz der demokritischen und epikuräischen Naturphilosophie (1840/41) hat die ausgeprägtesten Vertreter des antiken Materialismus zum Gegenstand. Die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) knüpft unmittelbar an die Feuerbachsche Religionskritik an, während die Deutsche Ideologie und die Thesen über Feuerbach (1845) bereits Distanz zu dessen Theorien einnehmen. Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844) lassen erkennen, daß die Feuerbachsche Lehre von der Entfremdung des menschlichen Gattungswesens zwar aufgenommen, aber mit Hegelschen Mitteln nochmals gewendet wird: »Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären.«62 Das Resultat der Feuerbachschen Entmythologisierung der religiösen Vorstellungen und der spekulativen Begriffe war das durch die Sinnlichkeit definierte menschliche Gattungswesen. Die Reduktion des Vermittelten auf dieses vermeintlich Unmittelbare nimmt Marx zum Ausgangspunkt einer in den verschiedenen Frühschriften unter wechselnden Aspekten angestellten Reflexion, die dem Gattungswesen seine einfache Naturqualität nimmt: »Das menschli61

Eingehende Analysen der Werke des reifen Marx, besonders des Kapital bestätigen die hier geäußerte These ganz eindeutig. An verschiedenen Themen des Marxschen Denkens haben neue Arbeiten gezeigt, daß die Kritik der Politischen Ökonomie bis in die innere Struktur ihrer Argumente in reflektierter Weise die an Kant anknüpfende »idealistische« Philosophie in Anspruch nimmt, um ihrer »materialistischen« Intention gerecht zu werden. Vgl. F. Kuhne, Begriff und Zitat bei Marx. Die idealistische Struktur des Kapitals und ihre nicht-idealistische Darstellung, Lüneburg 1995; außerdem H.-G. Bensch, Vom Reichtum der Gesellschaften. Mehrprodukt und Reproduktion als Freiheit und Notwendigkeit in der Kritik der Politischen Ökonomie, Lüneburg 1995. 62 K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, 6.

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che Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«63 Diese Aussage trifft den verborgenen und unfreiwilligen metaphysischen Kern der Feuerbachschen Position: Ist das statisch verstandene Gattungswesen das Reale, so bleibt unerklärt, wie die Individuen an ihm partizipieren. Es ergäben sich unversehens aufs neue die Aporien des mittelalterlichen Universalienproblems. Als »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«64 kann es aber nicht länger eine statische Entität wie im überwiegenden Teil der europäischen Metaphysik sein; denn die gesellschaftlichen Verhältnisse reproduzieren sich als Prozeß, in den die spezifisch menschlichen Potenzen zwar eingehen, um doch erst durch ihre Aktualisierung als das Wesen in Erscheinung zu treten. Der Prozeß, in dem sich das Wesen fortlaufend herausbildet und erhält, ist eine Naturnotwendigkeit und zugleich mehr als deren immergleiche Fatalität. In der Arbeit als gegenständlicher Tätigkeit hat Marx den ersten Grundbegriff seines Materialismus gefunden. In seiner scharfen Kritik an Hegel, die Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten übt, wendet er sich dennoch mit Hegel implizit gegen die Feuerbachsche Anthropologie. Die Phänomenologie des Geistes gelangt zum absoluten Wissen, in dem die äußere Gegenständlichkeit derart aufgehoben ist, daß die »Entäusserung des Selbstbewusstseyns es ist, welche die Dingheit setzt.«65 Anders als Feuerbach übt Marx hieran nicht die Kritik des common sense, vielmehr stellt er fest, daß jene Entäußerung nur die eines dem Bewußtsein gemäßen Abstraktums sein kann. Die »Dingheit« ist nicht ein wirkliches Ding, sondern »ein Ding der Abstraktion […].«66 Soll sich das Selbstbewußtsein realisieren durch die Setzung eines anderen als es selbst ist, so erfordert dies immer schon ein vorgängiges Anderes, das in der Tätigkeit – wie unvollständig immer – angeeignet, d. h. in die Kontinuität des Bewußtseins aufgenommen ist: »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte einund ausatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß.«67 Die idealistischen Theorien von der Tätigkeit des Intellekts erschließen sich für Marx als indirekte Darstellungen des menschlichen Gattungslebens, das real nur durch seine Arbeit möglich ist. Hierin liegt auch für den späteren

63 64 65 66 67

Ebd. Ebd. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 422. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Erg.-Bd. 1, 577. Ebd.

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Marx des Kapital die unauflösliche Naturbedingung der menschlichen Existenz. Deren spezifische Bestimmung ist aber, daß sie die Bedingungen ihrer Reproduktion selbst produziert, wobei sie notwendig an die innere Form des Materials gebunden ist, welche sie nicht gesetzt hat. Die Fähigkeit, den Rahmen der menschlichen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung fortschreitend zu erweitern, gehört selbst zu den Naturgegebenheiten, über die sie ebenso hinausführt: »Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.«68 Marx bezeichnet seine Position in diesem Zusammenhang als einen »durchgeführten Naturalismus oder Humanismus, der sich sowohl von dem Idealismus als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist.«69 Nur dieser Naturalismus sei fähig, »den Akt der Weltgeschichte zu begreifen.«70 Hiermit ist die Bestimmung genannt, die das Marxsche Denken von den übrigen materialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Die materiellen Bedingungen, die der Mensch vorfindet, sind historische Resultate der gegenständlichen Tätigkeit selbst, auch wenn deren Spuren vordergründig gelöscht sind. Die Produktion der Bedingungen seiner Reproduktion ist aber an das Bewußtsein gebunden, das nicht gänzlich von seinen Objekten determiniert sein kann, da es sich die Ziele des zu Produzierenden setzen kann. Freiheit ist hierbei, wie beschränkt sie sein mag, immer schon vorausgesetzt. Darin liegt der Sinn des Vergleichs von Baumeister und Biene, den Marx im Kapital anstellt.71 Die zivilisatorischen Fortschritte und technischen Innovationen sind nämlich synthetische Akte, die aus dem jeweils gegebenen Material nicht herzuleiten sind. Für die Erfindung des Rades gibt es kein Modell in der Natur, das hätte imitiert werden können. Zudem sind die Resultate, die das »tätige Gattungsleben der Menschen« von Generation zu Generation hinterläßt, akkumulierte und vergegenständlichte Geschichte. Sie können nur Bedingungen der weiteren Reproduktion der Menschen sein, wenn sie Momente in der Kontinuität des kollektiven Bewußtsein sind: »Und wie alles Natürliche entstehen muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber 68

Ebd. Ebd. 70 Ebd. 71 K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 23, 193. Dies ist zwar durchaus kein idealistischer Freiheitsbeweis, aber Marx hat sich in keiner Weise auf die alte materialistische These von der kausalen Determination von Denken und Bewußtsein durch die naturalen Gegenstände eingelassen. Sie ist im übrigen gänzlich unbeweisbar, da die Ableitung das Abzuleitende immer schon voraussetzt und in einen regressus ad infinitum führt. 69

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für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.«72 Es war dann nicht mehr der Fehler von Marx, diese Geschichte wieder theoretisch zu naturalisieren und zu behaupten, sie laufe ihrerseits nach ehernen Gesetzen ab, die den Naturgesetzen analog seien. Deshalb ist er für die Konsequenzen des historischen Materialismus, der im Grunde ein Naturalismus zweiten Grades ist, nicht geistig haftbar zu machen.

72

K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Erg.-Bd. I, 579.

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Was ist moderner Materialismus?

I. Materialismus vs. Materialismen 1. ›Materialismus‹ ist eine relativ junge Bezeichnung für eine sehr alte philosophische Konzeption.1 Eine Definition, die ihn trennscharf von anderen philosophischen Konzeptionen abgrenzt, gibt es nicht. Was ›Materialismus‹ ist, läßt sich aber näher bestimmen, wenn man sich die Stellungnahmen vergegenwärtigt, die seine Protagonisten auf drei Grundfragen des philosophischen Denkens idealtypischerweise geben. Erstens: Die Menschen sehen sich vom Beginn ihrer Existenz an mit einer komplexen und vielgestaltigen Wirklichkeit konfrontiert, die sie irgendwann einmal nicht mehr einfach als gegeben voraussetzen und hinnehmen, sondern auf ihr ›Wesen‹ hin befragen. Womit haben wir es bei dieser Wirklichkeit zu tun? Worin bestehen ihre allgemeinen Eigenschaften? Handelt es sich um eine selbständige und aus sich heraus erklärbare Realität oder liegt ihr ein transzendentes Erzeugungs- und Ordnungsprinzip zugrunde? Auf diese ontologische Grundfrage antwortet der Materialismus mit der These, daß die gesamte Wirklichkeit als ein objektiv-reales Sein aufgefaßt werden muß, dessen Existenz und Struktur weder vom menschlichen noch von irgendeinem anderen (z. B. göttlichen) Bewußtsein abhängt. Der terminus technicus für dieses objektiv-reale Sein ist Materie. Ungeachtet ihrer überwältigenden Komplexität und ihrer für uns möglicherweise niemals vollkommen durchschaubaren Vielschichtigkeit kann nach materialistischer Überzeugung doch so viel über diese objektive Welt gesagt werden: Es handelt sich um eine Welt in dem Sinne, daß es ›hinter‹ ihr keine weitere Welt (oder Welten) gibt, die ontologisch vollkommen verschieden wäre, die also geistigen Erzeugungs- oder Strukturprinzipien gehorchen würde; und da alle wirklichen Phänomene – seien sie physikalischer, biologischer oder sozialer Art – einen in sich (kausal) geschlossenen Zusammenhang bilden, ist die Welt aus sich selbst heraus verständlich, so daß es zu ihrer Erklärung keines Rückgriffs auf transzendente oder geistige Prinzipien bedarf. Der Materialismus richtet sich daher nicht nur gegen alle Versuche, ›materielle‹ Phänomene auf geistige zu reduzieren (Platon, Hegel), sondern auch gegen die dualistische Annahme einer ›neben‹ der objektiven materiellen 1

»Der Materialismus ist so alt wie die Philosophie«, heißt es einleitend bei Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), Frankfurt / M. 1974, Bd. I, 7. – Der Begriff tritt demgegenüber erst in der Mitte

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Welt existierenden und von ihr unabhängigen geistigen Substanz (Descartes); er ist grundsätzlich monistisch. Zweitens: Die Welt besteht nicht nur aus den äußeren Dingen und Prozessen, sondern auch aus Menschen. Ein umfassendes philosophisches Bild der Welt muß daher uns selbst einschließen und unsere vielfältigen Lebensäußerungen in das Gefüge der Welt einordnen. Ein besonderes Problem bilden dabei natürlich die geistigen, mentalen, intellektuellen Lebensäußerungen des Menschen. Die materialistische Lösung dieses Problems besteht in der These, daß diese geistigen Lebensäußerungen kein separates Reich bilden, sondern als ein Produkt oder als eine spezifische ›Erscheinungsweise‹ der Materie aufgefaßt werden müssen. Besonders leicht kann das an der Tatsache illustriert werden, daß alle geistigen Leistungen an bestimmte materielle Objekte und die in ihnen sich vollziehenden objektiven Prozesse gebunden sind: Es gibt kein Denken ohne Gehirn. Die These vom ontologischen Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein hat nach (überwiegender) materialistischer Überzeugung auch erkenntnistheoretische Implikationen. Die Materie ist nicht nur ontologisch, sondern auch inhaltlich primär. Was eine wahre Erkenntnis ist, legt der jeweilige (materielle) Erkenntnisgegenstand fest. Die bevorzugte Erkenntnistheorie des Materialismus geht also davon aus, daß geistige, mentale, intellektuelle Vorgänge nicht sui generis sind, sondern als Repräsentationen der objektiven Realität aufgefaßt werden müssen. Drittens: Der Mensch ist nicht nur (und möglicherweise nicht einmal in erster Linie) ein erkennendes, sondern ein lebendes Wesen mit körperlichen Empfindungen und materiellen Bedürfnissen. Gefragt werden kann und muß daher auch, wie wir diese Empfindungen und Bedürfnisse zu bewerten haben. Sind sie grundsätzlich problematisch oder grundsätzlich legitim? Aus mindestens zwei Gründen tendiert der Materialismus in ethischer Hinsicht zur zweiten Antwort. (a) Zunächst ergeben sich diese körperlichen Empfindungen und materiellen Bedürfnisse aus der menschlichen Natur; sie sind daher ›objektiv‹ und der geistigen Steuerung nur partiell zugänglich; ihre prinzipielle Unterdrückung ist unzumutbar, wenn nicht unmöglich. (b) Wenn es keine transzendente Welt gibt, muß auf sie auch keine Rücksicht genommen werden; weder ergeben sich aus ihr irgendwelche Imperative für uns, noch kann sie das Elend dieser Welt kompensieren. Kurz: In ethischer Hinsicht verteidigt der Materialismus den Anspruch der Menschen darauf, in dieser Welt glücklich zu werden. Und dieses Glück ist nicht unabhängig von der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. des 17. Jahrhunderts auf: Vgl. H. Braun, Materialismus – Idealismus, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, 977–1020.

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2. Betrachtet man diese drei Thesen (man kann sie die Realismusthese, die These vom Primat der Materie und die Diesseitigkeitsthese nennen), so sind zwei Punkte erkennbar. Zum einen bestehen zwar Zusammenhänge zwischen ihnen; diese sind aber weniger eng, als oft angenommen wurde. So mag die erste These die beiden anderen nahelegen, sie impliziert sie aber keineswegs. Man kann die von allen geistigen Vorgängen unabhängige Existenz der objektiven Welt anerkennen, ohne deshalb ihren erkenntnistheoretischen Primat behaupten zu müssen; die Philosophie Immanuel Kants zeigt, daß man ontologisch Materialist sein kann, ohne in der Erkenntnistheorie einen Primat der Materie anerkennen zu müssen. Und ebenso kann man den Menschen das Paradies auf Erden gönnen und die eigene philosophische Theorie auf die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse hin ›finalisieren‹, ohne deshalb schon auf eine materialistische Ontologie oder einen erkenntnistheoretischen Realismus verpflichtet zu sein; dies hat uns Descartes gezeigt. Kurz: Obwohl Materialismus und Idealismus in der Geschichte oft als erbitterte Feinde2 aufgetreten sind, bilden sie keineswegs wechselseitig exklusive philosophische ›Lager‹. Es ist nicht schwer, Theorien und Theorieströmungen anzugeben, in denen materialistische Elemente mit idealistischen kombiniert werden. Philosophiehistorisch ist dies sogar eher die Regel gewesen.3 Wichtiger für den hier vorliegenden Zusammenhang ist der zweite Punkt. Keine der drei Thesen ist inhaltlich präzise festgelegt; jede von ihnen läßt Raum für unterschiedliche, ja divergierende Deutungen. – Betrachten wir zunächst noch einmal die Realismusthese. Die Behauptung der Unabhängigkeit der Materie vom menschlichen Bewußtsein geht offensichtlich auf die elementare und fortdauernde Erfahrung der Widerständigkeit der äußeren Welt zurück, die sich nicht ohne weiteres dem menschlichen Wunsch und Willen fügt. Abgesehen davon besagt sie aber nichts darüber, was unter ›Materie‹ zu verstehen ist, und so finden wir in der 2500jährigen Geschichte des materialistischen Denkens eine Fülle verschiedenartiger Materieauffassungen und -definitionen. Die Materie wurde mit bestimmten Elementen (Feuer, Wasser, Luft) gleichgesetzt,

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Mit welchen Mitteln die Auseinandersetzung geführt wurde, zeigt eine – in der philosophiehistorischen Literatur meist als peinlich übergangene – Episode, über die Diogenes Laertios berichtet: »Platon wollte alle ihm verfügbaren Demokrit-Schriften verbrennen, doch die Pythagoreer Amyklas und Kleinias hätten das als zwecklos verhindert, denn die Bücher wären schon zu sehr verbreitet gewesen.« (Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, übers. und hrsg. von F. Jürß, Stuttgart 1998, 9, 40). 3 So hat Hans Jörg Sandkühler hinsichtlich der klassischen deutschen Philosophie von Kant, Hegel, Fichte und Schelling auf »die dem Idealismus immanenten materialistischen Gegentendenzen« hingewiesen. (H. J. Sandkühler, Materialismus, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von H. J. Sandkühler, Bd. 3, Hamburg 1990, 234).

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mit »Natur« oder mit »Stoff«. Von Ausnahmen4 abgesehen, waren die MaterieKonzeptionen des Materialismus also durchweg naturalistisch. Ähnlich vieldeutig ist die These vom Primat der Materie. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um zwei Thesen, deren eine sich unmittelbar aus der Realismusthese ergibt: Denken ist von materiellen Voraussetzungen (Gehirn) abhängig. Damit liegt aber die Art des hier vorliegenden Zusammenhangs noch nicht fest. In der heutigen Philosophie des Geistes werden üblicherweise drei Modelle unterschieden: (a) Der eliminative Materialismus erklärt alle geistigen Phänomene für illusorische Gebilde, die in einer exakten und objektiven Beschreibung der Welt keinen Platz haben; (b) der reduktive Materialismus akzeptiert Geist und Bewußtsein als ›echte‹ Phänomene, hält sie aber für vollständig reduzierbar auf materielle Vorgänge; (c) für den nicht-reduktiven Materialismus sind Geist und Bewußtsein zwar an Materie gebunden, sie ergeben sich allerdings aus ihr als emergente Phänomene und haben daher ihr gegenüber eine relative Eigenständigkeit. – Die andere Subthese betrifft die Inhalte des Bewußtseins und ist somit erkenntnistheoretischer Natur. Das Spektrum der Deutungen umfaßt hier Theorien, nach denen die Bewußtseinsinhalte eine kausale Wirkung objektiver Gegenstände sind; aber auch Konzepte, die einen mehr oder weniger großen Raum für konstruktive Leistungen des Bewußtseins zulassen. Dementsprechend unterschiedlich sind dann auch die Ansichten über die Reichweite menschlicher Erkenntnis: Möglich waren und sind ›pessimistische‹ Deutungen, nach denen wir die objektive Realität nicht oder nur sehr unvollkommen erkennen können; ebenso aber auch ›optimistische‹ Deutungen, die das Gegenteil behaupten. Schließlich kann auch die Diesseitigkeitsthese sehr unterschiedlich interpretiert werden. Unterstellt wird dem Materialismus vielfach eine Verherrlichung handfester Genüsse bei gleichzeitiger Verachtung aller ›höheren‹ geistigen Interessen. Ein solcher Primitivismus gehört in den Bereich von Legende und Denunziation. So propagierte die vielgeschmähte Epikureische Schule statt eines Schlemmer- und Säuferlebens eine bescheidene, geradezu asketische Lebensweise.5 In der christlich dominierten Welt verfolgten materialistisch orientierte Autoren ein vornehmlich defensives Anliegen. Sie wehrten sich 4

Die wichtigste ist natürlich der von Karl Marx und Friedrich Engels begründete »historische Materialismus«. 5 Epikur, Brief an Menoikeus, in: Ders., Von der Überwindung der Furcht, eingel. und übers. von O. Gigon, München 1983, 103 f. – Vgl. in diesem Zusammenhang die schöne Formulierung von Friedrich Engels: »Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffährtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz, alle die schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt […].« (F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1973, 282).

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gegen die Abwertung und Geringschätzung materieller Bedürfnisse und Interessen und insistierten darauf, daß die Befriedigung dieser Bedürfnisse ebenso legitim ist wie die Befriedigung ›höherer‹ geistiger Interessen. In jedem Fall ist die Diesseitigkeitsthese nicht auf ein enges Spektrum menschlicher Interessen und Bedürfnisse festgelegt. 3. Angesichts dieses weiten Raums für unterschiedliche Deutungen sollten wir nicht erwarten, in der Geschichte der Philosophie einen Einheitsmaterialismus vorzufinden. Wie andere vergleichbare philosophische Typenbegriffe (vor allem natürlich: ›Idealismus‹) bezeichnet ›Materialismus‹ eine Theorienfamilie, deren einzelne Mitglieder beträchtliche Unterschiede aufweisen können. Über eine bestimmte philosophische Theorie ist noch nicht allzuviel ausgesagt, wenn sie unter diesen Typenbegriff subsumiert wird. Wir haben es mit einer Vielfalt von Materialismen zu tun. Ich möchte in diesem Beitrag zwei verschiedene Zweige dieser weit verzweigten Familie unterscheiden: ›klassischen‹ und ›modernen‹ Materialismus. Beide sind zunächst durch eine beträchtliche historische Distanz von mehr als einem Jahrtausend voneinander abgegrenzt, denn zwischen dem klassischen (=antiken) und dem modernen (=neuzeitlichen) Materialismus liegt ein langer Zeitraum, in dem die Hegemonie des christlichen Theismus jegliche öffentliche Darstellung materialistischer Ideen unterband.6 Abgesehen von dieser historischen Distanz unterscheiden sich der klassische und der moderne Materialismus aber auch auf der sachlichen Ebene. Diese inhaltlichen Differenzen möchte ich im Folgenden herausarbeiten. Dabei geht es mir vor allem um den modernen Materialismus und seine genauere Charakterisierung; der klassische Materialismus dient eher als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund sich die Spezifika seines modernen Nachfolgers um so deutlicher abzeichnen sollen. Die erste Ausgangsthese meiner folgenden Überlegungen lautet also: Wir haben es in der Moderne mit einer spezifischen Ausprägung des materialistischen Programms zu tun, die sich von seiner klassischen Ausprägung deutlich unterscheidet. Besonders hervorzuheben sind dabei zwei Differenzen, die ich in den beiden folgenden Abschnitten eingehender betrachten werde: (a) das spezifische Verhältnis zur Natur; und (b) das spezifische Verständnis von Praxis. Die zweite Ausgangsthese der folgenden Überlegungen besagt, daß eine solche Charakterisierung des modernen Materialismus die notwendige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis der von Carl Vogt, Jakob Moleschott

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Vgl. die quantitativen Untersuchungen von P. A. Sorokin, The Fluctuation of Idealism and Materialism in the Greco-Roman and European Cultures from 600 B. C. to 1920 A. D., in: Reine und angewandte Soziologie (FS Ferdinand Tönnies), Leipzig 1936, 321–362. Sowie die spätere Fassung in seinem vierbändigen Werk Social and Cultural Dynamics, New York 1962, Bd. 2, 181 ff.

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und Ludwig Büchner repräsentierten Theorieströmung des 19. Jahrhunderts ist. Denn es liegt zwar auf der Hand, daß wir es hier mit einer ›materialistischen‹ Theorieströmung zu tun haben; mit einer überdies sehr konsequenten (oder wenn man will: radikalen) Version von Materialismus, insofern sich in ihr alle drei der eingangs genannten Thesen wiederfinden lassen und jede von ihnen in einer starken Variante. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Vogt, Moleschott und Büchner nicht irgendeinen – und schon gar nicht den – Materialismus entwickelt und vertreten haben, sondern eben eine besondere Form von Materialismus; genauer: die erste voll ausgeprägte Form des modernen Materialismus. – Wenn man ›modern‹ dabei als Bezeichnung für eine Epoche versteht, die (entgegen anderslautenden Meldungen) noch nicht abgeschlossen ist, dann läßt sich daraus folgende dritte Ausgangsthese gewinnen: Wir haben es bei der von Vogt, Moleschott und Büchner repräsentierten Theorieströmung zwar nur mit einer Form von Materialismus zu tun, aber mit der für die Moderne typischen und in der Gegenwart einflußreichsten und wirksamsten Form. Ich werde die ›Aktualität‹ dieser Form von Materialismus im Folgenden nicht ausführlich erörtern können; sie wird aber, so hoffe ich, auch ohne ausführliche Erörterung deutlich werden.

II. Natur vs. Naturwissenschaften 4. Materialistische Theorien haben sich von jeher eng auf die Natur bezogen; ihnen wohnt eine Tendenz inne, auch den Menschen und die Gesellschaft in Termini von ›Natur‹ zu analysieren. Dieser Bezug bleibt auch unter den Bedingungen der Neuzeit erhalten, wandelt sich aber von einem direkten zu einem indirekten Bezug: An die Stelle der Natur tritt die Naturwissenschaft. Im Selbstverständnis moderner Materialisten hat diese Beziehung zu den Naturwissenschaften stets eine wichtige Rolle gespielt. So verzichtet Ludwig Büchner im Vorwort seines Bestsellers Kraft und Stoff auf jeglichen inhaltlichen Originalitätsanspruch, reklamiert stattdessen aber eine durch die Naturwissenschaften gesicherte Basis für seinen Materialismus: »Wir berühmen uns dabei nicht, etwas durchaus Neues, noch nicht Dagewesenes vorzutragen. Aehnliche oder verwandte Anschauungen sind zu allen Zeiten, ja zum Theil schon von den ältesten griechischen Philosophen, vorgetragen worden; aber die nothwendige empirische Basis zu denselben konnte erst durch die Fortschritte der Naturwissenschaften in unsern Jahrhunderten geliefert werden.«7 Für ihn stellt sich die Differenz zwischen dem klassischen und dem modernen Mate7

L. Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemeinverständlicher Darstellung, Frankfurt / M. 1855, ix.

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rialismus so dar, daß der erste darauf angewiesen war, intuitiv zu erahnen und spekulativ zu behaupten, was der zweite unter Verweis auf die Fortschritte der Naturwissenschaften als objektiv wahr voraussetzen kann. Die Geschichte des Materialismus besteht dann aus einem inhaltlichen Kontinuum, das lediglich (a) durch neue Einsichten erweitert und (b) durch wissenschaftliche Beweise erhärtet wird. In einer historischen Perspektive liegt dieses Selbstverständnis nahe. In ihren Anfängen waren die neuzeitlichen Naturwissenschaften noch eng mit der Philosophie verbunden; erst im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung haben sie sich zu einer relativ autonomen Form der Erkenntnisproduktion ausdifferenziert. Naturwissenschaft und (materialistische) Philosophie konnten somit als enge Verwandte erscheinen, geboren aus derselben Einstellung gegenüber der Natur und unterschieden lediglich dadurch, daß die eine sich eher mit den Detailfragen, die andere hingegen mit dem Großen und Ganzen befaßt. Dieser Eindruck wurde durch die historische Tatsache bestärkt, daß beide über Jahrhunderte hinweg denselben Gegner hatten: eine Koalition theologischer und philosophischer Strömungen, sozialer und politischer Kräfte, deren Gemeinsamkeit darin bestand, daß sie in der rein immanenten Weltbetrachtung eine Gefahr für den christlichen Glauben, für die etablierte Moral, für die abendländische Kultur und für den feudalen Staat sah; und die aus eben diesem Grund nicht auf den Rückgriff auf geistige Kräfte, transzendente Prinzipien und göttliche Eingriffe verzichten mochte. Schon in der Tatsache, daß sich die intellektuelle Aufmerksamkeit auf die Natur zu richten begann, daß die empirische Welt einer systematischen Erforschung überhaupt für würdig befunden wurde, traf auf religiöse und philosophische Mißbilligung. Materialismus und Naturwissenschaften standen in einem gemeinsamen Kampf für die Rehabilitierung der innerweltlichen Neugierde und die Aufwertung der Materie; und darüber hinaus auch für ein melioristisches Programm der Erleichterung des menschlichen Lebens in dieser Welt. Trotz dieser Gemeinsamkeiten verlief die Geschichte beider allerdings unterschiedlich. Während der Materialismus nicht nur theoretischen Anfeindungen, sondern auch politischer Verfolgung ausgesetzt blieb, erlangten die Naturwissenschaften seit dem 16. Jahrhundert allmählich den Status einer zwar mißtrauisch beäugten und gelegentlich angegriffenen, aber doch prinzipiell gefestigten sozialen Institution.8 Ungeachtet des fortdauernden Mißtrauens

8

Zu den Bedingungen dieser Institutionalisierung und den dazu eingeforderten Kompromissen vgl. W. van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft. Institutionalisierung und Definition der positiven Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: G. Böhme / W. van den Daele / W. Krohn, Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt / M. 1977, 129–182.

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vor allem von religiöser Seite errangen sie nach und nach eine weltanschauliche Autorität, die auf alle Bereiche des menschlichen Denkens ausstrahlte. Dies machte sie natürlich zu einem machtvollen Bündnispartner: Die zunehmende Autorität der Naturwissenschaften sollte die materialistische Philosophie beglaubigen. Aus der Sicht des Materialismus gewann die Beziehung zu den Naturwissenschaften damit eine strategische Dimension; sie wurde zu einem Vehikel zur Gewinnung von Reputation und Einfluß.9 Abgesehen von diesen historischen Gründen besteht auch eine sachliche Affinität zwischen dem Materialismus und den Naturwissenschaften. Diese beruht auf dem von beiden geteilten Immanenzprinzip. Wir haben bereits gesehen, daß die Welt aus materialistischer Sicht eine Einheit in dem Sinne darstellt, daß alle wirklichen Phänomene auf materielle Objekte und Prozesse zurückgeführt werden können, so daß wir es bei der ›Welt‹ mit einem einzigen – wenngleich unendlich vielschichtigen und verwickelten – Gesamtzusammenhang zu tun haben, der aus sich heraus verständlich ist. Ein Rückgriff auf spirituelle Kräfte, transzendente Prinzipien oder göttliche Eingriffe ist für die adäquate Erklärung der Welt im besten Falle überflüssig, im schlimmsten Falle verstellt er eine solche Erklärung. Von eben diesem Prinzip gehen auch die Naturwissenschaften aus; sie erklären die Welt aus sich heraus und enthalten sich jeder Bezugnahme auf übernatürliche Instanzen. – Dabei ist aber oft übersehen worden, daß dieses Prinzip im Kontext der Philosophie eine andere Bedeutung hat als im Kontext der Naturwissenschaften. Von materialistischer Seite wird es als ein substantielles Prinzip verstanden: als eine ontologische Aussage darüber, wie die Welt letzten Endes und ihrem Wesen nach ist. Im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung fungiert es demgegenüber als eine methodologische Regel, nach der nur das in Betracht gezogen wird, was ›natürlich erklärt‹ werden kann. Phänomene, die sich der exakten empirischen 9

Dies galt umgekehrt nicht. Während das materialistische Interesse an den Naturwissenschaften auf der Hand liegt und durch die Quellen leicht belegt werden kann, ist die Affinität von der anderen Seite weniger stark betont, in vielen Fällen sogar als eine Peinlichkeit angesehen oder energisch bestritten worden. Die Protagonisten und Promotoren der neuzeitlichen Naturwissenschaften ließen nur in Ausnahmefällen eine Neigung zum Materialismus erkennen; sie verbanden ihre Forschung mit theistischen Überzeugungen oder idealistischen Philosophien. Von materialistischer Seite ist dies entweder mit persönlichen Inkonsequenzen, wenn nicht mit Feigheit oder geistiger Rückständigkeit auf Seiten der betreffenden Wissenschaftler erklärt oder auf die unvermeidlichen Lücken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis zurückgeführt worden. Solche Lücken bilden dann das ›Einfallstor‹ für religiöses und / oder idealistisches Denken: Solange etwa noch nicht gezeigt war, wie die erstaunliche Angepaßtheit der Lebewesen an ihre jeweilige ökologische Nische aus rein immanenten Faktoren erklärt werden kann, blieb Raum für teleologische Deutungen oder für den Rückgriff auf ein göttliches design der Organismen.

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Analyse entziehen, sind einfach nicht Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung. Ob es sie ›in Wirklichkeit‹ gibt oder nicht, ist eine Frage, die im Rahmen der Naturwissenschaften nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet werden kann. Mit Hilfe der experimentellen Methode ist über Geister und Götter nichts zu ermitteln; aber daraus folgt natürlich nicht, daß es keine Geister und Götter gibt. Eine materialistische Deutung des Wesens der Welt geht daher notwendigerweise über das hinaus, was im Rahmen der Naturwissenschaften legitimerweise ausgesagt werden kann. 5. Dieses Hinausgehen über die Naturwissenschaften wurde oft dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es in der (materialistischen) Philosophie um die »Verallgemeinerung« naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gehe. Dem liegt der Eindruck zugrunde, daß die Naturwissenschaften einen außerordentlich erfolgreichen Typus von Welterkenntnis darstellen, der allen konkurrierenden Erkenntnistypen überlegen ist. Die Philosophie kann uns nicht mehr, vor allem nicht Besseres (Wahreres) über die Welt sagen als die Naturwissenschaften. Eine autonome Philosophie ist daher nicht nur überflüssig, sondern schädlich, da sie uns auf die Abwege der Spekulation und des Idealismus führt. Fragt man nach dem hinter dieser Position stehenden Verständnis von ›Naturwissenschaft‹, so stößt man auf zwei zentrale Hintergrundannahmen: (a) Die Naturwissenschaften sind als die Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aufzufassen, d. h. als ein Korpus von Resultaten. Dazu gehören sowohl einzelne empirische Befunde (Tatsachen) als auch erfolgreiche Theorien. (b) Diese Tatsachen und Theorien geben ein Bild der Natur, wie sie wirklich ist. (c) Dieses Bild ist potentiell vollständig in dem Sinne, daß es nichts gibt, das sich dieser Erkenntnisweise prinzipiell entzieht. Geht man von diesen Voraussetzungen aus, so konnte ein materialistischer Philosoph im 18. Jahrhundert und noch weit ins 19. Jahrhundert hinein nichts Besseres tun, als die damals umfassendste, erfolgreichste und am besten bestätigte naturwissenschaftliche Theorie – die Newtonsche Mechanik – zur Basis seiner Weltdeutung zu machen. Er konnte also nichts Besseres tun, als die ganze Welt im Lichte dieser Theorie zu deuten und auch alle möglichen nichtphysikalischen Gegenstände als ›Fälle‹ dieser Theorie zu interpretieren. Genau das geschah: Nicht nur die unbelebte, sondern auch die belebte Natur wurde als ein Aggregat mechanischer Ursachen und Wirkungen zu deuten versucht, dem auch das menschliche Denken und Handeln, die Kultur und die Gesellschaft angehören. Damit sind wir beim ersten Problem dieser Konzeption des Verhältnisses von Philosophie und Naturwissenschaft: Sie hat eine inhärente Tendenz zum Reduktionismus. Es gibt ihr zufolge immer nur eine Form des legitimen Weltverständnisses, eine Form rationaler Erklärung, nämlich die von der jeweils avançiertesten naturwissenschaftlichen Theorie vorgegebene Form.

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Nun bestehen die Naturwissenschaften aber nicht nur aus fertigen Resultaten, sondern schließen auch Forschung, d. h. die Erzeugung neuer Tatsachen und Theorien ein. Entgegen einer weit verbreiteten (und auch dem zitierten Selbstverständnis Büchners zugrundeliegenden) Annahme reduziert sich die Erzeugung neuen Wissens nicht auf eine kumulative Erweiterung unserer Kenntnisse über die Natur, sondern erzwingt bisweilen tiefgreifende Revisionen der bisherigen Kenntnisse: wissenschaftliche Revolutionen. Begreift man nun Philosophie als die Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, so schlagen derartige Revolutionen unmittelbar auf die Philosophie durch und stellen ihre Theorien in Frage. Mit der Durchsetzung der nichtklassischen Physik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die mechanische Weltdeutung daher rasch obsolet und zum Irrweg deklassiert. Das zweite Problem der Verallgemeinerungstheorie ergibt sich somit unmittelbar aus dem, was sie selbst für ihre größte Stärke hält: die enge Beziehung zu den Errungenschaften der Naturwissenschaften. Die Historizität der naturwissenschaftlichen Erkenntnis reduziert die an sie gebundenen Philosophien zu einer Sequenz intellektueller Moden. Zur Lösung dieses Problems können zwei verschiedene Wege eingeschlagen werden. Der erste besteht darin, mit der jeweils neuen ›Mode‹ zu gehen, d. h. die jeweils aktuellste naturwissenschaftliche Theorie zum Angelpunkt der Weltdeutung zu machen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot sich die Darwinsche Evolutionstheorie als Basis aller möglichen ›philosophischen‹ Konzeptionen an, und Vogt, Moleschott und Büchner zögerten nicht, dieses Angebot anzunehmen: Der Materialismus wurde darwinistisch. Und wie die »evolutionäre Erkenntnistheorie« oder die »evolutionäre Ethik« wird dieser Lösungsweg auch heute noch gern beschritten, wenngleich sich die Wanderer auf ihm nur noch ausnahmsweise als »Materialisten« bezeichnen. Der andere Weg besteht darin, die enge Bindung an die Naturwissenschaften beizubehalten, ohne sich dabei weiter an ihre Resultate zu klammern. Unter ›Naturwissenschaften‹ wird dann nicht mehr ein gegebener Korpus von Tatsachen und Theorien verstanden, sondern eine Einstellung gegenüber der Welt und eine Methode, ihre Strukturen zu entschlüsseln. Die wissenschaftsorientierte Philosophie extrapoliert dann nicht mehr die Resultate der Naturwissenschaften, sondern universalisiert ihre methodische Vorgehensweise und Weltauffassung. Dieser Weg wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Autoren wie Ernst Mach, später dann von den Mitgliedern des Wiener Kreises eingeschlagen. Bereits in seinem Frühwerk Allgemeine Erkenntnislehre hatte sich Moritz Schlick zu einer Art von methodischem Monismus bekannt, der davon ausgeht, »daß alle Qualitäten des Universums, daß alles Sein überhaupt insofern von derselben Art ist, als es der Erkenntnis durch quantitative Begriffe zugänglich gemacht werden kann«. Ein solcher Typus des »erkenntnistheoretisch abgeklärten« Denkens enthält,

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wie Schlick ausdrücklich hinzufügt, »alle brauchbaren Momente, die dem Materialismus des vorigen Jahrhunderts so großen Erfolg verschafften bei einem Publikum, das, von erkenntnistheoretischem Denken unbeschwert, seinen starken Drang nach Einheit und Geschlossenheit des Weltbildes auf diese Weise befriedigt fühlte«10. Mit diesem Übergang auf die methodische Seite der Wissenschaft werden einerseits wichtige Motive des modernen Materialismus fortgeführt; andererseits kann von einem genuin materialistischen Ansatz insofern nicht mehr gesprochen werden, als damit bestimmte intellektuelle Einstellungen und Verfahren zum letzten Existenz- bzw. Objektivitätskriterium erhoben werden. Von Rudolf Carnap wird die grundlegende Gemeinsamkeit des voll entwickelten Logischen Empirismus mit dem Materialismus bei gleichzeitiger Kritik seiner »metaphysischen« Naivität bekräftigt: »Da alle geistigen Gegenstände auf psychische und alle psychischen auf physische zurückführbar sind, so kann die Basis des Systems in das Gebiet der physischen Gegenstände gelegt werden. Man kann diese Systemform als ›materialistisch‹ bezeichnen, da der Aufbau eines Konstitutionssystems dieser Form besonders für den Standpunkt des Materialismus naheliegt. Es ist jedoch wichtig, die logisch-konstitutionale Seite einer Theorie deutlich zu trennen von ihrer metaphysischen Seite. Gegen den wissenschaftlichen Materialismus ist von dem logischen Gesichtspunkt der Konstitutionstheorie aus nichts einzuwenden. Seine Behauptung, daß alle psychischen (und sonstigen) Gegenstände auf physische zurückführbar seien, besteht zu Recht. Die darüber hinausgehende Behauptung des metaphysischen Materialismus, daß alle psychischen Vorgänge ihrem Wesen nach physische seien, daß nichts als Physisches existiere, wird von der Konstitutionstheorie und überhaupt von der (rationalen) Wissenschaft weder aufgestellt noch bestritten.«11 Das Ernstnehmen der Dynamik von Wissenschaft und der aus ihr resultierenden Veränderlichkeit allen wissenschaftlichen Wissens transformiert somit den substantiellen Szientismus à la Vogt, Moleschott oder Büchner in einen methodischen Szientismus à la Mach, Schlick oder Carnap – um den Preis seines ursprünglichen materialistischen Gehalts. 6. Die enge Selbstbindung an die Naturwissenschaften ist für den Materialismus also keineswegs so harmlos, wie es seinen Protagonisten erschien. Um den Preis dieser Selbstbindung zu ermessen, muß man sich die prinzipielle Grenze der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise vergegenwärtigen. Deren Leistungsfähigkeit und Erfolg beruhen ja vor allem auf ihrer methodischen Objektivität: Naturwissenschaftliche Erkenntnis wird unter Bedingungen produziert, die (möglichst) von allen kontingenten Randbedingungen, insbesondere von allen Einwirkungen durch den ›subjektiven Faktor‹, frei sein 10 11

M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, 276 f. u. 277. R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 21961, 80.

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sollen. Die Erkenntnis ist um so objektiver, je perfekter ihr diese Abstraktion vom Subjektiven gelingt. Wir haben es daher mit einem Typus von Erkenntnis zu tun, der von der Welt des Subjektiven systematisch abstrahiert. Solange wir auf dem Feld der Naturwissenschaften selbst bleiben, ist dies unproblematisch, denn weder die einzelnen Theorien noch die Naturwissenschaften insgesamt erheben den Anspruch, ein vollständiges Bild der Welt zu geben. Für eine Philosophie, die ein solches vollständiges Bild der Welt zu liefern beansprucht (und diesen Anspruch erhebt der Materialismus), hat die Bindung an die naturwissenschaftliche Erkenntnisweise aber die desaströse Konsequenz, daß sie die Existenz eines bedeutsamen Teils der Realität entweder stillschweigend übergehen oder explizit leugnen muß.12 Der Materialismus versetzt uns in eine ausschließlich objektive Welt, in der wir selbst keinen Platz haben. Ich möchte diese Negation der subjektiven Dimension an einem Beispiel illustrieren, das die Differenz zwischen dem klassischen und dem modernen Materialismus besonders augenfällig macht: am Beispiel der Auseinandersetzung mit dem menschlichen Tod. Charakteristisch für den antiken Materialismus ist, daß er diese Auseinandersetzung aus der Perspektive der betroffenen Individuen angeht. Der Tod ist für ihn nicht nur ein objektives, sondern vor allem auch ein subjektives Faktum. Es geht um die Frage, was der Tod für mich bedeutet und welche Haltung ich ihm gegenüber einnehmen sollte, wenn mir an meinem diesseitigen Wohlergehen gelegen ist.13 Zwar finden sich derartige Überlegungen durchaus auch bei modernen Materialisten wie d’Holbach; daneben finden wir aber auch eine objektivierende Betrachtungsweise, die ihr Augenmerk stärker auf die körperlichen Auflösungserscheinungen richtet, die mit dem Tod eintreten.14 Knapp hundert Jahre später hat sich das Gewicht noch weiter auf diese zweite Betrachtungsweise verschoben. Abgesehen von der Argumentation gegen die Idee einer unsterblichen Seele und einer »persönlichen Fortdauer« legen Jakob Moleschott und Ludwig Büchner das Schwergewicht ihrer Überlegungen zum Tod auf den Gedanken, daß der »Stoff«, aus dem auch die menschlichen Individuen bestehen, nach deren Tod in den einen großen Kreislauf des Stoffs und des Lebens eingeht. »Von den Engländern kann man wörtlich sagen, daß sie ihre Voreltern, die im Kampfe für sie und ihre Freiheit gegen die französische Herrschaft gefallen sind, zum Danke dafür in ihrem täglichen Brode aufessen. Man hat die Knochen des Schlachtfeldes von Waterloo

12

Zur Unvollständigkeit der objektiven Realität vgl. Th. Nagel, The View from Nowhere, New York / Oxford 1986, 25 ff. 13 Epikur, Brief an Menoikeus, a. a. O., 101 f.; vgl. auch den Katechismus, a. a. O. 59. Lukrez, Von der Natur, hrsg. und übers. von H. Diels, München 1993, III, 830–930. 14 P. Th. d’Holbach, System der Natur oder Von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, Berlin 1960, 195 ff. sowie 54 f.

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in großer Menge nach England geführt, um die Felder damit zu düngen, und den Ertrag derselben dadurch um das Doppelte erhöht.«15 Die Perspektive des sterblichen Subjektes ist hier durch die eines neutralen, objektiven Beobachters ersetzt, der das Weltganze betrachtet und dabei auf die Tatsache stößt, daß der Stoff, aus dem die Menschen sind, Teil eines großen Kreislaufs allen Stoffs ist. Zwar mag auch eine solche distanzierte Betrachtung eine Relativierung des Schreckens bewirken und damit ein Element der Tröstung enthalten; dies kann aber nur eine Wirkung, kein Gegenstand der Theorie mehr sein. Zu der Frage, was der Tod für mich bedeutet, hat der moderne Materialismus nichts mehr zu sagen, da eine Antwort auf sie nicht objektiv und nicht ›wissenschaftlich‹ sein kann.16 So weit dann überhaupt noch in praktischer Absicht nach dem Tod gefragt werden kann, nimmt die Antwort eine für den modernen Materialismus eigentümliche Wendung in Richtung auf die Sozialtechnologie. Aus der theoretischen Einsicht, daß der menschliche »Stoff« in den allgemeinen Kreislauf des »Stoffs« eingeht, wird dann die Empfehlung, ihn als Dünger für eine effektivere Nahrungsmittelproduktion zu verwenden. »Man brauchte nur jede Begräbnißstätte, nachdem sie ein Jahr lang benutzt wäre, mit einer neuen zu vertauschen, um nach sechs bis zehn Jahren einen der fruchtbarsten Aecker zu besitzen, der den Todten mehr Ehre macht als Denkmal und Grabhügel. Wie lange hat man es schon eingesehen, daß das Andenken bedeutender Menschen weit edler durch nützliche und wohlthätige Stiftungen gefeiert wird, als durch Erz und Bildsäulen. Begräbnißplätze, die nach zehn Jahren als fruchtbares Ackerland neue Menschen schaffen, wären ebenso viele Stiftungen, mit denen man nicht sowohl dem Elend abhelfen, als vielmehr dem Elend vorbeugen würde, unmittelbar durch Vermehrung des Getreides und mittelbar durch den Zuwachs an denkenden Menschen.«17

15

L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 14 f. Rudolf Carnap hat diesen Verzicht explizit gefordert: »Das ›Rätsel des Todes‹ besteht in der Erschütterung durch den Tod eines Mitmenschen oder in der Angst vor dem eigenen Tod. Es hat nichts zu tun mit den Fragen, die sich über den Tod stellen lassen, wenn auch die Menschen, sich selbst mißverstehend, zuweilen das Rätsel durch Aussprechen solcher Fragen zu formulieren glauben. Diese Fragen können von der Biologie grundsätzlich (wenn auch im heutigen Stadium nur zum geringen Teil) beantwortet werden.« (R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, a. a. O., 260 f.). 17 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe, Mainz 1852, 444. 16

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III. Praxis vs. Sozialtechnologie 7. Damit sind wir bereits bei der zweiten Besonderheit des modernen Materialismus, die sein Verständnis von Praxis betrifft. Ich werde die Differenz zum klassischen Materialismus an drei Punkten hervorheben. Dabei zeigt sich die Tiefe dieser Differenz daran, daß der klassische Materialismus an allen diesen Punkten mehr mit seinen zeitgenössischen (idealistischen) Konkurrenten gemein hat als mit seinem modernen Nachfolger. Abschließend wird sich eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Beziehung zwischen dem Praxisverständnis des modernen Materialismus und seiner Beziehung zu den Naturwissenschaften ergeben. Erstens: Der antike Materialismus räumt der Ethik eine zentrale Rolle innerhalb seines philosophischen Lehrgebäudes ein. Dabei faßt er ›Ethik‹ als eine direkte Anleitung zum guten menschlichen Leben und zu einem diesem guten Leben entsprechenden Handeln auf. Epikur geht in dieser Orientierung auf die menschliche Praxis sogar noch einen Schritt weiter als andere antike Philosophen, indem er alles philosophische Bemühen diesem Ziel rigoros unterordnet. Ausdrücklich bestreitet er jeglichen Eigenwert der Theorie; auch die Naturerkenntnis erhält ihre Berechtigung allein aus ihrer ethisch-praktischen Funktion.18 – Dieses Relevanzgefälle von theoretischer und praktischer Philosophie kehrt der moderne Materialismus um. Im Zentrum seiner Bemühungen steht die theoretische Erkenntnis der objektiven Welt, insbesondere der Natur. Natürlich ergeben sich daraus Schlußfolgerungen für das menschliche Leben und Handeln; und diese werden auch (mehr oder weniger ausführlich) reflektiert. Doch selbst wenn sie der Motivation nach am Beginn der materialistischen Theoriebildung stehen, sind sie der theoretischen Ordnung nach sekundär: Es sind Schlußfolgerungen, die sich aus dem theoretischen Weltbild ergeben. Und je stärker der Materialismus sich auf die Naturwissenschaften stützt, desto stärker tritt die Praxis theoretisch an den Rand oder in den Hintergrund; denn ein genuiner Begriff menschlicher Praxis läßt sich auf naturwissenschaftlicher Basis nicht entwickeln. Dieses Auseinandertreten von Theorie und Praxis ist bei Vogt, Moleschott und Büchner unübersehbar: Obwohl sich vor allem Vogt und Büchner praktisch-politisch betätigt haben und obwohl ihrer Theoriebildung durchaus praktische Intentionen zugrundeliegen, vermögen sie doch in ihrer Theorie kein adäquates Verständnis menschlicher Praxis zu entwickeln. Vollends offensichtlich wird dieses Auseinandertreten von Theorie und Praxis in den allerneuesten Spielarten des Materialismus, wie er etwa im Rahmen der gegenwärtigen Philosophie des Geistes vertreten wird. ›Materialismus‹ wird

18

Epikur, Katechismus, a. a. O., 60 f.

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hier konsequent und ausschließlich als eine bestimmte Position innerhalb der theoretischen Philosophie verstanden.19 Zweitens: Wie seine idealistischen Konkurrenten setzt der antike Materialismus voraus, daß das gute Leben zwar nicht garantiert, sondern (im Gegenteil) stets gefährdet ist, daß es aber dennoch durch richtiges Handeln mit hinlänglicher Sicherheit erreichbar ist. Es gibt für das menschliche Individuum keine grundsätzlichen und unüberwindbaren Hindernisse, ein gutes Leben zu führen, sofern es durch Philosophie die richtige Einsicht gewinnt und in seinem Handeln realisiert. Dabei ist für den hier vorliegenden Zusammenhang entscheidend, daß das »gute Leben« immer und ausschließlich als das gute Leben des Individuums aufgefaßt wird. Genauer: Es geht darum, die individuellen Adressaten der Theorie in die Lage zu versetzen, ihr jeweiliges Leben zu einem guten zu machen. – Soweit er Anleitung zur Praxis sein will und sein kann, zielt natürlich auch der moderne Materialismus auf das gute Leben. Doch (von Ausnahmen abgesehen) rückt er von der Vorstellung einer direkten Realisierung des guten Lebens durch die Adressaten der Theorie ab. Stattdessen soll es nun um die allgemeine Verbesserung des menschlichen Daseins gehen, d. h. um die Verbesserung der Lebensbedingungen für alle Menschen, zumindest aber für die Mehrheit der Menschen. An die Stelle einer direkten Verwirklichung des guten Lebens tritt damit eine indirekte Strategie, die das gute Leben auf dem Umweg über eine Reform der objektiven Lebensbedingungen anstrebt. Dies schließt natürlich die Möglichkeit ein, daß die Handelnden selbst die Früchte ihres Handelns gar nicht mehr ernten, da von den verbesserten Lebensbedingungen vielleicht erst die nachfolgenden Generationen profitieren werden. Drittens: Wenn es in der antiken Ethik um eine direkte Realisierung des eigenen guten Lebens durch die Theorieadressaten geht, so ergibt sich daraus eine bedeutsame Konsequenz. Die ›Objekte‹, auf die die Individuen ihr Handeln unmittelbar richten, müssen in ihrer Reichweite liegen. Wenn wir nun fragen, welche ›Objekte‹ unter diesen Bedingungen in Frage kommen, dann scheiden genau diejenigen aus, auf die der moderne Materialismus seine Aufmerksamkeit richtet. Ihre eigenen objektiven Lebensbedingungen haben die Individuen bestenfalls zu einem geringfügigen Teil in der Hand: Gegen ›Schicksalsschläge‹ wie Krankheit und Krieg, Verlust des Vermögens oder der Angehörigen ist ein effektiver Selbstschutz nur sehr bedingt möglich. Eine voll19

»Materialism is now the dominant systematic ontology among philosophers and scientists, and there are currently no established alternative ontological views competing with it.« (P. K. Moser / J. D. Trout, Preface, in: P. K. Moser / J. D. Trout (Hg.), Contemporary Materialism. A Reader, London / New York 1995, ix). – Auszunehmen von diesem Befund ist natürlich der historische Materialismus, der in mancher (nicht in jeder) Hinsicht eine Ausnahmestellung innerhalb des modernen Materialismus einnimmt.

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ständige Kontrolle haben die Individuen aber über ihre eigenen Erwartungen, Einstellungen, Präferenzen oder Werte (so nahm die antike Ethik jedenfalls an). Um sich ein gutes Leben zu sichern, muß das Individuum daher seine Erwartungen, Einstellungen, Präferenzen und Werte auf eine solche Weise modifizieren, daß es sich von kontingenten Faktoren (möglichst) unabhängig macht. Stattdessen muß es sich auf »seelische« konzentrieren, die der Kontingenz entzogen und deshalb sicherer sind. Die epikureische Schule vertritt bekanntlich einen Hedonismus, der die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse in den Vordergrund rückt. Es wurde aber bereits erwähnt, daß damit kein Leben in Saus und Braus gemeint ist, sondern das genaue Gegenteil: ein bescheidenes, geradezu asketisches Leben, das Ruhe gewährt und gegen Verlust gesichert ist. Der Weg zum guten Leben führt somit über eine Läuterung der inneren Prioritäten. – Es bedarf keiner langen Begründung, daß eine solche Strategie für den modernen Materialismus nicht in Frage kommt. Wenn das gute Leben nur auf dem indirekten Weg über die Lebensbedingungen gesichert werden kann, dann erscheint die Revision der inneren Prioritäten als prinzipiell unzureichend. Die Lebensbedingungen sind konstituiert durch objektive Verhältnisse und äußere Faktoren, und deshalb muß sich auch die Praxis nach außen richten. Nicht die Reduktion der Bedürfnisse, sondern die Vermehrung der Güter, auf die sie sich richten, ist das Ziel; nicht um das Ertragen von Krankheit und Schmerzen geht es, sondern um ihre Bekämpfung. Aus moderner Sicht erscheint das antike Praxisverständnis als apolitisch und quietistisch; es erscheint nicht einmal als ›materialistisch‹, denn es richtet sich nach innen, auf die Präferenzen und Prioritäten des Individuums und weist damit eine überraschende Nähe zur religiösen Askese und zur christlichen Resignation auf. 8. Die Ursachen und Gründe für diesen Wandel des Praxisbegriffs können hier nicht näher analysiert werden; einige Hinweise auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen der moderne Materialismus antrat, müssen genügen. Diese Rahmenbedingungen waren durch die Hegemonie einer systematisch geschlossenen und institutionell etablierten theistischen Lehre geprägt, die das gesamte private und gesellschaftliche Leben durchdrang. Betrachten wir dies etwas näher. Während die antike Religion keine dogmatische Lehre, sondern eher eine rituelle Praxis war, profilierte sich das Christentum seit seinen Anfängen als ein systematisches Lehrgebäude, dem sich alle anderen Formen menschlichen Denkens zu unterwerfen hatten. Die Existenz autonomer philosophischer Schulen, materialistischer eingeschlossen, war daher mit dem religiösen Leben der Antike in keiner Weise unvereinbar; sie existierten über Jahrhunderte völlig unbehelligt, bis sie im Jahre 529 von dem christlichen Kaiser Justinian verboten wurden. Unter den sich dann entwickelnden Bedingungen christlicher Vorherrschaft war jede autonome Philosophie zumindest verdächtig; für materialistische Ansichten blieb erst

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recht kein Raum, erschienen sie doch unausweichlich als ein Angriff auf die Grundlagen des christlichen Weltbildes. Hinzu kommt, daß sich die christliche Religion nicht nur als eine umfassende Lehre verstand, sondern zugleich auch als eine Richtlinie für die Gestaltung des gesamten menschlichen Lebens: sowohl des individuellen, privaten als auch des kollektiven, öffentlichen Lebens. Hatten die Anhänger Epikurs die Möglichkeit des Rückzugs in soziale Nischen (in den berühmten Garten), so ließ die christliche Gesellschaft einen individuellen ›Ausstieg‹ nicht zu. Den Dissidenten des Christentums blieb daher nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Konflikt. Wer sich bei dieser Wahl für den Konflikt entschied, provozierte nicht nur eine weltanschauliche Debatte, sondern zugleich auch eine Konfrontation mit den jeweils herrschenden Mächten. Da sich das Christentum schon früh als formelle Organisation (Kirche) konstituiert und enge Beziehungen zur etablierten Gesellschaft geknüpft hatte, wurde jede Abweichung von der orthodoxen Lehre als ein Angriff auf die bestehenden Machtverhältnisse wahrgenommen. Umgekehrt war die Auseinandersetzung mit Religion und Kirche in beträchtlichem Maße politisch motiviert. »Die Regierungen des heutigen Tages stehen und fallen mit der Gnade Gottes.«20 – wenn diese Diagnose stimmt, mußte jegliche Gesellschaftskritik in erster Linie Religionskritik sein. Es liegt auf der Hand, daß dies erhebliche Konsequenzen für den Status und die Tragweite der Religionskritik hatte. Zwar spielt die Religionskritik bereits für den klassischen Materialismus eine wichtige Rolle; sie bleibt hier aber ›privatistisch‹ und hat keine politischen Implikationen.21 Ausgangspunkt für Epikur und seine Schüler ist die Todesfurcht, als ein zentrales Hindernis für das gute Leben; da die Todesfurcht auch von der Idee strafender Götter herrührt, haben die an ihrem Lebensglück interessierten Individuen allen Grund, diese Idee – aber auch nur sie – fallenzulassen. Die notwendige philosophische Aufklärung des individuellen Bewußtseins muß weder die Existenz von Göttern in Zweifel ziehen, solange diese sich in die menschlichen Angelegenheiten nicht einmischen; noch muß sie mit einer Distanzierung von der etablierten rituellen Praxis verbunden sein. Unter den Bedingungen christlicher Hegemonie war eine solche Fokussierung auf das individuelle, private Bewußtsein nicht länger möglich. Die Religionskritik traf hier eine institutionalisierte Glaubens-

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J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 11. – Werner Bröker zufolge hatte die Religionskritik der Materialisten des 19. Jahrhunderts vornehmlich politische Motive: Ders., Politische Motive naturwissenschaftlicher Argumentation gegen Religion und Kirche im 19. Jahrhundert. Dargestellt am ›Materialisten‹ Karl Vogt (1817–1895), Münster 1973. 21 »[D]er neuere Materialismus hat vor dem antiken den politischen Klassenkampfcharakter voraus, die revolutionäre Aktivität, die ideologische Entlarvung, auch Spuren

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lehre, die als Instrument der Herrschaftslegitimation fungierte: und war damit politisch. Dies betraf natürlich auch die Religionskritik des modernen Materialismus und macht verständlich, warum sich dessen Praxisverständnis von der Beschränkung auf das individuelle gute Leben löst und in Richtung auf die Veränderung der äußeren Lebensbedingungen erweitert. In Kombination mit den sich in der Neuzeit schrittweise ausbildenden und ausbreitenden Ideen der Machbarkeit der Geschichte und der Gestaltbarkeit der Gesellschaft führte dieser Wandel in der Funktion und Tragweite der Religionskritik zu einer ›Politisierung‹ des Praxisverständnisses allgemein und des materialistischen Praxisverständnisses im Besonderen. Dabei muß der Begriff der Politisierung aber in einem weiten Sinne verstanden werden und offen bleiben für verschiedene Verständnisse von ›Politik‹. Im Hinblick auf die materialistische Philosophie der Neuzeit sind drei solcher Verständnisse zu unterscheiden. Eine erste, vor allem im 18. Jahrhundert verbreitete Variante bestand darin, sich die angestrebten Reformen als die Tat von aufgeklärten Monarchen oder weisen Gesetzgebern vorzustellen.22 Während die Reform hier ›von oben‹ erhofft oder erwartet wird, wird sie in einer zweiten Variante als Produkt politischen Handelns ›von unten‹ konzipiert. Der historische Materialismus mit seiner These von der »welthistorischen Mission der Arbeiterklasse« ist die bekannteste und theoretisch elaborierteste Variante dieser Theorieströmung. Auf beide gehe ich hier nicht näher ein. Ich betrachte abschließend eine dritte Konzeption, die nach der Diskreditierung des historischen Materialismus durch den Bankrott des realen Sozialismus das materialistische Praxisverständnis geradezu monopolisiert zu haben scheint. 9. Wenn man davon ausgeht, daß die modernen Naturwissenschaften eine unüberbietbare Form der Naturerkenntnis darstellen; und sich gleichzeitig der Tatsache bewußt ist, daß diese Unüberbietbarkeit auch die technische eines Theorie-Praxis-Verhältnisses. Das alles fehlt noch im geistigen Griechenland, in der Gesellschaft der ›Freien‹, im ›Epikureismus‹ des arbeitslosen Einkommens. Leukipp lebte so zurückgezogen, aufgrund wohl einer derart gesicherten Privatheit, daß bereits das spätere Altertum an seiner Existenz zweifelte; Epikur führte mit seinen Schülern ein ruhiges Gartenleben, mit nur geselligen, keineswegs gesellschaftlichem Interesse. Keiner dieser Männer und keine ihrer Lehren widersprach der Klasse, der sie angehörten oder deren musischem Denkspiel sie dienten; Diogenes ist nicht Rousseau, Demokrit nicht La Mettrie oder Holbach […]. Hier also ist der Unterschied zwischen antikem und neuerem Materialismus schneidend: der neuere war eine Brechstange der bürgerlichen Revolution, der antike – bei Demokrit wie Epikur – huldigt der Ruhe, dem Glück wunschloser Betrachtung der Dinge und ihrer Notwendigkeit.« (E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, in: Ders., Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7, Frankfurt / M.1972, 135 f.). 22 C.-A. Helvétius, Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung, Frankfurt / M. 1972, 383. – Ähnlich auch C.-A. Helvétius, Vom Geist, Berlin / Weimar 1973, 224.

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Fruchtbarkeit der modernen Naturwissenschaften einschließt; dann liegt es nahe, genau hier auch den erfolgversprechendsten Weg zur Verbesserung des menschlichen Lebens zu sehen. Tatsächlich haben die modernen Materialisten (allerdings nicht nur sie) diesen Schluß gezogen. Die für das menschliche Wohlergehen entscheidende ›Praxis‹ ist für sie nicht die individuelle Lebensführung und auch nicht die Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern das Vorantreiben der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, sowie die massenhafte Verbreitung und technische Anwendung ihrer Resultate. Carl Vogt, Jakob Moleschott und Ludwig Büchner gehören zu den konsequentesten und energischsten Protagonisten dieser szientistisch-technokratischen Strategie. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß dies aus der speziellen Situation des deutschen Bürgertums in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts heraus verstanden werden muß: Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 blieb nur die Hoffnung auf einen unpolitischen Fortschritt mit Hilfe von Wissenschaft, Technik und Industrie. Dieser historischen Erklärung ist nicht zu widersprechen; sie ist aber zu ergänzen durch den Hinweis darauf, daß ein solches Verständnis von Praxis sich für eine so eng den Naturwissenschaften anschmiegende Philosophie geradezu aufdrängt: Szientismus und Technokratie sind eine inhärente Tendenz des modernen Materialismus. Das Problem beginnt in der Regel bereits damit, daß die Problemdiagnose in naturwissenschaftlichen Termini erfolgt. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür liefert Ludwig Feuerbach in seiner berühmten Rezension von Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk. Geschrieben unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution und gestützt auf Moleschotts Physiologie der Nahrungsmittel führt Feuerbach die Märzniederlage darauf zurück, daß sich das deutsche Volk vornehmlich von Kartoffeln ernähre, einem Nahrungsmittel, das aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung den Muskeln keine Kraft und dem Gehirn keinen belebenden Schwung der Hoffnung geben könne. Dieser ernährungsphysiologischen Diagnose entspricht dann konsequenterweise eine ernährungsphysiologische Therapie: »Den Keim zu einer neuen, wenn auch langsamen und allmählichen, aber um so solidern Revolution«23 enthalte die Erbse. – Diese Ausführungen muten wie eine Karikatur an, sind aber bitter ernst gemeint. Wenige Jahre später lesen wir in den 23

L. Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10: Kleinere Schriften 1846–1850, Berlin 1971, 367. Die Bedeutung der Ernährung für die politischen Verhältnisse wird auch von Carl Vogt hervorgehoben, der seine Formel »Gleichmäßige Nahrung – gleichmäßige Gedanken – Instinkt; ungleichmäßige Nahrung – außergewöhnliche Gedanken – Verstand!« in der Menschenwelt ebenso bestätigt findet wie im Reich der Tiere und in beiden Feldern die »politischen« Verhältnisse aus ihr abzuleiten vermag. Vgl. C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt / M. 1851, 21 ff.

Was ist moderner Materialismus?

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Schlußpassagen von Moleschotts Kreislauf des Lebens folgende Deutung der Armut: »Unmittelbar ist die Armuth nur ein Mangel an Stoff, der sich mittelbar ausspricht in dem Mangel an Geld. Ja, der Mangel an Geld wird in gewissem Sinne Nebensache. Denn das ist die großartigste Folgerung, die wir aus der Unsterblichkeit des Stoffs und dem ewigen Kreislauf des an Stoff gebundenen Lebens abzuleiten haben, daß es an Stoff nicht fehlen kann, um Pflanzen, Thiere, Menschen zu erhalten.«24 Das Problem liegt daher ausschließlich in der verzerrten Verteilung des Stoffs; diese muß neu, muß besser geregelt werden. Und wenn es um die Frage geht, wer über die Verteilungsmodalitäten entscheiden soll, so hat Moleschott keinen Zweifel: »Ist es nicht eine ganz nothwendige Folgerung, daß die Wissenschaft einmal dahin kommen muß, eine Verteilung des Stoffs zu lehren, bei welcher Armuth in dem Sinne eines unbefriedigten Bedürfnisses unmöglich wird?«25 Nicht von der Politik, sondern von der Wissenschaft also haben wir die Lösung der »sozialen Frage« zu erwarten: Das ist die zentrale Botschaft. Und um jedem Zweifel vorzubeugen, daß genau dies die Botschaft ist, läßt Moleschott sein Buch mit folgenden Worten ausklingen: »Richtige Vertheilung des Stoffs, die müsset Ihr lehren! So ruft mit Recht der Landwirth, so ruft der Arzt, so ruft der Staatsmann, so ruft der Arme, wenn er Einsicht hat in die Ursachen seines Entbehrens, seiner Leiden. Die Naturforscher sind die thätigsten Bearbeiter der socialen Frage, die sich durch Waffen in der Hand wohl als Bedürfniß kundgeben, als offene Frage verrathen, aber nie und nimmermehr wird beantworten lassen. Ihre Lösung liegt in der Hand des Naturforschers, die von der Erfahrung der Sinne mit Sicherheit geleitet wird. Am Baum der Erkenntniß wächst das Bedürfniß, aber in dem Bedürfniß keimt die Macht, die es befriedigt. Das Wissen ist die unüberwindlichste Macht, es ist die Macht des Friedens. Erkenntniß ist nicht bloß der höchste Preis, sie ist auch die breiteste Grundlage eines menschenwürdigen Lebens.«26 Aus der historischen Distanz von anderthalb Jahrhunderten erscheint dieses Programm als hoffnungslos naiv und bestürzend platt. Obwohl dieser Eindruck nicht falsch ist, bleibt er doch oberflächlich, da er das Paradigmatische des sich hier andeutenden Denkstils übersieht. Das groteske Mißverhältnis zwischen den zu lösenden Problemen einerseits und den zu ihrer Lösung ins Feld geführten Mitteln darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier der zwar unbeholfene, aber doch konsequente Versuch vorliegt, ein komplexes soziales Problem exklusiv in Termini der exakten Wissenschaften zu definieren und zu lösen. Der Materialismus von Vogt, Moleschott und Büchner formuliert ein Programm szientistischer und technokratischer Gesellschaftsreform, das zwar 24 25 26

J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 459. Ebd., 460. Ebd., 461.

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keineswegs ohne Vorläufer war, mit dem gleichwohl aber eine neue Qualität erreicht war, weil es (anders als seine Vorläufer) auf der doppelten Welle der fortschreitenden Naturwissenschaften und vor allem der fortschreitenden industriellen Umwälzung der Gesellschaft ritt.

IV. Zusammenfassung Ausgehend davon, daß der Begriff ›Materialismus‹ weder eine klare Abgrenzung nach außen (gegenüber ›idealistischen‹ Theorien) bietet noch eine in sich homogene philosophische Konzeption bezeichnet, habe ich in diesem Beitrag einen bestimmten Typus materialistischer Theorien näher zu charakterisieren versucht: den modernen Materialismus. Von seinen klassischen Vorgängern unterscheidet sich der moderne Materialismus durch zwei Eigenschaften: (a) Er versteht sich als enger Verbündeter der Naturwissenschaften und beschränkt sich auf die philosophische Verallgemeinerung von deren Resultaten; (b) er versteht ›Praxis‹ nicht mehr als private Lebensführung, sondern als die Gestaltung der allgemeinen äußeren Lebensbedingungen der Menschen. Ich habe deutlich zu machen versucht, daß diese Spezifika des modernen Materialismus mit hohen Kosten verbunden sein können. (a) Der engen Anlehnung an die Naturwissenschaften wohnt eine Tendenz zum Objektivismus und Reduktionismus inne, die den materialistischen Anspruch, ein umfassendes Weltbild liefern zu können, konterkariert, weil sie die Realität und Bedeutung der subjektiven Perspektive leugnet. (b) Mit seinem umfassenderen und ›politisierten‹ Verständnis menschlicher Praxis überwindet der moderne Materialismus zwar die privatistische Beschränktheit seiner antiken Vorläufer; wird es aber mit der Fixierung auf die Naturwissenschaften kombiniert, so degeneriert es allzu leicht zu szientistisch-technokratischen Programmen, die blind sind für die Komplexität und Wertbeladenheit sozialer Strukturen und Beziehungen. Der von Vogt, Moleschott und Büchner repräsentierte Typus materialistischer Theoriebildung kann als Musterbeispiel für diese beiden Verkürzungen angesehen werden. Die Schlichtheit mancher seiner Thesen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er den Typus materialistischer Theoriebildung darstellt, der bis heute schulbildend geblieben ist. Die Auseinandersetzung mit ihm ist daher nicht nur von historiographischem Interesse, sondern sollte als Teil einer kritischen Selbstreflexion der Philosophie und ihrer Stellung in der modernen Welt begriffen werden. Dazu gehört auch die Einsicht, daß dieser Materialismus ein Materialismus, nicht der Materialismus ist. Es bleibt offen, ob und wie ein ›moderner‹ Materialismus möglich ist, der die Naturwissenschaften ernst nimmt, ohne den aufgezeigten Verkürzungen anheimzufallen.

II. DER MATERIALISMUS ALS THEORETISCHE KONZEPTION UND SEINE WIRKUNGEN

Renate Wahsner

Der Materialismusbegriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts Der Begriff des Materialismus wandelte sich grundlegend mit dem Beginn der Neuzeit, die eine neue Sicht des Verhältnisses von Mensch, Gott und Natur, von Himmel und Erde bedeutete, mit der eine im Vergleich zur Antike und zum Mittelalter kategorial völlig andere Fassung der Welt einherging.1 Diese Neufassung bildete die Grundlage für die Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Erinnert sei nur an die Arbeiten von Galilei, Kepler und Newton. Die in ihnen sich ausdrückende Weltsicht war so faszinierend, daß sie als neue Philosophie aufgenommen wurde, als Widerpart der herrschenden Theologie und des verbreiteten Idealismus. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die neu entstehende Naturwissenschaft oftmals auch als Materialismus gedeutet wurde. Die ersten Gestalten der naturwissenschaftlichen Theorien waren zudem notwendigerweise noch stark mit philosophischen Überlegungen verwoben, mitunter von ihren Autoren sogar als Philosophie betitelt – wie Newtons Hauptwerk belegt. Somit erwuchs der Philosophie mit der Begründung der Naturwissenschaft die Aufgabe, das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft zu bestimmen, die Fragen zu beantworten, ob die Naturwissenschaft die Philosophie, sei es ganz oder teilweise, ersetzt, ob vielleicht die Philosophie künftig nur noch das Gebiet der Sittlichkeit zu ihrem Gegenstand hat. Waren für die Aufklärung Philosophie und Wissenschaft noch weitgehend ununterschieden – Philosophie sollte Erfahrungswissenschaft sein –, so begründete die klassische deutsche Philosophie, beginnend mit Kant den prinzipiellen Unterschied in der Denkweise und Weltsicht beider. Doch daß damit auch schon Materialismus und Naturwissenschaft hinreichend begrifflich bestimmt wären, folgt daraus nicht zwingend. 1

Zu diesem neuzeitlichen Umbruch siehe z. B.: H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Infinitesimalkalkül und neuzeitlicher Bewegungsbegriff oder Prozeß als Größe, in: Jahrbuch für Hegelforschung (2002 / 2003), hrsg. von H. Schneider, Sankt Augustin 2004, vor allem die dort zitierte Literatur, insbes. Anm. 142.

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Auskunft über den Materialismusbegriff des 19. Jahrhunderts geben die Schriften Friedrich Albert Langes, Theobald Zieglers, Ernst Blochs, Dieter Wittichs und Alfred Schmidts.2 Wenn sie gegenwärtig wären, könnte sich das Folgende auf die Darstellung eines bislang nicht beachteten Aspekts konzentrieren, so aber muß erst einiges in die Erinnerung zurückgerufen werden.

I. Der Materialismusstreit und der sogenannte naturwissenschaftliche Materialismus Im allgemeinen denkt man, wenn vom Materialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede ist, an die Konzepte von Büchner, Vogt und Moleschott, mithin an den sogenannten naturwissenschaftlichen oder Vulgärmaterialismus, zumal der Terminus »Materialismusstreit« im engeren Sinne zur Bezeichnung der polemischen Debatte zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner verwandt wird.3 Man sieht also den Begriff Materialismus mit der Bestimmung dieser Konzepte als gegeben an. Und über diese Bestimmung ist man sich in der Literatur ziemlich einig. Hiernach ist dieser Materialismus geprägt durch den enormen Aufschwung der Naturwissenschaften und der Technik jener Zeit und die vorherigen Versäumnisse der Philosophie. Letztere standen einer angemessenen philosophischen Verarbeitung der rasch sich entwickelnden Naturwissenschaft im Wege. Die Metaphysik schien durch eine absolut gesetzte Physik verdrängt zu werden.4 Es hatte den Anschein, daß es nunmehr den Naturforschern, und zwar nur ihnen, möglich ist, die Welträtsel zu lösen. Vor allem das Problem des Lebens – bisher in das Gebiet der Philosophie fallend – schien durch Fachwissenschaften, durch die Physiologie, die Chemie und die Medizin gelöst werden zu können. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stellte sich jedoch – so urteilt Theobald Ziegler – bei den Naturforschern »der deutsche Zug zum Phi-

2

Siehe: F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), Bd. 1 u. 2, Leipzig 1907; Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Berlin 1910; E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Ernst Bloch Gesamtausgabe in 16 Bdn., Frankfurt / M. 1977, Bd. 7 (1936 / 37, 1969 / 71); D. Wittich, Einleitung, in: Ders., Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Berlin 1971; A. Schmidt, Friedrich Albert Lange als Historiker und Kritiker des vormarxschen Materialismus, in: F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., (Einleitung). 3 Siehe z. B. Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 317–329. 4 Vgl. A. Schmidt, Friedrich Albert Lange, a. a. O., X.

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losophischen und Metaphysischen alsbald wieder ein«.5 Da jedoch eine diesen Bedürfnissen entsprechende Philosophie fehlte, so zimmerten sie sich das metaphysische System von Kraft und Stoff – von ihnen selbst als Materialismus ausgegeben.6 In diesem vorgeblichen Materialismus reflektierte sich der schon erwähnte Progreß der Naturwissenschaften, die Ausbildung eigenständiger, nicht Philosophie seiender Einzelwissenschaften und deren Installation an den Universitäten. Dieser Materialismus war die Re-Aktion auf die verbreitete und verzerrte Schellingsche und Hegelsche Naturphilosophie, überhaupt auf die idealistischphilosophische Richtung zu Beginn des Jahrhunderts. Die Ableitung alles Organischen und Geistigen aus Materie schien der schärfste Gegenschlag gegen sie zu sein. Vormalige Konzepte, vor allem aus dem 18. Jahrhundert stammende französische Einflüsse bestärkten diesen Gedanken, zumal man gegen den drastisch zunehmenden Druck der politischen und kirchlichen Reaktion den schärfstmöglichen Ausdruck der Opposition finden mußte. Dies war – wie man von den Enzyklopädisten wußte – der Materialismus und Atheismus. Der mit dem Progreß der Naturwissenschaften einhergehende Aufschwung der Industrie schob, wie man meinte, die materiellen Interessen in den Vordergrund. Dieses Vordringen versuchte man durch eine »metaphysische Fundierung« auf den Begriff zu bringen, die einseitige Pflege »materieller« Interessen durch »eine Metaphysik des Materiellen« zu rechtfertigen. Diese Metaphysik bestimmte um die Jahrhundertmitte die Vorstellung von Materialismus, als deren Hauptvertreter eben Büchner, Vogt und Moleschott galten. Es kann der in der Literatur vertretenen Auffassung nicht widersprochen werden, die allen dreien Schärfe und Tiefe des Denkens abspricht, die allerdings den beiden erstgenannten Bedeutung als Naturforscher zugesteht: die mit Moleschotts Kreislauf des Lebens den großen Gedanken von der Erhaltung des Stoffs verteidigt sieht7 und Vogts Leistung anerkennt, der sich über Rudolph Wagners Köhlerglauben an eine Lebenskraft und Seelensubstanz streitbar lustig machte oder mit absichtlich verletzender Schärfe die Abstammung des Menschen vom Affen proklamierte; die Büchners Kraft und Stoff hingegen 5

Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 317. Vgl. ebd. 7 Daß es sich um eine materialistische Verteidigung gegenüber Liebig handelt – wie recht oft behauptet wird – ist problematisch. Es wäre dies nur gerechtfertigt, wenn man Materie und Stoff identifiziert, wenn man davon ausgeht, daß alle Naturvorgänge durch Kräfte des Unorganischen erklärt werden können. Genau hiergegen polemisierte Liebig, wobei er allerdings seinerseits das auf das Unorganische nicht zu reduzierende Prinzip des Organischen als Idee ausgab – weshalb er von der anderen Partei für einen Idealisten gehalten wurde. (Vgl. J. von Liebig, Chemische Briefe, Erster Band, Leipzig / Heidelberg 1859, 356–373; siehe auch: W. Ostwald, Zur Geschichte der Wissenschaft, Leipzig 1985, 138–242). 6

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nur für eine leicht faßliche Darbietung naturwissenschaftlich interessanter Tatsachen für Halbwisser und Dilettanten hält. Gegenüber dem Materialismus des 18. Jahrhunderts brachten alle drei – so ist man sich einig – vor allem bezüglich der Hauptfrage, der Frage danach, wie sich das Seelische und Geistige zum Materiellen verhält, keinen neuen Gedanken hervor. Doch der Materialismus wurde auch aus ethischen Gründen vertreten, wie z. B. von Czolbe, und es waren diejenigen, die sich als Materialisten verstanden, zum großen Teil Vorkämpfer politischer Freiheit und allgemeiner humanistischer Forderungen. Darin lag gegenüber dem Zeitgeist ihre Stärke.8 Andererseits gaben die freiheitliche und soziale Wendung dieses Materialismus und die erwähnten provokanten Formulierungen den regierenden Kreisen den Vorwand, die Vertreter dieser Richtungen von ihren Lehrstühlen zu verdrängen bzw. sie politisch-beruflich zu maßregeln. Die theoretische Schwäche und die scharfe politische Reaktion erklären, warum die Vertreter des popularisierenden nach-achtundvierziger Materialismus glaubten, sich mit Kraftsprüchen wie »Ohne Phosphor kein Gedanke« begnügen zu können – ein Spruch, der ja richtig ist, nimmt man den Phosphor als notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. Volkspädagogische, durchaus humanistische Verdienste kann man diesem Materialismus nicht absprechen, muß aber auch sehen, daß seine Thesen lediglich die Stimmungen eines Kleinbürgertums reflektierten, das zwar politisch unzufriedenen war, radikale Umwälzungen aber nicht mehr anstrebte und nicht durchzusetzen vermocht hätte.9 Die starke politische Motivierung des Materialismusstreits der fünfziger Jahre und die um den Bestand der sittlichen Weltordnung bangende offizielle Philosophie bedingten auch – wie in der Literatur aufgezeigt wurde – die theoretischen Unzulänglichkeiten der Gegenseite.10 Betrachtet man jenen Materialismusstreit aus heutigem Abstand, so fällt auf, wie sehr die Materialisten jener Zeit und ihre idealistischen und vor allem theologischen Widersacher einander wert waren.11 Charakterisiert man diesen Materialismus als vulgär, so charakterisiert man 8

Vgl. Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 317–320. 9 Vgl. D. Wittich, Einleitung, a. a. O., LXV; A. Schmidt, Friedrich Albert Lange, a. a. O., XIVf. 10 Vgl. Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 320 f. 11 Vgl. A. Schmidt, Friedrich Albert Lange, a. a. O., XVI. – Zum Beleg siehe als eines der vielen möglichen Beispiele: A. N. Böhner, Naturforschung und Kulturleben in ihren neuesten Ergebnissen zur Beleuchtung der grossen Frage der Gegenwart über Christenthum und Materialismus, Geist und Stoff, Hannover 1859.

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damit auch die Gegenseite. Dabei gründet die Bezeichnung »vulgär« nicht darin, daß ihre Erklärungen aus heutiger Sicht naturwissenschaftlich und philosophisch simplifiziert erscheinen, sondern darin, daß beide Seiten sich nicht auf dem damaligen Erkenntnisniveau befanden.12 Es ist nicht zu erwarten, daß eine erneute wissenschaftliche Analyse diesen Materialismus wird freundlicher beurteilen können. Das allgemeine Urteil ist richtig. Es war eine seichte Philosophie, weil die Erkenntnisse der klassischen deutschen Philosophie, weil der Kritizismus Kants, die spekulative Dialektik Hegels mißachtet wurden. Doch ist damit das Urteil über den Materialismus jener Zeit schlechthin gefällt? Um dies zu beantworten, sollte zunächst die Problematik des Materialismus als solchen aus der Sicht der Philosophie und Wissenschaft jener Zeit erkundet werden.

II. Ungeklärte Probleme der bisherigen Philosophie Daß sich »Materialisten« und ihre Gegner nicht auf dem an sich erreichten philosophischen Niveau stritten, ist außer auf die genannten Gründe darauf zurückzuführen, daß durch die Entwicklung der Gesellschaft Probleme in den Vordergrund gelangt waren, die sich die Philosophie bislang zu wenig zum Gegenstand gemacht hatte; oder anders gesagt: die hochentwickelte Philosophie lag in einer auf die akuten Probleme nicht anwendbaren oder nicht anwendbar scheinenden Weise vor. Repräsentativ stellen Matthias Jakob Schleiden und Friedrich Adolf Trendelenburg aus völlig verschiedenen Motiven heraus die Mängel der ihnen vorgängigen Philosophie dar.

Schleidens Kritik am Materialismus und an der spekulativen Naturphilosophie Schleidens Anliegen ist im Grunde klar. Er will die Einzelwissenschaft Biologie resp. Botanik begründen, und zwar als Einzelwissenschaft.13 Hierfür konnte er weder die Schellingsche oder Hegelsche Naturphilosophie noch etwa gar die Schriften der »naturwissenschaftlichen Materialisten« zugrunde legen. Er kritisierte daher die Mängel beider.

12

Vgl. ebd., XIV. Vgl. M. J. Schleiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, in: Ders., Wissenschaftsphilosophische Schriften, mit kommentierenden Texten von J. F. Fries, Ch. G. Nees von Esenbeck und G. Buchdahl, hrsg. von U. Charpa, Köln 1989, 45–196 (Methodologische Einleitung); siehe auch: U. Chapra, Einführung, in: M. J. Schleiden, Wissenschaftsphilosophische Schriften, a. a. O., 9–43. 13

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Bereits in seiner 1842 erschienenen Arbeit Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik polemisierte Schleiden heftig gegen die romantische Naturphilosophie sowie die Anhänger der Hegelschen Schule. Seine Differenz mit ihnen hielt er für unaussöhnlich: »An eine Aussöhnung und Ausgleichung zweier etwa gleichberechtigter und gleich fehlerhafter Gegensätze ist hier durchaus nicht zu denken; der ganze Kampf ist vielmehr erst mit der völligen Vernichtung und Überwindung derer beendigt, die dem Dogmatisieren in Philosophie und Naturwissenschaft, in Staat und Kirche das Wort reden, und mit der unbedingten Anerkennung der kritischen und induktorischen Methode als der allein richtigen, der allein Fortschritt sichernden und zugleich jede gewaltsame Umwälzung unmöglich machenden.«14 In diesem Geiste verfaßte er als Reaktion auf die feindselige Besprechung seiner Grundzüge durch Nees von Esenbeck15 die Abhandlung Schellings und Hegels Verhältnis zur Naturwissenschaft. Diese philosophische Schrift steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem naturwissenschaftlichen Hauptwerk. Eben jenes Spannungsfeld Naturwissenschaft – Philosophie ist auch Gegenstand der Arbeit über den seinerzeitigen Materialismus. Wenn Schleiden ob seiner Kritik vorgeworfen wird, er sei gegen die spekulative Philosophie schlechthin,16 so ist dem nicht zu widersprechen.17 Gewiß erkennt Schleiden die begriffliche Verfaßtheit der spekulativen Philosophie nicht. Doch die Mühe, die man von ihm fordert, dieses spezifische – von dem seinen unterschiedene – Anliegen zu begreifen, muß man umgekehrt auch von Hegel bezüglich des Verständnisses der Naturwissenschaft fordern. Nun hatte Hegel zweifelsfrei die Absicht, diesem Erfordernis nachzukommen; sah dies geradezu als Bedingung für eine Naturphilosophie an.18 Doch erübrigt die zugestandene Absicht nicht die Untersuchung (die die heutige Hegel-Forschung zumeist ausläßt), ob ihm dies auch gelungen ist. Partiell

14

M. J. Schleiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, a. a. O., 53 (Hervorhebung – R. W.). 15 Vgl. Ch. G. Nees von Esenbeck, Rezension der 1. Auflage der Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, in: Neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 2 (1843), 475–476 (im Auszug abgedruckt auch in: M. J. Schleiden, Wissenschaftsphilosophische Schriften, a. a. O., 313–314). 16 Vgl. Ch. G. Nees von Esenbeck, Rezension, a. a. O., 313. 17 Siehe z. B.: M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft. Zum Verhältnis der physikalischen Naturwissenschaft zur spekulativen Naturphilosophie, hrsg. und erläutert von O. Breidbach, Weinheim 1988, 86. 18 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Ders., Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt / M. 1986, Bd. 9, 9–23 (Einleitung).

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ist es das durchaus, aber es gibt eben auch grundsätzliche Mängel, und zwar solche, die im Hegelschen System als solchem gründen.19 Und bezüglich dieses Aspekts ist Schleiden mit seiner Kritik im Recht. Denn die Einzelwissenschaft ist gegenüber der Philosophie eine Disziplin eigenen Rechts, eine Disziplin, die Bedingungen unterworfen ist, die die Philosophie gerade aufheben muß – womit nicht gesagt ist, daß sie ohne Philosophie bestehen könnte (so wie auch das Umgekehrte nicht möglich ist).20 Diese Eigenständigkeit hat Schleiden im Blick, wenn er die Botanik als induktorische Wissenschaft bestimmt.21 Dabei meint er mit dieser Bestimmung die von Galilei begründete und von Newton zur Theorie ausgestaltete experimentelle Methode, die keineswegs nur auf Induktion beruht.22 Das lassen seine Ausführungen durchaus, obzwar undeutlich, erkennen,23 z. B. wenn er schreibt: »In dieser Methode lag der Charakter der Neuzeit, in ihr lag die unwiderstehliche Macht, die alles Bestehende ruhig nach dem Gesetz der Wahrheit reformieren […] wird.«24 Ohne dieses von Newton entwickelte Verfahren einer theoretischen Erfahrungswissenschaft (das – wie gesagt – nicht unmißverständlich als »inductorische« oder »inductive« Methode bezeichnet wird)25 sind Schleiden zufolge die Naturwissenschaften nichts als die unsichere Meinung Einzelner.26

19

Vgl. R. Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis, Frankfurt / M. / Berlin / Bern / NewYork / Paris / Wien 1996; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208). Zu Hegels Bestimmung der Betrachtungsweisen der Natur, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXIV (2002), 101–142. 20 Ausführlicher hierüber siehe z. B.: R. Wahsner, Naturwissenschaft (Bibliothek dialektischer Grundbegriffe), Bielefeld 1998 und 2002, sowie die darin zitierte Literatur. 21 Vgl. M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte, in: Ders., Wissenschaftsphilosophische Schriften, a. a. O., 279–281; U. Chapra, Einführung, a. a. O., 35. 22 Vgl. z. B.: H.-H. von Borzeszkowski, Zum Status des induktiven Vorgehens in Hegels Begriff der beobachtenden Vernunft, in: Hegel-Jahrbuch 2001: Phänomenologie des Geistes. Erster Teil, hrsg. von A. Arndt / K. Bal / H. Ottmann, in Verbindung mit D. Rodin, Berlin 2002, 179–183; R. Wahsner, Die Kantsche Synthese von Leibniz und Newton und deren Konsequenzen für den Mechanik-Begriff des deutschen Idealismus, in: Kant und die Berliner Aufklärung, hrsg. von V. Gerhardt / R.-P. Horstmann / R. Schumacher, Berlin / NewYork 2001, Bd. 5, 381–391, insbes. Anm. 8. 23 Vgl. M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 279–281. 24 Ebd., 279 f. 25 Vgl. hierzu auch: U. Chapra, Einführung, a. a. O., 35. 26 Vgl. M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 279–281. Nachfolgend schreibt er: »Es war, wie erwähnt, Newton, der die prinzipielle Feststellung der induktiven Methode vollendete. indem er für die

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Grundlegend für Schleidens Kritik ist seine Unterscheidung zweier als unvereinbare Gegensätze einander gegenüberstehender Methoden: Zum einen gibt es die dogmatische Behandlung, die schon Alles weiß, derzufolge die Geschichte mit ihrem augenblicklichen Standpunkte ein Ende erreicht hat. Dieser »in ihrem ganzen Wesen falschen Weise« tritt die andere entgegen, die sich bescheidet, noch wenig zu wissen, die ihren Standpunkt von vornherein nur als eine Stufe in der Geschichte der Menschheit ansieht. Schleiden nennt sie für die reine Philosophie die kritische, für die angewandte Philosophie und für die Naturwissenschaften die induktorische Methode.27 Die Grundunterscheidung ist für Schleiden also nicht die zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, sondern zwischen der Ableitung der Wissenschaft aus einem Dogma oder aus der Erfahrung. Dabei zeige die Geschichte der Menschheit, daß aller Fortschritt in den einzelnen Disziplinen nur an die Herrschaft letzterer, der allein richtigen Methode, geknüpft war.28 Denn – so sein Argument – »die Anforderung, aus Einem Grundsatz heraus den reichen, lebendigen Gehalt der Wirklichkeit zu entwickeln, ist eine so absurde, dass Niemand ihr consequent treu bleiben kann, wie das von Fries gegen Fichte und Schelling unwiderleglich nachgewiesen wurde.«29 Die Absicht, aus einem Prinzip den ganzen Gehalt einer Wissenschaft abzuleiten, führe konsequenterweise dazu, daß jedes Faktum, das man aus dem Zufälligen der Erfahrung aufgenommen habe, im System seine Stelle als scheinbar notwendige Folge des Prinzips finde. Daher traten an sich leere Vergleichungsformeln in den Vordergrund, zu denen auch der Fortgang Thesis, Antithesis, Synthesis gehöre. Schleiden betrachtet diese Vorgehensweise als ein Spiel, als ein Spiel, in welchem »sich später die ganze angeblich höhere Weisheit der Hegel’schen Dialektik bewegt«.30 unmittelbar der Forschung unterliegenden Anschauungen die leitenden Grundsätze in seinen Prinzipien der Naturphilosophie so klar und so prägnant aufstellte, daß sie sogleich fast in ähnlich bestimmender Bedeutung wie die Axiome des Euklid, als unantastbar von den Hauptführern der induktiven Wissenschaften, den Astronomen und mathematischen Physikern aufgenommen wurden. Aber es dauerte lange, bis sich diese Methode auch in den anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen geltend machte. Namentlich hatte dabei Deutschland noch die Fieberdelirien der Schellingschen Torheiten zu überstehen, ehe es allmählich in Chemie und dann in Physiologie (besonders durch J. Müller, der sich mit genialer Kraft aus dem Schellingschen Wust hervorarbeitete) […] in die rechte Bahn einlenkte, obwohl die Nachwehen jener Krankheit noch keineswegs vollständig überwunden sind.« 27 Vgl. M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O., 18. 28 Vgl. ebd., 18 f. 29 Ebd., 22 f. 30 Vgl. ebd., 22–28.

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Die Ambivalenz seiner Kritik, in der sich die unverstellte Sicht des Kindes aus Des Kaisers neue Kleider und totales Unverständnis für spekulatives oder metaphysisches Denken mischen,31 zeigt die folgende Passage: Wer Unsinn spricht, muß sich vor einer klaren festen Sprache »hüten, da sie ihn sogleich verrät, und daher erfanden sich diese ›would be‹ Genies eine ganz neue, allen außer ihnen selbst unverständliche Sprache, für die sie weder Grammatik noch Syntax mitteilten, die aber in Worten und Wortfügung gerade soviel Anklang an Deutsch und Lateinisch hatte, um Nichtdenker glauben zu machen, ›es müsse sich dabei doch auch was denken lassen‹.«32 Schleiden wirft Schelling Oberflächlichkeit, Hegel Ignoranz vor.33 Die erkenntnistheoretische (er sagt »psychologische«) Grundlage von beiden sei die Gleichsetzung zwischen Vorstellung im Allgemeinen, also geistiger Tätigkeit überhaupt, und erkennender Vorstellung, also Erkenntnis. Jede durch den inneren Sinn als vorhanden erkannte Vorstellung sei von ihnen als intellektuelle Anschauung, als unmittelbare Erkenntnis ausgegeben worden. Für das Alltagsdenken sei dies zulässig, nicht aber reiche dies aus, wenn man sich wissenschaftlich orientieren wolle. Dann sei es nämlich unerläßlich, wieder vom ABC (der empirischen Psychologie) und der Grammatik (der Logik) zu beginnen. Dies nun sei den meisten Leuten zu mühsam. »Die fertigen Formeln und Phrasen von einem Lehrer zu entnehmen und weiter zu combiniren ist bequemer, und in dieser Bequemlichkeit liegt eben der Rückhalt aller dogmatischen Systeme und die Möglichkeit ihrer Verbreitung, d. h. in der Unwissenheit über die elementaren Grundlagen, deren genaueres Verständniss doch allein Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit verbürgen kann.«34 In der Unkenntnis über die Grundlagen wissenschaftlichen, d. h. einzelwissenschaftlichen, Vorgehens wurzele auch der gemeinsame Grundfehler von Schelling und Hegel. Beide übersprängen in voreiliger Hast gänzlich die Grundlagen, auf denen Kant gebaut. Sie wollten lehren, ehe sie gelernt, neue Systeme bauen, ehe sie ihre Vorgänger studiert.35 Absolut ist das natürlich nicht wahr. Beide haben gelernt und ihre Vorgänger studiert; Hegel sogar sehr gründlich, jedoch eben nicht hinreichend. Der Hang, ein neues System zu begründen und zu vollenden, war größer als das Bedürf31

Zur Notwendigkeit und Schwierigkeit heutigen metaphysischen Denkens siehe: R. Wahsner, Von der metaphysikfreien Wissenschaft zur metaphysikfreien Philosophie?, in: Unser Zeitalter – ein postmetapysisches?, hrsg. von K. Gloy, Würzburg 2004, 155–173. 32 M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 292. 33 Vgl. ebd., 281. 34 M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O., 26 f. 35 Vgl. ebd., 22 f.

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nis zu prüfen, ob die erforderlichen Voraussetzungen in ausreichendem Maße gegeben sind. In diesem Sinne ist Hegels Dialektik eine voreilige Dialektik resp. beruht sein philosophisches System auf einer voreiligen Spekulation.36 An sich – so meint Schleiden – sei es Sache der Philosophie zu entscheiden, ob das dogmatische Vorgehen für sie sinnvoll sei oder nicht. Gift sei es jedoch zweifelsfrei für die Naturwissenschaft. Daher sei »denen, die sich für Naturforscher ausgeben und dabei jene Träumereien geltend machen wollen«, bestimmt entgegengetreten und zu sagen, daß sie, wenn sie sich auf derartiges einlassen, »auf den ehrenhaften Namen eines Naturforschers Verzicht leisten«. Nur diese Leute bekämpfe er, nicht Schelling.37 Die Naturwissenschaft dürfe nicht nur die Schellingsche Philosophie ignorieren, sondern, wenn sie sich nicht selbst vernichten will, müsse sie es tun.38 Auf dieser Ausrichtung beruht auch Schleidens Polemik gegen Hegel, dem er vor allem seine Überhebung gegenüber Newton übelnimmt, womit er – wie gezeigt werden konnte – in wesentlichen Aspekten recht hat. Da bei Hegel eine Ebene fehlt, da er die Naturwissenschaft mit dem philosophischen System des Empirismus gleichsetzt,39 erzeugt er den Eindruck, daß seine philosophische Kritik ein Hineinreden in die Naturwissenschaft ist. Wie schon angedeutet, konzentriert sich die Hegel-Forschung darauf nachzuweisen, daß dies nicht zutrifft (was stimmt), übersieht dabei aber die Notwendigkeit, auch die naturwissenschaftliche Stichhaltigkeit der Hegelschen Argumentation zu prüfen bzw. sieht in einer derartigen Prüfung sofort die Unfähigkeit, das philosophische Anliegen Hegels zu begreifen – weshalb ja auch Schleidens Kritik an Hegels vermeintlicher Ableitung des Newtonschen Gravitationsgesetzes aus dem dritten Keplerschen Gesetz negiert wird bzw. nach mehr als 150 Jahre weithin unbekannt ist.40 36

Vgl. R. Wahsner, »Das Bedürfnis einer Umgestaltung der Logik ist längst gefühlt«. Hegels Anliegen und der Mißbrauch einer dialektischen Methode, in: Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart, hrsg. von A. Knahl / J. Müller / M. Städtler, Lüneburg 2000, 205–235. 37 Vgl. M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O., 51 f., 23. 38 Vgl. ebd., 52. 39 Vgl. z. B.: R. Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, a. a. O.; dies., Die Newtonsche Vernunft und ihre Hegelsche Kritik, in: Dt. Zs. für Philosophie 43 (1995), 789–800; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208), a. a. O. 40 Vgl. M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O., 58. Als Kommentar zu dieser Hegelschen Ableitung siehe: H.-H. von Borzeszkowski, Hegel’s Interpretation of Classical Mechanics, in: Hegel and Newtonianism, hrsg. von M. J. Petry, Dordrecht 1993, 73–80; R. Wahsner, The Philosophical Background to Hegel’s Criticism of Newton, in: ebd., 81–90; dies., Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, a. a. O., 164 f.; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208), a. a. O.

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Gerade für die Wissenschaften, die ihre Methode noch nicht gefunden haben, ist die spekulative Naturphilosophie entwicklungshemmend, nimmt man sie als Ersatz oder Vorbild für die exakte Naturwissenschaft. Das leichte naturphilosophische Geschwätz berührte – so urteilt Schleiden – Astronomie und mathematische Physik gar nicht, verwirrte aber eine Zeitlang die organischen Wissenschaften.41 So habe man noch im 19. Jahrhundert erlebt, daß Zoologen die Torheit begingen, dogmatisierend die Zahl der Arten, Geschlechter etc. zu bestimmen. Alle Disziplinen, die die unorganische Welt zu ihrem Gegenstande haben, seien durch die Befreiung der Naturwissenschaften von Mythologie, durch die Ausmerzung theogonischer und kosmogonischer Träumereien mehr oder weniger bewußt und mehr oder weniger rein der allein richtigen Methode, nämlich der, die er »Induktion« nennt, gefolgt. Die Wissenschaften von der organischen Natur hingegen hätten am längsten im geistlosen Dogmatismus verharrt und fingen erst jetzt allmählich an, sich zu befreien.42 In der Physiologie sei der Kampf für die induktive Methode inzwischen so gut wie entschieden. So gut stehe es mit der Botanik noch nicht. Und hier sieht Schleiden seine Aufgabe. Denn in der Botanik »hat der Kampf kaum erst begonnen und sie hat noch durch so manche andre Verhältnisse eine so durchaus schiefe Richtung erhalten, dass ihre Sache nicht so bald zu Ende geführt seyn wird, wenn nicht diejenigen, die den richtigen Gesichtspunkt einmal erfasst haben fest zusammenhalten und sich mit allem Ernst den lästig sich aufdrängenden dogmatisirenden Träumereien widersetzen«.43 Das späte Erwachen der Wissenschaften vom Organismus führt Schleiden darauf zurück, daß durch die ganze Geschichte der Menschheit Philosophie und Naturwissenschaft mit wechselnder Herrschaft, immer gegenseitig einander Bahn brechend die großen Fortschritte vorbereiten. Die großen Entwicklungen, die sich nach der Entdeckung Amerikas bis zu Newton ergaben, gehören seines Erachtens ganz den Naturwissenschaften an.44 Die im Gebiete der Natur erfundenen erfahrungsbegründeten Methoden habe die Philosophie auch auf das Gebiet des Geistes anzuwenden gelernt und so entstanden die fruchtbaren psychologischen Forschungen besonders der englischen Schule, welche in Verbindung mit Newtons naturphilosophischen Vorarbeiten Kant die Grundlage bei seinen unsterblichen Entdeckungen gaben, die dann von

41

Vgl. M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 290. 42 Vgl. M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O., 20 f. 43 Ebd., 21. 44 Vgl. ebd.; ders., Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 279.

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Fries weiter ausgebildet wurden. Nun aber müsse umgekehrt die Naturwissenschaft erst wieder von der Philosophie empfangen. Und ihr nächster sicherer Schritt hängt nach Schleiden »von der allgemeinen Anerkennung der gesunden Kantisch-Fries’schen Philosophie ab«.45 Es ist also offensichtlich, daß aus Schleidens harscher Bekämpfung der spekulativen Naturphilosophie keine Ablehnung von Philosophie überhaupt folgt. Recht verstandene Philosophie ist für ihn eine Instanz, die grundsätzliche Orientierungen und methodologische Regeln betreitstellt.46 Denn um die Wahrheit und Sicherheit der gewonnenen Überzeugungen zu begründen, bedarf es ihm zufolge einer »Fundamentalwissenschaft«, ohne die alle anderen Wissenschaften völlig wertlos bleiben, einer Wissenschaft, die die Organisation unserer erkennenden Vernunft untersucht, eben der Theorie der erkennenden Vernunft. Diese müsse auf der Grundlage und nach dem Vorbild von Kant, Fries und Apelt entwickelt werden. Nun müßte gründlich analysiert werden, inwieweit dies zutrifft und inwieweit auch diese drei Konzepte das nicht leisten können,47 was hier nicht möglich ist. Bemerkt sei jedoch, daß Schleiden auf das Richtige zeigt, es aber nicht völlig korrekt bestimmt. Er erkennt die geistesgeschichtliche Bedeutung (mithin die für die angestrebte Theorie der erkennenden Vernunft relevante Bedeutung) von Kepler, Galilei und Newton, die seines Erachtens von Schelling und Hegel zwar nicht gar nicht, doch zu wenig begriffen wird. Nachdem Schleiden die Aufgabe und Vorgehensweise der Naturwissenschaft und die davon unterschiedene der Erkenntnistheorie bestimmt hat, fragt er: Wo aber ist der Platz des Materialismus? Seines Erachtens ist er an sich überflüssig. Doch obwohl er immer bekämpft wurde, wurde er nie widerlegt oder wurde oft widerlegt, aber doch nie vernichtet. Daher müsse irgend etwas Wahres an ihm sein. Er fragt: »Was macht ihn so unverwundbar, mit welchem Drachenblut ist er gesalbt, wo ist der Boden, aus dem er Antaios gleich immer neue Kraft zieht; – wo liegt die Teilwahrheit, an der er seine feste Stütze hat, was sind die falschen Geister, die für ihn streiten, was ist der verwundbare Punkt in ihm, wo er sterblich ist?«48 Zunächst legt er dar, daß im Mittelalter bestimmte geistige Erwerbnisse der Menschheit codifiziert wurden, so daß fast kein Satz berührt werden konnte,

45

M. J. Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, a. a. O.,

21. 46

Vgl. U. Chapra, Einleitung, a. a. O., 40. Vgl. z. B.: R. Wahsner, Naturphilosophie im deutschen Idealismus und alternative Konzepte, in: Philosophische Rundschau 44 (1997), 288–303. 48 M. J. Schleiden, Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, a. a. O., 267, 271. 47

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ohne daß dadurch zugleich der Eigennutz eines Einzelnen oder eines Standes empfindlich angetastet worden wäre. Es entstand ein gewalttätiger Konservatismus, der statt der Gründe rohe physische Gewalt als Mittel wählte und der in der sich entwickelnden Naturwissenschaft seinen Hauptgegner sah.49 Der Materialismus profitierte davon, indem unkluge Regierungen ihm durch Verfolgung zu Hilfe kamen, ihn dadurch interessant machten.50 Den Hauptgrund aber sieht Schleiden in der durch den Druck der politischen Ereignisse bedingten unzulänglichen Entwicklung der Philosophie, darin, daß von einer Fortbildung der Kantischen Errungenschaften keine Rede sein konnte, da eine ruhige und ungestörte Gedankenarbeit, die der Geist benötigt, nicht möglich war.51 Dies wäre aber erforderlich gewesen, um die sich nach Kant vollzogen habende naturwissenschaftliche Entwicklung philosophisch zu verarbeiten und so den philosophischen Part für die weitere Fortentwickung der Naturwissenschaften (namentlich der Wissenschaft von den Organismen) zu liefern. Denn – so Schleidens Erklärung – nur in der Verbindung der Philosophie, der Mathematik und der Naturwissenschaft entwickelt sich die vollkommene, sichere und gehaltvolle menschliche Erkenntnis.52 Die Aufspaltung der Naturwissenschaft in verschiedene Disziplinen hingegen sei nur eine Bequemlichkeit der Arbeitsteilung und habe insofern keine objektive Bedeutung, als die Natur nur eine ist. Vom Standpunkt einer einzelnen Disziplin ebenso wie bei Mißachtung der Geisteswissenschaft könne man aber den Zusammenhang des Ganzen nicht konstruieren. Da man es dennoch versuchte, geriet man in Verwirrung und gelangte zu den verschiedenartigsten Verabsolutierungen, so auch zum Materialismus.53 Aus Schleidens Sicht erhielt sich von der Hegelschen Schule nur die allem gesunden Menschenverstand Hohn sprechende »dialektische Gedankenbewegung« und das »Umschlagen des Begriffs ins Gegenteil«, was aber von niemanden, der sich mit realem Wissen beschäftigte, beachtet wurde. Es erhielt sich also nur ein Zerrbild der Philosophie, von dem sich die Naturwissenschaftler angewidert abwandten. Für die Philosophen dieser Nach-Hegelschen Zeit hinwiederum ist ihre absolute Ignoranz in Naturwissenschaft und besonders in Mathematik charakteristisch.54 Es war – durch eigentümliche Verhältnisse herbeigeführt – eine nie zuvor bestehende Trennung eingetreten: »auf der einen Seite Philosophie, die nichts von Mathematik und Naturwissenschaft wußte,

49 50 51 52 53 54

Vgl. ebd., 274–280. Vgl. ebd., 271. Vgl. ebd., 289. Vgl. ebd., 288. Vgl. ebd., 282–285. Vgl. ebd., 291.

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und auf der andern Seite einzelne naturwissenschaftliche Disziplinen, die alles, was außer ihrem Gebiet lag, ignorierten«. Der Materialismus jener Zeit entwikkelte und verbreitete sich nach Schleiden, weil diese Ignoranz es nicht zuließ zu sagen: über Dinge, die außerhalb meines Gebiets liegen, weiß ich nichts, stattdessen dazu führte zu sagen: es gibt nichts außerhalb meines Gebiets.55 Nach Schleiden leugnet der Materialismus den Geist, die Freiheit und die Gottheit.56 Das Widerlichste an ihm sei daher die Unsittlichkeit seiner Lehren. Als systematischer oder philosophischer Materialismus habe er sich historisch überlebt. Er war, vor allem, wenn man an die englische und französische Aufklärung denkt, eine notwendige Erkenntnistheorie, aber auf einer niedrigen, nunmehr überholten Stufe. Der Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft hingegen beruhe auf einer historisch bedingten Halbheit der Bildung und Halbheit der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode. »Ein Gegengift gegen diesen Materialismus ist nur in einer vollständigen empirisch-psychologischen Grundlage und in der Durchbildung zu einer darauf gegründeten Logik zu finden. […] Hoffnung für die nächste Zukunft habe ich aber keine.«57 Schleiden bekämpfte also mit dem Materialismus seiner Zeit eine dilettantische Philosophie, ohne zwischen philosophisch-erkenntnistheoretischer und psychologischer Begründung der Naturwissenschaft zu unterscheiden, woraus letztlich auch die unzutreffende ethische Beurteilung entspringt. Das offene Problem war mithin die klare, die Erkenntnisse von Kant und Hegel aufnehmende Bestimmung des Unterschieds und des Zusammenhangs von Philosophie und Naturwissenschaft; anders gesprochen, die philosophische Bestimmung des Begriffs Naturwissenschaft.

Trendelenburgs erhoffte Synthese von Kraft und Gedanke resp. von Physik und Ethik Von einer anderen Seite her ergibt sich ein analoges Resultat. Trendelenburg bekämpft die Tendenz seiner Zeit (1847), in der »sich in einem zweideutigen Bunde rohe Empirie und rechtgläubige Theologie zusammenthun, um die Philosophie für abgelaufen zu erklären«.58 Die Philosophie lasse sich davon nicht 55

Vgl. ebd., 299. Vgl. ebd., 267, 301–307. 57 Ebd., 307 f. 58 F. A. Trendelenburg, Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme (1847), in: Ders., Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1855, V. Siehe auch den 1835 von Moses Heß verfaßten Aufsatz Die letzten Philosophen, z. B. in: M. Heß, Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, hrsg. von W. Mönke, Berlin 1980. 56

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beeindrucken, da sie weiß, »dass, wer ihr Recht kürzt, an den idealen Gehalt der Wissenschaften […] die Hand legt.«59 Um zu demonstrieren, daß die Philosophie keineswegs überholt ist, wollte er den letzten, d. h. grundlegenden Unterschied der philosophischen Systeme herausfinden, davon ausgehend, daß in den letzten Unterschieden zugleich die letzten Probleme liegen.60 Er machte als Ergebnis seiner Untersuchung den Gegensatz zwischen dem Denken und dem Sein, dem Sein als unabhängig vom Denken gefaßt, aus, womit in seinem Sinne der Gegensatz von Gedanken und Kraft der extremste ist. »Kraft« nimmt er dabei – wie er meint – im Sinne der Physik, mithin als etwas, dem ein Zweck völlig fremd ist.61 Er schreibt: »Faktisch haben wir in der Physik, um ihre Sprache beizubehalten, nur Kräfte vor uns, und zwar solche, deren Wesen der Gedanke nachbildet, ohne dass ihr Wesen selbst Gedanke ist. Umgekehrt verhält es sich z. B. in der Ethik, in welher die Thätigkeiten von ihrem leitenden Gedanken nicht abzuscheiden sind.«62 Kraft und Gedanke in dem bestimmten Sinne einander gegenübergestellt, ergeben sich drei mögliche Verhältnisse: »Entweder steht die Kraft vor dem Gedanken, so dass der Gedanke nicht das Ursprüngliche ist, sondern Ergebniss, Product und Accidenz der blinden Kräfte; – oder der Gedanke steht vor der Kraft, so dass die blinde Kraft für sich nicht das Ursprüngliche ist, sondern der Ausfluss des Gedankens; – oder endlich Gedanke und Kraft sind im Grunde dieselben und unterscheiden sich nur in unserer Ansicht«, also dadurch, unter welchem Aspekt wir die Welt betrachten. Von diesen allein möglichen Stellungen könne nur eine die wirkliche und wahre sein, weshalb sie miteinander im Streit liegen.63 Die erste Möglichkeit realisieren die materialistischen Systeme. Trendelenburg bezichtigt sie nicht, den Gedanken zu leugnen. Aber sie wollten ihn als etwas, was nur im Menschen entsteht, und zwar aus den materialen Kräften, deren Erzeugnis der Mensch sei; sie wollten ihn nur als ein aus materialen Faktoren Zusammengesetztes.64 Dieser Sicht entgegen steht das System des ursprünglichen Gedanken, auch als organische Weltansicht aufgefaßt.65 Trendelenburg selbst vertritt – in Anknüpfung an Spinoza – die Ansicht, daß Gedanke und Kraft an sich gar nicht verschieden, sondern nur verschiede59

F. A. Trendelenburg, Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme, a. a. O., VI. 60 Vgl. ebd., 1 f. 61 Vgl. ebd., 6 f. 62 Ebd., 6. 63 Vgl. ebd., 10. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd., 10, 25.

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ne Anschauungsweisen sind, verschiedene Ausdrücke des Wesens der nur eins seienden Substanz. Daher stünden sie auch in keinem Kausalzusammenhang. Mithin könne es auch keinen determinierenden ursprünglichen Gedanken, also auch keinen Zweck in der Natur der Dinge geben.66 Verfolgt man die Geschichte, so fehlte es nach Trendelenburg im wesentlichen an dieser Einsicht, an der Einsicht, daß sich weder der Gedanke auf die Kraft, noch die Kraft auf den Gedanken zurückführen läßt. Dies habe sich als Kampf zwischen Physik und Ethik niedergeschlagen: »Das System der nackten Kräfte verschlingt die Ethik in die Natur und die Systeme des die Kräfte regierenden Gedanken leihen schon den Bildungen der Natur individuelle Mittelpunkte, wie ein Vorspiel des Ethischen.«67 Die einen naturalisieren die Ethik, die anderen ethisieren die Natur. Aufgrund seiner Befürwortung der dritten Stellung und der durch den Darwinismus nahegelegten Aufhebung des strikten Gegensatzes von Mechanischem und Teleologischem, hegte Trendelenburg die Hoffnung, daß durch die Entwicklung der Naturwissenschaft, durch ihre Verknüpfung mit der organischen Weltsicht, »Physik« und »Ethik« als etwas Gleiches erkannt werden würden.68 Ein Materialismus hätte sich dann ebenso überlebt wie ein Idealismus. Trendelenburgs Hoffnung beruhte auf seiner bemerkenswerten Überlegung: »Wer etwas mit der wirkenden Ursache macht, wer sie benutzt, trägt den Zweck, trägt einen höheren Gedanken auf ähnliche Weise in sich, wie das organische Leben die wirkenden Ursachen den Zwecken des Ganzen unterwirft.«69 Allerdings berücksichtigte er dabei nicht, daß die Physik schon seinerzeit, genau seit Newton, keineswegs nur auf mechanischen Kräften, genommen als Kräfte der Hand, beruhte,70 daß der Zweck, und zwar nicht lediglich im Sinne einer technischen Verwendung der in der Physik beschriebenen Kräfte, sondern ihr selbst inhärent ist.71 Die Naturwissenschaft oder die Physik beantwortet damit aber noch nicht die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein resp. von Kraft und Gedanken, hebt den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und

66

Vgl. ebd., 21. Ebd., 25. 68 Vgl. ebd., 25, 28. 69 Ebd., 27. 70 Vgl. ebd. 71 H.- H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Die Natur technisch denken? Zur Synthese von τέχνη und ϕύσις in der Newtonschen Mechanik oder das Verhältnis von praktischer und theoretischer Mechanik in Newtons Physik, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXV (2003), Wien 2004, 135–168; R. Wahsner, Die Newtonsche Vernunft und ihre Hegelsche Kritik, a. a. O.; dies., »An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur …« Hegels Rezeption des τέχνη-Begriffs in seiner Logik, in: Jahrbuch für Hegelforschung (2002 / 2003), a. a. O.; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208), a. a. O. 67

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Philosophie nicht auf,72 sondern widerlegt nur die mechanistische Weltsicht. Oder anders gesagt: Die Möglichkeit, auch Organismen naturwissenschaftlich, mithin in Gesetzen, zu erfassen, belegt noch nicht, daß die drei von Trendelenburg genannten Möglichkeiten des Verhältnisses von Denken und Sein überholt sind, sich auf eine reduziert haben.73 Als Hauptfrage oder »letztes Problem« zeigt sich also: Inwiefern kann die Physik eine organische Weltanschauung haben? Inwiefern kann sie den Gegensatz von Objektiven und Subjektiven fassen (ersteres genommen als mechanische Kraft der Hand, letzteres genommen als Entgegenstellung des in sich zusammengefaßten Einzellebens gegen das Leben des Ganzen)? Die Physik – so wie Trendelenburg sie als zu seiner Zeit seiend faßt – gilt ihm als Materialismus. Die Mängel der Physik, mit denen sie in der Tat behaftet ist, da sie eben Naturwissenschaft, nicht Philosophie ist, werden als Mängel des Materialismus ausgegeben. Die Notwendigkeit für die Naturwissenschaft, die Welt unter der Form des Objekts zu fassen, ihr Erfordernis, das Subjekt aus der Welt, die betrachtet wird, zurückzuziehen, wird als Charakteristikum des Materialismus aufgefaßt – wobei Subjekt und Denken des Organismus, Gedanke und Zweck auf eine Stufe gestellt werden.74 Es ist dies eine Vermischung von Betrachtungsebenen, wie man sie auch bei Hegel findet.

III. Aufhebung des Materialismus? Die Frage nach dem Materialismus läuft – wie die Untersuchung sowohl der Schleidenschen als auch der Trendelenburgschen Überlegungen zeigt – auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft sowie von Naturwissenschaft und Materialismus hinaus. Schleiden plädiert für die Beseitigung des Materialismus, Trendelenburg hofft auf seine Aufhebung durch die Synthese mit seinem Gegensatz. Beide sehen dies so aufgrund einer unklaren

72

Zur Begründung vgl. z. B.: R. Wahsner, Ist die Naturphilosophie eine abgelegte Gestalt des modernen Geistes? in: Die Natur muß bewiesen werden. Zu Grundfragen der Hegelschen Naturphilosophie, hrsg. von R. Wahsner / Th. Posch, Frankfurt / M. / Berlin / Bern / Bruxelles / NewYork / Wien 2002, 9–32. 73 Vgl. R. Wahsner, Mechanism-Technizism-Organism. Der epistemologische Status der Physik als Gegenstand von Kants Kritik der Urteilskraft, in: Naturphilosophie im Deutschen Idealismus, hrsg. von K. Gloy / P. Burger, Stuttgart 1993, 1–23; dies., Das naturwissenschaftliche Gesetz. Hegels Rezeption der neuzeitlichen Naturbetrachtung in der »Phänomenologie des Geistes« und sein Konzept von Philosophie als Wissenschaft, in: Hegel-Jahrbuch (2001): Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 172–178. 74 Vgl. F. A. Trendelenburg, Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme, a. a. O., 4, 6, 25.

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Bestimmung des Verhältnisses von Materialismus und Naturwissenschaft und aufgrund einer unzureichenden Unterscheidung zum einen von Naturwissenschaft und naturwissenschaftlichem Weltbild, zum anderen von naturwissenschaftlichem Weltbild und philosophischem Materialismus. Und hat man nur den zuvor beschriebenen Vulgärmaterialismus im Blick, dann werden diese unklaren begrifflichen Unterscheidungen in gewissem Maße verständlich. Doch – so wieder die Frage – gab es denn nur diese Gestalt des Materialismus? Wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Materialismus nur als eine zu einem Weltbild ausgeweitete Naturwissenschaft vorgestellt bzw. wurde er mit nur dilettantisch verstandener Naturwissenschaft gleichgesetzt?

Feuerbachs Anthropologisierung des Materialismus Für den antiken Materialismus oder den Materialismus der Aufklärung trifft eine solche Bestimmung keinesfalls zu. Sie ist aber auch für die erfragte Zeit schon insofern problematisch, als – wie erwähnt – die sogenannten naturwissenschaftlichen Materialisten eine Beziehung ihrer Metaphysik zur Moral sahen. Bezeichnend hierfür ist z. B. Moleschotts Buch Lehre der Nahrungsmittel für das Volk, das den berühmt-berüchtigten Satz enthält: »Der Mensch ist, was er ißt […].«75 Dieser Satz ließ Ludwig Feuerbach, dessen Konzept oftmals auch als »anthropologischer Materialismus« bezeichnet wurde, sich seines Unterschieds zu den Vulgärmaterialisten bewußt werden.76 Er erklärte: »Der Materialismus ist für mich die Grundlage des Gebäudes des menschlichen Wesens und Wissens, aber er ist für mich nicht, was er für die Physiologen, die Naturforscher im engeren Sinne, z. B. Moleschott ist, und zwar nothwendig von ihrem Standpunkte und Berufe aus ist, das Gebäude selbst.«77 Feuerbach wollte durch jenen Spruch den Menschen nicht auf chemische oder physiologische Prozesse reduzieren, sondern den Einfluß des Milieus, der Lebenshaltung und Lebensumstände auch auf das sittliche Handeln des Menschen zum Ausdruck bringen und die Besserung der materiellen Lage der arbeitenden Volksklassen im Interesse ihrer sittlichen Hebung propagieren. 75

L. Feuerbach, Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie (1847), in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Bd. 10, Berlin 1990, 230; ders., Die Naturwissenschaft und die Revolution (1850), in: Ebd., 367; ders., Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er ißt (1862), in: Ebd., Bd. 11, 26–52. 76 Vgl. Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 320. 77 L. Feuerbach, Nachgelassene Aphorismen, in: K. Grün, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass sowie in seiner philosophischen Charakterentwicklung, Leipzig / Heidelberg 1874, Zweiter Bd., 308.

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Sein Ziel war es also, die Grundlage des menschlichen Wesens und Wissens zu bestimmen, eine objektiv-sinnliche Grundlage des menschlichen Wesens herauszufinden.78 Nun ist der Gedanke, daß der Mensch durch die Umstände gebildet wird, zwar dem Konzept gegenüber, er sei nur physiologischer Prozeß, philosophisch überlegen, aber er ist in der Geschichte des Materialismus nicht neu. Feuerbachs Leistung für die Entwicklung des materialistischen Gedankens besteht vielmehr darin, den Menschen, dessen Wesen er bestimmen will, kategorial anders als es zuvor üblich war, zu fassen. Das als Gattung begriffene Subjekt Mensch ist ihm zufolge nicht einfach die Klasse aller (aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen) menschlichen Individuen, sondern ein Gegeneinander von Ich und Du. Mit dieser begrifflichen Neufassung des menschlichen Wesens, so auch des Subjekts, infolgedessen des Objekts, bot Feuerbach einen Ansatz, um eine in der Philosophie schlechthin offene Frage zu beantworten, bot er einen Ansatz zur Begründung einer bislang in der Philosophie gefehlt habenden Kategorie, der Kategorie des Für-einander-seins.79 Die Forderung hiernach wurde in verschiedenen Modifikationen in der unmittelbaren kritisch-konstruktiven Nachfolge der Hegelschen Philosophie gestellt. Sich mit der ihm vorgängigen Philosophie auseinandersetzend überdachte Feuerbach auch immer wieder den Gegensatz von Idealismus und Materialismus. An Julius Duboc schreibt er 1860, daß er sich in den letzten Jahren auch intensiv mit der Streitfrage, ob Idealismus oder Materialismus, beschäftigt habe, bei deren Behandlung er wieder auf eine Kritik der Hegelschen Philosophie überhaupt zurückkam. Und mit Bezug auf die Lehre von den subjektiven Sinnesqualitäten oder den spezifischen Sinnesenergien erklärt er, er räume dem Sinn »eine objektive und insofern letzte, allerdings immerhin nur menschliche und deswegen vom Verstand vom Ding an sich unterscheidbare Gewißheit« ein. Was wir über die Natur aussagen, sage im Grunde die Natur von sich selbst aus, denn wir seien ja ein Teil der Natur. Unsere Aussagen seien daher wahr und objektiv, »wenngleich immer zugleich menschlich wahr, menschlich objektiv, weil es ja die menschliche Natur ist, als welche und durch welche sich die Natur ausspricht«. In diesem Zusammenhang betont er nun: »Ich gehe übrigens bei 78

Ausführlicher hierzu: R. Wahsner, Die Suche nach der objektiven Sinnlichkeit. Über den Zusammenhang von Feuerbachs Sensualismus und Helmholtzens Programm einer empirischen Geometrie, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 203–217, insbes. 212–217 (siehe auch die anderen in diesem Band enthaltenen Arbeiten über Feuerbach). 79 Siehe z. B.: M. Heß, Die letzten Philosophen, a. a. O., 390. – Diese Kategorie müßte allerdings zugleich ein Für-sich-sein bestimmen. Siehe hierzu: R. Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, a. a. O., insbes. 104, 185–192; dies., Die fehlende Kategorie. Das Prinzip der kollektiven Einheit und der philosophische Systembegriff, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, XXXI (1999), 43–60.

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der Frage von der Realität und Objektivität der Sinne nicht vom Ich gegenüber dem physikalischen und natürlichen Ding aus, sondern [von] dem Ich, welches außer sich und sich gegenüber ein Du hat, und selbst gegenüber einem andern Ich ein Du, ein selbst gegenständliches sinnliches Wesen ist. Und dieses […] Ich ist […] das wahre Ich, d[as] Ich, von dem ich in allen Fragen ausgehen muß, wenn ich nicht in ausgemachte Sophistik fallen will. Bezweifle ich die Wahrheit des Sinns, so muß ich auch die Wahrheit meiner Existenz, meines Selbst bezweifeln. Kein Sinn, kein Ich, denn es gibt kein Ich, das nicht Du, aber Du ist nur für den Sinn. Ich ist die Wahrheit des Denkens, aber Du ist die Wahrheit der Sinnlichkeit Was aber vom Menschen dem Menschen, das gilt auch von ihm der Natur gegenüber. Er ist nicht nur das Ich, sondern auch das Du der Natur.«80 Der physiologische und philosophische Idealismus sei daher nur eine Selbstbefriedigung des jeweiligen Philosophen, ohne objektive Bedeutung. Mit der Bestimmung der Sinnlichkeit durch das Denken einer Kategorie des Für-einander-seins bzw. des Gegeneinander rezipiert Feuerbach philosophisch – allerdings unbewußt – einen Grundzug der neuzeitlichen Naturwissenschaft, den, wonach das Wirken das Sein bestimmt, die Bewegung als Verhalten Gegenstand der Naturwissenschaft ist. Dieser Grundzug offenbarte sich z. B. in der Notwendigkeit, den antike Atomismus, der das Denkprinzip der Physik erfand, zu modifizieren, um die physikalische Dynamik in Gestalt einer mathematischen empirischen Naturwissenschaft begründen zu können, ihn zu modifizieren durch die Synthese mit einem sogenannten aktiven Prinzip.81 Ein solches beinhaltet das Denken eines Etwas, das außerhalb des Gegeneinander der angenommenen Entitäten nicht existiert. Mittels des neuen Prinzips wird es möglich, eine sinnliche Wirkung des untersuchten Objekts, mithin seine Erkennbarkeit für das Subjekt zu denken, und es als notwendigen Zusammenhang zu denken. Hingegen kann – wie 1841 als kritische Folge des Hegelschen Konzepts erkannt wurde – auf dem Prinzip des isolierten Individuums keine Wissenschaft errichtet werden.82 Feuerbachs Argumentation, daß das Wesen der Welt nur mein vergegen-

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L. Feuerbach, Brief an J. Duboc vom 27.11 1860, in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 20, Berlin 1995, 310–312. 81 Vgl. H.-H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Die Mechanisierung der Mechanik. Rezeption und Popularisierung der klassischen Mechanik durch Voltaire, in: Newton-Studien, Berlin 1978; dies., Einleitung, in: Voltaire, Elemente der Philosophie Newtons / Verteidigung des Newtonianismus / Die Metaphysik des Neuton, hrsg., eingeleitet und mit einem Anhang versehen von R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Berlin 1997; R. Wahsner, Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus – dargestellt an Newton und Kant, Berlin 1981. 82 Vgl. R. Wahsner, It is Not Singularity that Governs the Nature of Things. The Principle of Isolated Individual and its Negation by Marx in his Doctoral Thesis ›Difference

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ständlichtes Selbst ist, das wirkliche Ich aber nur das Ich ist, dem ein Du gegenübersteht und das selbst einem andern Ich gegenüber Du, in diesem Sinne Objekt ist,83 betrifft genau den Zusammenhang des neuzeitlichen Denkprinzips mit der Möglichkeit, eine konsistente Einheit von Subjekt und Objekt zu denken. Denn nimmt man Gegenständlichkeit, Sinnlichkeit in Feuerbachs Bestimmung als: Wesentliches außer sich habend und selbst Gegenstand für ein Drittes sein, dann liegt im Begriff Gegeneinander bzw. Kollektivum in einem das Zueinanderverhalten, die Einheit, mithin die Synthese dieser Gegenstände und ihre wesentliche Individualität.84 Es gibt daher kein Gegeneinander ohne gegenseitige Wirkungsfähigkeit und Wirkungswirklichkeit, ohne Sinnlichkeit. Unterstellt man hingegen nur ein Individuum, ein Atom, die Einzelheit oder – wie der Vulgärmaterialismus jener Zeit – ein Ding mit Eigenschaften bzw. Funktion,85 so fehlt ein Grundsatz der Beziehung aufeinander. Das Wesen ist dann etwas Unsinnliches, erfaßt seinerseits nur den Aspekt der Einheit (oder das Wesen an sich und das Wesen für andere sind nicht innerlich verbunden). Feuerbach hingegen liefert einen Ansatz, das Wirkliche nicht als Materie im Sinne eines bloßen Substrats, sondern als das tätige Gegeneinander zweier Subjekte resp. als wechselseitiges Subjekt-Objekt-Verhältnis zu denken. Doch die Tätigkeit reduziert sich bei ihm (letztlich oder vom Prinzip her) auf die Liebe, d. i. auf eine unmittelbare sinnliche Empfindung, wobei sogar schon das Konzept der subjektiven Sinnesqualitäten oder der spezifischen Sinnesenergien bestritten wird. Feuerbachs Tätigkeit schafft keine Objektivität. Sie schafft biologische Nachkommen, mithin die Objektivität einer nachfolgenden Generation, aber keine spezifisch menschliche Objektivität.86 Between the Democritean and Epicurean Philosophy of Nature‹, in: Poznań Studies in the Philosophy of Science and the Humanities, vol. 60: Marx’s Theories Today, hrsg. von R. Panasiuk / L. Nowak, Amsterdam / Atlanta 1998, 99–111. 83 Vgl. L. Feuerbach, Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit, in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 11, Berlin 1972, 171. 84 Die Bezeichnung »Kollektivum« oder »kollektives Individuum« wurde in Anlehnung an Kants Begriff der kollektiven Einheit (siehe I. Kant, Prolegomena zu einer jeden Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 40) und in kategorialem Gegensatz zu vereinzelt gewählt. Unter einem kollektiven Individuum wird ein sich durch das Gegeneinander der Gegenstände oder Individuen konstituierendes Ganzes verstanden, das als dieses Ganze als ein System oder ein Individuum höherer Ordnung aufgefaßt werden kann. 85 Der berüchtigte Satz »Das Gehirn sondert die Gedanken ab wie die Leber die Galle« war durchaus in dem Sinne gemeint, daß das Gehirn in Einheit mit seiner Gedankenproduktion gedacht werden muß, daß die Funktion des Gedankenproduzierens nicht ohne ein Organ, das so funktioniert, gedacht werden kann. Aber dieses Organ wurde im wesentlichen als Ding gefaßt, wodurch das Gemeinte nicht zu einem konsistenten Konzept entwickelt werden konnte. 86 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie II, a. a. O., 497–539 (§§ 366–376). Zur Erläu-

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Feuerbachs Ich-Du-Kosmos reproduziert so letztlich nicht das Subjekt Mensch. Denn das spezifisch menschliche Subjekt, also das Kollektivum Mensch, ist nicht aus einer Mannigfaltigkeit von Ich-Du-Verhältnissen zu konstituieren. Es bedarf des Denkens eines Ganzen als Ganzes, eines RealAllgemeinen. Ein Prinzip oder das Prinzip, das menschliche Ganze zu denken, ist – wie schon Hegel darzustellen bestrebt war (nachdem auch er zunächst Liebe als tätiges Prinzip angenommen hatte) – die Arbeit.87 Das Prinzip Arbeit ist von dem Prinzip Liebe maßgeblich unterschieden (obwohl sich die beiden Prinzipien auch, und zwar notwendigerweise, überschneiden). Es gestattet, die Produktion des Subjekts Mensch zu denken, und zwar in seiner Spezifik.88 Die dem Ganzheitsprinzip Arbeit inhärenten objektivitätsstiftenden Mittel, mithin auch deren Betätigung, sind dem Feuerbachschen Subjekt fremd. Sie sind aber konstituierend für den Begriff menschliches Wesen – und zwar gemäß der Feuerbachschen Bestimmung des Begriffs sinnliches Wesen, wonach ein solches zu seiner Existenz anderer Dinge außerhalb seiner bedarf.89 Die bekannte Kritik, derzufolge Feuerbachs Grenze darin bestand, den Menschen nicht als sinnliche Tätigkeit gefaßt zu haben,90 benennt diesen Mangel. Das Grundthema war für Feuerbach die Emanzipation der Menschheit. Im Wesen des Christentums (1841) hatte er – erkennbar als Reaktion auf Hegel – gezeigt, wie der Mensch durch die Entäußerung seiner wesentlichen Eigenschaften, also seiner Gattungseigenschaften, Gott schafft und diesen zum Schöpfer der Welt macht, das heißt, die Gattung in ein illusorisches Wesen verwandelt, das nur als Himmel lebendig ist. Entsprechendes trifft nach Feuerbach für die idealistische Philosophie zu, weshalb es seines Erachtens darauf ankommt, Subjekt und Objekt umzukehren. Durch die Aufklärung dieser Situation, also durch die Erklärung des Ursprungs Gottes, gewinnt ihm zufolge der Mensch sein wahres Wesen zurück. Das Denken muß in dieser Weise durch das Sein erklärt werden. Doch das Sein, terung siehe: R. Wahsner, »Die Gattung erhält sich nur durch den Untergang der Individuen«. Das Verhältnis von Individuum und Gattung, Einzelnem und Allgemeinem im Tierreich, in: Hegel über Sterben und Tod, hrsg. von D. von Engelhardt (im Druck). 87 Vgl. R. Wahsner, »An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur …«, a. a. O.; dies., Die Macht des Begriffs als Tätigkeit (§ 208), a. a. O. 88 Ausführlich zur Spezifik menschlicher Sinnlichkeit siehe: K. Holzkamp, Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, Frankfurt / M. 1973; vgl. auch: R. Wahsner / H.-H. von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft, Frankfurt / M. / Berlin / Bern / NewYork / Paris / Wien, 239–286. 89 Vgl. z. B.: L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, Berlin 1970, 269, 291; ders.: Spiritualismus und Materialismus, a. a. O., 171. 90 Vgl. K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, 5.

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aus dem Feuerbach das Denken erklären will, ist bei ihm nur die Natur, der Mensch also lediglich das Produkt der Natur. Feuerbach suchte nach einer Fassung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, das nicht auf eine Gegenüberstellung von Geist und Sinnlichkeit hinausläuft, in der Weise, daß das Subjekt als Geist, das Objekt als Sinnlichkeit gefaßt wird, sondern daß die Sinnlichkeit des Subjekts fixiert und das Subjekt so objektiviert wird. Dabei entwickelte er – wie gesagt – den Begriff Sinnlichkeit derart, daß er einen Ansatz fand, das Subjekt Mensch als kollektives Individuum, als Gattung oder unter der Kategorie Für-einander-sein zu denken. Dieser Ansatz hatte zur Konsequenz, Sinnlichkeit nicht nur als die Betätigung der fünf (individuell verteilten) Sinne zu fassen. Da Feuerbach jedoch Sinnlichkeit und Denken auf Einzelnes und Allgemeines verteilte, folgte er selbst dieser Konsequenz nur in Ansätzen. Er hatte durch sein Ich-Du-Konzept den Begriff des Konkreten und den des Einzelnen umgestaltet, derart, daß erst die Ich-Du-Einheit das Grundelement ist.91 Aber er spricht eben Sinnlichkeit nur dem Einzelnen zu. Das Allgemeine, die Gattung nimmt er als etwas Übersinnliches, ein RealAllgemeines verwirft er.92 Da Feuerbach die spezifischen menschlichen Mittel zur Konstituierung der Subjekt-Objekt-Einheit nicht erschließen konnte, sah er letztlich die Lösung in einer unmittelbaren Einheit von Seele und Leib, in einer – wie er wörtlich sagte – »unmittelbare[n], also nichts zwischen sich in der Mitte lassende[n], keiner Unterscheidung oder gar Entgegensetzung zwischen materiellem und immateriellem Wesen Raum gebende[n] Einheit von Seele und Leib […].«93 Dieser nicht haltbare Begriff konstituiert sein Ich-Du-Konzept. Sein wahres Ich ist ein empirisches Ich, dessen Aussagen über die Natur wahr und objektiv sind (sein können), weil es selbst Natur ist.94 Feuerbachs Schwur auf die Naturwissenschaft als Vorbild und Garant für eine mit der Spekulation gebrochen habenden Philosophie gründet in diesem inkonsequent verfolgten Ansatz. Er unterstellt in der Konsequenz die Natur als unmittelbar wahrnehmbares Erkenntnisobjekt und das Erkenntnissubjekt als Natur. Die Artifizilität resp. der erkenntnistheoretische Status der Naturwissenschaft ist ihm nicht bewußt. Er glaubt daher, keiner Erkenntnismittel zu bedürfen – obwohl sein Ich-Du-Konzept ihn dazu bringt, die Sinnlichkeit so einzusetzen, daß ein neuer Begriff der Sinnlichkeit notwendig wird.

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Vgl. z. B.: L. Feuerbach, Spiritualismus und Materialismus, a. a. O., 181. Vgl. z. B.: L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, a. a. O., 307–309; ders., Spiritualismus und Materialismus, a. a. O., 68 f., 103 f., 136. – In der Polemik gegen Hegel allerdings überschreitet er gelegentlich auch diese Grenze (z. B. ebenda, 145). 93 L. Feuerbach, Spiritualismus und Materialismus, a. a. O., 151–154. 94 Vgl. z. B.: L. Feuerbach, Brief an J. Duboc vom 27.11.1860, a. a. O., 311. 92

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Feuerbachs Überzeugung, daß die Naturwissenschaft nicht nur das Wissenswürdigste ist, was die moderne Welt hervorgebracht hat, sondern daß sie allein die Basis für eine Philosophie sein kann, die noch eine Zukunft hat,95 enthält trotz des genannten Mangels zweifelsfrei auch eine tiefe Einsicht. Dies insofern, als es die Aufgabe der Philosophie ist, die Notwendigkeit für die Naturwissenschaft, die Welt unter der Form des Objekts zu fassen, zu begreifen. Zu diesem Zweck muß sie – dem Hegelschen Grundsatz gemäß96 – untersuchen, wie das Denken in der Naturwissenschaft ist, um dann – als Philosophie – sagen zu können, was die Natur ist, dann, was der Mensch und was die Welt ist. Aber so war es von Feuerbach nicht gedacht. Doch erst dann, wenn es so gedacht wäre, könnte man – ohne begriffliche Vermischung von Philosophie und Naturwissenschaft – seinem Satz zustimmen (und somit auch den von Schleiden kritisierten Mangel aufheben): »Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden.«97 Anders gesagt: Der von Feuerbach angestrebte Materialismus kann nicht dadurch als ein haltbares Konzept begründet werden, daß die Subjekt-Pespektive in die Objekt-Perspektive oder – in der Begrifflichkeit Fechners gesprochen98 – die Erste-Person-Perspektive in die Dritte-Person-Perspektive transformiert wird. Er muß vielmehr in der Subjekt- oder Erste-Person-Perspektive verfaßt sein, nur daß diese »Person« die Gattung Mensch sein muß. Und dieses Ich ist nur vermittels des Weges über die Objekt-Perspektive, die Dritte-Person-Perspektive, zu erlangen, und zwar die, die über die Zweite-Person-Perspektive gewonnen wurde, das philosophische Ich also nur über das Du. Das Du aber als philosophische Kategorie zu fassen ist ein originärer Gedanke Feuerbachs.

Faßt der Materialismus die Welt unter der Form des Objekts? Ein klares Wort das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft betreffend wurde 1845 mit der Feststellung getroffen, daß der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus darin bestand, die Welt, den Gegenstand, die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts gefaßt zu haben, nicht subjektiv, d. h.,

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Vgl. L. Feuerbach, Brief an W. Bolin vom 01. 07. 1867, in: K. Grün, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlass, a. a. O., 190. 96 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie II, a. a. O., 11 (Einleitung). 97 L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, 262; siehe auch: Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, a. a. O., 278–280; ders., Spiritualismus und Materialismus, a. a. O., 118–126. 98 Vgl. M. Heidelberger, Fechner und Mach zum Leib-Seele-Problem, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus, a. a. O., S., 53–67.

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den Gegenstand nicht in Einheit mit seinem Verhalten und in Einheit mit dem, dessen Objekt er ist.99 Diese Aussage könnte man so verstehen, daß der Materialismus überholt ist. Man kann sie aber auch lesen als die Erkenntnis, daß jede Philosophie, ob Materialismus oder Idealismus, wenn sie denn Philosophie sein will, die Welt unter der Form des Subjekts fassen muß. Die Fassung der Welt unter der Form des Objekts ist damit jedoch nicht hinfällig, sondern die notwendige Fassung der Welt für die Naturwissenschaft, damit für die Philosophie notwendig als Vorstufe.100 Die weitgehende bis dahin übliche Identifizierung von Materialismus und Naturwissenschaft wird hiermit verständlich und in einer klaren Unterscheidung beider aufgehoben. Das Ergebnis wäre: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es nicht nur nicht lediglich den vulgären oder naturwissenschaftlichen Materialismus, sondern die erstmalige klare begriffliche Bestimmung von Materialismus. Diese Einsicht wird vermutlich sofort abgewehrt, und zwar zunächst mit der Entgegnung, daß die Thesen über Feuerbach erst 1888 publiziert wurden, dann aber auch mit dem Argument, daß in dem zitierten Text selbst von der genannten Unterscheidung nicht die Rede ist. Beides stimmt, und dennoch ist die Behauptung richtig. Zu dem ersten Einwand: Viele der frühen Schriften des Autors wurden in der Tat erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts oder gar erst im 20. Jahrhundert veröffentlicht, doch durchaus nicht alle, die für das Thema relevant sind. Zudem – und das ist wesentlicher – wurde der hier vorgestellte Standpunkt konsequent aus der philosophischen Vorgeschichte erarbeitet. An Feuerbachs Konzept anschließend und es zugleich kritisierend fixierte Marx, daß die von Feuerbach nachgewiesene Verkehrung von Gott und Mensch, von Subjekt und Objekt eine reale Grundlage hat.101 In der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44) zeigte er – hierin Hegel widersprechend –, 99

Bekanntlich beginnt die erste der von Marx 1845 notierten sogenannten Feuerbach-Thesen mit den Worten: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.« (K. Marx, Thesen über Feuerbach, a. a. O., 5). 100 Ausführlicher hierzu: R. Wahsner und H.-H. von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, a. a. O., insbes. 239–286; R. Wahsner, Naturwissenschaft, a. a. O. 101 Ausführlich hierüber siehe: A. Cornu, Karl Marx. Die ökonomisch-philosophhischen Manuskripte, Berlin 1955.

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daß nicht der Staat, sondern die Gesellschaft das bestimmende Moment ist. (Wenn Feuerbach hauptsächlich den Gegensatz Mensch – Gott diskutierte, so Marx den Gesellschaft – Staat.) Neben diesem Beitrag erschienen in dem Journal Deutsch-Französische Jahrbücher dann im Jahre 1844 noch zwei weitere,102 die dieses Thema unter verschiedenen Aspekten zum Gegenstand hatten und zu der Erkenntnis führten, daß der Charakter der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gründlich analysiert werden muß. Aus diesem Grunde, aus diesem philosophischen Interesse studierte Marx in der Folgezeit die politische Ökonomie. Er tat dies nicht, weil er sich von der Philosophie verabschiedet hatte und seine Aufmerksamkeit nur noch der Fachwissenschaft galt – wie oftmals behauptet wird.103 Die konstruktive Kritik an Hegel ließ erkennen, daß es Beziehungen der Menschen zueinander, genauer: ihre durch ihr gegenseitiges Verhalten produzierten Verhältnisse, namentlich in der Produktion eingegangene Verhältnisse sind, die die das Denken bestimmende Grundlage sind – explizit dargestellt in dem 1859 erschienenen Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, das den bekannten (oft falsch interpretierten) Satz enthält: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«104 Die so charakterisierte, das Denken bestimmende Grundlage ist kategorial von einem als Ding oder gar Stoff gedachten Substrat verschieden, impliziert also eine Veränderung des Begriffs Materie.105 Dieses Ergebnis resultierte wesentlich aus dem Anschluß an Hegels Philosophie, aus dem Anschluß an Hegels grundlegende Fragestellung, nicht an die des naturwissenschaftlichen Materialismus. Henrich hat diesen Ausgangspunkt 1961 in einem Vortrag trefflich formuliert, indem er sagte: »Karl Marx steht schon zu Beginn seines Weges vor der Aufgabe, zwei Gedanken fugenlos miteinander zu verbinden: Die Einsicht in das Ungenügen der nur theoretischen Form von Hegels Philosophie mit der Einsicht, dennoch Philosophie und Welt, Begriff und Wirklichkeit in einer Einheit von jener Struktur zu denken, die zum ersten Male von Hegel entwickelt worden ist. Bald sollte es sich als sehr schwierig erweisen, diese Aufgabe zu lösen. Es bestehen nicht wenige Gründe für die Vermutung, daß sie unlösbar ist. Aber es ist die Leistung von Karl Marx 102

Es handelt sich um die Arbeit von Marx Zur Judenfrage und die von Engels Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (enthalten in: MEW, Bd. 1, Berlin 1956). 103 Vgl. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, 8 f.; A. Cornu, Karl Marx. Die ökonomisch-philosophhischen Manuskripte, a. a. O., 7, 40. 104 K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., 9. 105 Diese Wandlung wurde dem neuzeitlichen Denkprinzip strikt gerecht. Damit ist nicht gesagt, daß es in der Absicht des Autors lag, diesem Prinzip zu entsprechen, sondern es war dies eine Konsequenz aus der Analyse der vorgängigen neuzeitlichen Geistesgeschichte.

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als Denker, daß er an ihr festgehalten hat, daß er es verstand, sie energischer als seine Freunde in ihre Konsequenzen zu entfalten.«106 Um zu erkunden, ob die vorgesetzte Aufgabe lösbar ist, muß man z. B. fragen, was Hegel meinte, als er sagte, jede wahre Philosophie sei Idealismus.107 Meinte er: Philosophie ist immer das Denken des Denkens in einem System, und das System ist Begriff? In diesem Falle hätte er zweifellos recht. Doch ist kaum anzunehmen, daß sich Hegels These darauf beschränkt, sieht man auf seine Charakterisierung des Materialismus, wonach dieser sich die Einheit des Prinzips dadurch erhält, daß er eines der Entgegengesetzten im Subjekt-ObjektGegensatz, nämlich das Objekt als das Absolute setzt (dabei ebenso verfahrend wie der dogmatische Idealismus, nur umgekehrt).108 Diesen Materialismus wollte Marx – wie die zitierte Passage über den Hauptmangel des bisherigen Materialismus zeigt – nicht restaurieren. Die Frage ist also, ob ein philosophisches System denkbar ist, das weder das Objekt noch das Subjekt als das Absolute setzt, dennoch aber sinnvoll entweder als Idealismus oder Materialismus charakterisiert werden kann. Es erweist sich, daß Hegels Arbeiten zur Rolle des Werkzeugs für die Synthese von Subjekt und Objekt die Entwicklung des Materialismus wesentlicher beeinflußt haben, als die der sogenannten naturwissenschaftlichen Materialisten.109 Über die kritische Anknüpfung an Hegels Begriff der Arbeit erschlossen sich Marx – und zwar in Arbeiten der Jahre 1857/59 – Einsichten in den 106

D. Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels, in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt / M. 1981, 194. 107 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie. Erster Teil. Wissenschaft der Logik, in: Werke, a. a. O., Bd. 8, 203 (§ 95 A). 108 Vgl. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Ders., Werke, a. a. O., Bd. 2, 61; siehe auch: Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, in: Ders., Werke, a. a. O., Bd. 8, 110 f. (§ 18 Z). 145 (§ 60 A); ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen,, in: Ders., Werke, a. a. O., Bd. 10, 49 (§ 389 Z); ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: Werke, a. a. O., Bd. 19, 70; ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke, a. a. O., Bd. 20, 122, 288, 291, 303 f., 325. 109 Diese Arbeiten bilden im wesentlichen eine philosophische Verarbeitung der englischen Nationalökonomie. Wie Rosenkranz berichtet, studierte und kommentierte Hegel schon zu Beginn des Jahres 1799 James Stewarts Abhandlung Inquiring into the principles of political economy. Hauptsächlich gewann er jedoch seine ökonomischen Kenntnisse aus dem Werk von Adam Smith – wie sowohl das System der Sittlichkeit (1805) als auch die Jenaer Systementwürfe (1803/04 und 1805/06), die Phänomenologie des Geistes (1807) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) belegen. Ausführlich hierüber: R. Wahsner, »An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußere Natur …«, a. a. O.

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Begriff Bewegung, mithin über das Verhältnis von Gegenstand und Verhalten, somit über den Begriff Gegenstand und damit letztlich Materie. Das Verhältnis des Arbeitsvermögens zu den objektiven Arbeitsbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft diskutierend kommt Marx zu einer für den Begriff der Bewegung, für das in ihm gefaßte Verhältnis von Gegenstand und Verhalten, fundamentalen Aussage.110 Er schildert die in dieser Gesellschaft gegebene reale Trennung von Verhalten und Gegenstand, indem er zeigt, daß hier das Arbeitsvermögen erst wirklich wird bzw. zu wirklicher Arbeit wird in Verbindung mit dem Kapital, den objektiven Arbeitsbedingungen, den Arbeitsmitteln und Arbeitsgegenständen, »da Tätigkeit ohne Gegenstand nichts ist«.111 Explizit schreibt er: Das Arbeitsvermögen, »der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andere, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm, also nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach, als seine Fähigkeit. Wirklich wird er [resp. das Arbeitsvermögen – R. W.] erst, sobald er [resp. es – R. W.] von dem Kapital solliziiert, in Bewegung gesetzt wird, da Tätigkeit ohne Gegenstand nichts ist oder höchstens Gedankentätigkeit, von der es sich hier nicht handelt.«112 Das philosophische Fazit dieser sozialökonomischen Diskussion lautet: Nur gegenständliche Bewegung ist wirkliche Bewegung, d. i., nur die Bewegung ist wirkliche Bewegung, in der der Gegenstand, der sich bewegt, als wesentliches, nicht verschwindendes Moment gefaßt, in der der Gegenstand nicht unter die Bewegung subsumiert resp. in (mögliches) Verhalten aufgelöst wird. Ungegenständliche Bewegung, Verhalten für sich genommen, ist nur mögliche Bewegung, und Gegenständlichkeit für sich genommen wird zur Substanz, der die Bewegung in irgendeiner Weise äußerlich ist.113 Namentlich letztere Hypostasierung oder Verselbständigung ist das, was man »Materie« nannte – von dem dann entschieden werden sollte, ob es gegenüber dem Bewußtsein oder dem Denken oder auch dem Verhalten primär oder sekundär sei. Im Rahmen des hier vorgestellten Denkansatzes kann das nicht der Fragepunkt sein, sondern vielmehr das Problem, wie das kategoriale Gegensatzpaar, wie die Einheit gefaßt werden muß, um eine wirkliche Bewegung oder auch ein wirkliches Ganzes denken zu können. Deshalb die schon 110

Vgl. R. Wahsner, Stichwort »Bewegung«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hrsg. von F. W. Haug, Bd. 2, Hamburg 1995, Sp. 194–200. 111 K. Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, Berlin 1983, 193. 112 Ebd. 113 Vgl. hierzu: H.-H. von Borzeszkowski und R. Wahsner, Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch, a. a. O., insbes. 149–167; dies., Die Wirklichkeit der Physik, a. a. O., 211–237.

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zitierte These über Feuerbach, die konstatiert, worin der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus bestand. Die Frage nach dem Materialismus wurde so in einer völlig neuen Weise gestellt. Eine Kritik an diesem Materialismuskonzept, die darin besteht, die Unsinnigkeit einer gesellschaftlichen Materie oder einer gesellschaftlichen Substanz in Gestalt einer ökonomischen Basis oder eines gesellschaftlichen Seins aufzuweisen, hat seinen Grundgedanken überhaupt nicht verstanden. Wenn man das Einheit von Gegenständlichkeit und Verhalten seiende Subjekt in Einheit mit dem Gegenständlichkeit und Verhalten in einem seienden Objekt denkt, dann kann man durchaus sinnvoll nach der »materiellen Basis« eines gesellschaftlichen Organismus fragen. Das heißt dann weiter nichts, als danach zu fragen, in Einheit mit welchem Objekt ein gesellschaftliches Subjekt ein wirkliches ist. Und ein solches Objekt ist durchaus insofern etwas dem Subjekt Vorgegebenes, als z. B. jede Generation ihre Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände in einer bestimmten Verfaßtheit zuerst einmal vorfindet, auch wenn diese natürlich ebenfalls Produkte vorgängiger menschlicher Tätigkeit sind. Das Vorgefundene tradiert die vorangegangene gesellschaftliche Erfahrung und Erkenntnis, wobei jede Generation die vorgefundenen Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel durch deren Gebrauch nicht nur erhält, sondern auch verändert. Hierdurch wird es möglich, den Menschen in seinem Gattungscharakter nicht nur als biologisches Wesen zu fassen und sein ihn vom Tier unterscheidendes Menschsein nicht nur im Verhalten des Individuums zu denken. Objektivität gefaßt als Subjektunabhängigkeit ist natürlich anders für jedes Subjekt, einheitlich für die Menschen nur insofern, inwiefern die Menschheit als einheitliches Subjekt gedacht wird oder gedacht werden kann. Der Begriff Materie wird von dieser Warte aus gesehen nicht unsinnig, fixiert aber nur einen bestimmten Aspekt des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, von Verhalten und Gegenstand. Er fixiert den Standpunkt: Es gibt etwas, außerhalb unseres Bewußtseins und auch unabhängig von ihm, das aber im Prinzip erkannt werden, also Gegenstand und Inhalt des Bewußtseins werden kann. Mehr kann man über die Materie als Materie nicht sagen. Um den fixierten Standpunkt zu rechtfertigen und seinen Sinn zu begreifen, muß man in anderen Kategorien denken. Seinerseits ist dieser Standpunkt nicht einfach eine Setzung, sondern eine im Seienden verankerte Vorbedingung, ein bestimmter Logos.114 114

Vgl. H. Heyse, Unser Verhältnis zum Griechentum als metaphysisches Problem, in: Kant-Studien 43 (1943), 227–262; E. Angehrn, Der endlose Streit der Vernunft. Metaphysik im Spiegel ihrer Kritik, in: Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilossophie, hrsg. von U. J. Wenzel, Frankfurt / M. 1999.

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In einem mit dem Begriff Materie modifizierte sich der Begriff Materialismus (und der Begriff Sinnlichkeit): Materialismus ist hiernach ein philosophisches Konzept. Er muß daher den Kriterrien einer Philosophie unterworfen werden. Er ist deutlich von der Naturwissenschaft unterschieden, entsteht auch nicht spontan aus ihr und ist nicht mit Empirismus gleichzusetzen.115 Doch nun noch zu der zweiten Entgegnung, dem Argument, daß in der zitierten These über den Hauptmangel des bisherigen Materialismus (und auch nicht in den anderen Schriften) von der Unterscheidung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft nicht die Rede ist. Diese Konsequenz wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewußt, und zwar aufgrund zahlreicher, von verschiedener Seite durchgeführten Analysen über den Status der Naturwissenschaft. Sie ergänzten aber konsistent die Kritik am Materialismus von 1845 und waren zudem ohne diese Kritik nicht möglich. In welchem Maße die in Rede stehende Unterscheidung seinerzeit schon gedacht wurde, ist gewiß noch eine offene Frage. Sie ist es in gleicher Weise wie die Frage, ob die Verbindung der beiden Postulate »Aufhebung des reinen Begriffs« und »Bewahrung der Einheit von Begriff und Wirklichkeit« gelingen kann. Bisher ist sie – soviel kann man sagen – noch nicht beantwortet, weder positiv noch negativ.116 Eine positive Antwort forderte, ein ausgestaltetes philosophisches System vorzulegen, das diese beiden Postulate erfüllt. Das hat Marx nicht getan, vielleicht auch nicht tun wollen, auf alle Fälle aber nicht tun können. Denn Synthetisierungen zu Gesamtsystemen sind stets nur nach gewissen Vorarbeiten möglich,117 und die konnten Mitte des 19. Jahrhunderts unmöglich vorgelegt werden. Um dies im Falle der genannten Aufgabe tun zu können, muß man diesen Autor sachlich behandeln, ihn als Glied des geistigen Kosmos begreifen, in dem er gelebt hat, und man muß sein philosophisches Hauptproblem in den Gestalten seiner Entwicklung durch alle Etappen seines Werkes hindurch und in dessen verschiedenen Teilen, auch den ökonomischen und politischen, erkennen.118

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Über einige Konsequenzen dieser These siehe: R. Wahsner, Ermöglicht die Einheit der Vernunft eine Vielfalt der Rationalitätstypen?, in: Topos Heft 20: Rationalität (2002), insbes. 44–48. 116 Vgl. R. Wahsner, Gott arbeitet nicht. Zur Notwendigkeit, Karl Marx einer optimalen Messung zu unterziehen, in: Berliner Debatte, Initial 1993 / 3, 25–38, auch in: R. Wahsner, Zur Kritk der Hegelschen Naturphilosophie, a. a. O., 175–202 (Anhang). 117 Für Kant und Hegel waren dies die empiristischen und die rationalistischen Aufklärungsphilosopheme der Neuzeit. 118 Nur wenn man dies nicht erkennt, kann man meinen, die späteren Arbeiten bedeuteten oder rechtfertigten eine Auflösung dieser Philosophie in Soziologie, Psychologie oder Ökonomie.

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Sagen kann man, daß um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Ansatz für einen neuen Begriff Materialismus vorgelegt wurde – ein Ansatz, an dessen Ausgestaltung durchaus noch gearbeitet werden mußte. Die Ausgestaltung eröffnet die Möglichkeit, den Hauptmangel des Materialismus, den Trendelenburg, Ziegler und Bloch ihm anlasteten,119 den Zweckbegriff nicht integrieren zu können, zu beseitigen. Es ist dies übrigens keine anderer Vorwurf wie der, die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts gefaßt zu haben. Deshalb könnte man die Frage, ob sich der Materialismus überlebt hat, auch als die Frage fassen, ob ein teleologischer Materialismus möglich ist. Trotz der begrifflichen Klärungen, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen haben oder zu denen ein Zugang eröffnet wurde, wird nach wie vor im herkömmlichen Sinne bzw. auf der Ebene des gewöhnlichen Bewußtseins von Materie und Materialismus geredet, sei es um ihn abzulehnen oder sei es, um ihn zu befürworten.120 Doch einen Ansatz nicht auszuarbeiten beweist nicht, daß es sich um einen unbrauchbaren Ansatz handelt.

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Siehe A. Trendelenburg, Ueber den letzten Unterschied der philosophischen Systeme, a. a. O., 1–30; Th. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, a. a. O., 322–329; E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, a. a. O., 132–315 (Zweiter Kursus). 120 Siehe – aus einer Vielzahl vergleichbarer Publikationen herausgegriffen – z. B.: A. Woods / T. Grant, Aufstand der Vernunft. Marxistische Philosophie und moderne Wissenschaft, Wien 2002; S. Sakata, Engels’ ›Dialektik der Natur‹ – ein für mich klassisches Werk, in: Streitbarer Materialismus Nr. 25 (Mai 2003), 7–16; A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998.

Michael Pauen

Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke. Wissenschaftlicher Materialismus und die Philosophie der Naturforscher im Vergleich mit dem Physikalismus der Gegenwart Einleitung Wohl eine der hartnäckigsten Vorstellungen, die sich mit dem Materialismus verbinden, ist die Annahme, daß es sich hier um einen etwas engstirnigen, »reduktionistischen« Ansatz handle, dessen Vertreter herzlich wenig Sinn für Höheres besitzen. Schon dem platonischen Sokrates war es daher nicht schwer gefallen, den Materialisten seiner Zeit oder besser wohl: den zeitgenössischen Vorläufern des Materialismus ihre offenkundigen Unzulänglichkeiten vor Augen zu halten. Sie scheitern in ihrer Fixiertheit auf das physische Substrat schon daran, eine akzeptable Erklärung für menschliches Handeln vorzulegen.1 Vorwürfe dieser Art mußten sich die Materialisten auch in den darauf folgenden Jahrhunderten immer wieder anhören, und längst nicht immer waren sie aus der Luft gegriffen. Auf der anderen Seite gibt es einige Einwände, die sich hartnäckig am Leben erhalten, obwohl sie zumindest an den neueren Varianten des Materialismus vorbei gehen. Ich werde im Folgenden natürlich nicht den Versuch unternehmen, einen Überblick über die Geschichte des Materialismus zu geben, vielmehr möchte ich die gegenwärtigen Ausprägungen dieser Position vergleichen mit dem »wissenschaftlichen Materialismus« der Vogt, Büchner und Moleschott. Der auffälligste Unterschied besteht darin, daß bei den wissenschaftlichen Materialisten des 19. Jahrhunderts ein substantialistisches Verständnis des Materialismus im Vordergrund steht, während in der Gegenwart eher methodische Gesichtspunkte relevant sind. Außerdem möchte ich untersuchen, inwiefern es neben systematischen Verwandtschaften auch eine rezeptionsgeschichtliche Kontinuität gibt. Einbeziehen werde ich dabei auch einige Naturforscher wie Gustav Theodor Fechner oder Emil Du Bois-Reymond, die sich mit den theoretischen Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse befassen. Diese Autoren setzen sich bereits ausdrücklich von dem eher substantialistischen Verständnis der wissenschaftlichen Materialisten ab und orientieren sich stärker an methodischen Gesichtspunkten. Inhaltlich werde ich mich auf zwei Streitfragen konzentrieren, die die Diskussion um den Materialismus bis heute prägen, nämlich auf das Geist-Materie Problem und auf die Frage der Willensfreiheit. 1

Platon, Phaidon, 98b-c.

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Materialismus Selbst wenn man den Dialektischen bzw. Historischen Materialismus außer Betracht läßt, steht das Stichwort »Materialismus« für eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Theorien. Dies gilt angefangen von den antiken Atomisten über Autoren des 17. Jahrhunderts wie Gassendi und Hobbes, den französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, den bereits genannten wissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts, wie er von Vogt, Büchner und Moleschott vertreten wird, bis zu den unterschiedlichen Varianten des Materialismus bzw. Physikalismus, wie sie sich vor allem in der Analytischen Philosophie des Geistes im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Trotz aller Differenzen gibt es einige zentrale Vorstellungen, hinsichtlich derer sich zumindest die meisten neueren Materialisten einig sind. Setzt man einen sehr weiten Begriff von Gegenständen voraus, dann sind sich Materialisten zunächst darin einig, daß es auf unsrer Welt nur materielle Gegenstände gibt. So einfach und trivial diese Behauptung auf den ersten Blick erscheint, so problematisch wird sie, wenn man genauer wissen will, was denn nun die zentralen Merkmale materieller Gegenstände sind und wodurch diese sich von nicht-materiellen Gegenständen unterscheiden. Traditionelle Vertreter des Materialismus vertrauen hier in der Regel auf ein mehr oder minder intuitives Verständnis von Materie, demzufolge Steine, Stühle oder Billardkugeln Musterbeispiele für materielle Gegenstände darstellen, während Engel und gottgeschaffene Seelen als Musterbeispiele für immaterielle Objekte gelten. Doch abgesehen von der generellen Problematik eines solchen intuitiven Verständnisses von Materie, wäre ein solcher Ansatz heute auch deshalb unbefriedigend, weil es »materielle« Gegenstände wie elektromagnetische Wellen oder magnetische Felder gibt, bei denen gar nicht mehr klar ist, welche Gemeinsamkeiten sie mit Steinen, Stühlen oder Billardkugeln haben.2 Eine nahe liegende Option ist hier der Verweis auf die Naturwissenschaften, insbesondere auf die Physik – nicht zuletzt aus diesem Grund bezeichnen sich die Vertreter materialistischer Auffassungen heute häufig als Physikalisten. Man könnte daher den Materialismus auch als die Auffassung verstehen, daß letztlich alles, was es gibt, zumindest potentiell Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Beschreibung ist. Dies muß nicht bedeuten, daß wir uns nur noch naturwissenschaftlicher Beschreibungen bedienen dürfen, es heißt aber, daß jeder Veränderung, die wir in unserer Welt beobachten oder beschreiben können, eine naturwissenschaftlich zu beschreibende Veränderung entspricht.

2

Vgl. zum Folgenden: B. Montero, The Body Problem, in: Nous XXXIII (1999), 183–200.

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Häufig wird diese Festlegung als das Prinzip der physischen Determination bezeichnet. Doch auch diese Antwort hat ihre Tücken: Es ist nämlich nicht klar, was es heißt, daß etwas naturwissenschaftlich zu erfassen ist, schließlich sind die Naturwissenschaften und ihre Methoden in einem ständigen Entwicklungsprozeß begriffen. Auf die heutige Naturwissenschaft können wir uns also nicht berufen, doch auch der auf den ersten Blick nahe liegende Verweis auf die Naturwissenschaft in ihrer »endgültigen« Form führt zu Problemen – insbesondere wenn man unter der »endgültigen« Naturwissenschaft eine Theorie versteht, die alles auf unserer Welt zu erfassen vermag. Unter diesen Bedingungen wäre der Materialismus trivialerweise wahr, denn da die endgültige Naturwissenschaft alles erfaßt, muß definitionsgemäß auch alles als materiell gelten. Auch geistige Prozesse wären dann in jedem Falle materielle Prozesse, schließlich dürften sie kaum einer Theorie entgehen, die »alle« Gegenstände auf unserer Welt erfassen soll. Bei näherer Betrachtung zeichnet sich zumindest in der Leib-Seele Frage eine Lösungsmöglichkeit ab. Materialisten behaupten in der Regel nicht nur, daß geistige Prozesse mit irgendwelchen materiellen Prozessen identifiziert werden können, vielmehr gehen sie zumindest seit dem 19. Jahrhundert davon aus, daß sie mit der Aktivität von Nervenzellen im Gehirn identifiziert werden können. Diese These könnte von Gegnern des Materialismus auch dann bestritten werden, wenn sich eine der skizzierten Definitionen von materiellen Prozessen durchsetzen sollte. Wenn man dieses Problem lösen kann, dann ist die zuletzt genannte Definition vielleicht doch nicht so schlecht. Eine zusätzliche Konkretisierung ergibt sich daraus, daß man von einer endgültigen Naturwissenschaft erwarten muß, daß sie nach klaren, methodisch bestimmten Regeln vorgeht. Damit würde zumindest ein beträchtlicher Teil der Gegenstände ausgeschlossen, deren Existenz der Materialismus traditionell bestreitet, z. B. Geister, Wunder, aber auch transzendente Instanzen, die von Zeit zu Zeit ins Getriebe der Welt einzugreifen belieben und daher nicht in konkreten Gesetzen zu erfassen sind. Doch selbst wenn allen Veränderungen, die wir empirisch beobachten können, materielle bzw. naturwissenschaftlich beschreibbare Veränderungen zugrunde liegen, dann muß dies nicht heißen, daß wir alle Theorien in denen wir diese Veränderungen beschreiben, auf naturwissenschaftliche Theorien zurückführen können. So gibt es viele Materialisten, die beispielsweise der Ansicht sind, daß es niemals gelingen wird, Theorien über geistige Prozesse auf Theorien über körperliche Prozesse zurückzuführen. Auch wenn sich aus einer solchen Auffassung gewisse Schwierigkeiten für einen Materialisten ergeben – unvereinbar ist sie mit einer materialistischen Position keineswegs.3 3

Siehe hierzu J. Levine, On Leaving Out What It’s Like, in: M. Davies / G. W. Hum-

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Materialisten gehen weiterhin davon aus, daß in unserer Welt nur materielle Entitäten kausal wirksam sind. Diese Welt, so kann man auch sagen, ist »kausal geschlossen«. Wechselwirkungen gibt es nach einer zentralen materialistischen Grundüberzeugung nur zwischen physischen Entitäten, es gibt jedoch keine externen, nichtphysischen Prozesse, die auf materielle Objekte einwirken. Materialismus, so lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen, ist also eine philosophische Position, die behauptet, daß es im Prinzip möglich ist, alle Gegenstände, die den beobachtbaren Veränderungen auf unserer Welt zugrunde liegen bzw. ihrerseits kausal wirksam sind, durch eine »endgültige« Naturwissenschaft in einer methodisch kontrollierten Weise zu erfassen und zu beschreiben. Im Prinzip stellt ein so verstandener Materialismus nichts anderes dar als das Gegenstück zu einer rationalen naturwissenschaftlichen Arbeitshypothese: Sinnvollerweise sollte ein Naturwissenschaftler bis zum Erweis des Gegenteils davon ausgehen, daß die Erfahrungen, die wir in unserer Umwelt und in uns selbst machen können, mit den eigenen naturwissenschaftlichen Methoden erfaßbar sind. Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, was ein methodisch reflektierter Materialismus nicht impliziert: Er impliziert nicht die Behauptung, daß geistige Prozesse »in Wirklichkeit« materielle und »eigentlich« keine mentalen Prozesse sind, er impliziert kein Monopol der Naturwissenschaften, und er impliziert keine Aussagen über Sachverhalte, die prinzipiell einer empirischen Beobachtung entzogen sind. Dies bedeutet auch, daß der Materialismus nicht notwendigerweise theologische Konsequenzen hat; Materialisten müssen also nicht zwangsläufig Atheisten sein.

Der wissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts Es ist offensichtlich, daß der wissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts mit wesentlich weiter gehenden Erklärungsansprüchen auftritt und dabei häufig spekulative Behauptungen macht, die mit den Prinzipien des skizzierten methodisch reflektierten Materialismus nur schwer zu vereinbaren sind. Will man diesen Theorien historisch gerecht werden, dann wird man allerdings auch das Umfeld berücksichtigen müssen, in dem sie entstehen. Zu nennen sind hier vor allem die idealistischen Systeme, aber auch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends an Popularität gewinnende Theorie von phreys (Hg.), Consciousness. Psychological and Philosophical Essays, Oxford Cambridge MA 1993, 121–136.

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Schopenhauer und seinen unmittelbaren Nachfolgern. Diese Theorien lassen sich bei all ihren Differenzen untereinander, aber auch bei den Entwicklungen, die sie im Einzelnen durchlaufen haben, als umfassende Versuche einer metaphysischen Wirklichkeitsdeutung aus einem Prinzip verstehen – egal ob dieses Prinzip nun »Geist«, »Idee« oder »Wille« genannt wird. Die Theorien machen Aussagen über die Genese des Kosmos, das Verhältnis von Geist und Materie, über die transzendente Instanz, der die beobachtbare Wirklichkeit ihre Existenz verdankt, und schließlich auch über die bestehende oder – im Falle Schopenhauers nicht bestehende – Logik der historischen Entwicklung. Es muß nicht eigens erwähnt werden, daß diese Aussagen vor dem Hintergrund theorieimmanenter Voraussetzungen gemacht werden, die von den Materialisten nicht mehr geteilt wurden und auch nicht mehr geteilt werden konnten; dennoch werden damit faktisch Standards bezüglich der Erklärungsansprüche philosophischer Theorien gesetzt. Diese Standards können zu einem Verständnis dafür beitragen, warum die Materialisten z. T. Behauptungen machten, die von ihren eigenen methodischen Voraussetzungen nicht gedeckt sind. Die entscheidende Besonderheit der Theorien der wissenschaftlichen Materialisten dürfte wohl darin bestehen, daß sie einerseits den spekulativen Charakter und die übergreifenden Erklärungsansprüche traditioneller metaphysischer Theorien beibehalten, auf der anderen Seite aber mit dem Anspruch auftreten, diese Behauptungen wissenschaftlich absichern zu können. Wie Annette Wittkau-Horgby4 gezeigt hat, betreffen diese Behauptungen zum einen die Entstehung des Lebens, zum zweiten die Frage des freien Willens und schließlich das Geist-Materie Problem. Während das erste Thema, vermutlich aufgrund seiner wissenschaftlichen Lösung, mittlerweile weitgehend aus dem Fokus des philosophischen Materialismus verschwunden ist, bilden die beiden anderen Fragen immer noch zentrale Themen. Sie eignen sich daher als Ansatzpunkte für den hier beabsichtigten Vergleich zwischen dem wissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts und dem modernen Materialismus bzw. Physikalismus.

Willensfreiheit Das Problem der Willensfreiheit steht seit einiger Zeit wieder im Zentrum der Diskussion. Mitverantwortlich dafür ist eine Überlegung, die sich bereits bei den wissenschaftlichen Materialisten findet. Dieser Überlegung zufolge kann es in einer vollständig durch Naturgesetze bestimmten, »deterministischen« 4

A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998.

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Welt keine Freiheit geben. Frei, so eine der zugrunde liegenden Intuitionen, handelt man nur dann, wenn man gegebenenfalls auch anders hätte handeln können. Dies aber scheint in einer deterministischen Welt prinzipiell unmöglich zu sein. Einwände gegen diese zumindest auf den ersten Blick außerordentlich plausiblen Überlegungen werde ich weiter unten präsentieren; hier möchte ich zunächst die Position von Vogt, Büchner und Moleschott skizzieren. Büchner beruft sich darauf, daß der Mensch ein »Naturproduct« sei: »Daher beruht nicht blos das, was er ist, sondern auch das, was er thut, will, empfindet und denkt, auf eben solchen Naturnothwendigkeiten, wie der ganze Bau der Welt. Nur eine oberflächliche und kenntnißlose Betrachtung des menschlichen Daseins konnte zu der Ansicht kommen, als sei das Thun der Völker und der einzelnen der Ausfluß eines vollkommen freien und selbstbewussten Willens.«5 Büchner schließt Freiheit allerdings nicht eindeutig aus, sondern spricht davon, »daß hier überall von Willkür und freier Entschließung nur in einem sehr beschränkten Maße die Rede sein kann.«6 Dabei bleibt nicht nur unklar, worin dieser scheinbar auch in einer deterministischen Welt verbleibende Rest von Freiheit besteht, vielmehr erweckt der Autor an anderen Stellen den Eindruck, als betrachte er menschliche Handlungen doch als völlig unfrei. Büchners Vorsicht könnte auch damit zusammenhängen, daß er die Belege für seine Auffassung weniger im Determinismus der Naturgesetze als vielmehr in statistischen Untersuchungen findet. Diese hätten »festbestimmte Regeln in einer Masse von Erscheinungen« nachgewiesen, »von denen man bisher nicht bezweifelt hatte, daß sie dem Zufall oder der Willkür ihr Dasein verdankten.«7 Der spekulative Charakter dieser Annahmen zeigt sich dort, wo der Autor Überlegungen zum Zusammenhang von Klima und Charakter anstellt, die eine bemerkenswerte Verwandtschaft zu entsprechenden Spekulationen bei Herder8 oder Kant9 zeigen. So behauptet Büchner etwa, daß »die geringe Entwickelung des Drüsensystems, welche den Amerikanerinnen jenen bekannten zarten und ätherischen Ausdruck der Figur« ebenso wie das »lange trockene Haar« verleihe, »im Zusammenhang mit der großen Trockenheit der Luft« in dieser Weltgegend stehe.10 Umgekehrt drücke sich »in dem ganzen Wesen des Engländers […] sein trüber, nebliger Himmel, die schwere 5

L. Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien (1855), Leipzig 1870, 271. 6 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 271; Herv. d. Vf. 7 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 272. 8 J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, hrsg. von D. Irmscher, Stuttgart 1990, 83. 9 I. Kant, Von den verschiedenen Racen der Menschen, AA II, 427–444, insb. 430 f. 10 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 274.

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Luft und strenge örtliche Begrenzung seiner Heimath aus; aus dem Wesen des Italieners lacht uns sein ewig blauer Himmel, seine glühende Sonne entgegen […].«11 Im Grundsatz ähnlich, im Detail noch entschiedener äußert sich Jakob Moleschott zu diesem Thema: »Ein freier Wille, eine Willenstat, die unabhängig wäre von der Summe der Einflusse, die in jedem einzelnen Augenblick den Menschen bestimmen und auch dem Mächtigsten seine Schranken setzen, besteht nicht.«12 Der Mensch sei »die Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung. Sein Wille ist die notwendige Folge aller jener Ursachen, gebunden an ein Naturgesetz, das wir aus seiner Erscheinung erkennen, wie der Planet an seine Bahn, wie die Pflanze an den Boden.«13 Die wohl eindeutigsten Formulierungen zu diesem Punkt finden sich bei Carl Vogt. Vogt ist sich mit Moleschott zunächst in der vollständigen Ablehnung der Willensfreiheit einig; hinzu kommt der Versuch, hieraus Konsequenzen für das Verhältnis von Mensch und Tier abzuleiten. Der Mensch sei »so gut wie das Thier nur eine Maschine, sein Denken das Resultat einer bestimmten Organisation. […] Der freie Wille existirt nicht.«14 Vogt bestreitet also nicht nur, daß Menschen eine bestimmte, für ihr Selbstverständnis zentrale Fähigkeit besitzen, nämlich die des freien Willens, vielmehr sieht er angesichts dieser Tatsache auch die grundlegende Differenz von Mensch und Tier in Frage gestellt. Hinzu kommt, daß er nicht allein zu wissen glaubt, daß das menschliche Denken und Handeln determiniert ist, vielmehr meint er auch konkrete Angaben darüber machen zu können, wodurch es bestimmt wird. Die zentrale Überlegung ist zwar überraschend, allerdings nicht schwer nachzuvollziehen. Wenn unser Denken und Handeln von einer materiellen Grundlage abhängig ist, dann müssen sich Unterschiede in dieser materiellen Grundlage in Unterschieden unseres Handelns niederschlagen. Entscheidend ist daher in Vogts Augen die materielle Zusammensetzung des Körpers und die werde durch die Ernährung bestimmt: »Denn da der Glaube nur eine Eigenschaft der Körperatome ist, so hängt eine Veränderung des Glaubens nur von der Art und Weise der Ersetzung der Körperatome ab.«15 Vogt bedient sich zur Illustration eines handfesten Beispiels: So seien die Teltower Bauern deshalb

11

Ebd. J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, 2 Bde. Berlin 1971, Bd. I, 25–322; hier: 293. 13 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 296. 14 C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, Frankfurt / M. 1852, 445. 15 C. Vogt, Untersuchung über Thierstaaten, Frankfurt / M. 1851, 5. 12

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»so verstockt stabil, weil sie ihre Körperatome stets wieder durch Steckrübenatome ersetzen.«16 Man muß nicht eigens darauf hinweisen, daß Vogt mit seinen spekulativen Annahmen die Grenzen eines Materialismus mit wissenschaftlichem Anspruch überschreitet. Problematisch ist dabei zum einen die Unterstellung, daß die Differenz zwischen Menschen auf der einen Seite und Tieren und Maschinen auf der anderen von der Existenz der menschlichen Willensfreiheit abhängt. Doch offensichtlich ist die Willensfreiheit nicht das einzige Merkmal, durch das sich Menschen von Tieren und Maschinen unterscheiden. So sind Menschen im Gegensatz zu Maschinen bewußtseins- und leidensfähig, von Tieren unterscheiden sie sich u. a. durch ihre kognitiven Fähigkeiten. Abgesehen davon können Menschen sich anders als Tiere in ihrem Handeln an Gründen orientieren – dies gilt ebenfalls ganz unabhängig von den Problemen des Determinismus.17 Auch die Differenz von Menschen und Tieren würde also keineswegs durch einen Wegfall der Willensfreiheit bedroht. Entschiedener noch wird man allerdings an Vogts Behauptungen über die Bedeutung der Ernährung für das menschliche Denken und Verhalten zweifeln können. Selbst wenn man davon ausgeht, daß menschliches Denken und Verhalten nicht nur faktisch eine materielle Basis hat, sondern durch diese materielle Basis auch in einer Weise determiniert wird, die mit der Willensfreiheit unvereinbar ist, ergeben sich hieraus noch keine Aussagen darüber, was denn nun die determinierenden Faktoren sind. In keinem Falle wird man hieraus schließen können, daß unser Verhalten letztlich durch einen entscheidenden Faktor bestimmt wird wie die Ernährung oder das Klima. Bei näherer Betrachtung zeigt sich überdies, daß die Bedeutung des Materialismus für das Problem der Willensfreiheit noch wesentlich geringer ist. Zwar wäre eine immaterielle Seele der Determination durch die Naturgesetze entzogen – doch es ist mehr als fraglich, ob sich hieraus ein Zugewinn an Freiheit ergeben muß. Dies ist sicher dann nicht der Fall, wenn diese Seele als Produkt eines göttlichen Schöpfungsaktes aufgefaßt wird, schließlich würde dieser Akt ja wesentliche Eigenschaften dieser Seele festlegen. Insofern ist es kein Wunder, daß die Willensfreiheit auch von Theologen bestritten worden ist; der bekannteste dürfte Luther gewesen sein. Die zentrale Frage ist allerdings, ob Willensfreiheit in einer deterministischen Welt wirklich ausgeschlossen ist. Dabei sollte man sich zunächst vor Augen halten, daß es hier nicht um empirische Fakten geht, sondern darum, 16

Ebd. In einer deterministischen Welt würden Gründe also keineswegs unwirksam, es stünde nur in jedem Falle fest, welche Wirkung sie unter gegebenen Bedingungen besitzen. 17

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wie wir bestimmte empirische Fakten bewerten, d. h. unter welchen Bedingungen wir davon sprechen, daß eine Handlung frei ist. Konkret geht es darum, ob diese Maßstäbe es ausschließen, eine determinierte Handlung als frei zu bezeichnen. Entgegen einer häufig geäußerten Ansicht ist dies alles andere als klar; es gibt eine Reihe guter Argumente für die Annahme, daß Freiheit und Determinismus miteinander vereinbar sind. Es ist aus nahe liegenden Gründen ausgeschlossen, diese Argumente hier ausführlich zu erörtern. Immerhin kann man sich jedoch exemplarisch einen ersten Eindruck von den Gründen verschaffen, die für die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus sprechen.18 Entscheidend ist dabei die allgemein anerkannte Notwendigkeit, freie Handlungen nicht nur von erzwungenen Taten, sondern auch von zufälligen Geschehnissen zu unterscheiden. Die zentrale Differenz, auch dies ist weitgehend unumstritten, besteht offenbar darin, daß man freie Handlungen anders als zufällige Ereignisse einem Urheber zuschreiben kann. Eine solche Zuschreibung ist u. a. deshalb unverzichtbar, weil wir Personen für ihre freien Handlungen verantwortlich machen. Bei zufälligen Geschehnissen wäre dies unmöglich. Mit anderen Worten: Eine Person muß imstande sein, ihre eigenen Handlungen zu bestimmen, und dies kann nichts anderes heißen, als daß ihre Handlungen von den Wünschen, Überzeugungen und Bedürfnissen bestimmt sein müssen, die konstitutiv für diese Person sind. Zumindest auf den ersten Blick erscheint dabei auch eine deterministische Beziehung zwischen den Wünschen, Überzeugungen und Bedürfnissen einer Person einerseits und ihren Handlungen andererseits vereinbar damit, daß die fragliche Handlung durch die Person selbst bestimmt und daher frei ist. Natürlich könnte man vermuten, daß dann eben die Person bzw. deren Wünsche, Überzeugungen und Bedürfnisse nicht determiniert sein dürfen, doch diese Forderung führt nicht weit. Für alle Entscheidungen oder Willensakte, die die Person während ihres bewußten Lebens vollzieht, gilt im Prinzip das oben bereits Gesagte, und zwar auch dann, wenn es sich um Entscheidungen handelt, die sich auf die Überzeugungen und Bedürfnisse der Person selbst beziehen. Hängen diese Entscheidungen nicht von der Person ab, etwa weil sie zufällig zustande gekommen sind, dann kann man sie der Person nicht zuschreiben; hängen sie aber von der Person ab, dann können sie auch durch die Person determiniert sein. Prozesse dagegen, die sich vor dem Beginn des

18

Vgl. hierzu z. B. H. G. Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: G. Watson, Free Will, Oxford 1982, 81–96; J. M. Fischer, The Metaphysics of Free Will. An Essay on Control, Oxford 1994. M. Pauen, Freiheit und Verantwortung. Wille, Determinismus und der Begriff der Person, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (2001), 23–44.

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bewußten Lebens einer Person ereignet haben, kann man der Person in keinem Fall zuschreiben, egal ob sie determiniert sind oder nicht. Wie gesagt – es kann hier nur darum gehen, einen ersten Eindruck von den Argumenten zu vermitteln, die dafür sprechen, daß Freiheit in einer determinierten Welt möglich ist – entschieden ist die Frage damit natürlich noch nicht. Zieht man aber in Betracht, daß Zweifel an der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus auch schon zu den Zeiten von Vogt, Büchner und Moleschott bekannt waren,19 dann zeigt sich, daß deren Argumentation, abgesehen von ihren spekulativen Tendenzen, bei Weitem zu kurz greift, wenn sie eine solche Unvereinbarkeit kurzerhand voraussetzt und die Existenz freier Handlungen einfach durch den Verweis auf den Determinismus natürlicher Abläufe widerlegen zu können meint.

Bewußtsein Der zweite wesentliche Punkt in den Theorien von Vogt, Büchner und Moleschott, der aus heutiger Sicht von besonderem Interesse ist, betrifft die Überlegungen zu den physischen Grundlagen des Bewußtseins. Vogts berühmt-berüchtigter Vergleich des Verhältnisses von Gehirn und Bewußtsein mit dem von Nieren und Urin ist ausreichend bekannt, er muß hier nicht noch einmal ausführlich zitiert werden. Vogt war allerdings wohl nicht der Urheber dieses Vergleichs. Dieser findet sich bereits bei Cabanis20 und läßt sich offenbar bis auf eine Bemerkung zurückverfolgen, die Friedrich II. gegenüber Voltaire gemacht haben soll.21 In jedem Falle wäre es verfehlt, wollte man den Satz einfach stellvertretend für die Position der wissenschaftlichen Materialisten in dieser Frage nehmen. Schon Vogt selbst drückt sich in dem Zusammenhang, in dem der Satz steht, bemerkenswert vorsichtig aus. Er betont zunächst ausdrücklich die Grenzen des zeitgenössischen Wissensstandes, soweit die Frage des Verhältnisses von mentalen und neuronalen Prozessen betroffen ist – erst danach folgt der 19

So z. B. bekanntlich bei Hume, ein – allerdings inkonsequenter – Vertreter dieser Position war Schopenhauer; vgl. dessen Preisschrift über die Freiheit des Willens: A. Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik behandelt in zwei akademischen Preisschriften, in: Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. III, 323–633. 20 P.-J.-G. Cabanis, Rapports du physique et du moral de l’homme, Paris 1844, 138; vgl. D. Wittich, Vogt, Büchner, Moleschott, a. a. O., LXIII; F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), Leipzig 1873, 599. 21 Vgl. E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von S. Wollgast, Hamburg 1974, 257.

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erwähnte Ausspruch, bei dem im übrigen nicht der Geist mit dem Urin verglichen, geschweige denn gleichgesetzt wird, vielmehr ist hier lediglich von Ähnlichkeiten zwischen zwei Relationen die Rede. Moleschott und Büchner haben sich veranlaßt gesehen, Vogts Vergleich zu kommentieren, u. a. um Mißverständnissen zu begegnen, die Vogt bei seinen Zeitgenossen bewirkt hatte. Dabei stimmt Moleschott Vogt im Wesentlichen zu,22 während Büchner den Vergleich »sehr schlecht gewählt« findet, da er geistige Prozesse als eigenständige Substanzen behandle, die man vom Körper trennen könne. Büchner zieht statt dessen einen Vergleich mit einer Dampfmaschine, die aufgrund ihrer komplexen Organisation Bewegung hervorbringe, ohne daß man zwischen der Maschine selbst und der von ihr hervorgebrachten Bewegung unterscheiden kann – schließlich ist es die Maschine selbst, die sich bewegt: »In ähnlicher Weise nun wie die Dampfmaschine Bewegung hervorbringt, erzeugt die verwickelte organische Komplikation kraftbegabter Stoffe im Tierleib eine Gesamtsumme von Effekten, welche zu einer Einheit verbunden, von uns Geist, Seele, Gedanken genannt wird.«23 Tendenz zum Dualismus Büchner macht damit in der Tat auf eine Schwachstelle des Vogtschen Vergleichs aufmerksam. Problematisch ist der Vergleich auch aus materialistischer Sicht einfach deshalb, weil er eine prinzipielle Unterscheidung zwischen dem Gehirn und den geistigen Prozessen macht und damit eine merkwürdige Tendenz zum Dualismus erkennen läßt. Genauso wie das Sekret von der Drüse unterschieden werden muß, die es produziert, genauso erweckt der Vergleich den Eindruck, daß es sich bei Seele und Geist um zwei unterschiedliche Substanzen handele. Vogt fällt damit in einen ungewollten Dualismus zurück, bemerkenswerter Weise aber nicht obwohl, sondern gerade weil er den Geist mit einer materiellen Substanz vergleicht; einer Substanz nämlich, die sich eindeutig von der Substanz des Gehirns unterscheiden läßt. Deutlich wird hier der substantialistische Charakter des Vogtschen Materialismus: »Materiell« ist der Geist in seinen Augen deshalb, weil er gewisse Ähnlichkeiten mit einer typischen materiellen Substanz hat; der methodisch zentrale Unterschied zwischen Monismus und Dualismus tritt dabei in den Hintergrund.

22

»Der Vergleich ist unangreifbar, wenn man versteht, wohin Vogt den Vergleichungspunkt verlegt. Das Hirn ist zur Erzeugung der Gedanken ebenso unerläßlich wie die Leber zur Bereitung der Galle und die Niere zur Abscheidung des Harns. Der Gedanke ist aber so wenig eine Flüssigkeit wie die Wärme oder der Schall.« (J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 284 f.). 23 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 443.

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Ähnliche Tendenzen finden sich trotz der zitierten Kritik auch bei Büchner selbst, der mehrfach davon spricht, »daß die Seele Product einer eigenthümlichen Zusammensetzung der Materie«24 sei; auch er unterscheidet damit das Gehirn als das produzierende Organ von der Seele als dem Produkt. Zwar macht Büchner immer wieder deutlich, daß die Seele nicht ohne ihre materielle Basis existieren könne, dennoch bleibt auch hier eine überraschende Nähe zum Dualismus bestehen. Natürlich wäre es verfehlt, hieraus eine geheime Vorliebe der Materialisten für den Dualismus abzuleiten, vielmehr kommt es abermals auf den Vergleich mit typischen materiellen Prozessen an, nicht auf eine klare Stellungnahme zu den methodisch relevanten Fragen wie dem Unterschied von Monismus und Dualismus. Die Vermutung, daß mangelndes Problembewußtsein für die Notwendigkeit einer genauen Formulierung des eigenen Ansatzes hier eine wichtige Rolle spielen könnte, wird verstärkt durch die Beobachtung, daß die Materialisten noch eine andere, mit der bislang genannten völlig unvereinbare Formel für das Verhältnis von Geist und Materie verwenden, die im Übrigen keinen Verdacht einer besonderen Nähe zum Dualismus aufkommen läßt. Nicht nur Büchner spricht nämlich davon, daß geistige Prozesse als Funktionen der zugrunde liegenden Hirnprozesse zu verstehen seien. Er nimmt damit eine Auffassung vorweg, die bis in die Gegenwart von materialistischen Theoretikern vertreten wird. Bemerkenswerter Weise findet sich diese Auffassung auch bei Vogt und Moleschott. Tatsächlich beginnt ja Vogts berüchtigter Ausspruch mit der Formulierung, daß »alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind«25 – erst danach fällt der besagte Vergleich. Auch im weiteren Verlauf ist immer wieder von geistigen Funktionen die Rede. Von der traditionellen Redeweise, die den Geist als eine Art Ding auffaßt, das sich eben nur in seiner Immaterialität und Unräumlichkeit von anderen Dingen unterscheiden soll, weichen die Materialisten allerdings auch insofern ab, als sie häufig von den »Fähigkeiten« sprechen, »die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen«, von geistiger Tätigkeit oder einfach von Gedanken – so die Überschriften der entsprechenden Kapitel in Moleschotts Kreislauf des Lebens und Büchners Kraft und Stoff. Von einer konsequenten Hypostasierung des Geistes kann also keine Rede sein. Die unterschiedlichen, nur schwer miteinander zu vereinbarenden Formulierungen, sprechen vielmehr dafür, daß die wissenschaftlichen Materialisten keine wirklich klare Vorstellung von dem Verhältnis von Geist und 24

Ebd., 152. C. Vogt, Physiologische Briefe, in: D. Wittich (Hrsg.), Vogt, Moleschott, Büchner, a. a. O., 3–24, hier 17. 25

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Materie hatten – insofern übertreibt Külpe nur mäßig, wenn er mit Bezug auf Büchner von einer »unheilbaren Konfusion« bezüglich des Geist-Materie Problems spricht.26 Im Vordergrund steht das Bemühen, den materiellen Charakter geistiger Prozesse nachzuweisen – hierzu dienen z. B. die vielen Beispiele, die Büchner in Kraft und Stoff präsentiert. Weniger Beachtung finden dagegen hier die – aus philosophischer Sicht eigentlich entscheidenden – methodischen Probleme, von deren Klärung abhängt, ob der Materialismus überhaupt eine sinnvolle Position ist. Hierzu gehört etwa die Frage, welche möglichen Beziehungen im Verhältnis von Geist und Materie denkbar sind, welche dieser Beziehungen sinnvoll, welche weniger sinnvoll sind, welche empirischen Befunde die eine oder andere Position stützen würde und schließlich, welche weiteren Konsequenzen sich aus den einzelnen Positionen ergeben würden. Das »Rätsel des Bewußtseins« Eine zentrale methodische Schwierigkeit, aus der immer wieder grundlegende Einwände gegen eine materialistische Lösung des Geist-Materie Problems abgeleitet worden sind, betrifft die Verständlichkeit der Beziehung von Geist und Materie. Ist es nicht prinzipiell unerklärbar, daß die Vielfalt geistiger Prozesse, wie sie aus der Perspektive der ersten Person zugänglich ist, auf den Aktivitäten einfacher Nervenzellen basieren soll, an denen nichts von jener Vielfalt zu erkennen ist? Ist es daher nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß wir jemals naturwissenschaftlich erklären können, warum sich z. B. Furchtzustände so anfühlen, wie sie sich anfühlen? Dualisten haben hier keine Probleme: Warum sollten naturwissenschaftliche Theorien Erklärungen für immaterielle Eigenschaften liefern? Wenn man dagegen wie der Materialismus davon ausgeht, daß geistige Eigenschaften neuronale Eigenschaften sind, dann muß man auch erwarten, daß Theorien über eine bestimmte neuronale Eigenschaft auch Aufschluß über die mit dieser identifizierte geistige Eigenschaft geben – schließlich haben wir es hier voraussetzungsgemäß mit ein und derselben Eigenschaft zu tun. Wenn eine solche Erklärung prinzipiell nicht möglich ist, dann wirft das die Frage auf, ob geistige Eigenschaften wirklich neuronale bzw. ganz allgemein: materielle Eigenschaften sind. Der Materialismus könnte daher ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Das Problem spielt bis heute eine zentrale Rolle in der Diskussion über materialistische Lösungsvorschläge des Leib-Seele Problems; diskutiert wurde

26

O. Külpe, Einleitung in die Philosophie, Leipzig 51910, 177.

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es jedoch schon lange vor dem Auftreten der wissenschaftlichen Materialisten, z. B. in Leibniz’ Monadologie.27 Diese Auseinandersetzung ging auch an den wissenschaftlichen Materialisten nicht vorbei; unverkennbar ist bei ihnen jedoch eine Tendenz zur Bagatellisierung. So heißt es etwa in Vogts Köhlerglaube und Wissenschaft: »Weshalb gerade jenes Gewebe Bewußtsein […] erzeuge, werden wir allerdings niemals erklären können, und unser höheres Denken wird uns niemals über die Tatsache hinausbringen können, daß es eben einmal so ist.«28 Es überrascht nicht, daß Vogt hier kein gravierendes Problem sieht. Abermals kommt es für ihn auf die Affinität zu typischen materiellen Substanzen und Mechanismen an, daher der Verweis auf das Bewußtsein erzeugende Gewebe. Die methodischen Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man die materialistische These genau formulieren will oder wenn man fragt, welche empirischen Belege für oder gegen den Materialismus sprechen könnten, spielen dagegen keine zentrale Rolle. Vogt versucht sie durch die Behauptung zu relativieren, daß ähnliche Schwierigkeiten auch in anderen Bereichen der Wissenschaften auftauchen. Gerade wenn es um komplexe Eigenschaften wie die des Bewußtseins geht, kann man hieran jedoch zweifeln.29 In der Regel ist es zumindest prinzipiell möglich, solche höherstufigen Eigenschaften von Systemen auf die Eigenschaften der Bestandteile dieser Systeme zurückzuführen und ihr Auftreten damit verständlich zu machen.30 So läßt sich etwa die Tatsache, daß Wasser unter Normalbedingungen bei 0°C friert und bei 100°C kocht, zumindest im Prinzip auf bestimmte Eigenschaften von H2O-Molekülen zurückführen. Scheitert ein solcher Versuch dagegen, dann nährt dies die Zweifel daran, daß die höherstufige Eigenschaft tatsächlich aus den Eigenschaften der Elemente des Systems hervorgeht; man würde dann vermuten, daß hier noch etwas anderes im Spiel sein müsse. Offensichtlich haben wir es bei dem Zusammenhang von geistigen und materiellen Prozessen mit einer ganz analogen Schwierigkeit zu tun. Sollte der Versuch einer Erklärung scheitern, dann würde dies ebenfalls zu ernsthaften Zweifeln an der These führen, daß geistige Prozesse materielle Prozesse sind. 27

G. W. Leibniz, Monadologie, übers. und eingel. von H. Glockner, Stuttgart 1979, 16 f. (§17). 28 C. Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen (1855), in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Büchner, Moleschott, a. a. O., 515–640, hier 624 f. 29 Siehe hierzu vor allem J. Levine, Materialism and Qualia: The Explanatory Gap, in: Pacific Philosophical Quarterly LXIV (1983), 354–361. 30 Dies ist jedoch heute nicht mehr völlig unumstritten. Die Gegenposition wird vertreten bei N. Block und R. Stalnaker, Conceptual Analysis, Dualism, and the Explanatory Gap, in: Philosophical Review 108 (1999), 1–46.

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Vogt bestreitet diese Konsequenz jedoch rundheraus. Ungeachtet jener Probleme gelte die Behauptung, daß »das Gehirn das Organ aller verschiedenen sogenannten Seelenfunktionen ist, daß diese Funktionen an gewisse Teile und Orte des Gehirnes gebunden sind und nur von diesem Organe geübt, von keinem anderen ersetzt werden können. Diese Wahrheit ist eine ebenso tatsächlich unumstößliche wie die, daß 2 mal 2 vier ist.«31

Du Bois-Reymond Eine zumindest im Prinzip vergleichbare Auffassung wird gegen Ende des Jahrhunderts noch von Haeckel in den Welträtseln vertreten.32 Andere Zeitgenossen waren sich dagegen der Tragweite des Problems bewußt. Dies gilt insbesondere für Emil Du Bois-Reymond, der sich in seiner berühmten Rede Über die Grenzen des Naturerkennens intensiv mit dieser Frage auseinandersetzt und sie dabei für prinzipiell unlösbar erklärt: »Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ›Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot‹ und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: ›Also bin ich‹? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewußtsein entstehen könne.«33

Es ist wichtig, sich den genauen Sinn dieser Behauptung zu verdeutlichen. Du Bois-Reymond will nicht etwa bestreiten, daß geistige Prozesse materiell realisiert sind. Bezeichnenderweise verweist er in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den »kecken Ausspruch« Vogts, der keineswegs deshalb zurückzuweisen sei, weil er »die Seelentätigkeit als Erzeugnis der materiellen Bedingungen im Gehirn« darstelle.34 Fordern kann man allerdings erstens eine Erklärung dafür, daß eben die Prozesse, die uns aus der Perspektive der dritten 31

C. Vogt, Köhlerglaube, a. a. O., 622. »Die eigenartige Naturerscheinung des Bewußtseins ist nicht … ein völlig und ›durchaus transzendentes Problem‹, sondern sie ist, wie ich stets konsequent behauptet habe, ein physiologisches Problem und als solches auf die Erscheinungen im Gebiete der Physik und Chemie zurückzuführen.« (E. Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Stuttgart 1984, 234). 33 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, a. a. O., 70. 34 Ebd., 76. 32

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Person als qualitativ völlig unterschiedslose neuronale Aktivitäten erscheinen, aus der Perspektive der ersten Person plötzlich eine überraschende qualitative Vielfalt wie die zwischen Grün- und Rotempfindungen zeigen. Fordern kann man zweitens aber auch, daß Theorien über neuronale Prozesse Auskunft darüber geben, warum z. B. Schmerzen sich so und nicht anders anfühlen. Dubois-Reymond stellt also nicht die Tatsache in Frage, daß geistige Prozesse materielle Prozesse sind, er bestreitet vielmehr, daß wir irgendwann einmal ein angemessenes Verständnis dieser Beziehung erlangen können.

Fechner und die Rezeption materialistischer Vorstellungen im 20. Jahrhundert Während Du Bois-Reymond sich mit seiner berühmten Formel des »Ignorabimus« auf die Unlösbarkeit dieses Problems festlegt, bemüht Fechner sich um den Ansatz zu einem Lösungsvorschlag. Wenn Fechners Name hier im Zusammenhang mit dem Materialismus genannt wird, so mag dies auch ganz unabhängig von Fechners Neigung zu pantheistischen und panpsychistischen Spekulationen verwundern. Tatsächlich kann man Fechner nicht als Materialisten bezeichnen; er selbst setzt sich ausdrücklich vom Materialismus ab;35 seine eigene Theorie begreift er als eine Synthese von materialistischen und spiritualistischen Ansätzen.36 Fechner hat dabei nicht zuletzt wohl die Abgrenzung gegenüber dem wissenschaftlichen Materialismus im Sinne. Dies wird z. B. schon daran erkennbar, daß er sich gegen den Materiebegriff »der Materialisten« wendet, im gleichen Atemzug jedoch einen Materiebegriff der Physiker als einen »notwendigen Begriff« anerkennt.37 35

Z. B. G. Th. Fechner, Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden, 3. Aufl. bes. d. E. Spranger, Hamburg / Leipzig 1928, 208 f. Umgekehrt setzten sich auch die Materialisten von Fechner ab; den Ansatzpunkt bieten Fechners panpsychistische bzw. pantheistische Spekulationen. So kommentiert etwa Büchner ein Zitat aus Fechners Zend-Avesta: »Welcher denkende Mensch ist im Stande, sich aus solchen Phrasen eine klare Vorstellung von der Meinung des Definitors [sc. Fechners; MP] zu machen!« (L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 220). 36 G. Th. Fechner, Zend-Avesta. Gedanken über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkte der Naturbetrachtung, hrsg. v. M. Fischer, Leipzig 1922, 292. Auch Paulsen etwa unterstellt einen regelrechten Gegensatz, wenn er das um die Jahrhunderte erstarkende Interesse an Fechner mit dem Niedergang des Materialismus begründet: »Die materialistische Denkweise, die vor fünfzig Jahren, als jene [sc. Fechnerschen] Schriften zuerst erschienen, herrschend war, […] ist überall im Zurückweichen; der Sinn für das Leben und für die Innenseite der Wirklichkeit ist wieder aufgetan.« (F. Paulsen, Geleitwort, in: G. Th. Fechner, Über die Seelenfrage, a. a. O., V). 37 G. Th. Fechner, Über die Seelenfrage, a. a. O., 209.

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Diese Bemerkung ist jedoch noch aus einem anderen Grund interessant: Sie zeigt, daß Fechner in seinem Verhältnis zum Materialismus bereits den Übergang von einem eher substantialistischen zu einem methodischen Verständnis vollzieht. Während Vogt, Büchner und Moleschott sich in ihrem Materialismus immer noch von der Vorstellung einer bestimmten Substanz leiten lassen, stehen bei Fechner und in zunehmendem Maße bei späteren Autoren bestimmte Methoden im Vordergrund, nämlich die der Naturwissenschaften. Materiell – genau das zeigt die obige Äußerung Fechners – ist nicht alles, was aus bestimmten Substanzen besteht oder paradigmatischen Substanzen ähnelt, sondern das, was sich mit bestimmten Methoden erfassen läßt – daher die Berufung auf den Materiebegriff der Physiker. Sieht man von den bereits erwähnten spekulativen Neigungen Fechners ab, dann lassen sich insbesondere bei der Auseinandersetzung mit dem Leib-Seele Problem bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit neueren Konzeptionen des Materialismus bzw. Physikalismus erkennen. Interessant sind diese Gemeinsamkeiten auch deshalb, weil ihnen eine rezeptionsgeschichtliche Beziehung zugrunde liegt. Fechners »Psychophysischer Parallelismus« bemüht sich zunächst um eine Klärung jener methodischen Grundsatzfragen im Verhältnis von Geist und Materie, über die Vogt, Büchner und Moleschott mehr oder minder unbekümmert hinweggehen. Fechner kritisiert daher auch ausdrücklich die Unklarheiten, die sich die wissenschaftlichen Materialisten damit einhandeln: Bei ihnen werde die Materie zum »dunklen Dinge hinter dem Bewusstsein«, von dem dann das »lichte Bewusstsein als sekundäre Folge« abhänge.38 Fechners eigene Theorie beläßt es denn auch nicht bei so mißverständlichen Formulierungen wie der, daß Gedanken einerseits »Produkte«, andererseits »Funktionen« des Gehirns seien, vielmehr legt er sich auf eine Identitätsbeziehung fest: »Das tatsächliche Verhältnis des Geistigen zum Leiblichen läßt sich nicht kürzer und nicht bezeichnender ausdrücken, als wenn man sagt, es ist dasselbe, was sich selbst als geistiges, und was einem andern als materielles Objekt erscheint.«39 Diese Ansicht, so konstatiert Fechner an anderer Stelle, ist »ganz Identitätsansicht, indem sie beides, Leib und Seele, nur für zwei verschiedene Erscheinungsweisen desselben Wesens hält, die eine auf innerem, die andere auf äußerem Standpunkt zu gewinnen.«40 Wenn diese Sichtweise im Grundsatz bis heute nicht an Attraktivität verloren hat, dann liegt dies vor allem daran, daß sie der Realität des Geistes ebenso gerecht wird wie der der Materie, ohne dabei die notorischen Probleme in 38 39 40

Ebd. G. Th. Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., 289. G. Th. Fechner, Über die Seelenfrage, a. a. O., 221.

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bezug auf Kausalität oder Wechselwirkung aufzuwerfen, wie sie den interaktionistischen Dualismus betreffen. Zweitens, so lassen die zitierten Passagen bereits erkennen, entwickelt Fechner auch zumindest den Ansatz zu einer Antwort auf das von Du Bois-Reymond für unlösbar erklärte Problem, also auf die Frage nach dem Verständnis der Beziehung von geistigen und materiellen Eigenschaften. In Fechners Augen haben wir es hier mit zwei Erscheinungsweisen desselben »Wesens« zu tun. Fechner unterscheidet also zwei unterschiedliche Perspektiven, und es ist ein und dasselbe »Wesen«, das sich selbst aus der Innenperspektive als Geist, dem außen stehenden Beobachter aber als Materie erscheint: »Körper und Geist oder Leib und Seele oder Materielles und Ideelles oder Physisches und Psychisches (diese Gegensätze hier im weitesten Sinne als gleichgeltend gebraucht) sind nicht im letzten Grund und Wesen, sondern nur nach dem Standpunkt der Auffassung oder Betrachtung verschieden. Was sich selbst auf innerem Standpunkt als geistig, psychisch erscheint, vermag einem Gegenüberstehenden vermöge dessen dagegen äußeren Standpunkts nur in anderer Form, welche eben die des leiblich materiellen Ausdrucks ist, zu erscheinen. Die Verschiedenheit der Erscheinung hängt an der Verschiedenheit des Standpunkts der Betrachtung und der darauf Stehenden. In sofern hat dasselbe Wesen zwei Seiten, eine geistige, psychische, sofern es sich selbst, eine materielle, leibliche, sofern es einem anderen als sich selbst in anderer Form zu erscheinen vermag, nicht aber haften etwa Körper und Geist oder Leib und Seele als zwei grundwesentlich verschiedene Wesen an einander.«41

Fechner glaubt sich bei seiner Rede von zwei Weisen der Erscheinung auf eine allgemeine Erfahrung stützen zu können.42 Tatsächlich sind wir im Alltag häufiger mit unterschiedlichen Erscheinungsformen eines und desselben Objektes konfrontiert, und nur wenn diese Möglichkeit zur Debatte steht, stellt sich überhaupt die Frage nach einer eventuellen Identitätsbeziehung. Anders als Vogt, der die Gewißheit des Materialismus kurzerhand mit der der Arithmetik vergleicht, erkennt Fechner zudem die Problematik einer wissenschaftlichen Bestätigung der Identitätsbehauptung. Er betont, daß es sich hier aus Sicht der empirischen Forschung immer nur um eine bloße Hypothese handeln könne.43 Dies ist schwer zu bestreiten: Empirisch können wir nur Korrelationen feststellen. Dennoch, und auch dies sieht Fechner offenbar, vermögen experimentelle Ergebnisse die Identitätsbehauptung zu stützen – etwa weil diese die »beste Erklärung« für vorliegende Befunde liefert.

41 42 43

G. Th. Fechner, Zend-Avesta II, a. a. O., 321–22. G. Th. Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., 289. G. Th. Fechner, Zend-Avesta, a. a. O., 291.

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Fechners Theorie ist – zweifellos zu Recht – vielfach als metaphorisch kritisiert worden. Tatsächlich ist es nicht wirklich klar, wie die Beziehung zwischen Außen- und Innenperspektive auf das Verhältnis von geistigen und materiellen Eigenschaften übertragen werden kann. Doch selbst wenn man um des Argumentes willen die Übertragung dieser räumlichen Metaphorik auf das Verhältnis von Geist und Materie akzeptiert, wird man hieraus allenfalls eine Erklärung dafür ableiten können, daß geistige Eigenschaften überhaupt anders erscheinen als die mit ihnen identifizierten materiellen Eigenschaften. Fechners Formel gibt jedoch keine konkrete Erklärung dafür, warum z. B. eine bestimmte neuronale Aktivität aus der Innenperspektive in einer bestimmten Weise, sagen wir als Furcht- und nicht als Glücksempfindung erfahren wird.

Die neuere Rezeption Es ist dennoch nicht zu übersehen, daß Fechners Theorie einen wesentlichen konzeptionellen Fortschritt gegenüber den Ansätzen von Vogt, Büchner und Moleschott darstellt. Vermutlich dürfte aber auch die Kritik an diesen Theorien dazu beigetragen haben, daß der wissenschaftliche Materialismus nach der Jahrhundertwende keine produktive Rolle mehr bei der Entwicklung neuer Theorien spielt – auch wenn er weiterhin rezipiert wird. Albert Einstein beispielsweise liest Büchners Kraft und Stoff »mit Leidenschaft«44, seine eigene Position entspricht indes eher dem Fechnerschen Parallelismus. Tatsächlich stellt denn auch der Psychophysische Parallelismus die wohl wichtigste an den Naturwissenschaften orientierte Position der Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dar.45 Paulsen bemerkt kurz nach der Jahrhundertwende, die zu Lebzeiten des Autors nur mäßig erfolgreichen Werke Fechners »erleben jetzt in rascher Folge neue Auflagen, werden gekauft, gelesen, studiert und beginnen mit ihren Anschauungen als ein allgegenwärtiges Element Philosophie, Wissenschaft und Dichtung zur durchdringen.«46 Prominente Anhänger des psychophysischen Parallelismus waren Wilhelm Wundt und Ernst Mach. Letzterer befaßt sich in der Analyse der Empfindungen ausführlich mit dem Thema und geht dabei auch auf die Beziehung seiner 44

A. Einstein, zit. n. J. Wickert, Einstein. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1972, 31. 45 Siehe hierzu im Einzelnen M. Heidelberger, Wie das Leib-Seele Problem in den Logischen Empirismus kam, in: M. Pauen / A. Stephan (Hg.), Phänomenales Bewußtsein – Rückkehr der Identitätstheorie?, Paderborn 2002, 40–72; sowie M. Heidelberger, Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung, Frankfurt 1993. 46 Paulsen, Geleitwort, a. a. O., VII.

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eigenen Theorie zu Fechner ein.47 Michael Heidelberger dürfte daher vollkommen im Recht sein, wenn er feststellt, daß »der Psychophysische Parallelismus doch von der überwältigenden Mehrheit der Psychologen und Physiologen gleichermaßen bis ins 20. Jahrhundert hinein akzeptiert«48 wurde. Verfechter der Theorie waren auch Bohr49 und Schlick, der sich in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre ausdrücklich zum psychophysischen Parallelismus bekennt; in einem Brief an Cassirer spricht Schlick davon, daß er »fest« an den Parallelismus glaube.50 Schlick scheint sich dabei vor allem an Alois Riehl zu orientieren, dessen psychophysischer Parallelismus wiederum klare Übereinstimmungen mit Fechner zeigt. Die Verwandtschaft betrifft dabei vor allem die Identifikation von Geist und Materie. Auch wenn es bei Riehl Äußerungen gibt, die den Parallelismus eher als eine »methodische Regel«51 bezeichnen, legt er sich letztlich klar auf eine solche Identitätsbeziehung fest. So heißt es über kortikale Prozesse »daß sie und die gleichzeitigen Bewußtseinsvorgänge zusammen bestehen und nur der Erscheinung nach zu unterscheiden, in Wirklichkeit aber nicht zu trennen sind.«52 Eindeutiger noch ist wenig später die Rede davon, »daß in Wirklichkeit nicht zwei Vorgänge, ein psychischer und ein physiologischer gegeben sind, sondern nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines einzigen Vorganges.«53 Riehl übernimmt damit gleichzeitig Fechners Behauptung, der scheinbare Unterschied von geistigen und materiellen Prozessen sei auf die Differenz zwischen der Innenperspektive des bewußten Subjekts und der Außenperspektive des Beobachters zurückzuführen. »Als Gehirnprozeß erscheint meine Vorstellungs- und Willenstätigkeit […] immer nur einem außen stehenden Beobachter, der, was ich mit meinem inneren Sinn als Vorstellen oder Wollen erfasse, mit seinen äußeren Sinnen als bestimmten Bewegungsvorgang anschaut.«54 Riehl geht dabei auch auf die von Du Bois-Reymond aufgeworfene Frage ein, wie die Beziehung zwischen der geistigen und der materiellen, letztlich also der atomaren Ebene zu erklären ist. In seinen Augen entsteht der Anschein der Un47

Vgl. E. Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 51906, 50 f., 305. 48 M. Heidelberger, Wie das Leib-Seele Problem in den Logischen Empirismus kam, a. a. O., 53. 49 Ebd., 53 f. 50 M. Schlick an E. Cassirer, Wien 30. 2. 1927, zit. n. M. Heidelberger, Die innere Seite der Natur, a. a. O., 61. 51 A. Riehl, Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, in: Ders., Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. Acht Vorträge, Leipzig / Berlin 41912, 126–165, hier 157. 52 A. Riehl, Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, 158. 53 Ebd., 161; Herv. d. Vf. 54 Ebd.

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lösbarkeit nur deshalb, weil die Frage falsch gestellt ist. Zu fragen sei nämlich nicht, wie die qualitative Vielfalt geistiger Eigenschaften aus der Bewegung von Atomen entstehe, zu fragen sei vielmehr, wie aus der unmittelbar gegebenen Vielfalt unserer Empfindungen, die Vorstellung von Atomen abstrahiert werde. Und diese Frage, so glaubt Riehl, lasse sich problemlos beantworten.55 Riehls Lösung findet sich in Ansätzen schon bei Fechner,56 gleichzeitig zeigt sie auch eine Verwandtschaft mit dem Sensualismus Machs. Riehl scheint jedoch von dieser Lösung nicht vollkommen überzeugt – anders wäre schwer zu erklären, daß er das Problem in wenig veränderter Form noch einmal aufgreift und dabei den umgekehrten Weg wählt, also die Empfindungen aus der Materie und nicht die Materie aus den Empfindungen ableitet. Offenbar durch den Selektionsdruck seien die bewußten Empfindungen in der Entwicklungsgeschichte aus sensiblem Hautgewebe entstanden. Riehl betont gleichzeitig, daß es keinen graduellen Übergang zwischen unbewußten und bewußten Prozessen gebe; hier habe man es mit einem »Sprung in dem Gang der Entwicklung«57 zu tun. Offenbar erkennt Riehl, daß sein ursprünglicher Vorschlag das Problem nicht wirklich gelöst hatte – man kann zweifeln, ob der neue Ansatz die Schwierigkeit endgültig überwindet. Zweifellos stellt Riehls Theorie ein wichtiges Bindeglied nicht nur zwischen Fechner und Schlick, sondern auch zwischen Fechner und Feigl dar. Diese Beobachtung ist von besonderer Bedeutung für die Rezeptionsgeschichte des psychophysischen Parallelismus, schließlich ist Feigl neben U. T. Place und J. J. C. Smart einer der Begründer der modernen Identitätstheorie. Feigl beruft sich ausdrücklich auf Riehl, dessen Ansatz er mit dem seines Lehrers Moritz Schlick vergleicht.58 Fechner dagegen erwähnt Feigl in The Mental and the Physical nur einmal, und zwar etwas abschätzig zusammen mit Bergson und Maeterlinck als einen »poetischen Schriftsteller«59. Feigls eigene Affinität zum psychophysischen Parallelismus läßt sich jedoch nicht nur an diesem rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang ablesen. Entscheidend sind die systematischen Übereinstimmungen, die trotz aller

55

Ebd., 150. So behauptet Fechner bei seiner Diskussion dieses Problems in Über die Seelenfrage, daß »man die Materie selbst erst aus einer Zusammenstellung von Empfindungen im Bewusstsein produziert hat.« (G. Th. Fechner, Über die Seelenfrage, a. a. O., 209). 57 A. Riehl, Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, a. a. O., 165. 58 »My first acquaintance with philosophical monism goes back to reading the work of Alois Riehl; I found essentially the same position again in Moritz Schlick, some of whose work I had studied before I became his student in Vienna in 1922.« (H. Feigl, The Mental and the Physical, The Essay and the Postscript, Minneapolis, University of Minnesota 1967, v). 59 H. Feigl, The Mental and the Physical, a. a. O., 84. 56

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verbleibenden Differenzen deutlich genug zu erkennen sind. Zu nennen sind hier zum einen der Monismus Feigls, zum anderen sein Versuch, den Unterschied zwischen mentalen und materiellen Eigenschaften auf zwei Perspektiven, bzw. genauer, auf zwei unterschiedliche Zugänge zurückzuführen.60 Ganz offensichtlich hält Feigl damit an einem Grundgedanken fest, der sich schon bei Fechner findet – dort als die Unterscheidung zwischen der Innen- und der Außenperspektive. Feigls Ansatz, so heißt es bei Heidelberger mit Blick auf den psychophysischen Parallelismus, stelle sich »nicht als ein neuer und kühner Anfang« dar, »sondern als die Wiederaufnahme einer Tradition, die einst die Hauptströmung der Debatte ausmachte und in der Zwischenzeit aus der Mode geraten war.«61 Es muß nicht eigens erwähnt werden, daß weder Feigl noch seine unmittelbaren Vorläufer einfach die Position Fechners weiterführen. Insbesondere der Panpsychismus Fechners, der schon von Riehl abgelehnt worden war,62 hatte unter den Logischen Empiristen Freunde. Ebenso wie Haeckels Lehre von den Atomseelen zeigt sich hier noch einmal der spekulative Charakter, der diese Ansätze mit älteren metaphysischen Traditionen verbindet.

Fazit Fassen wir zusammen. Es hatte sich gezeigt, daß der wissenschaftliche Materialismus von Vogt, Büchner und Moleschott anders als heutige Varianten dieser Position nicht durch die Orientierung an Grundsätzen und Methoden der Naturwissenschaften definiert ist, leitend ist vielmehr die Vorstellung von der Materie als einer bestimmten Substanz. Materiell ist ein bestimmter Prozeß dieser Position zufolge also insofern, als er eine Verwandtschaft mit typischen Erscheinungsformen von materiellen Objekten aufweist. 60

»The ›mental‹ states or events (in the sense of raw feels) are the referents (the denotata) of the phenomenal terms of the language of introspection, as well as of certain terms of the neurophysiological language. For this reason I have in previous publications called my view a ›double-language theory‹. But, as I have explained above, this way of phrasing it is possibly misleading in that it suggests a purely analytic (logical) translatability between the statements in the two languages. It may therefore be wiser to speak instead of twofold access or double knowledge.« (H. Feigl, The Mental and the Physical, a. a. O., 80). 61 M. Heidelberger, Wie das Leib-Seele Problem in den Logischen Empirismus kam, a. a. O., 41. 62 »Dieser Panpsychismus, der seltsamerweise noch Liebhaber unter uns findet, ist eine reine Spekulation, für welche die psycho-physischen Tatsachen keine Handhabe bieten.« (A. Riehl, Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, a. a. O., 158 f.).

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Methodische Gesichtspunkte treten jedoch schon bei Du Bois-Reymond in den Vordergrund, der denn auch wesentlich skeptischer ist, was die Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungen angeht. Ähnliches gilt für Gustav Theodor Fechner, der mit seinem psychophysischen Parallelismus in einigen wesentlichen Punkten die Identitätstheorie neuerer Prägung vorwegnimmt – auch wenn er sich selbst nicht als Materialisten versteht. Dennoch bildet Fechners Werk gleich aus zwei Gründen eine wichtige Brücke zu heutigen materialistischen Positionen: Neben der systematischen Verwandtschaft besteht hier nämlich eine durch Riehl und Feigl vermittelte Rezeptionsbeziehung. Festzuhalten bleibt überdies, daß wesentliche Punkte der damaligen Diskussion über die Seele und die Willensfreiheit bis heute die Debatte bestimmen, zudem haben sich die Bruchlinien zwischen den unterschiedlichen Positionen im Vergleich zu der Situation vor fast eineinhalb Jahrhunderten nicht wirklich fundamental verschoben. Deutlich zu erkennen ist dies schon bei der Frage, ob geistige Eigenschaften auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse adäquat erklärbar sind. Zweifellos hat die philosophische Diskussion gerade der letzten Jahre hier zu wesentlichen Klarstellungen geführt. An den prinzipiellen Gegensätzen hat dies jedoch wenig geändert: Zum einen gibt es nach wie vor Autoren, die wie Du Bois-Reymond das Rätsel für unauflösbar halten – hierzu zählen Thomas Nagel, Joseph Levine oder David Chalmers. Ihnen stehen heute wie damals Materialisten gegenüber, die überzeugt sind, daß der wissenschaftliche Fortschritt das Problem früher oder später lösen werde: In diesem Sinne argumentiert z. B. Patricia Churchland, die meint, daß sich die ganze Debatte letztlich an einem Scheinproblem entzündet habe. Ganz ähnliche Beobachtungen kann man in der Willensdebatte machen. Heute wie vor 140 Jahren versuchen vor allem Vertreter der empirischen Disziplinen zu zeigen, daß die Willensfreiheit angesichts des naturgesetzlich determinierten Ablaufs von Hirnprozessen eine bloße Illusion sei. Im Gegensatz dazu halten auch heute noch viele Philosophen an einer sehr anspruchsvollen Konzeption von Willensfreiheit fest. Diese Position ist eingestandenermaßen mit dem Determinismus unvereinbar. Als Problem wird dies jedoch einfach deshalb nicht gesehen, weil unsere Welt eben nicht deterministisch sei. Tatsächlich spricht einiges dafür, daß die wissenschaftlichen Materialisten ebenso wie ihre Gegenspieler bei aller Bindung an zeittypische Besonderheiten doch einen grundlegenden und viel älteren Konflikte zur Sprache gebracht haben, der bis heute andauert: Die Auseinandersetzung zwischen dem letztlich auf Vereinheitlichung, Reduktion und die Bestimmung von Gesetzmäßigkeiten abzielenden Programm der empirischen Wissenschaften und dem menschlichen Anspruch auf Einzigartigkeit, Irreduzibilität und Freiheit, wie er vor allem durch die Geisteswissenschaften vertreten wird.

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Die Anlässe für derartige Auseinandersetzungen mögen wechseln, die Auseinandersetzungen selbst mal eher sachlich, mal mit großem Aufwand an Pathos und Theaterdonner geführt werden: Der grundlegende Konflikt aber dürfte uns noch länger erhalten bleiben.

III. DER MATERIALISMUS IN DER PHILOSOPHISCHEN DEBATTE SEINER ZEIT

Myriam Gerhard

Die philosophische Kritik am naturwissenschaftlichen Materialismus im 19. Jahrhundert »Now, what I want is, Facts.«1

Mit diesem Zitat, dem ersten Satz aus Charles Dickens Hard Times, beginnt Ludwig Büchner seine empirisch-naturphilosophischen Studien, die 1855 unter dem Titel Kraft und Stoff erschienen sind. Nahezu jeder Kritik am naturwissenschaftlichen Materialismus ließe sich einer der letzten Sätze aus demselben Werk Dickens voranstellen. Die Motivation zur Kritik ergibt sich zunächst aus der Einsicht in die Konsequenzen2 des Materialismus.3 Die moralischen Folgen des ausschließlichen Glaubens an »nothing but facts«4 zeigt Dickens zum Ende seines Buches auf. Die Kritik des Materialismus findet ihren Ausdruck im Ansinnen der eigentlichen Heldin des Romans: »to beautify their lives of machinery and reality with those imaginative graces and delights, without which […] the sturdiest physical manhood will be morally stark death […].«5 Den sicheren Tod der Moral fürchten die Kritiker des Materialismus, wenn alle Erscheinungen ausschließlich auf naturwissenschaftliche Prinzipien zurückzuführen wären. Als ein Naturgesetz wäre jedes Sittengesetz6 nicht nur unmöglich, sondern überflüssig,7 denn eine jede Handlung wäre dann gleich einer physikalischen 1

Ch. Dickens, Hard Times (1854), Ware 1995, 3. »Aus der allgemeinen Begriffsbestimmung des Materialismus ergiebt sich, dass er den Menschen zum bloßen Product und Moment der Natur degradirt und seine S e e le z u r b l o ß e n Fu n c t i o n seines Leibes reducirt und ihn mithin vo m T h i e re n i ch t we s e n t l i ch u n te r s ch e i d e t .« (K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus mit besonderer Rücksicht auf die Schriften von Feuerbach, Vogt, Moleschott, Erlangen 1853, III). 3 Das spiegelt sich auch in der Wahl der Untertitel wider. So haben viele der materialismuskritischen Schriften Untertitel, die auf das Verhältnis des Materialismus zu Moral, Religion, Kunst, Geschichte, Gesellschaft und Wissenschaft hinweisen. 4 Ch. Dickens, Hard Times, a. a. O., 3: »In this life, we want nothing but facts.« 5 Ebd., 234. 6 Vgl. F. Schultze, Die Grundgedanken des Materialismus, Leipzig 1881, 60. 7 Vgl. A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, Luzern 1864, 133: »Sind die 2

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Bewegung durch ihre Gesetze und die äußeren Bedingungen determiniert. Eine Differenz zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, ist – wie Kant schon dargelegt hatte – ohne die Möglichkeit der Freiheit vom Naturzwang nicht zu denken. Die Einsicht in die Konsequenzen des Materialismus, »daß sie [die Materialisten; M. G.] es auf Zerstörung der Grundlagen der gesammten religiösen und sittlichen Weltordnung abgesehen haben«8, ist das naheliegende Motiv zur Kritik. Allein das Unbehagen gegenüber einer materialistischen Weltanschauung vermag jedoch nicht den Materialismus zu widerlegen,9 »Consequentmacherei ist keine Widerlegung […].«10 Eine Widerlegung des Materialismus erfordere, Büchner darin beim Wort zu nehmen, daß der »einzige und oberste bestimmende Gesichtspunkt unserer Untersuchungen […] in der Wahrheit«11 liege und »von allen Moral- und Nützlichkeitsfragen vollkommen abzusehen«12 sei. Dann erweise sich »die ängstliche Furcht, vor ihren [der mechanischen Naturauffassung; M. G.] Folgerungen alle Lebendigkeit, Freiheit und Poesie verschwinden zu sehen«13 als ebenso unbegründet wie die theoretischen Grundlagen des Materialismus.14 Der Materialismus, dessen Konsequenzen gefürchtet werden, enthält, sofern er konsequent durchdacht wird, nicht nur für H. Lotze seine eigene Widerlegung. Der »Kampf um die Seele«15 wurde nicht physischen Gesetze die einzigen, sind die materiellen Kräfte diejenigen, die alles beherrschen und bestimmen, so kann es keine sittliche Gesetze und keine sittliche Kräfte geben.« 8 F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus (1855), Gotha 21864, 2. 9 Vgl. ebd., 5: »Es ist nicht schwer, die sittliche Verwerflichkeit des Materialismus aufzuzeigen. Jedenfalls ist dieß aber heutzutage nicht genügend. Es muß auch die logische Schwäche des materialistischen Princips, es müssen die Widersprüche, in der er verwikkelt, es muß seine Unfähigkeit, das Weltganze, wie das Einzelnste der täglichen Vorgänge irgend genügend zu erklären, nachgewiesen – mit Einem Worte es muß gezeigt werden, daß die in ihren Consequenzen wenigstens unsittliche Theorie allezeit noch eine absurde ist.« So will auch F. Michelis nicht »im moralisirenden Tone gegen den Materialismus« [F. Michelis, Der Materialismus als Köhlerglaube, Münster 1856, 8] kämpfen, sondern ihn mit sachhaltigen Gründen widerlegen. 10 J. Frauenstädt, Der Materialismus. Seine Wahrheit und sein Irrthum. Eine Erwiderung auf Dr. Louis Büchners ›Kraft und Stoff‹, Leipzig 1856, VII. 11 L. Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemeinverständlicher Darstellung, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus, Bd. 2, Berlin 1971, 514. Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 10. 12 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 514. 13 H. Lotze, Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit (1856), Erster Band, Leipzig 51896, XI. 14 Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 128: »das ist eine Ansicht, die sich dem tiefer Denkenden zu stark aufdringt, als daß sie befürchten dürfte, jemals von der oberflächlichen Weltanschauung des Materialismus verdrängt zu werden.« 15 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegen-

Die philos. Kritik am naturwiss. Materialismus im 19. Jahrh.

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nur mit theologischen16 und moralphilosophischen Argumenten geführt. Der Begriff des Materialismus selbst, sein Prinzip, seine Voraussetzungen und die theoretischen Konsequenzen sind der vornehmliche »Kampfplatz«17 der philosophischen Kritik. Die Kritik am Materialismus ist so alt wie der Materialismus selbst. Der Materialismusstreit der 1850er Jahre18 wurde zwischen den Vertretern des Materialismus C. Vogt, J. Moleschott, L. Büchner, J. C. Fischer, F. Wollny u. a. und ihren Widerstreitern geführt, zu denen man u. a. zählen kann: die Protestanten F. Fabri und P. Fischer, die Katholiken J. Frohschammer, F. Michelis und A. Tanner, sowie I. H. Fichte, J. Frauenstädt, J. B. Meyer, J. Schaller, H. Ulrici. Zu den Kritikern gehören auch F. A. Lange und H. Lotze, die allerdings nicht direkt am Streit der 1850er Jahre beteiligt waren.19 Eine Darstellung der philosophischen Kritik am Materialismus kann es sich nicht zur Aufgabe machen, alle einzelnen kritischen Standpunkte erschöpfend darzulegen. Aus diesem Grund wird sich die folgende Erörterung auf eine zusammenfassende Explikation der verschiedenen Argumentationen nach ausgewählten thematischen Gesichtspunkten beschränken.20 »Zwei Punkte also sind es, um die es sich vorzüglich in diesem Streite handelt. Erstens: ob die Physiologie wirklich Thatsachen aufgefunden hat, mit denen schlechterdings die Substantialität und Unsterblichkeit der Menschenseele unvereinbar sey. Zweitens, ob die Physiologie das geistige Leben der Menschheit in Kunst, Wissenschaft, Religion u. s. w. zu erklären vermöge, wenn sie nichts annimmt als die Materie mit ihren physikalischen und chemischen Kräften und Gesetzen.«21

wart (1866), Zweites Buch, Leipzig 1907, 119. Vgl. R. Wagner, Der Kampf um die Seele vom Standpunkt der Wissenschaft, Göttingen 1857. 16 Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 40: »Mit theologischen Waffen läßt sich dem Materialismus nicht beikommen.« 17 F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 2. 18 Auch wenn der Materialismusstreit seinen Ausgang in den 1850er Jahren nahm, so war er mit dem Ende des Jahrzehnts dennoch nicht beigelegt. 19 H. Lotzes Mikrokosmos ist zwar dem Materialismusstreit zeitnah, nämlich 1856, erschienen, ist aber »ohne eigentliche Absicht des Verfassers […] in die Reihe der zahlreichen Schriften [getreten; M. G.], die in neuester Zeit die Erörterung dieser Fragen [zum körperlichen und geistigem Leben; M. G.] versucht haben. […] Die Hauptabsicht dieses Buches ist auf die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Cultur gerichtet.« (H. Lotze, Mikrokosmos, a. a. O., XVII). 20 Um einerseits einen besseren Ein- und Überblick der teilweise schwer zugänglichen Literatur zu ermöglichen, und um andererseits die Lesbarkeit des Haupttextes zu erhalten, wurde eine Vielzahl von Belegstellen in die Fußnoten aufgenommen. 21 J. Frohschammer, Menschenseele und Physiologie. Eine Streitschrift gegen Professor Carl Vogt in Genf, München 1855, 47.

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Die Kritik am Materialismus konzentriert sich deshalb auch auf diese beiden Probleme:22 die Bestimmung einer Seelensubstanz und die wahre Quelle aller Erkenntnis. Die Notwendigkeit der Annahme einer Seelensubstanz und die sich aus seiner theoretischen Bestimmung ergebenden Konsequenzen des Materialismus sind die Kernpunkte der Kritik am Materialismus.

I. Die Seelensubstanz Der Streit um die Seele läßt sich, seinem sachhaltigen Ursprung nach, auf den Satz der Materialisten zurückführen, daß die Seele lediglich der Effekt der Einheit des Organismus sei. Diesem »Fundament der ganzen materialistischen Lehre«23 stellen die Spiritualisten den Satz entgegen, daß die Seele, die Einheit des Bewußtseins, nicht die Wirkung, sondern die Ursache dieser Einheit des Organismus sei. Für Vogt ist es unbezweifelbar, daß »jeder Naturforscher […] bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht komme[n], daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind […].«24 Die Annahme einer Seele ist ihm »ein reiner Unsinn […].«25 Für die Spiritualisten fehlt der materialistischen Naturerklärung hingegen das einigende, »das geistige Band«26. Ohne dieses Prinzip der Einheit und Ordnung, ließe sich weder die Entstehung eines Organismus aus einem Zellklumpen, noch die Entstehung des Bewußtseins erklären. Die Tatsache des Lebens, sowie die Tatsache des Selbstbewußtseins und die Freiheit des Willens ließen sich auf materialistischer Grundlage nicht erklären. Die Annahme einer Seele resultiert demnach aus der Unzulänglichkeit der naturwissenschaftlichen Erklärung. Insofern als das Leben, das Bewußtsein und die Freiheit des Willens sich nicht auf den Stoffwechsel zurückführen las-

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Diese beiden Probleme beziehen sich, wie F. Fabri schreibt, auf die beiden Grundweisheiten des Materialismus. »Die Grundweisheit des antiken, wie des modernen Materialismus stützt sich auf zwei Sätze: erstlich, die sinnliche Wahrnehmung ist die Quelle aller Erkenntnis; zweitens, alles Geistige ist nur Thätigkeit der Materie, daher die Seele selbst materiell und sterblich.« (F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 34). 23 I. H. Fichte, Die Seelenlehre des Materialismus, kritisch untersucht, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 25 (1854), 175. 24 K. Vogt, Physiologische Briefe, 12. Brief, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner, a. a. O., Bd. 1, 17. 25 Ebd., 18. 26 »Die Theile habt ihr in der Hand, Fehlt leider nur das geistige Band!« J. W. Goethe, Faust, Erster Teil, zit. n. F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 6. Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 164: »Der Materialismus, seinen Blick einseitig auf die Theile richtend, übersieht über ihnen das geistige Band, das sie verknüpft.«

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sen und ihre Erklärung zur Annahme der Seele als ein nichtstoffliches Prinzip nötigt, sind alle Anti-Materialisten als Spiritualisten zu bezeichnen. Eine bedeutende Differenz innerhalb der Gruppe der Anti-Materialisten ergibt sich durch die Bestimmung der Seele. Entweder wird der Seele ein metaphysisches Dasein als eine vom Materiellen unabhängige Seelensubstanz zugesprochen oder die Seele wird als ein transzendentales Prinzip, eine funktionale Einheit bestimmt. Die Triftigkeit der Annahme einer nichtstofflichen Seelensubstanz versuchen u. a. I. H. Fichte und H. Lotze zu begründen. I. H. Fichte zur Folge widerlegt der Materialismus sich selbst, da er weder die durchgängige Identität des Bewußtseins, noch die Reflexivität und den Ursprung des Bewußtseins erklären könne. Die durchgängige Identität unseres Bewußtseins wird für Fichte vermittelst der Beharrlichkeit der Seele im Wechsel garantiert. Wird die Seele als ein sich stets erneuerndes Produkt des Stoffwechsels aufgefaßt, so würde dies dem Begriff der Seele als ein Beharrliches im Wechsel widersprechen. »Wäre daher das Bewußtsein und die Persönlichkeit bloß die Folge von der Einheit des Nervensystems: so müßte mit deren vollständiger Erneuerung auch das Bewußtsein und die Persönlichkeit eine völlig andere werden.«27

Da aber »die Identität unseres Bewußtseins, während der ganzen Dauer unseres Lebens«28 eine Tatsache sei, sei die These des Materialismus widerlegt. Das Beharrliche im Lebenslauf des Organismus könne selbst kein Stoffwechselprodukt sein. So schlagend die Widerlegung auf dem ersten Blick auch erscheinen mag, so gründet sie doch auf einem Fehlschluß. Fichte unterstellt 1. eine wesentliche Differenz der sich ersetzenden Stoffwechselelemente untereinander und 2. eine wesentliche Differenz zwischen den einzelnen Elementen der Seele und der Einheit der Seele. Nur unter dieser Voraussetzung folgt eine unterschiedliche Einheit aus der wechselnden Zusammensetzung der Elemente. Werden aber nur alte gegen neue Elemente ausgetauscht, so kann daraus auch nur eine Konsequenz für das Zusammengesetzte folgen: seine materielle Erneuerung unter Beibehaltung seiner Form. Das eigentliche Problem der Erklärung des Lebens durch den Stoffwechsel trifft Fichte mit seiner Kritik nicht. Das Subjekt des Stoffwechsels, der wachsende Baum z. B., ist entweder ausschließlich das Produkt des Stoffwechsels oder das Subjekt des Stoffwechsels ist die Voraussetzung des Stoffwechsels. Ist das Subjekt des Stoffwechsels das bloße Produkt des Stoffwechselprozesses, dann hat jede einzelne Phase des Prozesses ihr spezifisches Subjekt des Stoffwechsels zum Resultat. Von einem Beharrlichen im Wechsel ließe sich dann ebenso wenig reden, wie von Einem 27 28

I. H. Fichte, Die Seelenlehre des Materialismus, a. a. O., 175. Ebd., 176.

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wachsenden Baum. Aus dieser Konsequenz ergibt sich die Notwendigkeit der Voraussetzung eines einheitlichen Subjektes des Stoffwechsels. Das führt jedoch zu der paradoxen Vorstellung eines Subjektes, das gleichermaßen Voraussetzung und Produkt des Stoffwechsels ist. Der Widerspruch läßt sich auflösen, indem die vorauszusetzende Einheit des Subjekts auf ein anderes Prinzip zurückgeführt wird als das Produkt des Stoffwechsels. Die vorauszusetzende Einheit des Subjekts des Stoffwechsels ist demzufolge einer materialistischen Erklärung nicht zugänglich.29 Dieser Grenze der materialistischen Naturerklärung begegnet Fichte, indem er dem materialistischen Monismus seinen Dualismus entgegensetzt. Die wesentliche Differenz zwischen dem organischen Leben und der Seele, der Identität unseres Bewußtseins müsse angenommen werden, weil eine »Verbindung äußerer Wirkungen und innerer Zustände in einem und demselben Realen«30 nicht möglich sei. So lasse sich die Fähigkeit der Selbstunterscheidung in ein Subjekt und ein Objekt des Bewußtseins nicht als eine Wirkung erklären. Das Selbstbewußtsein sei »eine schlechthin selbstthätig gebildete Vorstellung der Seele von sich«31 und lasse sich nur erklären »als die Grundeigenschaft eines eigenthümlichen realen Wesens, welches wir ›Seele‹, noch bestimmter ›Geist‹ zu nennen genöthigt sind, weil ihm ursprünglich jene Eigenschaft der Selbstverdopplung oder des Bewußtseins beiwohnt.«32 Daß »die ›Seele‹, d. h. der Complex bewußter Thätigkeiten, nothwendig eines realen Substrates bedürfe«33, bleibt jedoch bei Fichte wie bei Wagner eine dogmatische Behauptung.34 H. Lotze begreift die Seelensubstanz, anders als Fichte, nicht als ein reales Wesen, sondern als eine ideale Substanz. Aus der Anerkennung der Unvergleichlichkeit aller physischen Prozesse mit denen des Bewußtseins folge die Überzeugung von der Notwendigkeit, »eine eigenthümliche Grundlage für die Erklärung des Seelenlebens zu suchen.«35 Der Dualismus ist für Lotze eine Konsequenz der »Nothwendigkeit, die Tatsache der Einheit des Bewußtseins anzuerkennen und die Einsicht in die Unmöglichkeit, diese Einheit aus der Wechselwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen […].«36 Es sei gerechtfer-

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Zu dem Argument, daß sich das denkende Subjekt nicht aus den Funktionen des Gehirns erklären läßt vgl. J. Frohschammer, Menschenseele und Physiologie, a. a. O, 158, F. Michelis, Der Materialismus als Köhlerglaube, a. a. O., 37, A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, Luzern 1864, 90, F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 130 ff. 30 I. H. Fichte, Die Seelenlehre des Materialismus, a. a. O., 170. 31 Ebd., 177. 32 Ebd., 176 f. 33 Ebd., 169. 34 Zur Kritik des Dualismus vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 165 ff. 35 H. Lotze, Mikrokosmos, a. a. O., 165. 36 Ebd., 186.

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tigt, »für die beiden abweichenden Gruppen von Erscheinungen verschiedene Erklärungsgründe zu suchen, aber wir haben darum nicht das Recht, diese Gründe an verschiedene Gattungen von Wesen zu vertheilen.«37 Die Einheit eines Bewußtseins könne zwar nicht aus der Wechselwirkung des Mannigfachen resultieren, aber die Einheit des Mannigfachen lasse sich denken, »wenn sie auf die Einheit eines Wesens, als dessen Zustände, übertragen werden.«38 Es ist demnach das Bewußtsein, das als Tätigkeit eines unteilbaren Wesens »die Durchdringung des Mannigfachen zu einer Einheit möglich mache.«39 Das Bewußtsein ist folglich nicht das Produkt eines Stoffwechselproduktes, sondern das Bewußtsein ist die Bedingung der Möglichkeit einer Einheit in der Natur. Auch J. Frauenstädt kommt zu dem Resultat, »daß also der Geist, den der Materialismus aus der objektiven Natur ableitet, vielmehr selbst Grundbedingung derselben ist, der Geist also nicht die Materie, sondern die Materie den Geist zur Voraussetzung hat.«40 Wenn das Bewußtsein sich als die Voraussetzung der Materie erweisen läßt und der Materialismus keine hinreichende Erklärung des Bewußtseins ermöglicht, so droht dem Materialismus seine Aufhebung.41

II. Die immanente Kritik am Materialismus Die theoretischen Voraussetzungen machen sich vornehmlich die Kritiker zum Gegenstand, die sich weniger daran stören, daß dem Stoff geistige Kräfte zugeschrieben werden, als vielmehr daran, daß der Materialismus »unerklärt läßt, wodurch diese eigenthümliche Combination des Stoffs, die ihm die Fähigkeit zu empfinden und zu denken gibt, zu Stande kommt.«42 Der Materialismus hat sein Fundament in der Voraussetzung, daß die sinn37

Ebd., 167. Ebd., 180. 39 Ebd., 180. 40 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O, 57. 41 F. Michelis sieht in der Mangelhaftigkeit der materialistischen Erklärung des Bewußtseins die Widerlegung des Materialismus durch seine eigene Voraussetzung angelegt. Der naturwissenschaftliche Materialismus beruft sich auf die exakten Naturwissenschaften, deren oberster Grundsatz die Anerkennung der Tatsache der Beobachtung sei. Eine unbestreitbare Tatsache sei die des Bewußtseins. Auf eben dieser Tatsache beruhe alle Wissenschaft. »Alle Naturforschung muß als absolute Bedingung ihrer Existenz anerkennen das Bewußtsein als Thatsache. Der Materialismus beruht theilweise von ihm selbst anerkannter maßen auf einer rein willkürlichen und hypothetischen Erklärung des Bewusstseins. Der Materialismus besteht also im Widerspruche mit dem obersten Grundsatze der exacten Naturwissenschaft […].« (F. Michelis, Der Materialismus als Köhlerglaube, a. a. O., 38 f.). 42 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 167. 38

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liche Erfahrung die Quelle aller Erkenntnis sei und in der Annahme, daß die Materie der Grund aller Dinge sei. So ist ihm die Sinnlichkeit der einzig mögliche Erkenntnisgrund und die Materie der einzig mögliche Existenzgrund aller Gegenstände. Diese beiden Voraussetzungen des Materialismus sind der vornehmliche Gegenstand der philosophischen Kritik. Mit der Bloßstellung auch nur einer der beiden Annahmen ist der Materialismus in seinen Grundfesten erschüttert. Während die Kritik der ersten Voraussetzung auf eine Kritik des Sensualismus hinausläuft, impliziert die Kritik der zweiten Voraussetzung eine Kritik des Atomismus.

Die Kritik des Sensualismus »Es ist in unserem Verstande nichts, was nicht eingegangen wäre durch das Thor der Sinne. – Der denkende Mensch ist die Summe seiner Sinne.«43

Die »Grundvoraussetzung des Materialismus«44 ist, K. Ph. Fischer zufolge, die schon von L. Feuerbach45 ausgedrückte Annahme, daß allein das Objekt der Sinneswahrnehmung das Wirkliche sei. Der Materialismus widerlege sich selbst, weil seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen erstens unbegründet seien, und zweitens »der Idee der Wissenschaft so entschieden widersprechen […].«46 Bleibt die Behauptung der Sinneswahrnehmung als einzig möglicher Erkenntnisgrund unbegründet, so ist der wissenschaftliche Materialismus selbst dogmatisch. Erweist sich der Materialismus als »gefesselt an das Dogma, daß die Sinneswahrnehmung die alleinige Wahrheit sei«47, so ist er keine Wissenschaft, sondern eine Glaubenslehre. So beweise der Materialist »durch seine Befangenheit im alleinigen Glauben und Wissen des Sinnlichen, daß er nur mit subjektiver, individueller, nicht aber mit objektiver wissenschaftlicher Nothwendigkeit alles Uebersinnliche für Schein und Wahn hält.«48 In diesem Sinne ist der Materialismus, wie F. Michelis schreibt »seiner innersten Natur und seinem innersten Wesen nach als Köhlerglaube im eminenten Sinn anzusehen […].«49 Die materialistische Wissenschaft gerate mit sich selbst in Widerspruch, wenn »Alles auf die äußere sinnliche Erfahrung abgestellt wird und nur das als 43

J. Moleschott, zit. n. L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 446. K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus, a. a. O., 1. 45 Vgl. L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Ders., Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, hrsg. von W. Jaeschke / W. Schuffenhauer, Hamburg 1996, 75: »Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch.« 46 K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus, a. a. O., 15. 47 F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 15. 48 K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus, a. a. O., 3. 49 F. Michelis, Der Materialismus als Köhlerglaube, a. a. O., 19. 44

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wirklich angenommen wird, was Gegenstand der sinnlichen Erfahrung ist […]. Die Wahrheit selbst ist gewiß kein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung; ebenso wenig ist es das Gesetz und die Ordnung.«50 Als Wissenschaft beansprucht der Materialismus die Wahrheit seiner Theorie51 und die objektive Geltung der Naturgesetze. So betrachtet der Materialismus auch sich selbst nicht als »einen vorübergehenden Gehirnzustand«52, sondern als eine objektiv gültige Theorie. Die objektive Geltung wissenschaftlicher Aussagen läßt sich jedoch weder ausschließlich durch die sinnliche Erfahrung begründen noch auf physiologische Prozesse zurückführen.53 Der kardinale Fehler des Materialismus beruht für F. Michelis auf der »Verwechslung des Begriffes der sinnlichen Realität mit dem Begriffe der Realität überhaupt […].«54 Dem sensualistischen Standpunkt des Materialismus, daß alle Erkenntnis allein durch das »Tor der Sinne«55 möglich sei, entgegnet J. Frauenstädt, »daß die Sinne nur Vermittler, nicht Erzeuger der Ideen sind […].«56 Die materielle Bedingtheit der Erkenntnis wird dem Materialismus ebenso wie die materielle Bedingtheit der Existenz zur einzigen Ursache.57 »Thun es die Sinne allein nicht, sondern sind sie nur Vermittler der geistigen Thätigkeiten, so kann auch der Mensch nicht mehr Alles nur von Außen, durch das Thor der Sinne, empfangen, sondern was diese ihm liefern, ist nur der rohe Stoff, den er selbst mittels seiner angeborenen Anlagen oder 50

A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, a. a. O., 142. Eine weitere Konsequenz dieses Anspruchs zeigt J. Frohschammer auf: »Ist der Materialismus richtig, dann ist er auch naturnothwendig, und einen Gegner desselben kann es der Natur der Sache nach gar nicht geben. Schon die Möglichkeit eines Streites über die Sache gibt demnach Zeugnis von der Unwahrheit des Materialismus; denn um sie zu erklären, müssen wir den menschlichen Geist als etwas über die Nothwendigkeitsgesetze des blos materiellen Stoffes Erhabenes betrachten.« (J. Frohschammer, Menschenseele und Physiologie, a. a. O., 144). 52 J. Schaller, Leib und Seele. Zur Aufklärung über ›Köhlerglauben und Wissenschaft‹, Weimar 1855, 63. 53 Vgl. K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus, a. a. O., 41 f: »nach welchem Gesetz und mit welchem Rechte, können sie, die mit Feuerbach ihren Geist selbst nur als Thätigkeit ihres Hirns hielten, ihre Hirnproducte als wissenschaftliche Momente oder Bestimmungen eines eben so freien selbsttätigen, wie nothwendig gesetzmäßigen Denkens beweisen, durch welches der seiner selbst bewußte und mächtige Geist das System der objectiven Wahrheit entwickelt und demonstrirt!« 54 F. Michelis, Der Materialismus als Köhlerglaube, a. a. O., 10. 55 J. Moleschott, zit. n. L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 446. 56 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 73 f. 57 Vgl. ebd., 195: »Wie der Materialismus überall die Bedingungen höherer Existenz mit ihrer Quelle verwechselt, so auch hier in Hinsicht der angeborenen Ideen. Weil das Apriorische sich nicht ohne das Aposteriorische entwickeln kann, darum schließt er, daß es überhaupt nichts Apriorisches im Geiste gibt, sondern Alles a posteriori, von außen in denselben hineinkommt – ein Schluß, der dem gleicht: Weil wir nicht leben können ohne zu essen, darum kommt das Leben durch die Speise zu uns.« 51

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Functionen erst zu einer Gedankenwelt zu verarbeiten hat.«58 Auch hier übersieht der Materialismus über dem Stoff das einigende Prinzip, die Form. Selbst der Materialismus bedarf apriorischer Anschauungs- und Denkformen, um die äußeren Sinneseindrücke zu ordnen.59 Auf diese Weise verkehrt sich das »nihil est in ratione, quod non fuerit in sensu«60 in sein Gegenteil. »Die Sinne haben den Materialisten nicht gesagt, daß die Welt nur ein Product der dem Stoff inwohnenden Kräfte ist; denn der Begriff der Kraft ist kein Sinnesproduct. Die Kraft ist etwas Immaterielles. Kräfte gibt es nur für den mittels seiner angeborenen Function die sinnlich wahrgenommenen Veränderungen auf Ursachen zurückführenden Verstand. Der consequente Sensualismus müßte daher auch, indem es sein Princip ist, bei Erklärung der Dinge alles Uebersinnliche auszuschließen, die Kräfte leugnen […]. Die Annahme von Kräften widerlegt also schon die sensualistische Ableitung aller Erkenntnis aus den Sinnen.«61

Die Notwendigkeit nichtempirischer Begriffe hat ihren Grund darin, »daß Empfindung sich nicht wieder an Empfindung ordnen könne.«62 Dem strengen Sensualismus ist eine objektive Ordnung der Sinnesdaten, die über die individuelle Sinneswahrnehmungsfolge63 hinausginge, nicht möglich. Nicht die Sinneswahrnehmung bestimmt die Ordnung der Gegenstände der Erfahrung, sondern die Organisation der Sinneswahrnehmung bestimmt die Wahrnehmung. So bezieht sich auch F. A. Lange auf die Physiologie der Sinneswahrnehmung als das entscheidende Argument gegen den Materialismus. »Der einzige Weg, welcher sicher über die Einseitigkeiten des Materialismus hinausführt, geht mitten durch seine Konsequenzen hindurch.«64 Selbst unter der Annahme eines physischen Mechanismus, der die Schlüsse des Verstandes und der Sinne hervorbringe, sei damit noch nicht beantwortet, was der Stoff, das Physische denn sei.

58

Ebd., 174. Vgl. J. Frohschammer, Menschenseele und Physiologie, a. a. O., 131: »Es fragt sich nämlich, ob es nicht sinnlich wahrnehmbare Thatsachen gibt, die als Wirkungen zurückweisen auf eine entsprechende Ursache, welche nicht mehr unmittelbar mit den Sinnen wahrgenommen, sondern nur im Räsonnement ergriffen und festgehalten werden kann.« 60 J. Moleschott, zit. n. L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 446. 61 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 178 f. 62 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 15. 63 »Durch diese [die Sinne; M. G.] nimmt er nur die Aufeinanderfolge und das Nebeneinandersein der Dinge wahr; und erst sein von dem Verfasser sogenannter »sinnlicher Verstand« ist es, der sie durch den Gedanken des Grundes und der Folge oder der Ursache und Wirkung in der von ihm bestimmten Weise aufeinander bezieht.« (K. Ph. Fischer, Die Unwahrheit des Sensualismus und Materialismus, a. a. O., 25). 64 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 168 f. 59

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»Und die heutige Physiologie muß uns so gut wie die Philosophie, auf diese Fragen antworten, daß dies alles nur unsere Vorstellungen sind; notwendige Vorstellungen, nach Naturgesetzen erfolgende Vorstellungen, aber immerhin nicht die Dinge selbst.«65

Das Bewußtsein ist die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des Physischen, nicht aber der Effekt der Einheit des Organismus. Und so ist der Stoff, das Physische für uns nur als Vorstellung. »Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt dadurch sofort um in eine konsequent idealistische.«66 Für F. A. Lange ist der Dualismus von geistiger und physischer Natur obsolet. Es sei unstrittig, »wenn wir für alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen […].«67 Daß alle möglichen Erscheinungen physische Bedingungen zu ihrer Voraussetzung haben, bedeutet aber gerade nicht, daß sie durchgängig aus physischen Ursachen zu erklären sind. Es sei ebenso unstrittig, »wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir sie auffassen, als bloße Bild des wahrhaft Vorhandenen betrachten.«68 Auch wenn die Sinneswahrnehmung physiologisch erklärt werde, das Gesichtsbild als Resultat der Funktionen von Auge, Sehnerv und Hirn erklärt werde, so sei stets zu bedenken, daß alle entdeckten oder zu entdeckenden Ursachen des Denkens nur Vorstellungen sind. Für F. A. Lange ist dementsprechend der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet. Für den Materialismus bleibe es stets eine »unüberwindliche Klippe«69 zu erklären, »wie aus stofflicher Bewegung eine bewusste Empfindung werden könnte […].«70 Dagegen sei es nur stringent, »zu denken, daß unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist.«71 Daß die Materie bloße Vorstellung sei, wird auch ein Sensualist zugeben können. Das, was in der Sinneswahrnehmung gegeben ist, ist Empfindung, aber kein Stoff. Der wahre Materialist versucht hingegen, den Geist auf die Materie zurückzuführen. Da diese Erklärung des Geistes aus der Materie aus dem Sensualismus allein nicht folgt, stützt sich der Materialismus zudem auf den Atomismus.72

65 66 67 68 69 70 71 72

Ebd., 169. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 170. Ebd., Vgl. H. Lotze, Mikrokosmos, a. a. O., 64 f. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 170. Vgl. ebd., 51.

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Die Kritik des Atomismus Da der »echte« Materialismus Sensualismus und Atomismus in sich vereinige, muß, wie F. Fabri schreibt, »jede wissenschaftliche Bestreitung des Sensualismus oder Materialismus […] daher nothwendig auf eine Widerlegung der Atomenlehre sich stützen […].«73 Wird »die Materie als Princip und Erklärungsgrund alles Bestehenden«74 bestimmt, so bedarf die Setzung dieses Prinzip selbst einer Begründung. Mit der Bestimmung der Materie als Grund alles anderen ist das Wesen der Materie selbst noch vollkommen unbestimmt.75 »Wenn also der Materialist fragt. Was ist Geist? So können wir ihm die Frage entgegenhalten: was ist Materie?«76 Auf der Grundlage des Sensualismus läßt sich die Materie weder bestimmen noch erkennen. Die Materie ist kein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung, so daß das Prinzip und der Erklärungsgrund alles Bestehenden selbst materialistisch nicht zu begründen ist. Wird die Materie als Existenzgrund aller möglichen Gegenstände behauptet, so ist ihre Existenz entweder durch einen unendlichen Regreß oder durch die metaphysische Voraussetzung ihres Daseins zu begründen. »Das Dasein dieser Urmaterie ist also nicht durch Wahrnehmung und Erfahrung bewiesen, sondern nur hypothetisch angenommen. Die Materie des Materialismus ist mithin Gegenstand eines bloßen Glaubens, die Stofflehre eine Glaubenslehre, ihr Inhalt ist philosophischer Dogmatismus, das Gegenteil eines kritischen Empirismus.«77

Das ganze Problem von Kraft und Stoff ist ein Problem der Erkenntnistheorie. Der Materialismus geht von einem naiven Realismus aus.78 Mit der Widerlegung des Realismus wäre der Materialismus selbst aufgehoben. Die materialistische Weltanschauung begreift die objektive Welt nicht als durch die Organisation und die Form der Erkenntnis bedingt, sondern als ein an sich und durch sich bestehendes Naturding. Kraft und Stoff, die beiden Prinzipien, auf die der Materialismus alles zurückführen möchte, sind jedoch keine Dinge an sich. »Kraft und Stoff sind Gedankendinge, Produkte des menschlichen Geistes.«79

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F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 74. A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, a. a. O., 34. 75 Vgl. H. Ulrici, Gott und die Natur, Leipzig 1862, 15. Vgl. A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, a. a. O., 34. 76 A. Tanner, Vorlesungen über den Materialismus, a. a. O., 34. 77 F. Schultze, Die Grundgedanken des Materialismus, a. a. O., 17. 78 Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 63: »Mit der realistischen Grundvoraussetzung des Materialismus, dass die objective, materielle Welt ein Ding an sich sei, stehen und fallen alle seine andern daran sich anknüpfenden Lehren und Behauptungen.« 79 Ebd., 44 f. 74

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Als bloße Gedankendinge sind sie aber keine subjektiven Erdichtungen oder willkürliche Annahmen. Vielmehr sind Kraft, Stoff und die Atome Voraussetzungen einer systematischen Naturerklärung. Die exakten Naturwissenschaften stützen sich auf die Beobachtung von Erscheinungen. Die Gesetzmäßigkeit aller Naturerscheinungen ist dabei auf nichts anderes zurückzuführen als auf spezifische Relationen. Als ein Subjekt dieser Relationen, als das Beharrliche im Wechsel der einzelnen Relata, wird die Materie vorgestellt. Ohne die Vorstellung eines Subjektes der Relation wäre die systematische Einheit der Relata nicht zu begründen. »Die Materie, als Substanz der Dinge gedacht, ist also ein notwendiger Gedanke.«80 Die hypothetische Einführung von objektiv vorgestellten Trägern dieser Relation ist, wie Lange betont, statthaft, »vorausgesetzt freilich, daß man aus diesen ›Realitäten‹ kein Dogma mache […].«81 Sowohl der Begriff der Kraft als auch der Begriff der Materie sind nichts anderes als der Ausdruck einer solchen Relation. Die Erklärung des Stoffes, der Materie, durch Zurückführung auf eine Vielzahl von im Raum beweglichen Atomen, ist ebenso als naturwissenschaftliche Erklärungshypothese statthaft, solange nicht ihr Dasein als den sinnlichen Dingen analog metaphysisch vorausgesetzt wird. Der Fehler des Materialismus besteht darin, daß er »den Stoff als das an sich bestehende Substrat der Kräfte«82 betrachtet und nicht als das, was er ist: eine Relation.83 Eine Konsequenz des materialistischen Monismus ist die »Aufhebung des Unterschieds der Gattungen, diese Zurückführung des ganzen Reichtums der Natur auf dieselben chemischen, nur verschieden combinirten und gruppirten Grundstoffe […].«84 Wie sich aus einer gewissen Anzahl von Atomen die Mannigfaltigkeit aller Naturerscheinungen erklären lasse, bleibe der Materialismus schuldig. Mit der »Voraussetzung der Wahrheit der absoluten Atomistik«85 könne weder die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, noch die Entwicklung und Entstehung der Erscheinungen erklärt werden oder der Grund des Zusammengehens der Atome begründet werden.86 Gegen die

80

Ebd., 64. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 91. 82 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 70. 83 Vgl. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, Leipzig 1859, 286: »Das unausweichbar Falsche des Materialismus besteht darin, daß er von einer petitio principii ausgeht, […] nämlich von der Annahme, daß die Materie ein schlechthin und unbedingt Gegebenes, nämlich unabhängig von der Erkenntnis des Subjekts Vorhandenes, also ein Ding an sich sei.« 84 J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 95. 85 F. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, a. a. O., 68. 86 Vgl. ebd., 82, vgl. J. B. Meyer, Zum Streit über Leib und Seele. Worte der Kritik, Hamburg 1856, 34 ff. 81

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Myriam Gerhard

Atomistik führt J. Frauenstädt Kants Vernunftgesetze der Homogenität, der Spezifikation und der Affinität an.87 Als regulative Ideen ermöglichen das »Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen«88, der »Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten«89 und »das Gesetz der Affinität aller Begriffe […], welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder andern durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet«90, die systematische Vernunfteinheit aller Naturerscheinungen. So wird auch an dieser Stelle deutlich, wie die philosophische Kritik am Materialismus ein Rückbesinnen auf die Argumente Kants mit sich bringt. Da weder der Materialismus noch der Spiritualismus ohne dogmatische Voraussetzungen zu begründen sei, scheint nur ein Weg offen zu sein: der kritische Weg. »Die Sache liegt im Grunde ganz einfach! Sie haben eine Pflanze vor sich; nun wählen Sie: wollen Sie sagen? Diese Rose entstand aus kleinsten Stofftheilchen nach gesetzmäßiger Wechselwirkung der diesen zukommenden Bewegungskräfte – aber wie die Stofftheilchen es anfangen, diese Rose aus ihrer Zusammenwirkung zu produciren, vermag ich nicht zu erklären, auch weiß ich nicht das Recht gerade meiner Voraussetzung zu beweisen; oder wollen Sie sagen? Diese Pflanze bildet sich, indem die bestimmte Idee ihrer Gestaltung bestimmten Stoff auf bestimmte Weise entwickelt, – wie aber diese Idee es anfängt, auf den Stoff oder im Stoff zu wirken, vermag ich nicht zu erklären, und ebenso wenig das Recht meiner Voraussetzung zu beweisen. – Nun wähle ein Jeder seine Weltanschauung, hier Stofftheilchen mit Druck und Stoß, dort Idee, man wähle; aber Niemand vergesse, daß er seine Wahl aus wissenschaftlichen Beweisgründen nie zu rechtfertigen vermag.«91

Es seien die unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen des Materialismus wie des Spiritualismus92, die eine Erneuerung des Kritizismus notwen-

87

Vgl. J. Frauenstädt, Der Materialismus, a. a. O., 101 ff. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von R. Schmidt, Hamburg 1990, B 685. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 J. B. Meyer, Zum Streit über Leib und Seele, a. a. O., 56. 92 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 420 f: »Also, wenn der Mater i ali s m zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist, so ist der Spir itualism zu derselben ebensowohl unzureichend, und die Schlußfolge ist, daß wir auf keine Art, welche es auch sei, von der Beschaffenheit unserer Seele, die die Möglichkeit ihrer abgesonderten Existenz überhaupt betrifft, irgend etwas erkennen können. Und wie sollte es auch möglich sein, durch die Einheit des Bewußtseins, die wir selbst nur dadurch kennen, daß wir sie zur Möglichkeit der Erfahrung unentbehrlich brauchen, über Erfahrung (unser Dasein im Leben) hinauszukommen, und sogar unsere Erkenntnis auf die Natur aller denkenden Wesen überhaupt durch den empirischen, aber in Ansehung aller Art der Anschauung unbestimmten, Satz, Ich denke, zu erweitern?« 88

Die philos. Kritik am naturwiss. Materialismus im 19. Jahrh.

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dig machten. Für J. B. Meyer ist darum die Einsicht in die Grenzen unseres Wissens »selbst schon eine positive Wahrheit […].«93 Durch die Kritik der reinen Vernunft allein könne, wie Kant schreibt, »dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, […], zuletzt auch dem Idealismus und Skeptizismus […] selbst die Wurzel abgeschnitten werden.«94 Seine Widerlegung des Materialismus führt Kant in einer kurzen Argumentation vor. Der Materialismus unterstellt das Dasein des Bewußtseins im Raume. Das Bewußtsein, die Apperzeption ist etwas Reales und aufgrund seiner Einheit als ein Einfaches zu begreifen. Weil im Raum aber nichts Einfaches, keine Atome existieren können, die als Teil des Raumes möglich wären,95 kann es im Raum kein Reales geben, das zugleich einfach wäre. »Also folgt daraus die Unmöglichkeit einer Erklärung meiner, als bloß denkenden Subjekts, Beschaffenheit aus Gründen des Materialismus.«96 Der rationalen Psychologie wirft Kant einen Paralogismus vor, der auf der Verwechslung von transzendentalem und empirischem Bewußtsein beruhe.97 Das Bewußtsein als Subjekt der Gedanken oder als Grund des Denkens ist eine bloß funktionale Einheit, die nicht mit der Kategorie der Substanz oder der Ursache verwechselt werden dürfe. Als Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis kann das Ich denke selbst nur zum Preis einer petitio principii zum Gegenstand der Erkenntnis werden. So ist das denkende Ich, die Seele kein Gegenstand möglicher Erfahrung. »Keine Erfahrung lehrt mich […], mein untheilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirnes zu versperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen […].«98

93

J. B. Meyer, Zum Streit über Leib und Seele, a. a. O., 130. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B XXXIV. 95 Im Raum läßt sich Unausgedehntes, Nicht-Räumliches nicht denken. 96 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 420. 97 Zur Kantischen Argumentation vgl. M. Gerhard, Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie, Berlin 2002, 75–103. 98 I. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, AA Bd. II, Berlin 1968, 324. 94

Gudrun Kühne-Bertram

Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Materialismusstreits in den Philosophien von Schülern F. A. Trendelenburgs

I. Die philosophische Virulenz des Materialismusstreits Im September 1854 kam es auf der in jenem Jahr in Göttingen stattfindenden Naturforscher-Versammlung in der ersten öffentlichen Sitzung zu einer heftigen und folgenreichen Kontroverse. Auslöser war ein Vortrag R. Wagners über Menschenschöpfung und Seelensubstanz, in dem der Physiologe gegen eine materialistische und anti-christliche Interpretation naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse polemisierte. Das Jahr 1854 markiert damit den Höhepunkt eines Streites zwischen Vertretern der weltanschaulich konträren Positionen des Materialismus auf der einen und des Idealismus auf der anderen Seite unter den Naturforschern, des sog. Materialismusstreits der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die damaligen Wortführer auf seiten der Materialisten, L. Büchner, J. Moleschott, C. Vogt sowie der Sensualist H. Czolbe, gewannen mit ihren viel gelesenen populären naturwissenschaftlichen Schriften großen Einfluß auf die deutsche Kultur der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. So äußert 1884 der Trendelenburg-Schüler und Positivist E. Laas, daß der materialistische Realismus zu dieser Zeit noch immer viel »verbreiteter als der spiritualistische (idealistische)«1 gewesen sei. An L. Büchners Kraft und Stoff beispielsweise, das 1883 in 15. Auflage erschien, habe noch in den achtziger Jahren, wie R. Falckenberg 1886 in seiner Philosophiegeschichte schreibt, »der Gymnasiast seine freigeisterischen Bedürfnisse«2 gestillt. Und selbst zwanzig Jahre später noch stellt der Philosophiehistoriker O. Gramzow fest, daß weiterhin und unvermindert »ein breiter Strom materialistischen Denkens durch die gebildeten Gesellschaftsschichten« ginge, was die »populäre philosophische und naturwissenschaftliche Literatur« beweise.3 Neben seiner bis ins frühe 20. Jahrhundert reichenden gesellschaftlichen

1

E. Laas, Idealismus und Positivismus. Eine kritische Auseinandersetzung. Dritter Theil: Idealistische und positivistische Erkenntnisstheorie, Berlin 1884, 53. 2 R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart. Im Grundriss dargestellt, Leipzig 1886, 448. 3 O. Gramzow, Geschichte der Philosophie seit Kant. Leben und Lehre der neueren Denker in gemeinverständlichen Einzeldarstellungen, Charlottenburg 1906, 607.

Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Materialismusstreits

143

Bedeutung besteht die philosophische »Virulenz des sog. Materialismusstreits«4 darin, daß er verschiedene Bemühungen und Versuche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auslöste, sowohl die alte idealistische Metaphysik als auch die neue naturalistische Metaphysik der Materialisten zu überwinden; und zwar zum einen zugunsten der Wissenschaftlichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und zum anderen zum Wohle des individuellen und gesellschaftlichen moralischen Handelns. Diese in theoretischer und in praktischer Hinsicht von Philosophen und von Naturwissenschaftlern angestrebte Widerlegung und Überwindung der beiden extremen Positionen des Idealismus und des Materialismus, die fruchtbare Vermittlung beider mit dem Ziel einer erkenntniskritischen und mit den Wissenschaften eng verquickten Philosophie im Sinne einer Theorie der Wissenschaften, die zudem auch Raum für nicht determiniertes und selbstbestimmtes moralisches Handeln läßt, wurde seit den 1850er Jahren zu einem der Hauptanliegen der deutschen Philosophie. Verschiedene Konzeptionen einer auf die Erkenntniskritik und auf die praktische Philosophie Kants in unterschiedlicher Weise Bezug nehmenden oder hieran anknüpfenden Bewegung wurden entwickelt, und neben neuen idealistischen und spätidealistischen Entwürfen bildeten sich sowohl positivistische als auch andere Richtungen und Schulen heraus. So kann auch die Entstehung neukantianischer Philosophien als der Versuch aufgefaßt werden, »den Materialismus erkenntnistheoretisch zu überwinden« und »so weit zurückzudrängen, daß noch Raum für religiöse Stimmung und soziale Ethik bleibt«.5 K. Chr. Köhnke weist in seinem Buch über die Entstehung und Entwicklung des Neukantianismus6 nach, daß diese »Bewegung«7 in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit durch eben diese »doppelte Frontstellung«8, nämlich einerseits gegen den Materialismus und andererseits gegen den deutschen Idealismus, zu charakterisieren ist und einen Versuch darstellt, beide in je bestimmter Weise zu vermitteln. Drei Phasen unterscheidet Köhnke innerhalb der neukantianischen Bewegung: erstens die Vorgeschichte des Neukantianismus bis 1848 mit den Wegbereitern E. Reinhold, F. E. Beneke, F. A. Trendelenburg und den spekulativen 4

H.-L. Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979, 1. W. Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende, Bd. III: Höhe und Niedergang des Idealismus (1925), Hildesheim 1967, 277. 6 K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt / M. 1986. 7 Köhnke betont zu Recht, daß aufgrund der »Heterogenität« von »Kantianismen« und wegen der »Schwierigkeit der Abgrenzung des Kreises der Neukantianer« hier nicht von einer »Schule oder Richtung« gesprochen werden darf; vielmehr habe der Neukantianismus den »Charakter einer Bewegung« (ebd., 316 ff.). 8 Ebd., 132. 5

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Theisten, wie I. H. Fichte, Chr. H. Weiße und H. M. Chalybäus; zweitens die Entwicklung von Konzeptionen in den Jahren zwischen 1849 und 1865, die den Idealismus mit dem Materialismus beziehungsweise dem neuen naturwissenschaftlichen Denken zu vermitteln trachteten, und drittens die Ausbreitungsphase des Neukantianismus seit 1865, welcher dann in den achtziger Jahren diejenige Gestalt gewann, »in der er bis heute überliefert wird«.9 Die Entstehung der zweiten Phase, nämlich die der direkten Vorläuferschaft des Neukantianismus im engeren Sinne, welcher in den siebziger Jahren einsetzt, erklärt Köhnke zum einen mit der nachmärzlichen Situation in Deutschland und zum anderen eben mit dem Materialismusstreit der fünfziger Jahre: »Den ersten Einschnitt bildet das Jahr 1848 – auch in philosophiegeschichtlicher Hinsicht! –, insbesondere eben, weil es im Nachmärz zu einem Verbot jeglicher freier philosophisch-weltanschaulicher Diskussion kommt. Den zweiten Einschnitt aber bildet der Materialismusstreit der Jahre nach 1854, weil die angehenden Philosophen nunmehr genötigt werden, entweder im Sinne der staatstragenden Ideologien zur sog. ›christlichen Weltanschauung‹ zurückzufinden oder aber sich für ein mechanistisches Weltbild mit allen materialistischen Konsequenzen zu entscheiden.«10 Ausgehend von dieser These, daß es der Materialismusstreit der fünfziger Jahre war, der das Denken und die Konzeptionen junger Philosophen in Richtung auf ein »›Weder-Noch‹ oder ein ›Sowohl-als-Auch‹«11, d. h. auf Ablehnungs- oder Vermittlungsversuche von Idealismus und Materialismus bestimmt hat, soll in der vorliegenden Arbeit an einigen Beispielen untersucht werden, ob der Materialismusstreit in den Schriften von Philosophen, insbesondere von solchen, die üblicherweise der neukantianischen Bewegung zugerechnet werden, thematisiert wird, ob und wie man sich mit seinen Wortführern auseinandersetzt und wie sie beurteilt werden. Zudem wird sich in diesem Zusammenhang auch zeigen, ob »die Zeit des Materialismusstreites (1850er Jahre) und der neukantianischen Widerlegungen des Materialismus […] spätestens seit der zweiten Ausgabe von Langes ›Geschichte des Materialismus‹ (1873–75) vorbei«12 war.

9

Ebd., 17. Ebd., 150. 11 Ebd. 12 K. Chr. Köhnke, Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt / M. 1996, 97. 10

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II. F. A. Trendelenburgs Idealrealismus als Wegbereiter der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Da zum einen die Neukantianer keine klar abgrenzbare Gruppe bilden, sondern der Neukantianismus vielmehr eine nach verschiedenen Seiten hin offene Bewegung darstellt, und weil zum anderen F. A. Trendelenburg, wie bereits erwähnt, als ein bedeutsamer Wegbereiter dieser neukantianischen Bewegung und damit der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt,13 sollen nachfolgend Werke einiger seiner Schüler untersucht werden. Deren Bezugnahmen auf den Materialismusstreit und den Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts sowie auf die damit verbundenen Schriften der Materialisten Büchner, Moleschott, Vogt sowie des Sensualisten Czolbe sollen erfragt werden. Damit will der vorliegende Aufsatz einen Beitrag zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Materialismusstreits leisten, zugleich aber auch die nachhaltige Wirksamkeit F. A. Trendelenburgs als akademischem Lehrer und einen Aspekt der Wirkungsgeschichte seiner Philosophie dokumentieren. Trendelenburg bezeichnet es in seinen Logischen Untersuchungen als die Aufgabe der Philosophie, in permanenter Wechselwirkung mit den Einzelwissenschaften zu stehen. Philosophische und empirische Methode sollen sich ergänzen. Die so als eine Theorie der Wissenschaften verstandene Philosophie gibt den Einzelwissenschaften zum einen die Prinzipien, und zum anderen verbindet sie die empirischen, immer ergänzungsbedürftigen Erkenntnisse der einzelnen Wissenschaften zu einem sinnvollen Ganzen.14 Trendelenburg versucht damit, eine Brücke zwischen Idealismus und Realismus zu schlagen. »Das Hochziel aller Philosophie war ihm«, so schreibt sein Schüler und Interpret P. Petersen, »die Versöhnung des Gedankens mit der Empirie zu erreichen«, und er sei »gelegentlich zu Schlüssen gelangt, die ihn einer Richtung des Neukantianismus und ihres Idealrealismus nähern«.15 Mit Trendelenburgs Logischen Untersuchungen, so urteilt Köhnke, beginnt »in Deutschland die Geschichte der modernen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Bewegung, die im Neukantianismus ihren ersten Höhepunkt«16 findet. Und weiterhin – dies läßt sich ergänzen – führen sie auch aufgrund des in ihnen vertrete-

13

M. Pascher bezeichnet Trendelenburg als den »wichtigsten Vermittler zwischen Kant und dem Neukantianismus«, in: Ders., Einführung in den Neukantianismus. Kontext – Grundpositionen – Praktische Philosophie, München 1997, 28. 14 Vgl. F. A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen (1840), Leipzig 1862, Bd. I, 310. 15 P. Petersen, Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs. Ein Beitrag zur Geschichte des Aristoteles im 19. Jahrhundert, Hamburg 1913, 192 und 205. 16 K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 23.

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nen erkenntnistheoretischen Realismus zum Positivismus hin. So ist Trendelenburgs Philosophie der Vermittlung idealistischer und realistischer Positionen, wie sie später auch, aber auch nicht nur, für neukantianische Philosophien charakteristisch ist, initiierend für die Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Obwohl sich der Neukantianismus in der Ära Trendelenburg, die von 1834 bis 1872 dauerte, an der Berliner Universität selbst nicht entfaltete und diese Universität niemals zu einer »Hochburg des Neukantianismus«17 wurde, so zeigt sich doch die zentrale Bedeutung Trendelenburgs für die Entwicklung dieser philosophischen Bewegung daran, daß einige seiner Schüler, wie z. B. J. B. Meyer, der neben Helmholtz »an den Anfang der ganzen neukantianischen Bewegung gestellt zu werden« verdient,18 oder auch K. Fischer, F. Ueberweg und C. Prantl, zu den Wegbereitern des späteren Neukantianismus zu zählen sind, sowie auch daran, daß einige der führenden neukantianischen Denker, wie beispielsweise H. Cohen und F. Paulsen, seine Schüler waren; ebenso auch W. Dilthey und R. Eucken, die, wenn sie auch nicht zum Kreis der Neukantianer im engeren Sinne zu rechnen sind, so doch der neukantianischen Bewegung sehr nahe waren. Nicht alle neukantianischen oder dieser Bewegung nahestehenden Schüler Trendelenburgs befaßten sich in ihren Schriften mit dem Materialismusstreit der 1850er Jahre und seinen Akteuren. Doch sowohl die bereits genannten Philosophen F. Ueberweg, F. Paulsen, R. Eucken und W. Dilthey, als auch die Trendelenburg-Schüler J. Bergmann, E. Dühring und G. Teichmüller haben in unterschiedlicher Weise in ihren Schriften auf den Materialismusstreit der 1850er Jahre Bezug genommen; unterschiedlich sowohl hinsichtlich des Ausmaßes und der Häufigkeit diesbezüglicher Erwähnungen und Erörterungen als auch im Blick auf die Inhalte der Bezugnahmen und die Arten der Stellungnahmen, wie z. B. die Direktheit in der Thematisierung und Namensnennung, des Modus der Argumentation und des Grades der Polemik.19 Deren Verhältnis und Äußerungen zu Personen, Themen und Problemen des Materialismusstreits sollen nachfolgend vorgestellt werden.

17

V. Gerhardt / R. Mehring / J. Rindert (Hg.), Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Mit einem Ausblick auf die Gegenwart der Humboldt-Universität, Berlin 1999, 95; vgl. auch 15. 18 K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 159 f. 19 Der Trendelenburg-Schüler und erste Neukantianer J. B. Meyer, der sich in seinen Zeitschriften-Aufsätzen und Büchern intensiv mit dem Materialismusstreit der fünfziger Jahre auseinandergesetzt hat, bleibt in der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert, da ihm in diesem Band ein eigener Beitrag gewidmet sein sollte.

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III. Schüler Trendelenburgs in ihrem Verhältnis zum Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts 1. Friedrich Ueberweg (1826–1871) Nach einigen Semestern Philologie studierte Ueberweg in Göttingen, vor allem bei R. H. Lotze, Philosophie und setzte ab 1846 sein Studium in Berlin fort. Hier wurde Trendelenburg sein Lehrer. Nach seiner Promotion 1850 in Halle, seiner Habilitation in Bonn 1852 und einigen sich hieran anschließenden Jahren der Lehrtätigkeit erhielt Ueberweg 1862 in Königsberg eine außerordentliche und 1868 eine ordentliche Professur für Philosophie. Während seiner Bonner Privatdozenten-Zeit stand er in engem Kontakt mit F. A. Lange, der sich gleichzeitig in Bonn habilitiert hatte. In Königsberg dann verkehrte Ueberweg freundschaftlich mit H. Czolbe. Für Ueberweg hatte, so schreibt sein Biograph M. Brasch 1889, »der fast tägliche persönliche und wissenschaftliche Verkehr mit Czolbe die bedeutsame Wirkung, dass er in den letzten Jahren den sensualistisch-mechanischen Prinzipien dieses Naturphilosophen, dem er von Herzen ergeben war, sich mehr und mehr zuneigte.«20 Th. Ziegler behauptet gar, Ueberweg sei »unter Czolbes Einwirkung […] zur materialistischen Weltanschauung« übergetreten, was er »bis zu seinem Tode verborgen« habe und wozu er sich »nur in vertrauten Gesprächen« bekannt habe.21 W. Dilthey charakterisiert Ueberwegs Denken dahingehend, daß dieser sich »einem an Spinoza angeschlossenen Naturalismus«22 zugeneigt habe. Ähnlich äußert sich auch F. A. Lange: »Dass Ueberwegs ›Idealismus‹ […] einem konsequenten Naturalismus sehr nahe stehen musste, ergiebt sich auf den ersten Blick«;23 und daß er »überhaupt eine Weltseele annahm, würde sein System noch keineswegs vom Materialismus unterschieden haben […].«24 Doch Lan20

M. Brasch, Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich Ueberwegs in seinen gesammelten philosophisch-kritischen Abhandlungen. Nebst einer biographisch-historischen Einleitung, Leipzig 1889, XXXII. – Zum engen persönlichen Verhältnis zwischen Ueberweg und Czolbe siehe auch W. Dilthey, Zum Andenken an Friedrich Überweg, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. XV: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert, hrsg. von U. Herrmann, Göttingen 1970, 150–160, hier 155 und 159. 21 Th. Ziegler, Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts (1899), Berlin 1901, 359. 22 W. Dilthey, Zum Andenken an Friedrich Überweg, a. a. O., 159. 23 Zitiert in M. Brasch, Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich Überwegs, a. a. O., XXXIV. 24 F. A. Lange, zitiert in ebd., XXXV.

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ge artikuliert auch klar die Ambivalenz im Denken Ueberwegs zwischen »teleologischem« und »naturalistischem« oder kausalem Prinzip, und er markiert damit auch dessen Distanz zum Materialismus: »Hier lag nun aber die Schwierigkeit: Wie verhält sich Teleologie zu Kausalität? Ein Mann von Ueberwegs Scharfsinn und Gewissenhaftigkeit vermochte sich nicht mit der eleganten Grazie eines Trendelenburg über diesen fatalen Punkt hinwegzusetzen […].«25 Einerseits habe Ueberweg »auf jede Erweiterung unserer Erkenntnis nach Kausalbegriffen« großen Wert gelegt, andererseits aber habe er doch »zäh« an seiner Teleologie festgehalten.26 Diese Aussage Langes bestätigt sich beispielsweise an Ueberwegs Kritik der von ihm zitierten Behauptung J. Moleschotts: »Alle Vorstellungen einer Lebenskraft lassen sich auf die tiefwurzelnde Neigung der Menschen zurückführen, sich eine Reihe von Erscheinungen, deren Zusammenhang ihnen dunkel blieb, in der Gestalt einer Persönlichkeit vorzustellen«, auf die Ueberweg mit dem Einwand antwortet, daß hier eine falsche Vorstellung von ›Lebenskraft‹ vorliege: »Unverkennbar sind die Organismen durch den Gedanken [Hervorhebung von K.-B.] beherrscht und gestaltet, der, in den organisierenden Kräften sich offenbarend, die mechanischen Kräfte in den Dienst des Zweckes stellt.«27 Und der »materialistische Versuch einer Reduzierung aller Kräfte auf blosse Kombinationsformen von Bewegungen« scheitere bereits »an der Thatsache der Existenz des Bewusstseins«.28 Ueberweg selbst bezeichnet seine philosophische Anschauung als »Idealrealismus«, d. h. als einen Idealismus, der einerseits den Realismus »als fundamentales Moment« in sich aufnimmt und der sich andererseits von einem »ideenlosen Realismus, der zum exclusiven Naturalismus und Materialismus fortgeht«, unterscheidet.29 Sein Idealrealismus weise »nicht (mit Hegel) die physikalische Betrachtung ab, und nicht (mit dem Materialismus) die Teleologie […].«30 In der kurz noch vor seinem Tod von ihm selbst überarbeiteten dritten Auflage des Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit, die 1872 erschien, schreibt Ueberweg im § 28 über den damaligen Zustand der Philosophie in Deutschland: »Am meisten Aufsehen hat während der letzten Jahre der noch 25

F. A. Lange, zitiert in ebd., XXXVI. F. A. Lange, zitiert in ebd., XXXVIII. 27 F. Ueberweg, Zur logischen Theorie der Wahrnehmung und der zunächst an die Wahrnehmung geknüpften Erkenntnisweisen, in: M. Brasch, Die Welt- und Lebensanschauung Friedrich Ueberwegs, a. a. O., 25–56, hier 49 f. 28 Ebd., 50. 29 F. Ueberweg, Ueber Idealismus, Realismus und Idealrealismus, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 34 (1859), 63–80, hier 77. 30 Ebd., 78. 26

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gegenwärtig fortgehende Materialismus-Streit erregt.«31 Wertneutral heißt es: »Den Materialismus vertreten Vogt, Moleschott, Büchner, den Sensualismus Czolbe und Andere.«32 Seine eigene Intention auf eine Vermittlung von philosophischer und naturwissenschaftlicher Forschung führt Ueberweg auf Trendelenburgs Philosophie als Wissenschaftslehre zurück: »Inmitten des Kampfes der philosophischen Parteirichtungen liegt für die philosophische Erkenntniss eine gemeinsame Basis theils in der Geschichte der Philosophie, […] theils auch in den zu der Philosophie in nächster Beziehung stehenden Resultaten der positiven Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften. Der Rückgang auf diese gemeinsamen Ausgangspunkte philosophischer Forschung, die Kritik einseitiger Doctrinen und die unternommene Reconstruction der Philosophie auf gesichertem Grunde […] ist das wesentliche Verdienst des Aristotelikers Adolf Trendelenburg […].«33

2. Gustav Teichmüller (1832–1888) Wenn Teichmüller auch nicht als Neukantianer zu bezeichnen ist, so sollte doch die Materialismus-Kritik dieses ziemlich vergessenen Trendelenburg-Schülers, der nachweislich einen nicht unwesentlichen Einfluß auf Nietzsches Philosophie hatte,34 in einer Wirkungsgeschichte des Materialismusstreits der 1850er Jahre nicht fehlen. 1852 nahm Teichmüller sein Studium der Philologie und Philosophie in Berlin auf. Hier schloß er im Herbst 1853 enge Freundschaft mit W. Dilthey, der gerade zur Fortsetzung seines Studiums von Heidelberg nach Berlin gekommen war. Gemeinsam hörten beide die Vorlesungen Trendelenburgs und nahmen an seinen Seminarübungen sowie an Abendgesellschaften in dessen Hause teil. Beide griffen die Weltanschauungstypologie ihres Lehrers auf und entwickelten sie unterschiedlich weiter.35 Nach seiner Promotion 1856 in Halle 31

F. Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie. Dritter Theil: Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart. Dritte, verbesserte und ergänzte, mit einem Philosophen- und LitteratorenRegister versehene Auflage, Berlin 1872, 349. 32 Ebd., 329. 33 Ebd., 347. 34 Vgl. hierzu H. Nohl, Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 149 (1913), 106–115. 35 Zum Verhältnis von Dilthey und Teichmüller vgl.: Jugendfreundschaft Teichmüllers und Diltheys. Briefe und Tagebücher [ohne Verfasser-Angabe], in: Archiv für spiritualistische Philosophie und ihre Geschichte, 1. Band, Amsterdam und Leipzig 1939, 385–412.

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war Teichmüller anschließend drei Jahre lang als Hauslehrer bei einem preußischen Gesandten in Petersburg tätig. Seine Habilitation erfolgte 1860 an der Universität Göttingen. 1867 wurde er hier zum Extraordinarius ernannt. Ein Jahr später erging an ihn, auf R. H. Lotzes Empfehlung hin, mit dem er in den Jahren seiner Göttinger Lehrtätigkeit befreundet war,36 ein Ruf nach Basel. Kurz darauf, 1871, folgte Teichmüller einem Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Dorpat. Neben seinen aristotelischen Forschungen und Arbeiten zur Begriffsgeschichte hat Teichmüller im Jahre 1874 eine bewußt allgemeinverständlich geschriebene Schrift mit dem Titel Ueber die Unsterblichkeit der Seele veröffentlicht, in der er sich mit den Antworten verschiedener weltanschaulicher Richtungen auf die großen Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschenlebens und dem Problem der Seele auseinandersetzt. Zunächst unterscheidet Teichmüller zwei »Vorstufen« von Weltansichten, und zwar den »naiven Materialismus« und den »naiven Dualismus«, die »obwohl auch heute noch von Vielen getheilt, doch dem Anfange der menschlichen Cultur« angehören.37 Aus diesem Gegensatz seien dann im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die drei Weltanschauungen des »Idealismus«, des »Materialismus« und des »Spinozismus« hervorgegangen.38 Keiner dieser drei Weltanschauungstypen ist für Teichmüller akzeptabel, da sie alle letztlich auf der seiner Meinung nach falschen Vorstellung vom prinzipiellen Gegensatz des Ideellen und des Materiellen basieren. Deshalb strebt er eine neue vierte Weltanschauung an, die nicht »auf dem falschen Gegensatz beruht, in den nach dem Materialismus und Idealismus das Materielle und Ideelle gesetzt werden […].«39 Mit dem Begriff des »naiven Materialismus« bezeichnet Teichmüller die Ineinssetzung von Ideellem und Materiellen, mit dem einfachen Begriff Materialismus dagegen die Ableitung des »Idealen aus dem Materiellen«.40 Den Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts nennt Teichmüller ironisch einen »aufgeklärten Materialismus«.41 Während in früherer Zeit die Seele durch das Feuer veranschaulicht worden sei, so etwa bei Heraklit, so sei nun aus dem Feuer ein »Verbrennungsproceß« gemacht worden. »Denn da sich in 36

W. Szylkarski, Gustav Teichmüller. Der Neubegründer der deutschen Philosophie des tätigen Geistes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. VIII (1954), 595–604, hier 600. 37 G. Teichmüller, Ueber die Unsterblichkeit der Seele, Leipzig 1874, 22. 38 Zur Anknüpfung Teichmüllers an die Weltanschauungstypologie Trendelenburgs vgl. ebd., 203 (Anm. zu Seite 36). 39 Ebd., 179. 40 Ebd., 25. 41 Ebd., 29.

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unserem Leibe alles um die Aufnahme des Sauerstoffs, also um Oxydation zu drehen scheint […], so muß das Leben selbst und nicht minder das Seelenleben ein Verbrennungsproceß sein.«42 Im Grunde, so kritisiert er, handele es sich um »dieselbe alte Anschauung, nur in der Sprache der neueren Wissenschaft wie in einer geschmackvolleren Schale credenzt«.43 Zur Widerlegung dieser modernen materialistischen Auffassung der Seele bringt Teichmüller drei Argumente vor: 1. Die »Heterogeneität des Geistigen und Materiellen«: »Wie will man aber chemische und physikalische Eigenschaften in dem Glauben, der Gerechtigkeit, den Gewissensbissen und anderen Seelenerscheinungen finden, oder wie könnte man sich vorstellen, daß etwa eine sich auflösende Freundschaft zur Fett= oder Blut=Bildung führte oder als Kalk niedergeschlagen die Knochensubstanz vermehrte!«44 2. »Zweitens wird offenbar jedes Product um so mehr zunehmen, je mehr die Factoren wachsen […]. Daher müßte also das Seelenleben wachsen, je mehr Blut oder Luft in uns wäre, oder je schneller der Oxydationsproceß in unseren Geweben stattfindet; allein statt dessen ereilt uns durch Ueberfüllung mit Blut der Schlag oder bei den anderen Bedingungen wird Meteorismus und Fieber uns plagen, ohne daß wir geistreicher und talentvoller würden.«45 3. Die »Verwechslung vom Wesen der Sache mit den begleitenden Umständen«: Man könne nicht den Gedanken »für einen chemischen Proceß« erklären, denn unsere Erinnerungen z. B. reichten auf Jahre und Jahrzehnte zurück, »wenn schon längst kein Stoff mehr in uns oder in unserer Nähe vorhanden ist, der einst unseren Körper bildete. Wir können also unmöglich unsere Persönlichkeit, unsere Gedanken und Erinnerungen den wechselnden Stoffen verdanken, die unser Leben erhalten.«46 Dieser Materialismus ist für Teichmüller unwissenschaftlich, denn er verschmilzt physische und psychische Phänomene und bleibt deshalb »auf dem Standpunkt kindlicher Poesie«.47 Im Unterschied zu diesem deshalb von ihm »naiv« genannten Materialismus geht der »wissenschaftliche Materialismus« von der »unläugbaren Verschiedenheit aller Erscheinungen des geistigen Lebens von den Ereignissen der physischen Natur« aus und will daher das Geistige aus dem Materiellen ableiten.48 Doch bei diesem Versuch, der nach Meinung Teichmüllers durchaus verständlich ist, können keine naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen ange-

42 43 44 45 46 47 48

Ebd., 30. Ebd. Ebd., 30 f. Ebd., 31. Ebd., 31 und 34. Ebd., 34. Ebd., 36.

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wandt werden, »denn der Geist läßt sich nicht tasten und riechen […] Auch durch Experiment und Wage und Thermometer ist dazu nicht zu gelangen; denn der Geist ist nicht warm oder kalt, schwer oder leicht und kann durch keinen chemischen Proceß in einer Retorte erzeugt werden.«49 Und »wenn man auch nach feinerer physiologischen Betrachtung die sogenannten Hirnschwingungen an verschiedenen Stellen des Gehirns jedesmal zu einem besondern getrennten Bewußtsein aufblitzen läßt und dann durch die Commissuren des Gehirns eine schnelle und directe Verbindung zwischen denselben herstellt«, so läßt sich hieraus niemals physiologisch »eine Einheit des Bewußtseins« erklären und ebensowenig die Identität der Person.50 Alle von den Materialisten aufgestellten scheinbaren Analogien, die von ihnen notgedrungen herangezogen werden müßten – wie z. B.: »Wie die Galle eine Function der Leber ist, so soll der Geist eine Function des Gehirns sein«51 –, sind im Urteil Teichmüllers »bloß traumhaft poetisch« und bieten »in Wahrheit keine Analogie«, da sie Unvergleichbares zu vergleichen suchen.52 Sie mißachten die »gänzliche Verschiedenheit zwischen dem Product und den Factoren«53, zwischen dem Ganzen und seinen Funktionen. »So sehr wir daher auch von den schönen einleuchtenden Analogien dieses feineren Materialismus anfänglich gewonnen werden […], eben so sehr müssen wir die voreilige Consequenz ablehnen, als wenn die Seele eine Function des Gehirns sein könnte.«54 Teichmüller anerkennt jedoch auch, daß der »feinere, wissenschaftliche Materialismus aber, welcher die Seele als Function betrachtet«, darin doch die Wahrheit trifft, »daß er das Seelenleben nicht als etwas ganz Apartes und Exotisches in den todten Körper hineingestellt wissen will, sondern in geistvollerer Weise das Leben als ein der ganzen Natur gemeinsames Ereigniß sucht und darum die wechselseitige Abhängigkeit der leiblichen und geistigen Functionen auf Gesetze zu bringen bemüht ist.«55 Angesichts seiner Annahme einer »continuirlichen Wechselwirkung« zwischen Leib und Seele bemerkt Teichmüller: »Aengstliche Gemüther werden nun schon fürchten, mitten in den Materialismus gerathen zu sein.«56 Kennzeichnend für Teichmüllers Auseinandersetzung mit dem Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts ist, daß er dessen Aussagen und Denk- und 49 50 51 52 53 54 55 56

Ebd., 36 f. Ebd., 70 f. Ebd., 37. Ebd., 39. Ebd., 38. Ebd., 45. Ebd., 117; vgl. 87, 91. Ebd., 95 und 92.

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Anschauungsweisen durch sachliche und unpolemische geistesgeschichtliche Vergleiche entschärft; ebenso durch das Vermeiden von Namensnennungen bei allseits bekannten und von ihm aufgegriffenen Aussagen der populären Materialisten. Dennoch kommt Teichmüllers Kritik am »vulgären Materialismus«57 – nicht zuletzt durch das häufig gebrauchte Stilmittel der Ironie – klar zum Ausdruck.

3. Eugen Dühring (1833–1921) Nach Beendigung seines Jura-Studiums promovierte Dühring 1861 in Berlin im Fach Philosophie und habilitierte sich zwei Jahre später mit Unterstützung Trendelenburgs für Philosophie sowie kurz darauf auch für Nationalökonomie. Dem schon zu dieser Zeit fast gänzlich erblindeten Dühring, der dann vierzehn Jahre lang sein Dasein als unbesoldeter Privatdozent an der Universität Berlin fristete, wurde 1877 »wegen zu heftiger Angriffe auf berliner Professoren«58 die venia legendi entzogen. Dühring, so beschreibt ihn Köhnke, der »zunächst nur akademischer Außenseiter« war, wurde später »Sozialist, dann Antisemit, radikaler Chauvinist und schließlich noch Sektenbegründer«.59 Seit 1877 sei er der »überhaupt bestgehaßte Philosoph in Deutschland«60 gewesen. Seine Selbstüberschätzung und Überheblichkeit sowie seine beleidigenden verbalen Attacken gegen zeitgenössische Philosophieprofessoren, die sich auch gegen den ihm wohlgesonnenen Lehrer Trendelenburg richteten,61 brachten ihn in eine selbst herbeigeführte Isolation, die ihn zum Feind von Positivisten,62 Sozialisten63 und anderen Gruppen machte. Für E. Bloch, der den Materialismus der 1850er Jahre für niveaulos und banal hält, der, ebenso wie F. Engels, den dialektischen von einem »mecha57

Ebd., 204. F. Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart, Siebente, mit einem Philosophen- und Litteratoren-Register versehene Auflage, bearbeitet und herausgegeben von Dr. Max Heinze, Berlin 1888, 497. 59 K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 373. 60 Ebd. 61 Vgl. hierzu E. Dühring, Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk und Schlüssel zu seinen sämmtlichen Schriften (1882), Leipzig 1903, 60, 71 f., 91 f., 94, 123. – Diese Autobiographie vermittelt ein eindrucksvolles Bild vom Selbstverständnis und der unangemessenen Selbstbeurteilung Dührings. 62 Siehe z. B. E. Laas, Idealismus und Positivismus. Eine kritische Auseinandersetzung. Erster, allgemeiner und grundlegender Theil, Berlin 1879, 146 f. und Anm. 4. 63 Vgl. hierzu F. Engels, der in seinem Anti-Dühring nicht nur gegen Dühring, son58

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nistischen« Materialismus, »gar in seiner verkommenen Gestalt bei Ludwig Büchner oder Moleschott« klar trennt64 und der Büchner, Vogt und Moleschott als »Wanderapostel eines vulgarisierten, rein mechanisch gebliebenen Materialismus« beschimpft,65 ist sogar nicht der »Vulgärmaterialist«66 Moleschott, sondern vielmehr E. Dühring der »›philosophische‹ Hauptvertreter des trivialmechanischen Materialismus […], den Engels unsterblich gemacht [hat, K.-B.] wie eine Fliege im Bernstein«.67 Dühring ist, wie der Neukantianer H. Vaihinger ihn treffend charakterisiert, ein »materialistischer Realist«.68 Die von ihm angestrebte »Wirklichkeitslehre« fußt nach seiner eigenen Angabe auf »materialistischen Wahrheiten«. Ihr Ausgangspunkt und »Piedestal« ist die »materielle Wirklichkeit«.69 Mit der philosophischen Intention, »die Vorgänge zwischen Geburt und Tod, wie sie wirklich sind«,70 darzustellen, und mit dem Ziel, »eine positive und selbständige Welt- und Lebens- sowie Wissenschaftstheorie«71 zu entwickeln, rekurriert Dühring auf den Materialismus der 1850er Jahre. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei das Wort Materialismus von Philosophen meist als »Scheltwort« benutzt worden, »um gerade die gesundesten und aufklärendsten Ideen, die seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu einem ersten Durchbruch gelangten und seit der Mitte des neunzehnten wieder in neuer Gestalt hervortraten in einen […] wirksamen Verruf zu bringen.«72 Seit den 1850er Jahren gibt es nach Dühring in der Philosophie im wesentlichen nur zwei, und zwar konträre, Lager, »nämlich dasjenige des Materialismus und dasjenige der Philosophie«.73 Beide seien durch eine »strenge

dern auch gegen den »vulgären Reiseprediger-Materialismus eines Vogt und Büchner« (412 u. ö.) heftig polemisiert: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), dritte, die letzte von Engels durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 1894, Berlin 1948. 64 E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt / M. 1972, 446. 65 Ebd., 289. 66 Ebd., 138; vgl. 128 f. 67 Ebd., 289. 68 H. Vaihinger, Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritischer Essay, Iserlohn 1876, 53. 69 E. Dühring, Der Werth des Lebens. Eine Denkerbetrachtung im Sinne heroischer Lebensauffassung (1865), siebente wiederum durchgearbeitete Auflage, Leipzig 1916, 72 und 73. 70 Ebd., 64. 71 Ebd., 73. 72 Ebd., 65 f. 73 Ebd., 70.

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Abmarkungslinie« voneinander geschieden.74 Bei der dem Materialismus entgegengesetzten und von ihm scharf bekämpften zeitgenössischen Philosophie hat Dühring insbesondere an Kant anknüpfende Philosophien im Visier, welcher für ihn das »modische Aushängeschild der Professorenphilosophie«75 ist. Sein eigener Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Realismus ist mit einer »Rückwendung zum Kantisiren«76 nicht vereinbar. So nimmt Dühring aus doppeltem Grund Anstoß an F. A. Lange und dessen Geschichte des Materialismus. Diese »nach etwas neuerer Mode zugeschnittene Frischlingsfigur von Philosophieprofessor« habe sich »einerseits mit materiellen Vorstellungsarten coquettirend eingelassen, andererseits sich aber […] in der spiritualistischen Richtung hauptsächlich den Theologen vom liberalisirenden Genre angenehm gemacht […].«77 Lange habe, nach allen Seiten liebäugelnd, »ein falsches Spiel mit Begriff und Geschichte des Materialismus« getrieben, und er gilt ihm deshalb als ein exemplarisches Beispiel des »intellectuell und sittlich überzeugungslosen Ge- und Verlehrtenthums«.78 Demgegenüber beurteilt er die »Vertreter des Materialismus, wenigstens die Herren Vogt und Büchner, trotz logischer und moralischer Unzulänglichkeit«79 als charaktervolle und aufrichtige Vertreter ihrer Theorie. Dühring wirft der Philosophie seiner Zeit vor allem die Ausgrenzung der Naturwissenschaften und damit Unwissenschaftlichkeit vor. Sie meide »klare Natur- und Lebensvorstellungen«, und sie habe ein Interesse daran, die Menschen in einem unaufgeklärten »Nacht- und Nebelzustande des Geistes« zu halten.80 Indem die naturwissenschaftlichen Materialisten Vogt, Moleschott und Büchner, so Dühring, deshalb stolz darauf gewesen seien, eine Stellung außerhalb der philosophischen Zunft eingenommen zu haben,81 hätte paradoxerweise der Materialismus der 1850er Jahre »die Ehre der Philosophie wenigstens soweit gewahrt, dass er sich gegen den unwissenschaftlichen Wahn gewehrt und keinen offenbaren Thorheiten gehuldigt hat«.82 Da für Dühring der »positive Sinn des Materialismus« in erster Linie darin liegt, daß »jeder Zauberglaube an übermaterielle Wesenheiten« zu verbannen

74

E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie. Erster Theil: Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart (1869), vierte, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1894, 528. 75 Ebd., 526. 76 Ebd., 532. 77 Ebd., 531. 78 E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 86. 79 Ebd., 86 f. 80 Ebd., 65. 81 Ebd., 68. 82 E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie, a. a. O., 530.

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und »das Denken unmittelbar auf den natürlichen Gehalt der Dinge zu richten sei«,83 knüpft er an die Lehren der populären Materialisten der Jahrhundertmitte an, durch welche die damalige Jugend über »den ›Köhlerglauben‹« viel habe lernen können.84 »In jenen fünfziger Jahren, als der erwähnte Carl Vogt gegen die theils beschränkten, theils mit Bewusstsein lichtfeindlichen und den dunkelmacherischen Autoritäten dienstbaren Widersacher echter Wissenschaft den Hauptstoss führte, wirkten auch der Physiologe Moleschott und Herr L. Büchner, der letztere mit seiner durch eine grosse Anzahl Auflagen gegangenen Schrift ›Kraft und Stoff‹, im Sinne einer materialistischen Grundanschauung. Ein Theil dieser Wirkung hat sich durch die folgenden Jahrzehnte fortgesetzt.«85 Dühring will mit seiner »Wirklichkeitsphilosophie« den Materialismus der Jahrhundertmitte weiterentwickeln, und zwar sowohl in theoretischer als auch in praktischer Richtung. Beide Seiten, der Materialismus als »eine theils philosophisch theils naturwissenschaftlich erzeugte Theorie« und der Materialismus als »eine Art der praktischen Lebensbehandlung«, sollen »in einer Einheit verbunden werden«.86 Die anvisierte zukünftige »neue positive Aera unmittelbarer Weltbetrachtung« wird seiner Überzeugung nach die »lange unterdrückten Energien des Verstandes« und auch die »hohlgewordene Kraft des Gemüths zu gediegener Wiederbethätigung an dem Ganzen der reichhaltigen Wirklichkeit« führen.87 Mit dem Materialismus der fünfziger Jahre teilt Dühring die »materialistische Auffassung des Menschen«, daß die »Empfindungs-, Gemüths- und Erkenntnißthätigkeiten von den Organen und deren thatsächlichem Fungiren abhängig sind«.88 Fühlen und Denken versteht er als »Erregungszustände der Materie« und »ohne den Leitfaden der Materialität« gibt es für ihn keine Beziehungen und damit keinerlei Erkenntnis.89 Des weiteren leugnet Dühring mit dem Materialismus die Existenz und die Unsterblichkeit der Seele sowie die Freiheit des Willens,90 und er lehnt jegliche »«Götterconceptionen« als »falsche Auslegungen des Sinnes der Wirklichkeit« ab.91 Für den »optimistischen Materialisten«, wie W. Windelband Dühring nennt,92 ist der Materialismus die 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92

E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 83. Ebd., 87. E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie, a. a. O., 531 f. Ebd., 544. E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 81 f. Ebd., 75. Ebd., 83. Ebd., 75 f. Ebd., 78. W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1892). Mit einem Schluß-

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einzig richtige zeitgemäße Philosophie und die Philosophie der Zukunft, der gegenüber alle anderen Philosophien seiner Zeit »nur eine einzige rückläufige Gruppe« darstellen.93 Dühring rühmt den Materialismus als »eine Errungenschaft der allerneusten Zeit«.94 Diese »eminent moderne Erscheinung«95 habe erst eine kurze Geschichte. Diese »neue Weltanschauung« sei erst seit dem 18. Jahrhundert »zum Bewußtsein gekommen«.96 Antike Denker, wie Demokrit oder Epikur, reiht Dühring nicht, wie es des öfteren geschieht, in die Geschichte des Materialismus ein, denn es mangelte zu jener Zeit, und selbst noch im 18. Jahrhundert, seiner Meinung nach an der Reinheit der materialistischen Vorstellungen sowie an der Möglichkeit, den Materialismus »auf gediegene Wissenschaft zu gründen«.97 Erst mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus der 1850er Jahre sei die »Demarcationslinie«98 zwischen dem Materialismus und den Wissenschaften auf der einen und der Philosophie und dem »Spiritualismus des Köhlerglaubens«99 auf der anderen Seite gezogen worden. Weil für ihn der Materialismus ein geistesgeschichtlich sehr junges Phänomen darstellt, kann Dühring dessen »Unfertigkeit« entschuldigen. Die Materialisten der Mitte des 19. Jahrhunderts hätten ihre Auffassung erst in ihren »rohesten Grundlagen« feststellen und popularisieren können.100 Auch die damit zusammenhängende »Einseitigkeit« ihrer Lehre sei historisch verständlich. Da es dem Materialismus bei seinem »einseitig naturwissenschaftlich gerathenen Auftreten in den fünfziger Jahren« noch an dem »universellen Sinn für die verschiedenen Richtungen des menschlichen Wesens und für den vollen Gehalt der auch in ihrer Kunst und Systematik nicht gleichgültigen Gesammtnatur« gefehlt und er sich »nur wenig auf die moralischen Gesetze der Menschennatur eingelassen« habe, müsse er nun besonders hinsichtlich einer entsprechenden »Neugestaltung der Moral« weiterentwickelt werden.101

kapitel: Die Philosophie im 20. Jahrhundert und einer Übersicht über den Stand der philosophiegeschichtlichen Forschung, hrsg. von H. Heimsoeth, Tübingen 141950, 572. 93 E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 71. 94 Ebd., 85. 95 E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie, a. a. O., 530. 96 E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 85. 97 E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie, a. a. O., 530. 98 E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 69. 99 E. Dühring, Gesammtcursus der Philosophie, a. a. O., 530. 100 E. Dühring, Der Werth des Lebens, a. a. O., 85. 101 Ebd., 84.

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4. Wilhelm Dilthey (1833–1911) In der Literatur ist Diltheys Zugehörigkeit zum Neukantianismus nicht eindeutig.102 Bei der namentlichen Aufzählung von Vertretern der verschiedenen neukantianischen Richtungen fehlt sein Name meist. Wenn Dilthey auch sicherlich kein Neukantianer im engeren Sinne ist, so ist doch unbezweifelbar, daß sein Denken der vielgestaltigen neukantianischen Bewegung sehr nahe steht. Er selbst setzt sich allerdings häufig sowohl zum Marburger als auch zum Südwestdeutschen Neukantianismus in Distanz.103 Doch »Diltheys produktive Erweiterung des Kantischen Programms«, so urteilt K.-H. Lembeck, »hat durchaus neukantianische Parallelen«.104 Da er zum einen in den 1890er Jahren »Initiator und Organisator«105 der Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften war und auch der Kantischen Philosophie im Rahmen seines Programms einer »Kritik der historischen Vernunft« grundlegende Bedeutung zukommt, und da er zum anderen ein Schüler Trendelenburgs war, ist Dilthey in der vorliegenden Studie eine rechtmäßige Stelle zuzubilligen. Nach kurzer Studienzeit in Heidelberg wechselte Dilthey 1853 an die Universität Berlin. »Für die Philosophie«, so schreibt er in einem curriculum vitae, »schloß ich mich daselbst in Collegien und im persönlichen Umgange an Herrn Prof. Trendelenburg an.«106 Dilthey bleibt seinem akademischen Lehrer zeitlebens persönlich und philosophisch eng verbunden. Sein theologisches und philosophisches Examen legt Dilthey 1856 in Berlin ab, und im Jahr 1864 sind seine Promotion und Habilitation abgeschlossen. 1866 erhält er einen Ruf nach Basel, geht aber schon ein Jahr später an die Universität Kiel. 1871/72 folgt er einem Ruf nach Breslau und von 1882 bis 1905, dem Jahr seiner Emeritierung, lehrt er an der Berliner Universität. Dilthey zeigt sich in seinen Schriften als ein entschiedener Gegner und 102

Vgl. hierzu H. Oberer, Transzendentalsphäre und konkrete Subjektivität, in: H.-L. Ollig (Hg.), Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, Darmstadt 1987, 105–133, hier 110 und Anm. 11. 103 Zum Verhältnis zwischen Dilthey und H. Cohen z. B. vgl. den Aufsatz von K.-H. Lembeck, Kantianismus oder Neukantianismus in Diltheys Psychologie? In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, hrsg. von F. Rodi, Bd. 10 (1996), 38–60, hier bes. 51 f. und 59; und zur Kritik Diltheys an H. Rickert vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXIV: Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre (ca. 1904–1911), hrsg. von G. Kühne-Bertram, Göttingen 2004, 267–302. 104 K.-H. Lembeck, Kantianismus oder Neukantianismus, a. a. O., 60. 105 F. Rodi, Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einige editions- und lebensgeschichtliche Aspekte, in: Ders., Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey, Weilerswist 2003, 153–172, hier 153. 106 Abgedruckt in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. XV, a. a. O., XXXV.

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scharfer Kritiker jeder Art von Materialismus.107 Seine Stellungnahme zu ihm ist mehrseitig in der Argumentation, immer aber eindeutig in der Bewertung. Die Ablehnung aller materialistischer Vorstellungen in den Bereichen des geistigen Lebens hängt aufs engste zusammen mit seinem Versuch einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, und sie äußert sich vor allem in seiner Kritik an der kausal erklärenden Psychologie. Geistige und materielle Phänomene sind für Dilthey grundverschieden und unvergleichbar. Insofern hält er eine »Ableitung von geistigen Tatsachen aus denen der mechanischen Naturordnung« für unmöglich.108 Und auch eine Parallelisierung von Phänomenen beider Bereiche, wie z. B. die von Nervenvorgängen in der Physiologie und kognitiven, volitiven oder emotionalen in der Psychologie lehnt Dilthey strikt ab.109 »Eine Empfindung ist nicht eine Hirnbewegung. Jene ist ein innerer Zustand, eine Erfahrungstatsache. Diese ist ein äußerer Zustand, auch eine Erfahrungstatsache. Die beiden Erfahrungen sind nicht nur ganz verschieden voneinander, sondern geradezu unvergleichbar«.110 Für uns ist »der Übergang von der Mechanik des Gehirns zu der entsprechenden Tätigkeit des Bewußtseins seiner Natur nach« nicht faßbar.111 »[…] kein noch so dünner Faden von Gemeinsamkeit macht uns den Übergang von jenen zu diesen Tatsachen begreiflich«.112 Denn »wo wir vom äußeren Auffassen zum inneren Gewahren übergehen sollen: da verlassen uns alle Mittel des Erkennens«.113 Die Frage, »was denn das Volumen, das absolute und spezifische Gewicht, der Faltenreichtum und Fettgehalt eines menschlichen Gehirns zur Entstehung der in diesem befindlichen Gedanken beiträgt?«114 ist für ihn vergeblich und nicht zu beantworten. 107

In welcher Weise Diltheys rigorose Ablehnung materialistischer Auffassungen auch im Umgang mit Kollegen (z. B. mit dem Psychologen H. Ebbinghaus oder den Philosophen F. Paulsen und B. Erdmann) und bei universitätspolitischen Entscheidungen zum Tragen kam, ist beschrieben in: V. Gerhardt / R. Mehring / J. Rindert (Hg.), Berliner Geist, a. a. O., 162–168. 108 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. I: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883), hrsg. von B. Groethuysen, Stuttgart / Göttingen 1979, 11. 109 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hrsg. von G. Misch, Stuttgart / Göttingen 1974, 142. 110 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXII: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Zweiter Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1860–1895), hrsg. von G. van Kerckhoven und H.-U. Lessing, Göttingen 2005, 142. 111 Ebd., 139. 112 Ebd., 141. 113 Ebd., 137. 114 Ebd., 140.

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Innerhalb seiner Weltanschauungstypologie, in der Dilthey die drei Hauptformen des Positivismus, des Idealismus der Freiheit und des objektiven Idealismus unterscheidet, ordnet er den Materialismus dem Positivismus zu. Obwohl er durchaus das Recht und auch die Leistungen des Positivismus in dessen Zusammenwirken mit den Erfahrungswissenschaften anerkennt, wendet er sich doch entschieden gegen jede »Unterordnung der psychischen Tatsachen unter die physiologischen«, durch welche der Positivismus »das geistige Leben zu etwas Sekundärem, bloßen Begleiterscheinungen, verglichen mit den physiologischen Tatsachen« mache.115 Da es unmöglich sei, so äußert sich Dilthey 1899, »zur Zeit eine Mechanik, Topographie des Gehirns zu entwickeln«, schlage an diesem Punkt »der Positivismus um in die materialistische Metaphysik«,116 die jeglicher erfahrungswissenschaftlicher Grundlage entbehre. In seiner Abhandlung Das Wesen der Philosophie von 1907 nimmt Dilthey innerhalb des Weltanschauungstypus des Positivismus eine Differenzierung zwischen einer niederen »materialistischen oder naturalistischen« Form und deren wissenschaftlicher Ausbildung zum Positivismus im engeren Sinne vor.117 In der geschichtlichen Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten sich dementsprechend, als »auf dem kritischen Standpunkt der phänomenale Charakter der physischen Welt erkannt« worden sei, »Naturalismus und Materialismus in den naturwissenschaftlich bestimmten Positivismus« umgesetzt.118 Somit wird in der Weltanschauungslehre des späten Dilthey der Positivismus dem Naturalismus untergeordnet und dem Materialismus logisch nebengeordnet, in der historischen Entwicklung aber gilt ihm der Positivismus als höherwertig. In diesem Sinne charakterisiert Dilthey dann auch 1911 den Positivismus als eine höhere Form und damit als eine »Einschränkung« des Naturalismus.119 Nicht mehr der Positivismus, sondern der Naturalismus ist es nun, der neben dem subjektiven und dem objektiven Idealismus den dritten Weltanschauungstypus bezeichnet. Die ihm zugehörige Erkenntnistheorie ist für Dilthey der Sensualismus und die mit ihm verbundene Metaphysik der Materialismus.120 115

W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XX: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864– 1903), hrsg. von H.-U. Lessing und F. Rodi, Göttingen 1990, 240. 116 Ebd., 240 und 241. 117 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. V, a. a. O., 402. 118 Ebd., 403. 119 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXIV, a. a. O., 168. 120 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, hrsg. von B. Groethuysen, Stuttgart / Göttingen 1977, 101.

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Während sich der Naturalismus als Positivismus bereits im 18. Jahrhundert von seinen metaphysischen Voraussetzungen gelöst habe und zur Methode geworden sei, mache der Naturalismus des 19. Jahrhunderts demgegenüber »in Feuerbach, Moleschott, Büchner die ›Sonnenklarheit des Sinnlichen‹ […], den Zusammenhang der physischen Tatsachen untereinander und die Abhängigkeit der psychischen von ihnen, wie die neue Gehirnphysiologie sie lehrte, geltend«.121 Der Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts steht damit für Dilthey auf einer niedrigeren Stufe als der Naturalismus der Jahrzehnte davor. Die »Vorherrschaft der Naturwissenschaft, insbesondere die Ausbildung der organischen Chemie und der Physiologie des Gehirns brachten eine materialistische Bewegung hervor, welche von den Stimmungen des Jahres 1848 und der Reaktionszeit mächtig gefördert wurde«.122 Nachfolgend nennt Dilthey hier die Materialisten Vogt, Moleschott und Büchner sowie den Sensualisten Czolbe mit ihren bekannten Schriften. Die »fanatische materialistische Doktrin von Feuerbach, Büchner, Moleschott und ihren Genossen« stellt für Dilthey den historischen Höhepunkt im Rahmen des seiner Meinung nach weit in die Geschichte zurückgehenden Versuchs der naturalistischen Metaphysik dar, »aus der mechanischen Anordnung körperlicher Teile nach Gesetzen die geistige Welt abzuleiten«.123 Doch wie auch schon der Naturalismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts so sei in gleicher Weise auch der deutsche Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts inzwischen »vom naturwissenschaftlichen Geiste selber aus […] kritisch eingeschränkt« worden zum Positivismus.124 So läßt sich mit Dilthey der Positivismus als ein metaphysikfreier und wissenschaftlicher, der Materialismus dagegen als ein metaphysischer und unwissenschaftlicher Naturalismus bezeichnen. Und eben dies ist sein Hauptkritikpunkt: »Der Schauder, welchen uns der Materialismus einflößt, war indessen stets mehr ein wissenschaftlicher als ein religiöser […]: Was verleitet Männer der Wissenschaft, sich immer von neuem über den unbestreitbaren Satz hinwegzusetzen, daß die Berechtigung der Erfahrungswissenschaften da aufhört, wo die Möglichkeit der Erfahrung ein Ende hat.«125 121

Ebd., 104. W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXIII: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Vorlesungen 1900–1905, hrsg. von G. Gebhardt und H.-U. Lessing, Göttingen 2000, 156. 123 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. VIII, a. a. O., 105. 124 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXIII, a. a. O., 156. 125 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XVI: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859–1874, hrsg. von U. Herrmann, Göttingen 1972, 448. 122

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Dilthey definiert den Materialismus zum einen als »die Lehre, nach welcher die psychischen Vorgänge Funktionen unsres Nervensystems sind«126, und zum anderen als den Versuch, »zwei Reihen von Tatsachen, die ganz verschieden von erkenntnistheoretischer Provenienz sind, in ein inneres Verhältnis zueinander« zu setzen, was »erkenntnistheoretischer Nonsens« sei.127 »Beide Theorien stimmen darin überein, daß sie in den umfassenden, kausal verbundenen, in sich geschlossenen Naturlauf der materiellen Prozesse psychische Begleiterscheinungen einschalten, welche weder einander erwirken noch den sie umspannenden Naturlauf beeinflussen. Daher sind sie beide Materialismus.«128 Neben diesem »offenen« und dem »verschleierten« Materialismus nennt Dilthey als die dritte Variante des Materialismus im 19. Jahrhundert die Lehre vom Parallelismus, welches die »moderne Hauptform des Materialismus« sei.129 Der Materialismus der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstand nach Meinung Diltheys im Zuge des starken Aufstrebens der Naturwissenschaften, insbesondere von Physiologie und organischer Chemie. In seiner Besprechung des Buches von M. J. Schleiden Über den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte (1863), die mit dem Titel Materialismus der Naturwissenschaft überschrieben ist, gibt Dilthey als Grund für das schnelle Anwachsen und die starke Verbreitung des Materialismus in den Wissenschaften »ein allgemeines Bedürfnis des wissenschaftlichen Geistes« nach einer angestrebten Einheit im Denken, »dem des Monismus« an. Dieser anthropologische Zug sei es, welcher »die moderne Physiologie immer wieder zwar nicht zu ausgebildeten materialistischen Systemen, wohl aber zu einer Hinneigung zu der materialistischen Erklärungsweise hintrieb«.130 Diese »Bedingungen der wissenschaftlichen Lage« waren es nach Meinung Diltheys, unter welchen »das materialistische System« entstand, »dessen Träger einige Physiologen und Ärzte gewesen sind, Vogt, Moleschott, Büchner und Czolbe«.131 Während in den sechziger Jahren noch »Vogt und Moleschott unsere gebildeten Klassen« beherrscht hätten und der Materialismus »als das letzte Wort der Wissenschaft« erschienen sei,132 hätte es in den siebziger Jahren »keinen Physiologen ersten Ranges« mehr gegeben, »der diesem System noch 126

W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XXII, a. a. O., 140. Ebd., 360. 128 Ebd., 143. 129 Ebd. 130 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XVI, 438–446, hier 445. 131 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XVII: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus ›Westermanns Monatsheften‹: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, verstreute Rezensionen 1867–1884, hrsg. von U. Herrmann, Göttingen 1974, 5. 132 Ebd., 101. 127

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huldigte«, was Dilthey vor allem auf die Fortschritte in der Physiologie und Psychologie der Sinne zurückführt.133 Doch obwohl er den populärwissenschaftlichen Materialismus für inzwischen wissenschaftlich desavouiert und verworfen erklärt, sieht Dilthey das materialistische Denken weiterhin wirksam sowohl in der Philosophie als auch im allgemeinen Bewußtsein. Anläßlich einer Rezension von M. Carrières 1877 erschienener Schrift Die sittliche Weltordnung, einem, wie Dilthey urteilt, leider »unzeitgemäßen Buch« klagt er: »Moleschott sprach von einer Flasche, in welcher der Chemiker alle Ingredienzien des Menschengeistes beisammen habe; Büchner erklärte den Gedanken für eine Bewegung des Stoffes, und Haeckel kann es nur komisch finden, von einer sittlichen Weltordnung zu reden, da doch die ganze Geschichte nichts anderes als ein chemisch-physikalischer Prozeß sei. Und auch die jetzt antretende junge Generation philosophischer Schriftsteller ist zum größten Teil von diesen Ideen gepackt, hinter dem Feigenblatt eines durch die Physiologie noch statuierten Idealismus, wonach aller Inhalt unseres sinnlichen Bewußtseins eben doch nur ein subjektiver Schein sei, verhüllt sie mit Mühe ihren verschämten Materialismus«.134 Auch alle Kreise der Gesellschaft seien nicht nur von Skeptizismus und Nihilismus, sondern weiterhin vom Materialismus »infiziert«. In den oberen Schichten bekleide man zwar »die Nacktheit des Materialismus noch mit idealistischen Dekorationen«; doch »unten hat man kein Bedürfnis zu dieser Halbheit, Selbstbelügung oder Heuchelei, nüchtern und derb spricht man sich hier aus«.135 Wie ablehnend Dilthey den deutschen Materialisten der 1850er Jahre gegenüber war, zeigt eindrücklich der polemische Stil seiner Rezension von Büchners Schrift Aus Natur und Wissenschaft. Studien, Kritiken und Abhandlungen (1862), die sarkastisch überschrieben ist: Aus dem Studierzimmer eines materialistischen Philosophen. Er wirft dem Autor Eklektizismus, Ignoranz und Dilettantismus vor: Büchner bediene sich philosophischer und naturwissenschaftlicher Literatur als »Heizungsmaterial für seine materialistische Garküche«. Kant habe er offenkundig nie gelesen oder aber nicht verstanden, denn die »Propaganda läßt diesen populären Philosophen keine Zeit, die Gedanken anderer ernstlich zu studieren«. Dilthey urteilt abschließend: »Nie ist von Dilettanten eine anmaßendere Sprache geführt worden als von diesen, welche gegenüber der Naturwissenschaft mit ihrer Philosophie prahlen und gegenüber der Philosophie mit ihrer Naturwissenschaft.«136

133 134 135 136

Ebd., 5. Ebd., 365. Ebd., 366. W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. XVI, a. a. O., 419–422, hier 419, 421, 422.

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5. Julius Bergmann (1840–1904) Bergmann, der in Göttingen bei Lotze und in Berlin bei Trendelenburg studierte, promovierte 1865 in Halle und erhielt 1872 – ohne Habilitation – in Berlin die venia legendi. Noch in demselben Jahr trat er die Nachfolge des gerade verstorbenen F. Ueberwegs in Königsberg an. Trotz F. A. Langes Versuch, H. Cohen das durch den Tod von G. Weißenborn vakant gewordene Ordinariat an der Universität Marburg zu verschaffen, wurde statt dessen Bergmann 1874 hier zum ordentlichen Professor ernannt. Seit 1876 lehrte dieser dann mit Cohen zusammen an der Marburger Universität.137 1868 begründete Bergmann, nachdem er die Mitherausgeberschaft der Zeitschrift Der Gedanke aufgegeben hatte, die Philosophischen Monatshefte, aus denen im Jahre 1895 das Archiv für systematische Philosophie hervorging. Wenn Bergmann auch, sowohl in Königsberg als auch später in Marburg, dem Zeitgeist gemäß Vorlesungen und Übungen zu Kants Prolegomena und zur Kritik der reinen Vernunft abhielt,138 so stand er doch dem Neukantianismus nicht sehr nahe.139 Im Programm der Philosophischen Monatshefte wird sein Interesse deutlich, die Ergebnisse der »nicht-philosophischen Wissenschaften« mit den Problemlösungsversuchen der Philosophie ganz auf der Linie Trendelenburgs zu verknüpfen. Beide Richtungen der Forschung, Philosophie und empirische Naturwissenschaft, sollen einander zustreben, denn sie »sind bestimmt, ihre getrennt gewonnenen Resultate zur fruchtbarsten Ehe zu verbinden […].«140 Seinen Aufsatz Kritische Grundlegung der Metaphysik schließt Bergmann in eben diesem vermittelnden Sinn: »Ich hege nur den innigen Wunsch, dass man weder das Alte um des Neuen, noch das Neue um des Alten willen verwerfen möge.«141 Im Zuge seiner hier vorgenommenen Untersuchung des Erkennens, in der er die Angewiesenheit von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, von Denken und sinnlicher Wahrnehmung auf der einen und Gegenständlichem auf der

137

Zu dem problematischen Verhältnis zwischen dem Spätidealisten J. Bergmann und dem Neukantianer H. Cohen vgl. U. Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, bes. 125–130. 138 So z. B. im Wintersemester 1873 / 74 in Königsberg und im Sommersemester 1876 in Marburg; vgl. hierzu K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 588 f. 139 Vgl. U. Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, a. a. O., 176, 180 f. 140 J. Bergmann, Programm, in: Philosophische Monatshefte, Bd. I (1868), IV. 141 J. Bergmann, Kritische Grundlegung der Metaphysik, in: Philosophische Monatshefte, Bd. I (1868), 1–34, hier 34.

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anderen Seite aufeinander thematisiert, widerlegt Bergmann die Auffassung des Materialisten Moleschott von der Unhaltbarkeit einer Trennung von Ding an sich und Ding für uns. Diese Position Moleschotts wird dem Leser per eindrücklichem Zitat vorgeführt und anschließend sachlich kritisiert. Moleschotts relativistischer Anschauung, die dazu führe, daß die »Scheidewand […] zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich«142 durchbrochen würde, begegnet Bergmann mit dem Argument: »Es wäre als ein transscendentales Gesetz denkbar, dass jedes Ding das, was es ist, nur in Beziehung auf andere ist, mithin nur in der Verknüpfung mit andern existiren kann, aber dann muss diese Beziehung oder Verknüpfung eine Wechselwirkung zwischen den Dingen sein, und eine solche ist im theoretischen Verhalten nicht vorhanden.«143 Denn die Wechselbeziehung von Subjekt und Objekt im Erkenntnisvorgang sei keine reale.144 Bergmanns scharfe Ablehnung des Materialismus zeigt sich auch deutlich in seiner Besprechung von H. Czolbes 1865 erschienener Schrift Die Grenzen und der Ursprung der menschlichen Erkenntniss im Gegensatze zu Kant und Hegel. Naturalistisch-teleologische Durchführung des mechanischen Principes. Der Autor weiche zwar, so Bergmann, mit seinem »teleologischen Naturalismus« vom Materialismus ab, welcher die »zweckmässigen Formen als Resultat des Mechanismus« fasse, aber der »materialistische Gedanke von der zufälligen Entstehung zweckmässiger Formen« käme doch »bald in wenig veränderter Gestalt wieder zum Vorschein«.145 Auch die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart des Neukantianers F. A. Lange wird von Bergmann kritisiert, wobei er allerdings dieses Buch als »höchst bedeutend« anerkennt und dem Autor ein »redliches Streben nach Wahrheit« zubilligt.146 Fast entschuldigt er sich dafür, daß er dieses Buch sowie W. Wundts Schrift Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip. Ein Capitel aus einer Philosophie der Naturwissenschaften von 1866 zusammen mit Czolbes Schrift in einer Sammelrezension

142

Ebd., 26, Anm. 1. Ebd., 26; Zitat Moleschotts ebd., Anm 1. – Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant (1866), zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, Iserlohn 1873, 101–103, wo Lange bereits »diesen metaphysischen Satz Moleschotts« kritisiert (103), und zwar ausdrücklich als »relativistisch (wenn nicht vielmehr idealistisch)« (135, Anm. 56). 144 J. Bergmann, Kritische Grundlegung der Metaphysik, a. a. O., 26 f. 145 J. Bergmann, Ueber drei Schriften vom Standpunkte der mechanischen Naturauffassung, nebst einer einleitenden Betrachtung über das Verhältniss der Metaphysik und Naturwissenschaft, in: Der Gedanke. Zeitschrift für wissenschaftliche Forschung und Kritik, 7. Bd. (1867), 23–67, hier 63. 146 Ebd., 31. 143

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bespricht: »Herr Lange und Herr Wundt werden es uns verzeihen, wenn wir ihnen äusserlich Herrn Czolbe zugesellen.« Andererseits aber rechtfertigt Bergmann sein Vorgehen mit dem Argument, daß allen drei besprochenen Werken doch gemeinsam sei, »mechanische Auffassung und philosophische Speculation« verwoben zu haben.147 Zunächst wirft Bergmann Lange vor, den Materialismus durch sein Buch unnötiger- und unangemessener Weise exponiert zu haben, indem er ihn zum Gegenstand einer »wahrhaft glänzenden und werthvollen Geschichtsschreibung« gemacht habe.148 Darüber hinaus richtet sich seine Kritik gegen Langes »der speculativen Philosophie so feindlichen« Standpunkt, der »keine unpartheiische Würdigung der materialistischen Bestrebungen und deren Bekämpfung«149 zulasse. Die ganze Darstellung sei »getragen von einer durchgängigen Ueberschätzung der Befähigung und der Leistungen materialistischer Schriftsteller […].«150 Besonders negativ vermerkt Bergmann, daß »ein Czolbe, Radenhausen, und vollends Büchner mit besonderer Achtung genannt, und dass ihre Lehren als höchst beachtenswerthe […] Werke hingestellt werden […].«151

6. Rudolf Eucken (1846–1926) Eucken studierte Philologie und Philosophie in Göttingen, bei R. H. Lotze und vor allem bei G. Teichmüller, sowie in Berlin, wo Trendelenburg sein Lehrer wurde. 1866 promovierte Eucken in Berlin. Nach einigen Anstellungen als Gymnasiallehrer in Husum, Berlin und Frankfurt wurde er 1871, in der Nachfolge seines Lehrers Teichmüller, Ordinarius für Philosophie und Pädagogik in Basel. Von 1874 bis 1920 lehrte er an der Universität Jena. Eucken, der zwischen den Wintersemestern 1879/80 und 1885/86 Vorlesungen über Kant hielt, steht in einer »mehr oder minder engen Beziehung zu Kant oder zum Neukantianismus […].«152 147

Ebd. Ebd., 32. 149 Ebd., 44. 150 Ebd. 151 Ebd. – Die hier von Bergmann gemeinte Schrift: C. Radenhausen, Isis, der Mensch und die Welt, Hamburg 1863, charakterisiert F. Ueberweg als einen der neuen »Versuche der Systembildung, die ein Verständniss des natürlichen und geistigen Lebens auf Grund der Ergebnisse der exacten Naturforschung zu gewinnen suchen«, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit (1872), a. a. O., 353; vgl. hierzu auch F. A. Lange, Geschichte des Materialismus. Zweites Buch, a. a. O., 245 und 301 f. (Anm. 57). 152 K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 385, 591 f., 594, 596. 148

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Während F. Paulsen, ebenso wie Eucken im Jahre 1846 geboren, des öfteren in seinen Schriften Bezug auf den Materialismus des mittleren 19. Jahrhunderts nimmt, finden sich bei Eucken kaum direkte Stellungnahmen zu den materialistischen Autoren und ihren Werken. Euckens Antipode im Kampf gegen den Materialismus und für die Anerkennung der Eigenständigkeit des Geisteslebens und der Geisteswissenschaften ist vielmehr E. Haeckel, der gleichzeitig mit ihm in Jena lehrte. Eucken habe, so schreibt H. Meyer, »von Jena aus gegenüber Haeckels materialistischem Monismus die Fahne des Geistes hochgehalten«.153 Denn eine »materialistische Populärphilosophie in der Art Haeckels und der Monisten« konnte nach Ansicht Euckens nicht »der Tiefe des deutschen Geistes entsprechen«.154 Sie sei nur in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts möglich geworden, als sich »einerseits die Anhänger des alten Idealismus, andererseits die Realisten und Positivisten« bekämpften, und sich nachfolgend immer stärker »ein Gemisch von Intellektualismus und Naturalismus« in Deutschland durchsetzte.155 Euckens Philosophie besteht in dem anhaltenden Bemühen, den Gegensatz von Natur und Geist, von natürlichem »Dasein« und geistiger »Tatwelt«156 und dementsprechend den Hiatus zwischen Kausalität und Teleologie sowie Naturwissenschaften und Weltanschauungen zu überwinden, zugleich aber dabei die prinzipielle Verschiedenheit beider Bereiche zu wahren. Der Entwurf einer monistischen Weltanschauung von den Naturwissenschaften her ist daher nach Eucken unzulässig. Er bringe nämlich eine »Vermengung von Wissenschaft und Philosophie« hervor, die zwangsläufig zu einer »Verflachung und Veräußerlichung der Gedankenwelt« führe.157 Die von ihm kritisierten Positionen bezeichnet Eucken mit den Begriffen des »Intellektualismus« und des »Naturalismus«. Sein Ziel ist es, »die Zwickmühle von Naturalismus und Intellektualismus« aufzulösen und den Gegensatz der »schattenhaften Geistigkeit des Intellektualismus und der sinnlich gefärbten des Naturalismus« zu überwinden.158 Philosophische und naturwissenschaft-

153

H. Meyer, Geschichte der abendländischen Weltanschauung. V. Band: Die Weltanschauung der Gegenwart, Würzburg 1949, 306. – Daß dies durchaus seiner Selbsteinschätzung entspricht, belegt ein noch unveröffentlichter Brief Euckens an W. Dilthey vom 10. März 1895, in dem er darüber klagt, daß er »den anderen philosophischen Collegen gegenüber recht isoliert« da stehe und sich »oft recht einsam« vorkomme (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Dilthey-Nachlaß, Faszikel 28). 154 R. Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, Leipzig 1922, 66. 155 Ebd., 65 und 66. 156 R. Eucken, Mensch und Welt. Eine Philosophie des Lebens, Leipzig 1918, 199. 157 R. Eucken, Erkennen und Leben, Leipzig 1912, 13. 158 R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 322, 324. – Vgl. hierzu auch E. Boutroux,

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liche Erfahrungsweisen sollen sich deshalb ergänzen, denn beide seien in der Erkenntnis der menschlichen Wirklichkeit aufeinander angewiesen.159 Damit sei auch der »alte Gegensatz des Idealismus und des Realismus« aufhebbar, denn beide könnten »Mitarbeiter an einem gemeinsamen Werk« sein.160 Ein »kräftiger Idealismus« könnte eine »energische Wirkung auf das [natürliche; K.-B.] Dasein« ausüben, und der Realismus, wenn er »aus dem Ganzen des Lebens erfaßt« würde, führe notwendig zum Idealismus.161 In seiner Philosophie des Lebens und ebenso in seiner Philosophie der Geschichte unterscheidet Eucken zwei »Lebensgestaltungen«, den »Idealismus« und den »Naturalismus«.162 Er lehnt zwar einen »absoluten Idealismus«, der »alle Wirklichkeit aus der eignen Bewegung des Geistes hervorgehen läßt«, ebenso ab wie den Naturalismus, welcher »die Natur zum All« erweitern möchte,163 doch der Naturalismus erscheint ihm um die Wende zum 20. Jahrhundert als der gefährlichere Gegner. Unter Naturalismus versteht Eucken diejenige Weltanschauung, welche naturwissenschaftliche Verfahrensweisen »über alles Sein ausdehnt und ihnen auch das Seelenleben unterwirft«.164 Er habe die Tendenz, das »Reich der Natur für das Ganze der Wirklichkeit auszugeben und zugleich alle Wissenschaft nach Art der Naturwissenschaft zu gestalten«.165 Gerade dieses Übergreifen auf Kultur und Geisteswissenschaften ist es, was Eucken am Naturalismus scharf kritisiert. Hinzu kommt die erkenntnistheoretische Kritik, daß der Naturalismus die Tatsache der Gebundenheit auch der naturwissenschaftlichen Arbeit an die Bedingungen des auffassenden und erkennenden Bewußtseins ignoriere: »Auch Materie und Bewegung setzen geistige Thätigkeit voraus und können daher nicht dem Geist gegenüber als das letzte Wesen der Dinge hingestellt werden«.166 Der Naturalismus habe immer mehr in der jüngsten Vergangenheit Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus, Leipzig 1911, 21: »Es kommt also darauf an, im Überschreiten sowohl des Naturalismus als auch des Intellektualismus einen Gesichtspunkt zu entdecken, der die Realität und den Wert der Natur festhält, ohne den Geist darin zu versenken, und der die Überlegenheit und die Selbständigkeit des Geistes bei aller Anerkennung seiner Verbindung mit der Natur sicherzustellen vermag«. 159 R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 404 f. 160 R. Eucken, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung (1896), dritte umgearbeitete Auflage, Leipzig 1918, 173, 175. 161 Ebd., 175 f. 162 R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 193; Ders., Philosophie der Geschichte, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I, Abteilung VI: Systematische Philosophie (1907), Berlin und Leipzig 1908, 248–281, hier 275. 163 R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 195, 194. 164 R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, Leipzig 1907, 19. 165 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens (1908), neunte Auflage, Leipzig 1922, 19. 166 R. Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, Leipzig 1878, 15.

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und in der Gegenwart an Boden gewonnen und »Naturbegriffe immer tiefer in alle Gebiete eingeführt«, mit dem Effekt, daß die »›naturwissenschaftliche Weltanschauung‹ vielen als Weltanschauung schlechthin« gelte.167 Es sei ein »Grundirrtum, vom bloßen Dasein aus ein Ganzes der Erkenntnis, etwa eine ›naturwissenschaftliche Weltanschauung‹ erzeugen zu wollen«, zumal seiner Meinung nach das Geistesleben eine höhere Stufe darstellt als die Natur.168 Trotz seiner Ablehnung des Naturalismus will Eucken aber keineswegs die »Bedeutung der kräftigeren Wendung zur Natur« verkennen, aus deren »Mißdeutung« er hervorgegangen sei.169 Er vertritt »ein gutes Recht, wenn er die Macht des Naturgeschehens und sein Hineinreichen auch ins Innere der Seele verficht«, doch er überspanne dieses Recht, »wenn er alle geistige Leistung einem erweiterten Begriff der Natur einfügt«.170 Wissenschaft und Weltanschauung sind strikt zu trennen, so daß ein Naturforscher, »wenn er Naturforscher bleibt und nicht unversehens Philosoph wird«, überhaupt keine Weltanschauung haben dürfe.171 Nicht »wegen, sondern nur trotz seiner Wissenschaft« könne er deshalb Naturalist sein.172 Unter dem »Naturalismus« begreift Eucken sowohl den »Monismus« als auch den »Materialismus«.173 Den naturwissenschaftlichen Monismus des späten 19. Jahrhunderts charakterisiert er als eine weiterentwickelte und verfeinerte Form des Materialismus, auch desjenigen der Jahrhundertmitte. Den als »ganz roh« beurteilten Materialismus bezeichnet er als eine »unterhalb und ausserhalb aller philosophischen Forschung befindliche Lehre«.174 Dieser rohe Materialismus lasse sich letztlich bis zu den Sophisten zurückverfolgen, und er habe seinen »mustergültigen Ausdruck« im »französischen Materialismus und Sensualismus des 18. Jahrhunderts gefunden«.175 Ein wesentliches Merkmal des Materialismus ist es für Eucken, daß er immer in Krisenzeiten hervortritt und dann »eine Fülle von Erscheinungen für sich verwerthet«, womit er stets leicht »einen Einfluss auf weite Kreise gewinnt«.176 So sind es nicht die Naturwissenschaften selbst, welche zum Naturalismus führen, sondern vielmehr sind es »die Schwäche der Überzeugungen vom Gei-

167

R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, a. a. O., 19. R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 212; Ders.: Der Sinn und Wert des Lebens, a. a. O., 85. 169 R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, a. a. O., 33. 170 R. Eucken, Mensch und Welt, a. a. O., 194. 171 Ebd., 403. 172 R. Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, a. a. O., 24. 173 R. Eucken, Zur Sammlung der Geister, Leipzig 1914, 74 und 131. 174 R. Eucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, a. a. O., 19. 175 Ebd., 152. 176 Ebd., 105. 168

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stesleben«, »das Fehlen einer selbständigen Innenwelt, sowie das Übersehen der inneren Bedingungen aller geistigen Arbeit, welche es möglich machen, die Naturwissenschaft in einen materialistischen Naturalismus umzubiegen«.177 Auch der Monismus des späten 19. Jahrhunderts ist für Eucken im Grunde ein solcher materialistischer Naturalismus. Denn indem auch er die »Naturbegriffe zu Weltbegriffen« erhebt und »das ganze Leben nach ihren Maßen gestalten« will, ist er ein, wenn auch »verschämter«, Materialismus.178

7. Friedrich Paulsen (1846–1908) Paulsen, der zwischen 1866 und 1871 in Erlangen, Bonn, Kiel und vor allem in Berlin zunächst Theologie und dann Philosophie studierte, wurde nach seiner Promotion 1871 und seiner Habilitation 1875 an der Berliner Universität im Jahre 1878 ebenda zum außerordentlichen und 1893 zum ordentlichen Professor ernannt. Er machte »seine ganze Karriere in Berlin«.179 Gemäß seiner eigenen Aussage hatte Lotze einen »nicht unerheblichen Einfluß« auf sein Denken,180 aber Trendelenburg nennt er als denjenigen unter seinen akademischen Lehrern, dem er »am meisten verdanke«.181 In seiner Autobiographie schreibt Paulsen, daß er, sogleich nach dessen Erscheinen 1866, F. A. Langes Geschichte des Materialismus begeistert gelesen habe. Von einer Vorlesung J. B. Meyers über den Materialismus, die er im Sommersemester 1869 in Bonn gehört habe, sei er dagegen enttäuscht gewesen sei.182 Paulsen bezeichnet sich selbst in der Rückschau auf seine Studienjahre als einen Materialisten und schränkt ein, »soweit denn von einer Einheit des Denkens bei mir damals überhaupt die Rede sein konnte«.183 Später aber, so schreibt er, habe er seine »naturalistisch-radikale Denkweise« der frühen Erlanger Jahre abgelegt; »das Studium Kants und Lotzes half die ältere Schicht materialistischer Gedanken bald überwinden«.184 Zur Anschauung des psycho-physischen Parallelismus allerdings läßt Paulsen auch 1904 noch eine positive Einstellung erkennen. Sie erscheint ihm »nach 177

R. Eucken, Die Lebensanschauungen der grossen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart (1890), Leipzig 10 1912, 506. 178 Ebd., 507. 179 V. Gerhardt / R. Mehring / J. Rindert (Hg.), Berliner Geist, a. a. O., 180. 180 F. Paulsen, Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen, Jena 1909, 167. 181 Ebd., 177. 182 Ebd., 147, 153. 183 Ebd., 145. 184 Ebd., 183.

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wie vor als die sowohl dem Philosophen als dem Naturwissenschaftler sich am meisten empfehlende Form«.185 Mit C. A. Strong, dem Verfasser einer Schrift mit dem Titel Why the mind has a body (1903), den er »als Bundesgenossen im Kampf für die neuerdings so viel angefochtene parallelistische Theorie« begrüßt, betont Paulsen jedoch, daß die parallelistische Auffassung durchaus nicht zu der Vorstellung führe, »dass das seelische Leben ein blosses passives und ziemlich überflüssiges Epiphänomen des körperlichen Lebensprozesses sei, ein wirkungsloser Reflex der eigentlichen Wirklichkeit«.186 Paulsen, der erklärtermaßen einen »idealistischen Monismus« vertritt und von diesem Standpunkt aus sowohl einen »supranaturalistischen Dualismus« als auch einen »atomistischen Materialismus« ablehnt,187 definiert letzteren als diejenige Philosophie, »in der die seit dem siebzehnten Jahrhundert aufgekommene mechanistische Naturerklärung nicht bloß ihre eigenen letzten Voraussetzungen, sondern die letzten Gedanken über die Welt überhaupt sieht«.188 Der Materialismus sei im Grund nichts »als die Absolutsetzung der Physik durch die Ausschaltung des Geistigen, oder also die angebliche Zurückführung des Geistigen auf physiologische Prozesse oder bloß gelegentliche ›subjektive‹ Epiphänomena von Bewegungen«. Inzwischen, so schreibt Paulsen 1908, sei der Materialismus, ebenso wie der Positivismus, »im Abebben« begriffen; nur in den »Niederungen des geistigen Lebens« würde er noch »wuchernd« gedeihen.189 Als Grund hierfür nennt Paulsen, daß die Hoffnung des Positivismus im mittleren 19. Jahrhundert, alle Welt- und Lebensrätsel durch »exakte Forschung« lösen zu können, enttäuscht worden sei.190 Die Physik arbeite unter der Voraussetzung, daß »die physische Welt einen in sich geschlossenen Kausalzusammenhang bildet« und daß es »keine Einwirkung aus einer anderen Sphäre, aus einer nicht-physischen Welt keine Erklärung physischer Vorgänge aus Kräften, die nicht mit den Mitteln der Physik nachzuweisen und zu erforschen« wären, gibt.191 Doch nicht alle Lebensprozesse lassen sich, so Paulsen, naturwissenschaftlich erklären; »die organischen Prozesse spotten überall der Zurückführung auf die Grundgesetze der Physik und Chemie«.192

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F. Paulsen, Parallelismus oder Wechselwirkung? Mit Bezug auf L. Busses »Geist und Körper, Seele und Leib«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 123 (1904), 74–85 und 162–171, hier 77. 186 Ebd., 170 f. 187 F. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1892, Vf. 188 Ebd., VI. 189 F. Paulsen, Die Zukunftsaufgaben der Philosophie, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, a. a. O., 391–423, hier 396 f. 190 Ebd., 391. 191 Ebd., 405. 192 Ebd.

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Die These des Materialismus, daß auch die Bewußtseinsvorgänge »Funktionen der Materie« sind und sich »als Funktionen des Nervensystems, als Resultate der Nervenprozesse physiologisch erklären« lassen, sei inzwischen bereits von Naturwissenschaftlern, wie z. B. E. du Bois-Reymond oder J. Tyndall, verworfen worden,193 die jeglichen kausalen Zusammenhang von physiologischen und psychischen Phänomenen verneinen. »Bewußtseinsvorgänge sind weder Wirkungen noch Ursachen physischer Vorgänge.«194 Nur auf dem Wege solcher wissenschaftlicher Forschung, die mit erkenntnistheoretischer und methodologischer Reflexion und Kritik verbunden ist, könne der »dogmatische Materialismus« definitiv widerlegt werden.195 Auf dieser Basis weist Paulsen den Materialisten der Jahrhundertmitte L. Büchner und C. Vogt eine »heillose Verwirrung« ihrer Begrifflichkeit vor und weist dies auch nach.196 In Büchners Kraft und Stoff z. B. seien letztlich drei grundlegend verschiedene Vorstellungen über das Verhältnis von Denken und Bewegung auszumachen, »die zu einem unauflöslichen Gewirr verschlungen sind […].«197 So urteilt er über diesen Materialisten: »Influxus physicus, Parallelismus, Identität, gemeine Vorstellung, Spinoza, Kant, das taumelt alles wie trunken durcheinander. Daß dieser Mann auf jedem Blatt die ›Philosophen‹ beschimpft, als Leute, die die Gabe hätte, die einfachsten und klarsten Dinge durch einen Wust hochtrabender, inhaltleerer Worte in Verwirrung zu bringen, wird man hiernach gewiß in Ordnung finden.«198 Und die »gleiche Verwirrung« bescheinigt er auch Vogts Physiologischen Briefen. Paulsen unternimmt es in seiner Einleitung in die Philosophie, drei materialistische Thesen über das Verhältnis von Physischem und Psychischem genauer zu untersuchen. Nachdem er die erste Behauptung, daß Gedanken und Bewegungen dasselbe seien (Identität), als sinnlos und damit als indiskutabel und unwiderlegbar abgehandelt hat, setzt er sich intensiv mit der Auffassung des Zusammenhangs beider als kausalem (»influxus physicus«) sowie mit der These ihrer möglichen Beziehung eines zeitlichen Nebeneinander (Parallelismus) auseinander. Zwischen den beiden letztgenannten Ansätzen, der »Hypothese der Wechselwirkung« und der »Hypothese des Parallelismus« hat nach Ansicht Paulsens der Materialismus letztlich die Wahl.199 Die Entscheidung der »materialistischen Metaphysiker«200 sei zunächst zugunsten der ersten Ansicht ausge193 194 195 196 197 198 199 200

F. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, a. a. O., 79 f. Ebd., 83. Ebd., 78. Siehe hierzu und zu den nachfolgenden Zitaten ebd., 84 f. Ebd., 85 (Anm.). Ebd. Ebd., 87. Ebd., 90.

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fallen. Doch da sich zwischen physischen und psychischen Prozessen keinerlei kausale Zusammenhänge eindeutig wissenschaftlich nachweisen lassen, weil Beobachtung und Experiment »diesen unzugänglichsten und verwickeltsten Vorgängen des organischen Lebens gegenüber ziemlich ohnmächtig«201 sind, hätten »die Metaphysiker des Materialismus«202 eigentlich notgedrungen zur parallelistischen Auffassung übergehen müssen. Hierfür meint Paulsen auch Belege, z. B. in Büchners Kraft und Stoff, gefunden zu haben. Indem er seiner Meinung Ausdruck verleiht, daß die Hypothese des Parallelismus, »Bewußtseinsvorgänge sind Begleiterscheinungen von Gehirnvorgängen«, in gutem Einklang mit dem Materialismus steht,203 nimmt Paulsen die Theorie des Parallelismus als im Kreise der Materialisten inzwischen zugestanden an.204 Denn wenn man dem Konnex von Physischem und Psychischem nicht weiter nachgehe, sondern sich, wie neuere Naturwissenschaftler, mit einem Ignorabimus begnüge, »dann behält der Materialismus auch bei der parallelistischen Ansicht im wesentlichen Recht«.205 So teilt Paulsen zwar nicht mehr die alte »materialistische Weltansicht« des mittleren 19. Jahrhunderts, weil sie über das Erfahrbare und Nachweisbare hinausgeht. Dieser alte Materialismus sei bereits überwunden in dem Sinn, daß er sich als eine »einseitige, der Ergänzung fähige und bedürftige Betrachtung der Wirklichkeit« herausgestellt habe. Aber Paulsen teilt das Bestreben der Materialisten und der Positivisten nach möglichst umfassender Erforschung und Erklärung der gesamten Wirklichkeit und will deshalb die materialistische Auffassung »nicht in dem Sinn, daß sie überhaupt [Hervorhebung von K.-B.] falsch und grundlos wäre«206, verwerfen. Von diesem auf dem Boden des Materialismus befindlichen Standpunktes aus kritisiert Paulsen eine naive materialistische Auffassung der Seele: »Im Raum sind Körper und geschehen Bewegungen, nicht aber Bewußtseinsvorgänge; es hat keinen Sinn zu sagen: ein Gedanke oder ein Gefühl ist hier oder dort, erstreckt sich durch diesen oder jenen Teil des Raumes. Gedanken sind nicht im Gehirn; man kann eben so gut sagen, sie seien im Magen oder im Monde. Das eine ist nicht ungereimter als das andere. Im Gehirn gehen physio201

Ebd., 89. Ebd., 94. 203 Ebd., 96 f. 204 Ebd., 90. – Zu Paulsens Bestimmung des Parallelismus siehe ebd., 138: »dieser Parallelismus hat schlechterdings nichts mit einem lokalen Zusammenfallen zu thun; er bedeutet nur: wann ein bestimmter psychischer Prozeß stattfindet, dann läuft gleichzeitig ein physischer Prozeß ab, den man als Begleiterscheinung oder als physisches Äquivalent des psychischen bezeichnen kann.« 205 Ebd., 97. 206 Ebd., 115. 202

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logische Prozesse vor sich und nichts anderes.«207 Ebenso aber übt Paulsen Kritik am Spiritualismus: »Es giebt keine für sich seiende, beharrliche, immaterielle Seelensubstanz; das Dasein der Seele geht in dem Seelenleben auf, hebt man die psychischen Vorgänge auf, so bleibt kein Substantiale als Rückstand.«208 Sowohl der metaphysische Materialismus, der die Seele verdinglichen will, als auch der Spiritualismus, der eine Seelensubstanz annimmt, sind für Paulsen nur verschiedene Arten eines antiquierten und überholten Materialismus.209 Für eine klare Trennung zwischen Naturwissenschaften und Philosophie plädierend äußert er: »Alles muß physisch zugehen und erklärt werden; und: Alles muß metaphysisch betrachtet und gedeutet werden. Das ist die Formel, in der Physiker und Metaphysiker übereinkommen können […]. Die Feindschaft zwischen beiden kommt von der Neigung zu Übergriffen. Auf Seiten des Naturforschers erscheint sie als Neigung zur Negation des Metaphysischen überhaupt […]. Auf Seiten des Metaphysikers als Neigung, dem Physiker ein irgendwie großes Naturgebiet abzustreiten, um es allein metaphysisch zu erklären.«210 Die Meinung, daß um die Wende des 19./20. Jahrhunderts die Ergebnisse der Naturwissenschaften zu einem »materialistischen Atomismus« weiter Kreise geführt hätten, teilt Paulsen nicht.211 Allerdings räumt er ein: »Soweit gegenwärtig unter den Gebildeten von philosophischer Weltanschauung überhaupt noch die Rede ist (die meisten behelfen sich ohne eine solche), dürfte sie eher in der Richtung eines naturwissenschaftlich gerichteten Materialismus […] zu suchen sein.«212 In seiner 1901 erstmals und 1908 in dritter und vierter Auflage erschienenen Aufsatzsammlung Philosophia militans, in der Paulsen, erklärtermaßen auf dem Boden der Philosophie Kants, neben dem Klerikalismus sowohl einen »dogmatischen Naturalismus« als auch den »Materialismus als Weltanschauung« bekämpft,213 äußert er im Zusammenhang einer Aussage über die Popularität von Haeckels Buch Die Welträtsel: »Der Umfang, in dem es gekauft und gelesen wird […], ist ein Beweis dafür, daß die Gattung von Verächtern der Philosophie, die durch die Namen C. Vogt und Büchner der früheren Generation bezeichnet wurde, auch am Anfang des neuen Jahrhunderts noch lebt und

207

Ebd., 137. Ebd., 133. 209 Vgl. ebd., 376 f. 210 Ebd., 167 f. 211 Ebd., 213. 212 Ebd., 243. 213 F. Paulsen, Philosophia militans. Gegen Klerikalismus und Materialismus (1901), dritte u. vierte durchgesehene und vermehrte Auflage, Berlin 1908, VI. 208

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tätig ist.«214 Haeckel wird also von Paulsen in eine Reihe mit den Materialisten der 1850er Jahre gestellt, nämlich die des »naturwissenschaftlichen Dogmatismus«, der damals und auch wieder um die Wende des 19./20. Jahrhunderts, »wie in jedem unphilosophischen Zeitalter«, eine »weit verbreitete Erscheinung« gewesen sei.215 Über diesen jüngsten Vertreter des weltanschaulichen Materialismus, E. Haeckel, urteilt Paulsen abfällig: »Es ist, als ob jemand von Philosophie redet, der die letzten 30 Jahre verschlafen und nur etwa aus Langes Geschichte des Materialismus oder aus Büchners Kraft und Stoff ein paar Reminiszenzen im Ohr hat.«216

IV. Ergebnisse und Ausblick Trendelenburgs Philosophie war, indem sie eine »Problemanzeige«217 für die verschiedenen Versuche einer Vermittlung von Idealismus und Realismus und auch für solche philosophische Konzeptionen darstellt, welche sich für eine der beiden Anschauungen entschieden haben, vorbereitend und wegweisend für die Philosophie der zweiten Hälfte des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts. So, wie »seine Weltanschauung durch ihr teleologisches Prinzip zum Materialismus in schroffen Gegensatz« trat,218 so auch diejenige einiger seiner Schüler. Dies gilt für die hier behandelten Philosophen J. Bergmann, W. Dilthey, R. Eucken und G. Teichmüller, die, von verschiedenen philosophischen Standpunkten aus und unterschiedliche Intentionen verfolgend, alle – zum einen mehr oder weniger ausdrücklich und zum anderen verschiedenartig akzentuiert – Kritik am Materialismus der Jahrhundertmitte übten. Dies gilt in gewissem Grade aber auch für F. Paulsen, der nach eigener Aussage zwar die naive Begeisterung für den Materialismus, die er in seinen Studienjahren hatte, verlor, dennoch aber als Anhänger des Parallelismus zeitlebens Materialist und Positivist blieb, denn er lehnte jeglichen dogmatischen, metaphysischen Materialismus ab, sei es denjenigen der Materialisten der Jahrhundertmitte oder denjenigen E. Haeckels oder auch den des Spiritualismus. Ambivalent und unentschieden in der Wertung des Materialismus bleibt dagegen der Idealrealismus F. Ueberwegs. Seine erklärte Intention, Teleologie und Kausalität sowie Idealismus und Materialismus zu verbinden, bleibt uner-

214 215 216 217 218

Ebd., 148. Ebd., 155. Ebd., 156. K. Chr. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, a. a. O., 172. P. Petersen, Die Philosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs, a. a. O., 196.

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füllt und plakativ. Und selbst die materialistische »Wirklichkeitsphilosophie« E. Dührings, welche eine Erkenntnis der vollen materiellen Realität anstrebt, läßt ihren Ausgangspunkt von Trendelenburgs erkenntnistheoretischem Realismus noch ahnen. Die Untersuchung von Bezugnahmen einiger Schüler Trendelenburgs auf den Materialismus der Jahrhundertmitte und von dessen Beurteilungen macht deutlich, daß der Materialismusstreit der 1850er Jahre bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ein philosophisch brisantes Thema war. Immer neu angefacht durch Phänomene wie den Darwinismus oder den Monismus Haeckels, blieben die materialistischen Positionen im Zentrum philosophischer und weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Sowohl auf seiten von Gegnern und Kritikern des Materialismus als auch auf seiten seiner Verteidiger und Sympathisanten wurde auf die Wortführer des Materialismusstreits noch Jahrzehnte später rekurriert. Keineswegs war also »die Zeit des Materialismusstreites (1850er Jahre) und der neukantianischen Widerlegungen des Materialismus«219 in der Mitte der siebziger Jahre vorüber. Aus heutiger Perspektive läßt sich sagen, daß der Materialismusstreit der 1850 Jahre eine Initialzündung war. Die damaligen populärwissenschaftlichen Materialisten, Büchner, Vogt, Moleschott und Czolbe, haben – in schon am Ende des 19. Jahrhunderts und gar heutzutage wissenschaftlich naiv anmutender, aber provokanter Weise – Themen und Thesen in die philosophische und wissenschaftliche Diskussion geworfen, die lange umstritten waren und noch immer umstritten sind. Ihre Antworten auf Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Seele, von Gehirn und Gedanken sowie ihre Lösungen für Probleme, wie beispielsweise das der menschlichen Willensfreiheit, sind bis auf die heutige Zeit in Philosophie und Physiologie lebendig und aktuell. Noch in der heutigen Hirnforschung z. B. ist der Streit zwischen den Denkansätzen von Determinismus, Dualismus und Kompatibilismus nicht entschieden, wenn auch inzwischen seine historische Auslösung im Materialismusstreit des mittleren 19. Jahrhunderts und die mit den damaligen Ereignissen verknüpften Namen der materialistischen Naturforscher weitgehend vergessen sind.

219

Vgl. hierzu in diesem Beitrag Seite 138 und Anm. 12.

IV. MATERIALISMUS, ANTHROPOLOGIE UND HIRNFORSCHUNG

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Materialismus und Anthropologie im 19. Jahrhundert Der geistig-kulturelle wie politische Rahmen der Beziehung von Materialismus und Anthropologie an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert wird durch ein Ereignis geprägt, das mit dem Begründer der Phrenologie, Franz Joseph Gall (1758–1828), eng verbunden ist. Gall, einem der profiliertesten Anthropologen jener Zeit, wurde im Jahre 1801 in Wien höchstobrigkeitlich verboten, öffentliche Vorlesungen zu halten, da diese vom Geist des Materialismus getragen seien. Ein Vorgang, der sich in diesem Jahrhundert mehrfach wiederholen wird. 1854 ereilt ein solches Schicksal Jacob Moleschott (1822–1893) in Heidelberg, wo er wegen des atheistischen und materialistischen Inhalts seiner Vorlesungen verwarnt wurde – worauf er die Universität verläßt. Ludwig Büchner (1824–1899) widerfährt 1856 in Tübingen das gleiche. Materialismus gilt vor allem im Deutschland jener Jahre als begriffsgewordener Ungeist, zugleich als Gefährdung der allgemeinen Sitten. Die Gottlosigkeit trage er vor sich her, weil er Grundsätze christlicher Theologie negiere, von denen die Annahme der persönlichen Unsterblichkeit zu den sowohl für das Dogma als auch für den einfachen Menschen grundsätzlichsten Lebensorientierungen zählt. Der Disput über die Seele und ihr Verhältnis zum Gehirn gestaltet sich auch aus diesem Grunde zu einer Hauptfrage im Verhältnis von Gott und Welt, von duldsamem Erdendasein und jenseitiger Erlösungshoffnung. Der Materialismus trat als Politikum in das 19. Jahrhundert, gemeinsam mit den Erkenntnissen der noch jungen anthropologischen Forschung versprach er neue sozialtheoretische wie weltanschauliche Gewißheiten.

I. Materialismus und anthropologisches Menschenbild. Eine Definitionsfrage Materialistisches Philosophieren ist im 19. Jahrhundert einem großen Erkenntnisstrom vergleichbar, der sich stets weiter aufgliedert und spezifiziert. Schon ab der Mitte des Jahrhunderts stehen sich diverse Materialismen gegenüber und erschweren durch diese Vielfalt eine befriedigende Definition dieses Be-

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griffs. Das betrifft vor allem auch den anthropologischen Materialismus. Bleibt das materialistische Element der Hauptträger dieser Philosophie – oder wird er durch das jeweilige Attribut geprägt? Nun weiß man, daß der mechanische Materialismus als die langlebigste und verbreiteste Form materialistischen Denkens bis in das 20. Jahrhundert hinein über keine eigene Mechanik verfügte und mit der Wissenschaft der Mechanik nicht in Konkurrenz treten wollte. Was er der Mechanik entnahm, waren zudem keine Ausschmückungen seiner eigenen Thesen oder gar nur die Beispiele, um diese Thesen zu exemplifizieren. Sondern der mechanische Materialismus erklärte die wichtigsten Erkenntnisse der Mechanik zu den Grundzügen allen Seins, erhob diese in den Rang philosophischer Prinzipien! Das Attribut dieses Materialismus wurde damit zu seinem bestimmenden Aspekt. Als Folge davon war die Mechanik zugleich Einzelwissenschaft und Fundamentallehre, die geradezu in persona für eine materialistische Weltsicht einstand. Kommt diese Besonderheit auch dem anthropologischen Materialismus zu, spielt er eine vergleichbare erkenntnisgeschichtliche Rolle? Diese Frage ist keineswegs einfach zu entscheiden; auf den ersten Blick scheint eine bejahende Antwort näher zu liegen als eine verneinende, denn in beiden Fällen handelt es sich um eine Verknüpfung philosophischer und einzelwissenschaftlicher Prinzipien. Doch im Unterschied zur Mechanik richtet sich die Anthropologie als Einzelwissenschaft nicht auf die Grundlagen allen Seins, auf die Welt der Atome und der molekularen Grundbewegungen aller existierenden Dinge. Sie ist wesentlich spezifischer und stellt eine Betrachtungsebene in den Vordergrund, die dem bisherigen Materialismus (sieht man von einigen mittelalterlichen Denkern ab) eigentlich eher fremd war. Auf der anderen Seite wird der definitive Grundsatz des Materialismus der Neuzeit, den Blick auf die materiellen (mechanischen, stofflichen etc.) Grundlagen allen Seins zu richten, von einem anthropologischen Materialismus nicht mehr eingelöst. Das ist ihm nicht wichtig, zumindest nicht mehr das wichtigste. Schon vor dem Einstieg in das Thema scheinen wir in definitive Abgründe zu versinken, aus denen wir wohl nur dann herauskommen, wenn wir uns nicht auf die Definition der Endgestalt dieses anthropologischen Materialismus versteifen, sondern der Frage nachgehen, wie die anthropologische Thematik zu einem durchgreifenden Formwandel des traditionellen, überkommenen Materialismus geführt hat. Das scheint tatsächlich der entscheidende Punkt einer Definition des anthropologischen Materialismus zu sein, der zugleich der Anthropologie ihren Status als forschende Einzelwissenschaft erhält und diese nicht in den Grundbestand der Philosophie zu integrieren sucht. Dabei soll an dieser Stelle die naheliegende Frage, ob nicht doch die Anthropologie im 18. Jahrhundert als philosophische Disziplin in die Erkenntniswelt der Moderne eingestiegen ist und sich dann erst zu einer empirisch begründeten forschenden Wissenschaft herausgeformt hat, nicht übergangen werden.

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Gewiß ist das richtig; doch die im Werdegang des Materialismus erfolgende Assimilation anthropologischer Themen bis zur Herausbildung eines spezifischen anthropologischen Materialismus erfolgte erst im 19. Jahrhundert. Auf der anderen Seite ist die Anthropologie erst in diesem Jahrhundert zu einer speziellen Wissenschaft geworden und steht wie alle Naturwissenschaft ihrem Wesen nach außerhalb des uralten philosophischen Streites zwischen einer idealistischen und einer materialistischen Weltsicht.

II. Feuerbachs anthropologischer Materialismus – Materialismus als Humanismus Der geistesgeschichtliche Hintergrund, der das ganze 19. Jahrhundert prägen wird, geht auf die weltanschauliche Überzeugung des französischen Materialismus zurück, wonach, wie es Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) ausgedrückt hat, die Natur den Menschen einzig dazu geschaffen habe, damit dieser glücklich sei. Diese These, die als epikuräisches Prinzip in der Philosophiegeschichte mehrfach Furore machte, war für die europäische Aufklärung im allgemeinen wie für die deutsche Klassik im besonderen Reizwort und Verheißung zugleich. Der Mensch war nicht mehr nur der Sünder, bloßes Werkzeug Gottes, der Büßende und Leidende. Sondern, so klang es aus dem revolutionären Frankreich herüber, für jeden Menschen gibt es die Chance zu einem selbstbestimmten Leben. Auf der anderen Seite war diese Chance gebunden an ein naturhistorisches Ganzes, das durch strenge Regeln bestimmt ist. Kausalität hieß das Zauberwort; und der aufklärerische Gedanke an ein Reich der Freiheit schien vom Materialismus der Franzosen in ein Räderwerk maschineller Ablaufzwänge versetzt worden zu sein. Aber das eine geht eben nicht ohne das andere. Bar jeder verlässlichen Naturgesetzlichkeit verliert sich die Chance zur Selbstbestimmung, weil ihr jegliche Garantien entschwinden. War für Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) der auf die Materiestruktur verweisende Allzusammenhang der Dinge und Erscheinungen, wie er aus Paul Thierry d’ Holbachs (1723–1789) System der Natur sprach, grau, »cimmerisch«, totenhaft; und dazu angetan, daß man davor »zurückschaudere wie vor einem Gespenst«1, wie er im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit schrieb, so war ihm der auf die menschliche Glückseligkeit zielende Gedanke des La Mettrie zutiefst sympathisch. Zwar konnte ein solcher Grundsatz kaum den vom Materialismus stets hochgehaltenen Beweisanforderungen entsprechen, aber er gehörte zu den folgenreichsten Wertvorstellungen des Materialismus der auf1

J. W. von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 13: Poetische Werke. Autobiographische Schriften, Berlin 1960, 528.

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brechenden Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts, der zugleich wesentliche Elemente der Befreiungsideologie im Umkreis der Französischen Revolution von 1789 in sich barg. Es war philosophisch untersetztes anthropologisches Denken, das diesen Vorstellungen zugrunde lag; und zugleich festigte sich seit Immanuel Kant (1724–1804) die Überzeugung, daß der Natur des Menschen auch empirisch auf die Sprünge zu kommen ist. Aber beides ging zusammen. Bereits hier, im französischen Materialismus, war die Überzeugung fundamental, daß ohne das allumspannende Naturgesetz keine auf Einsicht in das Wesen der Dinge basierende Philosophie der Befreiung der Menschheit von eigenen, selbstgesetzten Zwängen möglich, weil nicht anders begründbar sein werde. Auf der anderen Seite konnte die Proklamation eines Glücksanspruchs für alle Menschen auf die Dauer nicht ohne Forschungen zu den historischen und sozialen Strukturen des Menschseins auskommen. Diese zwei Gesichter waren dem Materialismus des 19. Jahrhunderts mit auf den Weg gegeben: Die Überzeugung, daß die Rekonstruktion der humanen Ansprüche des Menschengeschlechts als vornehmes Anliegen der Philosophie in der Wesensbestimmung des Menschen, die ganz auf Natur verwiesen war, ihre unhintergehbare Grundlage hat; zugleich das Beharren auf dem Schutzbündnis mit den Wissenschaften, die allein das Wissen vom Menschen vertiefen können. So gab sich die eine Variante eher naturwissenschaftlich und stellte sich als physiologischer, chemischer oder mechanischer Materialismus vor, um zunehmend auch den Menschen zum Gegenstand und Ziel ihres Philosophierens zu erheben, während die andere in einem philosophisch-konzeptionellen Sinne als anthropologischer Materialismus durch das Jahrhundert lief, einsetzend mit den utopischen Sozialisten, fortgeführt durch die Feuerbachianer und den frühen Marxismus, sich ausdifferenzierend in eine Vielzahl humanistischer Philosophien, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilweise neue, spannende Züge annahmen. Man denke nur an die anthropologische Philosophie Pjotr Aleksejewitsch Kropotkins (1842–1921), an den späten David Friedrich Strauß (1808–1874), aber auch an die in verschiedenen Grundannahmen vom Materialismus abweichenden, nichtsdestoweniger auf gleichem wissenschaftlichem Fundament wirkenden Philosophien Herbert Spencers (1820–1903), Gustav Theodor Fechners (1801–1887), Hermann Lotzes (1817–1882), Eugen Dührings (1833–1921), Wilhelm Wundts (1832–1920) und anderer Denkerpersönlichkeiten, deren Namen teilweise uns Heutigen gänzlich abhanden gekommen sind.2 Doch käme man auf eine falsche Fährte, 2

Das wird deutlich, wenn man nur einmal F. A. Langes Geschichte des Materialismus nach den dort aufgezählten Namen durchblättert: 1. Aufl. 1866; hier zitiert nach der von H. Schmidt besorgten Ausgabe bei A. Kröner, Leipzig 1907.

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wollte man aus diesen zwei Gesichtern zwei Strömungen ableiten. Der Materialismus des 19. Jahrhunderts war in allen seinen Spielarten anthropologisch; entweder im Grundanliegen oder in der erklärenden, kognitiven, letztlich auch propagandistischen Konsequenz. Auch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, daß jedes dieser beiden Gesichter noch einmal in differenzierter Gestalt erscheint. Der im strengeren Sinne auf die Naturwissenschaft bezogene, besser auf ihr aufsitzende Materialismus ist flankiert von einer ganz spezifisch medizinisch ausgerichteten Variante; und der anthropologische erfährt durch Karl Marx (1818–1883) eine weiterführende Prägung. Dabei standen sich diese Varianten des Materialismus nicht schroff gegenüber. Der mechanische, chemische, physiologische oder wie auch immer naturwissenschaftlich untersetzte Materialismus des 19. Jahrhunderts stand zumindest in den Jahrzehnten bis zur Jahrhundertmitte im engen Kontakt zum anthropologischen Materialismus der Feuerbachschen Prägung, der wiederum im Wissen um diesen mechanischen, chemischen oder physiologischen Hintergrund eine seiner argumentativen Grundlagen erblickte, jedoch in seinen sozialen Konsequenzen aus dieser Bindung an die Naturerkenntnis weitreichendere Schlüsse zog. Für Ludwig Feuerbach (1804–1872) war der Chemiker und Physiologe Moleschott der wissenschaftliche Gewährsmann; und nicht von ungefähr bezeichnete Feuerbach seine Untersuchungsmethode als »eine durchaus objektive«, abgeschaut von der »analytischen Chemie«.3 Ähnliche Querverbindungen gab es zwischen allen Varianten. Doch der Angriffspunkt der Feuerbachschen Schrift lag weit außerhalb der Naturwissenschaft – er galt direkt der Theologie, im weiteren Sinne der christlich-religiösen Verehrung eines überirdischen Wesens. Das Argumentationspotential blieb jedoch der Naturwissenschaft verbunden. Die Differenz zwischen Vernunft und Glauben verortete er als Ausdrucksform einer »psychischen Pathologie«, einer Verkehrung der tatsächlichen Beziehung von Mensch und Gott. Und im Vollzug dieser These stellte er programmatisch fest, daß der »wahre Sinn der Theologie die Anthropologie ist«4, daß »zwischen dem göttlichen oder menschlichen Subjekt oder Wesen kein Unterschied ist […].«5 Gott – das ist der Mensch; die leidende Kreatur, die die Maßstäbe ihrer eigentlichen Bestimmung als Gott ins Jenseits projiziert hat und damit zum Gegenstand der Anbetung erhob. Die befreiende Wirkung dieser philosophischen Tat kann man nur dann ermessen, wenn man die religionskritische Literatur jener Zeit dazu ins Verhältnis setzt. Bruno Bauer (1809–1882) nahm die Evangelien ins Visier, die historische Abfolge des biblischen Christentums 3

L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von W. Schuffenhauer, Berlin ²1984, 6. 4 Ebd., 5. 5 Ebd., 18.

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und den orthodoxen Gottesbegriff; während David Friedrich Strauß kritisch dem Leben Jesu nachging und damit die christliche Glaubenslehre in ihrer faktischen Fragwürdigkeit zur Diskussion stellte. Das war Religionskritik, die auf die Unwahrscheinlichkeiten der theologischen Bibel-Interpretation zielte. Im Vergleich dazu mußte die Wirkung des Generalangriffs von Feuerbach ganz ungeheuer sein. Er stellte nicht die Elemente des Systems in Frage, sondern das ganze Werk der Theologie. Er stellte aber nicht nur in Frage, sondern dekodierte dieses mächtige Jahrtausendgebilde und erschütterte es in seinen Grundfesten. Es war nun eine Frage der persönlichen Einstellung, inwieweit jetzt noch Raum war für religiöses Denken. Winkte der pure Atheismus – oder war Ludwig Feuerbachs Tat lediglich eine Erklärung für einen sozialen Sachverhalt? Wahrscheinlich hat der generelle Atheismusvorwurf, der dem Materialismus seit jeher, dem Feuerbachschen jedoch in besonderer Weise entgegengehalten worden ist, diese wichtige Differenz zwischen Widerlegung der Religion (was ja eigentlich im strengen wissenschaftlichen Sinne nicht so recht möglich erscheint) und ihrer einsichtigen Erklärung (ihrer Entstehung, ihres Wesens etc.) nicht beachtet.

III. Grundannahmen materialistischer Weltsicht im 19. Jahrhundert Hier nun stellt sich die Frage nach einer möglichen definitiven Abgrenzung dieser verschiedenen Erscheinungsformen des wissenschaftsbasierten Materialismus jener Epoche, und das nicht nur in Hinsicht auf die Stellung des anthropologischen Problems in ihnen, sondern auch im Hinblick auf eine relativ zuverlässige Unterscheidung von den anderen auf die Naturwissenschaft bezogenen philosophischen Positionen, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Anwachsen begriffen sind (Energetismus, Sensualismus, psychophysischer Parallelismus, Positivismus, Neukantianismus, Vitalismus usw.). Im Selbstverständnis ihrer Vertreter bildete die Theorie von einer natürlichen Weltordnung das Fundament dieses Materialismus, wonach es außer Zweifel stehe, »dass das makroskopische wie das mikroskopische Dasein in allen Punkten seines Entstehens, Lebens und Vergehens nur mechanischen und in den Dingen selbst gelegenen Gesetzen gehorcht […].«6 Mit dieser Grundannahme sind nun eine ganze Reihe von Folgeannahmen verbunden, die durchaus austauschbar oder in den jeweiligen Materialismen unterschiedlich gewichtet sind. Das betrifft zum ersten die Überzeugung von einer durch6

L. Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung. Nebst einer darauf gebauten Moral oder Sittenlehre, Vorwort zur ersten Auflage 1855, Leipzig 16 1888, XX.

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gehenden, ununterbrochenen, kausalen Gesetzlichkeit in dieser Weltordnung, wobei gerade die Kausalität das Ordnungshafte und, auf den Menschen bezogen, Zuverlässige dieser Welt bildet und dem Gedanken eines Ausgeliefertseins des Menschen an irgendwelche übergeordneten chaotischen Naturgewalten prinzipiell entgegengesetzt ist. Festzuhalten wäre dabei, daß ein solcher Ansatz durchaus mit pantheistischen und deistischen Deutungen vereinbar sein kann, weshalb er allein nicht ausreicht, um einen hieb- und stichfesten Materialismus zu begründen. Eine zweite Folgeannahme bildet der Gedanke an einen durchgehenden Bewegungszusammenhang von den großen makroskopischen Dimensionen bis hinunter zu den intimsten Einzelgestaltungen. Vor allem hier hat sich der dem älteren Materialismus nachfolgende wissenschaftsorientierte Materialismus des 19. Jahrhunderts seit seiner programmatischen Wiederbegründung stark differenziert. Der Blick auf den übergeordneten Kosmos ist ja verschieden interpretierbar. Einmal hängt er ab von der Wertzuordnung der kosmischen Dimensionen im Verhältnis zur Winzigkeit des irdischen Geschehens. Eine Sonderstellung der Erde und des Lebens in kosmischer Sicht ist theologisch weitaus besser zu integrieren, als das dem Materialismus möglich ist. Auch aus diesem Grunde hat sich der kosmisch orientierte Materialismus stärker dem Harmoniegedanken zugewandt und früh schon im Werk Giordano Brunos (1548–1600) die Idee einer materiellen Gesetzen folgenden inneren Stimmigkeit dieses Ganzen begründet. Auch die Annahme des mechanischen Charakters dieser alles durchziehenden Gesetzlichkeit war in der Folgezeit vielfältigen Deutungen und Abänderungen ausgesetzt. Eine weitere Folgeannahme bezog sich auf die Strukturbestandteile dieses mechanischen Weltgefüges. Ob diese atomistischer Natur sind oder aber eher aus energetischen Bündelungen bestehen, gar einem grob dinglichen Raster unterworfen werden, ändert nichts an der materialistischen Grundsicht. Später hat der dialektische Materialismus sich von einer solchen atomistischen wie dinglichen Sicht abgewandt und mit dem Komplexbegriff der »objektiven Realität« sich von der relativen Unsicherheit des jeweiligen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes in Sachen Materietheorie freigemacht. Die vierte Folgeannahme ist ausschließender Natur; sie betrifft die Ablehnung eines Schöpfergottes sowohl im Bezug auf die materielle Welt, auf den Menschen, aber auch auf die geistige Welt. Hier setzte das materialistische Ausgangspostulat des dialektischen Materialismus der Marxschen wie Engelsschen Prägung an, indem es das »Ideelle« expressis verbis als das im Menschenkopf umgesetzte Materielle bestimmte. Das war die Umkehrung des Hegelschen Gedankenganges, wonach das Wirkliche als die äußere Erscheinung der Ideen aufgefaßt worden ist; und markierte zugleich den Hauptgegensatz von materialistischer und idealistischer Weltsicht. Damit aber hat sich der Materialismus, erkenntnistheoretisch gesehen, als fünfte Folgeannahme die These vom Abbildcharakter in der Relation von Geist und

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Materie eingekauft, was später als Widerspiegelungstheorie bezeichnet worden ist. Vor allem diese enge kognitive Sicht hat den späteren Materialismen das Leben auch gegenüber den Naturwissenschaften zunehmend schwer gemacht.7 Insofern hat der spätere Materialismus die allzu enge Bindung an die Naturwissenschaften sukzessive aufgegeben, ohne sich, von ideologisch motivierten Ausnahmen in der Geistesgeschichte des Realsozialismus abgesehen,8 je von den Naturwissenschaften besserwisserisch abzugrenzen oder gar loszusagen. Am Ende blieb ein Materialismusbegriff übrig, der, in Anlehnung an Friedrich Engels (1820–1895) und Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924), den Materialismus definierte als eine Auffassung, die die Welt so nimmt wie sie wirklich ist, ohne fremde, göttliche Zutat. Die sechste Folgeannahme aber war die für das religiös intendierte Welt- und Menschenbild einschneidendste – die Eingliederung des Menschen in diesen natürlichen Ablauf, in die kosmische materielle Ordnung. Da die erste deutsche (Bronnsche) Übersetzung von Darwins Entstehung der Arten den einzigen Satz, mit dem Charles Darwin (1809–1882) 1859 den Menschen in seine Theorie einbezogen, weggelassen hatte, blieb diese Eingliederung zunächst, aber nicht lange, außen vor. Doch in den sechziger Jahren war die Darwinsche Theorie nicht nur in Bezug auf die Naturgeschichte des Menschen, sondern auch zur Erklärung seiner Sozialgeschichte zum entscheidenden Bezugspunkt geworden.9 Fortan war wissenschaftsorientierter Materialismus ohne ein auf dem Darwinismus fußendes Menschenbild undenkbar geworden. Das wirkte zwar nicht etwa korrigierend bis in die strukturellen Grundannahmen des Materialismus hinein, aber es verlagerte den argumentativen Schwerpunkt des Materialismus. Vor allem Goethes Weltsicht hatte den steinernen Materieklotz des älteren Materialismus griffiger gemacht. Wenn das Materielle am Urgrund allen Seins steht, dann bewahrt es in sich zugleich alles Schöpferische. Die Formen der Natur drücken die Entfaltungspotenz alles Materiellen aus. Damals schieden sich allerdings die Geister vor allem an 7

Hier sei summarisch auf den Konstruktivismus verwiesen sowie auf spezielle Theorien wie die Chaostheorie, auf mathematische und strukturtheoretische Besonderungen (so die »Apfelmännchen« in den fraktalen Geometrien), die als Rechnungsmuster der Wirklichkeit aufprägbar sind und dabei neue Wirklichkeiten schaffen. 8 Man denke hier an den Lyssenkoismus sowie an die vorübergehende Ablehnung der relativistischen Physik durch einige Vertreter des dialektischen Materialismus vor allem in der Sowjetunion. 9 Vergleiche dazu die Übernahme der Darwinschen Theorie zur Lösung der Arbeiterfrage durch Friedrich Albert Lange, Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft (1865), neu herausgegeben von Franz Mehring, Berlin o. J. (1910). Die Darwinsche Anthropologie wird bald schon zur Erklärung der verschiedensten sozialen Gestaltungen herangezogen; sogar die Herausbildung der Gesellschaftsklassen habe in den anthropologischen Unterschieden der Menschen ihre Wurzel (so bei Georges V. de Lapouge, Les Sélections Sociales, Paris 1890).

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dieser Frage; die aus der Romantik weit in das 19. Jahrhundert ausstrahlenden Konzepte einer belebten Materie, von Naturforschern wie Carl Gustav Carus (1789–1869), Gustav Theodor Fechner und Eugen Bleuler (1857–1939) ganz unbefangen vertreten, von Biologen und Physikern wie Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) und Hermann Helmholtz (1821–1894) eher hinter vorgehaltener Hand hypothetisch angemerkt, blieben dem strengen Materialismus allerdings fremd. Heute spricht man im Rahmen der Naturforschung gerade auch angesichts dieses eine ganz eigene Ästhetik bildenden Gestaltungsreichtums der materiellen Welt von einer »Begabung der Materie«10. Der ältere Materialismus stand jedoch einer Einbeziehung geistiger Potentialitäten in seinen Grundbegriff streng gegenüber; was er jedoch akzeptieren konnte, das war das weit in die geistigen Bereiche sich erstreckende Entwicklungspotential eben dieses Materiellen.

IV. Naturwissenschaftliche Anthropologie als Basis des utopischen Sozialismus und des frühen Marxismus Doch zurück zum anthropologischen Zuschnitt des Materialismus im Gefolge Feuerbachs, denn diese Gestalt des Materialismus im 19. Jahrhundert war zumindest in den vierziger Jahren von fundamentaler Ausstrahlungskraft. Es war nur logisch, daß sich auf dieser philosophischen Einsicht, wonach die Theologie nichts anderes ist als Anthropologie (bei Feuerbach heißt es genauer, daß das »Geheimnis der Theologie die Anthropologie«11 sei, womit auf das schwer aufzudeckende, entfremdete Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Natur aufmerksam gemacht wurde), detailliert weiterbauen ließ. Nämlich dadurch, daß man diese anthropologische Grundnatur nicht nur als eine essentielle Projektierung betrachtet, sondern nach den Parametern fragt, die das Menschsein in sichtbarer und erforschbarer Weise darstellen. Die Naturwissenschaft mußte also weitergreifen und das natürliche Menschsein aufdecken, damit es kopfklar zu sich selbst kommen kann. »Nur die Naturwissenschaften können die Welt befreien«12, hat der Marxfreund Roland Daniels (1819–1855)

10

Vgl. A. Müller, Chemie und Ästhetik, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 54, Heft 3, Berlin 2002, 69. 11 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, a. a. O., 6 f. 12 Roland Daniels an Karl Marx vom 24. April 1851, in: MEGA III / 4, Berlin 1984, 363. Ausführlich hat Daniels sein Konzept in dem seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen Manuskript Mikrokosmos. Entwurf einer physiologischen Anthropologie dargestellt. Die Erstveröffentlichung dieses 1851 niedergeschriebenen Manuskriptes erfolgte 1988 im P. Lang Verlag, Frankfurt / M. u. a., hrsg. vom Karl-Marx-Haus in Trier.

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im Jahre 1851 an Karl Marx geschrieben und damit diese Überzeugung auf den Punkt gebracht. Die Naturwissenschaften waren für Daniels zugleich auch die Wissenschaften vom Menschen, von der Einbindung des menschlichen Organismus in die Natur und von den sich daraus ergebenden Forderungen an eine naturbewußte Ernährung und Lebensweise, wie er ganz im Sinne des frühen Moleschott argumentierte. Wilhelm Weitling (1808–1871) und Moses Heß (1812–1875) haben etwa zur selben Zeit die kosmologischen, physikalischchemischen wie anthropologischen Fundamente der anzustrebenden sozialistischen Gesellschaft wortreich umrissen. Weitling leitete aus der kosmischen Sphäre die organische, aus dieser die soziale und schließlich die humane Lebenssphäre ab. In der Sonne erblickte er den Inbegriff der verehrungswürdigen Naturgesetze: »Oh du herrliche Sonne, du Lehrerin des Kommunismus!«13 ruft er in der Republik der Arbeiter aus. Während Ludwig Feuerbach noch die Anthropologie zur Entzauberung der Theologie nutzte, war für Heß der nächste Schritt bereits programmatisch vollzogen: Anthropologie ist Sozialismus!14 Auf einem anderen Weg, quer zu Marx und etliche Jahre vor ihm, hatten sich die Wortführer des Arbeiterkommunismus wie auch der englische und französische utopische Sozialismus auf die anthropologischen Bestimmungen einer kommunistischen Befreiungstheorie orientiert. Eine Gesellschaftsordnung auf der Basis des Gemeineigentums wird angestrebt, in der alle Mitglieder ihren Fähigkeiten gemäß arbeiten werden.15 Théodore Dézamy (1808–1850) legte 1842 eine anthropologisch-physiologische Interpretation der Geschichte vor und verkündete, dass sich alle künftigen theoretischen Bemühungen auf die »Wissenschaft des menschlichen Organismus« zu konzentrieren haben, was gleichbedeutend sei mit der Kenntnis der »Bedürfnisse, Fähigkeiten und Leidenschaften des Menschen«. Letztes Ziel aller Bemühungen sei die »freie, ordentliche und vollständige Entwicklung unseres Wesens, volle und gänzliche Befriedigung unserer (physischen, intellektuellen und moralischen) Bedürfnisse, in einem Wort: ein ganz naturgemäßes Leben.«16 Ähnlich hat Roland

13

W. Weitling, Die Republik der Arbeiter. Centralblatt der Propaganda für die Verbrüderung der Arbeiter (1850 / 55), Reprint Vaduz 1979, 71. Siehe auch: Ders., Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), hrsg. von F. Mehring, Berlin 1908; sowie Moses Heß, Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850, hrsg. von A. Cornu / W. Mönke, Berlin 1961. 14 M. Heß, Philosophische und sozialistische Schriften, a. a. O., 293. 15 Zum Schicksal der wohl bekanntesten arbeiterkommunistischen Kolonie, Etienne Cabets (1788–1856) Ikaria, vgl. J. Höppner / W. Seidel-Höppner, Etienne Cabet und seine Ikarische Kolonie, Frankfurt / M. 2002. 16 T. Dézamy, Code de la communauté, Paris 1842, 9 f. Die deutschsprachige Fassung der Zitate entnehme ich aus W. Seidel-Höppner / J. Höppner, Theorien des vormarxistischen Sozialismus und Kommunismus, Köln 1987.

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Daniels argumentiert: Der »ganze Mensch, mit allen seinen Kräften, von den physikalischen bis zu den organischen, seelischen und geistigen hiezu, gehört von jetzt an einzig der Naturwissenschaft an, einzig vor das Forum der sinnlichen Forschung […].«17 Zur selben Zeit zogen die russischen revolutionären Demokraten Alexander Iwanowitsch Herzen (1812–1870), vorübergehend in freundschaftlichem Austausch mit Carl Vogt (1817–1895) stehend, in seinen Briefe(n) zum Studium der Natur (1845/46), und Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828–1889) in seinem philosophischen Hauptwerk Das anthropologische Prinzip in der Philosophie (1860) vergleichbare Folgerungen. Aus der menschlichen Natur resultiere der Anspruch auf eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft! Die »Natur des Menschen« war dabei der entscheidende Rückgriffspunkt des politisch sich äußernden naturwissenschaftlichen Materialismus jener Zeit. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus der marxistischen Traditionslinie heraus der Marxsche Anspruch wieder freigelegt, wonach die menschliche Natur eine viel zu vage Basis für soziale Veränderungsprogramme abgebe. Es war Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856–1918), der 1896 in seinen Beiträge(n) zur Geschichte des Materialismus darauf hinwies, daß man nicht aus der Vorstellung einer relativ unveränderlichen »menschlichen Natur« heraus die Maßstäbe der sozialen Evolution ableiten könne. Der Rückgriff auf die »menschliche Natur«, so Plechanow, ist »ein vergeblicher Schlüssel zur Öffnung aller Türen«, d. h. zur Erklärung der Gesetzmäßigkeiten historischer Abläufe.18 Die Anbindung der geschichtlichen Ereignisse an eine unveränderliche Wesensart des Menschen, wie es in den Werken der den französischen Materialisten nachfolgenden Geschichtstheoretiker wie Henry Thomas Buckle (1821–1862) und Hippolyte Taine (1828–1893) der Fall ist, mache es sich zu leicht, um die komplizierten Phänomene der durch Menschenwerk gestalteten Natur zu erklären, indem sie dies einfach den »angeborenen und ererbten Dispositionen zuschiebt […].«19 Aber Plechanows Kritik begründete keine generelle Ablehnung der »Natur des Menschen« für die Geschichtstheorie und auch nicht als Bezugspunkt der Marxschen Philosophie, sondern zielte auf ein wesentliches Zwischenglied im Fundament der materialistischen Geschichtsauffassung. Nicht die »Natur des Menschen« ergibt das gesellschaftliche Sein, sondern die geschichtliche produktive Tätigkeit des Menschen vollzieht die historische Evolution als Basis dieses Seins. Objektive Gesetze des Geschichtsverlaufs, damit verläßliche, erkennbare Kausalbeziehungen in der Gesellschaft werden durch die Tätigkeit 17 18

R. Daniels, Mikrokosmos, a. a. O., 20. G. W. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus (1896), Leipzig o. J.,

207. 19

Ebd.

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des Menschen selbst geschaffen. Die Geschichte ist des Menschen Werk – diese These wird zum neuen Grundzug materialistischen Philosophierens.20 Damit wird die zunächst abstrakt anthropologisch klingende Losung von der »Natur des Menschen« inhaltlich über die biotische Natur des Menschen hinausgeführt und auf die soziale Natur des Menschen projiziert. Nicht die biotische »Natur des Menschen« bildet den erhofften Erklärungsgrund für die Aneignung der Natur als Voraussetzung für die Geschichte, sondern es ist dies, so Marx, die Arbeit als die reale, geschichtsbildende, prozessierende, konkrete Einheit des Menschen mit der Natur.21

V. Anthropologie im Übergang zum Darwinismus Damit sind wir auf die oben bereits vermerkte zweite Erscheinungsform des anthropologisch fundierten Materialismus gestoßen – auf die Traditionslinie des Marxismus. Und auch die schon genannte zweite Gestalt der naturwissenschaftlichen Anbindung des Materialismus im 19. Jahrhundert muß mit Blick auf ihre tatsächliche Rolle hervorgehoben werden. Schon vor Beginn des 19. Jahrhunderts bildete der Zusammenhang von Medizin und materialistischer Interpretation wesentlicher Lebensäußerungen des Menschen ein wichtiges Element in der Profilierung des neueren Materialismus. Es war dies eine an René Descartes (1596–1650) anknüpfende Tradition. »Mit dem Arzte Le Roy beginnt diese Schule, mit dem Arzte Cabanis erreicht sie ihren Höhepunkt, der Arzt La Mettrie ist ihr Zentrum […].«22 John Brown (1735–1788), Joseph Priestley (1733–1804) und viele andere stehen ihnen zur Seite. In Deutschland hat der Würzburger Arzt Melchior Adam Weikard (1742–1803), der spätere Leibarzt Katharina der Großen, eines der ersten Konzepte einer materialistischpsychologischen Menschenbetrachtung vorgelegt.23 Im ausgehenden 18. Jahr20

So heißt es in den Thesen über Feuerbach: »Der Hauptmangel allen bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.« (In: K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, 5). 21 Das hat Peter Ruben in einer seiner ersten Arbeiten zu diesem Problem überzeugend dargetan. Siehe: P. Ruben, Natur und Naturwissenschaft in der Entstehung der marxistischen Philosophie, in: H. Hörz / R. Löther / H. Ley (Hg.): Naturphilosophie – von der Spekulation zur Wissenschaft, Berlin 1969, 253. 22 K. Marx / F. Engels, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, 133. 23 M. A. Weikard, Der philosophische Arzt. 4 Teile. 1775–1777, Frankfurt / Hanau / Leipzig ²1782.

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hundert greift vor seiner romantischen Periode Johann Christian Reil (1759– 1813) diese Tradition auf. Später halten sie Rudolf Virchow (1821–1902), Rudolf Leubuscher (1822–1861), Salomon Neumann (1819–1908), Roland Daniels und Ludwig Büchner neben vielen anderen aufrecht. Es ist dies eine wichtige Linie, denn sie steht gegen die oft zu lesende Behauptung, wonach der naturwissenschaftliche Materialismus des 19. Jahrhunderts in Gänze und von Anfang an in seiner Sicht auf die Welt der Atome und Reagenzien den Menschen aus dem Auge verlieren würde, mithin menschen- und geistfeindlich sei – eine Behauptung, die für jene Epoche keinesfalls zutrifft. Der Mensch bleibt von La Mettrie über Reil, Virchow, Daniels und Büchner das große Grundthema dieses Materialismus.24 Das gilt sowohl für den medizinischen Materialismus – was nahe liegt –, aber auch für den mechanischen bzw. chemischen bzw. physiologischen Materialismus, also in gleichem Maße für die Denkwerke Carl Vogts, Jacob Moleschotts und Ludwig Büchners. Carl Vogts den ersten großen Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts auslösende Schrift Köhlerglaube und Wissenschaft stellte zwei Grundfragen in den Mittelpunkt, die beide anthropologischer Natur sind: einmal die von seinem Kontrahenten Rudolph Wagner (1805–1864) behauptete Herkunft aller Menschen aus einem einzigen Paar, zum anderen die Frage nach der Existenz einer individuellen unsterblichen Seele.25 Jacob Moleschotts zentrales Anliegen während seiner Heidelberger Vorlesungszeit bildete neben der Organologie und Experimentalphysiologie die Anthropologie, der er sich »mit opferwilligem Eifer« hingegeben hat. Er forderte eine Menschenkunde »nach allen Seiten, ohne Theologie und Teleologie, ohne Gotteswahn und Zweckmäßigkeitslehre, aber […] mit der Religion, die den Menschen als ein abhängiges, naturbedingtes Wesen betrachtet, das die Aufgabe als Pflicht erfaßt hat, seine Naturbedingtheit immer mehr zu der Kulturbedingtheit zu erheben, die ihm mit der Bewunderung der Natur den Trieb und die Kunst, sie zu beherrschen, einflößt.«26 Und auch Ludwig Büchner hat nach seinem den neuen naturwissenschaftlichen Materialismus mit begründenden, frühen Hauptwerk Kraft und Stoff (1855) ein anthropologisches Standardwerk verfaßt, das unter dem Titel Der Mensch und seine Stellung in Natur und Gesellschaft im Jahre 1869 erschien. Doch inzwischen hatte Charles Darwin (1809–1882) sein Hauptwerk publiziert – ein den naturwissenschaftlichen wie anthropologischen Materialismus durchgreifend erneuerndes Ereignis!

24

Siehe O. Finger, Medizin und Materialismus, in: H. Hörz / R. Löther / H. Ley (Hg.), Naturphilosophie – von der Spekulation zur Wissenschaft, a. a. O., 94. 25 Siehe dazu die Einleitung von Christoph Kockerbeck in dem von ihm herausgegebenen Werk: Carl Vogt, Jacob Moleschott, Ludwig Büchner, Ernst Haeckel. Briefwechsel, Marburg 1999, 27. 26 J. Moleschott, Für meine Freunde. Lebens-Erinnerungen, Gießen 1894, 251.

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Auch Büchner hat sich der neuen evolutionstheoretischen Perspektive für die Erforschung der Geschichte und Gegenwart des Menschseins sofort und voll und ganz angeschlossen. In diesen Jahren kreuzen sich die auf den Naturwissenschaften und der Medizin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufbauenden Materialismen mit den evolutionstheoretisch auf eine neue Stufe gehobenen Materialismen teilweise derselben Autoren; Büchner vor allem, aber auch Vogt, Moleschott und der österreichische Sozialethiker Bartholomäus von Carneri (1821–1909). Friedrich Albert Lange (1828–1875) hat in seiner berühmten Geschichte des Materialismus 1865 diese Geschichte eingeteilt in den Materialismus vor Kant und nach Kant; eine vergleichbare Untergliederung in den naturwissenschaftlichen Materialismus vor und nach Darwin macht fraglos einen ebensolchen Sinn. Denn nun tritt eine neue Fraktion des naturwissenschaftlichen Materialismus hinzu – die Darwinianer, angeführt in Deutschland von Ernst Haeckel (1834–1919), in Großbritannien von Thomas Huxley (1825–1895), denen sich eine stattliche Reihe auch schriftstellerisch begabter Naturforscher anschließen: Oskar Schmidt (1823–1886), Edward Aveling (1851–1898), Ray Lankaster (1847–1929), Karl Pearson (1857–1936), Enrico Ferri (1856–1929), Emil du Bois-Reymond (1818–1896), Friedrich Gustav Jakob Henle (1809–1885), Emil Adolf Roßmäßler (1806–1867), Alfred Edmund Brehm (1829–1884), Wilhelm Bölsche (1861–1939), Hermann Burmeister (1807–1892), Wilhelm Roux (1859–1924), Henry Milne-Edwards (1800–1885), August Weismann (1834–1914), Arnold Dodel-Port (1843–1908), Heinrich Cunow (1862–1936), August Forel (1848–1931) – ihre Zahl ist wahrlich Legion. Ein wirklich durchgreifender Unterschied im philosophischen Gehalt und in den jeweils behandelten Themen ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Das anthropologische Grundthema der Natur des Menschen als Basis der geschichtlichen Leistungen der Menschheit, wie es Herzen und Buckle vorschwebte; einer Befreiung von Aberglauben und Entfremdung, sich von Feuerbach zu Marx erstreckend; der Selbstgestaltung durch Arbeit, zuerst von Claude-Henri Saint-Simon (1760–1825) thematisiert, dann ganz zentral von Marx; der naturwissenschaftlich fundierten Erneuerung der gesamten Physiologie des Lebens durch Moleschott, Daniels und Weitling; des materialistisch konzipierten »Gottüberall«, auf Baruch Spinoza (1632–1677) und Feuerbach zurückweisend, wieder aufgegriffen von Bartholomäus von Carneri; der Einbindung des Menschen in die Harmonie der Welt durch Francois-Marie Charles Fourier (1772–1837); der bedürfnisgerechten Organisierung des gesamten sozialen Lebensprozesses, wie es uns bei Dézamy begegnet ist; der Einheit von Körper und Geist, von Gehirn- und Seelentätigkeit bei Vogt, Büchner, Heinrich Czolbe (1819–1873) und Moleschott; der Rückbezüglichkeit des Gottesbegriffs auf den Menschen bei Feuerbach und Büchner; des Rufes nach der Einzigkeit und Einmaligkeit der Individualität und der damit verbundenen exzessiven

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Sonderstellung des Menschen in Fortführung sowohl entwicklungsbiologischer Einsichten als auch des entsprechenden Fanals bei Max Stirner (1806– 1856); schließlich der Konstruktion einer neuen Sittlichkeit und Moral aus diesen Grundsätzen heraus – alle diese großen Themen des vordarwinschen Materialismus verlieren mehr oder weniger an Präsenz. Das wird natürlich in gewisser Weise kompensiert durch die nunmehr viel weitreichendere Einbindung des Menschen in die Entwicklungsgeschichte des Lebens, womit auch neue weltanschaulich und ethisch tragende Gesichtspunkte offenbar werden. Die Frage nach der Naturgeschichte der Sitten, nach der entwicklungsgeschichtlichen Herausbildung der ästhetischen Gefühlswelt, des ethischen und ästhetischen Grundvermögens der Menschen, aber auch der Entstehung der frühmenschlichen Gemeinschaftsformen, von Liebe, Sexualität und Familie, der Rolle der Frau, damit verbunden der matriarchalischen und patriarchalischen sozialen Strukturen, der Herausbildung des abstrakten Denkens und viele damit verwandte Fragen erhielten erst durch Darwin ihr Profil. Das Interesse an diesen Untersuchungen ist auch innerhalb der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx und Friedrich Engels riesengroß, geht es doch nun nicht mehr nur um die lapidare erste Reaktion von Marx auf den Darwinismus, in dem er die »naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht«27 erblickte, sondern um die neuen historischen Dimensionen der Erforschbarkeit von tatsächlichen Zusammenhängen zwischen Produktions- und Lebensweise in den frühen Gesellschaften.

VI. Anthropologische Themen im marxistischen Diskurs Eine wichtige Nagelprobe für den Marxismus stand bevor; und Marx hat sich früh schon in seinen ethnologischen Exzerptheften dieser Herausforderung zu stellen versucht.28 August Bebel (1840–1913) kam, selbst für Engels völlig überraschend, bereits 1879 mit seiner historischen Betrachtung zur Stellung der Frau in der Menschheitsgeschichte zu der Folgerung, daß die gesamte bisherige Geschichte der Frau nach den Gesetzen des von ihm lamarckistisch verstandenen Darwinismus, also der umweltausgelösten Zwänge im Wechselspiel von Anpassung und Vererbung, erklärt werden müsse, während im Blick auf die bevorstehende sozialistische Gesellschaft, durch die bewußte Tat und die proletarische Aktion bedingt und befördert, die sozialen Parameter zur Ausbildung des modernen Typs der Frau – die Bebel perspektivisch als »man27

K. Marx, Brief an Engels vom 19.12.1860, in: MEW, Bd. 30, Berlin 1974, 131. Vgl. dazu L. Krader (Hg.), Karl Marx: Die ethnologischen Exzerpthefte, Frankfurt / M. 1976. 28

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nesebenbildlich« zeichnet – nun am Horizont auftauchten.29 Wenig später hat Friedrich Engels auf der Grundlage der Marxschen Exzerpte und der Einsicht in die ethnologischen Werke seiner Zeitgenossen Johann Jakob Bachofen (1815–1887) und Lewis Henry Morgan (1818–1881) in kaum mehr als drei Monaten eine der Fundamentalschriften des reifen Marxismus verfaßt: Vom Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884). Die Einsicht, daß für die Erklärung der frühen Gesellschaftszustände von einem Primat der anthropologischen Faktoren in ihrem Einfluß auf die Produktionstätigkeit auszugehen ist, bildet eine entscheidende Wegemarke in der Entwicklung der marxistischen philosophischen Anthropologie und beeinflußte die bald schon einsetzenden Debatten über die Rolle biotischer Faktoren im gesellschaftlichen Lebensprozeß. Dazu gehörte die Rezeption des Neomalthusianismus in Verbindung mit der vor allem auch für die sozialistische Frauenbewegung entscheidenden Frage nach der für die proletarische Frau zumutbaren Anzahl von Kindern, was sich bis zur Propagierung eines Gebärstreiks allerdings erst ein Dutzend Jahre nach der Jahrhundertwende erstreckte.30 Es gibt, so wurde in diesen Debatten festgestellt, kein schicksalshaftes Ausgeliefertsein im Durchschlagen biotischer Faktoren auf das gesellschaftliche Leben, wenngleich sich die sozialen Gebilde letzten Endes stets als entscheidend gegenüber den biotischen erweisen. Oda Olberg (1872–1955), eine zu Unrecht völlig in Vergessenheit geratene sozialistische Autorin, hat diesen Gedanken 20 Jahre später in die schönen Worte gegossen, wonach, historisch betrachtet, die »sozialen Gebilde die anthropologische Eigenart ganz und gar eingesogen«31 haben. Einen gewichtigen Part in der Endphase des anthropologischen Materialismus spielt die sozialtheoretisch wie anthropologisch diskutierende Frauenbewegung um die und nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Losung von der »Menschwerdung des Weibes« als Signatur der damaligen Zeit wie als Kulturaufgabe der sozialistischen Bewegung wird mit Nachdruck geltend gemacht.32 Flora Tristan (1803–1844) hat ihre Fourier-Rezeption ein halbes Jahrhundert früher mit der Forderung nach einer »Befreiung der weiblichen Rasse« verbunden.33 Argumentatives Neuland in der anthropologisch-materialistischen Literatur 29

A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879 mit anderem Titel), Berlin / Stuttgart 1891, 194. 30 O. Olberg, Zur Stellung der Partei im Gebärstreik, in: Neue Zeit 1 (1914). 31 O. Olberg, Politische Anthropologie – kritische Bemerkungen, in: Sozialistische Monatshefte, 8 (1904), 219. Zu der hier nur angerissenen Thematik habe ich ausführlich Stellung genommen in: R. Mocek, Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt / M. 2002. 32 H. B. Adams-Lehmann, Die Arbeit der Frau, in: Sozialistische Monatshefte 9 (1905), 1037. 33 Vgl. zu F. Tristan, Arbeiterunion, Sozialismus und Feminismus im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1988, 115. 9

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beschreiten in jener Zeit neben Oda Olberg auch Henriette Fürth (1861–1938), Clara Zetkin (1857–1933), Helene Stöcker (1869–1943), Therese SchlesingerEckstein (1863–1940), Lily Braun (1865–1916) und viele andere engagierte Frauenpersönlichkeiten. Dabei ist ein materialistischer Ausgangspunkt nicht immer auszumachen. Oda Olberg schafft sich eine eigene Kulturtheorie,34 Henriette Fürth folgt später dem marxistischen Außenseiter Rudolf Goldscheid (1870–1931) und dessen Programm einer »Menschenökonomie«, andere wie Helene Stöcker bewegen sich in dem auf Auguste Comte (1798–1857) zurückgehenden Kultus der Humanität.35 Inwieweit dabei die klassischen Positionen des anthropologischen Materialismus noch eine entscheidende Rolle spielen, sei dahingestellt. Hier öffnet sich ein weites Forschungsfeld zum Problem der Beziehung von Materialismus und Anthropologie. Wenig bekannt ist, daß sich Karl Kautsky (1854–1938) nach einem eher summarischen Studium der einschlägigen Fächer an Ernst Haeckel wandte mit der Bitte, bei diesem mit einer naturhistorischen Arbeit über die Ursprünge der menschlichen Sittlichkeit promovieren zu dürfen. Da daraus nichts geworden ist, hat er dieses Manuskript in mehreren Fortsetzungen in der von ihm redigierten Neuen Zeit veröffentlicht und sich dabei in endlose Polemiken mit diversen Anthropologen seines sozialistischen Umfeldes verwickelt.36 Aus diesen Vorkenntnissen heraus resultiert wohl auch die Tatsache, daß Kautsky als einer der ersten deutschen Sozialisten dezidiert und ausführlich zum Beginn der neunziger Jahre auf die sozialdarwinistischen, eugenischen und rassenhygienischen Schriften vor allem Wilhelm Schallmayers (1857–1919) eingegangen ist und fast zwanzig Jahre danach das erste marxistische (wenigstens in seinem Verständnis) rassenhygienische Werk veröffentlicht hat.37

34

O. Olberg, Das Weib und der Intellectualismus, Berlin / Bern 1902. Comtes Religion der Humanität zielt als Religion ohne Gott auf die Verehrung aller derjenigen, die Gutes für die Menschheit getan haben. Das Prinzip der Liebe bedarf der Ordnung als Grundlage, während der Fortschritt das anzustrebende Ziel bildet. Die Zentralstellung der Liebe wird von den Frauenrechtlerinnen und Anthropologinnen dabei besonders hervorgehoben, sich verkörpernd in der »seelischen« und »geistigen« Mutterschaft (Olberg), aber auch im der freien Liebe als wichtigem Moment des »weiblichen Selbstgewinns«. Siehe dazu W. Zepler, Die Frau der Zukunft und die freie Liebe, in: Sozialistische Monatshefte 3 (1899); H. Stöcker, Die Liebe und die Frauen, Minden ²1908. Hier liegt auch einer der Gründe, weshalb vor allem die sozialistische Frauenbewegung nicht so recht klarkam mit der Theorie Sigmund Freuds. 36 Siehe u. a. K. Kautsky, Die sozialen Triebe in der Tierwelt, In: Neue Zeit 1 (1883), 20–27, 67–73; ders., Die sozialen Triebe in der Menschenwelt, in: Neue Zeit 2 (1884), 13–19, 49–59, 118–125; ders., Kannibalistische Ethik, in: Neue Zeit (25.01.1906 / 07), 860–69. 37 K. Kautsky: Medizinisches, in: Neue Zeit, 10.01.1891, 644–651; ders., Darwinismus und Marxismus, in: Ebd. (13.01.1894 / 95), 709–16; ders., Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart 1910. 35

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VII. Der eugenische Materialismus Zur einschneidenden Klärung der tief ins öffentliche Bewußtsein dringenden Frage nach der Abstammung des Menschen aus dem Tierreich (der Gorilla wurde zunächst favorisiert) gesellte sich bald ein rundes Dutzend neuer, auf die Entwicklung des aktuellen Menschseins gerichteter Forschungsfragen, die vor Darwin so gar nicht gestellt werden konnten. Ins Zentrum rückten dabei zwei aufeinander bezogene Themen, die jedoch nicht nur mit der Darwinschen Lehre, sondern vor allem mit den herrschenden sozialen Verhältnissen in Verbindung standen. Es betrifft einmal die aus der damals allgemein verbreiteten Sicht auf den realen Gesellschaftskörper der industrialisierten Staaten abgeleitete These von der bereits sichtbar zu Buche schlagenden Degeneration der Menschen, zum anderen die Auffassung, daß es innerhalb der einheitlichen Gattung Mensch aus rein entwicklungsgeschichtlichen Gründen erhebliche qualitative Unterschiede geben müsse. Das Rassenproblem war, darwinistisch untersetzt, neu auferstanden, nachdem in der ersten Jahrhunderthälfte die romantische Anthropologie in Gestalt der Werke von Carl Gustav Carus (1789– 1869) sowie wenig später in der Geschichtsphilosophie durch Joseph Arthur Gobineau (1816–1882) bereits rassentheoretische Gedanken vorlagen. Die Degenerationsgefahr (ob sie aus damaliger Sicht eine vermeintliche oder echte war, soll hier nicht diskutiert werden) führte zur Neubelebung von diversen u. a. bereits im klassischen Griechenland nachweisbaren Züchtungstheorien, zur Wiederbelebung älterer Ansichten zur Euthanasie wie zur Begründung der Eugenik; die Rassentheorie zunächst zur Neubegründung des Kolonialismus. Das »Hinaufzüchten der Menschheit« bei den einen, das Erzielen eines rassisch guten Durchschnitts bei den anderen wurde in der damaligen Literatur auf der Folie gegensätzlicher sozialer Interessen vielfältig durchbuchstabiert. Hier ging der anthropologische Materialismus mit schlechtem Beispiel voran. Nicht ohne Berechtigung kann von einem Übergang des naturwissenschaftlichen wie anthropologischen Materialismus zum sozialen Darwinismus gesprochen werden. Prominente Naturforscher, aber auch Kulturtheoretiker und Soziologen, Philosophen und der Theologie nahestehende Persönlichkeiten des politischen Lebens entwarfen mehr oder weniger krause Programme zur Entschlackung des Menschengeschlechts und darauf aufbauende eugenische Sozialutopien. Alexander Tille (1866–1912), Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz (1860–1940) spielen dabei in den Jahren vor der und um die Jahrhundertwende den entscheidenden Part. Die Frage, inwieweit die hier verwendeten theoretischen Ansatzpunkte auf den naturwissenschaftlichen wie anthropologischen Materialismus zurückverweisen, müßte genauer untersucht werden. Eine vergleichbare Frage betrifft die Programme der Verbesserung der degenerationsbedrohten Menschheit durch wirtschaftliche und soziale Reformen.

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Neben der Frauenbewegung sind hier die Werke von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921), Rudolf Goldscheid und anderen Reformern zu nennen. Auf der anderen Seite stehen Auffassungen, die an einer anthropologisch unwiderruflichen Struktur degenerierten Menschseins festhalten. Das betrifft in der damaligen marxistischen Literatur vor allem auch die soziologische Kategorie des Lumpenproletariats.38

VIII. Strittige Fragen im Umfeld von Materialismus und Anthropologie im 19. Jahrhundert: Rassismus, Eugenik, die Rolle des Seelischen, vom Recht des Kindes, Vitalismus und Monismus Ein gewiß unvollständiger Literaturüberblick verweist auf eine stattliche Anzahl von Forschungsfragen im Themenbereich von Materialismus und Anthropologie. Für den Philosophiehistoriker liegt zunächst die Fragestellung ziemlich offen zutage, ob eine so stark auf propagandistische Umsetzung orientierte Philosophie, die zudem von nicht wenigen ihrer Vertreter gar nicht als Philosophie betrachtet worden war (das trifft bestimmt auf Carl Vogt zu, natürlich auch auf den jungen Haeckel), dem Entwicklungsweg der wissenschaftlich basierten Anthropologie auch wirklich auf der Spur geblieben ist. Nicht von ungefähr hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Profil der beiden Fachzeitschriften – einmal der von Jacob Moleschott 1857 begründeten Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere, zum anderen des von Karl Ernst von Baer (1792–1876) im Jahre 1866 mit auf den Weg gebrachten Archivs für Anthropologie, in dem der Lieblingsfeind Ernst Haeckels, der Schweizer Anthropologe Ludwig Rütimeyer (1825–1895) und sein ebenso gegen Haeckel eingestellter Schweizer Kollege Wilhelm His (1831–1904) einen ziemlichen Einfluß hatten – weltanschaulich sehr unterschiedlich ausgeprägt. His’ großes philosophisches Vorbild, der bereits erwähnte Hermann Lotze, hat sich früh schon auf eine eher dualistische Position begeben, wonach zwischen den Bedürfnissen des Gemütes und des Kausaldenkens eine unüberbrückbare Kluft herrsche.39 Jenseits der damaligen Polemiken wäre zu prüfen, inwieweit in den naturphilosophischen Werken sowohl der Materialisten als auch der idealistischen Fraktion, soweit man die Fechner, Lotze, His, Wundt und viele andere überhaupt so kennzeichnen kann, der fachliche Teil, also das an Er-

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Vgl. dazu M. Schwartz, ›Proletarier‹ und ›Lumpen‹ Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), 437–470. 39 Mit diesem Gedanken leitet Hermann Lotze seine umfangreiche naturphilosophische Schrift ein: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit (1856 / 1864), 3 Bände, Leipzig 41884.

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kenntnissen und Forschungsfragen in diesen Zeitschriften Vorliegende, selektiv herausgegriffen worden ist. So begründet Ludwig Büchner seine Auslassung über die vorgebliche »angeborne geistige Inferiorität der schwarzen Rasse« mit dem Verweis auf anthropologische Befunde, in diesem Falle auf Untersuchungen, nach denen das »Gehirn des Negers« »kleiner, thierähnlicher, windungsärmer« sei als das des durchschnittlichen Europäers, ohne den Ursprungsort solcher Befunde zu belegen.40 Das ist kein Einzelfall, sondern bewegt sich mitten in einer Fülle vergleichbarer Angaben, mit denen die qualitativen Differenzen innerhalb der Gattung Mensch begründet werden sollen. Eine ausgesprochene Schwachstelle in der Tradition des anthropologischen wie des naturwissenschaftlichen Materialismus bildet die bereits erwähnte Mitbegründungsrolle bzw. Übernahme der in den sechziger Jahren aufkommenden, mit dem Namen Francis Galtons (1822–1911) verbundenen sozialdarwinistischen, eugenischen und rassenhygienischen Konzepten. Die Textstellen auch der linken Schriftsteller, in denen unverhohlen zum Ausmerzen der Mißgebildeten aufgefordert, das Lebensrecht der chronisch Erkrankten in Zweifel gezogen wird, in denen wohl der Einheit des Menschengeschlechts das Wort geredet, den Bewohnern Schwarzafrikas sowie anderer sogenannten »Naturvölker« jedoch die Befähigung zur geistigen und emotionellen Lebensgestaltung schlichtweg abgesprochen wird – oben gezeigt am Beispiel von Ludwig Büchner, was aber keineswegs ein Einzelfall ist, blickt man nur auf entsprechende Schriften von Eduard Bernstein (1850–1932), von August Forel, von Otto Ammon (1842–1915) und vieler anderer Autoren –, sprechen eine klare Sprache und belegen, daß der naturwissenschaftliche wie der anthropologische Materialismus zum Jahrhundert-Ende tatsächlich zum Teil das geworden waren, was später als menschenfeindlicher Materialismus bezeichnet worden ist.41 Eine philosophiehistorisch und sozialtheoretisch gleichermaßen wichtige Frage betrifft das mit dem auslaufenden 19. Jahrhundert gerade auf philosophisch-anthropologischem Felde wahrnehmbare Auftauchen neuer Konzepte, die sich jenseits der darwinistisch beeinflußten Anthropologie konstituierten, sich scharf von den sozialdarwinistischen Programmen abgrenzten und sich der von den Materialisten unterschätzten Frage nach der Natur der seelischen

L. Büchner, Kraft und Stoff (1855), Leipzig 161888, 275. 41 E. Bernstein, Der Socialismus und die Colonialfrage, in: Sozialistische Monatshefte 4 (1900), 549–62; A. Forel, Der verderbliche Einfluß des Alkohols auf die Völker durch die Vererbung des von ihm erzeugten Schadens, in: Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten 12 (1899), 240–64; ders., Kulturbestrebungen der Gegenwart, München 1910; O. Ammon, Altes und Neues über die Menschenrassen in Europa, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 4 (1903), 747–63. 40

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und geistigen Faktoren gelebten Menschseins zuwandten. Neben Lotze und Fechner, die diesen »Seelenfaktor« mehr erahnten denn dingfest machen konnten, hat etwa zeitgleich mit Wilhelm Diltheys (1833–1911) Lebensphilosophie eine bewußt nicht naturwissenschaftsorientierte Konzeption zu wirken begonnen, die auf das Erfassen seelischer Ganzheiten aus war und die geschichtlichen Seelenvorgänge zu verstehen trachtete. Unterstützt wurde dieser Ansatz von Rudolf Eucken (1846–1926), der, übrigens jahrzehntelang in unmittelbarer Nachbarschaft zu Haeckel lebend, inmitten des sozialen Getriebes der Zeiten – einschließlich der materialistischen Selbstvergessenheit gerade in dieser Frage – zu einem »echten Beisichselbstsein der Seele«42 aufgerufen hat. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch Friedrich Paulsen (1846–1908), Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der gleichwohl dem Darwinismus zugeneigte Raoul H. Francé (1874–1943) und, natürlich, Ludwig Klages (1872–1956). Die von Klages vorgenommene Dreiteilung der bisherigen dualistischen Fassung des Körper-Geist-Problems – unter Hinzufügung der Seele – zielt auf das Spannungsverhältnis innerhalb dieser Triade. Damit wird auf eine Sphäre des menschlichen Daseins aufmerksam gemacht, die sich der physiologischen Zergliederung ebenso entzieht wie der begrifflich-analytischen. Das Seelische stellt eine eigene Welt dar, ist schwer definitiv zu packen, aber zumindest aus der Lebensgeschichte des Menschen bzw. der Menschheit heraus nachvollziehbar.43 Vor allem bildete diese Hervorhebung des Seelischen, die das Seelische zugleich von der funktionellen Einheit mit der Physiologie des Gehirns befreite, eine wichtige Barriere gegen alle Formen der Entpersonalisierung des Menschen. Auch im Darwinismus wurde zu dieser Zeit die besondere evolutive Rolle des Individuums sowohl von neodarwinistischer wie auch neolamarckistischer Seite, wenngleich mit stark unterschiedlicher Intention, wieder unterstrichen. Über das Wie? dieser seelischen Funktionen aber weiß man nichts Sicheres. Der Leib füge sich wohl der Eugenik; wie es mit dem Geist steht, ist offen, man nimmt jedoch an, daß er sich als Gehirnfunktion in das Gesamt der genetischen Kommandos einordnet. Kein Geist ist außerhalb des Gehirns. Das glaubte man gut zu kennen. Doch mit der Seele ist es vertrackter. Was Dilthey und Klages eher ahnen denn wissenschaftlich festschreiben können, ist die gefühlte Einsicht, daß es einen naturwissenschaftlich unberechenbaren Faktor gibt, der jeden Menschen unverwechselbar beherrscht und

42

R. Eucken, Die Wendung des Menschen zu sich selbst, in: Philosophische Schriften. Sammlung Nobelpreis für Literatur, Zürich o. J., 264. 43 Hier hat vor allem Wilhelm Wundts These von der unterschiedlichen seelischen Verfasstheit der Völker ihre Spuren hinterlassen; vgl. seine Elemente der Völkerpsychologie (1912) wie auch die auf dieser Annahme aufbauende Schrift Die Nationen und ihre Philosophie, Leipzig 1921.

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repräsentiert. Man ist nicht unveränderbar an Körper und Geist, aber in seiner seelischen Art unveränderlich, einzig und unnachahmbar. Doch was sollte eine auf Körpergestaltung und Hinaufzüchtung ausgehende Eugenik mit einem solchen Standpunkt wohl anfangen? Für sie blieb das Metaphysik. Auch in Sigmund Freuds (1856–1939) Lehre waren die Urtriebe des menschlichen Wesens nicht mit genetischen Maßnahmen zu packen. Das Menschliche ist in seinem eigentlichen Sein keines verändernden Zugriffs fähig. Wer glaubt, mit eugenischen Mitteln verbessernd in menschliches Leben eingreifen zu können, irrt. Jedes einzelne Menschsein ist ein ganz persönliches Ereignis, kein Spiegel des Alls, kein Kausalgefüge, sondern ein in ein eigenes Dasein verwobenes Ich, nicht nur durch genetische, sondern vor allem auch durch ontogenetische Konstellationen bestimmt. Der Anspruch der Eugenik, durch Manipulation im biochemischen und molekularbiologischen Bereich verbessernd in die conditio humana eingreifen zu können, ist deshalb vor dem Richterstuhl dieser neuen Anthropologien, denen sich später mit den Theorien von Max Scheler (1874–1928), Helmuth Plessner (1892–1985), Arnold Gehlen (1904–1976) und Adolf Portmann (1897–1984) gewichtige Standpunkte zur Seite stellten, zum Scheitern verurteilt. Mit der Selbstzuweisung einer vorgeblichen kognitiven Überlegenheit gegenüber dem Idealismus hat sich der naturwissenschaftliche Materialismus um die Jahrhundertwende angesichts dieser sich zunehmend durchsetzenden philosophisch-anthropologischen Forschungslage selbst ins Abseits manövriert. Die große intellektuelle Kraft der früheren Tage schien in Ignoranz und Selbstzufriedenheit ausgelaufen zu sein. Vielleicht greift dieser Vergleich zu weit: Aber haben wir heutzutage nicht eine völlig analoge Situation? Ist jene Spielart des heutigen naturwissenschaftlichen Materialismus, die vielleicht am besten mit dem Etikett des selbstorganisatorischen Kausalismus oder des genetischen Determinismus zu kennzeichnen ist, nicht im gleichen Maße »menschvergessen« wie seinerzeit? Und nimmt dieser Materialismus nicht auch heute wieder keinerlei philosophisch-anthropologisches Korrektiv zur Kenntnis? Diese Aktualisierung hat einen historischen Hintergrund, der über ein Jahrhundert lang die evolutionstheoretische Begleitmusik zu einer wichtigen anthropologischen Frage spielte – die Frage nach der philosophischen, in gewisser Weise auch der ethischen Reichweite des Neodarwinismus bzw. des Neolamarckismus. Beide (auf den Materialismus bezogenen) Standpunkte involvieren eine ganz bestimmte Vorentscheidung zur Historizität der Gattung Mensch. Nach neodarwinistischem Standpunkt ist die genetisch geprägte Struktur des aktualen Menschen unwiderruflich vorgegeben. Im 19. Jahrhundert, lange vor der Wiederentdeckung der Mendelgesetze der Vererbung, hat die These von der gleichwie fundierten Prägung jedes Menschen durch die Vererbung bereits zur Begründung auch antihumanistisch deutbarer Menschenbilder geführt. Die Phrenologie bildete

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den Anfang mit der damals schon breit propagierten Prägung der geistigen wie emotionellen Grundstruktur jedes Menschen, die man, Galls Empfehlungen folgend, sogar als Hervorwölbungen je definierter Kopffelder erfühlen bzw. abtasten kann. Ein Menschenalter später hat Cesare Lombroso (1836–1909) den »geborenen Verbrecher« an bestimmten physiognomischen Äußerlichkeiten dingfest zu machen versucht.44 Und genau zur Jahrhundertwende war es dann Paul Julius Möbius, der diesem Trend, aus scheinbar sicheren naturwissenschaftlichen Indizien heraus genotypische Werturteile zu fällen, mit einer Abhandlung Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes die Krone aufsetzte.45 Auf der anderen Seite wurden aus der Hypothese der genetischen Prägung sowohl ein Recht auf erbbiologische Ausschaltung sogenannten »lebensunwerten Lebens« (von der staatlich gestützten Sterilisierung in einer ganzen Reihe von Ländern kurz nach der Jahrhundertwende bis zur faschistischen Euthanasie-Politik reichend) abgeleitet als auch Programme zur bewußten Verhinderung erbkranken Nachwuchses seitens der Eltern vorgelegt. Eine ethische Wertung ist in diesem Falle mehr als schwierig. Karl Kautsky forderte ein Recht des Kindes auf »Wohlgeborenheit« und konnte sich dabei auf eine lange Reihe von Autoren auch sozialistischer Provenienz berufen.46 Eugen Dühring hat schon in den siebziger Jahren von einem »Recht der ungebornen Welt auf eine gute Composition«47 gesprochen. Und in diesem Sinne hielt er es für richtig, daß man dem »Entstehen eines Menschen vorbeugt, der doch nur ein schlechtes Erzeugnis werden würde […].«48 August Bebel hat wenig später verkündet: »Will man über Entstehungsursachen und Weiterentwicklung guter wie schlimmer Eigenschaften der Geschlechter, oder auch ganzer Völker sich klar werden, so muß dieselbe Methode angewendet, müssen dieselben Gesetze zu Rathe gezogen werden, welche die moderne Naturwissenschaft für die Untersuchung über die Entstehung und Ausbildung der Gattungen und Arten und die Entwicklung ihrer Charaktereigenschaften in der organischen Welt in Anwendung bringt. Also jene Gesetze, welche nach ihrem Haupt-Entdecker vorzugsweise die Darwinschen genannt werden und sich aus den materiellen Existenzbedingungen, der Vererbung und Anpassung, resp. Züchtung und 44

C. Lombroso, Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 2 Bände, Berlin 1887 / 90. 45 P. J. Möbius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle / S. 1900. 46 K. Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart 1910, 266. 47 E. Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftliche Philosophie und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, 422. Nach meiner Literaturübersicht entstammt dieser Gedanke dem Werk Franz Anton Mesmers (1734–1815). Siehe dazu K. Chr. Wolfart (Hg.), Mesmerismus. Oder System der Wechselwirkungen, Berlin 1814, 267. 48 Ebd., 421.

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Erziehung erklären.«49 Auch in der sozialistischen Literatur hat demnach ein wissenschaftsorientierter Materialismus derart reduktionistische Blüten getrieben; daß zur gleichen Zeit der Sozialdarwinismus eines Alexander Tille und Otto Ammon etc. noch ärgeres Unkraut produzierte, kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Mit dem zitierten Gedankengang August Bebels stoßen wir auf die neolamarckistische Problemtradition zur Erklärung der Historizität der Gattung Mensch. Bebels genanntes Hauptwerk durchlebte seit der Erstauflage 1879 allein im deutschen Sprachgebiet mindestens 59 Auflagen über einen Zeitraum von über einhundert Jahren – und in dieser Zeit hat sich die marxistische Position zu Darwin bzw. Jean Lamarck (1744–1829) mehrfach verändert. Bei Bebel findet man über die Jahrzehnte, je nach der vorherrschenden naturwissenschaftlichen Sachlage, Anleihen von beiden; bei Engels dominiert der Lamarckismus, was auch für spätere marxistische Autoren, die dem naturwissenschaftlichen Materialismus nahe stehen oder vertreten, zutrifft; insonderheit bei Karl Kautsky, Gustav Eckstein (1875–1916) und Julius Schaxel (1887–1943).50 Der entscheidende Punkt dabei ist, daß der Neolamarckismus die Marxsche These von der Umweltprägung des Menschen, seiner Erziehungsfähigkeit, der prinzipiellen Möglichkeit seiner Besserung zum Guten auch im Querschnitt der Population weitaus besser naturtheoretisch abzusichern vermag. Die ältere sozialistische wie kommunistische Vision vom »neuen Menschen« als anthropologischer wie politischer Orientierungspunkt der Arbeiterbewegung hatte hier ihren naturwissenschaftlich-materialistischen Verankerungspunkt. Ein weiterer sozialtheoretisch folgenreicher Aspekt innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Neodarwinismus und Neolamarckismus liegt mit dem Werk des Biologen Paul Kammerer (1880–1926) vor. Seine später sehr umstrittenen Experimente an den Keimen verschiedener Froschlurche waren für ihn Beweis genug, um die These von der Vererbung individuell erworbener Eigenschaften auch für die individuelle Entwicklung des Menschen besonders hoch zu veranschlagen. Nach Kammerer betrifft das aber nicht nur bestimmte physiologische Eigenschaften (so seien beispielsweise bestimmte Immunitäten auf bestimmten Stufen der Entwicklung als umweltinduziert anzunehmen; bewiesen ist es bis heute nicht), sondern auch die edle Gesinnung, das humanistische gesprochene Wort, die gute menschheitsbefördernde Tat!51 Diese

A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), Berlin / Stuttgart 91891, 113. Daß diese Tatsache eine günstige Basis für die vor allem ideologisch motivierte Inthronisierung des Lyssenkoismus ab 1936 in der Sowjetunion als programmatische Spätlese des Lamarckismus bildete, versteht sich von selbst. 51 P. Kammerer, Lebensbeherrschung. Grundsteinlegung der organischen Technik, München 1919, 18 f. 49

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edlen Charakterleistungen würden, so Kammerer, veredelnd auf ihren Träger zurückwirken. Für Kammerer und seine Anhänger (auch in der sozialistischen Bewegung) bildete diese These die Begründung für die Überzeugung, dass eine solche charakterliche Reinigung die biologische Befreiung des Proletariats auf den Weg bringen würde, welche wiederum die anthropologische Voraussetzung für die soziale und politische Befreiung des Proletariats bilden würde. Obwohl Kammerer dieses Programm erst im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts vorlegte, reichen die Wurzeln dieses Programms in die Biologie des 19. Jahrhunderts zurück: Ewald Hering (1834–1918), Richard Semon (1859–1918), Eduard Pflüger (1829–1910), Ernst Haeckel, Carl Wilhelm von Naegeli (1817–1891), Alexander Goette (1840–1922) und viele andere wären noch zu nennen. Bleiben noch diverse Teilfragen übrig, die hier nur angerissen werden können. Das betrifft zum Beispiel den konträr zum naturwissenschaftlichen Materialismus der anthropologischen Dimension verlaufenden weiteren Wissenschaftsfortschritt. Auf die überaus anregenden Auswirkungen des anthropologisch gerichteten naturwissenschaftlichen Materialismus wurde bereits hingewiesen; dieser Aspekt könnte noch vielfältig erweitert werden (so zur Sprachtheorie,52 Tiergeographie, Kulturpflanzenforschung, Entwicklungsphysiologie etc.). Auf der anderen Seite stand das materialistische Prinzip einer Reihe von Forschungsansätzen mehr oder weniger im Wege. Gerade in der Psychologie hatten sich, neben der bald auf Irrwege führenden Konzeption des psychophysischen Parallelismus, mit der Denkpsychologie Oswald Külpes (1862–1915), der Graphologie Ludwig Klages’, der forschungsrelevanten Philosophie des Unbewußten Eduard von Hartmanns (1842–1906), der im Gefolge der Tierpsychologie aufkeimenden Frage nach der Natur seelischer Lebensäußerungen der Tiere, später auch der Pflanzen etc. teilweise geradezu modern anmutende Forschungswege herausgebildet. Aber auch andere anregende Fragestellungen wären zu nennen, verwiesen sei auf die Gedächtnisanalogie der Vererbung (Richard Semon), die durch die Teilchenanalogie der Vererbungsträger bald schon zurückgedrängt wurde, jedoch viel stärker als diese auf dem epigenetischen Lebensaspekt aufbaute. Eine große Rolle sowohl im naturwissenschaftlich-materialistischen wie im konträr dazu entwickelten Philosophieren über die Natur spielte die Thematik der Wesens- und Evolutionseinheit von Mensch (Leben) und Natur. Was heute als ökologische Frage vielfältig thematisiert wird, hat starke Wurzeln in der Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts. Das bezieht sich sowohl auf die Konzeption einer menschen- wie völkerprägenden Lebenswelt im histo52

Herausgegriffen sei: A. Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft, Weimar 1863.

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risch-ökologischen Sinne, zurückgehend auf die Theorie von Pierre Trémaux, als auch auf die frühen Analysen zu den produktionstechnisch verursachten Umweltschäden einschließlich der vor allem auch damit gegebenen degenerationsbedrohten Menschheit.53 Schließlich wäre auf einen naturtheoretischen Sachverhalt hinzuweisen, der auf die Doppelgesichtigkeit des Materialismus wie des Idealismus zu naturwissenschaftlichen Forschungsfragen abzielt. Die in der naturwissenschaftlich-materialistischen Literatur apriorisch angenommene Überlegenheit materialistischer Leitideen für die Naturforschung, einer Wesenseinheit von Forschung und Materialismus also, läßt sich aus der Wissenschaftsgeschichte heraus keineswegs belegen. Es gibt hier nicht nur die eine oder andere Ausnahme, sondern – im Vorstehenden bereits berührt – ganze Konzepte, die völlig andere Wege gegangen sind und ihre Fruchtbarkeit für den Wissenschaftsfortschritt hinlänglich erwiesen haben. An dieser Stelle soll nur noch auf die Rolle des in der Biologie vor der Jahrhundertwende von Hans Driesch (1867–1941) erneuerten Vitalismus als neuer, betont antimechanistischer Lebenslehre, hingewiesen sein. Driesch hat an der wissenschaftstheoretischen Schwachstelle des naturwissenschaftlichen Materialismus hinsichtlich einer qualitativen Abhebung des organischen Reiches vom anorganischen angesetzt mit seiner auf Experimente fußenden Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Lebens.54 Hier erwies sich, aus wissenschaftshistorischer Sicht, die Etikettierung eines biotheoretischen Standpunktes als vitalistisch geradezu als erkenntnishemmend. In diesem Zusammenhang ist es auffällig, daß ganz bestimmte naturtheoretische Themen durch die mechanistische bzw. naturwissenschaftlich-materialistische Deutung reduktionistisch verkürzt worden sind – in der Biologie steht hier an erster Stelle das Formproblem. Auf etliche eingebürgerte Vorurteile jenseits dieser Zentralprobleme wurde bereits hingewiesen. Das betrifft ein undifferenziertes Ineins-Setzen der jeweils vorgetragenen Standpunkte. Die in der Sekundärliteratur nach wie vor anzutreffende Behauptung der Eingesichtigkeit der Werke von Vogt, Büchner und Moleschott gehört hierher.55 Recht pauschal wird auch der Atheismus-Vorwurf gegenüber dem naturwissenschaftlichen Materialismus vorgetragen. Es wird 53

Die Analyse der Rolle extremer Umwelten auf den Menschen reicht von der Diagnose W. Schallmayers, Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes, Berlin / Neuwied 1891; bis zu dem skandalösen Werk A. Tilles, Ostlondon als Nationalheilanstalt, in: Zukunft 5 (1893), 268 ff. 54 H. Driesch, Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Ein Beweis vitalistischen Geschehens, in: Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen 8 (1899), 35–111. 55 Jüngst wieder angeprangert durch Christoph Kockerbeck, der u. a. die These vom »materialistischen Triumvirat« als ein »fragwürdiges Produkt voreiliger ideologischer Legendenbildung« charakterisiert. Vgl. Ch. Kockerbeck, Briefwechsel, a. a. O., 51.

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kaum auf den Unterschied zwischen der Kritik an der christlichen Religion in ihrer konkreten Erscheinungsform und an der Religiosität im allgemeinen geachtet. Auch mündeten die meisten naturwissenschaftlichen Materialismen in neue oder erneuerte religiöse Lebensformen ein. Es fehlen Untersuchungen zu der tatsächlichen Wirkung der Schriften des naturwissenschaftlichen Materialismus im Bereich der Volksbildung. In den Lehrerseminaren und mittleren Bildungsanstalten des Deutschen Reiches waren diese Schriften in aller Regel ausgeschlossen; dennoch wurde von den Seminaristen und angehenden Volksschullehrern gerade dort ausgiebig »gebölscht«, wie es in Anlehnung an den Namen eines recht erfolgreichen Verfassers monistisch-materialistischen Schrifttums jener Jahre, Wilhelm Bölsche (1861–1939), in eingeweihten Kreisen hieß. Die tatsächliche Wirkungsgeschichte in der marxistisch beeinflussten Arbeiterbewegung ist weitgehend ungeklärt. Immerhin könnte sich das von Friedrich Engels ausgesprochene Verdikt über jene Literatur – es handele sich dabei um einen »vulgären Reiseprediger-Materialismus« – negativ ausgewirkt haben.56 Das galt natürlich auch für die Haltung zu diesem Materialismus in der DDR, wobei die vorliegenden Einschätzungen diesen Standpunkt von Engels in der Regel nicht teilen.57 Natürlich stand für die Marxismus-Forschung die Hegelsche Philosophie viel näher; und ohne Frage hat Marx vom naturwissenschaftlichen Materialismus nichts übernommen und gewiß auch kaum Anregungen erhalten, wenn man von Feuerbach absieht, aber dort handelte es sich ja nicht um einen naturwissenschaftlichen Argumentationspfad. Engels Ausspruch, wonach »wir« nach dem Erscheinen des Wesen(s) des Christentums momentan alle »Feuerbachianer« waren, bezieht sich deutlich auf die epochemachende geistige Befreiungstat der Feuerbachschen Anthropologie. Daß Marx selbst zu dieser Zeit über die Philosophie Feuerbachs schon hinaus war, kann man in den Feuerbachthesen nachlesen. Insgesamt ist im wissenschaftshistorischen Rückblick gerade zur Frage der tatsächlichen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des naturwissenschaftlichen Materialismus manch pauschales Urteil zu finden. Grund genug, sich auch diesen Punkten kritisch zuzuwenden.

56

F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1971, 33. Vgl. dazu u. a. D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Berlin 1971. 57

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In jüngster Zeit hat die Frage, ob wir Menschen über die Freiheit verfügen, eine Entscheidung bewußt und willentlich zu fällen, für hitzige Debatten gesorgt.1 Autonomes Individuum oder Ausführungsorgan der unbewußt ablaufenden neuronalen Prozesse im Gehirn? Mit dieser Alternative versuchen einige Hirnforscher einmal mehr eine Diskussion in Gang zu bringen, die Anspruch auf ein kulturelles Orientierungswissen darüber anmeldet, was den Menschen in seinem Innersten ausmache. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung geht es nicht primär darum, ein paar neurophysiologische Experimente, die zum Teil bereits über zwanzig Jahre alt sind, richtig zu deuten. Und auch die Frage, ob die Unterscheidung zwischen kausal bedingten Ursachen und lebensweltlich nachvollziehbaren Gründen berechtigt ist oder nicht, bewegt zwar mit Recht Philosophen des Geistes und kognitive Neurowissenschaftler, bietet aber kaum eine hinreichende Erklärung für das anhaltende allgemeine Interesse an diesem Gegenstand. Vielmehr sind es die Forderungen nach einer Revision des Schuldbegriffs und des Strafrechts oder der Ruf nach einem neuen Menschenbild, die die Grenzen einer fachwissenschaftlichen Diskussion überschreiten. In einer solchen Situation werden Manifeste und Streitschriften veröffentlicht, Interviews gegeben und Fernseh- oder Podiumsdiskussionen inszeniert, bei denen es um die Positionierung programmatischer Pfeiler geht.2 Sowohl die Inhalte als auch die Argumentationsstrategien dieser Debatte sind nicht ganz neu. Heute mag man sich über den Satz erregen, daß der freie Wille eine Illusion sei. Vor über 150 Jahren erfüllte der Satz, daß Gedanken im gleichen Verhältnis zum Gehirn stünden wie der Urin zu den Nieren, eine ganz ähnliche Funktion. Wer diesen Satz seinerzeit affirmativ äußerte, gab damit eine wissenschaftliche und politische, philosophische und weltanschauliche Visitenkarte ab; wer dagegen polemisierte, tat das Gleiche, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Wenn man also mit Kenntnis der wissenschaftshistori-

* Dieser Text besiert auf Forschungen, die auch Gegenstand meiner Bücher Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997 und Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitengehirnforschung, Göttingen 2004 sind. 1 Einen Überblick über die verschiedenen Positionen bietet der Sammelband von Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt / M. 2004. 2 Siehe vor allem das von elf Neurowissenschaftlern publizierte Manifest, abgedruckt in: Gehirn & Geist, Nr. 6 (2004), 30–37.

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schen Konstellation des 19. Jahrhunderts auf die heutige Debatte blickt, so hat man durchaus das eine oder andere Déja-vu-Erlebnis, doch das ist nur ein Aspekt. Noch wichtiger scheint es zu sein, die Aufmerksamkeit für die kulturellen, sozialen und weltanschaulichen Verflechtungen dieser Debatten zu schärfen und sich nicht auf die Aussage zu verlassen, daß es einzig und allein wertfrei und objektiv gewonnene wissenschaftliche Daten seien, die dazu führen, Gedanken mit Harnabgang zu vergleichen oder dem freien Willen den Garaus machen. In dieser Perspektive ist die Wissenschaftsgeschichte ein Untersuchungsinstrument, das die gegenwärtigen Diskussionsverläufe von einer anderen Seite zu beleuchten vermag. Das betrifft übrigens nicht nur die Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen damals und heute, sondern bezieht sich in mindestens ebenso großem Maße auf die Unterschiede. Es ist wenig sinnvoll, Ereignisse, die zeitlich so weit voneinander entfernt sind, auf die gleichen historischen Voraussetzungen hin zu untersuchen. Entscheidend ist, solche Voraussetzungen herauszuarbeiten und dann miteinander zu vergleichen. In dem vorliegenden Text werde ich mir nur eine Hälfte dieser Aufgabe vornehmen: der Rekonstruktion der historischen Ereignisse, in deren Zentrum der sogenannte Materialismusstreit steht. Eine detaillierte Untersuchung der heutigen Diskussionen muß einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben. Es ist nicht leicht, das Verhältnis zwischen der politischen Entwicklung des Vormärz und ihrer Kulmination in den Ereignissen der 1848er Revolutionszeit sowie den Naturwissenschaften genauer zu bestimmen, doch unbestreitbar hat sich nach 1848 das öffentliche Gesicht der Naturwissenschaften erheblich gewandelt. Der Begriff der Popularisierung wurde zumal in Deutschland »zum inflationär gebrauchten Schlagwort«3. Popularisierung bedeutete jedoch nicht nur, ein bestimmtes Wissen oder eine Sichtweise der Natur aus der engeren Forschergemeinschaft herauszuführen, sondern auch, wissenschaftliche und weltanschauliche Kontroversen in der Öffentlichkeit auszutragen. Nicht, daß die Öffentlichkeit solche Debatten überhaupt erst ermöglicht hätte. Wohl aber haben die politischen Ereignisse deren Verlauf und Inhalt mitbestimmt. Das gilt in besonderer Weise für die Diskussionen, die in Hirnforschung, Physiologie und Anthropologie um die Natur des Menschen geführt wurden. Bereits 1845 äußerte der Zoologe Carl Vogt, der drei Jahre später in der Nationalversammlung für die Demokratie eintrat und kurz darauf aus Deutschland flüchten mußte, den schon erwähnten folgenschweren Satz, daß »die Gedanken in demselben Verhältnisse etwa zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber und der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirns wie eines Instruments bedient, mit dem sie arbeiten kann wie es ihr 3

A. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 1998, 2.

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gefällt, ist ein reiner Unsinn.«4 Die anspielungsreiche, wenn auch nicht neue Verknüpfung von Denken und Pinkeln war eine unmissverständliche Absage an die bestehende gesellschaftliche Ordnung, deren moralische Grundlagen mehr in der Theologie oder in der (dualistischen) Philosophie als in den Naturwissenschaften wurzelten. Die politischen und ideologischen Spielräume des Vormärz ermöglichten nicht nur die Schriften eines Materialisten wie Vogt, sie führten auch dazu, daß kurzfristig sogar die Phrenologie in Deutschland Fuß faßte. Um 1840 wurden eine Anzahl von Schriften zur Phrenologie veröffentlicht, zumeist Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, vereinzelt auch deutschsprachige Beiträge. Ab 1843 erschien eine Zeitschrift für Phrenologie, die aber im wesentlichen von Übersetzungen und Artikeln der beiden Herausgeber lebte und nach drei Jahrgängen wieder einging. Hauptvertreter der deutschen Phrenologen war der Mannheimer Rechtsanwalt Gustav von Struve, Anführer des »populistischen Radikalismus« in Baden, der über Volksversammlungen, Reden und Vereine eine breite Wirkung entfaltete und 1848 für eine Republik und die Nationalversammlung als oberstes Staatsorgan kämpfte. Die Phrenologie sollte Bestandteil dieser Politik sein, indem sie, ähnlich wie in England und Nordamerika, eine Psychologie für jedermann anbot. Zu diesem Zwecke bemühte sich Struve, den Tonfall der gemäßigten Stimmen der Biedermeierzeit zu treffen. Dazu gehörte die unbedingte Abgrenzung von einem allzu grobschlächtigen Materialismus: »Materialistisch muß daher jedes System sein, welches zur Überschätzung der körperlichen Organe des Seelenlebens führt, welches den Menschen auf sinnliche Genüsse, sinnliche Bestrebungen aller Art verweist; denn die sinnlichen Triebe des Menschen stehen der Körperwelt am nächsten. Allein die Phrenologie lehrt: die Triebe stehen unter der Leitung der moralischen Gefühle, nur innerhalb der von diesen gezogenen Schranken dürfen sie sich frei bewegen.«5 Materialismus hieß für Struve also nur, den Menschen auf seine Triebe zu reduzieren, nicht aber, seine Gehirnkonfiguration als Matrix für ein psychisches Profil zu verstehen. Diese Differenzierung war um die Mitte des 19. Jahrhunderts kein Einzelfall. Struve trug damit einer verbreiteten bürgerlichen Ansicht Rechnung, die das Animalische, Körperliche und Triebhafte als kulturzerstörend fürchtete und dagegen Vernunft und Gemüt in Stellung brachte. Allerdings nützten solche Abgrenzungen der Phrenologie nur wenig. Zum einen existierte bereits eine physiognomische Menschenlehre, die den Gegensatz zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Vernunft und Trieb auf den Punkt 4

C. Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände, Stuttgart 1845, 206. G. von Struve, Über Materialismus, Spiritualismus und Phrenologie, in: Zeitschrift für Phrenologie 3 (1845), 97–105, 99. 5

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brachte, nämlich die Cranioskopie von Carl Gustav Carus, die sich als unmittelbare Antwort auf die grobschlächtige Phrenologie verstand. Während diese sich als Alltagspsychologie für jedermann empfahl und genau diese Funktion in Großbritannien und den USA auch mit großem Erfolg ausfüllte, enthielt die Cranioskopie mit ihrer naturphilosophischen Ausrichtung und dem häufigen Rekurs auf Goethe für das Bildungsbürgertum der Jahrhundertmitte ein erhebliches Identifikationspotential. Obwohl er Schädel und Gehirn als zuverlässige Zeichenträger geistiger und seelischer Tendenzen auffaßte, brauchte Carus sich nicht vom Materialismus abzugrenzen, weil er den Körper als Symbol und nicht als Verursacher des menschlichen Charakters verstand.6 Zum anderen war Struve, ähnlich wie Vogt, ein so entschiedener Verfechter der liberalen Demokratie, daß ihn eine gewisse Vorsicht im Umgang mit dem Materialismus in den Augen seiner politischen Gegner keinen Deut weniger radikal erscheinen ließ. Struves Hoffnung, sein politisches Programm durch eine naturalistische Menschenlehre zu flankieren, schlug also fehl. Noch bevor die Revolution ausbrach und Struve in der Paulskirche und in den südwestdeutschen Aufständen seine Position in die Tat umzusetzen versuchte, war es um die Phrenologie schon wieder still geworden. Und auch Vogts Physiologische Briefe, für »Gebildete aller Stände« geschrieben, wurden in den wenigen Jahren zwischen ihrem Erscheinen 1845 und dem Ausbruch der Revolution nicht als politische Kampfschrift angesehen, der mit allen Mitteln zu begegnen war. Das Buch war sogar in dem renommierten Verlag von Cotta erscheinen, gleich neben Alexander von Humboldts Kosmos. Die Beispiele Struves und Vogts sind zumindest ein Indiz dafür, daß die Verbindungen von Hirnforschung, Materialismus und Politik in der Zeit des Vormärz zwar geknüpft, aber doch nicht ganz so ernst genommen wurden bzw. so wirkungsvoll waren, wie es sich deren Protagonisten vielleicht gewünscht hätten. Diese Situation sollte sich mit der Revolution radikal verändern. Struve und Vogt waren nicht mehr nur politische Figuren, Gelehrte und Schriftsteller, die für ihre Sache warben, sondern wurden wegen ihrer Teilnahme an der Versammlung in der Paulskirche und sonstigen umstürzlerischen Aktivitäten verfolgt und ins Exil getrieben. Damit änderte sich, zumindest was Vogt betraf, auch der Blick auf seine wissenschaftlichen Schriften aus der Zeit vor 1848. Nach der Revolutionszeit wurde der Naturwissenschaft in ungleich höherem Maße eine politische Potenz zugesprochen, wodurch die Wucht des Popularisierungsschubs überhaupt erst initiiert werden konnte. Dieser Konstellation 6

Zu Carus siehe J. Müller-Tamm, Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung bei Carl Gustav Carus, Berlin / New York 1995 sowie M. Hagner, Geniale Gehirne: zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004, 75–99.

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war sich auch der antidemokratische, konservative und erzprotestantische Göttinger Physiologe und Anthropologe Rudolph Wagner bewußt. In einer Serie von Briefen thematisierte er das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Hirnforschung und Materialismus ohne Umschweife. Diese Briefe veröffentliche er 1851 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung explizit als Antwort auf Vogts Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Nach 1848 war der Materialismus für Wagner nicht mehr bloß eine Irrlehre, sondern ein ernstzunehmender politischer Gegner, der die soziale und kulturelle Ordnung in Deutschland an den Rand des Ruins getrieben hatte. Durch die Revolution seien »die höchsten menschlichen Interessen gefährdet« und »die theuersten vaterländischen Interessen mit dem Schiffbruch bedroht« worden.7 Die Aufgabe des Wissenschaftlers in solch bedrohlichen Zeiten sah Wagner darin, die Beziehung der Wissenschaften zur allgemeinen Bildung und deren Verhältnis zur nationalen Entwicklung hervorzuheben. Naturwissenschaftler sollten die moralischen Grundlagen der Gesellschaft erhalten und fördern. Entsprechend hielt Wagner diejenigen für besonders gefährlich, die die bestehende Ordnung mithilfe der Naturwissenschaften auszuhebeln versuchten. Genau das war der Vorwurf an die Adresse Vogts. Wagner stellte sogleich die Beziehung zu den politischen Aktivitäten Vogts als Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche her und zollte der Urin-Metapher galligen Beifall »im Hinblick auf den politischen Unsinn, den einzelne hirnverbrannte Köpfe in diesen letzten Jahren zu Tage förderten […].«8 Allerdings sei Urin ein guter Dünger, »während jene erwähnten Geistesproducte nur als Fermente der Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung und nationalen Bildung dienen […].«9 Mit solchen Sätzen waren die Frontlinien klar abgesteckt, aber was bedeutete das für die Hirnforschung? Gewiß lehnte Vogt eine unsterbliche Seele kategorisch ab, während Wagner sie ebenso kategorisch postulierte. Gewiß votierte Vogt mit ähnlicher Beharrlichkeit auf dem Determinismus wie einige Hirnforscher heute: »Der freie Wille existirt nicht und mit ihm nicht eine Verantwortlichkeit und eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege und Gott weiß wer noch uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblicke Herren über uns selbst, über unsere Vernunft, über unsere 7

R. Wagner, Physiologische Briefe (1851–1852), hrsg. von N. Klatt, Göttingen 1997,

61. 8

Ebd., 41. Ebd. Zum Materialismusstreit siehe H. Degen, Vor hundert Jahren: Die Naturforscherversammlung in Göttingen und der Materialismusstreit, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 7 (1954), 271–277; D. Wittich, Einleitung, in: Ders., Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Bd. 1., Berlin 1971, V-LXXXI, XLIII-L; A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 96–105. 9

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geistigen Kräfte.«10 Und Wagner wies diese Zumutung mit vergleichbarer Aufgeregtheit zurück.11 Doch diese Differenz allein gibt nicht einmal annäherungsweise einen Überblick über das, was die Hirnforschung zu jener Zeit tatsächlich ausmachte. Unabhängig von ihrer politischen oder weltanschaulichen Einstellung arbeiteten nämlich alle Anatomen und Anthropologen letztlich am gleichen Projekt, und das lautete: die Korrespondenz zwischen außen und innen, zwischen Gehirn und Geistesleben zu erschließen. Diese Gemeinsamkeit ist in der Einschätzung der großen ideologischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts notorisch übersehen worden. Die überwiegende Mehrheit der Forscher benutzte das Gehirn als ein Instrument, das – um eine Formulierung von Michel Foucault zu verwenden – »sowohl die Charakterisierung des Individuums als Individuum wie auch die Ordnung einer gegebenen Vielfalt«12 ermöglichte. Forscher wie Vogt, Wagner, Carus, Emil Huschke, Andreas Retzius, Ludwig Büchner, Theodor Bischoff und Hermann Welcker decken das gesamte Spektrum zwischen Materialismus, Dualismus und Naturphilosophie ab, doch herrschte zwischen ihnen weitgehende Einigkeit, daß das Gehirn rassische, Intelligenz- und Geschlechtsunterschiede bedinge und daß die craniologischen und hirnanatomischen Untersuchungen dies – wenn auch nur vorläufig – bestätigten.13 Ein Materialist wie Büchner und ein Naturphilosoph wie Huschke waren sich bis in die Wortwahl hinein einig, daß Frauen weniger intelligent seien als Männer und Schwarzafrikaner sich nicht zur Entwicklung einer eigenständigen Kultur eigneten.14 Solche Urteile stützten sich auf verschiedene anatomische Parameter wie absolutes und relatives Hirngewicht,

10

C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, Frankfurt / M. 1852, 445. R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Ein anthropologischer Vortrag, gehalten in der ersten öffentlichen Sitzung der 31. Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte zu Göttingen am 18. September 1854, Göttingen 1854, 23–24. 12 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt / M. 1977, 191. 13 Neben den bereits zitierten Autoren siehe E. Huschke, Mimices et physiognomices fragmentum physiologicum, Jena 1821, 23–24; ders., Schaedel, Hirn und Seele des Menschen und der Thiere nach Alter, Geschlecht und Rasse. Dargestellt nach neuen Methoden und Untersuchungen, Jena 1854, 171–186; A. Retzius, Beurtheilung der Phrenologie vom Standpuncte der Anatomie aus, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und Wissenschaftliche Medicin (1848), 233–262; C. Vogt, Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde, Bd. 1, Gießen 1863, 93–110; H. Welcker, Ueber Wachsthum und Bau des menschlichen Schädels, Leipzig 1862, 36–41, 55–69. 14 L. Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien (1855), in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Bd. 2, Berlin 1971, 427–430; E. Huschke, Schaedel, Hirn und Seele, a. a. O., 152–158. 11

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das Hirnvolumen und den Reichtum der Hirnwindungen, das Verhältnis der einzelnen Hirnabschnitte zueinander und die Frage der Ähnlichkeit zwischen Affengehirnen und mikrocephalen, mißgebildeten Gehirnen. Wenn Geschlechtsspezifität und rassische Hierarchien, die Fähigkeit zu Kulturentwicklung und wissenschaftlicher Kreativität, Kriminalität und Genialität ins Gehirn implementiert wurden, stellt sich die Frage, welcher Stellenwert den Debatten um Materialismus und Hirnforschung überhaupt zukam. Wenn ohnehin die entscheidenden charakterlichen, kognitiven und moralischen Qualitäten durch das Gehirn determiniert waren, wieso erregte Vogt mit seiner Urin-Analogie dann so erbitterten Widerstand? Wo verlief die Grenze, die zumindest für die dem Materialismus abgeneigten Forscher nicht überschritten werden durfte? War die Hirnforschung in ihrer Praxis nicht längst über die ideologischen Debatten hinausgegangen? Genau dieser Problematik war sich Wagner durchaus bewußt. Zu Beginn des Jahrhunderts, so Wagner, seien die Vorlesungen Franz Joseph Galls, des Begründers der Organologie oder Phrenologie, verboten worden. 50 Jahre später seien die meisten Ärzte und Physiologen Gegner der Phrenologie, doch insbesondere in England und in Nordamerika erwiesen sich selbst streng Bibelgläubige als eifrige Phrenologen. Sogar ihm selbst – einem Gegner der Phrenologie – habe man bereits vorgeworfen, daß seine neurophysiologischen Ansichten zum Materialismus führten.15 Tatsächlich hatte Wagner kurz zuvor geschrieben, daß das Gehirn aus zahlreichen Aggregaten von Ganglienzellen bestehe, denen unterschiedliche Funktionen zukämen. »Ja ich wage es selbst von ›psychischen Zellen‹ zu reden, welche in unserer Seele die farbigen Bilder erzeugen, die wir im Traum wahrnehmen oder durch unsere Einbildungskraft hervorrufen können.«16 Man könnte meinen, daß Wagner alles daran setzte, die Hirnforschung so zu deuten, daß sie die Unversöhnlichkeit zwischen Materialismus und Republikanismus auf der einen und Spiritualismus und Monarchismus auf der anderen Seite zumindest nahelegte. Immerhin vertrat er in seiner berüchtigten Rede auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1854 in Göttingen die Ansicht, dass die Wissenschaft nicht an dem Punkt sei, über die Natur der Seele eine Entscheidung zu treffen.17 Doch diese skeptische Position, der auch andere Physiologen anhingen, verband Wagner mit einem offenen Bekenntnis zum Christentum und zur Unsterblichkeit der Seele. Weil die Wissenschaft die Existenz der Seele mit ihren bis dahin zur Verfügung stehenden Mitteln weder beweisen noch widerlegen konnte, war damit quasi automatisch

15 16 17

R. Wagner, Physiologische Briefe, a. a. O., 39. Ebd., 28. R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz, a. a. O., 29.

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ein Freifahrschein für die Gültigkeit der christlichen Lehre gegeben. Diese Verknüpfung war so offenkundig, daß Wagner sich damit sein im Grunde stärkstes Argument gegen Vogt selbst aus der Hand schlug, nämlich daß der Materialismus aus der Hirnanatomie Schlüsse zog, die diese noch gar nicht hergab. Wagner tat dasselbe, nur aus der entgegengesetzten Perspektive. Hätte er es bei seiner Kritik an der Instrumentalisierung der Hirnforschung belassen, wäre seine Position zumindest konsistent gewesen. Doch stattdessen betätigte er sich selbst als eifriger Hirnvermesser, dem es um die Korrelation von Intelligenz, Kulturfähigkeit und Gehirnentwicklung ging. Damit kommt bei Wagner ein signifikanter Widerspruch innerhalb seiner bürgerlich-konservativen Position zum Ausdruck. Vogt hatte, wie gesehen, in Übereinstimmung mit Gall die Seelentätigkeiten als Funktionen der Hirnsubstanz bestimmt. Aber auch Wagner räumte ein, daß das Gehirn aus zahlreichen Aggregaten von Ganglienzellen mit unterschiedlichen Funktionen bestehe. Diese Schlußfolgerung ergab sich keineswegs zwingend aus den bestehenden neuroanatomischen Befunden, die Zellen als Elementarsubstanzen des Gehirns betrachteten, doch gab Wagner seiner Überzeugung Ausdruck, daß der Nachweis aller feineren hirnanatomischen Elemente und ihrer funktionellen Verbindungen mehr zur Psychologie beitrage als alle Philosophie von Plato bis Herbart. So sehr Wagners politische und weltanschauliche Überzeugungen denjenigen Vogts entgegengesetzt sein mochten, von der Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele einmal abgesehen, votierte er für eine Seelenlehre, die auf der Hirnforschung basierte. Daß dabei soziale und kulturelle Hierarchien ins Gehirn transferiert wurden, nahm er in Kauf, mehr noch, er legte eine Art doppelte Buchführung an: Willensfreiheit hatte nichts mit dem Gehirn zu tun, Begabung und Charakter aber sehr wohl. Unter dieser Prämisse startete er 1855 ein großes Forschungsprojekt, in dem er die Gehirne mehrerer Göttinger Professoren, unter ihnen die Mathematiker Carl Friedrich Gauß und Peter Lejeune Dirichlet, untersuchte und mit anderen Gehirnen verglich, um die geistige Überlegenheit zunächst am Gehirngewicht und später, als das nicht funktionierte, an der Konfiguration der Gehirnwindungen festzumachen. Wagner unterschied zwischen »windungsarmen oder einfachen« Gehirnen und »windungsreichen oder complizirten«.18 Bei ersteren war »die embryonale Form der Windungsverhältnisse, wie sie im 7ten Monat des menschlichen

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R. Wagner, Kritische und experimentelle Untersuchungen über die Functionen des Gehirns. Siebente Reihe. Ueber die angeblichen Verhältnisse des Gewichts und des Windungsreichthums des menschlichen Gehirns zur Intelligenz, in: Nachrichten von der G. A. Universität und der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Nr. 7 (29. Februar 1860), 65–80, 74.

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Gehirns besteht, noch mehr oder weniger zu erkennen […].«19 Beide Typen kamen bei beiden Geschlechtern vor, aber der windungsarme Typ sollte bei Frauen überwiegen, ganz wie es Huschke bereits postuliert hatte. Zunächst einmal kam es Wagner jedoch auf die Feststellung an, daß er die windungsreichsten Gehirne bislang bloß bei Männern, und zwar bei den Mathematikern Lejeune Dirichlet und Gauß gesehen habe.20 In seinen Gesprächen mit Gauß, die er kurz vor dessen Tod 1855 geführt hatte, meinte Wagner, »daß es mathematische Naturen, Inventionstalente mit mathematischem Instinkt ohne Technik des Rechnens gebe und Rechenmaschinen ohne Talent […].«21 Die Frage war bloß, inwieweit man mathematische Naturen am Gehirn ablesen konnte. Wagner war vorsichtig genug, seine Beobachtung, daß die Gehirne der beiden Göttinger Mathematiker vor allem im Stirnhirnbereich extrem windungsreich waren und die beiden Hemisphären dadurch asymmetrisch wirkten, nicht zu sehr zu strapazieren. Zwar fügten sich diese Befunde perfekt in ältere Befunde ein, doch reichte das für Wagner noch nicht aus, daraus »ein für die mathematische Begabung charakteristisches spezifisches Formelement«22 zu deduzieren. Darin kam jedoch kein prinzipieller Zweifel zum Ausdruck, sondern nur ein methodisches Dilemma, das die Untersuchung der Gehirnoberfläche mit der Physiognomik teilte. Für Wagner bestand kein Zweifel daran, »dass die Physiognomie des Menschen, insoweit dieselbe durch die von den Nervenerregungen abhängigen Zustände in den Gesichtsmuskeln fixirt worden ist, auf tieferen, mit den Seelenthätigkeiten zusammenhängenden Kausalverhältnissen beruht.«23 Doch die große Anzahl an Einflußfaktoren machte eine nähere Bestimmung dieses Verhältnisses außerordentlich schwierig. In ähnlicher Weise verhielt es sich auch mit den Hirnwindungen. Wagner selbst machte sich auf die Suche nach weiteren Parametern. Diese Suche galt nun weniger dem in weite Ferne gerückten Ziel, geniale Begabung mit einer bestimmten Stelle im Gehirn oder mit irgendeiner Maßzahl zu korrelieren; es ging vielmehr um den Nachweis von Unterschieden. Also machte Wagner sich an eine weitere Meßreihe, für die er Gipsausgüsse von Schädeln anfertigte und dann deren Länge, Höhe und Breite ausmaß. Dieses Mal war 19

Ebd. Ebd., 75 f. 21 R. Wagner, Gespräche mit Carl Friedrich Gauß in den letzten Monaten seines Lebens, hrsg. v. H. Rubner, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse 6 (1975), 145–171, 159 f. 22 R. Wagner, Vorstudien zu einer wissenschaftlichen Morphologie und Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan. Erste Abhandlung: Über die typischen Verschiedenheiten der Windungen der Hemisphären und über die Lehre vom Hirngewicht, mit besondrer Rücksicht auf die Hirnbildung intelligenter Männer, Göttingen 1860, 24. 23 Ebd., 25 f. 20

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Gauß eindeutig der Gewinner. Mit Genugtuung konnte Wagner hinzufügen, daß der Ausguß sogar etwas kleiner sei als bei den anderen Schädeln: »Denn bei Gauss ist der Ausguss in der frischen Schädelhöhle gemacht und enthält somit die dura mater nicht mit, während diese bei den anderen an trockenen Schädeln gemachten Ausgüssen hinzukommt.«24 Außerdem hob er hervor, daß es sich bei den ausgewählten Gipsgehirnen um »typische Exemplare der Hauptvölkerformen« handelte. Mit der absteigenden Reihe von Gauß zum Orang-Utan orientierte sich Wagner an der geläufigen Hierarchisierung, wie sie die Anthropologie als Stufenfolge vornahm. Eine Variante zu dieser Hierarchisierung findet sich in Wagners letzter großer Arbeit über das Gehirn, in der er sich noch einmal mit den Gehirnwindungen beschäftigte und die früheren eher physiognomischen Inspektionen durch mühselige Vergleiche und Messungen einzelner Windungen ersetzte. Diese Untersuchungen waren so zeitraubend, daß er sich auf wenige Gehirne, darunter die von Gauß und Fuchs, eines Göttinger Handwerksmanns, einer jungen Frau und eines Mikrocephalus beschränken mußte.25 Wagner schnitt sich verschieden große Stücke aus Pflanzenpapier zurecht, das in 16 Quadratmillimeter große Quadrate eingeteilt war und bedeckte damit die Hirnoberfläche bis in die Furchen hinein. Die Addition der Quadrate war das Maß für die Ausdehnung der Hirnoberfläche. Auf dieser Basis entwickelte Wagner eine ganze Reihe von neuen Parametern: die Gesamtlänge aller Furchen im Stirnlappen, die Länge der Furchen bezogen auf 100 Quadrate und die Länge der Furchen in Relation zur Oberfläche. In allen Fällen rangierte Gauß vor Fuchs. In gewissem Abstand folgten die Frau und der Handwerker und schließlich abgeschlagen der Mikrocephalus. Wagner fand in diesen Ergebnissen »etwas Befriedigendes, als sie allein vielleicht ein anatomisches Verhältniss andeuten, das durch Zahlen ausdrückbar erscheint und das sich auf eine psychologischphysiologische Leistung des Gehirns beziehen könnte […].«26 Mit dieser Art von Forschung, die den Widerspruch zwischen der Legitimation einer anthropologischen Hierarchisierung und dem Beharren auf der Unabhängigkeit der Seele von körperlichen Determinanten verkörperte, stand Wagner keineswegs allein. Auch andere nutzten das geräumige wissenschaftliche Spielfeld, um ihre sozialen Vorurteile mit anatomischer Detailarbeit zu

24

R. Wagner, Ueber die Hirnfunctionen mit besonderer Beziehung zur allgemeinen Zoologie, in: Archiv für Naturgeschichte 27 (1861), 171–180, 174 f. 25 R. Wagner, Vorstudien zu einer wissenschaftlichen Morphologie und Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan. Zweite Abhandlung: Über den Hirnbau der Mikrocephalen mit vergleichender Rücksicht auf den Bau des Gehirns der normalen Menschen und der Quadrumanen, Göttingen 1862, 19. 26 Ebd., 24.

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verbinden. Ein drastisches Beispiel ist der schon erwähnte Jenenser Anatom Emil Huschke, der 1854 in seinem Werk Schädel, Hirn und Seele die Summe seiner jahrelangen Forschungen zusammenfaßte. Dieses Buch ist ein verblüffendes Sammelsurium aus naturphilosophischen Analogien und avancierter Technik der Darstellung des Gehirns, romantischer Symbolik des Geistes, organologischen Reminiszenzen und ausgreifenden quantitativen Untersuchungen, rassistischen und sexistischen Invektiven sowie einer grundlegenden Ordnung der Hirnwindungen. Wenn die Zeitgenossen an diesem Ansatz irgendetwas zu kritisieren hatten, dann sein naturphilosophisches Verständnis des Gehirns als eines galvanischen Apparates und nicht etwa seine stigmatisierenden hirnanthropologischen Klassifikationen. Huschke erfüllte alle damaligen Ansprüche an eine objektive, exakt messende und darstellende Hirnanatomie. Gleichzeitig positionierte er sich jenseits der materialistischen (das Gehirn ist die Ursache der Gedanken) und der dualistischen Position (das Gehirn als Instrument des Geistes). In dem von ideologischen Grabenkämpfen geprägten Zeitklima war das zweifellos entlastend, weil es Huschke einer eindeutigen politischen Stellungnahme enthob. Diesen Freiraum füllte er mit massiven anthropologischen Werturteilen. »Wenn irgendwo die Geistesthätigkeiten ihren Sitz aufgeschlagen haben, so sind es gewiss die Windungen«27, mit diesem Credo begrüßte Huschke den Leser bereits auf der ersten Seite. Folgerichtig verwendete er viel Mühe darauf, System in das Windungslabyrinth zu bringen. Aus der vergleichenden Anatomie war bekannt, daß die Korrelation von Zahl und Verzweigung der Windungen mit den Geistesfähigkeiten nur bei Tieren einer Gattung zulässig sei: der Wolf hat unvollkommenere Windungen als der Hund, die Katze unvollkommenere als der Löwe. Huschke übertrug dieses Prinzip kurzerhand auf den Menschen und behauptete, daß »Neger« unvollkommenere Windungen hätten als »Kaukasier«.28 Neu war nicht die diskriminierende Wertung als solche. Doch mehr als seine Vorgänger vermischte er die Windungssystematik mit der stereotypen Hierarchisierung der Rassen und Geschlechter und ebnete damit den Weg für eine Physiognomik der Hirnrinde. Ausgestattet mit Kenntnissen der vergleichenden Anatomie und der Entwicklungsgeschichte, orientierte sich Huschke im Windungslabyrinth wie der Physiognom im Gesicht. Seine Untersuchung stützte sich auf zahllose Messungen, die in Zahlen und Tabellen zum Ausdruck gebracht wurden. Damit wurden Attribute von Wissenschaftlichkeit erfüllt, damit ließen sich aber auch Annahmen und Behauptungen legitimieren, die solchen Quantifizierungen gar nicht recht zugänglich waren.

27 28

E. Huschke, Schaedel, Hirn und Seele, a. a. O., V. Ebd., 135.

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Neben seinen quantitativen Messungen verließ sich Huschke nämlich auch auf sein physiognomisches Blickmaß, um die Verzweigung, Schlängelung und Größe der Hirnwindungen zu deuten. Das lief dann darauf hinaus, daß am Gehirn der Afrikaner die Sylvische Furche – eine der beiden Hauptfurchen der Hirnrinde – nur etwas weniger schief verlaufen sollte als beim Schimpansen, während sie beim Europäer waagerecht war. Dafür war die Zentralfurche bei diesem schiefer, beim Afrikaner senkrechter. Bei Afrikanern und Frauen sei die dritte vordere Urwindung im Vergleich zum männlichen Europäer außerordentlich breit, die hinteren Windungen beim Afrikaner ohnehin ausgeprägter, »wenn auch gerade nicht sehr fein gegliedert […].«29 Warum ist es angezeigt, auf diese Art von Furchensatzleserei näher einzugehen? Nun, Huschke war zumindest im deutschen Sprachraum eine repräsentative Übergangsfigur, die Elemente der Cranioskopie, Organologie und Morphologie mit derjenigen neuen Hirnanatomie verband, die Präzision, Quantifizierung und Objektivität zu ihren Tugenden zählte. Mit seinen Messungen und Tabellen hat Huschke diesen Anspruch eingelöst. Seine rassistische Windungsphysiognomik konnte zwar nicht ganz mithalten, doch zum einen kompensierte er das durch seine Abbildungen, von denen er völlig zurecht sagen konnte, daß sie zum ersten Mal eine fotografische Darstellung des Gehirns boten, indem die Abbildungen Steinzeichnungen der Lichtbilder darstellten. Und zum anderen setzte er auf die Zukunft der Windungsanatomie: »Die gesamten Hirnorgane wird man übrigens künftig nach dem natürlichen System der Windungen, welches ich oben aufgestellt habe, zu ordnen und danach eine geographische Karte am Schädel zu entwerfen haben.« Von dort aus war es nur ein kleiner Schritt, auch die Zukunft einer individualisierenden Hirnforschung vorzuzeichnen, die darin bestehen sollte, menschliche Gehirne zu untersuchen, »deren geistiges Naturell genau bekannt ist, um so besser, wenn es einseitige, mit Einer hervorstechenden Seelenkraft versehene Individuen sind […].«30 Mit einer solchen Vision konnte man philosophisch bescheiden sein, sich gegen den Materialismus wenden und eine bürgerlich-konservative Grundeinstellung beibehalten, die sich gegen gesellschaftliche Neuerungen zu immunisieren versuchte. Ein besonders eklatantes Beispiel für eine solche Haltung bot der Münchener Anatom Theodor Bischoff, der sich ab 1864 mit ausgiebigen Hirngewichtsuntersuchungen hervortat. Bischoff war kein Ignorant, der blindwütig Messungen und Wägungen vornahm. Er kannte sich durchaus mit den Grundregeln der Statistik aus, doch als es darum ging, seine Untersuchungen für die entscheidende soziale Frage einer allgemeinen Zulassung der Frauen zum

29 30

Ebd., 155 f. Ebd., 184, 185.

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akademischen Studium zu instrumentalisieren, war er wenig zimperlich. In einer berüchtigten Abhandlung über das Medizinstudium der Frauen erteilte er den intellektuellen und akademischen Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts eine gehörige Absage und führte dafür als Begründung das durchschnittlich geringere Hirngewicht an.31 Zweifellos zählt diese Schrift zu den größten Peinlichkeiten, die sich ein Akademiker im 19. Jahrhundert mit der Autorität der von ihm vertretenen Wissenschaft erlaubt hat, aber sie verdeutlicht auch die Logik, die solche Entgleisungen ermöglichte; und sie war mitnichten ein Einzelfall. Den beginnenden Veränderungen im Geschlechterverhältnis, der Forderung nach uneingeschränktem Wahlrecht für Frauen oder nach freiem Zugang zur Universität, wußten Anthropologen wie Bischoff, Wagner, Huschke und viele andere nur so zu begegnen, daß sie mit ihrer akademischen Autorität auf einem gesellschaftlichen Status quo insistierten. Alle Messungen und mathematischen Operationen, die Bischoff mit seinen insgesamt 559 männlichen und 347 weiblichen Gehirnen vorgenommen hatte, führten zu dürftigen Resultaten. Die Zahlen waren zwar groß genug, um der Statistik Genüge zu tun, doch die individuelle Variabilität machte genau diese Versuche zunichte. In Bezug auf die weiblichen Gehirne war Bischoff nicht bereit, die Komplexität der verschiedenen Faktoren wie Körpergewicht oder Körpergröße auch nur einen Moment lang in Erwägung zu ziehen. Die methodische Vorsicht geriet an dem Punkt an ihre Grenzen, wo die Forderungen nach rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung der Frauen unüberhörbar wurden. Es wäre ein schweres Mißverständnis, Bischoffs Hirnuntersuchungen und deren Deutung als Fehlgriff in einem ansonsten vorbildlichen Wissenschaftlerleben anzusehen. Die Dichotomie von Skepsis und Voreingenommenheit ist typisch für all die Wissenschaftler, um die es hier geht, auch die Materialisten. Diese nämlich verwendeten die Ergebnisse der ihnen weltanschaulich entgegengesetzten Anatomen und Anthropologen ohne Skrupel. Die Anatomie der Hirnwindungen und sogar das Hirngewicht galten im Gegensatz zur phrenologischen Schädelinspektion als wissenschaftlich seriös, und doch trugen die neuen Parameter und Untersuchungen indirekt zur Rehabilitierung der wichtigsten Prämissen Galls bei. Die Anatomie machte ernst mit der Forderung, menschliche Qualitäten wie Denken, Empfinden und Vorstellen auf die qualitative und quantitative Entwicklung der verschiedenen Hirnregionen zurückzuführen, und der einzige Fehler der Organologie lag für Vogt in der praktischen Anwendung dieser Prinzipien.32 Deutlicher als Gall es je formuliert hätte, heißt es bei Jacob Moleschott: »Das Hirn und seine Tätigkeit verändern sich mit den 31

Th. L. W. Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen, München 1872, 16–19. 32 C. Vogt, Vorlesungen über den Menschen, a. a. O., 111–145.

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Zeiten und mit dem Hirn die Sitte, die des Sittlichen Maßstab ist.«33 Mit diesem wenn auch etwas vage formulierten Zugeständnis an eine Interaktion zwischen Gehirn und Umwelt reagierten die Materialisten auf einen offensichtlichen Widerspruch in ihrer Verwebung von Hirnforschung und Weltanschauung. Wenn nämlich alles Menschliche durch das Gehirn determiniert war, wie sollte dann die Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung legitimiert werden? Daß das Gehirn als solches ein historisches Subjekt war und sich für Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie interessierte, behauptete nur Vogt, indem er sich zu einem verschrobenen Anthropomorphismus verstieg: »Jedes belebte Atom lechzt nach Anarchie, strebt nach Freiheit, entwickelt sich nur im Lichte dieser Sonne zu höherer Vollendung.«34 Daraus leitete Vogt die Forderung ab, daß die Anarchie die einzig angemessene Staatsform sei und Gesetze, feste Institutionen und Regeln den Fortschritt der Menschheit blockierten. Ludwig Büchner argumentierte in seinem Bestseller Kraft und Stoff wesentlich geschmeidiger in dieser Frage. Zumindest hielt er nichts von einem angeborenen Streben nach irgendetwas, vor allem nicht von der »sog. Gottesidee oder […] eines höchsten persönlichen Wesens, welches die Welt erschaffen hat, regiert und erhält […].«35 Ein solcher Glauben sei nichts »dem menschlichen Geiste von Natur Eingeborenes, Notwendiges und darum durch alle Vernunftgründe Unwiderlegliches […].«36 Es gehörte zum polemischen Geschäft, daß Büchner seinen Punkt mit einer Kampfansage an theologische Grundannahmen verband, doch der entscheidende Unterschied zu Vogt besteht darin, daß sich für Büchner Freiheit aus der Interaktion von Gehirn und Umwelt ergab und nicht aus einem angeborenen Streben. Diese Differenzierung war aber auch nur Ausdruck einer doppelten Buchführung, denn auch Büchner hegte keinerlei Zweifel daran, daß das Gehirn rassische und geschlechtliche Differenzen festlege. Während die deutschen Staaten auf die Provokationen der Materialisten damit reagierten, daß sie Vogt, Moleschott und Büchner eine akademische Laufbahn verweigerten, kulminierte der Zwist im sogenannten Materialismus-Streit, der insbesondere zwischen Vogt und Rudolph Wagner ausgetragen wurde. Mit seiner Göttinger Rede löste Wagner 1854 einen Eklat aus, indem er einen Bannfluch gegen den Materialismus in den Naturwissenschaften aussprach. Die Leugnung einer unsterblichen Seele bringe die Naturwissen-

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J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe (1852), in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1971, 299. 34 C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt / M. 1851, 28. 35 L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 462. 36 Ebd.

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schaften »in den Verdacht […], die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zu zerstören. Nur indem wir diese stützen und erhalten, erfüllen wir eine Pflicht gegen die Nation […].«37 Damit machte sich Wagner unter der Mehrzahl der anwesenden Naturforscher keine Freunde, da die Attacke nicht nur gegen Vogt gerichtet war, sondern auch gegen den im Auditorium sitzenden Physiologen Carl Ludwig. Ludwig zählte gemeinsam mit Hermann von Helmholtz, Emil du BoisReymond und Ernst Brücke zu jenem berühmten Quartett von Experimentalphysiologen, die sich 1847 geschworen hatten, die Physiologie zur organischen Physik zu machen und keine anderen Kräfte im Körper zu akzeptieren als chemische und physikalische. 1852 hatte Ludwig ein zweibändiges Lehrbuch der Physiologie des Menschen veröffentlicht, das als die Bibel der neuen Physiologie gelten konnte. Er verfügte über außerordentlich hohes Ansehen in der Gemeinschaft der Naturwissenschaftler, und deswegen stieß Wagners Attacke auf weitgehendes Unverständnis. Betrachtet man Ludwigs Äußerungen zur Seelenfrage etwas genauer, wird schnell deutlich, daß er zwar wohl mit der Grundeinstellung, nicht aber mit der Rhetorik der bekannten Materialisten einig ging. Zweifellos wollte Ludwig auch die seelischen Erscheinungen auf dem Gebiet der Physiologie behandelt wissen, und dennoch hielt er sich hinsichtlich der Materialität der Seele auffallend zurück. Mit dieser Haltung repräsentierte er eine Position, die sich von der erwünschten oder perhorreszierten Naturalisierung des Menschen so gut es ging fernzuhalten versuchte. Zwischen diesen beiden Extremen zogen sich Ludwig und auch die anderen Protagonisten der experimentellen Physiologie auf ihre methodischen Standards zur Absicherung einer wissenschaftlichen Erkenntnis zurück. In einer zentralen Passage seines Lehrbuchs vermied Ludwig sogar den Begriff »Materialismus« und redete stattdessen von der »realistischen Weltanschauung«, die er dem Idealismus entgegenstellte. Er ließ keinen Zweifel daran, welcher Meinung er anhing: »Wer den Schluss aus Analogien gelten lässt und durch seine Kenntnisse befähigt ist zu gründlichen Vergleichungen der Seelenerscheinungen mit den übrigen Naturereignissen, wird, wenn er wählen muss, nicht zweifelhaft sein, welcher von beiden Meinungen er beistimmen soll; wer aber einen unumstößlichen Beweis für eine der beiden Anschauungen verlangt, wird eingestehen, dass er noch nicht geliefert sei.«38 Mit dieser Unterscheidung räumte Ludwig zumindest ein, daß es wenigstens zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht opportun sei, einen absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch anzumelden. An diesem Punkt nahm er die 37 38

452.

R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz, a. a. O., 28–29. C. Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Erster Band, Heidelberg 1852,

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methodischen und die weltanschaulichen Probleme der Hirnforschung ernster als die meisten seiner Zeitgenossen und plädierte dafür, den Zusammenhang zwischen dem Gehirn und seinen anthropologisch und psychologisch relevanten Funktionen gründlicher zu untersuchen, damit man nicht in die alten Fehler der Organologie verfalle. Die vergleichende Anatomie, das Wägen und Messen eines Huschke, Carus oder Wagner hielt Ludwig für weitgehend wertlos, ebenso pathologische Beobachtungen, die ständig zu widersprüchlichen Resultaten führten, wobei man noch nicht einmal wisse, ob sie auf mangelhafter Beobachtung oder auf falschen Schlußfolgerungen beruhten.39 In diesem Kontext diente die methodische Strenge gewissermaßen der Entschärfung des eigenen wissenschaftlichen Weltbildes. Zwar stand für Ludwig fest, daß das Nichtwissen nur temporär begrenzt sein könne und daß die medizinisch-physiologischen Methoden diese Frage früher oder später definitiv klären würden, doch im Vergleich zu den radikaleren Materialisten hütete er sich, Öl ins Feuer zu gießen. Trotz dieser abwägenden Haltung geriet Ludwig in die Schußlinie Wagners. In seinem Göttinger Vortrag paraphrasierte er Ludwigs Wortwahl, um sie gegen diesen zu wenden: »Halten Sie den Zustand unserer Wissenschaft wirklich für hinreichend reif, um aus deren Mittelpunkt heraus die Frage über die Natur der Seele überhaupt zu entscheiden? Und wenn dies, sind Sie geneigt, auf die Seite derjenigen zu treten, welche eine eigenthümliche Seele läugnen zu müssen glauben? […] Ich kann mir nicht denken, dass Sie bei einer ernsten Vertiefung in den Gegenstand zu Resultaten kommen sollten, welche die Naturwissenschaften in den Verdacht bringen müssen, die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zu zerstören.«40 Genau genommen waren sich Wagner und Ludwig sogar darin einig, daß die Wissenschaft noch nicht in der Lage sei, die Seelenfrage definitiv zu entscheiden, doch genau an diesem Punkt eines fehlenden Beweises transformierte Wagner das wissenschaftliche Problem in ein politisches, daß also die Leugnung einer unsterblichen Seele gesellschaftszersetzend sei. Ein solcher Vorwurf war 1854 nicht folgenlos. Als die Neubesetzung des Lehrstuhls für Physiologie an der Preußischen Universität in Bonn anstand, schrieb Helmholtz an du Bois-Reymond, daß Ludwig keine Chancen haben dürfte: »Ich fürchte, R. Wagners Denunziation auf der Naturforscherversammlung hat ihm bei unserer Regierung Schaden getan.«41 Jenseits der wissenschaftspolitischen Konsequenzen dieses Streits bleibt zu konstatieren, daß die Seelenfrage nur einen – und womöglich

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Ebd., 454–455. R. Wagner, Menschenschöpfung und Seelensubstanz, a. a. O., 29. 41 Brief von Helmholtz an du Bois-Reymond vom 23.12.1854, in: Ch. Kirsten (Hg.), Dokumente einer Freundschaft. Briefwechsel zwischen Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond 1846–1894, Berlin 1986, 152. 40

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den unwichtigeren – Aspekt des Verhältnisses von Hirnforschung und Materialität des Geisteslebens betrifft. Denn trotz aller Auseinandersetzungen um Willensfreiheit und Unsterblichkeit ist die materielle Einschreibung von Intelligenz, Charakter, Männlichkeit, Weiblichkeit, Genie, Rasse, Kriminalität usw. ins Gehirn für das Menschenbild der Hirnforschung und dessen allgemeine Wirkung von ungleich größerer Bedeutung gewesen. Und in diesem Punkt waren sich fast alle Hirnanthropologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einig. Der Preis für diese fortlaufende Cerebralisierung des Menschen bestand darin, daß verschiedene Werte miteinander in Konflikt gerieten. Für die bürgerlich-konservativen Vertreter gehörte der Glaube an die Einheit des Ich und an die Unsterblichkeit der Seele zum Selbstverständnis. Sie bildeten eine Grundlage für das Vertrauen auf das Wohl der gesellschaftlichen Ordnung. Nach 1848 gerieten diese Positionen ins Schwanken, und das nicht allein durch den Materialismus, sondern durch einen fest verankerten bürgerlichen Glauben an Differenzen. Für Wagner bestand zwischen einem Gauß und einem Landstreicher ein gewaltiger Unterschied, der sich nicht mehr in metaphysischen oder auch physiognomischen Kategorien, sondern nur in physisch-anthropologischen ermessen ließ. Die cerebralen Determinanten des geistigen Lebens rückten genau in dem Moment in den Mittelpunkt, als die gesellschaftliche und kulturelle Ordnung – z. B. das Aufkommen des Sozialismus, zunehmende Verstädterung, Emanzipation der Frauen – in Bewegung geriet. Gleichzeitig und in scheinbar paradoxer Stellung dazu wurden Willensfreiheit und Unsterblichkeit der Seele als letztes Bollwerk gegen diese massiven Veränderungen in Stellung gebracht. Dementsprechend verliefen auch die Frontlinien. Als der neukantianische Philosoph Jürgen Bona Meyer gleichermaßen mit Materialismus und Darwinismus abrechnete, ging er auch kurz auf die Untersuchungen Huschkes und Wagners ein und zählte trotz aller Sympathie für die beiden gründlichen Hirnvermesser sorgsam die Ungereimtheiten der Befunde auf, um dann seinem Spott über die Materialisten damit freien Lauf zu lassen, daß »manches Frauengehirn noch klarer zu denken im Stande ist als Büchner und Consorten […].«42 So sympathisch (und selten) die Abqualifizierung der misogynen Hirnvermesser auch ist, verschoß Meyer sein Pulver nur in eine Richtung, denn nicht Büchner und Konsorten, sondern deren Gegner Huschke, Wagner und Bischoff hatten Frauengehirne gewogen und als inferior bezeichnet. Das wurde für den Neukantianer jedoch nur in dem Moment ein Problem, wenn er sich im Rahmen der von ihm bekämpften materialistischen Weltanschauung bewegte. Ein spiritualistischer Frauenverächter wurde nicht zur Zielscheibe seiner Kritik.

42

J. B. Meyer, Philosophische Zeitfragen. Populäre Aufsätze, Bonn 1870, 164.

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Welches Licht wirft diese historische Konstellation auf die heutigen Debatten? Zunächst einmal fällt auf, daß damals wie heute weitgehende Einigkeit darin bestand, daß die Hirnforschung den eigentlichen Durchbruch noch gar nicht erreicht habe. Auch heute räumen Hirnforscher offen ein, daß über die Verarbeitung kognitiv relevanter Vorgänge im Gehirn noch erschreckend wenig bekannt sei. Im vielbeachteten Manifest der Hirnforscher heißt es sogar, daß die »Theorie des Gehirns« die in Zukunft zu entwickeln sei, in einer anderen Sprache stattfinden werde als derjenigen, die man heute in den Neurowissenschaften kenne. Wie diese Sprache aussieht, verschweigt das Manifest, und das aus gutem Grund: niemand kennt bislang diese Sprache. An anderer Stelle wird zugegeben, daß Fragen der cerebralen Abbildung der Welt, des Verschmelzens von Wahrnehmung und früherer Erfahrung, des unmittelbaren Erlebens einer Tätigkeit und des Planens nicht einmal in Ansätzen verstanden seien. Es sei nicht einmal klar, wie man solche Phänomene erforschen könne. Bei so viel berechtigter Bescheidenheit ist es umso verblüffender, daß gleichzeitig ein neues Menschenbild eingefordert wird.43 Die Diskrepanz zwischen unvollständigem bzw. vorläufigem Wissen und dessen Eingeständnis auf der einen, sowie gesellschaftlich relevanten Deutungen bzw. Forderungen auf der anderen Seite ist also für beide historischen Situationen kennzeichnend. Die Hirnforscher des 19. Jahrhunderts haben sich und ihrer Wissenschaft mit ihrer Hirnpolitik und ihren gesellschaftlichen Diagnosen und Prognosen keinen Gefallen getan. Es ist mehr als legitim, wenn sich Hirnforscher heute am öffentlichen Diskurs beteiligen, aber wie ihre Vorgänger haben sie bislang noch keinen intellektuell befriedigenden Weg gefunden, mit ihrem Nichtwissen umzugehen. Neben den im Manifest genannten Rätseln gibt es noch weitere dieser Art: Weder die genaue Anordnung der Nervenzellverbindungen in der Großhirnrinde noch deren funktionelle Gewichtung sind hinreichend bekannt. Und wie die enorme Plastizität des Gehirns mit der relativen Stabilität unserer Welt- und Selbstwahrnehmung zusammenhängt, ist ein völliges Rätsel. Damals wie heute herrscht bei der Deutung der bereits vorliegenden Resultate sowie der Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der Hirnforschung ein großes Spektrum an neurowissenschaftlichen Ansichten vor. In dieser Situation bedarf es eigentlich keiner Forderungen, noch unsichere Kenntnisse vorschnell in gesellschaftlich relevante Erkenntnisse umzumünzen. Damit hat die Hirnforschung in der Geschichte ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht. Natürlich ist die heutige Situation der kognitiven Hirnforschung nicht mit derjenigen des 19. und auch 20. Jahrhunderts vergleichbar, als Rassismus und Sexismus und die Postulierung von sogenannten Verbrechergehirnen ein

43

Das Manifest, a. a. O., 36, 33, 37.

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Michael Hagner

integraler Bestandteil der Hirnforschung waren. Davor bewahren nicht nur schreckliche Entwicklungen in der Geschichte, deren Schatten uns so schnell nicht verlassen werden, sondern auch neuere Ergebnisse der Hirnforschung selbst, sofern sie die enorme Plastizität des Gehirns hervorheben. Dennoch besteht weder Grund für Jubelarien, die darauf abheben, was alles erreicht und welche Probleme man in Kürze zu lösen in der Lage sei, noch sollte man dem Hang nach einfachen, allzu einfachen Antworten in einer Zeit nachgeben, die durch Bildungskatastrophen und eine bizarre Sehnsucht nach neuen Eliten für solche Simplifizierungen anfällig zu sein scheint. Von einem so nachhaltig faszinierenden Gegenstand wie der Erforschung des Gehirns und des Geistes, der zudem eine reichhaltige Geschichte vorweisen kann, darf ein reflexives Problembewußtsein vorausgesetzt werden.

V. MATERIALISMUS, POLITIK UND GESELLSCHAFT

Christian Jansen

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«. Der nachrevolutionäre Paradigmenwechsel in den 1850er Jahren im deutschen oppositionellen Diskurs und sein historischer Kontext Die ältere Geschichtsschreibung hat die 1850er und 1860er Jahre vornehmlich von ihrem als notwendig und wünschenswert erachteten Ende, von der Reichsgründung her, betrachtet, sie also als eine Vorgeschichte, einen Inkubationsprozeß beschrieben und dementsprechend meist als »Reichsgründungszeit« bezeichnet. Der Fokus der älteren Geschichtsschreibung war zudem auf Preußen verengt. Ihr Interesse galt vornehmlich der kleindeutschen Richtung innerhalb der nationalen Einigungsbewegung, die – ihre Intentionen stark verkürzend – als Wegbereiterin Bismarcks beschrieben wurde.1 Als Initialzündung für die im wesentlichen Bismarck zugeschriebene Reichsgründung galt der älteren Geschichtsschreibung der preußische Regentschaftswechsel vom Herbst 1858, dessen politische Bedeutung jedoch weit überschätzt wurde. Da die Reichsgründung eine Revolution von oben (wenn überhaupt eine Revolution) sein sollte, wurde die Ablösung des allmählich dem Wahnsinn anheimfallenden, pietistischen Reaktionärs Friedrich Wilhelm IV. durch seinen ebenso legitimistischen und reaktionären, aber stärker modern-militärisch orientierten Bruder Wilhelm (dem »Kartätschenprinz« von 1848) zur entscheidenden Weichenstellung für die deutsche Einigung stilisiert. Dabei wurde eine mindestens ebenso wichtige Voraussetzung der Reichsgründung mehr oder minder absichtsvoll ausgeblendet: die auf lange Sicht keineswegs erfolglose Revolution von 1848/49, die den Nationalismus 1

Die folgenden Überlegungen fassen zentrale Thesen meines Buches Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849–1867), Düsseldorf 2000, zusammen und sind dort im einzelnen hergeleitet und näher belegt. Zusätzlich habe ich 2004 zur nachrevolutionären Epoche eine Edition Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung – Realpolitik – Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten aus den Jahren 1849–1861, Düsseldorf 2004, vorgelegt, in der sich die zitierten Briefe finden, soweit keine anderen Quellenangaben gemacht werden.

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Christian Jansen

als dominante politische Mentalität durchsetzte und die kleindeutsche Lösung mit einem preußischen Monarchen und einem demokratisch gewählten Nationalparlament als einzig mehrheitsfähige Option erwies. Die Dekontextualisierung von Revolution und Reichsgründung wurde vom mainstream der älteren Geschichtsschreibung vorgenommen, damit an der Kaiserkrone von 1871 nicht doch wieder der »Dreck der Revolution« und »das demokratische Chrisam« klebte, deretwegen Friedrich Wilhelm IV. 1849 die Krone, die ihm die Deutsche Nationalversammlung angeboten, zurückgewiesen hatte. In der klassischen Sichtweise sollte die Revolution vollständig gescheitert und die Reichsgründung allein das Werk der preußischen Armee und des genialen (»charismatischen«) Staatsmannes Bismarck sein. Auch die preußenkritische Geschichtsschreibung akzeptierte die Trennung von Revolution und Reichsgründung, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Gegen beide Sichtweisen betonen neuere Forschungen wesentlich stärker die Kontinuitäten. Erstens: Ohne die Revolutionen von 1848/49 hätte es keine Reichsgründung gegeben. Zweitens: Viele Achtundvierziger waren maßgeblich an der Reichsgründung beteiligt und taten dies in der Überzeugung, damit mindestens einen Teil ihrer Ziele aus der Revolutionszeit zu verwirklichen. Außerdem werden seit rund zehn Jahren die 1850er und 1860er Jahre insgesamt (und nicht erst die Zeit seit 1859) als eigenständige Epoche, nämlich als eine politisch, ökonomisch, ideen- und mentalitätsgeschichtlich äußerst folgenreiche Umbruchperiode mit potenziell offenem Ausgang begriffen. Die neuere Forschung verabschiedet sich also vom Bild der 1850er Jahre als ereignisarme, allenfalls ökonomisch bedeutende Reaktionsperiode (»zweites Biedermeier«) und der 1860er als Vorgeschichte der Reichsgründung.2 In meinem Buch Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849–1867)3 habe ich die politische Entwicklung der Akteure von 1848/49 nach ihrer Niederlage anhand ihrer prominentesten Exponenten, der oppositionellen Abgeordneten in der Deutschen Nationalversammlung, untersucht. Exemplarisch habe ich an dieser Gegenelite die Differenzierungsprozesse, Erfolge und Scheitern verschiedener Strömungen innerhalb der bürgerlichen Linken4 herauspräpariert. Zu den Ergebnissen gehörte, in welchem überraschenden Ausmaße die Achtundvierziger auch nach 2

Vgl. J. Sheehan, German History 1770–1866, Oxford 1989; W. Siemann, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849–1871, Frankfurt/M. 1990. Auch H.-U. Wehler nimmt im dritten Band der Deutschen Gesellschaftsgeschichte, München 1995, eine Aufwertung der nachrevolutionären Epoche vor. 3 C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1). 4 Zur »bürgerlichen Linken« zähle ich das gesamte oppositionelle Spektrum, das sich sowohl die nationale Einigung als auch innere Reformen auf die Fahnen geschrieben hatte – von nationalistischen Liberalen bis zu Nationaldemokraten.

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«

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der Niederschlagung der Revolution zur Modernisierung der Gesellschaft in den wichtigsten deutschen Staaten beigetragen haben und wie sie sich auf die neue, nachrevolutionäre Konstellation einstellten, die sich aus der politischen Partizipation immer breiterer Bevölkerungsschichten und damit aus dem Übergang ins Zeitalter der Massenpolitik und des Nationalismus ergab, der 1848 unumkehrbar vollzogen worden war. Im folgenden gebe ich zunächst einen Überblick über die politische Entwicklung in der nachrevolutionären Epoche aus der Perspektive der damaligen politischen Opposition, die politisch-soziologisch als bürgerliche Linke gefaßt werden kann und sowohl Liberale als auch Demokraten umfaßte, die sich während der 1850er Jahre unter dem Druck der Reaktion politisch einander annäherten. Der Fokus liegt im ersten Teil auf den deutschlandpolitischen Optionen, die die Opposition seit Mitte der 1850er Jahre sah, im zweiten auf einem von deutschen Historikern im allgemeinen unterschätzten Einschnitt in der europäischen Geschichte, dem Krimkrieg (1854–1856). Drittens werde ich auf den politisch-theoretischen Paradigmawechsel eingehen, der sich in der Mitte der 1850er Jahre im oppositionellen politischen Denken vollzog. Er basierte auf einer Reflexion der Achtundvierziger über die Ursachen der Niederlage »ihrer« Revolution und fand seinen prägenden Ausdruck in einem Buch, dessen Einfluß in der bürgerlichen Linken kaum überschätzt werden kann – Ludwig August v. Rochaus Grundzüge der Realpolitik (1853). Viertens schließe ich Überlegungen zu dem wohl schillerndsten Protagonisten des Materialismusstreits an, nämlich zu Carl Vogt. Eine Vogt-Biographie ist ein Desiderat, so daß meine Überlegungen zu seiner Person etwas durchaus tastender Natur und möglicherweise durch eine eingehendere Beschäftigung mit diesem bedeutenden Politiker und Naturwissenschaftler zu revidieren sind.

I. Die Opposition im Deutschen Bund und ihre deutschlandpolitischen Optionen in der nachrevolutionären Epoche Entgegen einer immer noch verbreiteten Annahme blieben die meisten Achtundvierziger über die Niederschlagung der Revolution hinaus politisch aktiv. In einer breiten, selbstkritischen Diskussion, die jedoch in der Reaktionszeit nicht öffentlich ausgetragen werden konnte und deshalb vornehmlich in ihren Briefen stattfand, zogen sie Konsequenzen aus ihrer Niederlage. Neue politische Ideen und Strategien, die sich im Schlagwort »Realpolitik« zusammenfassen lassen, brachten die bürgerliche Linke seit Mitte der 1850er Jahre langsam wieder aus der Defensive heraus. Es kam zu klandestinen und zunächst auf einen engen Kreis beschränkten Versuchen, oppositionelle Politik, die auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene teilweise fortgesetzt werden konnte, erneut

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Christian Jansen

überregional zu koordinieren. Die Verschiebung innerhalb der europäischen Mächtekonstellation, die aus dem Krimkrieg resultierte, und das Scheitern der Reaktionspolitik, das in den meisten deutschen Staaten in den späten 1850er Jahren zu einer Lockerung der politischen Verfolgung, zu Regierungs- und Systemwechseln führte, gaben der politischen Opposition, die inhaltlich und personell an 1848 anknüpfte, also Einheit, Macht und Freiheit für Deutschland5 forderte, weiteren Auftrieb. Seit 1859 wurde – ausgehend von den intensiven Diskussionen, welche Folgerungen aus der italienischen Nationalstaatsgründung zu ziehen seien – auch wieder öffentlich über unterschiedliche deutschlandpolitische Strategien diskutiert. Gleichzeitig kam es zu zahlreichen Neugründungen politischer Vereine, die sich schnell überregional vernetzten. Dabei lassen sich im wesentlichen vier Modelle unterscheiden: Erstens die in südwestdeutschen, republikanischen Traditionen wurzelnde demokratisch-föderalistische Vorstellung eines allmählichen Zusammenschlusses der deutschen Staaten nach Schweizer Vorbild zu einem Bundesstaat mit gemeinsamem Parlament, gemeinsamer Milizarmee und gemeinsamer Außenpolitik, aber einem hohen Maß an innerer Autonomie. Diese Einheitsidee maß dem mit der Staatsbildung angestrebten Machtzuwachs weniger Gewicht zu als der Freiwilligkeit, Friedlichkeit und Freiheitlichkeit des Zusammenschlusses. Zugleich vertraten die demokratischen Föderalisten am ausgeprägtesten eine ethnische Definition der Nationszugehörigkeit. Ihnen lag sehr daran, alle Territorien mit deutsch sprechender Bevölkerungsmehrheit in den künftigen Bundesstaat zu integrieren. Die drei anderen deutschlandpolitischen Modelle setzten, anders als die demokratischen Föderalisten, den Hauptakzent auf den Machtaspekt der nationalen Einigung. Ihre Befürworter hielten nur mächtige Staaten für langfristig existenzfähig und sahen in ihnen zugleich die besten Garanten einer freiheitlichen inneren Entwicklung. Die Befürworter dieser machtorientierten Modelle waren sich außerdem einig, daß die deutsche Staatsgründung nur mit Hilfe eines europäischen Krieges zu verwirklichen war und nahmen dies billigend in Kauf. Die Befürworter großpreußischer Lösungen wollten, wie im Frankfurter Verfassungskompromiß von 1849 vorgesehen, »Deutschland« ohne die österreichischen Bundesgebiete unter preußischer Führung einen. Die großpreußische Linke zerfiel in zwei Strömungen. In den späten 1850er und frühen 60er Jahren dominierte eine demokratisch-unitarische Richtung. Sie erwartete eine baldige Liberalisierung Preußens und anschließend aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten oder aufgrund politischen Drucks durch die Einigungsbewegung den Anschluß weiterer deutscher Staaten an dieses liberale Preußen. Nach 5

Zur Doppeldeutigkeit dieser drei Zentralbegriffe vgl. C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 22.

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«

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und nach bekannten sich jedoch immer größere Teile der großpreußischen Linken zu einer gouvernemental-autoritären Einigungspolitik »von oben«. Sie waren bereit, auch mit einer reaktionären preußischen Regierung bei der Einigung Deutschlands zusammenzuarbeiten und stellten ihre liberalen und demokratischen Ziele, also die freiheitliche Komponente der Ideen von 1848, einstweilen zurück, da sie meinten, Demokratisierung und Liberalisierung seien unaufhaltsame historische Entwicklungen. Von der Einigung Deutschlands – egal unter welchen Vorzeichen – erwarteten sie einen entscheidenden Schub in diese Richtung. Für die großpreußisch-gouvernementale Linke, die in den 1860er Jahren immer mehr Zulauf bekam, war eine reaktionäre preußische Regierung, die die deutsche Einigung vorantrieb, ein nützlicher Idiot, der eine unaufhaltsame Entwicklung beschleunigte, die letztlich zu der von der bürgerlichen Linken erwarteten nationaldemokratischen Umwälzung führen müsse. Das vierte deutschlandpolitische Modell, das seit Ende der 1850er Jahre von einer kleinen, österreichfreundlichen Minderheit innerhalb der Linken diskutiert wurde, zielte auf die Bildung eines supranationalen Staatenbundes möglichst unter Einschluß beider deutscher Großmächte, jedenfalls aber unter Einschluß des ganzen »Kaiserthum Österreich«. Das Zentrum dieses mitteleuropäischen Reiches sollte Wien sein, und es sollte möglichst den ganzen »deutschen« Kulturraum umfassen. Die verschiedenen Modelle setzen auf unterschiedliche Akteure zu ihrer Durchsetzung. Die demokratischen Föderalisten sahen die liberalen Staaten Süddeutschlands und ihr stark von sozialharmonischen Vorstellungen geprägtes Bürgertum als Motoren und peilten zunächst die Konstituierung des Dritten Deutschland ohne die beiden Großmächte an. Ebenso wie sie setzten die großpreußischen Demokraten auf Liberalismus und Nationalismus als soziale Bewegungen. Die beiden anderen Strömungen setzten hingegen auf Politik von oben, also auf die Durchsetzung ihrer Vorstellungen mit Hilfe einer der beiden deutschen Großmächte. Sie rechneten weniger auf die Einsicht der gesellschaftlichen Eliten und eine politische Bewegung als auf die Beeinflussung der führenden Staatsmänner. Zeitlich läßt sich die nachrevolutionäre Epoche in drei Phasen gliedern: 1. 1849 bis 1851 waren Übergangsjahre, in denen aus zeitgenössischer Sicht das Schicksal der europäischen Revolutionen noch nicht endgültig entschieden war und der Ausbruch einer zweiten Revolution jederzeit für möglich gehalten wurde. 2. Von 1852 bis Mitte 1857 bahnte sich, zunächst weitgehend unter Ausschluß der von politischer Repression reglementierten Öffentlichkeit, ein folgenreicher Wandlungsprozeß innerhalb der Opposition an – die Wende zur Realpolitik. Seit dem Krimkrieg (1854–56) begann sich die deutschlandpolitische Erstarrung zu lösen.

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3. Die Phase der Reorganisation der liberal-nationalistischen Opposition. Sie begann nicht erst mit der sogenannten Neuen Ära in Preußen im Herbst 1858, sondern (wie Andreas Biefang gezeigt hat6) bereits 1857 mit der Entstehung verschiedener überregionaler Organisationen, die sich, an 1848 anknüpfend, erneut die Einigung und Liberalisierung Deutschlands auf die Fahnen schrieben. Der preußische Regentschaftswechsel vom Herbst 1858 wird hingegen als Zäsur bei weitem überschätzt. Er hat – zumindest zur Charakterisierung der politischen Neuorientierung von Liberalismus und Demokratie, und wenn es um den Deutschen Bund als ganzen geht – weniger Bedeutung als der Beginn der politischen Reorganisation seit Mitte 1857.

II. »Realismus« und »Realpolitik« Die Jahre 1849 bis 1851 lassen sich politisch als eine Zeit des Übergangs charakterisieren. Die Vorstellung, mit dem Ende der Nationalversammlung im Juni oder der Kapitulation von Rastatt im Juli sei »die Revolution« zu Ende gewesen, entspricht keineswegs der Wahrnehmung der Zeitgenossen. Einerseits begann die Niederschlagung der Revolution bereits im Herbst 1848 mit der Unterwerfung des Wiener Aufstandes und dem Staatsstreich in Preußen. Spätestens damit gelangten die Mächte der Gegenrevolution wieder in die Offensive. Andererseits wurde das Ende der Aufstände in Südwestdeutschland innerhalb der bürgerlichen Linken recht unterschiedlich bewertet: Die Linksliberalen und selbst ein Teil der Demokraten begrüßten die Kapitulation von Rastatt als Niederlage radikaler Abenteurer und hofften, daß sich dadurch die Rahmenbedingungen für die eigenen Reforminitiativen wieder verbesserten. Die Linksradikalen sahen in ihr eine verlorene Schlacht, die aber angesichts der fortdauernden Aufstände in Schleswig-Holstein, Italien und Ungarn keineswegs das Ende der europäischen Revolutionen bedeuten mußte. Selbst das Scheitern der letzten Aufstände auf dem Territorium der Habsburgermonarchie wurde von den Optimisten auf der Linken ebenso wie von den Hardlinern in den Regierungen keineswegs bereits als Ende der Revolution betrachtet, die nach Ansicht vieler jederzeit wieder aufflammen konnte. Allerdings ließen verschiedene Ereignisse seit dem Herbst 1849 das unmittelbare Bevorstehen einer zweiten Revolution immer unwahrscheinlicher werden und beraubten auch die gemäßigte Linke ihrer Hoffnung auf fort6

A. Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994. In diesem Sinne auch C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 319 ff.

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«

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dauernde Reformchancen und schnelle Fortschritte in Richtung deutscher Einheit: Das österreichisch-preußische Interim vom 30. September 1849 bedeutete den Anfang der schrittweisen Wiederherstellung des am 12.Juli 1848 förmlich aufgelösten und von der Linken für überwunden gehaltenen Deutschen Bundes. Die Staatsstreiche des Jahres 1850, in Sachsen in den ersten Junitagen, im Großherzogtum Hessen am 7. Oktober und in Württemberg am 6. November, stießen ebenso wie bereits der preußische Staatsstreich vom November 1848 auf keinen nennenswerten Widerstand und zeigten die Revolutionsmüdigkeit der Bevölkerung bzw. ihre erfolgreiche Einschüchterung durch die wiedererstarkten Repressivorgane. In der Olmützer Punktation vom 29. November 1850 schließlich beugte sich Preußen endgültig Österreichs militärischer Macht. Dies zog nicht nur den Sieg der Reaktion in Kurhessen nach sich, wo die provozierend antirevolutionäre Politik der Regierung Hassenpflug (Hessenfluch nannte ihn die Opposition) breiten Widerstand ausgelöst hatte. Sondern Preußen beendete auch sein halbherziges Eintreten für die Aufständischen in Holstein und Teilen Schleswigs, die unter Berufung auf das nationale Selbstbestimmungsrecht eine Trennung von Dänemark anstrebten. Die Olmützer Punktation vom 29. November 1850 bedeutete den Schlußstrich unter Preußens kleindeutsche Einigungspolitik im Rahmen der Deutschen Union, deren Verfassung sich über weite Strecken an den Beschlüssen der Paulskirche orientierte. Dieser erzwungene Kurswechsel der preußischen Deutschlandpolitik zeigte die Überlegenheit der Wiener Diplomatie, die sich die Unterstützung Rußlands sichern konnte, über die Berliner Außenpolitik unter v. Radowitz. Prinz Wilhelm, der Kartätschenprinz von 1848/49 konnte in dieser Situation bei Liberalen und Nationalisten ersten Boden gutmachen, weil er sich gegen die Wiener Zumutungen stellen und Krieg gegen Österreich führen wollte. Sein Bruder, König Friedrich Wilhelm IV., gab hingegen ein Bild völliger Überforderung und preußischer Führungsschwäche ab. Schließlich konnte Friedrich Wilhelms Vertrauter Manteuffel den Österreichern in Olmütz einige wesentliche Zugeständnisse abringen und damit einen innerdeutschen Krieg einstweilen vermeiden: Preußen durfte seine Truppen in Kurhessen belassen und über die Wiederherstellung des Deutschen Bundes sollten die Details erst noch auf freien Ministerkonferenzen, die im folgenden Jahr in Dresden tagten, ausgehandelt werden. Trotz dieser Erfolge der preußischen Seite wurde Olmütz bei Liberalen und Nationalisten, die einen Krieg gegen Österreich als Hauptsitz der Gegenrevolution wollten, zum Symbol preußischer Schwäche. Am Widerstand der übrigen europäischen Großmächte wie der meisten deutschen Staaten scheiterte zur selben Zeit das österreichische Gegenprojekt zur Deutschen Union, nämlich: als ersten Schritt zur Lösung der deutschen Fragen eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden. Das supranationale Konzept des aus Elberfeld stammenden österreichischen Ministers

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und liberalen Paulskirchenabgeordneten Karl Ludwig v. Bruck stellte eine Alternative zur nationalstaatlichen Politik dar, welche die Linke mehrheitlich befürwortete. Die Westmächte intervenierten gegen die Absicht Österreichs und Preußens, 1851 ihre gesamten Territorien dem Bund zu inkorporieren, was diesen erheblich vergrößert hätte und ein erster Schritt zu einer supranational-föderalen Neuordnung Mitteleuropas hätte sein können. Nicht zuletzt aufgrund des massiven Widerstands der europäischen Mächte wurden also im Deutschen Bund äußerlich die vorrevolutionären Zustände wiederhergestellt. Die Aufhebung der Ministerverantwortlichkeit, der Auftrag Kaiser Franz Josephs an seine Minister, die im März 1849 oktroyierte, aber noch nicht in Kraft gesetzte Verfassung auf ihre Praktikabilität zu prüfen, und die Abschaffung des Verfassungseids der Beamten bedeuteten im August/September 1851 für die Habsburgermonarchie das Ende der nachrevolutionären Reformära und leiteten den Übergang zum offen verfassungslosen Regime am 31. Dezember 1851 ein. Ein Teil der führenden Staatsmänner strebte zwar weiterhin eine Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung an. Diese sollte jedoch nun mit kaum tauglichen, obrigkeitsstaatlichen Mitteln, gestützt auf Militär, Polizei und Kirche durchgesetzt werden. Die Außerkraftsetzung der von der Nationalversammlung verkündeten Grundrechte des deutschen Volkes im Bundesreaktionsbeschluß vom 23. August 1851 dehnte die Verfolgungspraxis der Großmächte gegen die Presse und politische Organisationen auch auf die liberalen Mittel- und Kleinstaaten aus und machte die Polizeiarbeit durch zwischenstaatliche Koordination effizienter. Das Ende aller kurzfristigen Erwartungen einer zweiten Revolution bedeutete dann der erfolgreiche Staatsstreich Napoleons III. vom 2. Dezember 1851. Denn auf Frankreich und seine vermeintlich noch aktionsfähige Linke hatten sich die letzten Hoffnungen auf ein schnelles Ende der mitteleuropäischen Reaktionsära gerichtet. Entsprechend katastrophisch waren die Erwartungen für 1852. Die eigenen Befürchtungen und die repressive Politik der Reaktionsregierungen brachten die bürgerliche Linke fast völlig zum Schweigen. Viele Achtundvierziger wurden von der Schweizer Regierung, die wegen der Zehntausende Revolutionsflüchtlinge unter zunehmenden Druck der eigenen Bevölkerung wie der nun durchgängig antirevolutionären Nachbarstaaten geriet, ausgewiesen. Eine große Zahl von Achtundvierzigern ging daraufhin nach Übersee, weil sie in Europa in den nächsten Jahrzehnten keinen Aufschwung für Liberalismus, Nationalismus und Demokratie mehr erwarteten.7 Heinrich Simon faßte die Stimmung, die in der bürgerlichen Linken in der Emigration wie im Bundes7

Vgl. hierzu die Kontroverse in der oppositionellen Deutschen Monatsschrift 1850/ 51, zusammengefaßt in: C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 179–182.

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gebiet 1852 vorherrschte, in einem Brief an Johann Jacoby zusammen: Man müsse »diese jetzige Restaurationsperiode für Deutschland als Naturnothwendigkeit in größerem Zusammenhange« auffassen. Sie in der Heimat durchleben zu müssen, sei sicherlich »fabelhaft langweilig, ja ekelhaft«.8 Der Reaktion im Deutschen Bund stellte Simon die »gesunden staatlichen Verhältnisse«9 in der Schweiz gegenüber. Angesichts der europaweiten Reaktion bildete die Schweiz neben den USA einen der wenigen positiven politischen Bezugspunkte. Das führte zusammen mit der persönlichen Erfahrung mit dem politischen System der Eidgenossenschaft zu einer deutlich positiveren Bewertung des Föderalismus und einer Wahrnehmung der Vorzüge kleiner Staaten. In seinem Tagebuch notierte Simon, der ein Großpreuße und Unitarier gewesen war, nun: »Die großen Staaten« seien »das große Unglück der Menschheit […], weil sie meistens, zusammengewürfelt aus sich widersprechendsten Elementen, nur durch Druck herrschen können, um ihr Auseinanderfallen zu verhüten«.10 In den oppositionellen Publikationen Abgeordneter aus den fünfziger Jahren ist der Verweis auf die Schweiz als politisches Vorbild allgegenwärtig. Erst seit dem Ende der 1850er Jahre wurde die Idealisierung der Schweiz wieder häufiger von einer Idealisierung Preußens abgelöst. Das Scheitern der Revolution, die Wiederbelebung des Deutschen Bundes, die Aufhebung der Grundrechte auch in denjenigen Staaten, die sie zu Landesgesetzen erhoben hatten: all das warf die Machtfrage in einem neuen Sinne auf. Die Entwicklung hatte die Übermacht der staatlichen, auf Militär, Polizei und Justiz gestützten Instanzen über die lediglich auf die öffentliche Meinung gestützten Parlamente gezeigt. Zwar hatten auch die Revolutionäre 1848/49 die Machtfrage gestellt. Sie waren aber überwiegend davon ausgegangen – und ihre Erfahrungen im Frühjahr 1848 schienen dies zu bestätigen, daß die alten Mächte von der historischen Entwicklung überholt worden seien und, da sie sich auf falsche Prinzipien stützten, unter der Wucht der politischen Bewegung und der Kräfte der Modernisierung zusammenbrechen müßten. Daß sich die alten Gewalten trotz ihrer tiefen Krise und ihres Zurückweichens im Frühjahr 1848 als stabil erwiesen, daß ihnen insbesondere die Soldaten nicht scharenweise davonliefen, daß sie dadurch wieder in die Offensive kamen, während die anfangs schier unaufhaltsame revolutionäre Bewegung größte Schwierigkeiten

8

Beide Zitate: J. Jacoby, Briefwechsel 1850–1877, hrsg. und erläutert von Edmund Silberner, Bonn 1978, 31 (meine Hervorhebung). 9 Ebd. Vgl. auch Deutsches Museum (Hamburg), 01. 01. 1853, 1 f., wo der Autor (wohl Robert Prutz) vorschlägt, daß die deutsche Linke als Konsequenz des napoleonischen Staatsstreichs sich politisch nicht länger an Frankreich orientieren solle. 10 Tagebucheintrag vom 05. 09. 1854 (zit. nach J. Jacobi, Heinrich Simon. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk, Berlin ²1865, 318).

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hatte, die politische Dynamik als gesellschaftliche Gegenmacht zu konsolidieren – diese politischen Grunderfahrungen der Revolutionszeit veranlaßten viele Revolutionäre zum Umdenken. Auch wenn Feuerbach bereits 1842 erklärt hatte, der »Geist der Zeit« sei »der des Realismus«, so führten doch erst die politischen Erfahrungen seit 1848 zu einem großen Aufschwung des »realistischen«, an naturwissenschaftlichen Modellen und Paradigmen orientierten Denkens.11 Die Welt wurde als durch Kräfte und Mächte und nicht mehr so sehr durch Ideen, Personen und ihren Willen bestimmt aufgefaßt. Die Linke glaubte, damit die wahren Triebkräfte von Geschichte und Gesellschaft entdeckt zu haben, und polemisierte von dieser neuen Erkenntnis aus gegen den idealistischen Doktrinarismus der gemäßigten Liberalen (die Konstitutionellen). Der Vorwurf des Doktrinarismus, der später gegen die bürgerliche Linke gewendet wurde, wurde zeitgenössisch zunächst von dieser gegen den gemäßigt liberalen Konstitutionalismus, inkarniert in den Idealtypen des Paulskirchenprofessors und des Märzministers, erhoben.12 Die naturwissenschaftlich geprägte Weltsicht und der Vorwurf idealistischdoktrinärer Weltfremdheit an die Gemäßigten wurden mit großer Breitenwirkung von Carl Vogt in seinen 1850/51 in der Deutschen Monatsschrift erschienenen und 1851 (2. Aufl. 1852) auch selbständig veröffentlichten Untersuchungen über Thierstaaten vertreten. Vogt leitete die bitterböse Parabel auf die Paulskirche mit der These ein, man könne »aus dem freien Thierleben neuen Muth zu neuen Gedanken schöpfen«.13 Vogt plädierte für eine radikale Abkehr vom irrationalen »Glauben« des Idealismus und für einen krassen Materialismus, der seinerseits allerdings (was Vogt nicht wahrnehmen konnte) ebensosehr auf axiomatischen Grundannahmen, also »Glauben«, basierte. Durch »die Aenderung der materiellen Zustände, die suc[c]essive Verbesserung der Ernährung, die endliche Herbeiführung des Gleichgewichtes in den Gehirnsekretionen durch zweckmäßige Anordnung der Lebensmittel« wollte Vogt einen »anarchi-

11

L. A. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik (1853), hrsg. und eingeleitet von H.-U. Wehler, Berlin 1972, 7. 12 Es handelt sich bei dem Doktrinarismusvorwurf, der bis heute in der Historiographie zu finden ist, also gewissermaßen um eine »Retourkutsche«. Vgl. zum zeitgenössischen Gebrauch C. Vogt, Offener Brief an Herrn Professor Beseler, Mitglied der Zweiten Kammer in Berlin, in: Der Beobachter (Stuttgart), 09.02.1850; C. A. Fetzer, Beiträge zu einer Volkspolitik. In Streiflichtern über das Mißlingen der deutschen Volkserhebung von 1848, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, Jg. 1851, 3. Quartal, 344; W. Schulz-Bodmer, Deutschlands gegenwärtige politische Lage und die nächste Aufgabe der demokratischen Partei, Frankfurt/M. 1849, 8; Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, Jg. 1850, 1. Quartal, 327. 13 C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt/M. 1851, 32.

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schen Zustand« erreichen, »der dem Kurzsichtigen als krause Unordnung, dem Weiterblickenden als Abbild der Harmonie der Sphären erscheinen muß«.14 So abstrus diese Vorstellungen erscheinen mögen, deren Interpretation zudem wegen der permanenten Vermischung von ernstgemeinter materialistischer Welterklärung und satirisch-polemischem Hintersinn äußerst schwierig ist: Vogt war einer der führenden und vor allem einer der meistgelesenen Naturwissenschaftler seiner Zeit. Sein materialistischer Monismus stieß auf breite Zustimmung nicht nur bei Genossen aus der achtundvierziger Linken, sondern drang dank reger Vortragstätigkeit, populär-wissenschaftlicher Bücher und Aufsätze, die hohe Auflagen erreichten (etwa in der Gartenlaube), und später indirekt, über die viel gelesenen Werke von Ludwig Büchner und Ernst Haeckel, in breiteste Bevölkerungsschichten vor.15 Der wegen seiner revolutionären Aktivitäten suspendierte Heidelberger Geschichtsprofessor Karl Hagen nahm, ebenfalls in der Deutschen Monatsschrift, das neue Paradigma auf, wenn er forderte, die »Fortschrittspartei« (also die vereinte linksliberale und demokratische Opposition) müsse, um nach dem erwarteten nächsten »Umsturz« anders als 1848/49 auch den »Neubau« zu schaffen, »die umfassendste Kenntnis aller der Elemente« erwerben, »welche im Staate von Bedeutung sind, aller der Kräfte, welche sein Leben bedingen«: Unter diesen nehme »die Natur eine der ersten Stellen ein. Und die Demokratie muß sich um so mehr bemühen, in das Wechselverhältniß zwischen Staat und Natur einzudringen, als ihr Ziel ja gerade darin besteht, den Staat und seine gesammten Einrichtungen natürlich zu machen. […] Darin scheint mir die wahre Staatskunst zu bestehen, aus der Natur des Volkes heraus den Staat mit allen seinen Einrichtungen, gleich wie einen Baum mit seinen Ästen und Blüthen sich entwickeln zu lassen, aber darüber zu wachen, daß nur die gesunden Zweige sich entwickeln.«16 In seiner Berner Antrittsvorlesung Ueber die verschiedenen Richtungen in der Behandlung der Geschichte führte Hagen

14

Ebd., 31. Vogts Untersuchungen über Thierstaaten erschien zuerst in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, Jg. 1850. Vorwort und Motti der Buchausgabe unterstreichen den politisch-satirischen Charakter des Werks noch einmal. Vgl. A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19.Jahrhunderts, Göttingen 1998, 77–125, die allerdings den satirischen Aspekt von Vogts Untersuchungen nicht berücksichtigt. Ihre Interpretation ist zu eindimensional, um den hintersinnigen und vielschichtigen politischen und wissenschaftlichen Intentionen Vogts gerecht zu werden. Seine Publikationen aus den 1860er Jahren werden ebenfalls ignoriert. Wittkau-Horgby lehnt sich in ihrer Bewertung Vogts allzu eng an F. Gregory, Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany, Dordrecht 1977, 51 ff., an. 16 K. Hagen, Zur vergleichenden Staatskunde, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, Jg. 1850, 3. Quartal, 1 ff., (Hervorhebung d. Verf.). 15

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diese Gedanken systematischer aus und empfahl der Geschichtswissenschaft die Orientierung an naturwissenschaftlichen Methoden. Sie müsse »aus einzelnen fragmentarischen Ueberlieferungen Menschen und Zustände construiren, wie die Naturwissenschaft aus einem Theile eines Organismus diesen in seiner Ganzheit herzustellen vermag«; sie müsse wie die Naturwissenschaften »die Gesetze [aufsuchen], nach welchen sich das Leben vollzieht.«17 Und immer wieder ermahnte er die Historiker, nur auf die »Thatsachen« zu sehen, und rückt damit einen Schlüsselbegriff des neuen Realismus ins Zentrum seiner Methodologie.18 Diese Naturalisierung von Politik, die mit einem ausgeprägten Organizismus der Begrifflichkeit einherging und an der sich insbesondere politisch links stehende Intellektuelle beteiligten, führte nicht nur zu irrationalen, essenzialistischen und letztlich autoritären Positionen, die sich von demokratischen und politischen Legitimationen mehr und mehr entfernten. Sie lief auch auf die xenophobe Ablehnung von Ideen oder Institutionen, die nicht dem deutschen »Volkscharakter« entsprächen, hinaus und nahm – bereits vor der Veröffentlichung von Darwins Theorien – sozialdarwinistische Argumente vorweg. Bei der neuen, realistischen Orientierung handelte es sich um ein massenhaftes Phänomen.19 In den politischen Briefen der Achtundvierziger aus den 1850er Jahren, die ich ediert habe, lassen sich zahlreiche Beispiele für das neue politische Paradigma finden. Der Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer, der – 1790 geboren – bereits der älteren Generation angehörte und deshalb modischer materialistischer Neigungen durchaus unverdächtig ist, schrieb an Karl Gutzkow – begeistert von dessen Zeitroman Die Ritter vom Geist, daß »die Tendenz Ihrer neuesten Schrift, ja Ihrer gesammten literarischen Wirksamkeit nach der Meinung Vieler mit den chemischen Fortschritten der Welt-Oekonomie sichtlicher in Verbindung steht als es bei anderen ebenfalls wohlbegabten Kommilitonen bemerkbar ist.«20 Und der Historiker Georg Gottfried Ger17

K. Hagen, Ueber die verschiedenen Richtungen in der Behandlung der Geschichte, Antrittsvorlesung, in: S. Jordan (Hg.), Schwellenzeittexte. Quellen zur deutschsprachigen Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, Waltrop 1999, 237. 18 Ähnl. argumentierte auch Hagens Kollege A. von Eye 1856 (ebd., 239 f.). Zum Organizismus vieler Historiker in den 1850er Jahren vgl. ebd., 242 (Johannes Falke). 19 Vgl. neben den folgenden Beispielen auch: H. Simon, Die Natur, der Mensch, die sociale Republik, in: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, Jg. 1851, 2. Quartal, 362–66; F. T. Vischer, Kritische Gänge, 2. vermehrte Aufl., 3. Bd., Berlin 1920, 94; O. Wittner, Moritz Hartmanns Leben und Werke. Ein Beitrag zur politischen und literarischen Geschichte Deutschlands im 19.Jahrhundert, Bd.2, Prag 1907, 14 ff.; T. Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, in: Ders., Literarische Essays und Studien, Bd.1, München 1963: Die Grenzboten 12 (1853), 2. Vgl. auch D. Schuler, Julius Fröbel (1805–1893). Ein Leben zwischen liberalem Anspruch und nationaler »Realpolitik«, in: Innsbrucker Historische Studien 7/8 (1985), 199. 20 Jakob Philipp Fallmerayer an Karl Gutzkow, München, 20. 12. 1850 (SUB

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vinus, einer der wenigen gemäßigten Liberalen, die aus Empörung über die Kompromißunfähigkeit der Fürsten und die erbarmungslose Niederschlagung der Revolution zu Republikanern wurden, schrieb an Neujahr 1851 – trotz des Sieges der Gegenrevolution voller, physikalisch begründeten Geschichtsoptimismus: »Im Ganzen ist der Rücklauf der Dinge so überwältigend, daß so ein kleiner Theil [wie Baden] nicht widerstehen kann. Ich sehe die Dinge täglich mehr physikalisch an – diese Reaction muß ihre Räder auslaufen haben wie die Revolution vorher. Wenn es dahin gekommen ist und Östreich sich eben so blamirt haben wird wie Preußen,21 so müssen wir neu beginnen. Wir, damit meine ich die Demokratie. Denn ich bin vollständig belehrt, daß uns eine Revolution und die wenigstens temporäre Republik nicht gespart werden kann.«22 Der Trierer Demokrat und ehemalige Paulskirchenabgeordnete Ludwig Simon hatte 1855 den Eindruck, »daß im Buchhandel fast Nichts gut gehe als Naturwissenschaften und Auswanderung, wohl auch noch Werke statistischen, compilatorischen oder sonst allgemein practischen Inhaltes. So ist man überall auf das Thatsächliche, Reale, durch sich selbst Sprechende zurückgekehrt. […] Theoretisierende Beredsamkeit hat seit 1848 eine zu große Rolle gespielt.«23 Der württembergische Schriftsteller und Demokrat Ludwig Pfau ging auf der Suche nach neuen Welterklärungsmodellen und zugleich nach einem finanziell lohnenden Buchprojekt so weit, eine neue »empirische«, also auf die Naturwissenschaften gegründete Philosophie schreiben zu wollen und holte sich dafür Rat bei seinem Genossen, dem inzwischen als Professor an die Universität Genf etablierten Carl Vogt. Bei seiner »empirischen Philosophie« handele es sich »nicht um das unpraktische absolute Denken, sondern um eine natürliche und solide Basis für die Formen des menschlichen Geistes, namentlich um die Prämissen, von welchen die politischen und sozialen Fragen u. Antworten nur die Conclusionen sind. […] Der erste und letzte Grund aller dieser Formen, in denen sich der menschliche Geist entwickelt, ist nicht in der Sphäre des »absoluten Geistes«, sondern nur in der Natur selbst zu finden, denn der Geist ist ja selbst nur ein Produkt der Natur. […] In Allem ist nur soviel Wahrheit, als Natur darin ist. Was sich nicht auf ein Naturgesetz zurückführen läßt, was zwischen den Naturgesetzen durchfällt ins Bodenlose, ist eitel Trug und Lüge. […]

Frankfurt/M., Handschriften-Abteilung, NL Gutzkow A 2 II), in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 165 f. 21 Anspielung auf die Olmützer Punktation (s. o., S. 223). 22 Georg Gottfried Gervinus an Carl von Manuel, Heidelberg, 01. 01. 1851 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 2561, Nr. 30), in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 167 ff. 23 L. Simon, Aus dem Exil, Bd. II, Gießen 1855, 311 f.

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Die einzig wahren Prämissen für die Philosophie sind meiner Ansicht nach die Elemente – Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff etc. und nicht das absolute Sein und das absolute Wesen. Die Elemente sind was Reelles, aus ihnen baut sich alles auf, was wir erblicken, und wenn man diesen Boden der Wirklichkeit verläßt, geräth man in das Reich der Phantasmagorien.«24 Dieser Brief macht deutlich, wie sich die Begeisterung für die Naturwissenschaften als Welterklärungsmodelle bei linken Intellektuellen in der zweiten Reihe artikulierte, also jenseits des Höhenkamms der Virchow, Vogt usw., die in der Geistes- und Ideengeschichte immer noch viel zu sehr im Vordergrund stehen. Der ehemalige linksliberale Paulskirchenabgeordnete Conrad v. Rappard versuchte ebenfalls, aber mit wesentlich mehr Erfolg, die neue Welle kommerziell zu nutzen: er gründete nach seiner Flucht in die Schweiz ein bald sehr gut gehendes Unternehmen zur Herstellung mikroskopischer Präparate, die er an naturwissenschaftlich interessierte Privatleute, Schulen und wissenschaftliche Einrichtungen verkaufte.25 Sein Freund Heinrich Simon schrieb in einem Brief über diverse publizistische Projekte: dazu zähle auch »ein Versuch, das Mikroskopische in’s Volk zu bringen, womit R[appard]. sich beschäftigt und was ich unterstütze«.26 Von solcher Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Entdeckungen, also davon, »das Mikroskopische in’s Volk zu bringen«, erhofften sich die nach wie vor aufklärungsgläubigen Demokraten nicht zuletzt eine durchschlagende politische Wirkung bei der Schaffung natürlicher, d. h. demokratischer Institutionen. Für solche publizistischen Projekte spielte auch die Tatsache eine Rolle, daß die Zensur bei wissenschaftlichen und besonders naturwissenschaftlichen Publikationen kaum eingriff, nicht zuletzt weil die Zensoren mit der Bewertung solcher Schriften überfordert waren. Wegen seines auf den ersten Blick unpolitischen Charakters fand der Aufschwung naturwissenschaftlichen Denkens auch während der Hochphase der Reaktion breiten Raum in der Presse. Dies verlieh dem Paradigmawechsel hin zu naturwissenschaftlichen Welterklärungsmodellen breite Resonanz. Die unterdrückte Opposition in der Bevölkerung und ihre enttäuschten Hoffnungen fanden teilweise in den popularisierten naturwissenschaftlichen Theoremen ein Ventil und Anknüpfungspunkte für ihre Fortschrittserwartungen. »Unter der Decke des Materialismus« sammele sich eine breite geistige Opposition – so analysierte der mit den Achtundvierzi-

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Ludwig Pfau an Carl Vogt, Bern, 09. 03. 1850 (Bibliothèque Publique et Universitaire, Genf, Ms. 2191, Bl. 62 f.), in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 85 ff. 25 Vgl. C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 118. 26 Heinrich Simon an Jakob Venedey, Mariafeld (Kanton Zürich), 23. 9. 1850 (Bundesarchiv Berlin N 2316/49, Bl. 71 u. 76), in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 139 ff.

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gern, jedoch nicht mit dem Materialismus sympathisierende Philosoph Jürgen Bona Meyer 1856 – eine Opposition, »die nicht unter dieser Decke stecken würde, wenn die gedrückten Bedürfnisse des Geistes nicht diesem Abzugskanale gewaltsam zugeleitet wären. […] Der Zauber, den materialistische Bücher ausüben, floß nicht so häufig aus ihrer Lehre als aus der socialen Opposition, mit der er sich verband.«27 Daß es bei dem Streit um naturwissenschaftlich inspirierte Welterklärungsmodelle im Grunde um politische Debatten ging, die aber unter den Bedingungen scharfer Zensur nicht als solche öffentlich geführt werden konnten, zeigte sich besonders im Materialismusstreit von 1854, als Carl Vogt in der Augsburger Allgemeinen Zeitung und auf der 31. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte polemisch von Rudolph Wagner angegriffen wurde, einem Exponenten der an den Universitäten vorherrschenden, religiös geprägten Naturwissenschaft, der zudem ein politischer Reaktionär war. Vogts heftige Antipolemik Köhlerglaube und Wissenschaft brachte es schnell auf vier Auflagen und löste eine Flut weiterer Publikationen aus – darunter auch einen Vermittlungsversuch seines Parlamentskollegen Wilhelm Schulz-Bodmer, der die Auffassung vertrat, die »Zänkerei« des »Materialismusstreits« lenke nur von Wichtigerem, nämlich politischen Fragen ab.28 Der Paradigmawechsel vom Idealismus zum Realismus, vom Willen und den Ideen zu überpersönlichen Mächten und Triebkräften, in dem Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaften Philosophie und Theologie als politische Leitdisziplinen ablösten, hatte gravierende Auswirkungen auf das Denken der intellektuellen und politischen Elite. Seit 1850 häuften sich zunächst in Briefen, dann auch in Publikationen und Landtagsreden die Verweise auf die Notwendigkeit eines Wechsels der politischen Mittel bei angeblicher Konstanz der Ziele. Man müsse sich der Macht der Tatsachen beugen, »die Handlungsweisen der Nothwendigkeit des Augenblicks und den Bedürfnissen des Landes anpassen«; eine »praktische Richtung« solle in der Politik Platz greifen – so und ähnlich hießen die Parolen. Spekulative Geschichtsphilosophie und Naturphilosophie wurden nun kategorisch abgelehnt, empirische Geschichtsforschung 27

J. B. Meyer, Zum neuesten Stand des Streites über Leib und Seele, in: Deutsches Museum, Nr.51 (18. 12. 1856), 826. Zit. nach K.-C. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M. 1993, 161. 28 C. Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft. Eine Streitschrift gegen Hofrath Rudolph Wagner in Göttingen, Gießen 1855, insb. die Vorworte zu den Neuauflagen; W. SchulzBodmer, Der Froschmäusekrieg zwischen den Pedanten des Glaubens und Unglaubens. Mit einer Zueignung an Professor Karl Vogt, Leipzig 1856. Vgl. W. Grab, Ein Mann, der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz, Weggefährte Büchners, Demokrat der Paulskirche. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1979, 346 ff.

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und experimentelle Naturwissenschaft favorisiert.29 Die bürgerliche Linke gab sich seit der realpolitischen Wende Mitte der 1850er Jahre und zuerst im Dritten Deutschland, einige Jahre später dann auch in Preußen und Österreich kompromißbereit. Sie trat nicht mehr revolutionär, sondern reformistisch auf und erhob den Anspruch, historische Traditionen und politische Gegebenheiten nun stärker zu berücksichtigen. Über den schon immer antirevolutionären Linksliberalismus hinaus verabschiedeten sich auch die meisten Demokraten von der Option einer zweiten Revolution und erkannten die gegebenen Tatsachen (vor allem die Wiederherstellung des Deutschen Bundes und die oktroyierten Verfassungen) an, um sie auf legalem Wege zu verändern. Allgemein läßt sich feststellen: Die politische Risikobereitschaft, die die Voraussetzung für ein grundsätzliches politisches Umdenken war, also die Bereitschaft, dem neuen, naturwissenschaftlichen Paradigma entsprechend politisch zu experimentieren, der Reaktion flexibel und pragmatisch zu begegnen, ihre Grenzen und die verbleibenden Möglichkeiten liberaler Politik zu testen und neue Strategien zu entwickeln, diese Bereitschaft wurde um so größer, je unübersichtlicher die politischen Perspektiven waren. Für die Emigranten, die, um in die Heimat zurückkehren zu können, auf eine zweite Revolution hoffen mußten, und die Radikalen im Bundesgebiet ließ sich die Welt in zwei antagonistische Lager einteilen: dort die Reaktion mit ihren opportunistischen Helfern unter den Konstitutionellen, hier die radikale Opposition, die die politischen Institutionen boykottierte und auf den Ausbruch einer neuen Revolution hoffte. Diese dichotomische Sichtweise war vor allem in Preußen, Österreich und den übrigen Staaten verbreitet, deren Regierungen an der Spitze der Reaktion standen – so in Sachsen, Kurhessen, Mecklenburg. Am unübersichtlichsten und am wenigsten eindeutig waren die Fronten in den süddeutschen Staaten und in den Hansestädten, in denen erhebliche Reste bürgerlicher Freiheit und Öffentlichkeit auch in den 1850er Jahren erhalten blieben, in denen teilweise sogar ein Reformkurs fortgesetzt wurde und die bürgerliche Linke weiterhin im Landtag saß. Hier gab es die avanciertesten strategischen und deutschlandpolitischen Debatten. Hier schrieb der 1833 als linksextremer Burschenschafter am Frankfurter Wachensturm beteiligte August Ludwig v. Rochau 1853, beeinflußt von Auguste Comtes 1851 erschienem Système de la politique positive, sein Buch Grundsätze der Realpolitik.30 Er faßte

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Vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel 1963, 133. Lübbes folgende Ausführungen über die in den 1850er Jahren modische »Lust zu schockieren« und die »polemische Realienkunde« jener Zeit lassen sich als Charakterisierung Carl Vogts lesen, obwohl dieser bei Lübbe nicht erwähnt wird. 30 In der Forschung wird von Rochau als Solitär wahrgenommen bzw. in spätere, nationalliberale Kontexte eingeordnet. Seine Verankerung in der Achtundvierziger Lin-

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darin die Überlegungen, die gleich ihm auch andere Köpfe der Achtundvierziger Linken nach der Niederlage der europäischen Revolutionen angestellt hatten, paradigmatisch zusammen und fand mit Realpolitik einen prägnanten Begriff für die strategische Neuorientierung, der sich jedoch erst in den 1860er Jahren durchsetzte.31 Das realpolitische Denken wurde später zum Credo des gemäßigten Liberalismus.32 Entstanden war das Konzept Realpolitik jedoch in der an der Revolution oder an tiefgreifenden Reformen gescheiterten Linken. Rochau formulierte 1853 das neue politische Paradigma folgendermaßen: »Die praktische Politik hat es zunächst nur mit der einfachen Tatsache zu tun, daß die Macht allein es ist, welche herrschen kann. Herrschen heißt Macht üben und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik.«33 Mit dieser physikalischen Theorie der Politik konnten sich Vertreter aller Strömungen innerhalb der bürgerlichen Opposition identifizieren. Die machtpolitische Orientierung, die v. Rochaus Grundzüge der Realpolitik kennzeichnet, war bereits in der Paulskirche ein Charakteristikum des Nationalismus gewesen, ebenso wie die weitausgreifenden territorialen Vorstellungen vom künftigen deutschen Reich. Die Formel, mit der sie das Deutschland charakterisierten, das ihnen als Ergebnis der Nationalversammlung vorschwebte, lautete jenseits sonstiger Differenzen: »einig, frei und mächtig«. »Freiheit und Einheit« bildeten für die bürgerliche Linke zwischen 1848 und 1866 immer die Grundlage von Deutschlands Macht.34 In dieser Machtorientierung waren sich Nationaldemokraten und liberale Nationalisten immer einig. Innenpolitisch war v. Rochaus naturwissenschaftlich inspirierte Begrifflichkeit vom »Naturgesetz der Macht« und der Macht als »dynamisches Grundgesetz der Staatsordnung« allerdings ein Zeichen des fundamentalen Umdenkens. Ein wachsender Teil der bürgerlichen Linken stellte sich neben der Frage nach der Richtigkeit politischer Ziele und Entscheidungen nun auch die, wie man das ›Richtige‹ durchsetzen könne, interessierte sich also neben dem ›Recht

ken und der Einfluß des französischen Positivismus auf von Rochau, werden hingegen nicht beachtet. 31 Älteste Fundstellen des Begriffs »Realpolitik«: C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 260 f., Anm. 8. 32 Vgl. W. J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890, Berlin 1993, 89. 33 L. A. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart ²1859, 25. 34 Zahlreiche Nachweise s. C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 261, Anm. 11.

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haben‹ zunehmend auch fürs ›Recht bekommen‹. Außerdem weitete sich seit 1849 ihr Blick durch die Erkenntnis des gesamteuropäischen Ursachenbündels für ihre Niederlage und durch die Emigration bzw. die Kommunikation mit den Emigranten. Sie adaptierten pragmatische politische Denkweisen von westeuropäischen Gesinnungsgenossen und berücksichtigten stärker internationale und außenpolitische Determinanten der deutschen Frage. Der folgenreiche politische Paradigmawechsel der 1850er Jahre ist stärker, als es die historiographische Literatur bisher tat, als Ergebnis der Debatten und der Neuorientierung der politischen Linken nach ihrer epochalen Niederlage und als Ausweis ihrer Kreativität zu sehen. Die Männer der Linken und insbesondere die ehemaligen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung verharrten nach 1849 weder in biedermeierlichem Quietismus, noch erschöpften sie sich in wirtschaftlichen Aktivitäten oder liefen dem Zeitgeist hinterher. All das galt in viel höherem Maße für die gemäßigten Liberalen. So kommentierte der konstitutionelle Paulskirchenabgeordnete Johann Gustav Droysen tief pessimistisch den politisch-ideologischen Klimaumschwung, in dem eine philosophisch-idealistische Sichtweise durch eine, von naturwissenschaftlichen Paradigmen beeinflußte, stärker historisch-realistische abgelöst wurde. Unter Anspielung auf Carl Vogts häufig zitiertes und skandalisiertes materialistisches Diktum, die Gedanken ständen im selben Verhältnis zum Hirn wie der Urin zur Niere, sah Droysen im Bedeutungsgewinn des naturwissenschaftlichen Denkens, der Industrialisierung und der zunehmenden Omnipotenz der Staaten äußerst bedrohliche Tendenzen. Wie viele gemäßigte Liberale und Konservative betrachtete Droysen Frankreich als Vorreiter dieser negativen, modernen Entwicklungen35 und setzte seine ganze Hoffnung auf »Preußen und die evangelische Kirche«. Egalitäre Positionen zur Lösung der »sociale[n] Frage«, wie sie 1848 teilweise in die Gesetzgebung eingegangen waren, griff er vehement an und lobte in Anlehnung an die Riehlsche Sozialromantik die Politik der preußischen Regierung, die sich für die »Geschlossenheit des Bauerngutes« und »untheilbare Erbhufe« einsetze. Denn an der bäuerlichen Familie hafte »eine Ehre und eine sittliche Macht, deren Segen der herrliche Bauernstand in Schleswig-Holstein bewahrt hat«. »Der Familiensinn, der Wohlstand der ländlichen Bevölkerung« sichere auch »die Nahrhaftigkeit der kleinen Städte und des kleinen Bürgertums«. Mit diesem Plädoyer verband Droysen Hoffnungen auf die von ihm angestrebten politischen Reformen, denn »der gesunde und gesicherte Bauernstand wird die Reaction unmöglich 35

Vgl. C. Jansen, Das Bild der französischen Revolution im deutschen Liberalismus der 1850er und 1860er Jahre, in: G. Gersmann / H. Kohle (Hg.), Frankreich 1848–1870. Die Französische Revolution in der Erinnerungskultur des Zweiten Kaiserreichs, Stuttgart 1998, 175–187.

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und unnöthig machen«.36 Gegen diesen sozialromantischen und antiwestlichen Konservativismus, wie er unter den Konstitutionellen weit verbreitet war, wandte sich die postrevolutionäre Linke mit ihrem Konzept des politischen Realismus, das beanspruchte, keine Utopie mehr zu verfolgen, sondern sich an den gegebenen Tatsachen zu orientieren. 1853 gründete der Historiker und linksliberale Paulskirchenabgeordnete Karl Biedermann das Jahrbuch Deutsche Annalen, für das auch v. Rochau schrieb und das von der sächsischen Regierung nach Erscheinen des ersten Jahrgangs unterdrückt wurde.37 Gegen den politischen Pessimismus und die Apathie der meisten gemäßigten Liberalen wie auch mancher Demokraten betonten Biedermann und sein vom Paradigma der Realpolitik geprägter Mitarbeiterstamm die positiven Wirkungen der Revolution. Sie verwiesen auf Fortschritte bei der Umsetzung des liberal-demokratischen Programms, auf die Zunahme des Nationalbewußtseins, der Politisierung und des bürgerlichen Gemeinsinns seit 1848. Sie wandten sich gegen pseudohistorische Mystifikationen und Versuche der Wiederbelebung vorrevolutionärer (»ständischer«) Staats- und Gesellschaftsstrukturen und plädierten gegen Sozialisten einerseits und Konservative sowie viele gemäßigte Liberale andererseits für ein »allgemeines Staatsbürgerthum«. Biedermann und seine Mitstreiter plädierten für eine Fortsetzung der Reformpolitik der Jahre 1848/49. Die realpolitische Linke sah sich im Einklang mit dem unvermeidlichen historischen Fortschritt, befürwortete deshalb eine stärker historische Orientierung der Politik und polemisierte gegen den idealistischen Doktrinarismus sowohl der Ständestaatsund Bauernromantik als auch des Sozialismus. Kernpunkte des realpolitischen Programms waren die Abkehr der Politik von philosophisch begründeten Utopien, eine stärkere Berücksichtigung der historischen und materiellen Voraussetzungen politischer Verhältnisse sowie eine Beurteilung der jeweiligen Handlungsspielräume aus diesen Bedingungen. Interpretationen, die dieses Programm als »ersten Schritt« des Liberalismus auf dem Weg zur »bourgeoisen Klassenideologie« ansehen,38 gehen an den

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Alle Zitate: J. G. Droysen, Politische Schriften, München/Berlin 1933, 323 ff., 335 f. und 341 f. 37 Das folgende aufgrund von K. Biedermann (Hg.), Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit, Leipzig 1853, 32 ff., 47 und 148 ff. 38 R. Koch, Einleitung, in: J. Fröbel, Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, Bd.1. Neudruck der Ausgabe Wien 1861, Aalen 1975, *5; ähnl. L. Gall, Liberalismus und ›bürgerliche Gesellschaft‹, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 1975, 334 ff. H.-U. Wehler behauptet in seiner Einleitung zu L. A. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik (1853), Berlin 1972, 13, Rochau habe ein Zensuswahlrecht verfochten. In dem Kapitel über die verschiedenen Wahlmodi (87 ff.) wägt von Rochau deren Vor- und Nachteile gegeneinander ab, ohne selbst Position zu beziehen.

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Intentionen der Realpolitik wie auch an v. Rochaus Text vorbei. Sie projizieren eine spätere Entwicklungsstufe des Liberalismus, nämlich den Nationalliberalismus der späten 1860er Jahre, zu dessen Ideologen v. Rochau dann ebenso wie andere Achtundvierziger gehörte, auf den Paradigmawechsel der frühen 1850er Jahre. Die Forderung nach Realpolitik richtete sich unmittelbar nach dem Scheitern der Hoffnungen auf eine baldige, zweite Revolution mindestens ebenso sehr gegen die politische Romantik der Konstitutionellen (z. B. Droysen), die die historische Entwicklung ignorierend zu früheren politischen Zuständen des Absolutismus oder Konstitutionalismus zurückkehren wollten, wie gegen den demokratischen Radikalismus. Das Programm der Realpolitik zielte zunächst auf die Repolitisierung der Linken und stellte den Versuch dar, sie aus dem lähmenden Pessimismus des Jahres 1852 herauszuführen. Es sollte jenseits der revolutionären Katastrophenhoffnung, die in der Verschärfung der Repression stets eine Verbesserung der Chancen der Opposition sah, Handlungsperspektiven aufzeigen. Er setzte dabei, dem neuen gesellschaftstheoretischen und geschichtsphilosophischen Paradigma folgend, auf die materiellen Triebkräfte der Modernisierung und wollte zugleich an das politisch-ökonomische Liberalisierungsprogramm der Märzministerien anknüpfen. »Realpolitik« bedeutete zwar die Abkehr vom Modell der Volksrevolution nach dem Muster von 1789, aber keine Revision der Ziele »Einheit«, »Macht« und »Freiheit«. Der Anspruch, Realpolitik zu treiben, war allerdings von Anfang an latent gouvernemental, und es war insofern folgerichtig, wenn sich viele Anhänger des neuen Paradigmas (allen voran v. Rochau selbst) sich zu gemäßigten Liberalen wandelten und maßgeblich Programm und Ideologie des Nationalliberalismus bestimmten. Aber in seinem frühesten Stadium war das Bekenntnis zum politischen Realismus in allen Fraktionen der bürgerlichen Linken anzutreffen, zumal es Mitte der 1850er Jahre zunächst zu einer breiten, strömungsübergreifenden Kooperation der Opposition kam. Der Gegensatz zwischen der Option für Politik von oben oder Politik von unten brach erst Mitte der 1860er Jahre offen auf, als die Handlungsspielräume sich wieder vergrößert hatten und deshalb die unterschiedlichen strategischen Optionen zu einer erneuten Aufsplitterung der bürgerlich-nationalistischen Opposition und letztlich zur Entstehung konkurrierender Parteien (Fortschrittspartei, Nationalliberale Partei und Demokratische Volkspartei) führten.

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III. Der Krimkrieg als Impuls für die Wiederbelebung liberaler Deutschlandpolitik Bereits vor Beginn der Neuen Ära in Preußen, unter den schwierigen Bedingungen der 1850er Jahre, kam es zu einer Wiederbelebung der deutschlandpolitischen Diskussion. Dies war zunächst Teil überregionaler Koordinierungsbemühungen auf halb privater Ebene.39 Wegen solcher informeller Vorarbeiten konnten nach der Lockerung der Unterdrückung in Preußen so schnell überregionale Verbände organisiert werden, die sich der Vollendung des liberal-nationalen Projekts der Paulskirche widmeten. Hierzu zählten neben dem Deutschen Nationalverein, bei dem die politischen Fäden zusammenliefen, Berufs- und Interessenverbände, die sich vor allem auf wirtschaftspolitischem Gebiet engagierten, wie der Kongreß deutscher Volkswirte oder der Deutsche Handelstag.40 Worin lag nun die Bedeutung des Krimkrieges für das Wiederentstehen einer deutschlandpolitischen Diskussion? Dieser erste europäische Krieg seit 1814 begann im Oktober 1853 mit der Kriegserklärung des Osmanischen Reichs an Rußland, das zuvor Vasallenstaaten des Sultans an der Donaumündung besetzt hatte, und weitete sich 1854/55 durch das Eingreifen Großbritanniens, Frankreichs und Sardiniens auf seiten der Türken zu einem Konflikt aus, in den alle europäischen Mächte außer den Staaten des Deutschen Bundes verwickelt waren. Der Krimkrieg bedeutete das Ende der Pentarchie, also der Herrschaft der fünf europäischen Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Rußland, Österreich und Preußen), und schwächte vor allem Rußlands Machtposition entscheidend. Anders als Rußland erwartet hatte, neigte Österreich, das formell neutral blieb, eher der Türkei und den Westmächten zu. Damit war der expansive Vorstoß des Zarenreichs zum Scheitern verurteilt, da es wegen eines drohenden Zweifrontenkriegs nicht seine gesamte militärische Macht an der Krim konzentrieren konnte. Da jedoch die mit der Türkei verbündeten Mächte wegen der großen Entfernungen Rußland andererseits auch keine militärische Niederlage zufügen konnten, bestätigte der Friede von Paris im Frühjahr 1856 den territorialen status quo ante. Dennoch veränderte der Krimkrieg die europäische Konstellation grundlegend, insbesondere aus der Sicht der deutschen Liberalen

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So koordinierte 1856 eine Reihe führender Oppositioneller ihre jährliche Badereise, um in Bad Schwalbach nebenbei politische Gespräche führen zu können. Vgl. C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 101 ff., den Abschnitt »Reisen als Mittel politischer Kommunikation«. 40 Vgl. A. Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994.

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und Demokraten, die nach Chancen für eine nationale Einigung suchten und dabei ja seit der realpolitischen Wende stärker die europäische Mächtekonstellation beobachteten: Die Weigerung Österreichs und Preußens, auf die Seite Rußlands zu treten, bedeutete das Ende der Heiligen Allianz, die für die mitteleuropäische Linke das Herz der Reaktion bildete und als deren treibende Kraft das autokratische Rußland galt (und es ja auch vielfach war). Die Niederlage Rußlands gegen den Westen und das Zerbrechen der Heiligen Allianz interpretierten die Vordenker der deutschen Opposition voller Hoffnung als vorentscheidende Niederlage von Legitimismus und Reaktion. Großpreußische Demokraten wie Heinrich Simon, Ludwig Bamberger oder Arnold Ruge bewerteten den Krimkrieg als epochalen Wendepunkt. Er beendete in der deutschen Linken die Depression, die auf die Niederlage der Revolutionen von 1848/49 und den Verlust der Hoffnung auf eine baldige zweite Revolution gefolgt war. Die Niederlage der reaktionären Vormacht Rußland beseitigte auch manche Zweifel an der Gültigkeit des Fortschrittsprinzips, auf dem das politische Denken der Linken ruhte. Es ist bezeichnend und ein Indiz für die Verbreitung realpolitischen Denkens, daß dieser Umschwung hin zu neuer Hoffnung von einem außenpolitischen Ereignis und noch dazu von einem als besonders blutig wahrgenommenen Krieg ausging und nicht von einer revolutionären Erhebung oder innenpolitischen Reformen in einem mitteleuropäischen Staat. Der Krimkrieg verdeutlichte außerdem, wie schwer territoriale Veränderungen in Europa durchzusetzen waren. Das mußte erst recht im deutschsprachigen Raum gelten, wo die Interessen aller Mächte tangiert waren. Im Hinblick auf die Frage der deutschen Einigung bestätigte der Ausgang des Krieges die Notwendigkeit eines zugleich machtorientierten und gegenüber konservativen und legitimistischen Interessen kompromißbereiten Vorgehens, also einer realpolitischen Strategie. Daß Preußen von allen Großmächten die wohlwollendste Haltung gegenüber Rußland, dem Aggressor im Krimkrieg und schärfsten Gegner aller freiheitlichen Bestrebungen, eingenommen hatte, trug nach der Auseinandersetzung um die Deutsche Union und dem Verhalten in der kurhessischen und schleswig-holsteinischen Frage nach Olmütz zur weiteren Verschlechterung des Preußenbildes der Liberalen bei. Daß hingegen Österreich sich stärker als Preußen von Rußland absetzte, war der Beginn einer positiveren Bewertung der Habsburgermonarchie, die nicht mehr nur als Völkergefängnis, sondern wieder stärker als reformierbar wahrgenommen wurde. Solche Hoffnungen, insbesondere unter den eher großdeutsch orientierten Nationalisten in Österreich und Süddeutschland, bildeten die Grundlage für die Unterstützung, die die österreichische Politik in Teilen der liberalen und demokratischen Presse von 1859 bis 1863, vom italienischen Krieg bis zum Scheitern der Bundesreformbestrebungen, fand. Daß die Friedenskonferenz im Frühjahr 1856 in Paris

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tagte, symbolisierte die neue Vormachtstellung Frankreichs in Europa. Damit gewannen auch die Idées Napoléoniennes, die ein Selbstbestimmungsrecht der Völker propagierten, politisch an Gewicht und verliehen dem Nationalismus der Völker ohne Nationalstaat – allen voran der Italiener und der Deutschen – zusätzlichen Aufschwung.

IV. Carl Vogt als Vertreter des nachrevolutionären »Realismus« Carl Vogt ist als paradigmatische Figur, an der sich in nuce die Geschichte der folgenreichen wissenschaftlichen und politischen Denkschule des Realismus veranschaulichen und analysieren läßt, einer der interessantesten deutschschweizerischen Naturwissenschaftler des 19.Jahrhunderts. Außerdem ist er einer der profiliertesten Vertreter einer demokratisch-nationalistischen Linken, die mit dem Aussterben der Achtundvierziger von der deutschen politischen Bühne fast völlig verschwunden ist und als deren Vertreter auch Ludwig Bamberger oder Theodor Mommsen gelten können. Gleichwohl ist Vogt heute fast völlig vergessen und nicht einmal mehr in vielbändigen Konversationslexika zu finden. Als er 1896 starb, schrieb der heute weitaus bekanntere Ernst Haeckel an Vogts Sohn: »Wie ich als Lehrer und Schriftsteller hinter Carl Vogt zurückstehe, und mit seinem glänzenden Talent nicht concurriren kann, so ist mir auch kein gleicher Erfolg beschieden gewesen.«41 Daß Vogt heute (zu Unrecht) fast unbekannt ist, ist erstens darauf zurückzuführen, daß er ein Emigrant und Grenzgänger zwischen den deutschen Staaten, der Schweiz und Frankreich gewesen ist, und zweitens auf die Verleumdungskampagnen, die Marx und Engels gegen Vogt einerseits wegen seiner »vulgärmaterialistischen« Ideen und andererseits wegen seiner angeblichen Agententätigkeit für Napoleon III. inszeniert42 und die Vogts Image vor allem innerhalb der Arbeiterbewegung als der sozialen Trägerschicht des Materialismus desavouiert haben. Um nicht mißverstanden zu werden, sei gleich betont, daß Vogt seinerseits

41

Ernst Haeckel an Guillaume Vogt, 08. 08. 1896 (Bibliothèque Publique et Universitaire, Genf, Ms. 2189). 42 Vgl. hierzu (neben einigen Bemerkungen unten) C. Jansen, Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brieflichen Kommunikation unter den emigrierten Achtundvierzigern – unter besonderer Berücksichtigung der Kontroverse zwischen Marx und Vogt, in: J. Herres/M. Neuhaus (Hg.), Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Emigration und frühen Arbeiterbewegungen im 19.Jahrhundert, Berlin 2002, 21–72. In meiner Edition Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung – Realpolitik – Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten aus den Jahren 1849–1861, Düsseldorf 2004, ist der Streit um Vogt mit zahlreichen Briefen ausführlich dokumentiert.

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nicht zimperlich mit den Marxisten umgegangen ist, die er vorzugsweise als »Schwefelbande« titulierte, die jedoch (bisher jedenfalls) Vogt gegenüber den Sieg davongetragen haben. Verschiedene Umstände seiner biographischen Herkunft privilegierten Carl Vogt innerhalb der politisch-intellektuellen Szenerie seiner Zeit. Zunächst einmal wurde er in eine Familie mit radikal oppositioneller Tradition hineingeboren: seine Mutter Luise war eine Schwester der Gebrüder Follen, dreier berühmt-berüchtigter radikaler Burschenschafter, Anführer der Gießener Schwarzen – also des revolutionären Flügels innerhalb der Burschenschaft. Sein Vater Philipp (1786–1861), der zunächst in Gießen Professor für Pharmakologie, allgemeine Therapie und Chirurgie war, nahm 1834 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Nosologie, Therapie und klinische Medizin in Bern an – nicht zuletzt weil er den (nach kurzem Tauwetter infolge der französischen Julirevolution) seit dem Hambacher Fest (1832) wieder äußerst repressiven Klima im Deutschen Bund entgehen wollte. So verlebte der 1817 geborene Carl seine prägenden Adoleszenzjahre in der Schweiz, wo sein Elternhaus schnell zum Mittelpunkt der politischen Emigration wurde. Es gab dort ein berühmtes Flüchtlingszimmer – eine Gästezimmer, das immer für politische Flüchtlinge bereit gehalten wurde und ständig belegt war. Carl Vogt kannte aufgrund dieser familiären Prägung seit seiner Kindheit zahlreiche führende politische Oppositionelle. Außerdem besaß er seit 1846 die Schweizer Staatsangehörigkeit – was ein kaum zu überschätzendes Privileg in der nachrevolutionären Epoche war, als Zehntausende in die Schweiz fliehen mußten. Aufgrund seiner Arbeit für den Schweizer Naturforscher Louis Agassiz, seiner mehrjährigen Tätigkeit in Paris und seiner eigenen experimentellen Untersuchungen über die Entwicklungsgeschichte der Geburtshelferkröte, in denen er die Richtigkeit der seinerzeit neuesten (und revolutionären) physiologischen Hypothesen Theodor Schwanns und Rudolf Virchows43 bestätigt hatte, war Carl Vogt 1847 als 30jähriger, als er an die Universität Gießen berufen wurde, einerseits ein weltgewandter, eigensinniger und eigenständiger Star in der Physiologie, die just in jener Zeit die Mechanik als wissenschaftliche Leitdisziplin für realistische Welterklärungsmodelle ablöste. Vogts Hauptinteresse galt der onto- und später auch phylogenetischen Entwicklung. Der Gedanke, daß Entwicklung hin zu Höherwertigkeit ein Prinzip der belebten Welt sei, beschäftigte Vogt zunächst hinsichtlich der Entwicklungsstadien verschiedener Lebewesen.

43

Zu Virchow vgl. jetzt die große Biographie von C. Goschler, Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker, Köln 2002. Zu Virchows früher, physiologischer Tätigkeit insb. 44 ff.; der Materialismusstreit wird in dem Buch leider nicht eingehend behandelt. Vgl. C. Goschler, »Wahrheit« zwischen Seziersaal und Parlament, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 219–249.

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Vor allem die Metamorphose bei Insekten, Lurchen und Krebstieren wurde zu seinem Forschungsgegenstand. Später rückte dann die Entwicklung der Menschen aus den Affen in den Mittelpunkt seiner publizistischen Aktivitäten. Vogt war einer der Übersetzer und einer der wirkungsvollsten Propagandisten der Darwinschen Ideen im deutschen Sprachraum, was ihm auch den Spitznamen »Affenvogt« eintrug. Die beiden wissenschaftlichen Zentralthesen Vogts, die für den Materialismusstreit entscheidend wurden, waren: 1. das Leben auf der Erde sei durch spontane Urzeugung aus Materie entstanden und 2. das Bewußtsein sei eine körperliche Funktion – oder in Vogts berühmt-berüchtigter Formulierung: »daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirnes wie eines Instrumentes bedient, mit dem sie arbeiten kann, wie es ihr gefällt, ist ein reiner Unsinn.«44 In der nächsten Auflage seiner weit verbreiteten, populär geschriebenen Physiologischen Briefe spitzte er seine Ausführungen weiter zu – sicher in der Absicht, damit zu provozieren: »Die Seele fährt also nicht in den Fötus, wie der böse Geist in den Besessenen, sondern sie ist ein Produkt der Entwicklung des Gehirnes, so gut als die Muskelthätigkeit ein Product der Muskelentwicklung, die Absonderung ein Product der Drüsenentwicklung ist.«45 Zunächst einmal ist gegen die meisten Darstellungen, die Vogt als »Vulgärmaterialisten« mit abseitigen oder allenfalls skurrilen Ansichten vorführen, festzuhalten, daß er mit diesen beiden Zentralthesen den heute gültigen Forschungsstand antizipiert hat. Was die zweite These angeht, so ist sie bis heute

44

C. Vogt, Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände (1845–47), Gießen ²1854, 323. In einer Fußnote kommentierte Vogt seine eigene Formulierung, die bereits in der ersten Auflage seiner Briefe für Furore gesorgt hatte und zitierte einige führende Physiologen, die sie aufgegriffen und ihr zugestimmt hatten, so Jakob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, Mainz 1852, 402) und Carl Ludwig, Physiologie des Menschen, Heidelberg 1853, 452). Beide mußten wie Vogt nach 1849 in die Schweiz emigrieren, wo sie an der Universität Zürich lehrten. Bezeichnend ein Satz bei Ludwig: »Die Anhänger der zahllosen Abstufungen realistischer Weltanschauung haben sich […] darüber geeinigt, daß die Seelenerscheinungen resultieren aus einer gewissen Summe im Hirn und Blut enthaltener Bedingungen […].« Besonders dürfte sich Vogt über einen Aufsatz in dem vom preußischen Geheimrat und Professor Müller herausgegebenen Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medizin, Jg. 1851, 414, gefreut haben, der seine Hypothese ebenfalls übernahm. Zit. nach Vogt, Physiologische Briefe (s. Anm. 44), 323 ff. 45 Ebd., 3. Aufl., 647 f.

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umstritten. Aber im Kontext der beginnenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms behaupten Forscher auch heute immer wieder, es seien Genome entdeckt worden, die für Homosexualität, Alkoholismus, abweichendes soziales Verhalten usw. verantwortlich seien, also für bestimmte Aspekte des menschlichen Bewußtseins. Vogts dritte, immer wieder zitierte Zentralthese, daß die Ernährung der entscheidende Faktor für das menschliche Bewußtsein sei, daß kein freier Wille existiere, sondern das menschliche Bewußtsein durch die Zufuhr bestimmter Nahrungsmittel zu manipulieren sei,46 ist aus heutiger Sicht nur mehr skurril und wird allenfalls in einigen esoterischen Sekten geteilt. Aber Vogt Untersuchungen über Thierstaaten, in denen er diese These vertritt, sind schwer einzuschätzen. Handelt es sich dabei tatsächlich um wissenschaftliche Thesen oder nicht vielmehr um eine, den Bedingungen einer zensierten Öffentlichkeit geschuldete politische Satire und eine Abrechnung mit dem Scheitern der deutschen Revolution? Nach meiner Kenntnis handelt es sich nicht um eine ernst gemeinte wissenschaftliche These, wenn Vogt etwa schrieb: »Man würde nur durch zweckmäßige Anordnung der Nahrung […] Staatsmänner, Bureaukraten, Theologen, Revolutionärs, Aristokraten, Socialisten, ja sogar Referendarien je nach Belieben bilden können, und der unendliche Scharfsinn, der jetzt auf Constitutionen, Gesetze, Verordnungen und dergleichen Staatsgrundlagen verwendet wird, würde sich dann auf die Erfindung gewisser Brühen, Breie und Fleischarten richten, die […] dieselben Resutate haben würden.«47 Diese Texte sind vielmehr als Polemik und bittere Satire auf das sinnlose Wirken der gemäßigten Liberalen zu lesen, die nach Ansicht Vogts in der Paulskirche nur sinnlos Zeit vertrödelt hätten. Jedenfalls hat Vogt solche Thesen auch später nicht wiederholt. Durch seine politische Karriere und seine Fähigkeit, prägnant, provokativ und populär schreiben zu können, war Vogt einer der meistgelesenen (und bestverdienenden) Naturwissenschaftler seiner Zeit. Andererseits war er aufgrund eigener Entscheidungen und politischer Umstände sein Leben lang ein Grenzgänger zwischen deutsch- und französischsprachiger Wissenschaftskultur. Beide Umstände trugen neben Vogts Lust an der Provokation dazu bei, daß er auch einer der umstrittensten und bestgehaßten Naturforscher seiner Zeit war. Hinzu kam, daß Vogt immer den Bourgeois verkörperte, dem guten Essen und Trinken zugewandt und deshalb wohlbeleibt, daß er einen beißenden, häufig auch lauten Humor (aber auch Selbstironie) besaß und nie den Märtyrer spielen wollte und konnte. Diese Eigenschaften erleichterten es seinen Gegnern, ihn insbesondere in der Arbeiterbewegung zu diskreditieren. Aber 46

Vgl. die im Beitrag von G. Mensching in diesem Band zitierten Passagen aus Vogts Publikationen der frühen 1850er Jahre. 47 Vgl. Untersuchungen über Thierstaaten, in: Deutsche Monatsschrift, a. a. O., 127 f.

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auch über dieses (allerdings für den Materialismus besonders wichtige) Milieu hinaus meinte der Zeitgeist im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert es nicht gut mit schillernden und ironischen Figuren, wie Vogt eine war. Einer regulären wissenschaftlichen Karriere des gerade als Professor etablierten Carl Vogt kam 1848 die Revolution in die Quere. Das politische Temperament des jungen Professors, der auch ein mitreißender Redner gewesen sein muß, siegte über seine akademischen Ambitionen. Er ließ sich ins Vorparlament delegieren und dann in die Deutsche Nationalversammlung wählen, wo er schnell einer der Köpfe der Demokraten wurde. Unter den Demokraten, die die äußerste Linke in der Paulskirche bildeten, gehörte Vogt (zusammen mit den interessantesten Köpfen der deutschen Revolution) zur gemäßigteren Fraktion Deutscher Hof, die sich konstruktiv an den Verfassungsberatungen beteiligte.48 Bei der radikal antibürgerlichen, revolutionären Linken, die neben der politischen auch eine soziale Revolution anstrebte, die nie die Sache des Bürgers Vogt gewesen ist, und hauptsächlich außerparlamentarisch agierte, war Vogt verhaßt, weil er in der Endphase der Revolution (während der Aufstände der Reichsverfassungskampagne) »abgewiegelt« und vor unnötigem Blutvergießen gewarnt hatte, obwohl er zur selben Zeit der fünfköpfigen revolutionären Regierung, der Reichsregentschaft angehört hatte. Nach seiner Flucht in die Schweiz, im Winter 1849/50 schrieb der ehemalige Reichsregent Carl Vogt auf Papier mit dem Briefkopf »Deutsche ReichsRegentschaft/Abtheilung des Auswärtigen« flammende, programmatische Sätze nieder: »Ein neues Proletariat. Ja! Ein neues Proletariat! Ein Proletariat der Hingebung für die heiligsten Interessen des Vaterlandes, ein Proletariat der Freiheit, der Einheit Deutschlands, ein Proletariat der Befreiung aller Völker, die unter dem Druck langjähriger Ketten schmachten! […] Es ist ein neues Proletariat, das durch den versiegenden Strom der Revolution auf fremdem Strande angeschwemmt worden ist, das jetzt starren Auges auf [das] gegenüberliegende Ufer schaut […]! Wahrhaftig, es ist ein Proletariat! Es hat keine schuldenfreien Güter, keine von Reichsfinanzen geschwollenen Seckel, keine Stellen und Ämter aus dem Schiffbruche gerettet – es hat alles verloren[,] nur die Ehre nicht!«49 Diese pathetische Selbstbeschreibung hatte zwar wenig zu tun mit der materiellen Realität der ehemaligen Nationalversammlungsabgeordneten (und am wenigsten mit der Vogts)50. Sie wirft aber Licht auf das

48

Vgl. zu Vogts Tätigkeit in der Paulskirche und seinem ironischen und bösen Ton seine (leider unprofessionell) edierten Erinnerungen an die deutsche Nationalversammlung 1848/49, Berichte der Justus Liebig-Gesellschaft zu Gießen e. V., Bd. 6. Gießen 2002. 49 Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen, NL Näf, Mat. 40. 50 Die Überlegungen von A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wir-

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Selbstgefühl dieser gescheiterten politischen Elite. Die Selbststilisierung zum revolutionären Subjekt, die verbunden war mit ebenso heftigen Tiraden gegen die politischen Gegner, zeugt vom unmittelbaren, noch in keiner Weise verarbeiteten Bedeutungsverlust der weniger als zwei Jahre zuvor durch die Märzrevolution in Machtpositionen katapultierten jungen, radikalen Führungselite. Von den Achtundvierzigern, die in die Schweiz geflüchtet waren, hatte kaum einer so gute Startbedingungen wie Carl Vogt. Er besaß nicht nur bereits die Schweizer Staatsangehörigkeit, sondern er besaß als anerkannter und mit den neuesten Theorien vertrauter Physiologe mit europaweiten wissenschaftlichen Kontakten auch ein berufliches Kapital, das sich außerhalb des deutschen Sprachraums verwerten ließ. So wurde Vogt, nach zwei Jahren unsteter Beschäftigung teils als freier wissenschaftlicher und politischer Publizist, teils als Forscher an der meeresbiologischen Station in Nizza, bereits 1852 als ordentlicher Professor der Geologie an die Universität Genf berufen. In der Zeit seiner freiberuflichen Tätigkeit verfaßte er u. a. Untersuchungen über Thierstaaten. Dieser Text muß also mit Blick darauf interpretiert werden, daß er nicht nur unter Bedingungen scharfer Zensur, sondern auch zum Gelderwerb und nicht in erster Linie als wissenschaftlicher Text verfaßt wurde. Vogts Anfangsgehalt in Genf betrug knapp 3.000 SFr (gut 1.150 T). Das entsprach annähernd dem, was ein Hochschullehrer auch im Deutschen Bund verdiente. Sein Gehalt stieg, während Vogt zu einem internationalen Star wurde, bis 1872 auf 6.000 SFr (2.310 T). Daneben hatte der außerordentlich geschäftstüchtige Vogt hohe Nebeneinkünfte: Als er im Herbst 1861 den Prinzen Jerome Napoleon auf einer Nordlandreise begleitete, handelte er dafür ein Honorar von 30.000 fl (gut 17.000 T) aus; im November 1866 verdiente er allein mit Vorträgen in 14 Tagen mehr als 1.100 T. Auch seine Einkünfte als wissenschaftlicher Publizist waren erheblich, da er als international renommierter, populär schreibender Autor Spitzenhonorare verlangen konnte. Statt wie die meisten seiner früheren Fraktionskollegen Redaktionen suchen zu müssen, die seine Artikel abdruckten, machte er 1858 den in Biel erscheinenden Schweizer Handels-Courier als Mehrheitsaktionär zu seinem politischen Organ. Seine Freunde engagierte er als Korrespondenten oder Kommentatoren; und er betrieb auch einen kleinen Verlag, in dem neben seinen eigenen Publikationen auch Bücher seiner politischen Genossen erschienen.51 Wie gut es Vogt

kung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 104, gehen vollkommen an Vogts Lebensbedingungen nach 1849 vorbei. Vgl. hingegen zur relativ privilegierten Stellung der Paulskirchenabgeordneten innerhalb der Flüchtlingsmassen C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 108 ff. 51 Zu Vogts Einkommen und seinen Lebensverhältnissen vgl. ebenda, 120, sowie C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 499 f. u. 621 ff.

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materiell ging, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß er neben der Ernährung einer vielköpfigen Familie immer wieder größere Summen in Spekulationen stecken konnte.52

Vogt im »Materialismusstreit« Zu einer ersten großen Kontroverse, in deren Mittelpunkt der trotz seiner erzwungenen Emigration in den deutschen Staaten populär gebliebene Carl Vogt stand, kam es im Materialismusstreit von 1854, als Rudolf Wagner ihn bei der Versammlung deutschen Naturforscher und Ärzte öffentlich scharf angriff. Der Inhalt dieser Kontroverse kann an dieser Stelle wohl vorausgesetzt werden, da sie in anderen Beiträgen dieses Bandes behandelt wird. Ich möchte nur einige thesenhafte Überlegungen zur Diskussion stellen: – Wie wohl bei allen wissenschaftlichen Kontroversen ging es keineswegs allein um wissenschaftliche Fragen, sondern die Kontrahenten trugen auch persönliche Animositäten und prinzipielle politische Differenzen aus: Vogt stilisierte sich selbst zum Mann des Fortschritts, Wagner zum Vertreter der legitimistischen Reaktion;53 umgekehrt sah Wagner in Vogt den anarchistischen Revolutionär und sich selbst als Wahrer gefährdeter christlicher Werte.54 – Es ging darüber hinaus um die Frage der Geltung religiöser Dogmen und ihre Vorrangigkeit vor wissenschaftlichen Erkenntnissen und schließlich um die Fragen: Sollte Wissenschaft ein Arkanbereich sein, zu dem nur Einge-

52

Meist waren sie wenig erfolgreich: 1856 wollte Vogt zusammen mit seinem Paulskirchengenossen Conrad von Rappard im Kanton St. Gallen Braunkohle abbauen, scheiterte aber an der gesetzlichen Vorschrift, daß alle betroffenen Bauern dem Abbau zustimmen mußten – 16.000 SFr waren verloren. 1858 ging eine im Jahr zuvor von Vogt gegründete Aktiengesellschaft pleite, die Zement produzieren sollte; 1863 bis 1868 investierte Vogt in ein Verfahren seines Freundes, des berühmten Mediziners Pettenkofer, fast 6.500 SFr, also mehr als ein Jahresgehalt, mit dem Ölgemälde chemisch zu restaurieren sein sollten, das aber nie funktionierte. Vgl. Rappard an C. Vogt 09. 10. 1871 (Bibliothèque Publique et Universitaire, Genf, Ms. 2191); Staatsbibliothek München, Pettenkoferiana II,2. 53 Sehr charakteristisch ist hier der Eisenbahnvergleich Vogts (Köhlerglaube und Wissenschaft, Gießen 1855, 122), in dem Vogt Wagners Polemik mit »dem Zeter der Fuhrleute über die Eisenbahnen, dem Jammer der Zunderfabrikanten über die Streichhölzchen« gleichsetzt, galten doch Eisenbahnen und Streichhölzer in den 1850er Jahren als Inbegriffe des ökonomisch-technischen Fortschritts. 54 Vgl. etwa die im Beitrag von M. Hagner zitierte Passage, die Leugnung einer unsterblichen Seele werde die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung völlig zerstören.

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weihte (Gelehrte) Zugang haben, um dann dort auch Fragen zu diskutieren, die für die Öffentlichkeit gefährlich sein könnten, weil sie Religiosität und »die sittlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung« untergraben könnten? Oder war Wissenschaft gerade infolge der Fundamentalpolitisierung breiter Bevölkerungsschichten 1848/49 von eminentem öffentlichem Interesse und mußte deshalb popularisiert und breit diskutierbar gemacht werden? – Letztlich ging Vogt sogar noch einen Schritt weiter und maß dem Urteil der Öffentlichkeit Bedeutung für den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Aussagen zu. Vogt stellte damit ein demokratisches Modell der Wahrheitsfindung durch öffentlichen Diskurs und Plausibilität einem autoritären Modell gegenüber, demzufolge wissenschaftliche Wahrheiten dem breiten Publikum nicht vermittelbar seien. (Allein diese Ansicht Vogts steht ebenso wie Vogts lebenslanges politisches Engagement auf Seiten der Demokraten in so eklatantem Widerspruch zu seiner immer wieder zitierten Behauptung, daß es keinen freien Willen gebe. Auch deshalb muß diese These als satirische Provokation verstanden werden.) – Man kann die drei Kontrahenten des Materialismusstreits – Vogt, Virchow und Wagner, ohne ihnen Gewalt anzutun, mit den drei großen politischen Lagern der 1850er und 1860er Jahre gleichsetzen. Im Rahmen des realistischen Paradigmawechsels kam es in den 1850er Jahren zu einer Naturalisierung der Politik: Bilder, Metaphern und Begriffe aus dem naturwissenschaftlichen Bereich und aus der Naturbeschreibung sollten helfen, die politischen Verhältnisse und Zusammenhänge zu verstehen. Zugleich wurden die Anhänger und Vertreter naturwissenschaftlicher Schulen mit politischen Richtungen identifiziert.55 Vor diesem Hintergrund repräsentierte Vogt den demokratischen Radikalismus und sprach von außen, mit der für Emigranten typischen fehlenden Kenntnis des Zeitgeistes und des im Deutschen Bund Durchsetzbaren (und vernünftigerweise Sagbaren). Für ihn waren Wissenschaft, Politik und Leben aufs engste, in einer geradezu existentiellen Weise verknüpft; er besaß aber auch die Klarsicht und die Schärfe des Außenseiters und Grenzgängers. Hingegen steht Virchow für den liberalen Realpolitiker, die reformistische Linke, die – obwohl selbst in der Revolution engagiert – im Lande geblieben war (bzw. dort bleiben durfte), die deshalb unnötige Risiken (Konflikte mit der Zensur, den Aufsichtsbehörden, den Kirchen usw.) scheute, um die eigene, wegen ihres politischen Engagements immer prekäre Position nicht noch stärker zu gefährden. Diese gemäßigtere Richtung trennte Wissenschaft und Leben, 55

Vgl. neben dem im ersten Punkt Ausgeführten auch C. Goschler, Rudolf Virchow, 57.

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vertrat eine abwägende, tolerante und pluralistische Linie, der der Vogtsche Existentialismus und seine polemische Angriffslust fremd (und häufig auch zuwider) waren. Wagner schließlich stand für den reaktionären mainstream, bekämpfte im Bündnis mit den Kirchen und der Obrigkeit die Revolution in Politik und Wissenschaft, verteidigte nach Möglichkeit die christliche Dogmatik (jedenfalls als Palliativ für die breite Masse des Volkes) und versuchte nur die nötigsten Zugeständnisse an die neuen wissenschaftlichen Paradigmen zu machen. – Damit wird auch deutlich, daß die Gegner des von Vogt vertretenen Realismus nicht so sehr die Philosophie des deutschen Idealismus war, sondern Christentum und Reaktion (beides perfekt verkörpert vom Geheimrat Rudolf Wagner), aber eben auch die seiner Ansicht nach der Reaktion gegenüber zu kompromißbereiten Gothaer. Unter diesem plakativen Begriff faßte Vogt nicht allein die Konstitutionellen, sondern alle, die keinen prinzipiellen Bruch mit den herrschenden Regimen vollzogen – also auch Linksliberale wie Virchow. Mit diesem für Emigranten durchaus typischen Pauschalvorwurf gegen viele im Deutschen Bund gebliebene Achtundvierziger erwies sich Vogt in politischer Hinsicht als Repräsentant des demokratischen Radikalismus vor der realpolitischen Wende, die die Emigranten als letzte (und teilweise nie) vollzogen. Naturwissenschaftlicher »Realismus« mußte – wie sich am Vogt der frühen und mittleren 1850er Jahre zeigt56 – keineswegs mit einer Übernahme des realpolitischen Paradigmas einhergehen.

Vogt als politischer »Gründer«57 Ein weiteres Mal wurde Carl Vogt zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen, als er in der Krise, die seit Frühjahr 1859 in Preußen über die Frage entstand, ob Österreich vom Deutschen Bund bei der Verteidigung seiner norditalienischen Territorien unterstützt werden müsse, die durch einen konzertierten Angriff Piemont-Sardiniens und Frankreichs unter Druck gerieten. Die 56

Die Frage, ob Vogt realpolitisch dachte, ist schwer zu beantworten. In seiner im folgenden skizzierten Haltung während des italienischen Einigungskrieges 1859/60, lassen sich durchaus realpolitische Momente finden. Außerdem argumentierte er zeitlebens sehr machtbewußt. Vgl. neben dem folgenden C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1). In den späten 1860er Jahren zog sich Vogt wieder stärker auf dogmatische politische Positionen zurück. Vgl. etwa C. Vogt, Politische Briefe an Friedrich Kolb, Biel 1870. 57 Vgl. zum folgenden C. Jansen, Politischer Streit (s. Anm. 42), wo ein Teil der zitierten Dokumente abgedruckt ist.

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Mehrheit der öffentlichen Meinung, angeführt von mehreren prominenten Achtundvierzigern, plädierte für eine solche Unterstützung aus Gründen der nationalen Solidarität – Friedrich Engels prägte hierfür die griffige Formel, die Rheingrenze müsse am Po gegen französisch-imperiale Ansprüche verteidigt werden.58 Hingegen sprach sich Vogt zusammen mit einigen anderen großpreußischen Demokraten für eine strikte Neutralität Preußens aus. Ja, er forderte sogar, daß Preußen das Engagement Österreichs in Italien nutzen solle, um eine kleindeutsche Lösung gemäß der Reichsverfassung von 1849 mit militärischen Mitteln zu verwirklichen. Vogt stellte damit das Szenario von 1866 bereits 1859 als Lösungsweg für die deutschen Fragen zur Diskussion. Bereits Anfang 1859, also drei Monate vor dem Kriegsbeginn in Italien, hatte Vogt in einem Offenen Brief an den militärischen Führer des ungarischen Aufstands von 1848/49, den ehemaligen österreichischen General Klapka, erklärt, wofür sich die revolutionäre Linke im Falle des erwarteten Krieges um Italien einsetzen solle: Die Österreicher müßten vertrieben werden und die Appenninhalbinsel sich unter der »mindestens moralischen Vorherrschaft Frankreichs« zu einem Nationalstaat zusammenschließen. Läßt sich diese Formel in dem bisher nicht im Original (oder als Abdruck in der Presse) aufgefundenen Offenen Brief als Beleg für Sympathien Vogts für das bonapartistische Regime deuten, so äußerte Vogt doch zugleich die alte Hoffnung der achtundvierziger Linken auf die »Auflösung des österreichischen Riesenreichs«, die als Voraussetzung für die Lösung der deutschen Frage angesehen wurde.59 In der folgenden Zeit plädierte Vogt verschiedentlich unter Verweis auf das nationale Selbstbestimmungsrecht dafür, Italien gegen Österreich zu unterstützen, obwohl es mit Napoleon verbündet war. Den Höhepunkt von Vogts Engagement für den italienischen Nationalismus, um dadurch die deutsche Nationsbildung zu fördern, war seine im März 1859 geschriebene und in Deutschland großes Aufsehen erregende Schrift Studien zur gegenwärtigen Lage Europas.60 In betont realpolitischer Manier entlarvte Vogt die von den Parteigängern Österreichs beschworene Unverletzlichkeit des status quo und der Verträge von 1815, die durch eine Nationalstaatsgründung in Italien gebrochen würden, als Mythos. Von der Gründung Belgiens über die Annexion der Republik Krakau und die Reorganisation der Schweiz nach dem Sonderbundskrieg

58

Ausführlicher in C. Jansen, Einheit, Macht und Freiheit (s. Anm. 1), 288–318. Zit. nach W. Vogt, La vie d’homme, Paris 1896, 121; P. Guichonnett, Carl Vogt et l’Italie, in: Atti del 37o Congresso di Storia del Risorgimento italiano, Rom 1958, 122. 60 C. Vogt, Studien zur gegenwärtigen Lage Europas, Genf 1859, zum folgenden vgl. insb. VIII und 78 ff.; vgl. H. Rosenberg, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands vom Eintritt der Neuen Ära in Preußen bis zum Ausbruch des deutschen Krieges. Eine kritische Bibliographie, München 1935, 37 f. 59

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bis zur Duldung der in der Wiener Schlußakte »auf ewige Zeit« untersagten Rückkehr eines Napoleoniden auf den französischen Thron sei die Ordnung von 1815 immer wieder den jeweiligen Machtverhältnissen angepaßt worden: »Verträge sind wie Gesetze […] das Produkt einer gewissen Machtstellung von Parteien oder Staaten, die sich in kurzer Zeit ändern kann.«61 Da die Mächtekonstellation derzeit günstig für eine großpreußische Einigung sei, mußte man, Vogt zufolge, diese Gelegenheit entschlossen nutzen. Er betrachtete einen Krieg, dessen Ergebnis die Zerschlagung Österreichs sein mußte, als notwendige Voraussetzung für die Lösung der europäischen Nationalitätenprobleme: Nicht nur die italienische und die deutsche Frage, sondern auch die Bildung eines ungarischen, eines jugoslawischen und eines rumänischen Nationalstaats, die Vogt befürwortete, seien anders nicht vorstellbar.62 »Wir glauben also an den Krieg, und wir sind der Meinung, daß derselbe dem jetzigen Unruhezustande des bewaffneten Friedens und der Kriegserwartung, wo jedes Geschäft gelähmt ist und der Nationalreichthum mehr leidet, als durch offenen Krieg selbst, weit vorzuziehen ist.«63 Ein Krieg war in den Augen der machtorientierten großpreußischen Demokraten ein angemessener Preis dafür, daß Deutschland durch die nationale Einigung eine Weltstellung und Freiheit erringen werde. Die Erlangung von Einheit, Macht und Freiheit war für sie 1859 ebenso wie 1848 untrennbar miteinander verbunden. Die neue Einigungsbewegung sollte die Revolution von 1848 mit anderen Mitteln vollenden. Nach ihrer realpolitischen Neuorientierung wollte die großpreußische Linke diese Umwälzung nicht mehr primär in Konfrontation mit den herrschenden Mächten, sondern unter Ausnutzung von deren Interessengegensätzen in Gang setzen. Mit Parolen, die die nationalistische Selbstausgrenzung der Deutschen unter dem Wilhelminismus vorwegnahmen, plädierte Vogt in den Studien für eine Neuordnung Europas nach dem Nationalitätsprinzip und erklärte supranationale Lösungen für unvereinbar mit dem Überleben im darwinistisch aufgefaßten Wettkampf der Völker: »Einig, Mann an Mann, Deutscher am Deutschen, fürchten wir eine Welt in Waffen nicht – […] mit dem Czechen, dem Polen, dem Ungarn, dem Croaten, dem Italiener an der Seite werden wir jedem Feinde unterliegen.«64 Solche Sätze verstärkten wie Vogts spätere Prophezeiun61

C. Vogt, Studien zur gegenwärtigen Lage Europas (s. Anm. 60), 33 ff. Es ist bezeichnend nicht nur für Vogts Nationalismus, daß er die polnische und die tschechische nationale Frage, deren Lösung zu Lasten »deutscher« Territorien gehen konnte, nicht einmal erwähnte. Hierin liegt übrigens einer der zahlreichen Berührungspunkte zwischen Vogts Vorstellungen und denen von Marx und Engels, auf die abschließend kurz eingegangen werden soll. 63 C. Vogt, Studien zur gegenwärtigen Lage Europas (s. Anm. 60), 109 ff. 64 Ebd., 121 ff.; ders., Mein Prozeß gegen die Allgemeine Zeitung: Stenographischer Bericht, Dokumente und Erläuterungen, Genf 1859, VI. 62

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gen, es werde in Europa bald zu einem »furchtbaren Racenkampf« zwischen den »romanischen«, »germanischen« und »slavischen Stämmen« kommen, die auch von anderen Publizisten geschürte Tendenz zur Entpolitisierung und Ethnisierung des Nationsbegriffs. Im bevorstehenden »Racenkampf« »müssen England und Deutschland fest zusammengeschlossen stehen«.65 Ein solches kompaktes »Deutschland« konnte nach Ansicht der großpreußischen Linken nur geschaffen werden, indem Preußen die kleineren deutschen Staaten annektierte. Der Machtpolitiker Vogt bewies mit seinen Vorschlägen ein gutes Gespür für die kommende Entwicklung. Ausgehend von der gemeinsamen Überzeugung aller Kleindeutschen, daß »die Existenz zweier deutscher Großmächte […] mit einer Einheit Deutschlands unverträglich« sei, skizzierte er, wie allein die preußische Politik »auch wirklich zur Einheit führen« könne. Der Reichsregent von 1849 erklärte 1859, wie er sich die Annexion der norddeutschen Klein- und Mittelstaaten durch Preußen vorstellte. Erforderlich sei ein »Herrscher von Preußen, dessen Gesandter am Bundestage die Erklärung abgeben werde: der deutsche Bund ist aufgelöst, sämmtliche deutsche Fürsten sind mediatisiert; ich bin der Herrscher von Deutschland« und »der nöthigenfalls mit Waffengewalt diese Erklärung durchführen und eine freie RepräsentativVerfassung für das gesammte Deutschland geben würde«.66 Dies war, mehr als sieben Jahre vor dem sehr ähnlichen Vorgehen Bismarcks im Frühjahr 1866, eine hellsichtige Prognose und zeugte von Vogts realistischer Wahrnehmung der Machtkonstellationen im Deutschen Bund und in Europa. Auf dieses Engagement Vogts in der aktuellen Deutschlandpolitik reagierten großdeutsch orientierte Kreise in der linksradikalen deutschen Emigration in London mit der Enthüllung, Vogt sei ein von Napoleon III. bezahlter Agent.67 Unabhängig von der Frage, ob Vogt tatsächlich für seine demokratisch-nationalistische Agitation gegen Österreich Geld von Napoleon bekommen hat, galt für ihn wie für viele andere Protagonisten der Revolutionen von 1848/49, daß, wann immer sie später im Auftrag von Regierungen tätig wurden, hierfür nicht primär materielle, sondern politische Motive ausschlaggebend waren. Selbst wenn sie – anders als Vogt – in finanziell so prekären Verhältnissen lebten, daß ihnen jede Honorierung ihrer politischen Tätigkeit willkommen sein mußte, sahen sie sich doch immer als autonome Akteure, die mit den bestehenden

65

Vgl. (auch zum folgenden) die im Anhang zu C. Jansen, Politischer Streit (s. Anm. 42), unter Nr. 3 und 6 abgedruckten Dokumente. 66 Carl Vogt an die Redaktion der National-Zeitung, 17. 5. 1859, in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 503 ff. 67 Diese Vorwürfe, bei denen Karl Marx im Hintergrund die Fäden zog und der er seine Polemik Herr Vogt (in: MEGA I/18. Berlin 1984, 53–339; ursprüngl. London 1860) widmete, sind ausführlich behandelt in C. Jansen, Politischer Streit (s. Anm. 42).

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«

257

Mächten strategische oder taktische Bündnisse eingingen. Vor allem die Intellektuellen unter den Achtundvierzigern wie Ludwig Bamberger, Julius Fröbel, Arnold Ruge, Carl Vogt usw. waren überzeugt, daß sie aufgrund ihrer Einsicht in die Logik der historischen Entwicklung weitaus eher die führenden Staatsmänner beeinflussen könnten, als daß sie sich von diesen manipulieren ließen. Das gilt ebenso für Bambergers oder Ruges spätere Zusammenarbeit mit Bismarck und für Fröbels Tätigkeit für die österreichische Regierung wie für Vogts Verhältnis zu Napoleon III. Hans Rosenberg hat diesen achtundvierziger Politikertypus, der bis zur Reichsgründung über großen Einfluß verfügte, treffend charakterisiert, wenn er seine Vertreter in Anlehnung an den zeitgenössischen Unternehmertypus als »politische Gründer« bezeichnet hat. Denn auch in politischer Hinsicht war die nachrevolutionäre Epoche eine Gründerzeit. Zu den Voraussetzungen für die Entstehung und den Einfluß dieser politischen Gründer gehörte einerseits das ungebrochene Selbstvertrauen der Achtundvierziger in ihre politischen Prognose- und Führungsfähigkeiten und andererseits das Fehlen organisierter Massenparteien, die den Handlungsspielraum charismatischer politischer Gründer eingeschränkt hätten.68 Zu dieser selbstbewußten Haltung kam bei Vogt hinzu, daß er ein ausgeprägter Ironiker war, der weder sich selbst noch die Mächtigen jemals ganz ernst nahm, was weder Marx noch die in seinen Fußstapfen laufenden Historiker angemessen berücksichtigt haben. Diese Kombination aus Selbstbewußtsein und Selbstironie zeigte sich exemplarisch darin, wie er dem Freund Alexander Herzen gegenüber sein Verhältnis zu Jerôme Bonaparte, dessen (respektloser) Spitzname Plon-plon war, charakterisiert hat: »N’est-ce pas drôle de voir le Reichsregent cornac scientifique de Plon-plon?«69 (»Ist es nicht witzig, den Reichsregenten als wissenschaftlichen Elefantenführer Plon-plons zu sehen?«) Wer denjenigen, den er (möglicherweise) um finanzielle Unterstützung angeht, zugleich als Elefanten imaginiert, den er am Rüssel durch die Natur Nordeuropas geführt hat, der ist kein abhängiger Bittsteller, der läßt sich nicht zum politischen Instrument degradieren, sondern dem geht es vor allem um die Durchsetzung seines eigenen Willens und die Verwirklichung eigener politischer Ziele. Aus einem Brief an Carl Mayer, einen Genossen aus Paulskirchenzeiten, der im Exil zum Vertrauten geworden war, geht hervor, daß Vogt parallel zur Absicht, Preußen zur Annexion der deutschen Klein- und Mittelstaaten

68

H. Rosenberg, Honoratiorenpolitiker und ›großdeutsche‹ Sammlungsbestrebungen im Reichsgründungsjahrzehnt, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 19 (1970), 165 f. und 168. 69 Vogt an Herzen, 8. 5. 1856, in: Autour D’Alexandre Herzen, Documents inédits, hrsg. von Marc Vuilleumier, Genf 1973, 170.

258

Christian Jansen

zu animieren, mit der Möglichkeit einer durch die europäischen Verwicklungen ausgelösten Revolution rechnete, davon jedoch tunlichst nicht öffentlich sprach. Vogts Briefe belegen, daß man seine öffentlich vorgebrachten Argumente immer vor dem Hintergrund seiner eigentlichen, nicht immer öffentlich geäußerten Ziele interpretieren muß. Da er einen revolutionären Umbruch der Verhältnisse anstrebte, ging es ihm vor allem darum, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen – mit welchen Mitteln auch immer: »Erst wenn der allgemeine Völkersturm so weit entfesselt ist, daß er sich nicht augenblicklich zurückdämmen läßt, erst dann fällt er uns zum Nutzen.« Hauptziel müsse es sein, »die Bewegung im Volke« »tiefer« und »revolutionär« werden zu lassen. »Eine Einheit kann nur auf gewaltsame Weise hergestellt werden durch Revolution oder Eroberung. Blasen wir also von jeder Seite, wie wir können. Wenn ich die preußische Eroberung von Deutschland predige, […] der ›Beobachter‹ die Einigung durch ein Parlament[,] so wird am Ende doch aus dem Schlamassel eine Revolution hervorgehen.«70 Vogt kam es also in allem, was er in diesen Jahren veröffentlichte, zunächst auf eine Zuspitzung der Widersprüche im Deutschen Bund mit dem Ziel einer Revolution und eines Zusammenbruchs der herrschenden Verhältnisse an. Um dies zu erreichen, war er mit jedem zusammenzuarbeiten bereit – sei es nun Napoleon III. oder seien es die württembergischen demokratischen Föderalisten.71 Aus Vogts Sicht waren sie nützliche Idioten – ganz ähnlich sahen später Arnold Ruge und Ludwig Bamberger Bismarck als ein Werkzeug der Geschichte, als das er – ob er es nun subjektiv wollte oder nicht – die Modernisierung und damit letztlich die Liberalisierung Deutschlands förderte. Aus einem weiteren Brief Vogts ergibt sich, daß auch Napoleon für Vogt nur ein Mittel war, das er (einmal mehr in der ihm eigenen Selbstüberschätzung) für seine Ziele (Revolutionierung Europas) einsetzen zu können meinte: Er werde nun Bonapartist, denn Napoleon sei das schärfste Ätzmittel, um die gegenwärtige Gesellschaft vollständig zu zersetzen und deren Elemente eins nach dem andern auszurotten. »Er zerreibt sie alle in einem furchtbaren Mörser zu einer einheitlichen Masse; mindestens zerschlägt er sie.« In zwanzig Jahren werde die revolutionäre Opposition niemals das fertigbringen, was Napoleon in zwanzig Monaten schaffe.72

70

C. Vogt, Brief an Carl Mayer, 21. 05. 1859, in: C. Jansen, Nach der Revolution (s. Anm. 1), 509 ff. 71 Zu Vogts fortdauernd revolutionären Erwartungen vgl. auch BLHA, Nr.13704, Bl. 338. 72 Vogt an Herzen, 5. 1.1860, in: Autour D’Alexandre Herzen, Documents inédits, a. a. O., Genf 1973, 207: »En attendant, je deviens bonapartiste par amour du Pape et du Congres [Anspielung auf eine von Napoleon III. inspirierte Broschüre, die sich für

»Revolution« – »Realismus« – »Realpolitik«

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In diesem taktischen Verhältnis zu den jeweiligen Bündnispartnern, aber auch in einem taktisch-ironischen Verhältnis zur Wahrheit, in der Lust an Polemik und Satire, in der Prägung durch die hegelianische Geschichtsphilosophie, im Bemühen um eine rationale (materialistische) Sicht auf Geschichte und Gesellschaft sowie im Ehrbegriff finden sich deutliche Anzeichen für eine tiefe Nähe zwischen den Streithähnen Vogt und Marx. Dies gilt nicht zuletzt auch für beider politisches Hauptziel für die nähere Zukunft, nämlich: die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, da nur eine grundstürzende Umwälzung die feudalistischen Strukturen, die Herrschaft der Throne und Altare beenden konnte.

das Ende der weltlichen Herrschaft des Papstes aussprach]. Décidément, cet homme est un réactif, un corrosif des plus âcres pour décomposer toute la société actuelle et pour anéantir un à un ses éléments. Il est vrai qu’il les pile tous dans un terrible mortier pour surnager à la pâte informe; mais, c’est égal, il les broye au moins. Républicains français, Orléanistes, bourgeois, financiers, légitimistes, protestants, catholiques, tout cela passe dans ce cylindre broyeur pour être réduit en poudre impalpable. En vingt ans, nous n’aurions pu accomplir le travail que cet homme fait en vingt mois.«

Andreas Arndt

Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx

Daß Karl Marx sich (wie auch Friedrich Engels) als Materialisten gesehen hat, steht angesichts zahlreicher Selbstzeugnisse außer Frage; in welchem Sinne er sich aber als Materialisten bezeichnet und in welcher Bedeutung er den Begriff des Materialismus (zumeist in polemischer Absicht1) gebraucht hat, kann keineswegs als ausgemacht gelten. Dies liegt wohl nicht nur daran, daß die Marxsche Theorie schon zu Lebzeiten ihres Urhebers in eine lehrhaft-dogmatische Form gebracht wurde, um den Bedürfnissen der politischen Arbeiterbewegung Rechnung zu tragen, obwohl – oder besser: weil – diese Theorie wie kaum eine andere ein durch ständige Selbstkorrekturen im Fluß befindliches, unabgeschlossenes Unternehmen ist. Es liegt wohl auch daran, daß die wissenschaftshistorische Problemlage, in welcher ›Materialismus‹ als Kampfbegriff einen eindeutigen Signaleffekt haben konnte, uns heute nicht mehr unmittelbar zugänglich ist.2 So ist z. B. die in den Dogmatisierungen gebräuchliche und im heutigen Bewußtsein fast allgemein akzeptierte Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus dem frühen Marx wie auch seinen Zeitgenossen noch gänzlich fremd: als Gegensatz zum Materialismus gilt der Spiritualismus, als Gegensatz zum Idealismus der Realismus. Hier kommt es im Laufe der theoretischen Entwicklung bei Marx zu Verschiebungen, deren Richtungssinn nachzugehen ist und die es verbieten, Marx ohne Berücksichtigung der Entwicklungsgeschichte auf eine materialistische Position festzulegen.3 Im folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, Marx’ Verwendungsweisen der Ausdrücke ›materialistisch‹, ›Materialismus‹ etc. in den jeweiligen Kontexten zu erheben und auf dieser Grundlage die Frage zu beant1

So bemerkt z. B. Marco Iorio, »daß die Theorie von Marx lediglich in dem Sinn eine Form des Materialismus darstellt, in dem eine mehr polemisch zu verstehende Abgrenzung zum Idealismus markiert werden soll.« Sofern der Mensch als Akteur der Geschichte Naturwesen sei, sei Geschichte – in Abgrenzung zu Hegel – primär Naturgeschichte und nicht Geschichte des Geistes oder der Vernunft (Karl Marx – Geschichte, Gesellschaft, Politik, Berlin / New York 2003, 11 u. 13). 2 Vgl. A. Arndt / W. Jaeschke, Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000. 3 Vgl. dazu W. Nieke, Materialismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 844 f., wo Marx lediglich mit der gemeinsam mit Engels verfaßten Schrift Die Heilige Familie (1845) präsent ist. Auch H.-J. Sandkühler (Materialismus, in: Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1999) bezieht sich bei der Charakteristik des Weges »von Feuerbach zum historischen Materialismus« vor allem auf dieses Werk.

Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx

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worten, ob diese Termini bei Marx einen präzisierbaren begrifflichen Status besitzen. Dies geschieht in zwei Schritten: (1) anhand der früheren Schriften bis zur Deutschen Ideologie (1845); (2) anhand der Deutschen Ideologie und der späteren Äußerungen Marx’ im Zusammenhang mit der Ausarbeitung und Darstellung seiner Kritik der politischen Ökonomie.

I. (a) Eine erste Bezugnahme auf den Materialismus findet sich bei Marx in dem Kreuznacher Manuskript von 1843, das unter dem redaktionellen Titel Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts bekannt ist und einen polemisch-kritischen Kommentar zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts darstellt. Erwähnenswert ist diese Bezugnahme deshalb, weil Marx hier ganz selbstverständlich einen Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus (und nicht: Idealismus) benennt. Er greift hierbei wohl vor allem auf die Kontroversen in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts zurück, die – verstärkt nach Hegels Tod – auch in Deutschland ein Echo gefunden hatten.4 Der Begriff des Materialismus selbst wird hier von Marx zunächst ganz polemisch im Sinne der Orientierung auf »niedere« materielle Interessen gebraucht: »Die Korporationen sind der Materialismus der Bürokratie, und die Bürokratie ist der Spiritualismus der Korporationen.«5 Prinzipieller dagegen äußert sich Marx dort, wo er auf das »spekulative Mysterium« der Hegelschen Wissenschaft der Logik zu sprechen kommt, nämlich die Vermittlung der Gegensätze.6 Hierzu notiert er u. a.: »Jedes Extrem ist sein andres Extrem. Der abstrakte Spiritualismus ist abstrakter Materialismus; der abstrakte Materialismus ist der abstrakte Spiritualismus der Materie.«7 Dem läßt sich entnehmen, daß Marx (wie auch Feuerbach) nicht einfach Partei für eine der Seiten des Gegensatzes nehmen will, sondern die Entgegensetzung als abstrakt-einseitig überwinden will. Der gemeinsame Nenner des abstrakten Materialismus und des abstrakten Spiritualismus ist dabei offenbar das monistische Substantialitätsdenken, in dem – gemäß dem spinozistischen deus sive natura – die Benennung der als Einheitsgrund gefaßten Substanz gleichgültig ist. Dies sollte bereits mißtrauisch gegenüber jedem Versuch machen, Marx ein materialistisches Substanzdenken zuzuschreiben.

4

Vgl. K. Grünepütt, Spiritualismus. II. Frankreich, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, bes. Sp. 1406 f. 5 MEW, Bd. 1, 247. 6 Ebd., 292. 7 Ebd., 293.

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Andreas Arndt

(b) Eine Gegenüberstellung von Materialismus und Idealismus findet sich jedoch fast zeitgleich in dem ebenfalls 1843 geschriebenen und 1844 in den von Marx gemeinsam mit Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern publizierten Aufsatz Zur Judenfrage. Darin heißt es: »Allein die Vollendung des Idealismus des Staats war zugleich die Vollendung des Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft.«8 Letzteres meint auch hier den an materiellen Gütern interessierten Egoismus der Privateigentümer und nicht eine philosophische Position. Wichtiger – auch im Blick auf seine zukünftige Gebrauchsweise dieses Terminus – ist jedoch, was Marx hier unter ›Idealismus‹ versteht. Nach Marx versteht sich die politisch-revolutionäre Praxis der bürgerlichen Emanzipation, die er am Beispiel der Französischen Revolution erörtert, als »ein bloßes Mittel, dessen Zweck das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist.«9 Tatsächlich würden in der Praxis jedoch die bürgerlichen Freiheitsrechte dort eingeschränkt, wo sie mit dem »politischen Leben« in Konflikt gerieten: es kommt – so Marx – in der Praxis zu einer Verkehrung von Mittel und Zweck gegenüber der revolutionären Theorie. Die Frage sei daher, »warum im Bewußtsein der politischen Emanzipatoren das Verhältnis auf den Kopf gestellt ist und der Zweck als Mittel, das Mittel als Zweck erscheint.«10 Dies sei dadurch zu erklären, daß die bürgerliche, politische Revolution den »politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft« aufhob, indem sie die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat durchführte und damit den Staat »als die Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheiten in idealer Unabhängigkeit von jenen besondern Elementen des bürgerlichen Lebens« konstituierte.11 Die ideale Unabhängigkeit der politischen Sphäre (welche, so wird man Marx verstehen müssen, die reale Abhängigkeit des Staates von den Interessen der Privateigentümer nur verdeckt) bildet offenbar den Boden dafür, daß im Bewußtsein der politischen Akteure »das Verhältnis auf den Kopf gestellt« ist: das Politische erscheint als Selbstzweck und der eigentliche Zweck, die bürgerliche Gesellschaft, als Mittel zum Erhalt des Staates. Wie immer diese Verkehrung des Bewußtseins im einzelnen nachzuvollziehen ist12: deutlich wird, daß Marx hier den Terminus ›Idealismus‹ im Sinne von ›ideologisch‹ verwendet, d. h. er indiziert ein falsches gesellschaftliches Bewußtsein, das den idealen Ausdruck 8

MEW, Bd. 1, 369. Ebd., 367. 10 Ebd. 11 Ebd., 368. 12 Tatsächlich handelt es sich bei Marx um ein komplexes Gefüge von »Verkehrungen«. Weil die politischen Revolutionäre das Bewußtsein von der bürgerlichen Gesellschaft als Zweck der Politik haben, befreien sie die bürgerliche Gesellschaft aus der Vormundschaft der Politik, indem sie den Staat als von ihr ideal unabhängige Sphäre konstituieren. Die ideale Form dieser Allgemeinheit widerspricht jedoch – wie Marx 9

Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx

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(durchaus im Sinne eines theoretischen Ideals, d. h. einer seinsollenden Bestimmung) mit dem realen Verhältnis verwechselt. ›Materialismus‹ ist hier (noch) nicht Gegenbegriff, sondern wohl eher das wissenschaftliche Bewußtsein, welches, so Marx, abstrakte Gegensätze »unmöglich macht«.13 (c) Auf dieser Line liegt auch die Argumentation in den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (»Pariser Manuskripte«) von 1844. Es geht hier, soweit diese Terminologie eine Rolle spielt, nicht um die Durchsetzung des Materialismus gegen den Spiritualismus, sondern um die Aufhebung solcher abstrakten Entgegensetzungen, die Marx als Ausdruck gesellschaftlicher Entfremdung begreift. Dahinter steht eine (modifizierte) Feuerbachsche Theorie des menschlichen Gattungswesens, welche die Realisierung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen im Kommunismus zugleich als Aufhebung aller abstrakten Entgegensetzungen ansieht, in welche der entfremdete Mensch praktisch und theoretisch verstrickt ist: »Man sieht, wie Subjektivismus und Objektivismus, Spiritualismus und Materialismus, Tätigkeit und Leiden erst im gesellschaftlichen Zustand ihren Gegensatz und damit ihr Dasein als solche Gegensätze verlieren; man sieht, wie die Lösung der theoretischen Gegensätze selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie des Menschen möglich ist und ihre Lösung daher keineswegs nur eine Aufgabe der Erkenntnis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welche die Philosophie nicht lösen konnte, eben weil sie dieselbe als nur theoretische Aufgabe faßte.«14 Von besonderem Interesse sind auch in den Manuskripten die Einlassungen zum Idealismus, wobei auch hier gilt, daß der Gegensatz des Idealismus und Materialismus aufgehoben werden soll: »Wir sehn hier, wie der durchgeführte Naturalismus oder Humanismus sich sowohl von dem Idealismus, als dem Materialismus unterscheidet und zugleich ihre beide vereinigende Wahrheit ist.«15 Mit dem ›Idealismus‹ ist hier unmittelbar die Hegelsche Philosophie, vor allem an dem Umgang mit den Menschenrechtskatalogen aufzeigt – den realen Interessen der bürgerlichen Privateigentümer, weshalb der Staat sich gegen seine eigene ideale Allgemeinheit kehrt und – im Namen eben dieser Allgemeinheit – die allgemeinen Menschenrechte im Interesse der Privateigentümer beschneidet. – Dieses komplexe Gefüge ergibt sich letztlich daraus, daß der Staat sich als Rechtssphäre konstituiert, d. h. die Allgemeinheit des Rechts zu seiner Konstitutionsbedingung hat, während er nach Marx tatsächlich den partikularen Zwecken der Privateigentümer ausgeliefert ist. 13 Ebd., 348; vgl. ebd., 348 f.: »Sobald Jude und Christ ihre gegenseitigen Religionen nur mehr als verschiedene Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes […] erkennen […], stehn sie nicht mehr in einem religiösen, sondern nur noch in einem kritischen, wissenschaftlichen, in einem menschlichen Verhältnisse. Die Wissenschaft ist dann ihre Einheit. Gegensätze in der Wissenschaft lösen sich aber durch die Wissenschaft selbst.« 14 MEW, Bd. 40, 542. 15 Ebd., 577.

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Andreas Arndt

genauer: die Phänomenologie des Geistes, angesprochen, in welcher – so Marx – das menschliche Wesen mit dem Selbstbewußtsein identifiziert werde.16 Marx sieht dies als eine »Abstraktion des Menschen«17 an, welche dazu führe, die Gegenständlichkeit oder »Dingheit« überhaupt (in Abstraktion von den wirklichen, natürlichen Gegenständen menschlicher Tätigkeit) als Setzung des Selbstbewußtseins zu verstehen, welche in das Bewußtsein zurückgenommen werden könne. Demgegenüber betrachtet Marx den Menschen als ein durch Gegenstände bestimmtes und gegenständlich tätiges Naturwesen: »Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ›reinen Tätigkeit‹ in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens.«18 Auf den ersten Blick scheint Marx sich hier in den Bahnen eines erkenntnistheoretischen Gegensatzes von Materialismus und Idealismus zu bewegen, wie er aus späteren Dogmatisierungen – vor allem durch Lenins Schrift Materialismus und Empiriokritizismus (1908)19 – geläufig ist: Der Idealismus würde demnach darin bestehen, die außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein bestehende Gegenständlichkeit zu leugnen; der Materialismus umgekehrt darin, die Unabhängigkeit der Gegenständlichkeit vom Bewußtsein zu behaupten. Marx ordnet die Positionen jedoch offenbar anders zu: der Idealismus besteht darin, von den realen Voraussetzungen des »Setzens« zu abstrahieren, während der Materialismus vom Setzen abstrahiert und nur das Gesetztsein des Menschen durch die Gegenstände anerkennt. Dieser Materialismus ist derjenige, den Marx auch als »anschauenden« Materialismus bezeichnet und welchen Feuerbach überwunden habe. Beide, Idealismus und Materialismus, sind somit Abstraktionen von dem realen Prozeß der Vermittlung im menschlichen Naturverhältnis und insofern falsches Bewußtsein, das durch die Realisierung der wissenschaftlichen Ansicht, den »durchgeführten Naturalismus oder Humanismus«, seine Grundlage verliert. Nun bezeichnet Marx diese »vereinigende Wahrheit« des Idealismus und Materialismus wiederum auch als Materialismus, und zwar als den »wahren« Materialismus, der mit der »reellen Wissenschaft« identisch sei: »Feuerbachs große Tat ist […] die Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach das gesellschaftliche Verhältnis ›des Menschen zum

16

Vgl. ebd., 575. Ebd., 577. 18 Ebd. 19 Vgl. A. Arndt, Lenin – Politik und Philosophie. Zur Entwicklung einer Konzeption materialistischer Dialektik, Bochum 1982, Kap. 3. 17

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Menschen‹ ebenso zum Grundprinzip der Theorie macht«.20 Die Bezeichnung dieses Gegensatzes zum falschen (ideologischen) Bewußtsein als ›Materialismus‹ rechtfertigt sich bei Marx durch die Gleichsetzung der »gegenständlichen« mit den »materiellen« Wesenskräften des Menschen;21 im menschlichen Naturverhältnis bedeutet diese Gegenständlichkeit oder Materialität jedoch die Einheit von »Setzen« (Umformen) der bestimmten Gegenstände und deren Vorausgesetztsein. Diese Einheit, die sich in der menschlichen Arbeit (oder, wie Marx es hier nennt: Praxis) realisiert,22 vermochte der herkömmliche Materialismus nicht zu denken. Im Ergebnis dieser Überlegungen kommt es also zu einer Doppelung im Begriff des Materialismus bei Marx; der Terminus bezeichnet einmal den abstrakten Gegensatz zum Spiritualismus bzw. Idealismus,23 zum anderen die Position, in welcher dieser Gegensatz aufgehoben ist. Letztere bezeichnet Marx insofern als materialistisch, als er Gründe dafür geltend macht, daß das in Frage stehende gesellschaftliche Naturverhältnis der Menschen selbst als »gegenständlich, i. e. materiell« zu bezeichnen sei. (d) Auch in der von Marx gemeinsam mit Friedrich Engels verfaßten Schrift Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten (1845) wird primär auf den Gegensatz von Spiritualismus und Materialismus abgehoben; es sei »der alte Gegensatz des Spiritualismus und Materialismus nach allen Seiten hin ausgekämpft und von Feuerbach ein für allemal überwunden«.24 Diese Position wird vor allem im 6. Kapitel dieser Schrift entfaltet, das eine historische Skizze des modernen Materialismus und besonders des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts enthält. Hier ist der Materialismus Gegner der »spekulativen Metaphysik«, welche nun – nach Hegel und Feuerbach – »für immer dem nun durch die Arbeit der Spekulation selbst vollendeten und mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus erliegen« werde.25 Die Vollendung der Spekulation besteht darin, 20

MEW, Bd. 40, 569 f. Ebd., 577. 22 Vgl. A. Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003. 23 Das Verhältnis dieser beiden Terme bei Marx ist nicht eindeutig bestimmt; es spricht vieles dafür, daß Marx den Spiritualismus begrifflich, d. h. außerhalb der erwähnten polemischen Kontexte, mit einem monistischen Substantialismus identifiziert; er wäre insofern ein philosophisch-prinzipientheoretischer Spezialfall des Idealismus, der insgesamt als Abstraktion von den realen Voraussetzungen des menschlichen Weltverhältnisses vermittelst der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist. Der abstrakte Materialismus wäre dann – die Extreme berühren sich – selbst idealistisch in diesem Sinne. So bewahrt der Begriff des Idealismus bei Marx durchaus die traditionelle, unterscheidende Beziehung von Idealismus und Realismus. 24 MEW, Bd. 2, 99 25 Ebd., 132 21

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daß Hegel »auf eine geniale Weise« die Metaphysik des 17. Jahrhunderts »mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen Idealismus vereint« habe.26 Seine Philosophie nämlich sei die »notwendig-widerspruchsvolle Einheit« der spinozistischen Substanz und des Fichteschen Selbstbewußtseins; das erste Element sei »die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung.«27 Diese Einheit aber ist, so wird man ergänzen müssen, deshalb metaphysisch travestiert, weil sie das Verhältnis nicht als gegenständliches in dem Sinne faßt, wie er bereits in den Pariser Manuskripten entwickelt worden war.

II. Mit der heiligen Familie ist ein Höhepunkt und zugleich das Ende des Marxschen (und Engels’schen) Feuerbachkultes erreicht; die Deutsche Ideologie wendet sich dann programmatisch von der philosophischen Begründung des Sozialismus/Kommunismus ganz ab und entwickelt stattdessen eine empirischwissenschaftliche Strategie.28 Die materialistische Auffassung der Geschichte, für die Marx und Engels optieren, basiert dennoch auf einem Verständnis der materiellen Produktion, das den früher Feuerbach zugeschriebenen Gedanken des gesellschaftlichen Menschen ebenso aufnimmt wie den des »wissenschaftlichen Bewußtseins« in Absetzung von jeder Form der Ideologie, d. h. des falschen Bewußtseins. (a) Das Feuerbach-Kapitel der Deutschen Ideologie exponiert den »Gegensatz von materialistischer und idealistischer Anschauung«;29 entsprechend gliedert es sich in zwei Abschnitte, von denen der erste überschrieben ist: »Die Ideologie überhaupt, namentlich die deutsche«. Der Gleichklang von Idealismus und Ideologie, der bereits Marx’ erste Konfrontation des Idealismus mit dem Materialismus charakterisierte, findet sich demnach auch hier wieder. Tatsächlich geht es dabei auch nicht um den Idealismus als eine quasi zeitlose philosophische Grundposition, sondern zunächst um die Positionen der junghegelianischen Philosophie. Den Junghegelianern wird vorgeworfen, nur gegen »Illusionen des Bewußtseins zu kämpfen«, während es darauf ankomme, »das

26

Ebd. Ebd., 147. 28 Vgl. hierzu A. Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum 1985, 49 ff. 29 MEW, Bd. 3, 17. 27

Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx

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Bestehende« von seinen materiellen Voraussetzungen her zu verändern.30 Die »wirkliche[n] Voraussetzungen«, auf die man sich beziehen müsse, seien »die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten«.31 Diese »wirklichen Voraussetzungen« seien »materialistisch« als Voraussetzungen des »Denkens« anzuerkennen, womit »die dogmatischen überhaupt aufhören.«32 Näher betrachtet sind diese Voraussetzungen nun aber nicht ein einlinig determinierender Faktor, sondern historisch-spezifische Bestimmungen der gesellschaftlichen Individuen,33 die angeben, »wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind.«34 Innerhalb dieser Voraussetzungen sind die Individuen auch bewußt tätig und gestalten bewußt ihre vorgefundenen Bedingungen um. Das materielle Element und der Sinn der Rede vom ›Materialismus‹ sind also nicht so zu verstehen, daß irgendeine materielle Substanz das Bestimmende und das Bewußtsein das durch sie bestimmte wäre, sondern die »Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens.«35 Das gesellschaftliche Sein als gegenständliche Praxis der gesellschaftlichen Individuen im Verhältnis zur Natur und zueinander (›Produktion‹, ›Tätigkeit‹, ›Verkehr‹) schließt das intellektuelle Moment von Anfang an ein; dieses Sein ist insofern – um in der philosophischen Theoriesprache der früheren Marxschen Entwürfe zu reden – als Einheit des Materialismus und Spiritualismus im Hegelschen Sinne konzipiert. Von hier aus wird verständlich, weshalb Marx auch später noch Hegels Dialektik als »das letzte Wort aller Philosophie«36 gilt: die Überwindung jedes abstrakten Substanzdenkens dadurch, daß die Substanz, wie Hegel sagt, ebensosehr als Subjekt gedacht wird, erfaßt für Marx begrifflich die Grundstruktur dessen, was er als materiell-gegenständliche Tätigkeit bezeichnet und damit den Kern des menschlichen Selbst-und Weltverhältnisses. Der Einwand gegen 30

Ebd., 20; in diesem Kontext – gegen die Junghegelianer – ist auch die berühmte 11. Feuerbachthese Marx’ situiert, die sich hier fast wörtlich wiederfindet: »Diese Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es vermittelst einer andren Interpretation anzuerkennen.« (Ebd.) 31 Ebd. 32 Ebd., 419. 33 Vgl. ebd., 25: »Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein.« 34 Ebd. 35 Ebd., 26. 36 Marx an Lassalle, 31. 05. 1858; MEW, Bd. 29, 561.

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Hegel (und namentlich auch gegen die Junghegelianer) besteht dann offenbar darin, daß diese Struktur als Selbstbezüglichkeit im Sinne eines Selbstbewußtseins interpretiert wird, was sich für Marx durch das Spezifikum gegenständlicher Tätigkeit verbietet, bei der die Gegenständigkeit des Gegenstandes nicht in ein Selbstverhältnis des sich gegenständlich Verhaltenden zu überführen ist. Hierbei unterscheidet Marx offenbar zwischen der junghegelianischen Verabsolutierung des endlichen Selbstbewußtseins, die in der Deutschen Ideologie vor allem Gegenstand der ausführlichen Polemik gegen Max Stirner ist, einerseits und der Konstruktion eines absoluten Selbstbewußtseins bei Hegel andererseits, das ein »falsches«, ideologisches Bewußtsein nur dadurch ist, daß es spekulativ Makrosubjekte (den absoluten Geist, die Idee) fingiert, die für Marx empirisch-wissenschaftlich nicht haltbar sind. Eindeutig fungiert gerade in der Deutschen Ideologie der Begriff der Wissenschaft als der Gegenbegriff zu ›Idealismus‹ und wird weitgehend mit dem von Marx (und Engels) in Anspruch genommenen ›Materialismus‹ identifiziert: »Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt […] die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.«37 Nun ist solche Überantwortung der philosophischen Probleme an die Wissenschaft sicher auch Vorbote des in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grassierenden Glaubens, die Wissenschaft könne alle von der Philosophie aufgeworfenen Probleme befriedigend lösen. Jedoch wird von Marx und Engels keineswegs einem Wissenschaftspositivismus das Wort geredet, denn die Wissenschaft, von der sie sprechen, ist nicht die Summe der einzelnen, besonderen Wissenschaften, sondern die Wissenschaft der Geschichte in einem umfassenden, systematisch integrativen Sinne: die Einheit von Naturwissenschaft und Wissenschaft der menschliche Geschichte. »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte […].«38 Tatsächlich setzt diese Wissenschaft daher an dem Punkt an, den Hegel nach Marx spekulativ erreicht hatte: an der konkreten Einheit von Substanz und Subjekt bzw. von Natur und Geist. Im Unterschied zu Hegels Konzeption ist sie positive, nicht philosophische Wissenschaft insofern, als Marx und Engels Hegels Annahme nicht teilen, der Begriff sei etwas real Existierendes und die eigentliche Wirklichkeit selbst, sondern gegenständliche (d. h.: ›materielle‹), nicht in der Selbstbezüglichkeit des Begriffs aufgehende Voraussetzungen geltend machen, die nach ihrer Auffassung den Vermittlungen im gesellschaftlichen Naturverhältnis zugrundelie37 38

MEW, Bd. 3, 27. Ebd., 18.

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gen. Von dorther ist der Materialismus, den die Deutsche Ideologie in Anspruch nimmt, weder substantialistisch noch empiristisch-einzelwissenschaftlich gedacht und begründet. Vor diesem Hintergrund sind auch plakative Formulierungen, die auf einen naiven Empirismus zu deuten scheinen, wohl kaum in diesem starken Sinne auszulegen. Wenn es heißt, nicht das Bewußtsein bestimme das Leben, sondern das Leben bestimme das Bewußtsein,39 bzw. das Bewußtsein sei das bewußte Sein,40 so ist damit nicht der Rekurs auf ein Sein in der Trennung vom Bewußtsein impliziert, sondern ein asymmeterisches Verhältnis beider Seiten in ihrer Einheit. Die bestimmte Form dieser Einheit jedoch wäre nach der materialistischen Geschichtsauffassung wiederum historisch-spezifisch und aus den jeweiligen Verhältnissen zu entwickeln.41 (b) Die Feuerbachkritik, wie sie sich in Karl Marx’ Thesen ad Feuerbach findet, bestätigt diesen Befund, auch wenn sich gegenüber den Pariser Manuskripten und der Heiligen Familie die Bewertung geändert hat: Feuerbach gilt nun nicht mehr als Begründer des »wahren Materialismus« und der »reellen Wissenschaft« bzw. als der Überwinder des abstrakten Gegensatzes von Spiritualismus und Materialismus, sondern er ist jetzt nach der Auffassung Marx’ in die abstrakten Entgegensetzungen alles bisherigen Materialismus zurückgefallen, die – so ist aufgrund der früheren Äußerungen Marx’ zu ergänzen – bereits Hegel spekulativ überwunden hatte: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.«42 39

Ebd., 27. Ebd., 26. 41 So macht es z. B. einen erheblichen Unterschied, ob der »geistige Verkehr« unmittelbar als »Ausfluß« des »materiellen Verhaltens« anzusehen ist, wie in niederen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung, oder ob die fortschreitende Arbeitsteilung bereits zu einer Verselbständigung der intellektuellen Momente des Arbeitsprozesses zur geistigen Arbeit geführt hat. Für das bestimmte Verhältnis des Seins zum Bewußtsein gibt es daher für Marx auch keine allgemeingültige philosophische Theorie, sondern bestenfalls philosophische Denkmittel, ein asymmetrisches Verhältnis zweier Momente zu denken, die gleichwohl eine Einheit bilden. Dies scheint mir gemeint zu sein, wenn es heißt, die philosophischen Abstraktionen »haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. Sie können nur dazu dienen, die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern, die Reihenfolge seiner einzelnen Schichten anzudeuten.« (MEW, Bd. 3, 27) 42 Ebd., 5 (These 1). 40

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Über die Berechtigung dieser Kritik kann gestritten werden, denn für Feuerbach ist die »wahre« Dialektik im Verhältnis des Ich zum Du, in welchem die Gegenständlichkeit als Gegenständigkeit erfahren wird, wesentlich Tätigkeit, auch wenn er diesen Aspekt systematisch nicht ausgearbeitet hat.43 Die Kritik von Marx und Engels zielt jedoch in erster Linie (und zurecht) darauf, daß Feuerbach den gesellschaftlichen Zusammenhang der Tätigkeit der Individuen nicht erfaßt habe und insofern mit einem unhistorischen Abstraktum ›Mensch‹ operiere: »Feuerbach hat allerdings den großen Vorzug vor den ›reinen‹ Materialisten, daß er einsieht, wie auch der Mensch ›sinnlicher Gegenstand‹ ist; aber abgesehen davon, daß er ihn nur als ›sinnlichen Gegenstand‹, nicht als ›sinnliche Tätigkeit‹ faßt, da er sich auch hierbei in der Theorie hält, die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange, nicht unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind, auffaßt, so kommt er nie zu den wirklich existierenden, tätigen Menschen, sondern bleibt bei dem Abstraktum ›der Mensch‹ stehen.«44 Wichtiger jedoch ist im Blick auf den Marxschen Materialismus-Begriff, daß die praktische Tätigkeit als Einheit der vom »bisherigen« Materialismus getrennten Momente (›Sein‹ und ›Bewußtsein‹) das unterscheidende Merkmal des von ihm in Anspruch genommenen »neuen« Materialismus ist: »Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage.«45 Der Gegensatz gegen den ›reinen Materialismus‹ (und den ›reinen Spiritualismus‹) bedeutet demnach, daß der ›neue‹ oder ›wahre‹ Materialismus ›unrein‹ in dem Sinne ist, daß er die Abstraktionen der für sich gestellten Materie und des für sich gestellten Geistes zugunsten der Betrachtung ihrer Einheit in realen Vermittlungsprozessen überwindet. Dies hat zur Folge, daß der von Marx positiv in Anspruch genommene Materialismus schon immer den Gegensatz zum Spiritualismus hinter sich gelassen hat. Sein Gegensatz ist vielmehr der Idealismus, worunter zunächst ein falsches, ›ideologisches‹ Bewußtsein über die reale Vermittlung von ›Sein‹ und ›Bewußtsein‹ zu verstehen ist, welches – wie im Falle der ›kritischen Kritik‹ der Junghegelianer, aber auch wie im Fall der Hegelschen Geistesphilosophie – die gegenständliche und insofern immer asymmetrische46 Vermittlung in die Selbst-

43

Vgl. hierzu näher A. Arndt, ›Nicht-Selbst und Selbst‹. Bestimmtes Sein, Widerspruch und das Problem der Dialektik bei Ludwig Feuerbach, in: H.-J. Braun (Hg.), Solidarität oder Egoismus. Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig Feuerbach, Berlin 1994, 58–80. 44 MEW, Bd. 3, 44. 45 MEW, Bd. 3, 5, These 2. 46 Zur fundamentalen Unterscheidung symmetrischer und asymmetrischer Gegen-

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bezüglichkeit einer rein geistigen Struktur (›Selbstbewußtsein‹, ›Geist‹ oder ›Idee‹) aufhebt. Im Selbstverständnis Marx’ ist daher auch der Materialismus als Gegensatz zum ideologischen, falschen Bewußtsein mit dem wissenschaftlichen Standpunkt zu identifizieren. (c) Die »materialistische Grundlage meiner Methode«47 hatte Marx nach eigenem Bekunden erstmals im Vorwort zu dem 1859 erschienenen ersten Heft Zur Kritik der politischen Ökonomie publik gemacht. Gemeint ist diejenige Passage, in der Marx das grundlegende Verhältnis der »materiellen Produktivkräfte« oder Produktionsmittel zu den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und dem »juristischen und politischen Überbau« skizziert.48 Genauer gesagt spricht Marx von »juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen« im Unterschied zu der »materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen […].«49 Das Verhältnis von ›Basis‹ und ›Überbau‹ beschreibt Marx mit der bekannten Formel so: »Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«50 Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, die Metaphern ›Basis‹ und ›Überbau‹ näher auszudeuten; offenkundig ist, daß das Bedingtsein bzw. Bestimmtsein des Bewußtseins durch das gesellschaftliche Sein verschieden verstanden werden kann. In einer starken Lesart würde die These besagen, daß das Bewußtsein Ausfluß oder Abbild des gesellschaftlichen Seins sei. Diese Lesart verbietet sich jedoch schon deswegen, weil damit der von Marx stets bekämpfte abstrakte Gegensatz des Seins und Bewußtseins vorausgesetzt wäre. Auch könnte damit nicht dem Umstand Rechnung getragen werden, daß in die Produktionsweise des materiellen Lebens ideelle Momente (z. B. die intellektuelle Seite des Arbeitsprozesses) mit eingeschlossen sind. In einer schwächeren Lesart würde die These besagen, daß das Bewußtsein insofern bedingt ist, als es immer schon auf eine geschichtliche Wirklichkeit bezogen ist, die wesentlich als Resultat der jeweiligen Produktionsverhältnisse anzusehen ist und die es nicht überspringen kann. Philosophisch gesprochen geht es dabei nicht um das

sätze vgl. P. Furth, Asymmetrische Gegensätze in der Sprache der Politik, in: Das Denken des Widerspruchs als Wurzel der Philosophie. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Camilla Warnke, hrsg. vom Zentralinstitut für Philosophie, Berlin 1991, 18–31. 47 23, 25. 48 MEW, Bd. 13, 8 f. 49 Ebd., 9. 50 Ebd., 8 f.

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›Wie‹ einer ›Umsetzung‹ des ›Materiellen‹ in das ›Ideelle‹, sondern um die Widerständigkeit und Eigenlogik dessen, was den Inhalt des Bewußtseins bildet, also kritisch um eine Grenze des Bewußtseins bzw. der Vernunft. In diesem Sinne ließe sich auch die vielzitierte Einlassung Marx’ über sein Verhältnis zur Hegelschen Dialektik im Nachwort zur 2. Auflage des Kapital verstehen. »Für Hegel«, so heißt es dort, »ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.«51 Marx wiederholt hier in der Sache den bereits gegen die Junghegelianer vorgetragenen Einwand, es sei falsch, daß das Bewußtsein Gegenstände »setzen« könne. Dies gilt für ihn auch im Blick auf den Hegelschen Begriff,52 sofern er offenbar der Auffassung ist, daß geistige Strukturen überhaupt nicht als rein selbstbezüglich gedacht werden können. Insofern ist auf der anderen Seite aber auch die Rede vom »Materiellen«, das »umgesetzt« und »übersetzt« werde, nicht so zu verstehen, als sei damit ein Sich-Umsetzen mit der Materie als Subjekt gemeint; gemeint ist vielmehr die ideelle Reproduktion (und nicht: Produktion oder Setzung) der erscheinenden Wirklichkeit im (wissenschaftlichen) Denken: »Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.«53

III. Marx nimmt für sich einen Begriff des Materialismus in Anspruch, der jenseits der nach seiner Auffassung bereits von Hegel und Feuerbach überwundenen Alternative Materialismus/Spiritualismus angesiedelt ist. Er bezeichnet im wesentlichen das Bedingtsein des Bewußtseins durch das Sein derart, daß in der Einheit beider die Gegenständlichkeit des Seins nicht in eine interne Beziehung des Bewußtseins als Selbstbewußtsein umgedeutet werden kann. Diese Position hält Marx mit erstaunlicher Konstanz von den Frühschriften bis hin zum Kapital durch. Der Gegensatz zum (›neuen‹) Materialismus ist dabei das ideologische Bewußtsein, welches insofern auch ›idealistisch‹ genannt wird, als es in irgendeiner Weise die ›Setzung‹ der gegenständlichen, erscheinenden

51

MEW, Bd. 23, 27. Vgl. in diesem Sinne auch Marx’ Diktum in der ersten Auflage des Kapital: »Bloss der Hegel’sche ›Begriff‹ bringt es fertig, sich ohne äussern Stoff zu objektiviren« (Das Kapital, Urausgabe, hrsg. von F. E. Schrader, Hildesheim 1980, 18). 53 MEW, Bd. 23, 27. 52

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Wirklichkeit durch eine geistige Struktur behauptet. Gegenbegriff zum falschen Bewußtsein ist die Wissenschaft, weshalb Marx seinen ›Materialismus‹ auch weitgehend mit der Wissenschaft identifiziert. Diese Position begründet auch Marx’ Distanz zu den naturwissenschaftlichen Materialisten wie Vogt, Moleschott und Büchner, die sein Freund Engels als »Reiseprediger und Karikaturen«54 abtat und zum bevorzugten Gegenstand der Abgrenzung zur materialistischen Dialektik machte. Marx hingegen würdigt diese Gegner keiner besonderen theoretischen Aufmerksamkeit,55 sieht man einmal von dem politisch motivierten und geführten, wissenschaftlich jedoch bedeutungslosen Streit mit Carl Vogt ab.56 Für ihn ist der ›Materialismus‹, der hier propagiert wird, wie im Falle Büchners teils mißverstandener Darwinismus,57 teils unkritische Übernahme der Positionen von F. A. Lange,58 den er auch zu den undialektischen, d. h. ›vormaligen‹ Materialisten rechnet und ebenso eines Pseudo-Darwinismus beschuldigt.59 Offenbar sah es Marx im Interesse seines wissenschaftlichen Programms auch als inopportun an, sich mit den ja durchaus populären Naturwissenschaftler-Materialisten taktisch zu verbünden. In der Sache jedenfalls war dies nicht der Versuch, Konkurrenten auf dem Felde des Materialismus die Anerkennung zu versagen und dadurch zu verdrängen, sondern die Konsequenz daraus, daß er diesen Materialismus schon lange hinter sich gelassen hatte. Nun ist freilich auch nicht zu verkennen, daß Marx gelegentlich mißverständliche Formulierungen verwendet, die an eine abstrakte Gegenüberstellung von ›Sein‹ und ›Bewußtsein‹ denken lassen. Zudem legt die weitgehende Identifizierung von ›Materialismus‹ und ›Wissenschaft‹ eine tatsächlich so nicht vorhandene Übereinstimmung mit den Positionen des naturwissen-

54

F. Engels, Anti-Dühring, MEW, Bd. 20, 331. Auch die umfassende Studie von Ian Mitchell (Marxism and German Scientific Materialism, in: Annals of Science 35 (1978), 379–400) belegt keine direkten Stellungnahmen von Marx, die diesen Befund in Frage stellen würden. Vgl. auch die Sammlung K. Marx / F. Engels, Über Geschichte der Philosophie, hrsg. von G. Irrlitz und D. Lübke, Leipzig 1983. 56 Vgl. Ch. Jansen, Politischer Streit mit harten Bandagen. Zur brieflichen Kommunikation unter den emigrierten Achtundvierzigern – unter besonderer Berücksichtigung der Kontroverse zwischen Marx und Vogt, in: J. Herres / M. Neuhaus (Hg.), Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Emigration und frühen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Berlin 2002, 21–72. 57 Z. B. Marx an Engels, 14. 11. 1868, MEW, Bd. 32, 202 f. Vgl. W. Lefèvre, Darwin, Marx und der garantierte Fortschritt – Materialismus und Entwicklungsdenken im 19. Jahrhundert, in: A. Arndt / W. Jaeschke, Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 167–187. 58 Vgl. Marx an Kugelmann, 05. 12. 1868, MEW, Bd. 32, 579. 59 Vgl. Marx an Kugelmann, 27. 06. 1870, MEW, Bd. 32, 685 f. 55

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schaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts nahe. Unklar bleibt dabei, wieweit Marx auch nach der Deutschen Ideologie das Programm einer Aufhebung der Philosophie in Wissenschaft verfolgt. Die systematische Ausarbeitung des Marxschen Ansatzes geht daher schon immer über Marx’ insgesamt spärliche Äußerungen hinaus. Eine solche Systematisierung, auf die hier noch kurz hingewiesen werden soll, hat zuerst Friedrich Engels versucht. Im Anti-Dühring bezeichnet er den ›neuen‹ Materialismus als »Negation der Negation« des alten Materialismus durch den Idealismus; er sei »nicht die bloße Wiedereinsetzung des alten, sondern fügt zu den bleibenden Grundlagen desselben noch den ganzen Gedankeninhalt einer zweitausendjährigen Entwicklung der Philosophie und Naturwissenschaft, sowie dieser zweitausendjährigen Geschichte selbst. Es ist überhaupt keine Philosophie mehr, sondern eine einfache Weltanschauung«.60 Was eine ›einfache‹ Weltanschauung im Unterschied zur Philosophie sein könnte, bleibt jedoch bei Engels ebenso ungeklärt wie die Frage, ob die Wissenschaft selbst schon die Weltanschauung sei. Folgenreich für das weitere Schicksal des Begriffs des ›Materialismus‹ in der marxistischen Theorie ist jedoch vor allem, daß Engels durch den Rekurs auf die Figur der Negation der Negation den Gegensatz des Materialismus und Idealismus, der bei Marx in dieser Weise nie universalisiert worden war (und im übrigen nur als Gegensatz zum ›neuen‹ Materialismus angesprochen wurde), zur Grundfrage aller Philosophie stilisiert. Hieran knüpft sich eine Rezeptionsgeschichte, welche den Marxschen Gebrauch der Begriffe weitgehend überlagert und unkenntlich gemacht hat.

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MEW, Bd. 20, 129

VI. MATERIALISMUS, LITERATUR UND THEOLOGIE

Monika Ritzer

Faktum – System – Substanz. Reflexe der Naturwissenschaft in der Literatur zwischen 1835 und 1855

Zu Methode und Zielsetzung Wenn literarische Werke im folgenden als ›Spiegel‹ des naturwissenschaftlichen Diskurses fungieren sollen, so bedarf es einer kurzen Vorbemerkung. Literarische Texte sind in ihrem Kunstcharakter durch zwei Kriterien bestimmt: Das erste ist die Fiktionalität der Darstellung, also die Eigenständigkeit der sprachlich evozierten oder theatralisch inszenierten Welt, die sich nicht durch den Rückbezug auf eine textextern gegebene oder vorausgesetzte Welt legitimiert. Das zweite Kriterium ist die sprachkünstlerische Qualität der Gestaltung, die den Text zu einem ästhetischen Gebilde mit speziellen Rezeptionsbedingungen macht. Beide Kriterien bleiben in der folgenden Argumentation sekundär oder kommen nur insofern zum Tragen, als es für die thematische Erschließung des betreffenden Werks nötig ist. Literatur fungiert im folgenden primär als Medium der historischen Kultur. So verstanden, dokumentiert sie epochenspezifische Bewußtseinslagen, wobei die Sensibilität des Künstlers vor allem Unterschwelliges, Ängste oder Sehnsüchte, Spannungen oder Intentionen erfaßt und zur Darstellung bringt. Im Vergleich mit der begrifflich disziplinierten Philosophie wird die Figuren gestaltende Literatur daher stärker Gefährdungen aufspüren und Krisen dokumentieren, Illusionen artikulieren oder Utopien entwerfen. Bezogen auf das Kongreßthema Materialismus kann, wie zu zeigen wäre, eine so verstandene Literatur – entsprechendes Interesse der Autoren vorausgesetzt – nicht nur den Wissenschaftsdiskurs der Epoche dokumentieren, sondern auch Hintergründe veranschaulichen: bewußtseinsgeschichtliche Voraussetzungen, weltanschauliche Implikationen und gesellschaftliche Auswirkungen. Im weiteren erschließen sich in diachroner Perspektive Spiegelungen physiologischen Denkens, die dazu beitragen können, die kulturhistorische Position des Materialismus zu bestimmen. So wollen die folgenden Ausführungen an drei historisch aufeinander folgenden Werkgruppen darlegen, wel-

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che Veränderungen im Wissenschafts- wie im Naturbegriff an der Formierung des Materialismus mitwirken, welche Vorläufer, Parallelen oder Gegenmodelle sich abzeichnen und wie der Materialismus in diesem historischen Kontext zu positionieren wäre.

Neue Faktizität Eines der ersten Werke von Rang, das eine modern szientistische Naturwissenschaft thematisiert, ist Georg Büchners Woyzeck, geschrieben 1836. Protagonist des (nur in Handschriften mit losen Szenengruppen überlieferten) Dramas ist der einfache Soldat Woyzeck, der, obgleich als nachdenklicher und feinfühliger Charakter gezeichnet, am Ende Marie, die ihm untreu werdende Mutter seines unehelichen Kindes, ersticht, und zwar aus einer Mischung von Eifersucht, ernährungsphysiologisch initiierten Wahnzuständen und allgemeinem Irre-Werden an der Welt. Gegenstand des Dramas ist die Rekonstruktion der (historisch vorgegebenen) Tat im Spektrum dieser physiologischen und psychologischen, sozialen und weltanschaulichen Voraussetzungen. Der Text entwirft also ein komplexes Umfeld von inneren und äußeren Faktoren und stellt vor diesem Hintergrund die Frage nach den Bedingungen menschlichen Handelns. Thema des Dramas ist das Problem der Zurechnungsfähigkeit, das mit der wissenschaftlich forcierten Einsicht in die physische Bedingtheit des Individuums forensische Bedeutung erhält. Büchner greift mit der historischen Vorlage ein seit Mitte der 20er Jahre zunehmend in den Blick der Öffentlichkeit tretendes Problem auf. Als Quellen für die Figurengestaltung verwendet er die zum Fall Woyzeck geschriebenen Gutachten wie auch die anderer Delinquenten. Anlaß für die gerichtsärztliche Beurteilung war jeweils die Unverständlichkeit des Tatmotivs – die vor allem dort vorzuliegen schien, wo es sich um den offenen Mord an Geliebten oder Verwandten handelte – oder vermutete psychische Anomalien. Im Fall Woyzecks, der am 21. Juni 1821 seine (in Wirklichkeit nicht mit der Mutter seines Kindes identische) Geliebte erstach und sich danach widerstandslos festnehmen ließ, kam beides zusammen. Der Verteidiger beantragte eine gerichtsärztliche Untersuchung des Gemütszustand, nachdem Zeitungen von Woyzecks ›periodischem Wahnsinn‹ berichtet hatten. Gutachter war Hofrat Dr. Clarus, der in zwei, zum Teil ausführlichst alle Lebensumstände einbeziehenden Stellungnahmen zwar verschiedene physische und psychische Störungen beobachtete – Blutandrang und Affektivität, Neigung zur Trunksucht, Zittern des Körpers, momentane »Gedankenlosigkeit« und Wahnvorstellungen (innere Stimmen, Träume, Verfolgungsängste) –, insgesamt aber durch diese »Tatsachen« Ver-

Faktum – System – Substanz

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nunft und Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt sah,1 worauf Woyzeck 1824 hingerichtet wurde. Für die zeitgenössische Medizin liegt das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit, wie 1825 Adolph Henke, Herausgeber der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, schreibt, im »Vermögen vernünftiger Menschen, sich der Herrschaft der Sinnlichkeit zu entziehen und ihr Thun und Lassen der Idee des Sittlichguten unterzuordnen […].«2 Eingeschränkt wird diese Freiheit zum einen durch schwere mentale Defizite wie ›Geistesabwesenheit‹ oder Irrsinn, die nicht nur den Verstand, sondern auch die Klarheit moralischer Entscheidung beeinträchtigen – Clarus sucht bei Woyzeck nach »Verstandesverwirrung oder Tiefsinn«3 –, zum andern durch die Prävalenz ›sinnlicher‹ Antriebe, die wiederum seelischen Ursprungs (›Leidenschaften‹) oder physischer Natur (›tierischer Trieb‹, Krankheit) sein können. Den Maßstab bildet keineswegs mehr die ›absolute‹ Freiheit potentieller Selbstbestimmung, wie sie Schiller seinen Dramen zugrunde legte. Die Gerichtsmediziner der Restaurationszeit rechnen, so Henke, bereits mit einer dem Menschen von Natur aus beiwohnenden Unfreiheit des Willens; doch setzt man einen Grad der Selbstbestimmbarkeit an, um das Individuum strafrechtlich überhaupt noch für seine Taten verantwortlich machen zu können. Im Vergleich mit dem rein spekulativen Ansatz, den die Medizin bekanntlich bis in die frühen 40er Jahre hinein wahrte,4 nimmt die Gerichtsmedizin damit eine geradezu progressive Position ein. Mag sein, daß Büchner daran die Zukunft erkannte. Den Dichter interessiert jedenfalls gerade diese Spannung zwischen dem Ideal der Persönlichkeit und der faktischen Deformierbarkeit der ›natürlichen‹ Person. Dabei spielen für den politisch Engagierten auch die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle: Woyzeck und Marie gehören zur unteren Schicht der bürgerlichen Gesellschaft, in der Bildungsmangel, berufliche Abhängigkeit und Armut den moralischen Freiraum reduzieren. Kernpunkt dessen aber ist die damit verbundene ›Naturalisierung‹: »Sehn Sie«, sagt Woyzeck, »wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur.«5 Auch das Geschlecht kann diese Naturalisierung forcieren; die Frau, typologisch der Natur näher, ist ihr daher 1

Beide Gutachten sind abgedruckt in: G. Büchner, Werke und Briefe, hist.-krit. Ausgabe von W. R. Lehmann, Darmstadt 1980. 2 A. Henke, Ueber die Grundlagen der gerichtlichen Psychologie, in Bezug auf die Zurechnungsfähigkeit gesetzwidriger Handlungen, in: Zeitschrift für Staatsarzneikunde Bd. 9 (1825), 237. 3 G. Büchner, Werke und Briefe, nach der hist.-krit. Ausgabe von W. R. Lehmann, Darmstadt 1980, 393. 4 Komprimiert nachzulesen etwa in A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 34–46. 5 G. Büchner, Werke und Briefe, a. a. O., 165.

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auch bei Büchner unmittelbarer ausgesetzt: »Meine Natur war einmal so«, entschuldigt Marion in Dantons Tod ihre sexuelle Amoral; »wer kann da drüber hinaus?«6 In dieser Rückbindung des Menschen an die quasi ›untere‹ Natur liegt das Motiv für die literarische Gestaltung. Büchners Frage gilt dem Sosein des auf seine Vitalfunktionen beschränkten Menschen. Gegenpol ist die Idee geistig-moralischer Autonomie, die Büchner als Illusion entlarvt. Wertperspektiven scheinen im Drama daher nur noch in satirischer Brechung auf: »Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können!«7 Die progressiven Autoren der Epoche stellen sich dieser faktischen Naturalisierung; aber sie können keinen Sinn damit verbinden und demonstrieren daher den Verlust. »Materialismus« lautet entsprechend der Vorwurf, den Ludwig Tieck gegen Grabbe erhebt, und ein »Zynismus«, der um der bloßen Wahrheit willen »alles im Menschen tief unter das Tier hinabwirft […].«8 Auch der Autor des Woyzeck will provozieren durch die Gleichsetzung mit dem Tier, die den Menschen seiner Sonderstellung beraubt. So preist einerseits ein Marktschreier seine ›humanisierten‹ Tiere an – »alles Erziehung, habe nur eine viehische Vernunft, oder vielmehr eine ganz vernünftige Viehigkeit […].«9 Andererseits wird Woyzeck gemeinsam mit einem Tier physiologischen Experimenten unterzogen: »Woyzeck, beweg den Herrn doch einmal die Ohren […]. Zwei Muskeln sind bei ihm tätig. […] Bestie, […] willst du’s machen wie die Katze!« (175) Der Vergleich intensiviert die triebdynamische Komponente menschlicher Natur (Hunger, Sexualität, Affektivität), zugleich aber auch deren Empirizität: »Sehn Sie das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lern Sie bei ihm«, ruft der Marktschreier. »Das hat geheiße: Mensch sei natürlich. […] Willst du mehr sein, als Staub, Sand, Dreck?«10 Der betont krud formulierte materielle Aspekt ist charakteristisch für die Weltschmerz-Epoche. Was nach dem Zusammenbruch der nun als ›Illusionen‹ durchschauten ›Ideen‹ bleibt, sind die melancholischen Bilder einer säkularisiert sinnentleerten Welt: »Alles tot […].«11 »Sind Sie auch Atheist?«12, fragt der ›Student‹ vor der Jahrmarktsbude. Desillusionsstrategien finden sich, wie gesagt, auch bei den anderen Dramatikern der Restaurationszeit. Eine Besonderheit des Arztsohns und Medizinstu6

Ebd., 19. Ebd., 167. 8 Tiecks Brief an Grabbe vom 06. 12. 1822 ist abgedruckt in Ch. D. Grabbe, Herzog Theodor von Gothland, hrsg. von R. Dornier, Stuttgart 1971, 5 f. 9 G. Büchner, Werke und Briefe, a. a. O., 163. 10 Ebd. 11 Ebd., 174. 12 Ebd., 137. 7

Faktum – System – Substanz

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denten Büchner ist der Rekurs auf die zeitgenössische Naturwissenschaft, genauer: auf den Beginn der Physiologie, die für die Literatur weitaus wichtiger wird als Schleidens und Schwanns Entdeckung der Zelle.13 »Subjekt Woyzeck« wird zum Objekt des ›Doktors‹, der an ihm gegen Entgelt die physische und psychische Wirkung einseitiger Ernährung studieren will. Woyzeck erhält bis zur körperlichen Erschöpfung eine Zeitlang nur Erbsen zu essen, danach käme Hammelfleisch an die Reihe, um so die chemische Veränderung der Körpersäfte zu erweisen. Der Doktor ist von der Bedeutung seiner Experimente überzeugt: »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul.«14 Wir finden also einen frühen Rekurs auf die sich in der Zeit herausbildende Nahrungsphysiologie. In die Figuren des ›Doktors‹ bzw. (in der ersten Handschrift) des ›Professors‹ dürften verschiedene Wissenschaftler eingegangen sein, die Büchner während seines Medizinstudiums in Gießen, Winter 1833 und Sommer 1834, selbst hörte. Die satirisch-kritische Darstellung des ›Professors‹, der von der »organischen Selbstaffirmation des Göttlichen« in den Dingen spricht und gleichzeitig deren »Verhältnis zum Raume, zur Erde« demonstriert, indem er eine Katze zum Fenster hinauswerfen will und Woyzeck zu ›tierischen‹ Körperreflexen veranlaßt15, geht wohl auf Johann Bernhard Wilbrand zurück. Jedenfalls berichtet der spätere Zoologe und Materialist Carl Vogt, der mit Büchner zusammen in Gießen studierte, in seiner Autobiographie von ähnlichen Demonstrationen.16 Der Mediziner, Physiologe und Naturkundler Wilbrand arbeitete an Untersuchungen zur Atmungs- und Kreislaufphysiologie, war aber, wie die meisten Wissenschaftler der Zeit, noch geprägt durch Schellings Naturphilosophie, so daß die physiologischen Experimente, mit deren Hilfe er Aufschluß über die menschlichen Körperfunktionen zu gewinnen suchte, isolierte Datensammlungen blieben. Daß auch das Erbsen-Experiment direkt auf Wilbrand zurückgeht, scheint fraglich, da dieser, laut Vogt,17 durch seine

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A. Wittkau-Horgby sieht hier die Wurzel des naturwissenschaftlichen Materialismus. Vgl. A. Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 47 ff. 14 G. Büchner, Werke und Briefe, a. a. O., 175. Zur Problematik der Formel vgl. U. Roth, Georg Büchners ›Woyzeck‹ als medizinhistorisches Dokument, in: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995–99), Tübingen 2000, 503–519, 512 ff. 15 G. Büchner, Werke und Briefe, a. a. O., 175. 16 C. Vogt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke, hrsg. von E.-M. Felschow u. a. Gießen 1997, 60 u. a. 17 In seinen Bildern aus dem Thierleben (1852) erinnert Vogt an diese nahe, wenngleich glücklich überwundene Spätphase spekulativer Naturwissenschaft: »Da war die Rede von der Verwandtschaft zwischen dem Kreislauf der Sphären in dem Organismus der Welt und dem Kreislauf des Blutes in dem Organismus des Thieres […].« Vor ein

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naturphilosophischen Voraussetzungen generell am Begreifen chemischer Vorgänge gehindert wurde. Zu denken wäre auch an den seit 1824 in Gießen lehrenden Justus Liebig, der im Rahmen seiner als ›Thier-Chemie‹ bezeichneten Forschungen in den späten 30er Jahren zahlreiche organische Verbindungen, darunter auch Harnsäure-Derivate, charakterisierte.18 Auch für den Chemiker bestand kein Zweifel daran, daß – wie es dann in den ab 1842 in der Augsburger Allgemeinen veröffentlichten Chemischen Briefen heißt – der Mensch im Hinblick auf die physiologischen Vorgänge »identisch mit dem niedrigsten Thiere«19 ist. Die nahrungsmittelchemischen Experimente, die Liebig zwecks Optimierung der Truppenernährung an Soldaten durchführte, fanden allerdings wohl erst Ende der 30er Jahre statt, so daß ein direktes Vorbild für Woyzeck hier nicht anzusetzen ist. Mögliche Bezugspunkte Büchners wären die ernährungsphysiologischen Tierversuche, die François Magendie im zweiten und dritten Jahrzehnt publizierte, oder die aus ökonomischen Gründen an Kranken wie Soldaten durchgeführten Experimente von Denis Papin, Henri Milne Edward und anderen zum Ernährungswert der Gelatine.20 Eng mit Liebig zusammen arbeitete auch der in Kassel lehrende Friedrich Wöhler, der 1828 als erster eine organische Substanz, nämlich Harnstoff, synthetisch herstellte und damit die Sonderstellung der Lebensphänomene aufhob. Büchner geht es allerdings nicht um die Ernährungsphysiologie als solche. Was er anprangert, ist der verkappte ›Naturalismus‹ einer Wissenschaft, die, konzeptionslos experimentierend, ohne Einsicht in die Folgen ihres Vorgehens Deformationen der Person in Kauf nimmt. Dieser Kritik entspricht, daß Büchners experimentierender Doktor an Woyzeck auch die psychischen Auswirkungen studieren will (»er hat die schönste aberratio mentalis partialis«21), wofür es kaum zeitgenössische Entsprechungen gibt − erst die Literatur lenkt also den Blick auf die vergessene Ganzheitlichkeit des Menschen. Der Kritik entspricht weiter Büchners satirische Vermischung von faktischer Versachlichung der Versuchsperson und idealistischen Phrasen. De facto findet sich der Mensch also bereits auf die physischen Bedingungen reduziert; philosophisch Mikroskop gestellt, »kniff er [Wilbrand; M. R.] die Augen zu und antwortete: ›Was ist vorzüglicher, der Geist oder der Körper? Doch wohl der Geist! Nun! Was ich mit dem geistigen Auge geschaut habe, darüber kann das körperliche Auge nicht entscheiden! Ich sehe nichts!‹« (C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, Frankfurt / M. 1852, 55). 18 J. von Liebig, Die Thier-Chemie oder die organische Chemie in ihrer Anwendung auf die Physiologie und Pathologie, Braunschweig 1843. 19 J. von Liebig, Chemische Briefe (1844), Leipzig / Heidelberg 1865, 38. 20 Vgl. hierzu U. Roth, Georg Büchners ›Woyzeck‹ als medizinhistorisches Dokument, in: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995–99), Tübingen 2000, 503–519, 512 ff. 21 G. Büchner, Werke und Briefe, a. a. O., 168.

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sucht man dagegen selbst innerhalb der Wissenschaft ein idealistisches Weltbild zu bewahren. Damit reflektiert Büchners Darstellung recht genau das, was Liebig im Rückblick als das ›empiristische‹ Stadium der Naturwissenschaft in den 30er Jahren bezeichnet: Man sammelte Fakten für die Natur des Lebens und legte damit den Grundstein für den Szientismus des 19. Jahrhunderts; doch blieben die wissenschaftlichen Experimente so punktuell wie die Ergebnisse, weil es an einem systematischen Ansatz fehlte, wie er sich dann zunächst in den 40er Jahren auf der Basis eines neuen Naturbegriffs, in den 50er Jahren auf der Basis des physiologisch definierten Menschen herausbildet. Die Patt-Situation der 30er Jahre prägt sich bezeichnenderweise auch in Büchners eigener Naturforschung aus. Der junge Naturwissenschaftler promoviert 1836 in Zürich mit einer Untersuchung über das Nervensystem der Barben, einer Karpfenart, und qualifiziert sich im gleichen Jahr als Privatdozent mit der berühmten ›Probevorlesung‹ Über Schädelnerven. Er findet in dieser Vorlesung jedoch, obgleich sie auf den exakten anatomischen Studien der Dissertation beruht, nicht zu einem szientistischen Wissenschaftsbegriff. Zu kontrovers präsentieren sich ihm nämlich »zwei sich gegenüberstehende Grundansichten«: Die erste, in Frankreich und England beheimatete, betrachte, wie Büchner referiert, alle Erscheinungen des organischen Lebens unter dem Aspekt ihres Nutzens; jedes Organ ist hier durch seinen Zweck für die »Maschine« Körper bedingt. (Bewußtseinsgeschichtlich handelt es sich also um den sogenannten ›französischen‹, zeitbedingt mechanistischen Materialismus des 18. Jahrhunderts.) Demgegenüber nehme die zweite, in Deutschland kultivierte »philosophische« Richtung das »körperliche Dasein des Individuums« als etwas aus sich heraus Wirkendes wahr; nicht beschränkt auf den Zweck der vitalen Erhaltung, erscheine es als Manifestation eines ästhetischen »Urgesetzes«. (Es handelt sich also um den goethezeitlichen Naturbegriff, in einer Synthese aus Goethes Morphologie und der romantischen Naturphilosophie.) Büchners erklärte Distanz zum erstgenannten Wissenschaftsbegriff steht im Zusammenhang mit einer Neubewertung der Lebensphänomene, für die es in der Epoche zahlreiche Belege gibt. Sein Argument gegen den mechanistischen Materialismus − »alles, was ist, ist um seiner selbst willen da« − findet sich als Formulierung ähnlich auch bei Heinrich Heine und proklamiert hier wie dort die gleiche neue Eigenwertigkeit der Natur. Aber es gibt für den Naturwissenschaftler Büchner offensichtlich keine Möglichkeit, diesen Eigenwert theoretisch zu begreifen. Noch fehle, wie es heißt, der Brückenschlag zwischen den ideellen Bestimmungen, des Menschen wie der Natur, und dem »frischen grünen Leben«22.

22

Ebd., 236 f.

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So bieten sich dem jungen Wissenschaftler in der Frage nach der Ordnung der Phänomene (z. B. der Verbindung von Gehirn und Rückenmark) noch immer nur die bekannten ideellen Schemata der Naturphilosophie: »Das Auge, das an einer Unzahl von Tatsachen ermüdet«, ruht mit Wohlgefallen auf den Bildungsgesetzen goethezeitlicher Forschung aus.23 Büchners goethezeitlicher Regreß hat zweifelsohne auch damit zu tun, daß der naturphilosophisch orientierte Biologe und Physiologe Lorenz Oken − der, Schüler Schellings, das ›Reale‹ mit dem ›Idealen‹ gleichsetzt − seine Arbeit beurteilte und während der Vorlesung im Publikum saß.24 Wenn also Büchners Problemstellung an Goethes Morphologie erinnert, so liegt dies schon daran, daß Oken selbst in der Entdeckung des Zwischenkieferknochens [Entwicklungseinheit von Säuger und Mensch] wie in der Wirbeltheorie [Schädel als Verlängerung der Wirbelsäule] in einen Prioritätenstreit mit Goethe verwickelt war; doch ist dieser Konnex sekundär. Doch bezeugt Büchners wie selbstverständliche Fortsetzung dieser Traditionslinien das für die Restaurationszeit generell charakteristische Vakuum an ›realen‹ Ordnungsbegriffen. Daß Büchner diesem idealistischen Wissenschaftsbegriff in Woyzeck die krud faktische Darstellung des experimentell vereinnahmten Lebens gegenüberstellt, demonstriert gerade die epochenspezifische Spannung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft, die offensichtlich von beiden Seiten her noch nicht zu lösen war.

23

Ebd. Okens Synkretismus bildet wohl auch den Bezugspunkt für den dritten Weg, den Büchner in der Antrittsvorlesung andeutet. Schüler Schellings, doch von der wissenschaftlichen Neugierde des Frührealismus erfaßt, forderte Oken explizit die Vermittlung von »Spekulation« und »Empirie«. So ließ er keinen wissenschaftlichen Ansatz unversucht, um dem Leben auf die Spur zu kommen; doch geschah diese Spurensuche stets noch im Licht des Wissens von der ideell begründeten Einheit der Natur. »Die Uridee ist das Substrat von allem«, heißt es im Lehrbuch der Naturphilosophie; insofern ist »das Reale das Ideale selbst«. Okens Forschungsinteresse galt den Verbindungen, die, genetisch oder analog, die Einheit in der Vielfalt des Seins oder Werdens demonstrierten. Schon Büchners sinnesphysiologisches Interesse könnte auf Oken zurückgehen, der den »Concensus«, das harmonische Zusammenwirken verschiedener Organe, zur Leitidee der physiologischen Forschung erhob und den »Sinn« als »unmittelbaren Concensus des Nervensystems mit der Welt« definierte. So leistet naturphilosophisch orientierte Forschung, wie Oken meinte, einen »modernen Priesterdienst für die Menschheit«. − Zitiert nach G. Kamphausen / Th. Schnelle, Die Romantik als naturwissenschaftliche Bewegung. Zur Entwicklung eines neuen Wissenschaftsverständnisses, Bielefeld 1982, 16–20. 24

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Von den Fakten zum System Überspitzt gesagt wird der gleiche Liebig, der bei Büchner hinter den korrumpierenden Nahrungsexperimenten steht, wenige Jahre später für Adalbert Stifter zum Garanten eines neuen realistischen Weltbilds, das, mit Hilfe der Wissenschaft, den Verlust des metaphysischen kompensieren kann. Die Bezugspunkte finden sich in der Erzählung Abdias, erstmals 1842 erschienen. Bezeichnend für den beginnenden Realismus der 40er Jahre25 wird die Titelfigur bereits zu Beginn in ihrem Charakter raumzeitlich motiviert: Abdias, Sohn eines Händlers, wächst, inmitten der von Beduinen durchzogenen Wüste Nordafrikas, in einer jüdischen Enklave auf, die ihm keinerlei geistigen Spielraum bietet. Trotz schönster Anlagen bleibt sein Leben gebunden an die beschränkte Welt der ganz aufs materielle Überleben konzentrierten Sippe, und diese kulturelle Verarmung prägt sein eigenes Handeln, das entsprechend nichts als die materielle Sicherung der Person kennt. Die Handlung scheint dieser Beschränkung nicht Rechnung zu tragen: Wie um diese durch Umwelt und Erziehung bedingte Benachteiligung noch zu verschärfen, zeigt sich Abdias’ Leben ›Schicksalsschlägen‹ ausgesetzt. Entstellung durch Pocken entfremdet ihn seiner nur auf Äußeres achtenden Frau; ein Racheakt der Beduinen verwüstet in seiner Abwesenheit das häusliche Domizil; seine Frau stirbt dabei an der Geburt des Kindes, das, wie man später erfährt, blind ist. Im zweiten Teil der Handlung kommen zwei Blitzschläge dazu, die, Ironie des Schicksals, der geliebten Tochter zunächst das Augenlicht zurückgeben und sie anschließend das Leben kosten. Einen ersten Hinweis auf den möglichen Zusammenhang zwischen jenen fatalen Geschehnissen und Abdias’ Lebensführung gibt die Textpassage am Ende des zweiten Kapitels. Von den Eroberungszügen in das zerstörte Haus zurückkehrend und seine Frau mit dem neugeborenen Kind vorfindend, versucht Abdias die von der Geburt Geschwächte durch die Beschaffung von Nahrung zu retten und gewinnt damit in seinem Handeln eine neue Umsicht, der die Erzählung durch die (für Stifters Stil nachmals charakteristische) detaillierte Beschreibung entspricht. Und im Kontext dieses sorgend-planvollen Vorgehens findet sich nun Stifters erster Rekurs auf die Naturwissenschaft, genauer die Chemie. »[Abdias] suchte aus seinen herumgestreuten Reisesachen eine Büchse hervor, in der er stets den verdichteten Stoff einer guten Brühe mit sich führte. Dann ging er in die Küche hinaus, um etwa nach einem Blechgefäße zu schauen […]. Und als er ein

25

Die gleiche Motivierungsstrategie findet sich etwa in Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1842).

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solches gefunden hatte, kam er wieder herein, that Wasser und den Stoff in dasselbe, zündete eine Weingeistflamme an, und stellte es auf einem Gestelle darüber. Er blieb bei dem Gefäße stehen, um zu merken, wie sich das Ganze auflösen würde. […] Als sich sein Brühstoff in dem warmen Wasser vollends aufgelöst hatte, nahm er das Gefäß wieder weg, um alles ein wenig abkühlen zu lassen. […] [D]a es gehörig lau geworden war, reichte er ihr den Trank und sagte, sie solle schlürfen. […] Es mußte ihr auch wohlgethan haben, denn sie […] entschlummerte […].«26

Es handelt sich um die erste Zubereitung eines Fertiggerichts in der deutschen Literatur. Abdias ist in der Wüste mit einem vorpräparierten Nahrungsmittel unterwegs, das bis ins 20. Jahrhundert als ›Liebigs Suppenwürfel‹ figurieren wird. Noch fehlt dem Benutzer die Routine im Umgang mit dem Produkt: Er beobachtet gespannt, ob und wie sich der Extrakt in dem Wasser auflöst, das er mit Hilfe eines Spirituskochers zum Kochen bringt. Wenig später wiederholt er die Prozedur im Verlauf einer Wüstenwanderung, die die Beteiligten wieder von anderer Nahrungsgewinnung abschneidet, und hat nun ausreichend Erfahrung gesammelt, so daß die Zubereitung schnell vonstatten geht. Naturwissenschaftliche Kenntnisse leisten offensichtlich einen wesentlichen Beitrag zur Lebensführung. Nicht ganz schlüssig motiviert und deshalb intentional um so interessanter, demonstriert Stifters Held nämlich in ernährungsphysiologischer Hinsicht den neusten Stand. Er kennt die nährende Funktion des nach Anschauung der Zeit unmittelbar auf die Muskelfasern wirkenden Fleischsaftes; er reflektiert also, daß das menschliche Leben auf chemisch bedingten Stoffwechselvorgängen basiert. Sollte der in weitverzweigten Handelnsbeziehungen stehende Abdias allerdings bereits industriell hergestelltes Fast Food mit sich führen, so hätte er wohl noch das falsche Nahrungsmittel dabei, nämlich ›Suppentafeln‹, in denen – wie Liebig in späteren Buchausgaben seiner Chemischen Briefe erläutert – der durch das Auskochen von Knorpelmasse gewonnene Leimanteil zu hoch war. Solche Irrtümer über den Nährwert der Speisen kamen »ohne gründliche physiologische und chemische Bildung« und die entsprechende »Einsicht in das Wesen der Natur« vor. Es bedarf eben der »richtigen Vorstellung über Kraft, Ursache und Wirkung«, um den ›thierischen‹ Stoffwechsel – »Verdauungs-, Assimilations- und Excretionsprozesse« – zu verstehen.27 Diese technische Verwertung des Fleischextrakts beginnt erst in den 50er Jahren;28 Liebigs bahnbrechende Chemische Untersuchung über das Fleisch und

26

A. Stifter, Werke und Briefe, hist.-krit. Gesamtausgabe, hrsg. von A. Doppler / W. Frühwald, Stuttgart 1978 ff., Bd. 1.5, 260 f. 27 J. von Liebig, Chemische Briefe, Leipzig / Heidelberg 1865, 318 f., 11. 28 W. H. Brock, Justus von Liebig, aus dem Englischen von G. G. Siebeneicher, Braunschweig / Wiesbaden 1999, 176–203.

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seine Zubereitung zum Nahrungsmittel erscheint 1847. Doch liegen die prinzipiellen Erkenntnisse bereits zu Beginn der 40er Jahre vor. Stifter, von Jugend auf naturwissenschaftlich interessiert,29 kann sich darüber unter anderem in den genannten Chemischen Briefen informieren, die Liebig ab Herbst 1841 in der Augsburger Allgemeinen, 1844 dann erstmals in Buchform veröffentlicht, um einem breiteren Publikum nicht nur den Erkenntnisstand, sondern vor allem Weltbild und Denkweise der modernen Naturwissenschaft zu vermitteln. Weitere Information bietet das Buch Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie (1840), Liebigs erste Exkursion auf das Gebiet der Biochemie. Daß für den Wiener Dichter, der zeitweilig eine Professur für Physik anstrebt, Informationsbedürfnis besteht, liegt nahe: Liebig, der 1838 im Aufsatz Der Zustand der Chemie in Oesterreich die Rückständigkeit der Naturwissenschaften geißelte und »Beobachtung« statt Spekulation einfordert,30 befindet sich 1840/41 in Sondierungsgesprächen über einen Wechsel nach Wien.31 Liebigs sogenannte ›Thierchemie‹ vermittelt dem Zeitgenossen zwar zunächst noch einmal den Schock über die chemisch-physikalischen Grundlagen menschlichen Lebens. Doch versöhnt die Wissenschaft der 40er Jahre mit diesem Aspekt durch die neue Einsicht in den Funktionszusammenhang der vitalen Prozesse: »In welcher Klarheit erscheinen uns jetzt die Beziehungen der Speisen zu den Zwecken, zu welchen sie im Thierkörper dienen«!32 Dabei koppelt Liebig die ›Erscheinungen des höheren geistigen Lebens‹ nicht mehr ab; er will sie aber auch nicht reduktionistisch behandelt wissen und hält − im Gegensatz zum physiologischen Materialismus der frühen 50er Jahre − an der Erkennbarkeit des Willens als möglicher Steuerungsfunktion fest.33 In dieser Ausgewogenheit der menschlichen Funktionen liegt das neue kulturelle Potential der Naturwissenschaft, das die Literatur aufgreifen kann. Liest man Liebigs gezielt um Verständnis werbende Darstellung – »die Naturforschung hat das Eigne, daß alle ihre Resultate dem gesunden Menschenverstand des Laien ebenso klar, einleuchtend und verständlich sind wie dem Gelehrten«34 –, so verwundert es nicht, daß Stifter später den Helden seines Bildungs29

Vgl. hierzu M. Ritzer, Die Ordnung der Wirklichkeit. Zur Bedeutung der Naturwissenschaften für Stifters Realitätsbegriff, in: K. Lachinger (Hg.), Stifter heute, Tübingen 2004 [im Druck]. 30 J. von Liebig, Reden und Abhandlungen (1874), Neudruck Wiesbaden 1965, 1. 31 W. Strube, Justus von Liebig. Eine Biographie, Beucha 1998, 126 ff. 32 J. von Liebig, Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie (1840), Braunschweig 1842, XII. Vgl. auch Teil VIII der Chemischen Briefe in der Augsburger Allgemeinen. 33 J. von Liebig, Chemische Briefe, Heidelberg 1844, 29 f. 34 Ebd., 4.

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romans Der Nachsommer zum ›Wissenschaftler im Allgemeinen‹ bestimmte. Liebig propagiert nämlich gerade die Naturwissenschaft als Mittel nicht nur zu zeitgemäßer Erziehung, sondern auch zu »höherer Geistescultur«35. Sie wirkt disziplinierend, indem sie das Denken aus dem Reich spekulativer Unverbindlichkeit auf den Boden der Naturbeobachtung zurückführt, vermittelt die Erkenntnis der natürlichen Wirkungszusammenhänge, an denen der Mensch als Lebewesen partizipiert, und schafft dadurch die Voraussetzungen für die ›Bildung‹, d. h. die Kultivierung der (äußeren wie inneren) Natur. »Dem gebildeten Menschen ist diese Kenntniß ein Bedürfniß, insofern sie die erste und wichtigste Bedingung der Entwicklung und Vervollkommnung seines geistigen Lebens in sich schließt; für ihn ist das Bewußtwerden der Ursachen und Kräfte […] an sich schon Gewinn, weil durch das Geschehene das Bestehende erst klar und das Auge für das Zukünftige empfänglich gemacht wird. Mit ihrer Bekanntschaft […] verliert sich […] das anscheinend Zufällige und Räthselhafte […], und in dem natürlichsten, nothwendigsten Zusammenhange erscheinen ihm die neuesten und gesteigerten Geistesrichtungen der Zeit. Indem er Besitz von den […] Gütern nimmt, erwächst ihm der Vortheil, sie nach seinem Willen und Vermögen zu seinem Nutzen zu verwenden, […] ihre Segnungen zu verbreiten.«36

Dazu kommt der weltanschauliche Gewinn. Denn indem die Wissenschaft die Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen und ihrer Veränderungen erkundet, erschließt sie die Wirklichkeit in der ihr eigenen »wunderbaren Ordnung und Regelmäßigkeit […].«37 Sie gewährt somit Einblick »in die Wunder der Schöpfung, […] an die unser Dasein, Bestehen und unsre Entwicklung auf ’s engste geknüpft sind […].«38 Die religiöse Terminologie ist generationsbedingt; auch die naturwissenschaftliche Argumentation durchläuft in diesen Jahren einen Säkularisierungsprozeß. Ergebnis der Wissenschaft aber ist die auf der Gesetzmäßigkeit der Prozesse basierende Systemqualität der Wirklichkeit. Dieser Systemaspekt ist die Errungenschaft der 40er Jahre. Er löst den wissenschaftlichen Empirismus der frühen Restaurationszeit ab – die ›Zeit des Sammelns‹ von Einzeldaten, wie es im Nachsommer heißt –, die Phase der Datenerhebung und des theorielosen Experimentierens, wie es der Doktor in Georg Büchners Woyzeck charakterisiert. Vorbei sei diese Zeit, so Liebig, wo die Naturwissenschaft »nichts als eine durch Erfahrung ausgemittelte und in Regeln gebrachte Experimentierkunst war […].«39 Jetzt frage sie nach dem Warum, eruiere die Gesetze und stoße auf dieser Basis zu einer theoretischen

35 36 37 38 39

Ebd., 1. Ebd., IIIf. Ebd., 33. Ebd., 1. Ebd., 9.

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Darstellung des Zusammenhangs vor, die Liebig als »geistigen Ausdruck der Erscheinungen« und philosophisch-weltanschauliche Qualität der modernen Naturforschung bezeichnet.40 Wahres ›Beobachten‹ heißt nun ›Begreifen‹ dieser Zusammenhänge, und erst mit diesem Verstehen eröffnet sich die Möglichkeit zu praktischer Gestaltung der Lebensprozesse. Während der faktenfixierte »Empiriker« dem Naturgeschehen »wie bewußtlos« verhaftet bleibe, mache der Mensch nun mittels der Wissenschaft »die Naturgewalten zu seinen Dienern«: »Durch Einsicht in ihren Zusammenhang« kann er, so Liebig, »die Wirkungen beherrschen«.41 Dieses Potential der Wissenschaft zur Kultivierung der äußeren wie der inneren Natur bildet den Bezugspunkt der erzählten Biographie. Abdias’ ernährungsphysiologisch klug gewählte »stärkende Brühe« zeigt, daß die Bedingungen gegeben wären; nur scheitert seine physische Unterstützung daran, daß sich »das unerfahrene Weib […] wie ein hilfsloses Thier verbluthtet […].«42 Die gezielt gesetzte Tiermetaphorik markiert das präkulturelle Niveau der Figur und weist damit klar auf die Voraussetzungen hin: Steuerung der natürlichen Vorgänge ist nur in dem Maß möglich, wie sich der Mensch durch ›Bildung‹, d. h. das Wissen von den Zusammenhängen,43 über den ›empirischen‹ Naturzustand erhebt. Diese Bildung aber besitzt, wie im weiteren Verlauf der Handlung deutlich wird, auch der Titelheld nicht im nötigen Maß. Abdias emigriert nach Österreich, um seiner Tochter Ditha im europäischen Kulturraum ein sinnerfüllteres Leben zu bieten. Doch wird bald die neuerliche Stagnation deutlich: Der Immigrant kommt über seine vorgeprägte Lebenseinstellung nicht hinaus und gibt, unfähig zur Erziehung, sein soziales wie kulturelles Defizit an die Tochter weiter. Scheinbar ohne Bezug zu dieser Situation schlägt das ›Schicksal‹ erneut und in Folge zu: Ein erster Blitzschlag durchschlägt Dithas Zimmer und bewirkt als elektrischer Schock die Aufhebung ihrer Sehnervlähmung;44 sie sieht und dies bedeutet für Abdias höchstes Glück. Kurz danach tötet ein zweiter Blitz Ditha auf freiem Feld, und Abdias bricht zusammen. Daß Stifter mit dem atmosphärischen Phänomen einen physikalischen Vorgang illustrieren will, belegt seine detailgenaue Beschrei40

Ebd., 8 f., 19. Ebd., 31. 42 A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., 267. 43 In den 50er Jahren wird ›Bildung‹ nicht nur für Stifter, sondern auch für Hebbel und Keller, zur Grundlage einer vernünftigen, d. h. die Bedingungen menschlichen Lebens reflektierenden und realisierenden Lebensgestaltung. 44 »Elektrische Schläge […] bilden jetzt bei Lähmungen der Nerven eines der wichtigsten Erregungsmittel, das dem Arzte zu Gebote steht«, notiert Carl Vogt 1847 in seinen Physiologischen Briefen, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, 2 Bde., Berlin 1971, Bd.1, 17. 41

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bung. Der Blitz hatte nämlich »die eisernen Drähte des Käfigs, in dem das Schwarzkehlchen war, […] niedergeschmolzen, ohne den Vogel zu verletzen […].«45 Der Autor zeigt sich also informiert über das Würfel-Experiment von 1836, in dem Faraday nachwies, daß sich die Elektrizität an der Oberfläche des Leiters befindet und somit das Innere eines Hohlkörpers nicht beeinflußt.46 Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund stellen sich die Blitzschläge anders, nämlich als systematische Wirkungen dar, und hier liegt der Grund für Stifters Rekurs auf die zeitgenössische Physik. Während der unwissende Held beide Blitze als ironisch konträre Willkürakte des Schicksals erlebt und ›die Leute‹, die der Autor zur Reflexion und Korrektur des Leserverhaltens zitiert, sie zum ›göttlichen Strafgericht‹ über den seltsamen Juden deklarieren, entwikkelt der Text das Geschehen aus den Lebensumständen der Figuren und weist in einer diskursiven Passage explizit auf die natürlichen Voraussetzungen hin. Die Begebenheiten bleiben nämlich, wie es heißt, so lange »wunderlich«, bis man »jene großen verbreiteten Kräfte der Natur wird ergründet haben, in denen unser Leben schwimmt« und das Band zu ihnen »wird freundlich binden und lösen können […].«47 Inspirationsmoment dieses Bildes könnten erste Kenntnisse von Faradays Feldtheorie sein, die die Übertragung elektrischer Wirkung erklärt.48 Denkbar erschiene von daher, daß der naturimmanente Wirkungszusammenhang, der für Stifter ganz selbstverständlich alles menschliche Leben fundiert, mit Hilfe der Physik transparent und vor allem gestaltbar wird. Liest man die Erzählung unter diesem Aspekt, dann entdeckt man die motivische Dichte im Aufbau physischer Spannung bei Ditha, die − quasi naturbelassen lebend und insofern ›Empirikerin‹ − schließlich unwillkürlich die beiden (jeweils auch auf innere Voraussetzungen ›antwortenden‹) Blitze induziert.49

45

A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., 319. Zu Datierung und Versuch J. Lemmerich, Michael Faraday 1791–1867. Erforscher der Elektrizität, München 1991, 151 f. 47 A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., 318. 48 Während das 18. Jahrhundert davon ausging, daß Wirkungen im Raum auf der Kontaktberührung von Körpern bzw. Fluida oder auf den mechanischen Eigenschaften eines Äthers basierten (Fernwirkungstheorie), setzt Faraday ein kräfteleitendes Medium voraus, das durch Zustandsänderung des Raumes Wirkungen vermittelt (Nahwirkungstheorie). Die Einführung elektrischer und magnetischer ›Felder‹, die bereits die Entdekkung der elektromagnetischen Induktion begleitet, macht die Äthertheorie überflüssig und gibt zugleich eine natürliche Erklärung für die energetische Interaktion von Phänomenen. An die Stelle diskreter Körper treten die in einem räumlichen Wirkungsfeld verbundenen Kraftkomponenten; Wirkungen unterliegen nicht mehr der unmittelbaren Kausalität, ohne daß es zur Erklärung spiritueller Impulse bedarf. 49 Näheres in M. Ritzer, Von Suppenwürfeln, Induktionsstrom und dem Äquivalent der Kräfte. Zum Kulturwert der Naturwissenschaft am Beispiel Adalbert Stifters, in: KulturPoetik Bd. 2, Heft 1 (2002), 44–67. 46

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Dichterische Freiheit ist hier wie überall im Umgang mit den Forschungsergebnissen zu konzedieren − Literatur eilt dem aktuellen Wissensstand im Blick auf den potentiellen Weltanschauungswert voraus. Stifter expliziert die weltanschaulichen Veränderungen, die er sich von jener wissenschaftlichen ›Ergründung der Naturkräfte‹ verspricht, in seiner programmatisch zu lesenden Einleitung. »Es gibt Menschen«, heißt es dort zunächst im Rückblick auf das traditionelle Weltbild, »auf welche eine solche Reihe Ungemach aus heiterem Himmel fällt«, daß sie endlich resignieren, »so wie es auch andere gibt, die das Glück mit solch ausgesuchtem Eigensinne heimsucht, daß es scheint, als kehrten sich […] die Naturgesetze um […].« Der Betrachter kann sich der Betrachter kaum des Eindrucks von Absichtlichkeit erwehren; dazu kommt die Irritation über die Gleichgültigkeit der Natur, die hier »Segen«, dort »das Entsetzliche« bewirkt. Man sucht also nach Erklärungen, indem man sich anthropomorphe Bilder von den Geschehnissen macht: »Uns ist, als lange ein unsichtbarer Arm aus der Wolke, und thue« das Unbegreifliche, oder wir erstarren vor der scheinbaren »Unvernunft des Seins«. Auf diesem Weg kam die Antike »zu den Begriffen des Fatums«, also der Hypostasierung blinder Notwendigkeiten – Büchners berühmter »Fatalismus«-Brief belegt die Aktualität dieser Anschauung –,50 »wir zu dem mildernden des Schicksals«, das den Ereignissen Intentionalität unterstellt.51 Was stattdessen wahrzunehmen wäre, signalisieren bereits Formulierungen wie »Unschuld« der Naturgesetze; Stifters Einleitung führt über die Kritik an subjektiven Vorstellungen zur Frage nach den objektiven Strukturen der Wirklichkeit: »Aber eigentlich mag es weder ein Fatum geben […], noch auch wird das Einzelne auf uns gesendet; sondern eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls […] – die Kette der Ursachen und Wirkungen – und in das Haupt des Menschen ward die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft […]. Und […] können wir die Zählung überschauen, dann wird für uns kein Zufall mehr erscheinen, sondern Folgen, kein Unglück mehr, sondern nur Verschulden; denn die Lücken, die jetzt sind, erzeugen das Unerwartete, und der Mißbrauch das Unglückselige.«52

Objektiv betrachtet ist das Geschehende weder intentional noch kontingent, sondern steht in eigenen Zusammenhängen. Stifter nennt den Kausalnexus als Strukturprinzip und signalisiert zugleich durch die Poetizität des Bildes die Positivität dieses Wirkungskonnexes, der, obgleich ohne moralische Komponente, doch die irritierende Kluft zwischen Mensch und Geschehen überbrückt 50

G. Büchner, Werke und Briefe, hist.-krit. Ausgabe von W. R. Lehmann, Darmstadt 1980, 256. 51 Ebd., 237. 52 Ebd., 238.

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und Verantwortung zuläßt. Der Nexus fungiert daher als Sinnfigur: Wer ihn wahrzunehmen versteht, erkennt − exemplarisch in der fiktiven Biographie − Wirkungszusammenhänge (»Folgen«) und Zurechenbares (»Verschulden«); im Progreß dieser Erkenntnis verschwindet daher die Angst vor dem Leben in einer nur-natürlichen Welt. Die Lehre, die der Text damit ex negativo vermittelt, liegt im Appell zur Kultivierung der inneren wie der äußeren Natur. Daß Abdias und seine Tochter über Abstammung, Milieu, Erziehung, Lebensgestaltung und Erlebnisformen bis in die Attraktion der beiden Blitze hinein von den Folgen der Umstände wie ihrer Handlungen eingeholt werden, belegt die durchgängige Kausalität der Lebenswelt. Dieser Wirkung verfallen beide allerdings nur, weil ihnen die Voraussetzungen für die kulturelle Steuerung der natürlichen Bedingungen fehlen. Die Erzählung plädiert also für eine reflektierte Lebensgestaltung, die ganz selbstverständlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse einbezieht. Bezugspunkt dieser Gestaltbarkeit ist das (bereits bei Liebig akzentuierte) System-Modell der Natur: die Systematik der Wirkungen, die auf einer nicht ›mechanistischen‹, sondern Interdependenz meinenden Entsprechung von Ursache und Wirkung basiert − Gottfried Keller spricht von ›Folgerichtigkeit‹ −, wie sie als Idee auch Robert Mayers zeitgleicher Energieerhaltungssatz impliziert.53 Mayer betont daher im Materialismusstreit der 50er Jahre noch einmal

53

Nur hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den paradigmatischen Naturbegriff in Mayers Satz von der Erhaltung der Kraft, erstmals publiziert in der am 31. Mai 1842 in Liebigs Annalen der Chemie und Pharmacie. Mayers Schrift Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur zielt allgemein auf die Beantwortung der Frage, »was wir unter ›Kräften‹ zu verstehen haben und wie sich solche untereinander gestalten […].« Im Trend der Zeit will er der ›Kraft‹ alles Immaterielle nehmen und sie, als reale Bedingung, in die Wirklichkeit zurückführen. Nicht an der ›Materie‹, sondern dem ›Zusammenhang‹ der Naturphänomene interessiert, geht es Mayer dabei einzig um die Bestimmung der zwischen den Erscheinungen stattfindenden Wechselwirkungen; jeden »letzten Grund« der Dinge klammert er als ›naturphilosophische‹ Spekulation aus (52). Seine Äquivalenztheorie besagt nicht mehr, als daß Kräftepotentiale (wie Wärme und Arbeit) ineinander umwandelbar sind und dabei die ›lebendige Kraft‹ oder Bewegungsenergie gleichbleibt. Mayers Energieerhaltungssatz enthält gleichwohl zwei bewußtseinsgeschichtlich relevante Aspekte. Der erste ist der Funktionszusammenhang der Kraft: Mayers wirkursächliche Bestimmung beende, so Liebig, den kulturell »verhängnißvollen Irrthum« über eine Ursprünglichkeit der Kraft, die »aus Nichts« erzeugbar sei (J. von Liebig, Chemische Briefe, a. a. O., 116). Diesen Weltanschauungswert hat Mayer im Blick, wenn er die beiden Grundsätze, »ex nihilo nil fit« und »nil fit ad nihilum«, zu Bezugspunkten seiner Forschung erklärt (47). Dem folgt, als zweiter Aspekt, die Korrelierbarkeit unterschiedlicher Wirklichkeitsbereichen. Mit der »Anerkennung eines ursächlichen Zusammenhangs« zwischen unterschiedlichen Energieerscheinungen – mechanische Bewegung, Wärme, Elektrizität – entfallen alle Spekulationen über eine spezifische geistige oder vitale Kraft, die sogenannten »Imponderabilien« (78), jedoch

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eigens diese »Harmonie« der Funktionen als Kernpunkt seines Konzepts,54 das sich hierin radikal vom erneut mechanistischen Substanz-Denken des naturwissenschaftlichen Materialismus unterscheide.

Vom System zur Substanz Die Autoren, die Mitte bis Ende der 40er Jahre im Systembegriff der Natur die Grundlage für ein postidealistisches Weltbild wie die Neuorganisation der Gesellschaft fanden, konzipieren – bestätigt durch die Erfahrungen der Revolutionsjahre 1848/49 – in den frühen 50er Jahren Werke mit dezidiert pädagogischem Anspruch. So schreibt Stifter seinen Nachsommer (1857) formal in der Tradition des klassisch-romantischen Bildungsromans, aber mit zeitgemäß neuem Programm: Der Held ist nun nicht mehr Künstler, sondern ein »Freund der Wirklichkeit der Dinge« und als solcher prädestiniert zum »Wissenschaftler im Allgemeinen«55. Auch Gottfried Kellers Grüner Heinrich (1854–56) gehört in diese Gruppe, obgleich der Roman eher als ›Bildungstragödie‹ (Hermann Hettner) zu bezeichnen wäre. Zum Scheitern führt, daß der Held – ein Künstler mit romantisch-idealistischem Kunstbegriff und entsprechend religiös gefärbtem Weltbild – dieses subjektivistische Weltverhältnis auch mit Hilfe der Naturwissenschaft nur partiell überwindet. Nicht ganz schuldlos ist daran freilich die veränderte Form der Wissenschaft, der Heinrich – in den Fußstapfen seines 1848/49 in Heidelberg bei Feuerbach, Henle und Moleschott studierenden Autors – in den Hörsälen begegnet. Kein Werk der deutschsprachigen Literatur vermittelt ein klareres Bild vom Wandel, der in den frühen 50er Jahren innerhalb des naturwissenschaftlichen Weltbilds stattfindet und die kurze, aber kulturell konstruktive Phase des systematischen Denkens abrupt beendet. Heinrichs innere Wende, das Studium der Natur und die Begegnung mit der Wissenschaft setzen an einem bezeichnenden Punkt des Romans an: der Stagnation des Künstlers, dessen Weltverlust sich in künstlerischem Gegenstandsverlust manifestiert. Seine Malereien seien, meint ein Freund ironisch zum bewußtseinsgeschichtlichen Moment der seelische Krise, »Schraffierun-

ohne daß die Lebenserscheinungen in Abhängigkeit von materiellen Ursachen gerieten. Denn der (reversible) Kräfteaustausch basiert auf Gleichwertigkeit; Mayer sieht in der Äquivalenz der Kräfte (»causa aequat effectum«) daher durchaus eine, induktiv gewonnene, Leitfigur seiner Forschung (44). Zitiert nach J. R. Mayer, Die Mechanik der Wärme, Sämtliche Schriften, hrsg. von P. Münzenmayer, Heilbronn 1978. 54 Ebd., 348. 55 A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 4.1, 19 und 29.

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gen an sich, in der vollkommensten Freiheit des Schönen schwebend«; wie Gott die Welt »aus Nichts« geschaffen habe, so kulminiere Kunst darin, »daß wir uns aus diesem materiellen Geschwür wieder ins Nichts zurückabstrahieren […].«56 Diese Abstraktionstendenz resultiert freilich nicht nur aus dem (älteren) ›spiritualistischen‹ Welt- und Kunstbegriff, sondern auch aus der (neueren) Angst vor dem Verlust jener geistigen Priorität, wie sie Büchners Werk demonstrierte. Im Roman zeigt jener Freund, ein zwischen Sinnlichkeitseuphorie und -phobie pendelnder Skeptiker und Atheist, was bleibt, wenn das Individuum seine Ideale als Illusionen durchschaut. Rettung bietet die Gipsfigur des ›Borghesischen Fechters‹, die Heinrich in einem Winkel seines Ateliers entdeckt. »Alles war Leben« in diesem durch »Sonne und Wind und Wetter« gereiften Krieger; »Selbsterhaltung und Wirkung nach außen« vereinigten sich im Muskelspiel dieses Körpers, in dem »das Leben recht eigentlich durch sich selbst um sich selber kämpfte […].«57 Doch als Heinrich sich an die Nachbildung der Figur macht, entgleitet ihm der Gegenstand, weil er »nicht die mindeste Kenntnis von dem besaß, was unter der Haut wirkte […].«58 Phantasie mischt sich ein, wenn er Muskeln ästhetisch zu erfassen sucht, »deren Namen und Bedeutung er nicht kannte […].« Es bedarf des Wissens, um der Haltlosigkeit zu entkommen, und Heinrich entschließt sich, die Leibeserscheinungen »in ihrem Grund und Wesen«59 zu erforschen. Es ist bezeichnend, daß der Weg zur Wirklichkeit über die Erkundung des Körpergeschehens führt. Noch in Kellers Jugendlyrik, die in zeittypischer ›Zerrissenheit‹ keine Mitte fand zwischen den Bedürfnissen des Gemüts und der Wirklichkeitserfahrung, erschien die Physis als Erlebniszentrum jenes »materiellen Geschwürs«, welches das Ich als bedrohlich, chaotisch, zudringlich floh – als Ort jenes ›Es‹, das nicht nur bei Schopenhauer, sondern auch bei den Autoren der Restaurationszeit als eigendynamisch heteronomer Trieb begegnet. Nun aber beginnt sich der Körper in seiner Wirklichkeit zu erschließen, und zwar mit Hilfe der Wissenschaft: Kellers Romanheld erkennt, wie gerade das Studium der Physiologie zur Überwindung seiner Krise beitragen kann. Als Heinrich die Universität betritt, um sich »zu äußerer plastischer Verwendung einige gute Kenntnisse zu holen«, ist er schon von der ersten Vorlesung so angetan, daß er »seinen Zweck […] vergaß und allein gespannt war auf die zuströmende Erfahrung […].«60

56

G. Keller, Der grüne Heinrich, Erste Fassung, hrsg. von Th. Böning / G. Kaiser, Frankfurt / M. 1985, 562. 57 Ebd., 662 f. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd., 668.

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Hinter Heinrichs wissenschaftlichem Bildungserlebnis stehen Kellers eigene Erfahrungen im Heidelberger Winterhalbjahr 1848/49. Er fühle sich, berichtet der Student, seit seinem Hiersein »in eine neue Bahn geworfen«, an deren Ziel »eine klare, heitere Aussicht zu hoffen ist«. Er nimmt teil an Feuerbachs öffentlichen Vorträgen über das Wesen der Religion,61 hört Philosophiegeschichte bei Hermann Hettner, schwärmt aber vor allem von »Henles Vorlesung über Anthropologie«: »Der klare, schöne Vortrag und die philosophische Auffassung fesselten mich, ich ging nun alle Stunden und gewann zum ersten Mal ein deutliches Bild des physischen Menschen, ziemlich von der Höhe des jetzigen wissenschaftlichen Standpunktes. Besonders das Nervensystem behandelte Henle so geistreich und tief und anregend, daß die gewonnenen Einsichten die beste Grundlage oder vielmehr Einleitung zu dem philosophischen Treiben abgaben.«62

Für Keller gewinnen die physiologischen Studien Weltanschauungswert, und dies entspricht durchaus der Absicht des Lehrers. Jakob Henle, Anatom und Physiologe, veröffentlicht seinen Heidelberger Vorlesungszyklus später unter dem Titel Anthropologische Vorträge, um den Bildungsanspruch der Untersuchungen zu betonen.63 Im Roman expliziert Keller diese Bildungsmomente der Anthropologie. Denn erstaunt lernt Heinrich eine »Zweckmäßigkeit in den Einzelheiten des tierischen Organismus« kennen, die ihm »wunderbar« vorkommt, weil er Ordnungsformen nur als Produkte des Geistes zu denken vermag. Gerade diese Frage nach der prima causa aber klammert der (fiktive) Wissenschaftler aus. Mit den Inhalten vermittelt er die Unvereingenommenheit der Wissenschaft und hält sie als Prinzip der Naturerkenntnis präsent. In einer Neutralität, die 61

Näheres zu Kellers Begegnung mit Feuerbach in M. Ritzer, Physiologische Anthropologien. Zur Relation von Philosophie und Naturwissenschaft um 1850, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000, 113–140. 62 G. Keller, Gesammelte Briefe, 4 (5) Bde, hrsg. von C. Helbling, Bern 1950–54, Bd. 1, 457. 63 J. Henle, Anthropologische Vorträge, Zwei Hefte, Braunschweig 1876. Die Vorträge gehen laut Henle auf die »akademischen Vorlesungen über Anthropologie zurück, die ich in Heidelberg in den Jahren 1847 bis 1852, also vor der Zeit, da die Naturwissenschaften populär zu werden begannen, einem aus allen Facultäten zusammengesetzten Auditorium vortrug […].« (Bd. 1, V). Für die Veröffentlichung sind die Vorträge allerdings wissenschaftlich auf den neusten Stand gebracht (vgl. die Rekurse auf Darwin) und bezeugen von daher auch die wachsende Aversion Henles gegen den Materialismus als »philosophisches Bekenntniss unserer Zeit« (Bd. 2, 133). Hinweise auf die ursprüngliche Einteilung der Vorträge finden sich in F. Merkel, Jacob Henle. Ein deutsches Gelehrtenleben, Braunschweig 1891.

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Heinrich imponiert, beschränkt sich der »kluge Lehrer« auf die Erfahrung: Nachdem er die Trefflichkeit der Dinge geschildert hatte, »ließ er sie unvermerkt in sich selbst ruhen und so vollkommen ineinander aufgehen, daß die ausschweifendsten Schöpfergedanken […] in den geschlossenen Kreis der Tatsachen gebannt blieben […].«64 Selbst wo Forschungslücken zu verzeichnen waren, verband er damit den Hinweis, daß »in der Grenze des menschlichen Wahrnehmungsvermögens keineswegs eine Grenze der Folgerichtigkeit und Einheit der Natur liege […].«65 Damit treten auch in Heinrich »die willkürlichen Voraussetzungen«66 zurück; in dem Maß, wie sich seine Kenntnis der physiologischen Prozesse vertieft, entdeckt er in der so strukturierten Natur das »einzig mögliche«, da wirklich bestehende »Ideal«67. Dieser ›Idealität‹ der Wirklichkeit − Voraussetzung für die programmatische Phase des Realismus zu Beginn der 50er Jahre, weil nur eine qualifizierte Wirklichkeit als Bezugspunkt für Kunst, Ethik, Gesellschaftstheorie und Politik taugt – korrespondiert die Ausgewogenheit im wissenschaftlichen Bild des Menschen. So begegnet Heinrich in den Vorlesungen einer strikt objektiven, aber im Gegensatz zu Büchner nicht mehr reduktionistischen Analyse der menschlichen Natur. Der Blick auf Henles Schriften bestätigt diesen Befund: Man findet dort zunächst die explizite Beschränkung auf »die Erforschung dessen, was […] der Erforschung zugänglich ist […].«68 Von einem Geist, so Henle, habe man ohne Körper keine Kenntnis, ›Seele‹ wäre nur die »hypothetische Ursache der Functionen des Erkennens, Fühlens und Wollens, die wir erfahrungsmäßig in uns entdecken«69; positives Wissen sind also die natürliche Genese, die Materialität,70 die physische Lokalisierbarkeit (Zentralnervensystem) und die Körpergebundenheit aller mental-psychischen Funktionen. Doch führt diese Priorität des Körpers nicht zu einer Verabsolutierung der physischen Bedingungen. Vielmehr wäre für Henle nun ausgehend von den Körperfunktionen Kenntnis über die mit ihnen verbundenen ›Seelenthätigkeiten‹ (Wollen, Empfinden, Vorstellen) zu gewinnen. Gerade hierin sieht der Anatom und Physiologe seine Aufgabe. »Es scheint jetzt an der Zeit«, heißt es in der nachgelassenen Einleitung, »daß auch die 64

G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O., 668 f. Ebd. 66 Ebd., 574 f. 67 Ebd., 671. 68 J. Henle, Anthropologische Vorträge, a. a. O., Heft 1, 4 69 Ebd., 37. 70 »Wir Physiologen schliessen […]: da der Wein den Willen alterieren […] kann, so halten wir dafür, daß der Wille Lebensäusserung einer Substanz sein, die […] chemisch veränderlich, also materiell sein muss.« (J. Henle, Anthropologische Vorträge, a. a. O., Heft 1, 100). 65

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Physiologie mit Antheil nehme an den großen Bewegungen […].«71 In der Vergangenheit habe man von der Philosophie verlangt, daß sie »das Räthsel der Verbindung von Geist und Körper löse […].«72 Doch sei in letzter Zeit das »concrete Wissen« vom Menschen derart angewachsen, daß philosophische Ideen der Persönlichkeit nicht länger zu halten sind. So wird es zur Zielsetzung einer wissenschaftlichen Anthropologie, ›den Menschen‹ auf physiologischer Basis, aber doch in der Ganzheit seiner Lebensfunktionen zu bestimmen. Der neuralgische Punkt der modernen Anthropologie liegt für Henle noch immer in der ›Verbindung von Körper und Geist‹, weil sich daran die Fragen nach Bewußtsein und Willensfreiheit knüpfen. In seinen anthropologischen Vorträgen behandelt er daher bevorzugt Gegenstände aus dem Zwischenbereich von Seele und ›tierischer Natur‹, wie die Grazie, den Seufzer, den Affekt, Geschmack und Gewissen oder auch den Willen. All diese Ausdrucksformen sind körperlich bedingt; mit Nachdruck verweist Henle seine Zuhörerschaft auf die physischen Dependenz aller mental-psychischen Funktionen, wie im Vortrag Vom Willen: »Der Mensch liebt es, sich mit der Macht des Willens zu brüsten. Wir fördern die Selbsterkenntniss, wie die Billigkeit in der Beurtheilung Anderer, wenn wir uns auch der Ohnmacht des Willens bewusst werden. Ohnmächtig ist er, insoweit er von den körperlichen Organen abhängt, die bald den Gehorsam versagen, bald in übereifriger Dienstfertigkeit ihm zuvorkommen, [wie hinsichtlich]der Wechselwirkung zwischen den Organen des Denkens und den sinnlichen Energien.«73

Doch Henle betont diese »hinreichend ausgebeutete Erfahrung« nur, um einer »unphysiologischen Moralphilosophie entgegenzutreten […].«74 Physiologie markiert also nicht das Ende, sondern die neue Basis der Ethik. Voraussetzung dafür ist freilich, wie bei Stifter, die Relevanz der Steuerungsfunktionen, und gerade diese sieht Henle gegeben. Für den Physiologen gehört zum Kreis der wahrnehmbaren, da »wirkenden« Phänomene auch jene steuernden Aktivitäten, die er mit Rücksicht auf die traditionellen Begriffe als ›Wille‹ oder ›Seele‹ charakterisiert. So erläutert er etwa am Beispiel des ›Seufzers‹ die parallele Funktion für die seelische Ökonomie und für den Stoffwechsel, der per se biochemischen Gesetzen gehorcht. Je nach der Erwartungshaltung, die das Publikum mit der behandelten Lebensäußerung verbindet, akzentuiert er stärker deren körperliche oder seelische Seite. So geht es beim Seufzer primär um die

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Die Einleitung aus dem Nachlaß ist abgedruckt in F. Merkel, Jacob Henle, a. a. O., 386–398. 72 Ebd. 73 J. Henle, Anthropologische Vorträge, a. a. O., Heft 1, 57 f. 74 Ebd., 58.

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Erhellung des physischen Effekts, beim Affekt dagegen um die seelische, ja »sittliche Bedeutung« dieser als unwillkürlich geltenden Ausdrucksform. In jedem Fall erschließt die Kenntnis des »Ursprungs und Wesens […] an Hand der Physiologie« die zugrunde liegende »Beziehung zwischen Seele und Leib […].«75 Das Strukturmodell der Henleschen Anthropologie bildet der wissenschaftliche Systembegriff der 40er Jahre. Kernpunkt seiner physiologischen Analysen ist daher die vorgängige »Wechselwirkung« zwischen physischen und psychischen Phänomenen. Auf der Basis dieser Wechselwirkung wird die Kontrolle der körperlichen durch mentale Funktionen nicht nur möglich, sondern in der Praxis gefordert. In Bildern des Ordnens oder Leitens (Klavierspieler, Feldherr) vermittelt Henle seinen Zuhörern diese innerhalb der Person statthabende Steuerung. Trotz begrifflicher Differenzierung der Funktionen fehlt dabei jeder hierarchische Aspekt, da, wie es zur Grazie heißt, »unser eigener Geist unsere eigene Materie lenkt […].« Physiologisch gesehen ist es ja die alle Funktionen begründende Nerventätigkeit – ein »Proteus«, heißt es im Grünen Heinrich, »bald Gesicht, bald Gehör […], jetzt Bewegung und jetzt Gedanke«76 –, »durch welche die Seele ihre Intentionen in den Formen des eigenen Körpers ausprägt […].«77 Diese Ausprägung wird zur Angelegenheit individueller wie allgemeiner Kultur. Was den Menschen prinzipiell »zum Lenker seines Schicksals erhebt«78, ist die Fähigkeit, seine Impulse zum Gegenstand des Denkens und Handelns zu machen. Es sind diese konstruktiven Momente der Henleschen Anthropologie, die den Dichter Keller inspirieren und seinen Romanhelden für den ›Lehrer‹ einnehmen. Im Bildungskapitel des Grünen Heinrich umkreisen Reflexionen immer wieder den Kulturwert dieses wissenschaftlichen Modells. So wird gerade die wissenschaftlich geklärte Interdependenz von Körper und Geist zum Ausgangspunkt eines pädagogisch tragfähigen Personbegriffs: »[Heinrich] wußte die verschiedenen Momente des organischen Wesens […] sich deutlich einzuprägen und so die Kunde von dem, woraus er eigentlich bestand, wodurch er atmete und lebte, in dem edelsten Teile desselben selbst aufzubewahren […], ein Vorgang, dessen Natürlichkeit jetzt endlich wohl so einleuchtend werden dürfte, daß er zum Gegenstande allgemeinster Erziehung gemacht wird. […] Denn der Geist, welchen die Materie die Kraft hat, in sich zu halten, hat seinerseits die Kraft, in seinen Organen dieselbe zu modifizieren und zu veredeln, alles mit ›natürlichen‹ Dingen.«79

75 76 77 78 79

Ebd., 59 f. G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O., 677. J. Henle, Anthropologische Vorträge, a. a. O., Heft 1, 18. Ebd., 91. G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O., 671 ff.

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Eingelagert in die Rekapitulation der Vorlesungen sind Bilder, in denen sich Heinrich seinerseits den Wirkungszusammenhang von Geist und Körper, Innen und Außen vor Augen zu führen sucht. Dies sind zum Teil, wie bei Henle, Motive des Ordnens und Lenkens (Reiter, Steuermann), die auch die Beherrschbarkeit der äußeren Natur oder »Materie« (Erdboden, Wasser) einbeziehen.80 Zum Teil entstehen Kreisstrukturen, indem die gewachsenen Steuerungsfunktionen modifizierend auf das Körperliche zurückwirken. (Beispiel dafür wäre etwa die Wirkungskette von Lichtreiz, Reifung des Sehnervs, Ausbildung des Auges, Beobachtung, Bewahrung der Erfahrung im Bewußtsein bis zu dessen generativer Akkumulierung.) In jedem Fall bildet die natürliche Bedingtheit Basis und Bezugspunkt menschlichen Denkens und Handelns, das sich dann im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu behaupten hat. Diese Ausgewogenheit scheint nun aber, wie der Fortgang des Unterrichts zeigt, nicht haltbar − ein Bruch, in dem der Grüne Heinrich die für die Genese des Materialismus entscheidende Divergenz der anthropologischen Konzeptionen reflektiert. Den Impuls bildet auch hier die persönliche Erfahrung: Keller besucht in Heidelberg nicht nur die ›berühmten‹ Vorlesungen Henles, sondern auch die eines weniger bekannten Privatdozenten der Physiologie namens Jacob Moleschott, der gleichfalls über Anthropologie liest,81 und er erkennt, mit der Sensibilität des Dichters, die folgenreiche Neuakzentuierung in dessen Argumentation. So nimmt er beide Physiologen in der einen Romanfigur des ›Lehrers‹ zusammen, um die fundamentale Bedeutung der Anthropologie und zugleich die problematischen Veränderungen im Wissenschaftsmodell zu veranschaulichen. Jacob Moleschott hatte in Heidelberg unter anderem bei Henle studiert und unter dessen Anleitung 1845 seine Dissertation geschrieben. Doch er grenzt sich sehr schnell gegen jede Form von Naturwissenschaft ab, die ihm nicht radikal genug die Konsequenzen aus der Einsicht in die Naturbedingtheit aller Lebensfunktionen zieht. Wenige Jahre nach seiner Heidelberger Habilitation in Anatomie und Physiologie (1847) veröffentlicht Moleschott kurz hintereinander vier Werke, die diese Konsequenzen zunehmend provokativer formulieren: Die Physiologie der Nahrungsmittel (1850) klärt in wissenschaftlicher Form die Bedeutung der Diätetik im Gesamtkomplex der Ernährung [= Gewebebildung durch das Nahrungsstoffe assimilierende Blut]. Die in Ter-

80

Ebd., 584. Wie Henles gingen Moleschotts »anthropologischen Vorlesungen […] darauf aus, eine gebildete, aber nicht durch Vorstudien vorbereitete Zuhörerschaft […] aus allen Facultäten, […] in das Wesen des Menschen einzuführen.« (J. Moleschott, Für meine Freunde. Lebens-Erinnerungen, Gießen 1901, 249 f.). 81

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minologie wie Praxisbezug popularisierte Version aus dem gleichen Jahr Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk zieht aus diesen Erkenntnissen bereits die weltanschauliche Konsequenz, indem sie den Menschen »bedingt« zeigt »durch die Stoffe der Nahrung« und »dieses Begreifen […] dem Volke nahe legen«82 will. Die als »Handbuch« geschriebene Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren (1851) erweitert den Gegenstandsbereich, indem sie die gleichen Zusammenhänge im Gesamtbereich der Natur nachweist. Damit erhebt Moleschott die Stoffwechselphysiologie zur Grundlagenforschung und versieht das fertige Werk mit einer entsprechend programmatischen Einleitung. Als Liebig Moleschott wegen der Formel »ohne Phosphor kein Gedanke« angreift, veröffentlicht dieser 1852 den Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe. Moleschott zieht darin noch einmal gegen jeglichen Idealismus in der Forschung zu Felde, verstärkt im gleichen Zug aber die materielle Fundierung seines Realitätsbegriffs und baut die Schrift damit zu einem weltanschaulichen Manifest aus.83 Es geht um die totale Wissenschaft vom Leben. In der »physiologischen Chemie«, die Moleschott schon in der Physiologie des Stoffwechsels zur Grundlage eines »neuen wissenschaftlichen Gebäudes« erklärt,84 konvergieren die beiden Forschungsbereiche, die, wie Henle sagt, die Schranke zwischen Leben und anorganischer Natur fallen ließen: Die Stoffwechselphysiologie demonstriert mit den Austauschprozessen zwischen Körper und Umwelt die »einheitliche Naturanschauung«, wie sie in anderer Form bereits Mayers Krafterhaltungssatz erwies;85 die Stoffwechselchemie untersucht Zusammensetzung und Wirkung des innen wie außen Vorhandenen und stellt die Einheit damit auf eine solide »stoffliche Grundlage«. Mit dieser stofflichen Begründung geht Moleschott nun hinter Henles (wie Mayers) funktionelle Einheit der Funktionen auf deren materielle Ursache zurück – Henle vergesse, so Moleschott, die Bedingtheit durch die »Mischung«86 –, und er tut dies mit einer Entschiedenheit, die ihn

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J. Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk, Erlangen 1850, 1 und 3. J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig’s Chemische Briefe, Mainz 1852, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus, a. a. O., Bd. 1, 25–341. 84 J. Moleschott, Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren. Ein Handbuch für Naturforscher, Landwirthe und Aerzte, Erlangen 1851, IIIf. 85 Diese Parallele wird von Moleschott wie Büchner zunächst übersehen. Erst die späteren Auflagen des Kreislaufs enthalten ein Kapitel zu dem von Mayer entdeckten »Kraftwechsel«, der »auf demselben Boden einheitlicher Naturanschauung [wurzelt] […].« (J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens (1852), 2 Bde, Gießen 51887, 259 und ausführlich: 504 ff.). 86 Moleschott am 11. 11. 1850 an Feuerbach, in: L. Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Bd. 19: Briefwechsel III (1845–1852), Berlin 1993, 250. 83

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für Friedrich Albert Lange zum »eigentlichen Urheber unserer materialistischen Bewegung«87 macht. Moleschott selbst bestätigt diese Tendenz zum Materialismus, wenn er feststellt, daß das Bekenntnis zur »stofflichen Grundlage« nicht nur alle »Lebensgeister und Zauberkräfte« aus der Wissenschaft vertreibe, sondern zugleich das »beste Siegel« für die »allgemeinen Lehrsätze« liefere, »welche Helvetius, Diderot und La Mettrie aus minder vollkommenen Beobachtungen schöpften […].«88 Dabei geht es auch bei Moleschott nur noch einmal um den seit den 30er Jahren postulierten Aspekt der Immanenz. Es gilt, die Naturdinge konsequent »aus sich selbst zu erklären«89 und so idealistische Relikte, wie ›Lebensgeister‹ und ›Imponderabilien‹, zu beseitigen. Damit schließt sich der »Riß zwischen Natur und Geist«90, und die Natur wird in der ihr eigenen Gesetzmäßigkeit erkennbar. Moleschotts Einleitung zur Physiologie wiederholt daher die bereits für die 40er Jahre typische Entmythologisierung und Teleologiekritik, um die Immanenz der Strukturmotive zu proklamieren: »Die Kraft ist kein […] von der stofflichen Grundlage getrenntes Wesen der Dinge. Sie ist des Stoffes unzertrennliche, ihm von Ewigkeit innewohnende Eigenschaft.«91 Natur lebt, wie es im Kreislauf heißt, »in Stoff und Form«92. Dies meint nichts anderes, als daß die Faktoren, Strukturen und Zwecke der Prozesse – die in Theologie und spekulativer Naturphilosophie ideell und damit extern begründet worden waren – ebenso ›natürlich‹ sind wie der »Stoff«, auf den Moleschott die Natur beschränkt sah. Indem er nun ihre Qualität erschließt, gibt er ihr Wert und Würde zurück und erstellt das Bild einer ganzheitlichen, d. h. Empirie und Sinndimension umgreifenden Wirklichkeit. Diese Synthese von ›Natur‹ und ›Geist‹ ist, wie gesagt, charakteristisch für den Wirklichkeitsbegriff der Jahrhundertmitte. Sie wird bei Moleschott nun aber nicht mehr systematisch, also mit der Wechselwirkung und Gesetzmäßigkeit der Prozesse begründet, sondern substantiell. So führt die weltanschaulich intendierte Synthese zu angestrengten Wortkombinationen wie ›kraftbegabte Materie‹ oder »kraftbegabter Stoff« (bei Ludwig Büchner)93, die, ungeachtet ihrer anthropomorphen Attributierung, einfache Substanzvorstellungen zum Ausdruck bringen. Das aber heißt auch: Die Begriffe ›Materie‹ bzw. ›Stoff‹ 87

F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), 2 Bde, hrsg. von A. Schmidt, Leipzig 1907, Bd. 2, 685. 88 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 112 89 Ebd., 176. 90 Ebd., 260. 91 J. Moleschott, Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren, a. a. O., Xf. 92 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 29 f. 93 L. Büchner, Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über den Materialismus und über die real-philosophischen Fragen der Gegenwart, Halle 1874, 286.

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(in Büchners populärphilosophischen Werk Kraft und Stoff) implizieren ein Ursachendenken, das auf eklatante Weise hinter den positivistischen Wissenschaftsbegriff zurückfällt. Auguste Comte hatte ja, gerade im Blick auf die historische Überwindung von Theologie und Metaphysik, den Verzicht auf die Bestimmung von »Ursachen« und die Beschränkung auf die »Erforschung von Gesetzen« in den Relationen zwischen den Phänomenen gefordert.94 Indem Moleschotts Bestimmungsversuche sich dieser Einschränkung auf das ›Positive‹ entziehen, reaktivieren sie anachronistische Argumentationsweisen. So warnt, neben anderen, Henle vor einer neuen materialistischen Metaphysik: Die nun im Raum aufsteigende »Substanz« sei nicht minder »fabelhaft« bzw. »anthropomorphistisch«95 als die Götter der Religionen. »Sehen und erkennen« könne man nur »die große Ökonomie des Weltlebens«, heißt es entsprechend im Grünen Heinrich; alles weitere, liege es nun »darüber hinaus« oder darunter, »darf uns nichts angehen […].«96 Die Folgen für den Naturbegriff sind fatal: Moleschotts Hypostasierung der natürlichen Eigenschaften zu einer materieimmanenten ›Kraft‹ reaktiviert eine Vorstellung von Bewegendem und Bewegtem, die das Modell eines systematischen, durch Entsprechung von Bedingung und Folge charakterisierten Naturzusammenhangs aufhebt. Damit erscheint die für alle Naturprozesse fundamentale Kausalität nicht mehr als funktionell definierte Relation, sondern wieder als mechanistisch-deterministische Abfolge von Ursache und Wirkung. Diesem Bild entspricht, daß Moleschott den Weltanschauungswert seiner Physiologie in den »Weltgesetzen« eines mit Zitaten aus dem 18. Jahrhundert angereicherten »Glaubensbekenntnisses« zusammenfaßt, die sämtlich traditionell materialistische Theoreme aufgreifen: Substantialität und Qualität der Materie (»Ewigkeit des Stoffs«, »Kraft«), materiell begründete Einheit der Welt (»Kreislauf der Elemente«), Mechanik der Bewegung und Konstitution des Lebens aus diesem Prinzip, nolens volens Determination.97 Die Auswirkungen dieses Naturbegriffs manifestieren sich in der Anthropologie. So zielt Moleschott zwar keineswegs auf eine Destruktion der Persönlichkeit, sondern nur auf eine positive, d. h. die natürlichen Bedingungen eruierende und steuernde ›Menschenkunde‹; wie Henle möchte er die Naturwissenschaft anthropologisch in die Pflicht nehmen.98 Doch zeigt schon der Plan seiner Heidelberger Anthropologievorlesungen, daß und wie

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A. Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844), frz. / dt. hrsg. von I. Fetscher, Hamburg 1979, 27. 95 J. Henle, Anthropologische Vorträge, a. a. O., Heft 1, 24. 96 G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O., 673. 97 J. Moleschott, Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren, a. a. O., XXI. 98 J. Moleschott, Für meine Freunde, a. a. O., 249 f.

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der Rückgang auf die chemischen Bedingungen zu einer substantiellen und mechanistisch-kausalen Begründung der Lebensphänomene führt.99 Durch die Verengung des Naturbegriffs auf den ›Stoff‹ und seine Transformation gerät die »Naturgeschichte des Menschen« zu einem kontinuierlichen »Stoffwechsel«, der wiederum, im Blick auf die Unerschöpflichkeit der materiellen Grundlage, als »Kreislauf« zu begreifen ist, in dem der Mensch nur eine ephemere Form darstellt: »Derselbe Kohlenstoff und Stickstoff […] sind nacheinander Gras, Klee und Weizen, Tier und Mensch […]. Hierin liegt das natürliche Wunder des Kreislaufs […], in der Ewigkeit des Stoffs durch den Wechsel der Form, in dem Wechsel des Stoffs von Form zu Form, in dem Stoffwechsel als Urgrund des irdischen Lebens.«100

Damit reduziert sich Anthropologie auf die Analyse der ›stofflichen‹ Voraussetzungen. Ihre »concrete Bethätigung« liegt in der »Erforschung des Stoffs und stofflicher Bewegung«, und die »Physiologie des Stoffwechsels« wird zur »Angel, um welche die heutige Weltweisheit sich dreht […].«101 Mit aufklärerischem Impetus schildert Moleschott die »allmähliche Entwicklung des Stoffs« von Pflanze und Tier aufwärts bis hin zur menschlichen Organ- und Hirnfunktion. Beweisen will er damit aber nicht nur die Herkunft aus der Natur, sondern zugleich die dauerhafte Bedingtheit. »Auf dieser Grundlage sprach ich unverhohlen aus«, so Moleschott im Rückblick, »daß der Stoff den Menschen beherrscht, daß Empfindung und Gedanken nach Maß und Regel erfolgen wie das Fallen eines Steines […], daß unser Wille ursächlich gebunden ist […].«102 So reduzieren sich Bewußtsein und Willen auf »stoffliche Bewegungen«, Dasein und Handlungen auf »Naturnotwendigkeiten«, und dies zwangsläufig mit deterministischen Konsequenzen. Denn der Mensch erscheint als »Summe von Eltern und Amme, von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, von Schall und Licht, von Kost und Kleidung«. Sein Wille ist nur »die notwendige Folge aller jener Ursachen«, »gebunden an ein Naturgesetz […] wie der Planet an seine Bahn, wie die Pflanze an den Boden […].«103 »Materialismus« war damit, wie Moleschott in seiner Autobiographie be99

»In der Einleitung […] behandelte [ich] […] die Anfangsgründe der Chemie, ohne die mir’s nicht gelingen konnte, Blut und Gewebe aus den Nahrungsstoffen aufzubauen. Ebenso bildete die Darlegung der physikalischen Eigenschaften der Gewebe die Grundlage für das Studium der Verrichtungen. […] Immer galt es den Ursachen nachzuspüren, niemals das Ziel oder den Zweck zu errathen. […]. So war der Naturgeschichte des Menschen […] ein Bett gemacht.« (Ebd., 250 f.). 100 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 81. 101 J. Moleschott, Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen und Thieren, a. a. O., XXII. 102 J. Moleschott, Für meine Freunde, a. a. O.,219 f. 103 J. Moleschott, Der Kreislauf des Lebens, a. a. O., 296.

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tont, nie gemeint. Ihm sei es stets nur um die Synthese gegangen, wobei er allerdings, aus Protest gegen den traditionellen Dualismus von »Leib und Seele, […] Gott und Welt«, den bislang vernachlässigten Pol stärker akzentuiert habe. Insofern müsse er trotz seines »Bewußtseins der Zweieinigkeit […] mit dem Namen eines Materialisten vorlieb nehmen […].«104 Damit erscheint der Materialismus nur als Konsequenz des Realismus, wie sich bei Moleschott ja in der Tat allenthalben graduelle Übergange zeigten: von der Teleologiekritik zur Hypostasierung des Stoffs, vom Immanenzaspekt zum Substanzdenken, von der wissenschaftlichen »Menschenkunde« zum Determinismus. Keller demonstriert diesen Zusammenhang, indem er im Roman Henle und Moleschott überblendet, und er behält ein waches Auge für die Grenzlinie zwischen beiden Naturbegriffen. So zeichnet er im Roman das Porträt eines Anthropologen, der primär durch die Fixierung auf vermeintliche Wissenschaftlichkeit aus dem Gleichgewicht kommt. »Es war das Steckenpferd des sonst durchaus unbefangenen und duldsamen Mannes«, heißt es über die Moleschott zuzuordnenden Anthropologievorlesungen, »die Lehre vom freien Willen des Menschen überall anzugreifen«, «und er ließ sich desnahen sogar in seinen Vorlesungen an dieser Stelle jedesmal zu einer kurzen aber sehr kräftigen Demonstration gegen das Dasein der moralischen Kraft […] hinreißen in einem auf die Spitze getriebenen materialistischen Sinne. Diese Absonderlichkeit war nun zwar durchaus keine negative nihilistische Manie, sondern sie ruhte auf der ›positiven‹ Grundlage einer […] Geduldsamkeit für die Irrtümer, Schwächen und trübselig tierischen Handlungen der schlechtbestellten Menschenkinder; aber nichtsdestominder hatte sie ihren Grund in der unglücklichen Neigung vieler, selbst ausgezeichneter Naturalisten, […] die Materie auf […] ganz überflüssige Weise zu betonen.«105

Gegen diese Akzentuierung des Materiellen sträubt sich Kellers Romanheld. Heinrich hatte »schon zu viel Aufmerksamkeit und Achtung für das Leibhafte und dessen gesetzliche Macht erworben«, als daß er noch an einen »unbeschränkt freien Willen« hätte glauben können.106 Doch möchte er diese physiologischen Voraussetzungen nur die Grundlage des Lebens betrachten. Er wendet sich daher mit gleicher Entschiedenheit gegen die »Materialisten«, welche die moralische Kraft als »vermeintliches Abstraktum« naturgesetzlich erklären zu können glauben.107 104

Ebd., 221 f. G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O., 680. 106 Ebd., 680. Entsprechend selbstverständlich rekurriert Keller auf die Diätpläne aus Moleschotts Lehre der Nahrungsmittel, wenn sich sein Romanheld durch eine »kräftige Fleischbrühe« genügend Phosphor zu moralischer »Besinnung« einverleibt (G. Keller, Der grüne Heinrich, a. a. O, 730). 107 Ebd., 680. 105

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Diese Verabsolutierung des Physischen geißelt Keller schon in einem satirischen Bericht von seiner ersten Begegnung mit Moleschott.108 Gegenüber dessen Reduktionismus beharrt er stets auf der funktionellen, qualitativen und ontogenetischen Differenzierung der Lebensphänomene. Der »Professor« des Romans dagegen verliert sich in der »Begeisterung für seinen materiellen Gegenstand«: Er »konnte sich von der Vorstellung des ununterbrochenen aktiven und passiven Verhaltens des Gehirns und der Nerven, als des hervorbringenden lebendigen Ackergrundes, niemals trennen zugunsten des Hervorgebrachten«, als ob Erdscholle und Ähre nicht »zwei Dinge« wären, und diese Nivellierung führt zu unsinnigen Konsequenzen. Wer wird schon um eine Rose »herumspringen und rufen: He! dies ist nichts als Pottasche […], in den Boden damit, auf daß der unsterbliche Stoffwechsel nicht aufgehalten werde!«109 Keller scharfe Distanzierung vom Materialismus resultiert aus dem Verlust an moralischer Kompetenz, den er als Dichter nicht zu akzeptieren bereit ist. »Wo es sich um eine moralische Welt handelt«, heißt es im Roman, »hört die Materie, so fest jene an diese geschmiedet ist, auf, das Höchste zu sein, und nach dem Edleren muß man trachten«, um nicht blind für das errungene Wissen zu werden. Wissenschaftliche Erkenntnis bildet daher immer nur die Voraussetzung für die Lebenspraxis: Als Heinrich die Anthropologie-Vorlesungen verläßt, wird ihm plötzlich bewußt, »daß er bis jetzt vom Zufälligen sich habe treiben lassen, wie ein Blatt auf dem Bache«, und ein »verantwortlichkeitsschwangeres Wesen kräuselte sich tief in seinem Gemüte […].«110 Freilich findet diese Verantwortbarkeit ihre Grenzen in den realen Voraussetzungen: »Ohne einen gesättigten Grund von Erfahrung, Einsicht und bereits erfüllten Bedingungen« fehlt auch dem freien Willen die Wirkungsmöglichkeit.111 Fehlentwicklungen, ob verschuldet oder nicht, lassen sich in realistischen Texten daher − wie schon an Abdias erkennbar − nicht korrigieren. Doch bietet die Verläßlichkeit des Wirkungszusammenhangs wie für Stifter, so auch für Keller eine solide Basis. So lautet das ethische Credo im Grünen Heinrich: »Nein, gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit, Notwendigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen in ihrer 108

»Herr Moleschott las einen Abschnitt aus einem diätetischen Werke vor, das er schreibt, das Kapitel über Hunger und Durst. Es kam darauf hinaus, daß man sterben müsse, wenn man nichts mehr esse und trinke, was mich sehr frappierte. Allerlei häßliche physiologische Ausdrücke trug er, um die Pille zu vergolden, mit einer Sorte von süßem Pathos vor, welche mir […] einen abscheulichen Lachkrampf verursachte.« (G. Keller, Gesammelte Briefe, a. a. O., Bd. 2, 28). 109 Ebd., 681. 110 Ebd., 685 f. 111 Ebd., 687.

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Klarheit müssen uns reizen, das Steuer nicht fahren zu lassen […].«112 In dieser doppelten Frontstellung − gegen die ›Spiritualismus‹ der Goethezeit wie gegen den ›Materialismus‹ der Gegenwart − spiegelt Kellers Roman die Genese und das Ideal einer Lebensanschauung, die in solcher Geschlossenheit wohl nur in der Literatur zu entdecken ist. Kellers literarisches Resümee findet sich in der Erzählsammlung Die Leute von Seldwyla (1856), die er neben dem Grünen Heinrich zu schreiben beginnt, um eine »Probe von klarem und gedrängten Stile zu versuchen, wo alles moderne Reflexionswesen ausgeschlossen und eine naive plastische Darstellung vorherrschend ist […].«113 Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen Figuren, die handelnd oder leidend ein für Seldwyla typisches Schicksal zeigen, wobei der satirisch gezeichnete Ort alle intellektuellen wie praktischen Verhaltensweisen zum Prinzip erhebt, die aus der Sicht einer realistischen Ethik als verwerflich gelten, sich also für Individuum und Gemeinwesen als schädlich erweisen. Dieser Symbolwert wie auch der humoristisch-ironische Ton, mit dem der altväterlich auktoriale Erzähler die scheinbare Biederkeit der bürgerlichen Gegenwelt entlarvt, verleihen den Geschichten mitunter einen leicht irrealen Aspekt, der über die Sachhaltigkeit, etwa in den politischen Verhältnissen, täuscht.114 Nur eine einzige Erzählung aber extendiert tatsächlich den Spielraum, um Fundamentales zur Darstellung zu bringen − das ›Märchen‹ Spiegel, das Kätzchen −, und hier finden wir des Dichters letztes Wort zum Materialismus. Keller konzendiert das Märchengenre, weil der Titelheld ein sprechendes Tier ist und sein Gegenspieler der Seldwyler ›Stadthexenmeister‹ Pineiß, ein »Kann-Alles«, der flugs und ohne Bodenhaftung »hundert Ämtchen« betreibt.115 Was ihn an diesen polaren Kunstfiguren jedoch interessiert, ist die literarische Reflexion jener Kontroverse, in der die öffentliche Diskussion um den Materialismus in den Mittfünfziger Jahren kulminiert: des Disputs zwischen dem Göttinger Physiologen Rudolph Wagner, der 1854 auf dem Herbsttreffen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher zur Attacke gegen die ›Materialisten‹ unter den Wissenschaftlern bließ, und dem − Keller wohlbekannten116 − Zoologen Carl Vogt, der darauf wenige Monate später, Januar 112

Ebd., 686. G. Keller, Gesammelte Briefe, a. a. O., Bd. 3 / 1, 59. 114 Vom ›Märchenton‹ sprach Fontane in seiner Rezension, den Keller leichter treffe als den der Wirklichkeit. Th. Fontane, Aufsätze und Aufzeichnungen. Aufsätze zur Literatur, Werke und Schriften Bd. 28, hrsg. von J. Kolbe, München 1969, 297. 115 G. Keller, Die Leute von Seldwyla, hrsg. von Th. Böning, Frankfurt am Main 1989, 245. 116 Keller kannte Vogt nicht nur als Weggenossen Moleschotts, sondern persönlich auch über den Dichter und Literaturkritiker August Follen, Vogts Onkel. Vgl. hierzu C. Vogt, Aus meinem Leben, a. a. O., 183. 113

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1855, mit der Streitschrift Köhlerglaube und Wissenschaft antwortete, die wiederum neue Repliken nach sich zog. »Der Froschmäusekrieg zwischen den Pedanten des Glaubens und des Unglaubens« spottet Keller anläßlich der 1856 erscheinenden Vogt-Replik seines Freundes Wilhelm Schulz über die ideologisch bornierten Kontrahenten des wissenschaftlichen Disputs. Daß Schulz noch einmal argumentativ eine von der Materie unabhängige Geistestätigkeit nachzuweisen sucht, quittiert Keller in einer Randnotiz seines Exemplars mit einem charakteristischen Begriff: »Hexenmeister! − Glaubt ihr denn in der Tat, die Physiologen hätten solche ›Denkübungen‹ nicht auch schon in der Schule angestellt?«117 Bloße ›Hexerei‹ wäre jedes Handeln, das die realen, physiologischen wie pragmatischen Voraussetzungen überspringen will. Dergleichen Potential läßt sich nicht freilich ›beweisen‹; doch gilt dieser Beweisnotstand nicht minder für die Gegenseite, die trotzig auf der Nichterkennbarkeit freier Vermögen beharrt. Wo die Wissenschaft ob ihrer ideologischen Prämissen stagniert − »da dreht ihr euch eben alle im Kreise herum und ein Esel sagt dem andern Langohr«118 −, übernimmt die Kunst die Federführung. Spiegel, das Kätzchen entsteht ohne Vorarbeiten im Herbst 1855; der Stoff ist, laut Keller, frei erfunden. Den Angelpunkt bildet die Redewendung ›einer Katze den Schmer abkaufen‹, das heißt, eine Umkehr von Absicht und Erfolg, wie sie in den Seldwyler Geschichten nicht selten den allzu Absichtsvollen widerfährt.119 So entwickelt sich das anfängliche Objekt der Intention, Kater Spiegel, in dem Maß zum Subjekt der Handlung, wie sich der potente Käufer, Hexenmeister Pineiß, seiner Souveränität begibt − und zwar ohne Rücksicht auf die Tierhaftigkeit der einen und die Humanität der anderen Figur. Wenn Keller den Kater bereits im Titel mit dem Namen ›Spiegel‹ ausstattet, so spielt er damit auf diese Funktion literarischer Spiegelung an. Nicht minder wichtig aber ist die mit der Namensgebung verbundene Qualifizierung: ›Spiegel‹ heißt das Tier nach dem äußeren Glanz des Pelzes, der in seinem inneren Wert eine genaue Entsprechung findet. Der mit Vernunft, Sittlichkeit und dazu Charakterstärke ausgestattete Kater folgt selbst Naturinstinkten, wie Jagd und Liebe, überlegt (»ein Mann von Grundsätzen«) und kultiviert (»Höflichkeit«) und widmet sich in seinen Mußestunden gern »philosophischen Betrachtungen und der Beobachtung der Welt«. In dieser Besonnenheit liegt seine ›individuelle‹ Qualität. Denn die scheinbar nur dem Märchen geschuldete Anthropomorphisierung des Tiers fungiert recht

117

Zitiert nach E. Ermatinger, Gottfried Keller. Eine Biographie (1950), Zürich 1990,

334. 118

Ebd., 334. Ein Beispiel dafür wäre die ironisch betitelte Erzählung Der Schmied seines Glückes. 119

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eigentlich als Mittel zur Individualisierung: Spiegel zeigt in seinem Selbst- und Weltverhältnis eine Vorbildlichkeit, die seine Daseinsform übergreift. Das heißt: ›Tierisches‹ ist nicht kategorial von ›Menschlichem‹ zu trennen, wie das Leben nicht in physische Funktionen und humane Fähigkeiten zerfällt. Gegen diese Grenzziehung zieht nun seinerseits auch der Zoologe Vogt zu Felde. Ob man die Höherstellung des Menschen in der ›Vernunft‹ oder ›Seele‹ begründen will − so Vogt im Schlußkapitel ›Thierseelen‹ der Bilder aus dem Thierleben (1852) −, in jedem Fall unterschlägt man damit die im Tier gleichermaßen vorhandenen, wenngleich nach Rassen wie »Individuen«120 unterschiedlich ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten, die Vogt freilich in empiristischer Weise als Erfahrungsverarbeitung begreift.121 Der Zoologe plädiert daher für eine nur graduelle Differenzierung zwischen Mensch und Tier, die einzig aus der größeren Kapazität der menschlichen Anlagen resultiert.122 Gemeinsam ist beiden das für eine zweckmäßige Lebensführung nötige Steuerungspotential,123 dem Vogt selbst kulturelle Praktiken wie ›Erziehung‹ und ›Freundschaft‹ subsummiert. Mit dieser Liberalisierung des Lebens will der ehemalige Vormärzler gegen die politische, ja gesamtkulturelle Restauration des Autoritätsprinzips in den 50er Jahren polemisieren; in den Thierstaaten wird diese Intention manifest124. Doch wird Vogt, genau wie sein Mitstreiter Moleschott, durch den Protest gegen jeden vermeintlich regressiv theologischen Persönlichkeitsbegriff zu einem forcierten ›Materialismus‹ hingerissen, im Zuge dessen er die Freiheit, die er eben noch für das Tier errang, für den Menschen schließlich wieder lautstark verneint.125 120

Vogt betont, »daß es auch unter den Thieren Individuen von verschiedener geistiger Anlage gebe, und daß in derselben Art und Rasse die Einen weit größere Schärfe des Verstandes zeigten, als die Andern.« Dabei lehrt die »gewöhnliche Beobachtung von Hunden und Katzen« lehrt, daß die »individuelle Verschiedenheit« innerhalb der Kulturrassen besonders zum Tragen kommt. (C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, a. a. O., 436). 121 Der »Vernunftschluß« ist nicht anderes »als das Ergebniß ausgedehnterer Erfahrungsurtheile«, wie sie nach alltäglicher Beobachtung »auch von Thieren zusammengestellt werden können […].« (Ebd., 428). 122 »Die geistigen Fähigkeiten des Menschen sind demnach nur der Menge, nicht der Eigenthümlichkeit, nur der Quantität, nicht der Qualität nach von denjenigen der Thiere verschieden«, wo wiederum eine »ungemein mannichfaltige Stufenleiter« nachweisbar sei, in der die Haustiere − Hund und Katze − ein bevorzugte Position einnehmen. (Ebd., 430 f.). 123 »Das Thier ist ebenso frei, und wenn man will, ebenso zurechnungsfähig innerhalb des Kreises seiner Intelligenz, als der Mensch innerhalb des seinigen.« Ebd., 433. 124 »Die Naturforschung wird bei künftigen Staatsgestalten innerhalb der Menschheit in ihr natürliches Recht eingesetzt werden.« (C. Vogt, Untersuchungen über Thierstaaten, Frankfurt / M. 1851, 27). 125 »Der freie Wille existirt nicht und mit ihm nicht eine Verantwortlichkeit und

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Keller, etwas nachhaltiger liberal gesonnen, rechnet solche Exzesse zum »Froschmäusekrieg«. Er realisiert in seinem Märchen die Aufhebung aller substantiellen Gegensätze, um das Lebewesen als solches zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung freizusetzen. Tatsache bleibt für ihn freilich die von Vogt noch einmal beschworene »materielle Dependenz«126, und so beginnt die Handlung mit einer klaren Widerlegung idealistischer Prämissen. Der ›humane‹ Kater verliert nämlich seine intellektuell-moralischen Qualitäten in dem Augenblick, wo ihn der Tod seiner Herrin mit den existentiellen Nöten und sozialen Zwangslagen der Futterbeschaffung konfrontiert: Spiegel »wurde von Tag zu Tag magerer und zerzauster, dabei gierig, kriechend und feig; all sein Mut, seine zierliche Katzenwürde, seine Vernunft und Philosophie waren dahin […].«127 Verstand und Seele sind also, wie der Dichter in Übereinstimmung mit dem Naturwissenschaftler Vogt demonstriert, keine immateriellen, vom Körper abtrennbaren Prinzipien, die folglich »ebenso wie alle anderen Funktionen […] bei Störung des Organs modificirt werden […].«128 Doch bedeutet diese Modifizierbarkeit keine Determination; denn mit der Veränderung der Verhältnisse kommen Spiegels Geistesstärke und Manieren ebenso sicher wieder zum Vorschein, wie sie ohne materielle Basis verschwanden. Individualität und Charakter sind also materiell affizierbar, aber nicht materiell bedingt, und daher wächst sich jede Kreatur ›nach ihrer Weise‹ aus.129 Diese Eigenheit gilt mit negativen Folgen auch für den Stadthexenmeister Pineiß, der dem hungernden Kater den Schmer, das (für das Hexen benötigte) Körperfett abkaufen und anmästen zu können glaubt. Im Gegensatz zum besonnenen Tier fehlt dem menschlichen ›Kann-Alles‹ nämlich das Wissen von den realen Zusammenhängen, »weshalb auch seine Hexerei sich hier als lükkenhaft erwies«: Er nährt »mit dem Leibe Spiegels dessen Geist immer wieder eine Zurechnungsfähigkeit, wie sie die Moral und die Strafrechtspflege […] uns auferlegen wollen. Wir sind in keinem Augenblick Herren über uns selbst […]. Der Organismus kann nicht sich selbst beherrschen, ihn beherrscht das Gesetz seiner materiellen Zusammensetzung« und so fort. (Ebd., 445 f.). 126 »Nicht minder steht die Thatsache felsenfest, daß jede Veränderung der materiellen Verhältnisse, in Ernährung […] und sonstigen äußeren Einflüssen auch seinen unmittelbaren Reflex in den geistigen Funktionen haben muß«. (Ebd., 447). 127 G. Keller, Die Leute von Seldwyla, a. a. O., 243. 128 C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, a. a. O., 443. 129 Pineiß »wußte bei aller Schlauheit nicht, daß, wenn man einen Esel füttert, derselbe ein Esel bleibt, wenn man aber einen Fuchsen speiset, derselbe nichts anders wird als ein Fuchs; denn jede Kreatur wächst sich nach ihrer Weise aus.« (G. Keller, Die Leute von Seldwyla, a. a. O., 249). Der Gedanke findet sich übrigens auch bei Vogt − im Grund seines Wesens bleibe, wie es heißt, jedes Individuum stets dasselbe, ob es fett oder mager werde −, doch wird er nicht Teil der Argumentation. (C. Vogt, Bilder aus dem Thierleben, a. a. O., 449).

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mit, und es war durchaus nicht von dieser unbequemen Zutat loszukommen […].«130 Physisch und psychisch regeneriert, beugt der disziplinierte Spiegel zunächst durch Mäßigung der tödlichen Leibesfülle vor, hierin durch seine »gute Natur« unterstützt. Als ihm aber endgültig das Messer droht, greift der lebenskluge Kater zur psychologischen List: Er erzählt Pineiß von einer reichen Dame, die, fixiert auf ihr Kapital, die Liebe ihres Lebens verfehlt und erweckt mit dieser (per se moralischen) Geschichte erwartungsgemäß nur dessen Begierden nach dem hinterlassenen Kapital wie nach einer versprochenen erotischen Beute. Auf die komische Ausführung dieses Plans ist hier nicht näher einzugehen. Der Hexenmeister erringt jedenfalls das Gegenteil des Erwarteten, weil ihn sein Mangel an Weltkenntnis und Selbstbeherrschung zum Objekt des ebenso eigenwilligen wie niveauvollen Katers degradiert. So liegt die »allerdurchtriebenste Hexerei« für den Dichter in der − real vorhandenen und damit praktisch zu realisierenden − Einheit von (biologischen) Naturtatsachen und (kulturellen) Lebensformen.131 Mit diesem literarischen Fazit legt Keller das Thema ›Materialismus‹ ad acta. Da bei keinem anderen Autor der Epoche ähnliche biographischen Berührungspunkte mit Naturwissenschaftlern gegeben sind und, vor allem, nirgendwo die fundamentale Problemkonstellation − Definition und Gestaltung des Lebens auf rein natürlicher Grundlage − derart virulent ist, bleibt der Materialismus der 50er Jahre in der Literatur ein Randphänomen dar. Literarisch relevant werden dann allerdings ab Mitte der 50er Jahre die Ängste, die sich aus der Verunsicherung über zunehmende Naturalisierung des Lebens ergeben. Diese Mentalität wird jedoch vor allem im Zusammenhang mit der zweiten Welle wissenschaftlicher Naturalisierung, dem Darwinismus der 60er Jahre, manifest und dort zu diskutieren sein.

130

G. Keller, Die Leute von Seldwyla, a. a. O., 253. Vgl. hierzu Spiegels Ausführungen über Leidenschaft, Liebe und Ehe (G. Keller, Die Leute von Seldwyla, a. a. O., 252 und v. a. 255). 131

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» ... zersetzt er Kultur und Sittlichkeit«. Über einige Schwierigkeiten theologischer Materialismusrezeption

I. Schroff, fast wie ein Schlußwort, klingt das Urteil, das Walter Brugger in dem von ihm erstmals 1947 herausgegebenen, auch für Theologiestudenten bestimmten Philosophischen Wörterbuch über den Materialismus fällte: Er ist »wirklichkeitsblind, da er die Eigenart des Überstofflichen u[nd] seiner eigenen Gesetze übersieht. In seiner Anwendung auf das Leben zersetzt er Kultur und Sittlichkeit.«1 Bruggers Artikel steht noch ganz im Banne einer Auseinandersetzung, die auf sogenannte Weltanschauungen fixiert war und sich an einer genaueren historischen Situierung des keineswegs monolithischen materialistischen Diskurses wenig interessiert zeigte. Die bis heute andauernden Schwierigkeiten einer theologischen Materialismusrezeption würden sich minimieren, wenn ein genauerer Blick auf die Interessen und Argumente der jeweiligen Diskurse und nicht so sehr ein Denken in fest gefügten Lagern das Urteil bestimmte. Aber auch das Verhältnis der Theologie zum Idealismus war keineswegs spannungsfrei: Die Schöpfungslehre ist nicht identisch mit der Reduktion der erscheinenden Welt auf ein absolut Erstes; für die Idee einer leiblichen Auferstehung bleibt die Fortexistenz der unsterblichen Seele als anima separata defizitär; die in ihrer Vollendung noch ausstehende Erlösung ist schließlich mit einem identitätsphilosophischen Denken nur schwer kompatibel, bleibt doch die Differenz von Denken und Sein in einer ihrer Erlösung noch harrenden Welt schmerzlich bewußt. Gleichwohl fand die philosophische Tradition »von Jonien bis Jena«2, wenn auch in modifizierter Form, Eingang in die Theologie, während der Materialismus außen vor blieb und noch nicht einmal die Dienstbotenkammer der Theologie beziehen durfte; die Philosophie wurde also nur in halbierter Form rezipiert.3 Prima facie scheinen ja auch wichtige Merkmale des Materialismus mit der jüdisch-christlichen Tradition nur schwer vereinbar zu sein: der Anspruch, die Welt aus sich selbst heraus, ohne Rekurs auf einen transzendenten Schöpfer zu erklären; die Betonung der naturalen Basis des Menschen und seiner durch keine Hoffnung auf ein FortW. Brugger (Hg.), Philosophisches Wörterbuch (1947), Freiburg / Br. 141976, 236. 2 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, hrsg. von R. Mayer, Frankfurt / M. 1988, 13. 3 R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte. Materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie, Darmstadt 2001, 9–32. 1

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leben nach dem Tode gemilderten Endlichkeit; eine religionskritische Tendenz, die im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation in offene Polemik überging; die positive Bewertung von Lust und amour propre gegenüber einer leibfeindlichen und auf Selbstverleugnung abzielenden Moral – und schließlich oft eine erkenntnistheoretische Naivität, mit der der Primat von Stoff, Natur und Sinnlichkeit gegen Religion und Idealismus pointiert wird; Adorno spricht von einer »Zurückgebliebenheit«, ja »Bäuerlichkeit«, die dem Materialismus zuweilen anhafte.4 Jenseits einer starren weltanschaulichen Schlachtenordnung sind freilich die Grenzen zwischen einer biblischen Traditionen verpflichteten Theologie und materialistischem Denken weitaus durchlässiger als meist angenommen wird. Ein strikter Dualismus zwischen Leib und Seele lag bekanntlich den biblischen Schriften fern;5 Näfäsch (‫ )נפש‬bezeichnet das vitale, im Somatischen verankerte Selbst, keine vom Körper abtrennbare geistige Seele. Baśar (‫בשר‬ Fleisch, Körper) meint die physische, vulnerable, bedürftige und vergängliche Seite des Menschen, die er mit den Tieren teilt. Der Tod stellt eine unaufhebbare Grenze dar, deren Vorboten bereits die Krankheiten mit ihrer sozial isolierenden Wirkung sind. Die Hoffnung auf eine den Leib einschließende Auferstehung ist erst spät belegbar und verdankt sich weniger einer Tendenz zur Individualisierung der Religion als vielmehr dem Gedanken der Gerechtigkeit, welcher auch die Opfer und Martyrer einschließt. Da Gott kein anderes Wort für Fatum ist, kann seine Treue auch im Tod keine Grenze finden. Nicht das Ich, sondern der Gedanke an die Anderen steht im Mittelpunkt der Auferstehungshoffnung, die keineswegs von innerweltlichen Interessen ablenken soll, sondern sich angesichts der Erfahrung von Unterdrückung und Widerstand zu artikulieren beginnt. Dem Ackerboden entnommen (Gen. 2,7), bleibt der Mensch materiell konstituiert und bedürftig; Leid und Glück sind stets körperlich vermittelt. Auch die Heilsgüter, die Israel von Gott empfängt, sind auf das Diesseits bezogen: Befreiung aus Knechtschaft und Überwindung der Sklavenmoral, Ernährung in der Wüste und schließlich ein Land, in welchem Milch und Honig fließen (Dtn 11,9 u. ö.) und das nicht vergebens bebaut wird. Dieses Land und seine ganzen Schätze bleiben aber nur innerhalb einer gerechten Ordnung zugänglich, eine Ordnung, um deren Weisheit Israel von den Völkern beneidet wird (Dtn 4,6). Schließlich ist auch zu erinnern an die emphatische Sinnlichkeit des Hohenlieds und an seine erotische restitutio in

4

Th. W. Adorno, Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, Bd. 2, Frankfurt / M. 1974, 175. 5 Vgl. hierzu auch R. Ammicht Quinn / R. Buchholz, Artikel Körper / Leib, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, hrsg. von P. Eicher, München 2005, Bd. 2, 390 ff. 6 Vgl. R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 328–332.

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integrum6. Kontrastiert werden diese Eindrücke von der Erfahrung der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen, dessen Leben auf den Tod zuläuft und dessen Anstrengungen oft vergeblich sind. Tor und Weiser, Gerechter und Schurke, reich und arm werden im Tod auf eine abstrakte Weise gleich gemacht (Koh 1,11; 2,16, 3,21; Ps 49,8–13). Manche Passagen etwa im Buch Qohelet erinnern an Epikur: der Rückzug von der Politik, das Plädoyer für den maßvollen Genuß der vergänglichen Güter, die Empfehlung, angesichts der Tage voller Windhauch den unwiederbringlichen Augenblick zu nutzen und zur Ruhe zu kommen.7 Und auch die eschatologisch ausgerichteten Schriften des Neuen Testaments beziehen sich auf die somatische Seite des Menschen, sie erheben den Leib geradezu zum Schauplatz, an dem das messianische Drama sich vollzieht und wo die Wohltaten Gottes, aber auch die Brutalität menschlicher Herrschaft erfahren werden. Wenn es also, wie angedeutet, ein »Krypto-Materialistisches«8 in der biblischen Tradition und der auf ihr basierenden Theologie gibt, so fragt sich, weshalb es in der weiteren Geschichte nicht deutlicher entfaltet wurde. Sicherlich spielte die politische Vereinnahmung des Christentums, der Preis für seine Protektion seit Konstantin, eine große Rolle bei der Neutralisierung seiner nichtkonformen, explosiven Gehalte. Die christliche Tradition ist aber kein einheitliches Gebilde, in ihr arbeiteten sich die Schöpfungstheologie, ein an der körperlichen, sozialen und geschichtlichen Konstitution des Menschen orientiertes Offenbarungs- und Erlösungsverständnis, messianisch-apokalyptische Motive, antignostische Apologetik auf der einen und die neuplatonische Abwertung von Leib und Geschichte auf der anderen Seite aneinander ab. Zu stark sind die somatischen Bezüge in den biblischen Traditionen, als daß sie einfach hätten übergangen oder liquidiert werden können, ohne das Christentum in einen Erlösermythos zu verwandeln. In den ersten Jahrhunderten war, bei allen Affinitäten zu neuplatonischem Denken, die Verteidigung des Materiellen und Somatischen gegenüber der Gnosis dringlicher als eine Auseinandersetzung mit den Lehren eines Demokrit, Epikur oder Lukrez.9 Entsprechend

7

Vgl. auch Ludger Schwienhorst-Schönberger, »Nicht im Menschen gründet das Glück«: (Koh 2.24): Kohelet im Spannungsfeld jüdischer Weisheit und hellenistischer Philosophie (HBS 2), Freiburg / Br. 1994, 260–263. 8 W. Post / A. Schmidt, Was ist Materialismus? Zur Einleitung in die Philosophie, München 1975, 7. 9 Auch unter dem Epikureer (‫ ) אפיקוּרוֹס‬der rabbinischen Literatur hat man sich eher einen Freigeist vorzustellen, der der rabbinischen Halachah reserviert bis ablehnend gegenüber stand, wohl kaum einen Anhänger Epikurs (Vgl. etwa Pirqej Avoth II,19 (hebr. / dt. Berlin 2001, 67). – Eine Verteidigung der Schöpfungslehre gegenüber epikureischen Argumenten findet sich beim Kirchenlehrer Laktanz (De ira dei, 10; dazu R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 93 f.).

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betont Irenäus von Lyon (2. Jhdt.) gegen die gnostische Abwertung des Stofflichen: »Man muß die Materie der geschaffenen Dinge der Kraft und dem Willen des Gottes aller Dinge zuschreiben; das ist glaubhaft, annehmbar und feststehend« (Adv. Haer. II, 10, 4),10 während der gnostische Mythos die Gottheit aufspaltet und vernünftiger Einsicht widerspreche. Anthropologisch besteht Irenäus auf der Einheit von Psychischem und Physischem im Menschen; eine für sich bestehende Geist-Seele bleibt eine Abstraktion; nur als Vereinigung (adunitio) und Vermischung (commixtio) von Geist, Seele und Fleisch sei der Mensch vollständig (ebd. V, 6,1). Eschatologisch bedeutet dies: Wenn die »Werke der Gerechtigkeit« leibhaft (»in corporibus«) vollbracht werden, muß sich die Auferstehung auch auf den Leib beziehen (ebd. II, 29, 2. u. V, 7,1). Trotz der Parteinahme für den Leib und die somatische Vermittlung des Heils blieb aber die Stimme des Fleisches (Epikur), insbesondere der Eros, als Einfallstor der Sünde und Ablenkung vom Gottesreich suspekt; die Physis sank entweder in die tieferen Sedimentschichten des theologischen Textes hinab oder sie wurde Objekt einer sorgfältigen Kontrolle. Im neuzeitlichen Materialismus kehrt für die Theologie das Verdrängte und Unterdrückte vehement und in der Gestalt eines Konkurrenzprojektes wieder. Denn auch der Materialismus kennt – zumindest seit Epikur – ein »Fürchte dich nicht«. Aber es entspringt keiner göttlichen Offenbarung, sondern steht am Anfang und am Ende eines selbständigen, illusionslosen Denkens und einer mit praktischem Interesse betriebenen Erforschung der Natur. Der Naturbegriff und die Einsicht in die naturale Konstitution des Menschen werden kritisch gegen die religiösen Traditionen pointiert, die als Stützen des ancien régime verdächtig geworden sind und deren Basistexte, im Wortsinne rezipiert, dem neuesten Stand der Wissenschaft widersprechen. Autoren wie Julien Offray de La Mettrie oder Jean Baptiste d’Argens intendierten mit einer an Descartes orientierten und einer dem damaligen Stand der Naturwissenschaften entsprechenden mechanistischen Anthropologie nicht, wie Michel Foucault meinte, eine völlige Disziplinierung des Körpers11 – ein Verdacht, der Holbachs »beflaggte Weltfabrik«12 eher trifft –, sondern eine Rehabilitierung und Kulti10

Irenäus von Lyon, Adversus. Haereses, gr. / lat. / dt.; übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox = Fontes Christiani, Bd. 8, Freiburg / Basel / Wien 1993–2001, II. Buch, 10, 4. 11 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übersetzt von W. Seitter, Frankfurt / M. 1976 174 f.; dagegen U. P. Jauch, Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie, München / Wien 1998, 283–285. 12 So E. Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt / M. 1972, 179–186, hier: 181; vgl. P. Th. d’Holbach, System der Natur oder Von den Gesetzen der physischen und moralischen Welt, übersetzt von Fritz-Georg Voigt, Berlin 1960, 96 f., dazu R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 37–41, 55–59.

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vierung der Lust und der Eigenliebe. Sie seien legitime Triebfedern menschlichen Handelns, die von der überlieferten Morallehre unterdrückt und so erst destruktiv wurden. Keine Furcht vor göttlichen Strafen und einem ungewissen Jenseits, vor unerhellter, religiös legitimierter Herrschaft, die sehr irdische Interessen verfolgt, dürfen das Leben der Menschen und die freie Entfaltung ihrer Kräfte im Diesseits beeinträchtigen.13 Der Mensch ist Teil, nicht Mittelpunkt eines Universums, das weder von einer höheren Intelligenz geschaffen wurde, noch in ihr sein Ziel hat. Der Zweckbegriff ist sinnvoll nur als menschliche Setzung und auch diese ist für Holbach in Wahrheit Teil eines unerbittlichen Kausalgefüges, das sich der Frage nach einem Gesamtsinn verweigert.14 Auf die demaskierende Tendenz des Materialismus, der an die naturwüchsige Seite des Menschen und des sich souverän dünkenden Geistes erinnert, hatte mit Recht Adorno hingewiesen.15 Der Protest der materialistischen Gegen-Philosophie16 richtet sich sowohl gegen eine Entwürdigung und Unterdrückung der Menschen im Namen hoher und edler Ziele als auch gegen die Ignoranz gegenüber den leiblichen Bedürfnissen. Religion und Theologie waren Ziele der Kritik, insofern sie im Verdacht standen, zur Legitimation von Herrschaft ›erfunden‹ worden zu sein, so daß Priester, Adel und Könige von der Furcht und Unbildung der Massen profitieren. Die Befreiung von der Religion, die auf die Massen einen paralysierenden Einfluß hatte und (vor Marx) von Holbach als ein Opiat gewertet wird,17 bedeutet zugleich, daß die Menschen sich auf ihre wahren Interessen besinnen, die nicht einem Jenseits gelten, sondern auf Erden einzulösen sind. Wenn die unsichtbaren Mächte schwinden, werden die irdischen Mächte und ihre Interessen sichtbar, welche das Elend verursachen. Im 19. Jahrhundert löste Feuerbach die Betrugshypothese ab durch eine genauere Untersuchung der zentralen Rolle, welche Religion bei der Anthropogenese spielte. »Die Religion«, so Feuerbach, »ist die erste, und zwar indirekte, Selbsterkenntnis des Menschen. Die Religion geht daher überall der Philosophie voraus, wie in der Geschichte der Menschheit, so auch in der Geschichte der einzelnen. Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst außer sich, ehe er es in 13

Vgl. auch den Beitrag von Günther Mensching in diesem Band; ferner: W. Post / A. Schmidt, Was ist Materialismus?, a. a. O., 16–35; R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 37–41; 95–114. 14 Vgl. P. Th. d’Holbach, System der Natur, a. a. O., 57 f. 15 Th. W. Adorno, Philosophische Terminologie, a. a. O., 172 f. 16 Zu diesem Begriff vgl. R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 22–24. 17 Vgl. P. Th. d’Holbach, Religionskritische Schriften, hrsg. von M. Naumann, übersetzt von R. Heise und F.-G. Voigt, Berlin / Weimar 1970, 167; ferner den anonym verfassten Traité des trois imposteurs / Traktat über die drei Betrüger, frz. / dt., hrsg. und übersetzt von W. Schröder, Hamburg 1992.

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sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als andres Wesen Gegenstand.«18 Auch Feuerbach sieht die Instrumentalisierung der Religion im Dienste der Herrschenden, doch erschöpft sie sich nicht in dieser Funktion. Die Feuerbachsche Kritik entdeckt neue Schichten an der Religion, die La Mettrie, Diderot oder Holbach verschlossen waren; sie möchte Religion nicht liquidieren, sondern im emanzipatorischen Interesse beerben. Religion ist für Feuerbach nicht ein aus Furcht und egoistisch motivierten Betrugsmanövern geborenes Wahngebilde, sondern Ausdruck des menschlichen Wesens und menschlicher Selbsttranszendenz, freilich einer solchen, die kein Jenseits mehr gelten läßt. Die Kritik der Religion wird übersetzt in die Utopie einer innerweltlichen Selbsttranszendenz des Menschen als eines denkenden und sinnlichen Wesens – aber primär in der Perspektive der Gattung, mit deren Fortdauer die Individuen sich begnügen müssen. Zur theologischen Materialismusrezeption gehört die Verspätung, und das trifft auch auf Feuerbach zu. Seine Religionskritik oder -philosophie spielte erst in der theologischen Diskussion vor allem des 20. Jahrhunderts eine Rolle, auch wenn sie immer ein wenig im Schatten Marxens stand. Die spezifisch materialistischen Voraussetzungen der Feuerbachschen Philosophie und ihr Reformprogramm wurden in der theologischen Diskussion jedoch kaum berücksichtigt, obwohl ihnen einiges Gewicht zukommt. Jene emphatische Sinnlichkeit geht über den Materialismus Holbachs deutlich hinaus; sie ist reicher, differenzierter und durch Bewußtsein vermittelt weniger starr auf eine mechanisch klappernde Natur bezogen. Sinnlichkeit ist Quelle von Lust und Glück ebenso wie von Schmerz und Leid, und letzteres ist vielleicht das stärkste Argument für einen Materialismus nach Kant und Hegel. »Der Philosoph«, mahnt Feuerbach, »muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen.«19 Ein spezifisch materialistisches Motiv meldet sich bei Feuerbach gerade dort, wo er auf die sinnliche Konkretion des Menschen aufmerksam macht und mitsamt ihrer hinfälligen, bedürftigen Seite philosophisch zu Ehren bringt: »Die Philosophie der Zukunft hat die Aufgabe, die Philosophie aus dem Reiche der ›abgeschiedenen Seelen‹ in das Reich der bekörperten, der lebendigen Seelen wieder einzuführen, aus der göttlichen, nichtsbedürftigen Gedankenseeligkeit in das menschliche Elend herabzuziehen.«20 Dies bedeutet keine Repristination des alten Dogmatismus, sondern die Erinnerung an ein 18

L. Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff, Bd. 5, 47. 19 L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, 254. 20 Ebd., 264.

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irreduzibel somatisches Moment im denkenden Subjekt. Daß die erscheinende Welt in ihrer begrifflichen Darstellung nicht aufgeht, erfährt der Mensch schon an sich selbst, denn der vulnerable Leib meldet sich dem Denken mit Nachdruck, ja geradezu aufdringlich zu Wort. Den philosophischen Versuchen, ein geschlossenes System und ein abschlußhaftes Wissen zu erlangen, steht die anarchische Intervention des somatischen Impulses entgegen. Idealismus, aber auch ein dogmatischer Materialismus beruhen für Feuerbach auf Abstraktionen vom realen Menschen: Der eine sieht nur die selbständige Geistseele, der andere lediglich das ›Denkorgan‹ auf dem Seziertisch; Gegenstand der Physiologie ist der tote Körper, nicht der lebendige Mensch. »Wahrheit ist nur die Anthropologie«21, wobei diese keinen Kompromiß zwischen Idealismus und Materialismus darstellt, sondern letzterem in der Betonung der leiblichen und intersubjektiven Existenz näher steht und auch den engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Naturwissenschaft betont, aber sich vor jenem Dogmatismus hütet, der die spezifische Leistung des Subjekts übergeht; »Subjektivität, Leib und Welt bilden eine konkrete Einheit«22. Wie allerdings die Marxsche Kritik zeigt, ist auch der ›anthropologische Materialismus‹ Feuerbachs nicht frei von Abstraktionen, denn er faßt, so Marx, »die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit«23. Auch der Marxsche Materialismus betreibt keine dogmatische Setzung des Stofflichen, sondern bewahrt gerade darin das idealistische Erbe – wenn auch transformiert – auf, daß Stoff, Natur, Sinnlichkeit für die Menschen nur durch die individuelle und gesellschaftliche bewußte Praxis vermittelt existieren. Schon in den Feuerbach-Thesen weist Marx die Frage nach der »Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens«, die nach 1850 erneut im Kontext des Materialismusstreits auftaucht, als ›scholastisch‹ zurück.24 Im Mittelpunkt dieses Materialismus steht nicht die Fixierung des Menschen auf seine Abhängigkeit von der Natur – auch wenn diese, wie der späte Marx nüchtern feststellt, niemals ganz aufhören wird und das Reich der Freiheit sich auf dem Reich der

21

L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 10, 135 f. A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München / Zürich 1988, 122; vgl. auch ebd., 81–106 sowie F. Tomasoni, Feuerbachs Kritik der Wissenschaftsideologie und Evolutionstheorien, in: H.-J. Braun u. a. (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, Berlin 1990, 77–92. 23 K. Marx / F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956 ff., Bd. 3, 5. – Im Kapital spricht Marx von einem »Stoffwechsel mit der Natur« (MEW, Bd. 23, 192), den die Menschen als gesellschaftliche Wesen vollziehen; vgl. auch A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt / M. 1962, 63–66; R. Buchholz, Körper-Natur-Geschichte, a. a. O., 41–49 sowie den Beitrag von Andreas Arndt, Der Begriff des Materialismus bei Karl Marx, in diesem Band. 24 MEW, Bd. 3, 5. 22

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Notwendigkeit aufbaut25 –, sondern die Emanzipation von jenen Verhältnissen, die, inmitten des Fortschritts, Natur in den gesellschaftlichen Bereich hinein verlängern. »Das Telos des Marxischen Materialismus«, betont Adorno, »ist die Abschaffung des Materialismus, das heißt, die Herbeiführung eines Zustandes, in dem der blinde Zwang materieller Bedingungen über die Menschen gebrochen wird, und die Frage nach der Freiheit erst wahrhaft sinnvoll wäre.«26

II. Die hier nur angedeutete innere Differenziertheit des materialistischen Diskurses im 18. und 19. Jahrhundert wird theologisch kaum angemessen wahrgenommen, und selbst im 20. Jahrhundert beschäftigt sich die Zunft eher mit der Religionskritik als mit dem philosophischen Gehalt des Materialismus. Wenn Theologen materialistische Motive explizit aufnahmen, so geschah es bereits im Augenblick des Bruchs mit der überlieferten Religion – clandestin wie der Abbé Meslier oder offen wie 1872 David Friedrich Strauß. Stand ersterer im Zeichen einer radikalen Aufklärung, die in ihren gesellschaftskritischen Thesen noch über Holbach hinausging, so neutralisiert Straußens ›neuer Glaube‹, wie wir noch sehen werden, den kritischen Gehalt von Materialismus und Theologie gleichermaßen. Soweit im 19. Jahrhundert Theologen ihre Sache nicht aufgeben wollten, waren sie wohl zu tief in die Konflikte ihrer Zeit involviert, um über den Materialismus sine ira et studio urteilen zu können. So ergibt sich – trotz des oben angedeuteten biblischen Befundes – das Bild eines breiten antimaterialistischen Konsenses in der Theologie des 19. Jahrhunderts, der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert seine Selbstverständlichkeit bei einigen Theologen verloren hat. Die Motive, aus denen sich dieser Konsens speiste, differierten zwischen liberalen protestantischen oder jüdischen einerseits und katholischen Theologen andererseits jedoch nicht unerheblich. Mit dem Sieg des Ultramontanismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts verloren auf katholischer Seite theologische Modelle, die sich, wie die katholische Tübinger Schule (J. S. Drey/J. A. Möhler), stärker Idealismus und Romantik öffneten, deutlich an Einfluß. Gerade nicht auf Kant, dessen Kritik der traditionellen Metaphysik abgewiesen wurde, sondern auf Thomas sollte zurückgegangen werden. Besaß hier die Kirche nicht eine bewährte Synthese gegenüber allen Einseitigkeiten und Irrtümern der Moderne? So war auch die lehramtliche Verurteilung des Materialismus auf dem I. Vatikanischen Konzil (1869/70) – »Si quis praeter materiam nihil 25 26

Vgl. MEW, Bd. 25, 828. Th. W. Adorno, Philosophische Terminologie, a. a. O., 198.

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esse affirmare non erubuerit: anathema sit.«27 – nur Teil einer umfassenden antimodernen Abwehr. Die Formulierung bleibt sehr allgemein, weder Feuerbach noch Marx kennen einen derart abstrakt gefaßten, die subjektiven und intersubjektiven Vermittlungen ignorierenden Begriff der Materie als »caput mortuum der Natur« (Schopenhauer28); wahrscheinlich handelt es sich um eine Reaktion auf den ›dogmatischen‹ Materialismus eines Büchner, Vogt oder Moleschott, die freilich das Anathem wenig beeindruckt haben dürfte. Schon einige Jahre vor dem Konzil, in der Enzyklika Quanta cura und dem ihr angehängten Syllabus errorum (8.12.1864) fanden sich Pantheismus, Naturalismus, Materialismus, Sozialismus und ein liberales Staats- und Gesellschaftsmodell in der pauschalen Verurteilung vereint29. Entsprechend bunt war die fragile Allianz des Widerspruchs; zu ihr gehörten auch Friedrich Albert Lange und Ludwig Büchner, dessen Kraft und Stoff (1854) Lange zwar in seiner Geschichte des Materialismus (11866) einer scharfen Kritik unterzog,30 mit dem ihn aber der Kampf für die überfällige Demokratisierung und die Emanzipation der Arbeiter verband. 1865 übersandte Lange Büchner ein von ihm mitinitiiertes »Werkchen«, das den Syllabus auf eine besondere Weise kommentierte, indem das »päpstliche Rundschreiben nur die Firma« darstellt, »unter welcher die Grundsätze einer neuen Zeit colporiert werden«.31 Anders als es wohl den meisten Zeitgenossen erschien, zielten jedoch die Reserven gegenüber neueren naturwissenschaftlichen Modellen und einem historisch-kritischen Zugang zu den biblischen Quellen nicht auf eine vernunftfeindliche Immunisierung des Glaubens. Mit der Hinwendung zur Scholastik, insbesondere zum Denken eines Thomas von Aquin erhoffte man sich vielmehr, das gestörte Verhältnis von Glaube und Vernunft wieder herstellen zu können. Papst Leo XIII. empfahl 1879 die Lehre des Aquinaten nicht nur zum Schutze des Glaubens und zum Wohle der Gesellschaft, sondern auch »ad 27

H. Denzinger, Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de Rebus Fidei et Morum / Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, lat. / dt., übersetzt und hrsg. von P. Hünermann (abgekürzt: DH und Nr.), Freiburg / Br. u. a. 371991, Nr. 3022. 28 A. Schopenhauer, Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von L. Lütkehaus (1988), Zürich 1994, Bd. II, 371. 29 Vgl. DH 2890–2980 sowie die Ausführungen Rudolf Lills in: R. Kottje / B. Moeller (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 3, Mainz / München 21979, 162–201. 30 Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart (1866), Leipzig 101921, Bd. II, 86–94. 31 F. A. Lange, Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862–1875, hrsg. von G. Eckert, Duisburg 1968, 41–63, hier: 45 (Brief an Büchner vom 5.3.1865). Das vor allem von Franz Weinkauff verantwortete »Werkchen« lautet: Das päpstliche Rundschreiben und die 80 verdammten Sätze, erläutert durch Kernsprüche von Männern der Neuzeit sowie durch geschichtliche und statistische Notizen (1865).

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scientiarum omnium incrementum«32. Gerade die einem neuscholastischen Paradigma verpflichteten lehramtlichen Äußerungen jener Zeit hielten die Einheit, Widerspruchsfreiheit und gegenseitige Verwiesenheit von Glaube und Vernunft, solange die Eigenart jeder dieser beiden Ordnungen gewahrt wurde, ausdrücklich fest und bestätigten die Eigengesetzlichkeit der wissenschaftlichen Disziplinen.33 Wie problematisch und in mancher Hinsicht naiv dieser oft steril anmutende Rückgriff auf das – in Wahrheit sehr viel differenziertere – Mittelalter auch war,34 der Konflikt mit den Naturwissenschaften wäre nicht derart heftig ausgefallen, wenn man sich nicht gleichzeitig an einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis orientiert hätte,35 das nicht nur die Bedeutung subjektiver und intersubjektiver Vermittlung unterschätzte, sondern auch einer Ablösung von vormodernen Naturvorstellungen, wie sie den Bibeltexten zugrunde liegen, im Wege stand. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die Evolutionstheorie Darwins und den Monogenismus: »Die Idee der Einheit des Menschengeschlechts«, wandte mit Recht schon Lange ein, »bedarf heutzutage der Stütze nicht mehr, die sie in der Lehre von der gemeinsamen Abstammung einst gefunden haben mag […].«36 Damit dürfte er die Intention der biblischen Autoren besser getroffen haben als die zähen Verteidiger einer wissenschaftlich unhaltbar gewordenen Vorstellung. Jenseits eines antimodernen Interesses konnte sich der Thomismus, der keineswegs bloß ein starres, »durch Jahrhunderte geheiligtes System von Begriffen und Ausdrücken«37 war, aber auch einer Erneuerung der Theologie öffnen und zu transzendentalen Fragestellungen vermittelt werden, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa das Frühwerk Karl Rahners zeigt. In seinen späteren Schriften mochte wohl das aristotelisch-thomistische Erbe in seinem dynamischen Materiebegriff noch nachwirken,38 der in einzelnen Zügen an Ernst Blochs Konzeption einer »Materie nach vorwärts«39 erinnert. Nur beiläufig sei bemerkt, daß schon im 18. und 19. Jahrhundert der Rekurs auf das Mittelalter nicht notwendig im restaurativen Interesse stehen mußte, wie die jüdische

32

DH 3140. Vgl. DH 3015–3020. 34 Vgl. etwa die Beiträge in K. Flasch / U. R. Jeck (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997. 35 Vgl. hierzu auch W. Kern / H. J. Pottmeyer / M. Seckler (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 2, Tübingen-Basel 22000, 13–39, 60–83. 36 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., Bd. II, 313. 37 So Langes abschätziges Urteil (ebd., 178). 38 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie, Zürich / Einsiedeln / Köln 1954–1984, Bd. VI, 185–214, Bd. XII, 407–427. 39 E. Bloch, Das Materialismusproblem, a. a. O., 20; vgl. auch ebd., 152–164; 479– 546. 33

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Aufklärung (‫ )השכלה‬und die Reformbewegung zeigen, deren Vorkämpfer sich gegenüber Traditionalisten und Neoorthodoxie auf die rationalistische Tradition von Sa’adja bis Maimûni und seine Interpreten beriefen.40 Außerhalb des neuscholastischen Paradigmas gingen schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Impulse für die Religionsphilosophie und katholische Theologie von dem Denken Maurice Blondels (1861–1949) aus. Mit der Tradition verbindet ihn die Betonung der rationalen Vermittlung und Fundierung des Glaubens, die er aber an Konzeptionen der nachkantischen Philosophie orientiert. Ausgangspunkt ist nicht das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« im Sinne Schleiermachers, das bereits Feuerbach als eine ins Jenseits projizierte Furcht vor der Naturgewalt erschien,41 sondern die bewußte Praxis und ihre Selbsttranszendenz, angefangen von der ›sinnlichen Gewißheit‹ und ihrem Schein bis hin zu den emphatischen Formen denkender Praxis und ihrem Ziel.42 In Blondels Hauptwerk L’Action (1893) wird man eine ausführlichere Diskussion des neuzeitlichen Materialismus zwar vermissen; im Rahmen seiner Analyse wissenschaftlicher Praxis wendet er sich aber nachdrücklich gegen Tendenzen, »den Menschen und seine Akte auf die bloßen Phänomene« zu reduzieren, »die die positive Wissenschaft bestimmt«.43 Es könnten sowohl Formen eines ›naturwissenschaftlichen Materialismus‹ als auch eines positivistischen Wissenschaftsbegriffs sein, gegen die Blondel Motive eines kritischen Idealismus mobilisiert, wenn er konstatiert, daß die wissenschaftliche Praxis Teil einer umfassenderen Aktion sei, d. h. »die Voraussetzung für die wissenschaftliche Erkenntnis jeder Wahrheit und Wirklichkeit liegt in einem inneren Einheitsprinzip, einer den Sinnen oder der mathematischen Einbildungskraft nicht wahrnehmbaren sammelnden Mitte, […] einer ursprünglichen Aktion, die dem positiven Erkennen in dem Augenblick entgeht, da sie es ermöglicht – und um alles mit einem Worte zu sagen: […] in einer Subjektivität […].«44. Das Phänomen ist »keine erste Gegebenheit«, es wird erzeugt durch die »konstituierende Aktion des Subjekts«, das nicht Teil der kausal determinierten Reihe ist, sondern »in jeder Einzelheit das Prinzip der Wandelbarkeit und der Aktion«.45 40

Vgl. Ch. Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002, 166 f.; 193 f.; M. Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation (1933), Berlin 2002, 248 f. 41 Vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830 / 31), hrsg. von M. Redeker, Berlin / New York, Bd. I, 171 ff.; kritisch dazu L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O, Bd. 10, 4. 42 Vgl. M. Blondel, Die Aktion. Versuch einer Kritik des Lebens und einer Wissenschaft der Praktik, übersetzt von R. Scherer, Freiburg / München 1965, 69–75, 415–491. 43 Ebd., 110. 44 Ebd., 113. 45 Ebd., 117 f.

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Die Betonung subjektiver Synthesis als Möglichkeitsbedingung der Phänomene verbunden mit dem Ausgriff auf einen universalen, unendlichen Horizont spricht prima facie für eine modifizierte Form der Bewußtseinsphilosophie. Aber schon der Begriff der ›Aktion‹, der Wollen und Erkennen verbindet, und die Versicherung, daß die »Willensintention sich verkörpern« muß,46 mahnen zur Vorsicht. Gegenüber dem idealistischen »Primat des Denkens« meldet Blondel Vorbehalte an, denn das »Handeln und die Idee vom Handeln sind heterogen und nicht aufeinander rückführbar«.47 Mit dem Leib, der dem Subjekt als passiv, widerständig, fremd und nah zugleich erscheint, ist die Sphäre des reinen Denkens überschritten. Die Aktion des Subjekts mag sich auf ein Absolutes richten, sich selbst überschreiten und Grenzen einreißen, sie bleibt dennoch endlich. So ist denn das, »was man unter dem Leib der Aktion verstehen muß, […] all das, was in uns und außerhalb von uns uns von uns selbst noch trennt […].«48 An der Frage, ob solche Trennung schlechthin aufhebbar ist, scheiden sich idealistische von ›materialistisch sensibilisierten‹ Modellen. Die Passivität, von der Blondel spricht, verweist nach Feuerbach auf ein irreduzibel somatisches Moment,49 und hier wäre wohl der Ort gewesen, an dem Feuerbachs Programm einer »Kritik der unreinen Vernunft«50 Blondels Philosophie der Aktion hätte befruchten können. Der Körper fällt auch nach Blondel nicht in die unbegrenzte Aktivität des Subjekts, ja »ich finde in mir etwas vor, das weder meinen Willen, noch meine Erkenntnis ganz durchdringt, was ich nicht verstehe und was sich nicht weiter versteht […].«51 Das Nicht-Ich, der somatische Impuls, ragt, wie Feuerbach es pointiert gegen Fichte – und schärfer noch als Blondels Vermittlungsversuch zwischen Idealismus und Realismus – formulierte, als Objektivität in das Ich hinein; es ist das trojanische Pferd in der festen Burg der Bewußtseinsphilosophie. Der nicht auf die Spontaneität des Subjekts reduzierbare Leib eröffnet überhaupt erst den Zugang zur Welt mit allen seinen Sinnen und Poren, er ist »nichts als das poröse Ich«52. Zugleich aber begrenzt er in seiner Vulnerabilität und stofflichen ›Schwerkraft‹ dessen Allmacht. Daß diese Grenzen nicht starr sind, sondern gerade in der Erfahrung des Widerständigen, in der Mühe und Arbeit der Aktion in einer konkret nicht antizipierbaren Weise überschritten werden können, ist Blondel 46

M. Blondel, Die Aktion, a. a. O., 177. Vgl. M. Blondel, L’illusion idéaliste (1898), dt. in: Ders., Der Ausgangspunkt des Philosophierens. Drei Aufsätze, hrsg. und übersetzt von A. Raffelt u. H. Verweyen, Hamburg 1992, 41–67, hier: 49 und 59. 48 M. Blondel, Die Aktion, a. a. O., 180. 49 Vgl. L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, 150. 50 Ebd., 81. 51 M. Blondel, Die Aktion, a. a. O., 182. 52 Vgl. L. Feuerbach, Gesammelte Werke, Bd. 9, 151 f. 47

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durchaus zuzugeben; aber das Bewußtsein verharrt niemals ganz bei sich selbst und assimiliert sich das objektive Moment nicht vollständig, sonst bliebe es letztlich tautologisch. Es bedarf der Sinnlichkeit als des von ihm Verschiedenen und doch nicht schlechthin Getrennten; sie ist Unterbrechung des reinen Denkens.53 Feuerbachs »anthropologischer Materialismus« (Alfred Schmidt) wäre für Blondels Philosophie der Handlung und ihre intersubjektiven Formen nicht nur eine bloße Ergänzung, sondern ein wichtiges Korrektiv gewesen, auch wenn zu diskutieren ist, ob die von Feuerbach angestrebte »Auflösung der Theologie in der Anthropologie«54 sich bruchlos realisieren läßt und die Rede vom ›Gattungswesen‹ nicht doch einen Rest unaufgehellter Identitätsphilosophie darstellt.55 Blondels Phänomenologie der Aktion übergeht – oder besser: unterläuft – die historischen und gesellschaftlichen Konkretionen des praktisch-menschlichen ›Stoffwechsels mit der Natur‹ (Marx) mitsamt ihren Asymmetrien und Herrschaftsstrukturen, die den Anschein einer ›zweiten Natur‹ gewinnen. Gerade die fortgeschrittensten theologischen und religionsphilosophischen Konzeptionen wie diejenigen eines Möhler, Schleiermacher, Ritschl, Blondel, Formstecher, Kohler, Lazarus oder Cohen tendierten dazu, Religion »auf eine rein geistige und ideale Erscheinung zu reduzieren […].«56 Es sollen die Menschen »fort und fort aus den Banden des Natürlichen und Gewöhnlichen erlöst, von den ausschließlichen Antrieben des Natürlichen und Angenehmen befreit, über die alltäglichen gemeinen oder feinen sinnlichen Befriedigungen hinausgehoben werden […].«57 Natur und Sinnlichkeit sind zu überwindende Schranken, sie stehen einer Religion der Vernunft und einem ethischen Monotheismus, wie er im Judentum Gestalt gewann, entgegen. Lust und Unlust, »der subjektive Halt des Materialismus«58, den Kants Kritik des Dogmatismus definitiv ›überwunden‹ hatte, können weder für eine bewußtseinsphilosophische Begründung der Religion, noch für eine Ethik des reinen Willens von Bedeutung sein. Läßt sich aber der somatische Impuls von Begriffen wie Gerechtigkeit (‫ )צדקה‬und Mitleid, die Cohen mit einigem Recht für den antifatalistischen und mythenkritischen ethischen Monotheismus reklamiert,59 schlech53

Vgl. ebd., 331. L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, 335. 55 Zur Religionsphilosophie bzw. -kritik Feuerbachs vgl. auch die Beiträge von HansJürg Braun und Walter Jaeschke, in: H.-J. Braun u. a. (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, a. a. O., 101–134. 56 So G. Scholem, Judaica 1, Frankfurt / M. 1963, 149. 57 M. Lazarus, Die Ethik des Judenthums, Bd. 1, Frankfurt / M. 1898, 22, 24. 58 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (11919, 21929), Darmstadt 1966, 7. 59 Vgl. ebd., 163–166, 174–185 u. ö. 54

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terdings wegdenken? Das Ideal des ›Reinen‹, bezogen auf die Abwesenheit jeder sinnlichen Komponente, sieht am biblischen Befund vorbei. Wenn, wie Cohen versichert, der ethische Monotheismus schließlich im Messianismus gipfelt,60 so ist davon das Bild einer versöhnten Schöpfung nicht wegzudenken (Jes 11,6–8). Daß Natur anders denn als Objekt von Herrschaft und Exploitation in den Blick kommen könnte, gehört nicht minder zu den spezifischen Merkmalen des Schabbat, in den auch die unvernünftige Kreatur einbezogen wird (Ex 20,10/Dtn 5,14), und der für Cohen den Inbegriff der Gottesliebe, der Gebote und – in seiner weltweiten Adaptation – des monotheistischen Universalitätsanspruchs darstellt.61 Dieser Gedanke wäre auszudehnen auf die gesamte Sphäre des sich dem Bewußtsein zuweilen penetrant meldenden Somatischen. Daß ihm sein Recht werde, gehört zu den zentralen Motiven des Materialismus. »Mit der Theologie«, setzt Adorno diesen Gedanken in bewußter Mehrdeutigkeit fort, »kommt er dort überein wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd.«62

III. Lediglich bei David Friedrich Strauß findet sich eine Öffnung zu materialistischen Thesen in seiner Schrift Der alte und der neue Glaube (1872), sie steht aber schon im Zeichen eines doppelten Abschieds: sowohl von einer Kritik der gesellschaftlichen Zustände als auch von der überlieferten Religion. Letztere ist durch die Befunde der historischen Kritik, an der Strauß keinen geringen Anteil hatte, und der modernen Naturwissenschaften erschüttert worden und kann darum kaum noch auf die Zustimmung der Gebildeten rechnen. So sind der Glaube an Wunder – die Auferstehung Jesu eingeschlossen –, die anthropomorphe Sprache des mythischen Denkens, die von der erdgeschichtlichen Forschung und Darwins Evolutionstheorie falsifizierte tradierte Schöpfungslehre ebenso obsolet geworden wie die Erwartung einer (baldigen) Wiederkunft Christi, der das keineswegs spiritualistisch zu verstehende Himmelreich bringen werde.63 Ein großer Teil dieser Ausführungen liest sich wie ein weitschweifiges Vorwort zu Rudolf Bultmanns Neues Testament und Mythologie

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Vgl. ebd., 25. Vgl. ebd., 182–184. 62 Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann u. a., Frankfurt / M. 1970–1986, Bd. 6 (Negative Dialektik), 207. 63 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß (1872), Bonn 151903, 45–49, 113–138. 61

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(1941). Während aber Bultmann versuchte, die mythische Bilderwelt der neutestamentlichen Texte aufzuschließen, um so heutigen Rezipienten das ihnen zugrunde liegende ›neue Existenzverständnis‹ transparent werden zu lassen,64 lief für Strauß eine Entmythologisierung des Christentums auf seine Verabschiedung hinaus. Der Bruch sowohl mit der Philosophie Hegels als auch mit der kirchlichen Tradition motiviert Strauß weder zu einer neuen Fundierung der Philosophie durch eine Relecture Kants, noch zu ihrer praktischen ›Aufhebung‹ im Sinne des frühen Marx, sondern führt ihn in die Nähe eines naturwissenschaftlich begründeten Materialismus, der Teil oder gar Stütze einer Weltanschauung ist, die als Bekenntnis vorgetragen wird; für Nietzsche ein Indiz dafür, »dass Strauss nie aufgehört hat, christlicher Theologe zu sein […].«65 Wer aber bekennt, so Nietzsche, argumentiert nicht. Der Messias, den Strauß verkünde, sei Darwin, und so »verlangt er nicht nur Glauben für den neuen Messias, sondern auch für sich, den neuen Apostel […].«66 Straußens ›Materialismus‹, der vor allem von der Biologie als Leitwissenschaft inspiriert ist, verbindet mit dem Sytème de la nature nur die Tendenz, das Bewußtseins als Epiphänomen der Physis zu erklären; ihn trennt von Holbach oder La Mettrie das emanzipatorische Interesse. Sein Ort ist nicht mehr der Salon der Enzyklopädisten und schon gar nicht die Barrikade. Die enge, wenn auch im Detail keineswegs aufgeklärte »Gebundenheit der geistigen Thätigkeit an das Gehirn« mache die »Annahme einer besonderen Seelensubstanz« zweifelhaft und denkökonomisch überflüssig, wie Strauß in Anschluß an Virchow und Vogt erklärt.67 Gleichwohl zögert er, sich vorbehaltlos auf die materialistische Seite zu schlagen. Die Ablehnung eines Leib-Seele-Dualismus verbinde Idealismus und Materialismus, auch wenn sie ihre monistische Sicht in gegensätzliche Richtungen entwickeln. Daß Materialismus und Idealismus lediglich verschiedene Betrachtungsweisen desselben Sachverhalts darstellen, wie Strauß unter Berufung auf Schopenhauer meint,68 ist nur plausibel, wenn man dessen metaphysische Voraussetzungen teilt, d. h. Vernunft, Denken und die erscheinende Welt als Objektivationen des Willens ansieht. Der Burgfrieden, für den Strauß plädiert, trügt: ›Materie‹ bleibt als metaphysisches Substrat 64

Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), Neudruck München 1988, 12–20, 24–29. 65 F. Nietzsche, David Strauss als Bekenner und Schriftsteller, (1. Unzeitgemäße Betrachtung), Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, Bd. 1, München / Berlin / New York 21988, 210. 66 Ebd., 212. 67 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 138 f. 68 Vgl. ebd., 140 f.; siehe auch A. Schopenhauer, Werke, a. a. O., Bd. II, 371 und Bd. III, 207 f.

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abstrakt. Die Reduktion des Bewußtseins auf physische Prozesse ist erkenntnistheoretisch leichtfertig und verkennt die Rolle subjektiver Synthesis, wie gerade der Kantianer Schopenhauer betonte;69 freilich führt von hier aus nicht schon ein gerader Weg zum Primat des Bewußtseins, denn umgekehrt läßt sich die Hartnäckigkeit des somatischen Impulses – Hunger, Durst, Schmerz, Lust – nicht umstandslos auf das subjektive Moment der Erkenntnis reduzieren. Mit materialistischem Denken stimmt Strauß auch in seiner Kritik der Teleologie überein. Der Zweck ist es, »der die Welt auf den Kopf stellt, der […] die Wirkung zur Ursache macht und dadurch den Naturbegriff geradezu zerstört […].«70 Daß die Natur den »absoluten Endzweck nicht in sich selbst enthält«71, hatte auch Hegel betont. Menschliche Praxis nimmt gegenüber der Natur als einem zunächst Äußerlichen nur »den endlich-teleologischen Standpunkt«72 ein. Aber eines absoluten Endzwecks bedarf es nach Strauß in den Naturwissenschaften und in der Philosophie so wenig wie eines intelligenten ›Baumeisters‹. Der Abschied von einer teleologischen Sicht der Natur beschränkt sich keineswegs nur auf die wissenschaftliche Methode, sondern trifft auch die Schöpfungslehre und, wie die Kritik an Reimarus zeigt, ebenso den Deismus und jede Form einer theologia rationalis.73 Die Darwinsche Evolutionstheorie kann auf die Idee eines Endzwecks verzichten, weil sich durch den permanenten struggle for existence,74 der nur den Besten und optimal Angepaßten ein Überleben ermöglicht, höhere Formen des Lebens ohne eine planende Intelligenz entwickeln – freilich um den Preis einer ungeheuren und mitleidlosen Verschwendung von Organismen und Gattungen. Um dies zu entdecken, meinte Strauß, brauchte Darwin nur ein Prinzip der Menschenwelt »auf den Haushalt der Natur zu übertragen: die Concurrenz. Darwins ›Kampf ums Dasein‹ ist nichts andres als dasjenige zum Naturprincip erweitert, was wir als sociales industrielles Princip schon lange kennen […].«75 Einen ähnlichen Ge-

69

Vgl. A. Schopenhauer, Werke, a. a. O., Bd. I, 60–70 und F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., Bd. II, 405–410. 70 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 142. 71 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), ders., Gesammelte Werke, hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, Hamburg 1995, 235 (§ 245). 72 Ebd. 73 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 144–146. 74 Zur problematischen Rezeption dieses Begriffs und seine normative Verwendung im 19. Jahrhundert vgl. auch Markus Vogt, Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg / Basel / Wien 1997, 79–139. 75 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 125. – Auch Lange waren sozialdarwinistische Tendenzen nicht fremd, wie seine entsprechenden Ausführungen in

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danken formuliert 1869 Marx in einem Brief an Paul und Laura Lafargue, doch fügt er sogleich mokant hinzu, der (Sozial-) Darwinismus betrachte »dies als entscheidenden Grund für die menschliche Gesellschaft, sich niemals von ihrem tierischen Wesen zu emanzipieren […].«76 Dergleichen kam Strauß nicht in den Sinn, der struggle for life der Individuen, Gruppen und ›Rassen‹ bildet die unhintergehbare Grundlage auch der menschlichen Geschichte und der gesellschaftlichen Differenzierung.77 Bei Strauß verwandelt sich die Deskription der Marktgesellschaft als bellum omnium contra omnes in Präskription; was auf die unversöhnte erste Natur inmitten der zweiten deutet, erhebt er zum wissenschaftlich gesicherten Gesetz von Natur und Gesellschaft. Entsprechend kann er auch egalitären politischen Modellen wenig abgewinnen; die Geschichte, versichert er, werde »fortfahren, eine gute Aristokratin«78 zu sein. Der ›neue Glaube‹, den mit Schleiermacher immerhin das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit verbindet – metaphysisch von einem gesetzmäßig geordneten Universum, politisch von Bismarck und Moltke79 -, ist die Ideologie eines Bürgertums, das mit dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat seinen Frieden machte, aber, historisch geschulter als die Anhänger des ›alten Glaubens‹, erkannte, daß mit der Predigt Jesu und der Bibel kein Staat zu machen sei, der den eigenen Interessen dient.80 Während Adolf von Harnack später das Gottesreich in die Seelen verlegte und so entschärfte, konnte Strauß ganz darauf verzichten. Freilich suggerierte die holzschnittartige Darstellung des ›alten Glaubens‹ seine Irreformabilität mehr als daß sie argumentativ erwiesen wäre. Die Theologie war auf ein wörtliches Verständnis der biblischen Texte nicht angewiesen, und schon vor der Publikation der Action hatte sich Blondel von einem instruktionstheoretischen Modell der Offenbarung gelöst und so auch der katholischen Theologie einen anderen Weg eröffnet, der allerdings erst im 20. Jahrhundert beschritten wurde.81 Eine streng teleologische Auffassung der der Schrift Die Arbeiterfrage (Duisburg 1865, Nachdruck Duisburg 1975, 7–55) zeigen; vgl. auch Marxens bissige Kommentare in seinem Brief an Kugelmann vom 27. Juni 1870 (MEW, Bd. 32, 685 f.). 76 MEW, Bd. 32, 592; zur Darwin-Rezeption Marxens vgl. auch M. Vogt, Sozialdarwinismus, a. a. O., 240–244. 77 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 171 f. – Daß das Kampf- und Konkurrenzmotiv eine Überinterpretation Darwins ist, zeigt M. Vogt, Sozialdarwinismus, a. a. O., 82 f.; vgl. auch J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, Gütersloh 41993, 202–205. 78 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, a. a. O., 189 f. 79 Vgl. ebd., 95–97, 189. 80 Vgl. ebd., 48 f. 81 Zum Begriff vgl. Anm. 31; siehe auch Maurice Blondel, Zur Methode der Religionsphilosophie, übersetzt von I. u. H. Verweyen, Einsiedeln 1974 und dort auch die Einleitung von Hansjürgen Verweyen.

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Schöpfung, die auf den Menschen als ihre Krönung zuläuft, stieß schon im Mittelalter auf Widerspruch: »Du darfst nicht auf den Wahnsinn derjenigen achten«, schrieb Moses Maimonides in seinem More Nevuchim, »die glauben, der Affe sei zur Belustigung der Menschen geschaffen.«82 Der Vergleich mit dem Affen mag bei heutigen nachdarwinistischen Lesern noch andere Assoziationen wecken; jedenfalls bestreitet Maimonides, daß alle Geschöpfe ihr Ziel und ihren Sinn im Menschen finden; sie haben ihren Zweck vielmehr in sich selbst, auch wenn Maimuni natürlich der moderne Evolutionsgedanke noch unbekannt gewesen war. So ist die Tradition wesentlich reicher und entwicklungsfähiger als Strauß es darlegt; sein neuer Glaube möchte ungestört sein und seine Ruhe haben sowohl vor der religiösen Überlieferung, die zuweilen eine kritische Kraft entfalten kann, als auch vor der Arbeiterbewegung und den Kommunisten, welche die häusliche Ruhe, »die gemüthlich veredelte Ehe«83 als domestizierter Eros, den Besitz und die Familie gefährden könnten. Nach dem bissigen Urteil des Baseler Kirchenhistorikers Franz Overbeck versetzt uns Strauß »auf den Standpunkt des Spießbürgers der römischen Kaiserzeit, der am Mysterium des Staatsoberhauptes seine Religion hat, den im ruhigen Genuß seiner Güter gegen äußere Feinde das Heer, gegen innere die Strenge des Gesetzes schützt, der in der Beschäftigung mit einer todten Kunst sich die düsteren Stunden vertreibt, welche die Staatsordnung von ihm abzuhalten nicht im Stande ist, und der in der That, sofern er die Möglichkeit hatte Christ zu werden und es nicht wurde, vielleicht die antichristlichste Figur ist, die uns die Geschichte liefert.«84 Antichristlich ist sie nach Overbeck nicht primär, weil sie das Christentum ablehnt, sondern weil sie ungestört bleiben möchte; der neue Glaube ist die Apotheose der Banalität, und ähnlich erkannte auch Nietzsche in Strauß den kleinbürgerlichen, philiströsen »Gartenhaus-Besitzer«85. Aber jene Verwandlung von Religion und Aufklärung in die Idylle des juste milieu ist, wie Overbeck schon ahnte, keineswegs harmlos; was geschah, als der homo straußiensis, ohne Zweifel der Höhepunkt der Evolution, einmal aus der Ruhe aufgeschreckt wurde, hatte die spätere Geschichte gezeigt.

82

Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Übersetzung und Kommentar von A. Weiß, Hamburg 1972, Bd. III, 162. = III,25 (vgl. auch Bd. III, 66 f. = III,13). 83 D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, 169. 84 F. Overbeck, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, in: Ders., Werke und Nachlaß, hrsg. von E. W. Stegemann u. a., Bd. 1, Stuttgart / Weimar 1994, 233 (11883, 72). 85 F. Nietzsche, David Strauss als Bekenner und Schriftsteller, a. a. O., 215.

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IV. Gibt es theologisch eine Alternative zur bloßen Abwehr des Materialismus einerseits und zum neuen Glauben, der auch in einer modernisierten Variante denkbar wäre, andererseits? Die Theologie des 19. Jahrhunderts beantwortete diese Frage offenbar negativ. Die Position der katholischen Theologie änderte sich, wie auch Bruggers eingangs erwähntes Verdikt zeigt, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nicht; vorsichtige Korrekturen finden sich erst im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils (1963–65) – nicht zuletzt im Œuvre Karl Rahners, dessen transzendentale Theologie durchaus offen war für eine evolutionäre Theorie des Lebens und des gesamten Universums. Vorausgesetzt ist freilich, wie es in einer etwas umständlichen Erklärung heißt, »daß erstens die göttliche Kausalität dem endlichen Kosmos gegenüber Gegenstand einer Erkenntnis sei, die als Erkenntnis des transzendentalen Verhältnisses zwischen dem absoluten Sein und dem endlichen Seienden einer Anwendung eines allgemeinen Kausalitätsprinzips vorausliegt und dementsprechend zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis apriorisch ist, und daß, zweitens, mit diesem Verhältnis zwischen dem absoluten Sein und dem endlichen Werdeseienden diesem vom absoluten Sein selbst her eine Bestimmung der Selbsttranszendenz mitgegeben ist […], die keine partikulare Eigenschaft ist, die neben anderen am endlich Seienden naturwissenschaftlich abgelesen werden könnte.«86 Damit ist der Gedanke einer Evolution der Natur bis hin zum Menschen auch theologisch nachvollziehbar. In einer hochspekulativen Formulierung kann Rahner den Menschen bestimmen »als das Seiende, in dem die Grundtendenz der Selbstfindung der Materie im Geist durch Selbsttranszendenz zu ihrem definitiven Durchbruch kommt«87; umgekehrt ist für den Menschen Materie »die Bedingung der Möglichkeit für das gegenständig andere, das die Welt und der Mensch sich selbst ist […].«88 Rahner verwirft einen dogmatischen, zur Weltanschauung aufgespreizten Materialismus oder Naturalismus, da er, wie sein Gegenpart, der Platonismus, glaube, »für das Verständnis des Ganzen und seiner Teile einen Ansatzpunkt zu haben, der unabhängig ist vom Menschen als dem einen und ganzen, in dem allein jene Momente, Geist und Materie, in ihrem eigentlichen Wesen erfahren werden können […].«89 Aber das Stoffliche bleibt wesentlich Moment nicht nur der Umwelt, sondern des Menschen selbst, wobei das Verhältnis von Geist und Materie nicht statisch aufzufassen ist, sondern geschichtlich. Das betrifft nicht nur die praktische Auseinander86 87 88 89

K. Rahner, Schriften zur Theologie, a. a. O., Bd. XV, 46. Ebd., Bd. V, 186. Ebd., 190. Ebd., 189.

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setzung des Menschen mit der Natur, die er sich durch Bearbeitung aneignet, sondern die Ausrichtung des Stofflichen auf den Menschen als »Transzendenz ins substantiell Neue« und »Sprung zum Wesenshöheren«.90 Allerdings steht für Rahner der Primat des Geistes fest, so daß die »Materie gewissermaßen gefrorener Geist ist, dessen einziger Sinn die Ermöglichung wirklichen Geistes ist«, und nur unter dieser Voraussetzung »kann die Geschichte der Natur und die des Geistes als eine Geschichte gesehen werden«.91 Natur und Materie sind dem Geist weder bloß äußerlich, noch schlechthin mit ihm identisch, auch wenn die Rede vom ›gefrorenen Geist‹ doch stark in diese Richtung weist. Rahners anspruchsvolle Konzeption nimmt auch die Evolutionstheorie Darwins in sich auf: Die genaue Analyse des Prozesses ist Sache der Einzelwissenschaften, für die der Zufall in ihren Erklärungsmodellen eine wichtige Rolle spielt (also kein intelligent design); sie können jedoch über die Totalität und den ›Sinn‹ der Wirklichkeit kein abschließendes Urteil fällen. Jene Entwicklung kulminiert schließlich im Menschen und seiner stets materiell vermittelten Freiheitsgeschichte, die ihren Sinn in der aus ihr nicht ableitbaren endgültigen Selbstzusage Gottes findet.92 Insofern die menschliche Geschichte zugleich den Gipfel der gesamten Naturgeschichte darstellt, ist die ganze Schöpfung darin eingeschlossen. Die Stärke dieser Argumentation besteht gerade darin, daß sie die Theologie öffnet sowohl für die neuere Naturwissenschaft als auch für die Freiheitsemphase der großen bürgerlichen Philosophie. Die Schwierigkeiten zeigten sich jedoch u. a. in den auch von Rahner initiierten Diskussionen mit Vertretern eines unorthodoxen Marxismus – von Bloch über Horkheimer bis hin zu Machoveč. Das Widerständige der Natur, die in den Formen ihrer Bearbeitung nicht aufgeht, wird zugunsten der Geschichte des Geistes neutralisiert. Zudem verweigern sich die Sinnwidrigkeiten in Natur und Geschichte einer versöhnten Einheit beider. Unterschlagen wird – nicht nur von Rahner – die Dialektik der Freiheitsgeschichte, die stets auch ihr Gegenteil produzierte. Ist, so wendet Johann Baptist Metz ein, »Geist als Geschichte das andere von Natur, insofern er auf den Zustand vorauszeigt, der vom Zwang der Natur befreit und selbst Natur versöhnt, so ist er dies schon nicht mehr, insofern er als Technik den Naturzwang in steigender Ausbeutung und Herrschaft über Natur fortsetzt.«93 Insofern Geist Herrschaft über Natur und Menschen anstrebt, repräsentiert er selbst, wie Metz in Anschluß an Horkheimer und Adorno feststellt, ein Stück unversöhnter Natur, Leiden

90

Ebd., 192. Beide Zitate: Ebd., Bd. VI, 213 f.; vgl. auch ebd., 203. 92 Vgl. ebd., Bd. V, 115–135 u. Bd. XV, 61. 93 J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentatheologie, Mainz 51992, 109. 91

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produzierender Natur. »Von daher bleibt der Prozeß der Menschwerdung von Leiden gezeichnet, und es gibt« – hier meldet sich die Kritik an Bloch und Rahner – »keine teleologisch-finalistische Vermittlung zwischen Natur und Mensch«.94 So bleibt für Metz »die Naturgeschichte des Menschen« – d. h. die Auseinandersetzung von Mensch und Natur von Anbeginn an und der gesellschaftlich verlängerte Naturzwang, der den Schein des Unabänderlichen annahm – »gewissermaßen seine Passionsgeschichte«.95 Auch wenn Metz es nicht explizit ausführt, so gelangen doch unverkennbar materialistische Motive in die Konzeption der neuen Politischen Theologie: Die ›naturgeschichtliche‹ Verstrickung des Geistes und seiner Objektivationen, der darum niemals ungebrochen bei sich ist; die Differenz von Denken und Sein, die Einsicht in die Dialektik der Aufklärung und nicht zuletzt die Präponderanz des Objekts, die bei Metz in der vom Somatischen untrennbaren Leiderfahrung in besonderer Weise repräsentiert wird und auf die Unversöhntheit des Weltlaufs deutet. Die Leiderfahrungen lassen sich nicht aus dem kulturellen Gedächtnis eskamotieren; Metz fordert eine umfassende memoria passionis jenseits aller im Interesse der Sieger versuchten Zensur der Erinnerung, um Geschichte offen zu halten – gerade zugunsten jener, für die es scheinbar nichts mehr zu hoffen gibt.96 Metz kann hier auch im philosophischen Diskurs das kritische, keineswegs bloß auf ein Jenseits gerichtete Potenzial biblischer Traditionen und ihrer anamnetischen Vernunft erschließen.97 Die sich zeitgleich zur Politischen Theologie und anfangs nicht unabhängig von ihr entwickelnde Theologie der Befreiung in Lateinamerika versuchte, angesichts massiver sozialer Asymmetrien und politischer Unfreiheit die gesellschaftskritischen Implikation zentraler christlicher Gehalte herauszuarbeiten und praktisch fruchtbar zu machen.98 Der Rekurs auf Marxsche Analysen und deren Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert trug dieser Theologie vehemente Kritik auch seitens des kirchlichen Lehramtes ein.99 Hier zeigt sich auch, wie schwierig es war, die versäumte differenzierte Materialismusrezeption außerhalb des akademischen Rahmens und unter dem Druck einer

94

Ebd.. Ebd., 110. 96 Vgl. ebd., 111–119; ferner ders., Zum Begriff der neuen Politischen Theologie, Mainz 1997. 97 Vgl. hierzu J. B. Metz, Anamnetische Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissenschaften, in: A. Honneth u. a.(Hg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung (FS Jürgen Habermas), Frankfurt / M. 1989, 733–738. 98 Vgl. etwa G. Gutièrrez, Theologie der Befreiung, Mainz 101992. 99 Vgl. die beiden Instruktionen der Glaubenskongregation vom 6.8.1984 und vom 22.3.1986 (DH 4730–4776), dazu J. B. Metz (Hg.), Die Theologie der Befreiung: Hoffnung oder Gefahr für die Kirche?, Düsseldorf 1986. 95

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akuten gesellschaftlichen Konfliktsituation nachzuholen. Soweit historischer Materialismus und Marxismus, wie schon bei Plechanow, »eine ganze Weltanschauung« darstellen sollen, in der die Entwicklung seit Demokrit sich vollendet,100 waren die theologischen Bedenken nicht unbegründet. Zweifelhaft ist schon eher, ob »der Atheismus und die Negation der menschlichen Person, ihrer Freiheit und ihrer Rechte« tatsächlich »im Zentrum der marxistischen Anschauung stehen«.101 Mit größerem Recht ließe sich dies wohl jenen Verhältnissen attestieren, gegen die die Befreiungstheologie, der die Auferstehung des Fleisches bereits im Diesseits etwas bedeutete, ihre Kritik mobilisierte. Der historische Materialismus hatte in diesem Zusammenhang eine heuristische Funktion, sollte aber keine geschlossene Lehre über ›den‹ Menschen und seine Freiheit liefern.102 Der Primat der Ökonomie bezeichnet schon bei Marx keine anthropologische Invariante, der die Menschen schicksalhaft unterworfen sind, sondern den Gegenstand von Analyse und Kritik; er verweist auf einen Zustand, den Marx als »Vorgeschichte« bezeichnet und der nicht zu verewigen sondern abzuschaffen ist.103 Die Marxsche Theorie ist also keine ökonomistische oder materialistische prima philosophia und wurde als solche auch nicht von den Befreiungstheologen mißverstanden – eher schon von ihren Gegnern. Die Kontroverse wurde – trotz mancher Fortschritte in der theologischen Materialismus-Diskussion104 – nicht argumentativ entschieden, sondern verebbte nach 1989 allmählich, da die Befreiungstheologie sich stärker eigenen kulturellen Traditionen zuwandte und in der Alten Welt auf ein abnehmendes Interesse stieß. Wer freilich glaubte, daß mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und des offiziellen DiaMat auch das Materialismusproblem sich gleichsam von selbst gelöst habe, befand sich im Irrtum. Abgesehen vom fortbestehenden, inzwischen auch von liberaler Seite offen und nicht selten affirmativ konstatierten Primat der Ökonomie – zuweilen begleitet von einer Renaissance

100

Vgl. G. Plechanow, Die Grundprobleme des Marxismus, hrsg. von D. Rjazanov, Wien / Berlin 1929, 13. 101 DH 4734, Hervorh.: R. B. 102 Vgl. G. Gutièrrez, Theologie der Befreiung, a. a. O., 152–158; P. Rottländer (Hg.), Theologie der Befreiung und Marxismus, Mainz 1986; B. Kern, Theologie im Horizont des Marxismus. Zur Geschichte der Marxismusrezeption in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Mainz 1991. 103 Vgl. MEW, Bd. 13, 8 f; siehe auch M. Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt. Zum Begriff der Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant und Karl Marx, Freiburg / München 1989, 124–141. 104 Vgl. etwa die Materialismus-Artikel von Alfred Schmidt in der Theologischen Real-Enzyklopädie (Bd. 22, 262–268) und von Matthias Lutz-Bachmann im Lexikon für Theologie und Kirche (3. Aufl., Bd. 6, 1465–1468).

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des Sozialdarwinismus,105 dessen Auswirkungen auf »Kultur und Sittlichkeit« Walter Brugger leider nicht näher diskutierte – steht die Theologie heute vor einer Auseinandersetzung mit naturalistischen Auffassungen, die vor allem durch die neueren Ergebnisse der Hirnforschung genährt werden. Dabei gehen Autoren wie Gerhard Roth oder Wolf Singer über den naturwissenschaftlichen Befund deutlich hinaus, wenn sie das Bewußtsein vollständig auf Hirnprozesse reduzieren und Willensfreiheit als Illusion betrachten106, was streng genommen keine naturwissenschaftliche, sondern, wie Dominik Perler zutreffend feststellt, eine metaphysische These darstellt.107 Sie erinnert in manchem an den älteren Materialismus-Streit, beruht aber auf einer sehr viel differenzierteren Untersuchung und Erklärung der Hirnvorgänge, als sie im 19. Jahrhundert möglich waren und vermeidet eine substantialistische Argumentation.108 Auch wenn das Bewußtsein naturgeschichtlich entsprungen und kulturgeschichtlich geprägt ist und auf seine physiologische Basis bezogen bleibt, ist es doch mit dieser nicht schlechthin identisch. Der – materialistische wie idealistische – Monismus entspringt einem Bewußtsein, das sich lieber durchstreicht als zu seiner fälligen Kritik überzugehen. Jedenfalls bleibt materialistische GegenPhilosophie der Theologie erhalten und mahnt sie zur Treue gegenüber den vorletzten Dingen, zu dem, was verwundbar und hinfällig ist und dem doch nicht minder die Hoffnung gilt, denn endlicher Geist existiert nicht jenseits seiner somatischen Vermittlungen. Ob die Prinzessin mit leichtem Ekel den Frosch keusch küßt oder ihn zornig gegen die Wand wirft (ein Prinz wird wohl nicht daraus), ist noch offen.

105

Vgl. auch M. Vogt, Sozialdarwinismus, a. a. O., 312 f. Vgl. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Handeln steuert, Frankfurt / M. 2003; W. Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt / M. 2002; zur Diskussion vgl. auch Ch. Geyer, Hirnforschung und Willenskraft. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt / M. 2005; zur theologischen Diskussion vgl. P. Neuner (Hg.), Naturalisierung des Geistes – Sprachlosigkeit der Theologie? Die Mind-Brain-Debatte und das christliche Menschenbild (QD 205), Freiburg / Basel / Wien 2003; bes. die Beiträge von D. Perler, Alter und neuer Naturalismus, 15–42, und U. Lüke, Mehr Gehirn als Geist. Grenzen naturalistischer Interpretation, 57–77. 107 Vgl. D. Perler, Alter und neuer Naturalismus, a. a. O., 41 f. 108 Vgl. auch die Beiträge von Michael Hagner, Hirnforschung und Materialismus und Michael Pauen, Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke in diesem Band. 106

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Andreas Arndt, apl. Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe), Vorsitzender der Internationalen Hegel-Gesellschaft; Arbeitsschwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikationen: Dialektik und Reflexion, Hamburg 1994; Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003; Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004. Kurt Bayertz, seit 1993 Professor für praktische Philosophie an der Universität Münster; Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Anthropologie und politische Philosophie. Wichtige Publikationen: GenEthik. Probleme der Technisierung menschlicher Fortpflanzung, Reinbek 1987 (übersetzt ins Englische und Chinesische), Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004 (2. Aufl. 2006). René Buchholz, Dr. theol. (Fundamentaltheologie), hauptamtlich Pädagogischer Mitarbeiter beim Katholischen Bildungswerk Bonn, Privatdozent an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn; Arbeitsschwerpunkte: Religion und Moderne, Kritische Theorie und Theologie, Jüdische Theologie und Religionsphilosophie im 19. und 20. Jahrhundert, Probleme des Jüdisch-Christlichen Dialogs. Wichtige Publikationen: Zwischen Mythos und Bilderverbot. Die Philosophie Adornos als Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne, Frankfurt/M. u. a. 1991; Körper – Natur – Geschichte. Materialistische Impulse für eine nachidealistische Theologie, Darmstadt 2001; Die ›kopernikanische Wendung des Eingedenkens‹. Mythos, Erinnerung und Erwachen im Spätwerk Walter Benjamins, in: P. Petzel / N. Reck (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003, 162–178. Myriam Gerhard, seit 2004 Juniorprofessorin für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Naturphilosophie, Klassische Deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie. Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes, Berlin 2002.

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich; Arbeitsschwerpunkte: Historische Epistemologie der Humanwissenschaften, Visualisierung in den Wissenschaften, Geschichte der Hirnforschung, Geschichte der Kybernetik. Wichtige Publikationen: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004; (Hg.) Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt / M. 2005; Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung, Göttingen 2006. Walter Jaeschke, Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Direktor des Hegel-Archivs; Arbeitsschwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart 2003; Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels; Stuttgart 1986; Editionen insbesondere von Werken Hegels und Friedrich Heinrich Jacobis. Christian Jansen, Dr. phil., apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum; Arbeitsschwerpunkte: deutsche und italienische Geschichte, Universitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikationen: Exzellenz weltweit. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik (1953–2003), Köln 2004; Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849–1867), Düsseldorf 2000, Paperbackausgabe Düsseldorf 2005; Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004. Bernhard Kleeberg, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Biologie und Ökonomiethorie. Wichtige Publikationen: (Mithg., u. a.), Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen, Tübingen 2001; (Mithg., u. a.), Urmensch und Wissenschaften, Darmstadt 2005; Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen, Köln / Weimar 2005. Gudrun Kühne-Bertram, Dr. phil. M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Dilthey-Forschungsstelle im Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Wichtige Publikationen: Aus dem Leben – zum Leben. Entstehung, Wesen und Bedeutung populärer Lebensphilosophien in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhun-

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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derts, Frankfurt / M. 1987; Mitherausgeberin von: Grenzen des Verstehens, Göttingen 2002; Kultur verstehen, Würzburg 2003; Editionen aus den Nachlässen von W. Dilthey (2004) und G. Misch (1994, 1999); Aufsätze und Lexikonartikel zur Theorie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Hermeneutik und Begriffsgeschichte. Günther Mensching, Professor für Philosophie an der Universität Hannover; Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Mittelalters und der Aufklärung, Geschichte des Materialismus, Metaphysik und Sozialphilosophie. Wichtige Publikationen: Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Frankfurt / M. 1971; Das Allgemeine und da Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992; Thomas von Aquin, Frankfurt/M. 1995. Reinhard Mocek, Professor für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (1964–1991), anschließend am Wissenschaftskolleg Berlin, am Soziologischen Institut der Universität Bielefeld und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin tätig, 1990 Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, seit 2004 Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung; Arbeitsschwerpunkte: Ideologie- und Ideengeschichte, Philosophische Probleme der Naturwissenschaften, Geschichte der Biologie, Wissenschaftstheorie. Wichtige Publikationen: Gedanken über die Wissenschaft, Berlin 1980; Neugier und Nutzen, Berlin/ Köln 1988; Die werdende Form. Eine Geschichte der kausalen Morphologie, Marburg 1998; Biologie und soziale Befreiung, Frankfurt/M. u. a. 2002. Michael Pauen, Professor für Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Visiting Professor am Institute for Advanced Study in Amherst, Massachusetts, Fellow an der Cornell-University und am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst, Ernst-Bloch-Förderpreis 1997. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Kultur- und Geschichtsphilosophie. Wichtige Publikationen: Illusion Freiheit?, Frankfurt/M. 2004; Feeling Causes, in: Journal of Consciousness Studies (2006); Does Free Will Arise Freely, in: Scientific American (2003). Monika Ritzer, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig; Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zu Theorie und Geschichte der Tragödie. Herausgeberin des Hebbel-Jahrbuchs, Mitherausgeberin von KulturPoetik.

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Renate Wahsner, Prof. Dr., Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte; Arbeitsschwerpunkte: Philosophiegeschichte in Verbindung mit Wissenschaftsgeschichte; epistemologische Grundlagen und Probleme der Physik; Deutscher Idealismus; klassische Naturphilosophie. Wichtige Publikationen: H. H. von Borzeszkowski / R. Wahsner, Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff (gem. mit H.-H. v. Borzeszkowski), Darmstadt 1989; Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis (Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus, hrsg. von H. Schneider, Bd. 7), Frankfurt/M. u. a. 1996; Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwissenschaft, Aachen 2006.