Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 2: Der Darwinismus-Streit 9783787318254, 9783787320110

Darwins Schrift Über die Entstehung der Arten (1859) löste eine neue Debatte aus, die sich zeitlich und inhaltlich unmit

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 2: Der Darwinismus-Streit
 9783787318254, 9783787320110

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Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 2: Der Darwinismus-Streit

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 1: Der Materialismus-Streit Band 2: Der Darwinismus-Streit Band 3: Der Ignorabimus-Streit

FELIX MEINER VERLAG



H AM BURG

Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Band 2: Der Darwinismus-Streit

Herausgegeben von

kurt bayertz, myriam gerhard und walter jaeschke

FELIX MEINER VERLAG



HA M BU RG

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1825-4

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Marcel Simon-Gadhof. Umschlagabbildung: Johann Brandstetter, »Evolution des Menschen«. © akg-images. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer, Bad Langensalza«. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Kurt Bayertz / Myriam Gerhard /Walter Jaeschke Einleitung .. . .. .. .. ... .. ... .. .. ... .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. ........................

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I. DIE THEORIE DARWINS UND DER DARWINISMUS Wolfgang Lefèvre Der Darwinismus-Streit der Evolutionsbiologen .. .........................

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Julia Voss Das erste Bild der Evolution. Wie Charles Darwin die Unordnung der Naturgeschichte zeichnete und was daraus wurde .....................

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Michael Weingarten Von Darwins Evolutionstheorie zum Darwinismus .. ......................

83

II. WELTANSCHAUUNG, RELIGION UND KULTUR Jan Rohls Darwin und die Theologie. Zwischen Kritik und Adaption ...............

107

Bernhard Kleeberg Zwischen Funktion und Telos. Evolutionistische Naturästhetik bei Haeckel, Wallace und Darwin . .. .. .. ... .. ... .. .. ... ......................

132

Monika Ritzer Darwin und der Darwinismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts .. .. ... .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. ... .. .. ......................

154

Paul Ziche Wissenschaft als Weltanschauung, Weltanschauung als Wissenschaft. Der Darwinismus und die Verallgemeinerung von Wissenschaft um 1900 . .. . .. .. ... .. .. ... .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. ... .. .. ........................

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Inhalt

III. PHILOSOPHIE UND EVOLUTION Dirk Solies Evolution oder Entwicklung? Kritik und Rezeption eines Darwinistischen Grundbegriffs ... .. ... ................................

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Francesca Michelini Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur ..............

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Reinhard Mocek Darwin und die Moral. Überlegungen zu einem Problemkern der Weltanschauungsdebatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ...

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . .................................

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Einleitung

I. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert nennt Friedrich Schlegel im Athenäumsfragment Nr. 216 als die drei »größten Tendenzen des Zeitalters«: die »Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister«. Und er fährt fort: »Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.«1 Diese letztere Einschätzung über den »nicht-martialischen« Charakter wichtiger Revolutionen wird durch einen Blick auf die Mitte des 19. Jahrhunderts gestützt: Auch hier sind die entscheidenden Revolutionen, die die »größten Tendenzen« bezeichnen, nicht »laut und materiell«, sondern literarisch. Inhaltlich aber könnte ihre Differenz zu denjenigen des Jahrhundertbeginns kaum größer sein. Sie vollziehen sich nun auf gänzlich veränderten Gebieten: nicht mehr in einem »klassischen« Entwurf der Philosophie und in einem Werk der Dichtung, sondern als Revolutionen wissenschaftlicher Weltbilder. Unter den nun herrschenden »Tendenzen des Zeitalters« ist vor allem das Hervortreten der Naturwissenschaften zu nennen, und in ihrem Gefolge der Materialismus, dieser allerdings nie als eine zur Herrschaft gekommene Denkweise, sondern stets nur im Modus des »Streits« um ihn.2 Und im unmittelbaren Anschluß an den Höhepunkt dieses Materialismus-Streits ist eine zweite Tendenz zu nennen, die nun auch eine veritable Revolution vollzieht: Charles Darwins Lehre vom Ursprung der Arten.3 Griffige Formeln wie die damalige Rede vom 19. Jahrhundert als dem »Jahrhundert der Naturwissenschaften«4 oder von der Gegenwart als einem »Zeitalter Dar1

F. Schlegel, Athenäumsfragment 216, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, hrsg. von H. Eichner, München u. a. 1967, 198. 2 Siehe von den Herausgebern: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1 Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007. 3 Ch. Darwin, The Origin of Species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life, in: The Works of Charles Darwin, vol. 4, New York 1972. 4 So der berühmte Titel eines von Werner von Siemens 1886 gehaltenen Vortrags. Abgedruckt in: H. Autrum (Hg.), Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958), Berlin u. a. 1987, 143–155.

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win’s«5 fordern zwar stets – und oft genug mit gutem Recht – zum Widerspruch heraus, und so hat es auch an Protesten gegen die Einschätzung der Lehre Darwins als einer epochalen Neuorientierung nicht gefehlt – von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über theologische Bedenken bis hin zu einigen ebenso skurrilen wie ignoranten Einwürfen unserer Tage, von denen zu sprechen hier nicht nötig ist. Doch ob man nun die genannten Formeln als angemessenen Ausdruck dieser wissenschaftlichen Umwälzung festhalten will oder nicht: daß ihr eine epochale Bedeutung zukommt, zeigt sich nicht allein in der Intensität des Streits um sie, sondern in dem Umstand, daß die vorher schlechthin herrschende Denkweise durch sie zu einer (ignoranten) Subkultur herabgesunken ist. Doch worin genau liegt die epochale Bedeutung der Theorie Darwins? Wer diese Frage mit Hilfe eigener Aussagen Darwins beantworten will, wird die verbreitete Erfahrung machen, daß die Selbstdeutungen der Urheber solcher »Revolutionen« den entscheidenden Punkt der Beschreibung ihrer Stellung in der Wissenschaftsgeschichte nicht selten verfehlen oder im Dunklen lassen. Dieser Vorbehalt bezieht sich nicht allein darauf, daß Darwin selbst, eher zurückhaltend, in einem Historical Sketch6 die Originalität seines Werks relativiert und seine theoretischen Überlegungen im Kontext der Wissenschaftsentwicklung verortet. Er präsentiert seine Theorie nicht als eine historisch unvermittelte, exzeptionelle Leistung, sondern er stellt sich in die Tradition der englischen Naturforscher, die die zu beobachtenden Naturerscheinungen auf ein allgemeines Gesetz zurückzuführen suchten, und er sieht sein Werk als Frucht dieser langen Tradition empirischer Naturforschung, die unausweichlich auf die Idee der Evolution zugelaufen sei. In diesem Sinne ist auch das von Darwin allen Ausgaben seines Werkes vorangestellte Zitat des Wissenschaftsphilosophen William Whewell zu verstehen. Bezogen auf die materielle Welt könne man zumindest so weit gehen, daß »events are brought about not by insulated interpositions of Divine power, exerted in each particular case, but by the establishments of general laws.«7 Die Struktur der Lebewesen und ihre Veränderungen sind demnach ebenso auf ein allgemeines Naturgesetz zurückzuführen wie physikalische Phänomene. Darwin nennt Lamarck als den ersten Naturforscher, der die Aufmerksamkeit auf die Wahrscheinlichkeit lenkte, daß »all change in the organic, as well as in the inorganic world, being the result of law, and not of miraculous interposition«8. 5

E. Haeckel, Das Menschenproblem. Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen, Vortrag vom 26. März 1898, Stuttgart 1905, zit. n. G. Heberer, Der gerechtfertigte Haeckel, Stuttgart 1968, 405. 6 Ch. Darwin, The Origin of Species, a. a. O., xiii–xxvi. 7 W. Whewell, Astronomy and general physics considered with reference to natural theology (1833), Bridgewater Treatise Bd. III, zitiert nach Ch. Darwin, The origin of species, a. a. O., xii. 8 Ch. Darwin, The Origin of Species, a. a. O., xiv.

Einleitung

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Diese Selbstdarstellung aber geht an dem entscheidenden Punkt in doppelter Weise vorbei.9 Zum einen verkürzt Darwins bzw. Whewells Kontrastierung isolierter, von Fall zu Fall erfolgender, also gleichsam »occasioneller« göttlicher Eingriffe einerseits und der Gesetzförmigkeit natürlicher Prozesse andererseits den Umstand, daß die Durchsetzung eben dieses Gedankens der Gesetzmäßigkeit seit der Wende zum 17. Jahrhundert den roten Faden in den Auseinandersetzungen der neuzeitlichen Wissenschaft mit der theologischen Deutung der Natur bildet. Während die Wissenschaft an der Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Natur als Bedingung der Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Behandlung essentiell interessiert ist, sucht die Theologie im Interesse der Sicherung der Allmacht Gottes und seiner Heilszusage am göttlichen Willen und am Wunder festzuhalten. Doch diese Auseinandersetzungen sind im Grundsätzlichen zu Beginn des 18. Jahrhunderts entschieden, wie schon der Briefwechsel zwischen Leibniz und Samuel Clarke zeigt. Selbst die einflußreiche, das 18. Jahrhundert dominierende Bewegung der Physikotheologie, in deren gedanklichem Umkreis der junge Darwin – etwas verspätet – noch steht, befriedigt ihr theologisches Interesse an der Erkenntnis des Wesens und des zweckmäßigen Handelns Gottes nicht mehr durch die Annahme einer »miraculous interposition« Gottes in bestehende Naturabläufe. Zumindest dort, wo sie nicht allein erbaulich ist, sondern sich als Wissenschaft formiert, teilt sie notwendiger Weise das unverzichtbare Interesse der Wissenschaft an der Zuverlässigkeit des Naturverlaufs. Deshalb extrahiert sie das Wunderbare aus ihm und verlegt es statt dessen in den uranfänglichen göttlichen Schöpfungsakt, in dem zugleich die Gesetzmäßigkeit der Natur ihren letzten Grund hat. Zum anderen besteht das Neue der Theorie Darwins auch nicht darin, daß er die frühere Annahme der Konstanz der Arten preisgibt und sie durch einen Entwicklungsgedanken ersetzt – dies ist entschieden zu unspezifisch. Nicht einmal der Gedanke der Veränderung der Arten durch »Anpassung« ist Darwins Specificum. Über eine Theorie der Evolution durch Anpassung verfügt, ein halbes Jahrhundert vor Darwin, bereits Jean Baptiste Lamarck, und auch in den Schriften Alexander von Humboldts, die Darwin bereits vor seiner berühmten Forschungsreise studiert, läßt er sich in wünschenswerter Deutlichkeit finden – worin wohl der Grund für die Bedeutung Humboldts 9

Es deutet einiges darauf hin, daß Darwin in seiner öffentlichen Selbstdarstellung taktisch vorgegangen ist: Er hat den revolutionären Charakter seiner Theorie heruntergespielt, um ihre Rezeption in der zeitgenössischen scientific community nicht zu gefährden. In seinen Briefen finden sich Hinweise darauf, daß er sich über diesen revolutionären Charakter sehr wohl im Klaren war. So schreibt er am 11. Januar 1844 in einem Brief an J. D. Hooker im Hinblick auf die Einsicht, daß die Arten nicht unveränderlich seien: »es ist wie das Eingeständnis eines Mordes«. (Ch. Darwin, Ein Leben, hrsg. von S. Schmitz, München 1982, 128).

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für den jungen Naturforscher und Weltreisenden gelegen hat. Die »differentia specifica« der Theorie Darwins gegenüber anderen Evolutionstheorien liegt in seiner Annahme, daß die Veränderungen in der Formentwicklung nicht etwa auf Grund einer innerorganismischen Entwicklungstendenz erfolgen, daß sie aber auch nicht durch den intensiven Gebrauch oder die Vernachlässigung von Organen ausgelöst werden (wie bei Lamarck). Sie werden vielmehr ausgelöst durch die natürliche Zuchtwahl auf der Basis in sich varianter Populationen, und die dadurch entstehenden neuen Formen unterliegen jeweils der Anpassung an (veränderte) Umweltbedingungen und müssen sich im »struggle for life« in jeweils unterschiedlicher Weise durchsetzen – oder wieder untergehen. Brisant – und unter den damaligen Rezeptionsbedingungen anstößig – ist nicht allein die Preisgabe des Prinzips der Konstanz der Arten, sondern es sind die in dieser spezifischen Deutung der Evolution gelegenen Implikate: Die Veränderungen gelten nicht als durch eine immanente, innerorganismische Entwicklungstendenz bewirkt, wodurch sie noch als Ausdruck einer »schöpferischen Intention« Gottes umgedeutet werden könnten; für Darwin werden sie nicht einmal durch das Verfolgen von außen, etwa durch natürliche Veränderungen gesetzter Zwecke verursacht, sondern sie verdanken sich zunächst dem »blinden Zufall« – auch wenn das durch solchen Zufall entstandene Produkt unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten von der Umwelt getestet wird: Um überleben zu können, muß es sich im »struggle for life« als »fit« bewähren. Diese situative Zweckmäßigkeit, die den Erfolg des Überlebens sicherstellt, ist jedoch kein Äquivalent, ja nicht einmal ein dürftiges Surrogat für den traditionell-religiösen Gedanken einer zweckmäßigen und weisen Einrichtung der Welt durch ihren göttlichen Schöpfer. Die Ersetzung teleologischer Erklärungsmuster durch mechanische bedeutet unvermeidlich den Verzicht auf die Annahme göttlicher Zwecksetzungen – und deshalb liegt in dieser Verabschiedung aller teleologischen und theologischen Erklärung zu Gunsten des Zufalls bzw. »mechanischer« Erklärungen das Spezifische – und damals weitgehend auch das Skandalöse – der Lehre Darwins vom »origin of species«. Nach einem bekannten Wort Hegels bewährt sich eine Partei erst dadurch als die siegende, daß sie in zwei Parteien zerfällt, da sie hierbei das von ihr bekämpfte Prinzip in sich selber aufnimmt.10 Von einem derartigen »Zerfallen« ist im Blick auf Darwins Theorie zwar nicht zu sprechen, doch findet hier ein funktional analoger Prozeß statt: In der unmittelbar nach der Publikation von On the Origin of Species einsetzenden stürmischen Rezeptionsgeschichte wird Darwins Lehre mit anderen – zumindest nicht in ihr enthaltenen und teils sogar ihr entgegengesetzten – Ansätzen amalgamiert, zu dem unter dem Namen 10

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 9, Hamburg 1980, 312.

Einleitung

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»Darwinismus« bekannten Konglomerat. Auch der Sieg der Lehre Darwins ist somit erkauft durch ihre zumindest phasenweise Überlagerung durch heterogene Prinzipien: sei es durch die Aufnahme von ihr fremden Elementen der Ansätze Lamarcks, Charles Lyells oder Alfred Russel Wallace, sei es durch ihre Umbiegung und Verbiegung im Sinne einer vom Fortschrittsgedanken getragenen Weltanschauung oder sei es durch die doppelte Umdeutung und Inanspruchnahme einerseits im theologischen, andererseits im materialistischen Interesse. Ihre paradigmatische Bedeutung für das »Jahrhundert der Naturwissenschaften« ist erkauft um den Preis ihrer »Anpassung« an den Denk- und Erwartungshorizont der Zeitgenossen, und zwar weniger derer, die sie bekämpft, als derer, die sie propagiert haben. Deshalb bedarf es, um zum Kern der Lehre Darwins vorzustoßen, erst seiner Freilegung unter den sehr unterschiedlichen und sich wandelnden, vor allem aber sehr stark interessengeleiteten Rezeptionsschichten. Trotz des Akzents, den Darwin auf den Zufall und die absichtslose Varianz bei der Veränderung der Arten legt, wird seine Lehre zum Kronzeugen eines – nunmehr angeblich »wissenschaftlich begründeten« – Fortschrittsdenkens ernannt, wozu allerdings sein Begriff der »Anpassung« ebenso wie mehrere teleologische und intentionale Wendungen eine bequeme Brücke bauen. Und während von der einen Seite die natürliche Zuchtwahl zu einem von Gott erwählten Mittel stilisiert wird, wird von der anderen Seite das in Darwins Theorie zwar angelegte, aber von ihr nicht aktualisierte antireligiöse Potential freigesetzt und ausgebaut zur Stützung eines weltanschaulichen Materialismus, der nun vorgibt, das von ihm zuvor etwas leichtfertig gegebene Versprechen einer Erklärung der Welt allein aus ihr selbst heraus, ohne Rückgriff auf übernatürliche Instanzen, könne nun als eingelöst und das Rätsel des Lebens als aufgelöst gelten. Diese Rezeptionsprobleme, die aus dem Verstehenshorizont und Interesse der Zeitgenossen erwachsen – ob nun aus einem Interesse an einer »religiösen« oder an einer »materialistischen« Weltdeutung oder an einer »naturwissenschaftlich fundierten« Ästhetik –, werden in der deutschsprachigen Rezeption zudem noch verschärft durch sprachliche Übersetzungsprobleme (»struggle for life« durch »Kampf ums Dasein«). Insofern bietet die Rezeption der Theorie Darwins und ineins damit ihre Umgestaltung zum »Darwinismus« einen exzeptionellen Modellfall für rezeptionsgeschichtliche Studien – exzeptionell nicht so sehr deshalb, weil die spezifische Verlaufsform dieser Rezeption sich von anderen signifikant unterschiede, als vielmehr wegen der Breite dieser Rezeption – von der Naturwissenschaft über die Philosophie, die Theologie und die Literatur bis hin zur Ausbildung einer allgemeinen »wissenschaftlich begründeten« Weltanschauung von vielleicht geringer intellektueller Solidität und Brillanz, aber von hoher bewußtseinsgeschichtlicher Relevanz. Bemerkenswert ist es, in welchem Grade diejenigen Züge der Theorie Darwins, die eine antihumane Wirklichkeitserfahrung

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stützen, in eine optimistische Fortschrittstheorie umgebogen werden, die sich in der Konsequenz jedoch wiederum mit antihumanen Programmen (»Sozialdarwinismus«) berühren kann. Die Möglichkeiten unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Funktionalisierungen wissenschaftlicher Theoreme lassen sich hier in herausragender Weise studieren – ein Aspekt, der sich ähnlich bereits im Kontext des Materialismusstreits der 1850er Jahre gezeigt hat und später beim Ignorabismus-Streit der 1870er Jahre erneut hervorgetreten ist.

II. 1. Darwins Theorie und der Darwinismus Der Ausführung der hier in sehr geraffter Form vorweggenannten Aspekte widmen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes. Wolfgang Lefèvre legt dar, daß Darwin nicht der Begründer der Evolutionstheorie ist, sondern daß er eine bestimmte Version dieser Theorie entwickelt und ihr mit dieser Version zum wirkungsgeschichtlichen Durchbruch verholfen hat. Worin der Kern dieser Theorie und ihre Spezifik bestand, war nicht nur innerhalb der philosophischen und weltanschaulichen Auseinandersetzung strittig, sondern auch in der biologischen Diskussion. Erst allmählich wurden die verschiedenen Teile der Darwinschen Theorie, zum Beispiel die Deszendenz- und die Selektionstheorie, voneinander unterschieden, womit zugleich eine unterschiedliche, zum Teil divergierende Rezeption dieser Teile einsetzte. Es waren nicht zuletzt weltanschauliche Interessen, die die Art und Weise dieser Rezeption bestimmten. Die Krise des Darwinismus um 1900 ist zum nicht geringen Teil als eine Konsequenz dieser selektiven Rezeption zu verstehen. Wie komplex die Prozesse der Entstehung und Rezeption der Darwinschen Theorie waren, zeigt auch der Beitrag von Julia Voss. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf einen in der Literatur vielfach übersehenen oder vernachlässigten Aspekt dieser Prozesse: auf die eminente Rolle, die der bildlichen Darstellung zukommt. Darwin formte und formulierte seine Ideen nicht nur in Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Texten, sondern auch mit vorgefundenen Bildern. Die Genese seiner Theorie kann zumindest zum Teil als ein Prozeß der Transformation dieser Bilder verstanden werden. Dasselbe gilt für die spätere Uminterpretation der Darwinschen Theorie in die als »Darwinismus« charakterisierte Weltanschauung: Von ihr wird das »unordentliche« Bild der Evolution als eines von Zufällen vorangetriebenen, ungerichteten Prozesses in das vertraute und verläßliche Bild eines Baumes überführt, in dem der Mensch die Krone einnimmt. Die Umdeutung der Theorie Darwins in die »darwinistische Weltanschau-

Einleitung

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ung« und in eine »neue«, und zwar wissenschaftliche »Schöpfungstheorie«, wie sie – nicht nur, aber vornehmlich – von Vertretern des naturwissenschaftlichen Materialismus betrieben wurde, kann aus einer anderen Perspektive aber auch als ein Übergang zu einem anderen, zumindest impliziten Wissenschaftsverständnis analysiert werden. Den entscheidenden Umschlagspunkt lokalisiert Michael Weingarten in Veränderungen im methodischen Aufbau der Evolutionstheorie, die von Darwin-Interpreten sowohl in England als auch in Deutschland vorgenommen wurden. Dabei spielt die Art der Bezugnahme auf die Züchtungspraxis eine entscheidende Rolle. Darwin hatte in seiner Theorie vor allem auf gegenständliche Prozesse Bezug genommen – eben auf das Zuchtverhalten – und in ihnen den Erklärungsmechanismus für die Entstehung der Arten gesehen, nicht aber auf dingliche Entitäten. Darwins Theorie ist demnach strikt von jenen empiristischen und naturalistischen Begründungskonzepten der Evolution abzugrenzen, die für »Darwinisten« à la Büchner oder Haeckel grundlegend waren.

2. Weltanschauung, Religion und Kultur Überraschend ist demgegenüber die sehr differenzierte Rezeption, die Darwin in den unterschiedlichen Spielarten der (protestantischen) Theologie in England, Amerika und Deutschland gefunden hat. Sie ist keineswegs schlechthin ablehnend; neben der Ablehnung steht lange Zeit eine, der Verwandlung der Theorie Darwins in Weltanschauung analoge Tendenz, sie mit dem Schöpfungsgedanken kompatibel zu machen – bis hin zur Ausbildung eines »christlichen Darwinismus«. Erst nach dem 1. Weltkrieg findet die dogmatische Verhärtung statt, die gemeinhin in die erste Rezeptionsphase retrojiziert wird. Überraschend ist auch die Angemessenheit, mit der Momente von Darwins Theorie – wenn auch in sprachlicher Umformung – in der deutschsprachigen Literatur dieser Zeit aufgenommen werden. Während in der Umbiegung der Theorie Darwins zur »Weltanschauung« eine teleologische und ästhetische Uminterpretation stattfindet, tritt im »Realismus« die Härte der Theorie Darwins offen zu Tage, auch noch bei Sacher-Masoch, der sie jedoch schließlich auf die aggressiv-agonale Form eines sozialen Egoismus reduziert, während sie in einer Ästhetik im Umkreis Haeckels wieder in einen »wissenschaftlich« begründeten Optimismus umgebogen wird. Kaum ein Werk hatte einen ähnlichen Einfluß auf das Wissenschaftsverständnis des viktorianischen Großbritannien wie William Paleys Natural Theology; or Evidences of the Existences and Attributes of the Deity (1802). Im Geiste dieser Natural Theology unterstützte der achte Earl of Bridgewater die Publikation naturwissenschaftlicher Arbeiten »on the power, wisdom, and

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goodness of God as manifested in the Creation«11. Die gesellschaftliche Bedeutung der Naturwissenschaften wird ihnen durch die religiöse Weltanschauung zugewiesen, die die wissenschaftliche Dokumentation der Existenz Gottes als die herausragende Aufgabe der Naturwissenschaften betrachtet. Die Variabilität innerhalb der Organismen und der Umwelt wird hierbei als eine zweckmäßige Einrichtung Gottes verstanden. Würden z. B. alle Tiere den gleichen Lebensraum, die gleichen Nahrungsmittel etc. beanspruchen, so würde eine geringere Anzahl überleben können, als bei einer zweckmäßigen Variabilität der notwendigen Subsistenzmittel.12 Daß Darwin, der mit den Schriften Paleys gut vertraut war, sich nach der Publikation seines Erstlingswerks einer scharfen Kritik von Seiten der Theologen ausgesetzt sah, überrascht deshalb nicht – eher schon die zunächst noch hörbaren vergleichsweise moderaten Töne, ja der Versuch einer produktiven Umdeutung im theologischen Interesse. Der Streit um Darwins Evolutionslehre läßt sich somit zwar zu einem guten Teil als ein Streit zwischen Vertretern der theologischen Orthodoxie und der modernen Wissenschaft begreifen, doch umfaßt das Thema ›Darwin und die Theologie‹ weit mehr als nur die streitbare Auseinandersetzung. Jan Rohls expliziert in seinem Beitrag die vielschichtige theologische Rezeption und Auseinandersetzung mit der Theorie Darwins, und er zeigt dabei nationale Besonderheiten auf: Während im angelsächsischem Raum die Kritik vom Vorwurf des Atheismus bis zur elaborierten Darlegung der Verträglichkeit von Darwinismus und Theismus reichte, kam für die deutschen Kritiker die Möglichkeit eines christlichen Darwinismus überhaupt nicht in Betracht. Im Vergleich der unterschiedlichen Rezeptionen zeigt Jan Rohls, inwieweit die positive Reaktion der orthodoxen Theologen im angloamerikanischen Raum auch durch einen gemeinsamen theologischen Hintergrund, den Einfluß der Natural Theology Paleys, bedingt ist. Aber nicht in jeder Hinsicht hat Darwins Theorie als Zäsur gewirkt. Bernd Kleeberg vertritt in seinem Aufsatz die These, daß sie für die Naturästhetik keineswegs einen »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«13 markiert. Die Abhängigkeit der evolutionären Ästhetik von naturtheologi-

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The Bridgewater Treatises on the power, wisdom, and goodness of God as manifested in the Creation, London 1833 ff. 12 Vgl. W. Paley, Natural Theology or evidence of the existence and attributes of the deity, collected from the appearances of nature, London 1822, 229: »To this great variety in organized life, the Deity has given, or perhaps there arises out of it, a corresponding variety of animal appetites. For the final cause of this we have not far to seek. Did all animals covet the same element, retreat, or food, it is evident how much fewer could be supplied and accomodated, than what at present live conveniently together, and find a plentiful subsistence.« 13 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts (1939), Hamburg 1995.

Einleitung

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schen Überlegungen verweise vielmehr auf eine Stärkung des Verhältnisses von Wissenschaft und Religion als auf einen Bruch. Gegen Darwins Ersetzung der vormaligen Überzeugung von teleologischen Ordnungsstrukturen durch die neue Annahme eines blinden, kontingenten Naturgeschehens boten evolutionäre Begründungskonzepte des Naturschönen der Idee eines sinnhaften Naturganzen ein ästhetisches Refugium, durch die Restitution der Natur als des Ortes einer transzendent begründeten Ordnung. Dieser Ästhetisierung der Natur steht jedoch eine Tendenz zur Naturalisierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber. Monika Ritzer expliziert in ihrem Beitrag den Einfluß, den Darwins Lehre auf die Konzeption der Natur und der Stellung des Menschen zu ihr auf die Literatur ausübt. An ausgewählten Beispielen zeigt sie, wie die Naturalisierung im Sinne einer Rückführung aller Lebensphänomene auf die Natur zu einem zentralen Thema der Literatur wird. Die Literatur läßt sich so als ein Spiegel der geistigen Strömungen ihrer Zeit begreifen. Der Einfluß der Theorie Darwins und des Darwinismus beschränkte sich nicht auf spezifische Kulturformen. Paul Ziche erörtert in seinem Aufsatz, wie eine naturwissenschaftliche Theorie zur Grundlage einer umfassenden Weltanschauung werden konnte. Ohne Darwins Theorie, so seine These, wäre das Diktum vom 19. Jahrhundert als Jahrhundert der Naturwissenschaft nicht denkbar. Diese Rede vom Jahrhundert der Naturwissenschaft impliziert die Verallgemeinerung der Bedeutung der Naturwissenschaft über ihren spezifischen Geltungsbereich hinaus, eine Durchdringung aller Lebensbereiche durch diese neue Wissenschaft. Sie gewinnt eine generelle Bedeutung für die Ausbildung und Stützung einer »Weltanschauung«. Diese gesamtgesellschaftliche Tendenz zur Verallgemeinerung einer im Singular emphatisch als »die Wissenschaft« bezeichneten Form läßt sich als eine Reaktion auf die zunehmende Ausdifferenzierung und Vereinzelung der Wissenschaften begreifen; der Weg zu ihr führt aber insbesondere über die Rezeption der Theorie Darwins.

3. Philosophie und Evolution Eine Erörterung der philosophischen Rezeption der Evolutionstheorie sieht sich zunächst vor die Schwierigkeit gestellt, die changierenden Bedeutungen des Begriffs der Entwicklung offenzulegen. Der von Darwin verwandte Begriff der Evolution ist oftmals weit von dem in der philosophischen Diskussion zugrundegelegten Begriff von Entwicklung entfernt. Dirk Solies zeigt in seinem Beitrag auf, welchen Einfluß das »Mißverständnis« des Evolutionsbegriffs auf die philosophische Rezeption einer genuin naturwissenschaftlichen Theorie hatte. Der allseits bekannte Begriff der Entwicklung schien eine Anschlußfä-

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higkeit an bestehende philosophische Konzepte zu bieten, die eine Eingliederung des Darwinismus in den philosophiehistorischen Kontext nur konsequent erschienen ließ. Hierdurch ergaben sich selbst für einen scharfen Analytiker wie Friedrich Nietzsche Verbindungslinien zwischen Hegel und Darwin. Doch Hegel läßt sich weder rezeptionsgeschichtlich als Vorläufer Darwins erweisen, noch läßt sich sein Begriff der Entwicklung als eine systematische Vorbereitung des biologischen Evolutionsverständnisses verstehen. Der Versuch, so unterschiedliche Konzeptionen wie Hegels Entwicklungsbegriff und Darwins Evolutionsbegriff oder selbst nur den Gedanken orthogenetischer Entwicklung unter einen gemeinsamen Titel zu stellen, mußte deshalb das spezifische Profil der Ansätze und damit auch das Neue der Lehre Darwins verstellen. Weitere Probleme bereitet die Frage, ob die Entwicklung als ein intern oder als ein extern verursachter Prozeß zu begreifen ist. Wird die Entwicklung nicht nur der Art, sondern auch des Individuums auf ein allgemeines, das Individuum subsumierendes Gesetz zurückgeführt, so büßt das Individuum im Prozeß seiner Entwicklung jegliches Moment an Freiheit gegenüber dem Naturzwang ein. Wird nun das Verständnis des Individuums nicht auf ein biologisches Exemplar beschränkt, sondern auf alle möglichen Bestimmungen eines Einzelnen ausgeweitet, führt das allgemeine Entwicklungsgesetz zu einer durchgängigen Bestimmung nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen und moralischen Eigenschaften. Der Darwinismus wäre in dieser Konsequenz ein vollendeter Materialismus und ließe der Vorstellung einer möglichen teleologischen Ordnung keinen Raum. Die vielschichtige Diskussion um den Begriff der Teleologie und die Annahme einer Zweckmäßigkeit in der Natur wird von Francesca Michelini in ihrem Beitrag ausführlich erörtert. Die Einschätzung der Auswirkung der Theorie Darwins auf teleologische Konzepte erweist sich darin als überraschend kontrovers; sie reicht von der lapidaren Diagnose »Todesstoß« (Marx) bis zur Annahme einer Verstärkung der Teleologie (Francis Darwin). Diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Aussagen zur Bedeutung der Teleologie lassen sich allerdings mit einander ins Verhältnis setzen, wenn der Begriff der Teleologie selbst präzisiert wird. Langfristig wirkende philosophische Konsequenzen der Theorie Darwins und des Darwinismus lassen sich vor allem in der Moralphilosophie und der Ausbildung moralischer Vorstellungen aufzeigen. Diese weltanschaulich-ethischen Implikationen des Darwinismus arbeitet Reinhard Mocek heraus. Wird die Evolution als allgemeines Weltgesetz begriffen, das auch die moralische Welt umfaßt, so zeitigt diese Überzeugung nicht unproblematische Konsequenzen: Die Geschichte wird zur Naturgeschichte, die sich zwar beobachten, aber von Menschenhand schwerlich verändern läßt.

Einleitung

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Der hier vorliegende Band zum Darwinismus-Streit ist der zweite von insgesamt drei Bänden, in denen das spannungsreiche und wechselvolle Verhältnis von Philosophie, Naturwissenschaft, Religion und Weltanschauung im 19. Jahrhundert aus interdisziplinärer Perspektive untersucht wird. Die anderen beiden Bände befassen sich mit dem Materialismus-Streit (Bd. I) und dem Ignorabimus-Streit (Bd. III). Mit den Beiträgen dieser drei Bände wird erstmals eine zusammenhängende Darstellung und Deutung der drei weit über das 19. Jahrhundert hinaus einflußreichen Debatten zum Materialismus, Darwinismus und Ignorabimus vorgelegt. Die Bände sind hervorgegangen aus Tagungen, die im November 2002, 2003 und 2004 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattgefunden haben. Im Namen aller Teilnehmer möchten die Herausgeber der Leitung des ZiF für die freundliche und großzügige Förderung danken, die eine intensive Auseinandersetzung und Diskussion des Themas ermöglicht hat.

I. DIE THEORIE DARWINS UND DER DARWINISMUS

Wolfgang Lefèvre

Der Darwinismus-Streit der Evolutionsbiologen Einleitung Die Begriffe »Darwinismus« und »biologische Evolutionstheorie« bedeuten heute ein und dasselbe.1 Man unterscheidet beides nur, wenn mit dem Wort »Darwinismus« biologistische Sozialtheorien wie der Sozialdarwinismus assoziiert werden. Ohne diese Konnotation bezeichnet der Begriff die biologische Theorie der geschichtlichen Entwicklung der Lebensformen auf diesem Planeten. Dies war nicht immer so. Und dies war insbesondere in den letzten Dezennien des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts nicht so, d. h. in den ersten 60 bis 70 Jahren nach dem Erscheinen von Charles Darwins (1809–1882) On the Origin of Species by Means of Natural Selection im Jahre 1859. Wie damals das Verhältnis von Evolutionstheorie und Darwinismus gesehen wurde, zeigt ein nomenklatorischer Vorschlag, den 1866 der Zoologe und Vergleichende Anatom Ernst Haeckel (1834–1919) machte. Er schlug vor, mit dem Wort »Darwinismus« nicht die biologische Evolutionstheorie allgemein, sondern nur Darwins Selektionstheorie zu bezeichnen. Die Evolutionstheorie dagegen sei passender mit dem Wort »Lamarckismus« zu kennzeichnen und dem »Cuvierismus« entgegenzusetzen, d. h. der Auffassung, daß die Arten konstant seien und sich nicht geschichtlich entwickelt hätten.2

1

Darwins Evolutionstheorie wurde bereits von seinen Zeitgenossen als »Darwinismus« bezeichnet. – Ungeachtet der vielen Modifikationen, die die Biologen in den vergangenen 145 Jahren an Darwins Theorie vornahmen, bildet ihr Kern – Speziation aufgrund ungerichteter, minimaler Variationen und natürlicher Selektion – die Grundannahme auch der heutigen biologischen Evolutionstheorie. Diese verhält sich zur Theorie Darwins wie die klassische Mechanik zur Theorie Newtons: Sie läßt sich so nicht bei ihrem Namenspatron finden und verdankt ihm doch ihre entscheidende konzeptionelle Eigenart. 2 E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, Mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Berlin 1866, Bd. II, 166.

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Ernst Haeckel war nicht irgendwer in Sachen Darwinismus. In den 1860er und 1870er Jahren galt er als der wichtigste »Vorkämpfer der Abstammungslehre in Deutschland«, wie ihn 1874 Eduard von Hartmann (1842–1906) im Titel einer Abhandlung bezeichnete.3 Haeckels Schriften prägten – wahrscheinlich mehr als die Darwins selbst4 – die Auffassung, die man sich damals in Deutschland von Darwins Theorie bildete. Der Sache nach lief der nomenklatorische Vorschlag Haeckels auf die Unterscheidung zweier Leistungen Darwins hinaus: Zum einen hätte Darwin mit seinem epochemachenden Buch von 1859 der Evolutionstheorie zum endgültigen Durchbruch verholfen, deren Grundgedanken seit dem 18. Jahrhundert von undogmatischen und vorurteilsfreien Geistern wie Darwins Großvater Erasmus, Goethe, Oken, Lamarck und Geoffroy Saint-Hilaire ausgesprochen worden seien.5 Zum anderen hätte er mit seiner Selektionstheorie eine erklärende Theorie der Evolution der Arten ausgearbeitet, an der Haeckel insbesondere schätzte, daß sie rein mechanisch sei, d. h. den Fallstricken der Teleologie entgehe. Diese Unterscheidung machte Schule, wenn auch vielleicht nicht ganz im Sinne Haeckels. Es wurde zum Gemeinplatz, zwischen der Abstammungslehre und dem Erklärungsmechanismus zu unterscheiden, den Darwin vorgeschlagen hatte. Was die Abstammungslehre angeht, so waren von etwa 1870 an die meisten deutschen Biologen von ihrer Richtigkeit überzeugt und stimmten auch darin überein, daß Darwin für ihren Durchbruch das entscheidende Verdienst zukam.6 Was die Selektionstheorie als Erklärung der Abstammungslehre angeht, so stimmten ebenfalls praktisch alle mit Haeckel darin überein, daß diese Theorie Darwins spezifischen Beitrag zur Evolutionstheorie darstelle, und zwar auch und gerade die Biologen, die diesem Beitrag skeptisch gegenüberstanden. Haeckel hatte – zweifellos unwissentlich und unfreiwillig – die Sollbruchstelle bezeichnet, die es erlaubte, Darwins Deszendenztheorie

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E. von Hartmann, Ernst Haeckel als Vorkämpfer der Abstammungslehre in Deutschland (1874), in: Ders., Gesammelte Studien und Aufsätze gemeinverständlichen Inhalts, Berlin 1876. 4 Für die deutschen Ausgaben der verschiedenen Werke Darwins siehe R. B. Freeman, The works of Charles Darwin. An annotated bibliographical handlist, Folkestone 1977. 5 Zu der von Haeckel aufgestellten Ahnenreihe der Evolutionstheorie siehe z. B. den fünften Vortrag in: E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck, im Besonderen über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft, Berlin 1868. 6 Interessanter Weise nahm niemand daran Anstoß, daß Haeckel Darwin um eine bedeutende Leistung schmälerte, indem er ihm dieses Verdienst zuerkannte. Die evolutionistischen Spekulationen vor Darwin hatten zwar Artabwandlungen angenommen,

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zu übernehmen und zugleich seine Selektionstheorie entweder zu marginalisieren oder gar gänzlich zu verwerfen. Und genau diesen Bruch vollzogen von etwa 1875 an aus verschiedenen Gründen immer mehr unter den deutschen Biologen, die von der Richtigkeit der Deszendenztheorie überzeugt waren. Um 1900 herum schließlich stellten die Anhänger der Selektionstheorie nur noch eine kleine Minderheit unter den Befürwortern der Evolutionstheorie dar, deren baldiges Aussterben man allgemein erwartete.7 Was sie auch sonst trennte und worüber sie teilweise erbitterte Auseinandersetzungen führten, in einem waren sich zu diesem Zeitpunkt fast alle deutschen Biologen einig: Evolutionstheorie – ja, Darwinismus – nein. Ganz ähnlich lagen die Dinge in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo Darwins Theorie zunächst einen ähnlich fruchtbaren Boden gefunden hatte wie in Deutschland.8 Und selbst in England hielt am Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch jemand Darwins Selektionstheorie für rettbar.9 Auf diese Situation bezog sich das 1942 von Julian Huxley (1887–1975) geprägte Diktum von der »Eclipse of Darwinism«, das Peter Bowler als Titel seines Buches über AntiDarwinian Evolution Theories in the Decades around 1900 aufgriff.10 Mit diesem Buch sowohl wie mit seiner Studie The Non-Darwinian Revolution11 korrigierte Bowler die bis dahin vorherrschende Geschichtsschreibung über die Entwicklung des Darwinismus, die – übrigens leicht anachronistisch – die mangelhafte genetische Fundierung des Darwinismus als den bedenklichsten Schatten auf seiner ersten Entwicklungsphase ansah, die nicht-darwinistischen Evolutiaber nicht einen realen genealogischen Zusammenhang unter den Arten. Einen solchen postulierte erst Darwin, der somit beanspruchen kann, als Urheber und nicht nur als Beförderer der Deszendenztheorie anerkannt zu werden. – Für Lamarcks Theorie, die einzige ausgearbeitete Evolutionstheorie vor Darwin, wird unten in einem Exkurs gezeigt werden, daß sie eine Theorie der Arttransformation war, die einen realen genealogischen Zusammenhang unter den Arten gerade ausschloß. – Daß man dies damals nicht sah und die Begriffe »Deszendenztheorie«, »Mutationstheorie« und »Transformationstheorie« synonym gebrauchte (siehe z. B. E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 148, Fn. 1), ist vielleicht so zu deuten, daß Darwins Deszendenztheorie vielen der damaligen Biologen bereits so »natürlich« erschien, daß sie sich nicht vorstellen konnten, daß evolutionistische Spekulationen vor Darwin etwas anderes beinhaltet haben könnten. 7 Vgl. A. Wagner, Geschichte des Lamarckismus. Als Einführung in die psycho-biologische Bewegung der Gegenwart, Stuttgart 1908, 63; E. von Hartmann, Das Problem des Lebens. Biologische Studien (1906), Berlin ²1925, 61. 8 Vgl. P. J. Bowler, The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore / London 1983, 118 ff. 9 Vgl. P. J. Bowler, The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, Baltimore / London 1988, 94 ff. 10 Vgl. P. J. Bowler, The Eclipse of Darwinism, a. a. O. 11 Vgl. P. J. Bowler, The Non-Darwinian Revolution, a. a. O.

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onstheorien der Zeit dagegen als unbedeutende Störungen abtat, weil sie sich letztendlich als unfundiert herausstellen sollten. Die nicht-darwinistischen Evolutionstheorien um 1900 verdienen nicht nur biologiegeschichtlich Interesse, sondern ebenso im breiteren Rahmen des Darwinismus-Streits im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts. Diese Theorien bezeugen nämlich nicht nur einen fachbiologischen Streit um eine befriedigende Erklärung der Abstammungslehre, wie die von Haeckel vorgegebene und von anderen aufgegriffene Unterscheidung zwischen der Deszendenztheorie und ihrer von Darwin vorgeschlagenen Erklärung nahelegt. In diesem Streit ging es keineswegs bloß um unterschiedliche Erklärungen für ein und dieselbe Evolutionstheorie, sondern um fundamental unterschiedliche Auffassungen von Evolution. Und die Evolutionsauffassungen, die in diesem Streit unter Biologen aufeinander prallten, manifestierten nicht allein, ja vielleicht nicht einmal in erster Linie, spezifisch biologische Entwicklungskonzepte, sondern brachten zugleich allgemeine, philosophisch-weltanschauliche, Entwicklungsvorstellungen der Zeit zum Ausdruck. Diese Evolutionsauffassungen sind daher als Teil des großen weltanschaulichen Darwinismus-Streits zu verstehen, in dem es ja nicht nur um den natürlichen Ursprung der Arten oder die Abstammung des Menschen von einer Affenart ging, sondern ebenso um die Frage, ob es in Natur und Geschichte Entwicklung gibt, vielleicht gar Höherentwicklung und Fortschritt, und wie eine solche Entwicklung gedacht werden kann oder sollte: als eine im Ursprung und Wesen der Lebewesen und des Menschen angelegte Tendenz, als Ausdruck eines inneren Strebens, als mechanisch determinierter Prozeß oder als Resultat von Interaktionen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, die vielleicht gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, deren Ausgang jedoch prinzipiell offen ist. Ziel dieses Beitrags ist es daher, die unterschiedlichen Entwicklungsauffassungen kenntlich zu machen, die in den damaligen fachbiologischen Debatten12 explizit oder implizit den Hintergrund bildeten. Und zwar soll dieser Hintergrund in den fachspezifischen Theoriebildungen selbst aufgedeckt und sichtbar gemacht werden. Der erste Teil versucht verständlich zu machen, wie sich Darwinismus und Lamarckismus zu alternativen Evolutionstheorien entwickelten und worum es bei dieser Alternative im Kern ging. Der zweite Teil ist der Evolutionstheorie Ernst Haeckels gewidmet, die für den Streit um den Darwinismus in Deutschland von zentraler Bedeutung war und einen Bezugspunkt für alle damaligen Evolutionstheorien darstellte. Der dritte Teil schließ12

Da es hier um den deutschen Darwinismus-Streit geht, konzentriert sich dieser Beitrag auf biologische Theorien, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt wurden. Ferner kommen nur Theorien solcher Biologen zur Sprache, die von der Evolution der Arten überzeugt waren.

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lich beschäftigt sich mit orthogenetischen Evolutionstheorien, die als Alternative sowohl zum Darwinismus wie zum Lamarckismus anzusehen sind.

I. Lamarckismus Es hat den Anschein, daß allen Beteiligten lange Zeit nicht wirklich klar war, was eigentlich den Kern der Darwinschen Auffassung der biologischen Evolution ausmachte. Dieser Kern scheint vielmehr erst in einem historischen Klärungsprozeß in dem Maße erkennbar gemacht, wenn nicht gar formiert worden zu sein, in dem sich deutliche Alternativen zum Darwinismus herausbildeten. Eine der Alternativen, die besonders zur Klärung der Eigenart der Darwinschen Evolutionstheorie beitrug, war der Lamarckismus – oder Neo-Lamarckismus, als der er aufgrund seines eher lockeren Verhältnisses zur Arttransformationstheorie des historischen Lamarck sicherlich treffender bezeichnet ist.13 Zu dieser erhellenden Alternative wurde der Neo-Lamarckismus ironischer Weise genau in dem Moment, als August Weismann (1834–1914), ein Darwinist, um die Mitte der 1880er Jahre eine Annahme bestritt, mit der diese Alternative steht und fällt. Es handelt sich um die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften.14 Bis zum heutigen Tage gilt die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften als das Markenzeichen des Lamarckismus. Kaum jemand weiß jedoch, daß diese Annahme vor ihrer Infragestellung durch Weismann keineswegs lamarckistische Theorien spezifisch auszeichnete. Darwinisten wie Haeckel setzten in ihrer Theoriebildung auf diese Annahme, und Charles Darwin selbst hatte sie vertreten. Obwohl keineswegs unumstritten, war die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften seit alters ein weitverbreitetes Element biologischen Denkens und vertrug sich mit allen möglichen biologischen Theorieansätzen auf anderen Feldern als dem der Vererbungsfrage. Erst als sie von Weismann ernsthaft in Frage gestellt wurde, zeigte sich, welche biologischen Theorien auf diese Annahme essentiell angewiesen sind und welche nicht. Und dies galt auch für die damaligen Evolutionstheorien: Während die 13

Die Bezeichnung »Neo-Lamarckismus« war bereits damals eingeführt; vgl. z. B. A. Wagner, Geschichte des Lamarckismus, Stuttgart 1908, 121 ff., der sie aber anscheinend für die lamarckistische Reaktion gegen den Darwinismus vor 1900 reservieren wollte. Zu den theoretischen Aporien, die dem Lamarckismus immer wieder, und nicht nur vor 1900, Konjunktur beschert haben, vgl. P. J. Beurton, Hintergründe des modernen Lamarckismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie IL, 4 (2001), 537–548. – Auf die Evolutionstheorie des historischen Lamarck wird ein Exkurs im dritten Teil näher eingehen. 14 Weismanns Arbeiten zur Vererbungsfrage aus den 1880er Jahren finden sich in: A. Weismann, Aufsätze über Vererbung, Jena 1892.

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Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften zum Kern der lamarckistischen Evolutionstheorie gehörte, stellte sich heraus, daß der Darwinismus ohne sie auskommen konnte. Es lohnt sich, darauf etwas genauer einzugehen, um besser sehen zu können, was sich in dieser Konfrontation mit dem NeoLamarckismus als Kernbestandteil des Darwinismus herausstellte. Neo-Lamarckismus und Darwinismus teilten die Voraussetzung, daß die Evolution der Lebensformen als Ergebnis von Anpassungen an die sich im Laufe der Erdgeschichte verändernden Lebensbedingungen zu verstehen sei. In diesem Punkt unterschieden sich beide gleichermaßen von Evolutionstheorien, die nicht die Anpassung, sondern eine innerorganismische Entwicklungstendenz als den entscheidenden Faktor der Evolution ansahen und sich übrigens ebenfalls auf Lamarck hätten berufen können, wie wir im 3. Teil sehen werden. Neo-Lamarckismus und Darwinismus stimmten auch darin überein, daß veränderte Lebensbedingungen nicht direkt adaptive Modifikationen der Organismen verursachen, wie das am Anfang des 19. Jahrhunderts Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) aufgrund embryologischer Experimente angenommen hatte. Die Lamarckisten sprachen jedoch den veränderten Lebensbedingungen eine indirekte Rolle bei der Entstehung adaptiver organischer Strukturen zu. Sie nahmen bekanntlich an, daß Organismen auf veränderte Bedingungen durch verändertes Verhalten reagieren, daß dies neue Verhalten einen neuen Gebrauch einiger ihrer Organe einschließt, daß ferner dieser neue Gebrauch oder auch Nichtgebrauch von Organen zu physischen Veränderungen dieser Organe führt, und schließlich, daß solche Veränderungen vererbt und Schritt für Schritt im Laufe der Generationen zu einer Struktur des betreffenden Lebewesens führen, die den neuen Lebensbedingungen besser angepaßt ist als die alte. Die Erklärung des Giraffenhalses durch diese lamarckistische Anpassungstheorie, die im Folgenden gelegentlich einfach Anpassung durch Gebrauch genannt werden wird, dürfte allgemein gegenwärtig sein. Und es dürfte auch unmittelbar deutlich sein, daß diese Theorie mit der Annahme steht und fällt, daß die durch neuartigen Gebrauch der Organe in einer Generation erworbenen Organmodifikationen vererbt werden. Die Vererbung erworbener Eigenschaften ist in der Tat ein essentielles Moment des Lamarckismus. Auch für den Darwinismus spielt die Umwelt eine Rolle bei der Herausbildung angepaßter organischer Strukturen: Sie ist ja der Inbegriff der konkreten Bedingungen, unter denen im »Kampf ums Dasein« Strukturen nach ihrem adaptiven Wert selegiert werden. Das ist der Kern von Darwins Theorie der »natürlichen Selektion«. Diese Theorie geht jedoch nicht davon aus, daß individuelle Strukturabänderungen, »Variationen«, mit einem positiven Anpassungswert von den neuen Lebensbedingungen direkt oder indirekt hervorgebracht oder induziert würden. Die Variationen, die der natürlichen Selektion dargeboten werden, sollen vielmehr prinzipiell zufällig sein. Für Variationen

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mit, wie sich post festum herausstellen mag, adaptivem Wert werden prinzipiell keine anderen Ursachen unterstellt als für die ohne einen solchen Wert. D. h., der Darwinismus verneint, daß die (damals unbekannten) Ursachen der Variationen in irgendeiner Weise mit den Adaptionserfordernisssen korreliert seien, die neue Umweltbedingungen beinhalten. Variationen mit einem positiven adaptiven Wert sind also in dem Sinne zufällig, daß ihr Auftreten nichts mit diesem Wert zu tun hat.15 Dies ist der Hintergrund, warum die radikale Infragestellung der Vererbung erworbener Eigenschaften durch Weismann den Darwinismus nicht erschütterte, obwohl Darwin diese Vererbung wie die meisten damaligen Biologen unterstellt hatte. Die Vererbung erworbener Eigenschaften spielte keine entscheidende Rolle für den Darwinismus, weil er sich nicht auf die Adaptionen stützt, die (Eltern-) Organismen in Reaktion auf Umweltänderungen entwickeln. Im Lichte der Weismannschen Destruktion der Vererbung erworbener Eigenschaften wurde klar, daß Darwins eigene Vererbungstheorie, seine berühmt-berüchtigte Pangenesistheorie,16 keine tragende Säule seiner Evolutionstheorie war. Was die Vererbungsfrage angeht, so setzte Darwins Evolutionstheorie nicht mehr voraus als die aufgrund von Züchtererfahrungen unbestreitbare Tatsache, daß es erbliche Variationen gibt. Diese simple Tatsache implizierte keine spezifische Vererbungstheorie. Sie war mit der Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften verträglich gewesen und vertrug sich ebenso mit dem, was die gerade aus der Taufe gehobene statistische Vererbungslehre (Galton17) wie auch die Zytologie (Weismann) nahe legten: nämlich mit der Annahme, daß die Elternorganismen bloße Übermittler und Rekombinierer eines Erbguts sind, das von den Modifikationen unberührt bleibt, die diese Organismen im Laufe ihres Lebens erwerben oder erleiden. Während diese neue Sicht des biologischen Vererbungsprozesses, die für sich eine wissenschaftliche Revolution darstellte, dem Lamarckismus die raison d’être entziehen sollte, ließ sie die nur vererbliche Zufallsvariationen voraussetzende Evolutionstheorie Darwins unberührt. Vor dem Klärungs- und Scheidungsprozeß, den Weismanns Unterscheidung von Keim- und Körperplasma – von Geno- und Phänotyp18 – bewirkte, 15

Zur Entwicklung von Darwins Auffassung der Variationen vgl. Kapitel 3 und 4 von P. J. Vorzimmer, Charles Darwin: The Years of Controversy. The ›Origin of Species‹ and its Critics, 1859–82, London 1972. 16 Diese Theorie unterbreitete Darwin nicht in The Origin of Species, sondern erst in The Variation of Animals and Plants under Domestication, die 1868 erschien. Siehe dort das 27. Kapitel. 17 Zur Vererbungslehre von Darwins Cousin Francis Galton (1822–1911) vgl. W. B. Provine, The Origins of Theoretical Population Genetics, Chicago / London 2001, 14 ff. 18 Dieses Begriffspaar prägte Wilhelm Johannsen (1857–1927) erst 1909 in seinem Werk Elemente der exakten Erblichkeitslehre.

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war nicht nur die Vererbung erworbener Eigenschaften von Darwinisten wie Lamarckisten angenommen worden. Auch einem geänderten Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von Organen wurde nicht nur von Lamarckisten evolutive Bedeutung zugesprochen, sondern ebenso von Darwinisten, Darwin selbst eingeschlossen.19 Allerdings hatte diese evolutive Bedeutung von Gebrauch und Nichtgebrauch in den beiden Evolutionstheorien von vornherein eine unterschiedliche Bewandtnis, an der sich der entscheidende Unterschied dieser, wie sich herausstellen sollte, inkompatiblen Theorien weiter verdeutlichen läßt. Wie bereits kurz skizziert, kommt einem neuartigen Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von Organen, mit dem Organismen auf veränderte Umweltbedingungen reagieren, in lamarckistischer Sicht deswegen evolutive Bedeutung zu, weil er Strukturänderungen mit adaptivem Wert hervorbringt, die vererbt und im Laufe der Generationen verstärkt werden und so allmählich zu einer den neuen Bedingungen besser angepaßten Art führen. Der gleiche Vorgang stellt sich für einen Darwinisten wie folgt dar. Machen Organismen aufgrund veränderter Lebensbedingungen von ihren Organen einen neuartigen Gebrauch (Funktionswechsel), so erhält jede zufällige Variation dieser Organe, die diesen neuen Gebrauch erleichtert oder effektiver macht, einen adaptiven Wert und damit, wenn sie erblich ist, eine höhere Wahrscheinlichkeit der Propagierung in der Abfolge der Generationen. Weiteren, ebenfalls zu solcher Effektsteigerung beitragenden erblichen Variationen, die zufällig auftreten, wird es ähnlich ergehen, und akkumuliert werden diese Modifikationen allmählich zu einer im Erbgut verankerten Umbildung dieser Organe führen. Der Unterschied mag vielleicht auf den ersten Blick haarspalterisch scheinen: In beiden Sichtweisen verleiht der geänderte Gebrauch bzw. Nichtgebrauch den Strukturveränderungen ihren adaptiven Wert. Aber während für einen Lamarckisten der Gebrauch bzw. Nichtgebrauch die adaptiven Modifikationen direkt hervorbringt, spielt er für einen Darwinisten nur für die nachträgliche, von der natürlichen Selektion vorgenommene Bewertung von Modifikationen eine Rolle, die ganz unabhängig von diesem Gebrauch bzw. Nichtgebrauch auftreten. Es ist nicht zu übersehen, welchen Vorteil eine lamarckistische Evolutionstheorie hätte, wenn sie nur auch mit dem sonstigen biologischen Wissen, insbesondere mit der Vererbungslehre, vereinbar wäre: Nach dieser Theorie bliebe es nicht dem Zufall überlassen, daß neuen Lebensbedingungen angepaßte Strukturveränderungen ausgebildet werden; vielmehr würden die zu solchen Veränderungen führenden Modifikationen durch die Reaktion der Organismen auf diese neuen Bedingungen induziert. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum es den meisten zeitgenössischen Biologen schwer fiel, 19

Zu Darwins Position vgl. z. B. P. J. Vorzimmer, Charles Darwin: The Years of Controversy, a. a. O., 39 ff. und 237 ff.

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sich mit Darwins Theorie anzufreunden, die die historische Entwicklung der Lebensformen auf unserem Planeten allein durch die natürliche Selektion von – überdies minimalen – Variationen zu erklären versucht, die im erläuterten Sinne zufällig sind.20 Der Darwinismus beinhaltete eine Evolution ohne Sicherheitsnetz und doppelten Boden. Er stellte, das wurde in der Konfrontation mit dem Lamarckismus deutlich, eine Zumutung dar.

II. Haeckels Evolutionstheorie August Weismanns radikale Infragestellung der Vererbung erworbener Eigenschaften klärte also die Fronten. Sie ließ scheinbare Spielarten ein und derselben Evolutionstheorie als alternative, inkompatible Evolutionstheorien erkennbar werden. Sie machte nicht nur klar, daß die in Reaktion auf Umweltveränderungen erworbenen Modifikationen der Organismen für den Lamarckismus das zentrale Element der Anpassung und damit der geschichtlichen Evolution der Lebensformen darstellten. Sie machte ebenso klar, daß der Darwinismus diese Evolution zu erklären beansprucht, obwohl er allein zufällig zustande kommende Variationen unterstellt. Diese Klarstellung wirkte ernüchternd. Viele sahen in Weismanns Darwinismus eine Radikalisierung der ursprünglichen Theorie Darwins, weshalb ihn die Zeitgenossen auch als »Neo-Darwinismus« oder »Ultra-Darwinismus« etikettierten.21 Diese sich allein auf Zufallsvariationen und natürliche Selektion stützende Evolutionstheorie22 mußte insbesondere in Deutschland als eine Radikalisierung und Reduktion des Darwinismus erscheinen, da hier die Evolutionstheorie Haeckels seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre das Verständnis des Darwinismus geprägt hatte. Diese Theorie, die, wie wir heute sehen, weit weniger mit Darwins Theorie zu tun hat als Weismanns puristische Version, ist in unserem Zusammenhang nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil sie gerade versucht hatte, lamarckistische und darwinistische Elemente zu kombinieren. Die Auffassung der geschichtlichen Evolution der Lebensformen, die sich Haeckel unter dem Einfluß von Darwins On the Origin gebildet hatte, präsen20

Zur zeitgenössischen Fachkritik an Darwins Evolutionstheorie im einzelnen vgl. z. B. W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt / Berlin / Wien 1984, 80 ff. 21 G. Zirnstein, August Weismann, in: I. Jahn / M. Schmitt (Hg.), Darwin & Co. Eine Geschichte der Biologie in Portraits, München 2001, 428. 22 Weismanns Hypothese einer internen »Germinalselektion« sprengt diesen Rahmen nicht und kann deswegen hier unbeachtet bleiben. Zu dieser Hypothese vgl. die Vorträge 25 und 26 in: A. Weismann, Aufsätze über Vererbung, a. a. O.

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tierte er 1866 den Fachkollegen in seiner zweibändigen Generellen Morphologie. Etwas populärer im Stil, aber der Sache nach weitgehend identisch, legte er sie in einem Vorlesungszyklus dar, den er zwei Jahre später unter dem Titel Natürliche Schöpfungsgeschichte veröffentlichte. Es gibt kein zweites Buch, das das anfängliche Darwin-Verständnis in Deutschland so maßgeblich bestimmte wie diese Natürliche Schöpfungsgeschichte. Im Lichte der bisherigen Ausführungen springt an Haeckels Evolutionstheorie als erstes die Marginalisierung der individuellen Variationen ins Auge, die bei Darwin den Ausgangspunkt und das Fundament der ganzen Theorie gebildet hatten. Bei Haeckel ist die »individuelle Abänderung«23 eine von drei Instanzen der »indirecten oder potentiellen Anpassung«24, die ihrerseits der »directen oder actuellen Anpassung«25 als Faktor der organismischen Evolution deutlich nachgeordnet ist. Bei dieser »directen oder actuellen Anpassung«26 aber handelt es sich um nichts anderes als die besprochene lamarckistische Anpassung durch Gebrauch. Solche Anpassungen, und nicht zufällige individuelle Variationen, stehen im Zentrum der Haeckelschen Evolutionstheorie.27 Als Vergleichender zoologischer Anatom ohnehin in erster Linie am Tierreich 23

E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 202. Ebd. 25 Ebd., 207 ff. 26 Ebd. 27 Sowohl die Marginalisierung der individuellen Variationen als auch die zentrale Rolle der Anpassung durch Gebrauch müssen im Zusammenhang mit Haeckels grundlegender Theorie der Wechselwirkung zweier allgemeiner »physiologischer Functionen« gesehen werden, nämlich der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung, auf der alle Formbildung beruhen soll. (E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 167 f.) Haeckel bezeichnete die »Erblichkeit«, d. h. die Fähigkeit Strukturdispositionen zu vererben, auch als »inneren Bildungstrieb« (ebd., 168), weil organische Strukturen, die sich aufgrund solcher Dispositionen ausbilden, als innerorganismisch determiniert zu verstehen sind. Die »Anpassungsfähigkeit« bezeichnete er entsprechend als »äußeren Bildungstrieb« (ebd.), da es sich um die Fähigkeit eines Organismus handele, seine Struktur in Wechselwirkung mit seinen äußeren Lebensbedingungen zu modifizieren. Die Wechselwirkung von Erblichkeit und Anpassungsfähigkeit bildete für Haeckel das physiologische Fundament der Evolution: »Die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der organischen Formen wird also in letzter Instanz lediglich durch die Wechselwirkung dieser beiden physiologischen Functionen, der Anpassung und der Vererbung hervorgebracht.« (Ebd., 169). Die natürliche Selektion, der »Kampf ums Dasein«, kam erst als »Summe« der »besonderen Verhältnisse« ins Spiel, »unter denen diese Wechselwirkung überall stattfindet, und von denen sie in hohem Maasse begünstigt wird«. (Ebd.). Haeckel war überzeugt, mit dieser Theorie des Zusammenwirkens von Vererbung, Anpassung und natürlicher Selektion den »Grundgedanke(n) von Darwin’s Selections-Theorie« erfaßt und ausgesprochen zu haben. (Ebd., 167). Tatsächlich präsentierte er eine Theorie, die Antworten auf Fragen gab, die nicht Darwins Fragen gewesen waren. 24

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orientiert, maß Haeckel dabei dem aktiven Verhalten besonderes Gewicht bei, mit dem Lebewesen auf veränderte Lebensbedingungen reagieren. »Indem sich der thierische Wille den veränderten Existenzbedingungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. s. w. anpaßt, vermag er die bedeutendsten Umbildungen der organischen Formen zu bewirken.«28

Der Umstand, daß Haeckel seine Evolutionstheorie im Rahmen seiner Generellen Morphologie ausarbeitete, erweist sich als ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis dieser Theorie. Seine Konzeption der Evolution stand damit von vornherein im Kontext einer – wie es im Untertitel dieses Werkes heißt – organischen Formen-Wissenschaft. In diese Wissenschaft, die beanspruchte, für die organischen Formbildungen übergreifende Gesetze aufzustellen und einheitliche Erklärungen anzubieten,29 lag der Akzent auf tatsächlichen oder vermeintlichen Regularitäten in den Bildungen bzw. Abwandlungen der organischen Formen, die sich dem Embryologen in den Metamorphosen der Embryonalentwicklung der verschiedenen Arten einer Klasse oder dem Vergleichenden Anatomen in den Abwandlungsreihen ihrer homologen Organe darboten. Diese Regularitäten schienen vor allem eine Entwicklungsgesetzmäßigkeit organischer Formen nahezulegen, nämlich die einer Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, von homogenen organischen Strukturen zu solchen mit funktionsdifferenzierten Organen. Dies sah nicht nur Haeckel so. Embryologen wie z. B. Karl Ernst von Baer (1792–1876) und Vergleichende Anatomen wie Richard Owen (1804–1892) hatten entsprechende Formbildungsgesetzmäßigkeiten zu formulieren versucht, dabei aber an eine Formlogik des Organischen gedacht, die als idealistische oder transzendentale Morphologie be-

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E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, a. a. O., 190. Welche geradezu persönliche Note diese Betonung des Willens hat, läßt eine Stelle in der Generellen Morphologie erahnen: »Der Umfang meiner ganz ungeübten Oberarme hatte sich innerhalb eines Zeitraumes von anderthalb Jahren durch fortgesetzte energische Turn-Uebungen fast genau verdoppelt. Dieses enorme Muskelwachsthum und die damit verbundene Uebung der Willens-Vorstellungen wirkte nun mächtig zurück auf die übrigen Vorstellungen meines Gehirns und insbesondere auf diejenigen des Denkens. Ihnen verdanke ich zum grossen Theile (zum großen Theile allerdings auch anderen cumulativ einwirkenden Ursachen), daß die in meinem Gehirne vorherrschenden dualistischen und teleologischen Irrthümer immer mehr den monistischen und causalen Vorstellungen wichen und ihnen zuletzt vollständig das Feld liessen.« (E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 213). 29 Zu Haeckels Projekt einer generellen Morphologie, das nichts geringeres als den Versuch einer Synthese von Vergleichender Anatomie, Entwicklungsgeschichte und Zytologie darstellte, vgl. z. B. Paul Weindling im Teil Darwinism in Germany, in: P. Corsi / P. J. Weindling, Darwinism in Germany, France, and Italy, in: D. Kohn (Hg.), The Darwinian Heritage, Princeton 1985, 690 ff., insbes. 693.

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zeichnet werden kann.30 Im Gegensatz dazu ging es Haeckel jedoch gerade darum, diese Gesetzmäßigkeiten »mechanisch« zu erklären. Und genau dafür schien ihm Darwins Deszendenztheorie oder das, was er darunter verstand, das geeignete Mittel. Sie schien ihm die Möglichkeit zu eröffnen, die morphologischen Regularitäten aus der realgeschichtlichen Entwicklung der Arten abzuleiten. Haeckels »Biogenetisches Grundgesetz«, nach dem die Ontogenese eine abgekürzte Rekapitulation der Phylogenese darstellt, stand im Zentrum dieses Versuchs, die Gesetzmäßigkeiten der organischen Formbildung mechanisch zu erklären.31 Wenn nämlich die Formen, die der Embryo in der Ontogenese durchlief, als Rekapitulationen stammesgeschichtlicher Stadien der betreffenden Art gedeutet werden konnten, dann waren die Gesetzmäßigkeiten dieser Formenabfolge weder in transzendentalen Formlogiken noch in einer der Teleologie Tür und Tor öffnenden Entwicklungstendenz des Organismus zu suchen, sondern in der Stammesgeschichte der Art. Diese aber erklärte sich aus der ständigen Anpassung an sich ändernde Lebensbedingungen.32 Die

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Für Owen vgl. z. B. N. Rupke, Richard Owen, in: I. Jahn / M. Schmitt (Hg.), Darwin & Co., a. a. O., 252; für van Baer siehe z. B. E. Muzrukova, Karl Ernst von Baer, in: I. Jahn / M. Schmitt (Hg.), Darwin & Co., a. a. O., 307. 31 Obwohl Haeckel die Bezeichnung »Biogenetisches Grundgesetz« erst in seiner Monographie über die Kalkschwämme einführte und dort auch den Inhalt dieses Gesetzes ausführlich darlegte (E. Haeckel, Die Kalkschwämme, 2 Bde., Berlin 1872, Bd. I, 471 ff.), war die Verknüpfung von Onto- und Phylogenese bereits für die Argumentation der Generellen Morphologie von entscheidender Bedeutung – vgl. insbes. das 20. und 26. Kapitel des zweiten Bandes, wo sich auch die klassische Formulierung des Gesetzes findet: »Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Recapitulation der Phylogenesis, bedingt durch die physiologischen Functionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Ernährung (Anpassung). […] Das organische Individuum wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwicklung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.« (E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 300). 1872 unterstrich er ausdrücklich, daß auf dieser Theorie »nach meiner unerschütterlichen Ueberzeugung das ganze innere Verständniss der Entwicklungsgeschichte beruht« und daß mit »diesem ›ersten Grundgesetze der organischen Entwicklung‹ […] die ganze Descendenz-Theorie untrennbar verbunden (ist); beide stehen und fallen mit einander«. (E. Haeckel, Die Kalkschwämme, a. a. O., Bd. I, 471). – Auch die Termini »Ontogenese« und »Phylogenese« wurden von Haeckel in der Generellen Morphologie eingeführt. 32 Formabänderungen eines Organismus infolge Anpassung durch Gebrauch wurden dabei als ein Entwicklungsschritt verstanden, der zur abgeschlossenen Ontogenese noch hinzu kam. Bei den Nachkommen erfolgte dann diese neu hinzugekommene Formänderung als letzter Schritt in der normalen Ontogenese. Unterstellte man aber das, was für diesen letzten Schritt gilt, für alle Schritte der Ontogenese, so stellte sich die

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Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten der organischen Morphogenese, die bis dahin immer wieder idealistische Deutungen aufgedrängt hatten, erschienen so als Resultate eines phylogenetischen Prozesses, der auf einer mechanischen Interaktion zwischen Organismus und Umwelt beruhte. Die Grundzüge der mechanischen Wissenschaft von den entstehenden Formen – wie der Untertitel des zweiten Bandes der Generellen Morphologie lautet – konnten geschrieben werden. Das Biogenetische Grundgesetz beinhaltete jedoch eine Verschränkung von Ontogenese und Phylogenese, die sich als folgenreich für das Verständnis der letzteren erweisen sollte. Denn wie die Ontogenese nach diesem Gesetz zur Rekapitulation der Phylogenese wurde, so die Phylogenese zur Fortschreibung der Ontogenese. Die Phylogenese geriet aber damit in den Bann der Entwicklungsvorstellungen, die mit der Ontogenese verknüpft waren. Zum einen geriet sie so in den Bann einer linearen Auffassung von Entwicklung. Bei Darwin hatte sich die Evolution der Arten als eine divergierende Entwicklung in alle Richtungen dargestellt, wobei abgebrochene Entwicklungen (Aussterben) und ungleichmäßige Divergenzbildungen in den einzelnen Entwicklungszweigen ein eher chaotisches und »unordentliches« Bild ergaben.33 Nicht die Entwicklungslinien der einzelnen Taxa bestimmten dies Bild, sondern eine wirre Verzweigung dieser Linien in alle Richtungen, die es verbot, eine erdgeschichtlich ältere Form – z. B. die Fische – nur als Vorfahren jüngerer Formen – der Reptilien, Vögel und letztlich der Säuger – anzusehen, anstatt als die Form, die sich in alle rezenten Wirbeltierklassen ausdifferenzierte, die der Fische eingeschlossen. Bei Haeckel dagegen dominierten Entwicklungslinien das Bild der Evolution der Formen. Dies wird besonders an den phylogenetischen Stammbäumen deutlich, die er rekonstruierte. Am eindrücklichsten in dieser Hinsicht ist der wiederholt wieder abgedruckte Eichbaum aus der Anthropogenie von 1874, der die zum homo sapiens führende Entwicklung repräsentiert.34 Peter Bowler hat gezeigt, daß auch die weniger verdächtig aussehenden Stammbäume der Generellen Morphologie von einer linearen Entwicklungsauffassung her konzipiert sind. Sequenz ihrer Formänderungen als die additive Sequenz der adaptiven Formänderungen dar, die die Art im Laufe ihrer Geschichte Schritt für Schritt in Anpassung an sich ändernde Lebensbedingungen erworben hatte. Die Ontogenese war dann in der Tat in einem ganz unspektakulären Sinn Rekapitulation der Phylogenese. 33 Zu Darwins phylogenetischen Diagrammen vgl. J. Voss, Darwins Diagramme – Bilder von der Entdeckung der Unordnung, Preprint des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, Berlin 2003. 34 E. Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte, 2 Bde., Leipzig 1874, Tafel XII.

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Abb. 1: Ernst Haeckels monophyletischer Stammbaum der Wirbeltiere. (Haeckel 1866, Tafel VII)

Abb. 2: Diagramm des Haeckelschen Stammbaums von Peter Bowler. (Bowler 1988, 88)

Solche Stammbäume bringen nicht allein plastisch zum Ausdruck, wie die Phylogenese durch die Verzahnung mit der Ontogenese in den Bann einer linearen Entwicklungsvorstellung gebracht wurde. Sie zeigen darüber hinaus eine weitere Konsequenz dieser Verzahnung an, nämlich daß in dieser linearen

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Entwicklungsvorstellung Entwicklung prinzipiell Höherentwicklung ist. Und um deren »mechanische« Erklärung ging es ja, wie bereits gesehen, in Haeckels allgemeiner Wissenschaft der Morphogenese in erster Linie. Haeckel verstand von Anfang an Darwins Theorie als eine Theorie des Fortschritts. In der oft zitierten Rede Über die Entwicklungstheorie Darwins, die er 1863 auf der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte hielt und die seine früheste öffentliche Äußerung zum Darwinismus darstellt, ließ er Darwins Theorie zum Feldzeichen der Fortschrittsanhänger werden. »Bereits ist das ganze große Heerlager der Zoologen und Botaniker, der Paläontologen und Geologen, der Physiologen und Philosophen in zwei schroff gegenüberstehende Parteien gespalten: auf der Fahne der progressiven Darwinisten stehen die Worte: ›Entwicklung und Fortschritt!‹ Aus dem Lager der konservativen Gegner Darwins tönt der Ruf ›Schöpfung und Spezies!‹«35

Er sprach dem Fortschritt den Status eines »Naturgesetzes« zu,36 das er durch Darwins Theorie bewiesen sah, auch wenn er bedauerte, daß Darwin Entwicklung und Fortschritt nicht über die Welt der Lebewesen hinaus für die ganze Natur nachgewiesen habe.37 Die offenen politischen Anspielungen der Haeckelschen Rede lassen keinen Zweifel darüber zu, daß seine Fortschrittsüberzeugung sich zwar von Darwins Theorie bestätigt und bestärkt sah, nicht aber etwa erst von ihr angeregt und induziert worden war. Diese Überzeugung entsprach vielmehr einem weit verbreiteten Vorurteil seiner Zeit und war speziell durch Haeckels politische Opposition gegen die Reaktion verstärkt, die nach der gescheiterten Revolution von 1848 das öffentliche Leben in den deutschen Ländern prägte.38 Diese politisch-weltanschauliche Orientierung bildete auch das Fundament seiner kompromißlosen Ablehnung aller Formen von »Idealismus« und »Dualismus«, gleichgültig ob sie ihm als Religionen, philosophische Systeme oder auch nur als teleologische Argumente in den Wissenschaften entgegentraten. Diese anti-

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E. Haeckel, Über die Entwicklungstheorie Darwins (1863), in: Ders., Gemeinverständliche Werke, hrsg. von H. Schmidt, Leipzig 1924, 4. 36 Ebd., 28. 37 »[…] wohl der wichtigste Mangel der Darwinschen Lehre liegt darin, daß sie uns für die spontane Entstehung oder Urzeugung des einen oder der wenigen allerältesten Stammorganismen, aus denen sich alle anderen entwickelten, keine Anhaltspunkte liefert.« (E. Haeckel, Über die Entwicklungstheorie Darwins (1863), a. a. O., 30 f.) 38 Zu den Fortschrittsvorstellungen im Kontext dieser politischen Konstellation vgl. z. B. W. Lefèvre, Darwin, Marx und der garantierte Fortschritt: Materialismus und Entwicklungsdenken im 19. Jahrhundert, in: A. Arndt / W. Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philosophie und Wissenschaft nach 1848, Hamburg 2000, 167–188.

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idealistische und anti-dualistische Grundüberzeugung bedeutete aber für sein Verständnis von Fortschritt, daß dieser selbst rein »mechanisch« verständlich gemacht werden mußte. Und genau dies schien ihm mit Darwins Theorie hinsichtlich der »progressive(n) Metamorphose« der Lebensformen durchführbar, und zwar speziell mit der Selektionstheorie. »Ganz unstreitig muß aus diesem allgemeinen Vorgange [sc. der natürlichen Selektion im Kampf ums Dasein – W. L.], wenn man ihn im großen und ganzen betrachtet, eine beständige, allmähliche Veränderung der ganzen lebenden Welt, eine progressive Metamorphose, eine fortschreitende Umformung und Veredelung aller Organismen, mit Nothwendigkeit folgen.«39

Dabei war Haeckel ein zu guter Biologe, um nur Vervollkommnung und Veredelung in der lebendigen Natur wahrzunehmen und nicht ebenso Regressionen, die Zweischneidigkeit von Funktionsdifferenzierungen und Spezialisierungen etc. Aber das für ihn Entscheidende war, daß das Fortschrittsgesetz der Gesamtentwicklung seinen Stempel aufdrücke. »Im Grossen und Ganzen ist die Entwicklungs-Bewegung der gesammten organischen Welt eine stetig und überall fortschreitende, wenn gleich die überall wirkenden Differenzirungs-Processe nothwendig neben den überwiegenden FortschrittsVorgängen im Kleinen und Einzelnen auch zahlreiche, und oft bedeutende Rückschritte in der Organisation bedingen. Indessen treten diese Rückschritte, wie sie in der Völkergeschichte vorzüglich durch die Herrschaft der Priester und Despoten, in der übrigen organischen Natur vorzüglich durch Parasitismus bedingt werden, doch im Grossen und Ganzen vollständig zurück gegenüber der ganz vorherrschenden Vervollkommnung. Der Fortschritt zu höheren Stufen der Vollkommenheit ist in der gesammten organischen Natur ein genereller und universeller, der gleichzeitig stattfindende Rückschritt zu niederen Stufen ein specieller und localer Process. Sowohl der überwiegende Fortschritt in der Vervollkommnung des Ganzen als der hemmende Rückschritt in der Organisation des Einzelnen sind mechanische Naturprocesse, welche mit Nothwendigkeit durch die natürliche Züchtung im Kampfe ums Dasein bedingt sind, und durch die Selections-Theorie (und nur durch sie allein!) vollständig erklärt werden.«40

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E. Haeckel, Über die Entwicklungstheorie Darwins, a. a. O., 24. In der Generellen Morphologie legte Haeckel den seiner Ansicht nach bestehenden Zusammenhang zwischen Selektionstheorie und Fortschritt ausführlich in einem eigenen Unterabschnitt des der Deszendenztheorie gewidmeten 19. Kapitels dar. (E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 257 ff.). 40 E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 262 f.

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III. Orthogenesis Mit seiner Sicht einer im ganzen aufsteigenden Entwicklungslinie in der Welt der Lebewesen stand Haeckel keineswegs alleine da unter seinen Fachkollegen. Eher könnte man sagen, daß er sich damit im Mainstream bewegte. Wie schon kurz angedeutet, hatte sich in Entwicklungsgeschichte, Vergleichender Anatomie und Paläontologie im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Ansicht herausgebildet, daß Bildung und Bildungssequenzen der organischen Formen, die man in diesen verschiedenen biologischen Forschungsfeldern untersuchte, nicht das Bild einer regellosen Vielfalt und Abfolge bieten, sondern von gewissen Gesetzmäßigkeiten regiert werden. Es schien ganz unzweifelhaft, daß im allgemeinen, auch unter Berücksichtigung von Ausnahmen und Gegenbeispielen, die Abfolge dieser Formen Sequenzen mit einem Richtungssinn darstellen. So wie in der Ontogenese der werdende Organismus eine Entwicklung von einer anfänglich weitgehend homogenen Struktur zu einer gegliederten durchläuft, so schienen die Taxa einer Klasse nach zunehmender Komplexität und Funktionsdifferenziertheit der Organsysteme anordnenbar, und diese wachsende Differenziertheit überdies auch durch die erdgeschichtliche Abfolge der Lebensformen bestätigt, die die Paläontologie etablierte. Wenn man aber mit der Mehrheit der Embryologen, Vergleichenden Anatomen und Paläontologen zunehmende Komplexität, wachsende Funktionsdifferenzierung unter den Organen eines Organismus und schließlich, erdgeschichtlich, eine säkulare Tendenz zur Differenzierung und Divergenzbildung unter den Arten als Kriterien einer »progressiven Entwicklung« verstand, dann hatte die Rede von Entwicklungsfortschritt und Vervollkommnung nichts Anstößiges. Und auch die Annahme, daß es sich bei dieser fortschrittlichen Entwicklung um eine reale Entwicklung handelte und nicht nur um den materialisierten Widerschein einer ideellen, in den Gedanken des Schöpfergottes oder in einer intelligiblen Ordnung der Natur vorgezeichneten Entwicklung, stellte für eine wachsende Anzahl der deutschen Biologen von der Mitte des Jahrhunderts an und namentlich dann unter der Wirkung von Darwins Theorie keine Ungeheuerlichkeit mehr dar. Haeckels Behauptung jedoch, daß man diese progressive Entwicklungstendenz mit Darwins Selektionstheorie erklären könne, schien vielen und zunehmend den meisten dieser Biologen unplausibel. Dabei ging es nur vordergründig um vermeintliche oder tatsächliche Schwächen des Prinzips der natürlichen Selektion. Was vielen dieser Fachkollegen in letzter Instanz als ungereimt erschien, war eine Erklärung einer gesetzmäßig scheinenden Tendenz zur Höherentwicklung aus Anpassungen der Organismen an eine sich allem Anschein nach regellos ändernde Umwelt. Es läßt sich gut nachvollziehen, warum viele der von realer Evolution und Höherentwicklung der Arten überzeugten Biologen Haeckel an diesem Punkt

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nicht folgen wollten. Haeckel hatte zwei Dinge in seiner Theorie kausal verknüpft, die sich in ihren Augen so nicht verknüpfen ließen: nämlich einerseits Entwicklungsgesetze, die diese Biologen, anders als Haeckel selbst,41 als den Lebewesen spezifisch eigentümlich und deswegen in ihrer Natur begründet ansahen, und andererseits die Anpassung an äußere Bedingungen. Um die gesetzmäßige Höherentwicklung, die man zu erkennen glaubte, durch solche Anpassungen zu erklären, hätte man eine prästabilierte Harmonie zwischen Erdgeschichte und Organismusentwicklung unterstellen müssen, die dafür sorgt, daß stets die erdgeschichtlichen Änderungen eintreten, die geeignet sind, genau die adaptiven Strukturveränderungen zu induzieren, die mit den Gesetzmäßigkeiten organischer Formbildung übereinstimmen. Kam aber eine solche Phantasterei selbstredend nicht in Frage, dann hatte man es mit zwei grundsätzlich verschiedenen Ursachen der organischen Formbildung zu tun, die sich nicht aufeinander reduzieren ließen: eine innerorganismische Ursache, die für die gesetzmäßige Höherentwicklung verantwortlich war, und eine äußerlich bedingte, die für die Anpassungen an sich ändernde Lebensbedingungen sorgte. Diese Ursachen schlossen sich nicht aus, sondern konnten vereint wirken. Aber es schien einem Kategorienfehler gleichzukommen, die Anpassung auf innerorganismische Entwicklungsgesetzmäßigkeiten bzw. die gesetzmäßige Höherentwicklung auf Anpassungen an äußere Bedingungen zurückführen zu wollen. Unter der geteilten Prämisse einer gesetzmäßigen Höherentwicklung der Lebensformen zeichnete sich also da eine klare Alternative ab, wo Haeckel eine Reduktion versucht hatte: Wenn man wie Darwin und die radikalen Darwinisten alle Formentwicklungen auf Anpassungen zurückführte, dann konnte von einer gesetzmäßigen Tendenz zur Höherentwicklung nicht die Rede sein.42 Und umgekehrt, wenn die Formentwicklung einer gesetzmäßigen, den Organismen eigentümlichen Tendenz zur Höherentwicklung, Funktionsdifferenzierung etc. folgt, dann kann sie nicht im wesentlichen auf Anpassungen an äußere Lebensbedingungen zurückgeführt werden. Anpassungen sind dann nur als ein ergänzender Faktor der organischen Formbildung zu denken.

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Für Haeckel handelte es sich um allgemeine Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der ganzen Natur, also auch der anorganischen. 42 Ich kann hier nicht darauf eingehen, daß die unbestreitbaren Optimierungen der »natürlichen Technologie« (Marx) im Laufe der Evolution nur dann allein durch Anpassungsprozesse erklärbar werden, wenn man diese wie Darwin als in erster Linie zwischen den verschiedenen Lebensformen sich abspielende Prozesse begreift, die deswegen einen »teleonomischen« (Mayr) Charakter haben. Vgl. dazu z. B. W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt / Berlin / Wien 1984, 252 ff. und 260 ff.

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Exkurs: Lamarcks Arttransformationstheorie Ebenfalls43 unter der Prämisse einer gesetzmäßigen Höherentwicklung der Lebensformen hatte Jean Baptiste Lamarck (1744–1829) bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts das prinzipielle Modell einer Evolutionstheorie entworfen, das diese beiden Ursachen der organischen Formbildung vereint, indem es die gesetzmäßige Höherentwicklung auf innerorganismische Ursachen zurückführt und in den Anpassungen an die Umwelt nur einen hinzukommenden, modifizierenden Faktor sieht. Die Eigenart der Evolutionstheorie Lamarcks läßt sich vielleicht am besten an einer scheinbaren Nebensächlichkeit verdeutlichen. Nach der heutigen, auf Darwin zurückgehenden Evolutionstheorie gehören die Hominiden erdgeschichtlich zu den jüngsten Arten. Bei Lamarck dagegen sind sie die ältesten, während etwa ein Polyp zu den jüngsten zählt. Dies folgt zwingend aus seiner Theorie. Dieser Theorie zufolge entstehen die einfachsten Organismen im Pflanzenbzw. Tierreich durch Urzeugung. Solche Urzeugungen finden ständig statt. Durch Urzeugung können allerdings nur die am einfachsten organisierten Lebewesen entstehen. Die heutige Flora und Fauna, die Vielfalt komplex gestalteter Organismen, läßt sich nicht auf Urzeugung zurückführen. Sie ist vielmehr das Resultat der Fähigkeit der urgezeugten einfachen Organismen, Fortschritte in ihrer Organisation zu machen und diese Fortschritte zu vererben. Aufgrund dieser Fähigkeit durchlaufen die Organismen in der langen Folge der Generationen eine Stufenleiter der Organisation mit dem Richtungssinn: vom undifferenzierten zum differenzierten Organismus. Diese Theorie lieferte die Rechtfertigung für Lamarcks Überzeugung, daß sich die Vielfalt der pflanzlichen und tierischen Organisationsformen jeweils linear als eine Stufenleiter gemäß Organisationsgrad »natürlich« anordnen läßt. Jede Organisationsform auf den beiden Stufenleitern stellt also die urgezeugten Organismen auf einem bestimmten Entwicklungsstand dar. Da es keinen Grund für die Annahme gibt, daß die Organismen diese Entwicklung unterschiedlich schnell durchlaufen, läßt sich aus der Entwicklungshöhe einer Organisationsform auf ihr Alter schließen, also darauf, wieviel Zeit seit der Urzeugung des Organismus vergangen ist, von dem sich die jeweilige Form herleitet. Der Grundsatz einer Altersbestimmung kann gemäß dieser Theorie nur lauten: je höher entwickelt, desto älter. Lamarcks Chronologie verliert im Rahmen dieser Theorie alles Verwunderliche. Um so eigenartiger erscheint dagegen diese Theorie. Man sieht sofort, 43

Dieser Exkurs gibt in gekürzter Form einen Abschnitt aus einem Handbuchartikel über Lamarck wieder – vgl. W. Lefèvre, Jean Baptiste Lamarck, in: I. Jahn / M. Schmitt (Hg.), Darwin & Co., a. a. O., 196 ff.

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daß es sich um eine Transformationstheorie und keine Deszendenztheorie der Arten handelt, d. h. nicht um eine Theorie, die einen Abstammungszusammenhang unter ihnen unterstellt. Denn wie ein Blick auf das Schema (Abb. 3) zeigt, stammen die rezenten Klassen nicht voneinander ab: Sie haben zwar – im jeweiligen Naturreich – alle gleichartige Vorfahren, aber keine gemeinsamen. Ohne gemeinsame Vorfahren kann aber von Abstammung keine Rede sein. Man muß also konstatieren: 1.) Zwischen den rezenten Klassen besteht kein genealogischer Zusammenhang. Die verschiedenen Entwicklungskohorten vollziehen ihre Höherentwicklung unabhängig voneinander. 2.) Bei diesen parallelen Evolutionen handelt es sich qualitativ immer um die gleiche Evolution. Ausgehend von den urgezeugten Organismen durchlaufen die Entwicklungskohorten auf der tierischen bzw. pflanzlichen Entwicklungslinie die gleiche Abfolge von immer höher entwickelten Organisationsformen. Während der erste Punkt von Bedeutung ist um zu sehen, daß es sich bei Lamarcks Theorie nicht um eine andere Begründung der Deszendenztheorie, sondern um eine grundsätzlich andere Theorie handelt, ist der zweite Punkt wichtig hinsichtlich der Nachwirkung Lamarcks. Denn dieser zweite Punkt impliziert, daß Lamarck sich die Entwicklung der Formenvielfalt, wenigstens was den grundsätzlichen Organisationstypus der Klassen angeht, als einen innerorganismisch determinierten Prozeß dachte, d. h. als eine gerichtete Evolution, und nicht wie Darwin als das Resultat der Wechselwirkung zwischen den Organismen und ihrer Umwelt, bei welcher der Zufall eine konstitutive Rolle spielt. Diese Wechselwirkung spielte für Lamarck bei der Erklärung der Formenvielfalt auf den niedrigeren taxonomischen Rängen eine Rolle, also vor allem hinsichtlich der Arten und Gattungen. Er führte nämlich die Abweichungen von dem innerorganismisch angelegten, prinzipiellen Entwicklungsweg der organischen Formen auf wechselnde äußere Bedingungen zurück, unter denen die Kohorten sich entwickeln.

Abb. 3: Schema zu Jean Baptiste Lamarcks Theorie der Arttransformation.

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Lamarcks Theorie der Arttransformation stützte sich also zum einen auf das Hauptprinzip einer in den Organismen angelegten, gesetzmäßigen Höherentwicklung, das den prinzipiellen, normalen und in den Bauplänen der Klassen auch gesetzmäßig realisierten Weg der Transformation und vor allem ihre Richtung bestimmt, und zum anderen auf die Wechselwirkung zwischen den Organismen und ihrer Umwelt als ergänzenden Faktor oder Nebenprinzip, das die Abweichungen von jenem normalen Weg sowie die Formenvielfalt innerhalb der Klassen erklärt.

* Die konkrete Theorie des historischen Lamarck erlebte keine Renaissance, als die allgemeine Ernüchterung über Darwins Theorie immer mehr um sich griff. Auch die erste deutsche Übersetzung von Lamarcks Philosophie zoologique, die Arnold Lang 1876 herausbrachte, zeugt nicht etwa davon, daß diese Theorie wieder aufgenommen worden wäre. Dazu gehörte sie in all ihren physiologischen, paläontologischen etc. Einzelheiten, auf die der Exkurs nicht näher eingehen konnte, einer vergangenen Epoche biologischen Denkens an, die sich von 1876 aus als geradezu naiv darstellen mußte. Wenn gleichwohl charakteristische Momente des lamarckischen Modells einer Evolutionstheorie sich bei verschiedenen Biologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiederfinden, und zwar unabhängig davon, ob diese auf Lamarck Bezug nahmen bzw. ob sie von den Zeitgenossen als Lamarckisten wahrgenommen wurden oder nicht, so spricht das für die Angemessenheit dieses Modells in der gegebenen Theorienkonstellation. Es ist das prinzipielle Modell einer orthogenetischen Entwicklungstheorie, d. h. einer Theorie, die die Entwicklung der organischen Formen auf ein inneres Prinzip zurückführt; es ist das prinzipielle Modell einer au fond teleologischen Theorie, ob sich nun seine Vertreter nach dem Vorbild Lamarcks um eine »materialistische« Erklärung dieses inneren Prinzips bemühen oder nicht.44 Besser als Haeckels lamarckistisch-darwinistische Hybridtheorie schien eine solche Theorie der gesetzmäßigen Höherentwicklung der organischen Formen gerecht werden zu können, von der damals nicht wenige unter den deutschen Biologen genauso überzeugt waren wie Haeckel. Es würde hier zu weit führen, detailliert auf die damaligen orthogenetischen Theorien einzugehen.45 Es muß genügen, durch die Nennung einiger 44

Der Terminus »Orthogenese« wurde von dem Zoologen Wilhelm Haacke (1855– 1912) geprägt. – Zu diesem Theorietyp vgl. E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, Berlin / Heidelberg / New York / Tokio 1984, 424 ff. und zeitgenössisch A. Wagner, Geschichte des Lamarckismus, a. a. O., 223 ff. 45 Eine erste Orientierung bieten W. M. Montgomery, Germany, in: T. F. Glick, The Comparative Reception of Darwinism, Austin / London 1972 und P. J. Bowler, The Eclipse of Darwinism. Kapitel 7.

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Namen anzudeuten, daß diese Theorien keineswegs einer bestimmten Schule zugeordnet werden können, sondern von Biologen vertreten wurden, die auf verschiedenen Gebieten arbeiteten und in ihren Lehrmeinungen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Da ist zunächst der Botaniker (Pflanzenphysiologe und -anatom) Carl Wilhelm von Naegeli (1817–1891), der seine orthogenetische Theorie als streng mechanisch-physiologisch, d. h. nicht-teleologisch, verstand. Naegeli legte diese Theorie zwar erst 1884 systematisch dar,46 hatte sie aber seit 186547 in verschiedenen Reden und Abhandlungen umrissen und vorgestellt. Zeitgenossen sprachen ihm das Verdienst zu, der orthogenetischen Entwicklungsidee zum Durchbruch verholfen zu haben.48 Als nächster wäre der Vergleichende zoologische Anatom und Embryologe Albert von Koelliker (1817–1905) zu nennen, der insbesondere durch seine Theorie der »heterogenen Zeugung« einflußreich unter seinen Zeitgenossen war und bis zum heutigen Tag bekannt ist.49 Auch er wollte seine orthogenetische Evolutionstheorie als streng mechanisch verstanden wissen. Schließlich sei noch der Zoologe Theodor Eimer (1843–1898) angeführt. Eimer lehnte zwar eine rein innerorganismisch verursachte Entwicklung, wie sie von Naegeli und Koelliker vorgeschlagen worden war, ab. Statt dessen unterstellte er ein »stammesgeschichtliches Wachsen«, das in Reaktion auf die Umwelt die organischen Formen hervorbringt, dabei jedoch, als Reaktion des Organismus, inneren Restriktionen und Tendenzen folgt.50 46

Vgl. C. von Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München / Leipzig 1884. 47 Vgl. C. von Naegeli, Entstehung und Begriff der Naturhistorischen Art, München 1865. 48 Vgl. E. von Hartmann, Das Problem des Lebens, a. a. O., 17 f. – Es ist übrigens auffällig, wie viele Pflanzenphysiologen und -anatomen das orthogenetische Modell in irgendeiner Variante adoptierten. Zu nennen sind z. B. Eugen Askenasy (1845–1903) – E. Askenasy, Beiträge zur Kritik der Darwinschen Lehre, Heidelberg 1872 – und vor allem Julius Sachs (1832–1897) – J. Sachs, Mechanomorphosen und Phylogenie: Physiologische Notizen VIII, in: Flora LXXVIII (1894), 215-243 –, der lange Zeit der entschiedenste Darwinist unter den deutschen Botanikern gewesen war – vgl. E. Höxtermann, Julius Sachs, in: I. Jahn / M. Schmitt (Hg.), Darwin & Co., a. a. O., aber auch Th. Junker, Darwinismus und Botanik. Rezeption, Kritik und theoretische Alternativen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, 233 ff. Zur Aufnahme der Evolutionstheorie durch die deutschen Botaniker insgesamt vgl. Th. Junker, Darwinismus und Botanik, a. a. O. 49 Im Hinblick auf seine orthogenetische Evolutionstheorie vgl. vor allem A. Koelliker, Morphologie und Entwicklungsgeschichte des Pennatulidenstammes nebst allgemeinen Betrachtungen zur Descendenzlehre, Frankfurt 1872, Teil A. 50 Th. Eimer, Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens. Teil 2: Orthogenesis der Schmetterlinge. Ein Beweis bestimmt gerichteter Entwickelung und Ohnmacht der natürlichen Zuchtwahl bei der Artbildung; zugleich eine Erwiderung an August Weismann, Jena 1897.

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Während Eimer, trotz der Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften, eher einem Evolutionsmodell à la Geoffroy Saint-Hilaire als einem lamarckischen zugeordnet werden könnte, gilt für Naegeli und Koelliker gerade das Umgekehrte: Trotz ihrer Ablehnung der Vererbung erworbener Eigenschaften ist ihr Evolutionsmodell insofern lamarckisch, als es dem lamarckischen Hauptprinzip der Arttransformation entspricht. Bei Naegeli ist die Übereinstimmung mit Lamarcks Modell vielleicht am deutlichsten.51 Er unterstellte nicht allein wie Lamarck, daß ständig, und nicht nur in fernen urgeschichtlichen Zeiten, primitive, noch unbekannte Organismen durch Urzeugung entstehen,52 sondern ebenso, daß sie sich gemäß innerer, mechanisch-physiologischer Gesetze auf parallelen, von einander unabhängigen, »Abstammungslinien« zu den rezenten organischen Formen entwickelt haben.53 Entsprechend bestritt er, daß die geschichtliche Evolution der organischen Formen durch eine Deszendenztheorie adäquat zu erfassen sei. Und konsequenterweise findet sich bei ihm sogar auch die merkwürdige lamarckische Chronologie, nach der die höchstentwickelten Lebewesen stammesgeschichtlich auch die ältesten seien, d. h. auf die längste Evolutionsgeschichte seit Urzeugung ihrer ersten Vorfahren zurückblicken können.54 Koelliker, der seine orthogenetische Theorie nur hypothetisch vortrug, bestritt ebenfalls, daß eine Evolutionstheorie notwendigerweise die Form einer Deszendenztheorie haben müsse, d. h. daß man einen wirklichen genealogischen Zusammenhang unter den Lebensformen annehmen müsse, wenn man sie als geschichtlich geworden betrachtet. Die Annahme paralleler und unabhängiger Arttransformationen aufgrund einer den Organismen eigenen inneren Entwicklungstendenz schien ihm weit plausibler. Die Marginalisierung oder sogar Verwerfung einer Vererbung erworbener Eigenschaften, die für die meisten orthogenetischen Evolutionstheorien55 ebenso charakteristisch waren wie eine Marginalisierung der natürlichen Selektion oder die Ablehnung von Haeckels Biogenetischem Grundgesetz, läßt von einer anderen Seite her die Frontstellung gegen Erklärungen der organischen Formbildungsprozesse aus äußeren Ursachen als die raison d’être dieser Theorien 51

Der Text von Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, a. a. O., läßt allerdings nicht erkennen, ob Naegeli Lamarcks Theorie rezipiert hatte oder nicht. 52 C. von Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, a. a. O., 83 ff. 53 Ebd., 462 ff. 54 Ebd., 467. 55 Neben Naegeli und Koelliker wären in dieser Hinsicht insbesondere auch die Embryologen Wilhelm His (1831–1904) und Alexander Wilhelm Goette (1840–1922) zu erwähnen – vgl. W. M. Montgomery, Germany, a. a. O., 102 f.

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erkennen. Evolutionstheoretische Bedeutung hatte die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften ja im Hinblick auf das lamarckistische Theorem der Anpassung durch Gebrauch, d. h. im Rahmen einer Evolutionstheorie, bei der nicht innerorganismische Entwicklungstendenzen, sondern Anpassungen an sich ändernde Lebensbedingungen das Zentrum der geschichtlichen Entwicklung der organischen Formen darstellten. Um so bemerkenswerter ist eine Spielart orthogenetischer Evolutionstheorien, die gerade an diesen lamarckistischen Adaptionen ansetzte und deswegen als letzte hier noch kurz angeführt werden soll. Bei dieser Spielart handelt es sich um den sog. Psycholamarckismus, der die Anpassung durch Gebrauch wie der historische Lamarck auf neue Bedürfnisse (besoins) zurückführte, die aus geänderten Lebensbedingungen resultierten. Während jedoch Lamarck, ungeachtet gewisser in diese Richtung weisender Formulierungen,56 keineswegs daran dachte, allen Lebewesen Vorstellungsfähigkeit oder eine Art Willen zuzuschreiben,57 tat der Psycholamarckismus genau dies. Er knüpfte dabei an eine damals aufkommende psychologistische Strömung in der Biologie an, die allem Lebendigen bis hinab zum Einzeller Empfindungs-, Willens- und Gedächtnisleistungen zusprach.58 Auf dieser Grundlage hatte Hermann Müller bereits 1879 »gefordert«, »die Reaktionen der ›Zellseelen‹ als tiefste Grundlage der Descendenztheorie« anzunehmen.59 Lamarckisten wie der heute vergessene Botaniker Adolf Wagner (1869–1940) interpretierten im Lichte dieser psychologischen Sicht des Lebens60 Lamarcks Theorem der Anpassung durch Gebrauch dahingehend, daß dem Bedürfnis

56

Vgl. z. B. J. B. Lamarck, Philosophie zoologique, Paris 1809, Bd. I, 233 f. Zu dieser Frage vgl. R. W. Jr. Burckhardt, The Spirit of System. Lamarck and Evolutionary Biology, Cambridge, Mass. 1995, 167. 58 Als wichtige Repräsentanten dieser Strömung sind Samuel Butler (1835–1902) – S. Butler, Life and habit, London 1878 und ders., Evolution, old and new, London 1879 – (vgl. P. J. Bowler, The Eclipse of Darwinism, a. a. O., 73), Hermann Müller (1829–1883) – H. Müller, Samuel Butler’s Gedanken über die Rolle der Gedächtnis-Uebung in der Entwicklungsgeschichte, in: Kosmos V (1879), 23–38 –, Ewald Hering (1834–1918), Raoul H. Francé (1874–1943), August Pauly (1850–1914), mit dessen Namen der Psycholamarckismus gewöhnlich zuerst assoziiert wird, und Marinus Cornelis Piepers (1835–1919) zu nennen. 59 H. Müller, Samuel Butler’s Gedanken über die Rolle der Gedächtnis-Uebung in der Entwicklungsgeschichte, a. a. O., 38, zit. nach Th. Junker, Darwinismus und Botanik. Rezeption, Kritik und theoretische Alternativen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, 282. 60 Für Wagner wie für andere deutschsprachige Psycholamarckisten war auch Eduard von Hartmanns (1843–1906) Philosophie des Unbewußten von Bedeutung; von Hartmann hatte auch zahlreiche Arbeiten zu theoretischen Problemen der Biologie verfaßt – vgl. z. B. die Sammlung solcher Arbeiten in: E. von Hartmann, Das Problem des Lebens, a. a. O. 57

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der Organismen dabei die entscheidende Bedeutung zukomme. In dem geänderten Gebrauch äußere sich nicht einfach eine Reaktion auf geänderte Lebensbedingungen. Vielmehr müsse und könne »jenes Erhaltungsstreben, das in der Reaktion gegen die Umwelt den Organismus die erhaltungsmäßige Reaktion suchen und in vielen Fällen finden läßt, als eine Eigenkraft, besser als ein Eigenvermögen des Organismus angesehen werden. […] der Trieb, sich zu erhalten und eine geeignete Reaktion mit den gegebenen Mitteln zu finden, (ist) vorhanden, [und d. h.] […] eine Zielstrebigkeit mit der allgemeinen Richtung der Selbsterhaltung, […] ein gerichtetes Geschehen.«61

Ein so verstandener Lamarckismus schien darüber hinaus eine Grundlage bereitzustellen für eine »wissenschaftliche«, d. h. gegen den üblichen Teleologie- und Mystizismusvorwurf gefeite, orthogenetische Evolutionstheorie, die den onto- wie phylogenetischen Formbildungsprozessen auch nach Wagners Meinung am besten entsprechen würde. Es besteht »Hoffnung«, schrieb er, »dem Problem der Orthogenese von lamarckistischer Grundlage aus beizukommen. Denn auch die Orthogenese mündet in einen ›Trieb‹, in ein ›Streben‹, also in einen psychischen Faktor. Da ist die Möglichkeit einer Verständigung und einer befriedigenden Lösung auf dem Gebiete des Lamarckismus in Aussicht gestellt, ohne daß man zu mystischen Vorstellungen greifen und der weiteren Forschung den Fortschritt unterbinden müßte.«62

Weit weniger zurückhaltend und abwägend als der Fachbiologe Wagner ließ 1908 der philosophische Schriftsteller Johann Gustav Vogt (1843–?) Psycholamarckismus und orthogenetische Evolutionstheorie kurzerhand zusammenfallen: »Die Entwicklung wird einfach getragen durch die Initiative der Empfindung und nie und nimmermehr durch die der äußeren Einflüsse. […] Kein Kampf ums Dasein spornt die Empfindung zu erhöhter Tätigkeit an, sondern nur ihr ureigener Drang, sich in der Außenwelt in immer höherer Entfaltung zu offenbaren.«63

In einem solchen Zusammenfallen wäre jedoch das geopfert, was den NeoLamarckismus bis dahin von den orthogenetischen Evolutionstheorien unterschieden hatte und was er mit dem Darwinismus teilte, nämlich die Auffassung,

61

A. Wagner, Geschichte des Lamarckismus, a. a. O., 227. Ebd., 238 f. 63 J. G. Vogt, Der Realmonismus. Eine naturwissenschaftliche Weltanschauung mit besonderer Berücksichtigung des Geistes- und Lebensproblems, Leipzig 1908, zit. nach A. Wagner, Geschichte des Lamarckismus. Als Einführung in die psycho-biologische Bewegung der Gegenwart, Stuttgart 1908, 239. 62

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daß die geschichtliche Entwicklung der organischen Formen essentiell auf Anpassungen an sich ändernde Lebensbedingungen beruht. Orthogenese und Entwicklung aufgrund von Anpassung an äußere Bedingungen sind grundverschiedene Erklärungen der Evolution. Sie lassen sich, wie beim historischen Lamarck vorgebildet, in der Form sich ergänzender Erklärungsprinzipien nebeneinander stellen, aber sie lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Der Sog der orthogenetischen Evolutionstheorien, dem sich die Neo-Lamarckisten damals offenbar nicht entziehen konnten, lief deswegen auf eine Abwertung oder gar Aufgabe der Auffassung hinaus, daß die Anpassung das Fundament der biologischen Evolution bildet. Diese Auffassung wurde nun nur noch vom Darwinismus vertreten, dessen theoretischer Kerngehalt an seiner Resistenz gegen diesen Sog orthogenetischer Entwicklungsvorstellungen eine weitere Präzisierung und Klärung erfuhr: So wie der Darwinismus nur ungerichtete, im besprochenen Sinn zufällige Variationen als Material der natürlichen Selektion unterstellte, d. h. Mechanismen ablehnte, die für Variationen mit adaptivem Wert sorgen, so lehnte er innere Entwicklungstendenzen der Organismen ab und mutete so zu, die geschichtliche Entwicklung der Lebenswelt, »progressiv« erscheinende Aspekte eingeschlossen, als ein bloßes Anpassungsprodukt zu verstehen.

Schluß Klärungen haben ihren Preis. Die Zumutung, die geschichtliche Entwicklung der organischen Formen ausgehend allein von Zufallsvariationen und allein als Resultat von Anpassungen an sich regellos ändernde Lebensbedingungen zu denken, – das war es, was um 1900 zur Eclipse of Darwinism führte. Wenn Eberhard Dennert (1861–1942),64 der 1907 zusammen mit dem Botaniker Johann Reinke (1849–1931) den Keplerbund gründen sollte,65 1903 einer Broschüre mit Aufsätzen zur Evolutionstheorie den Titel Vom Sterbelager des Darwinismus66 gab, so war das nicht nur Rhetorik zur Verhöhnung und Herabsetzung einer abgelehnten Lehrmeinung. Wenn schon Haeckels »Darwinismus«, den Dennert in erster Linie bekämpfte, damals tatsächlich wie ein Auslaufmodell aussah, wieviel mehr mußten dann die wenigen verbliebenen, um Weismann gescharten harten Darwinisten als ein Häuflein Unbelehrbarer er-

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Zu Dennert vgl. A. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998, 482 f. 65 Ebd., 220 ff. 66 E. Dennert, Vom Sterbelager des Darwinismus, Stuttgart 1903.

Der Darwinismus-Streit der Evolutionsbiologen

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scheinen, das keine Zukunft hatte. Der Darwinismus war zunächst einmal gescheitert. War der Darwinismus im nun präzisierten Sinne um 1900 in Deutschland gescheitert, so jedoch nicht Darwins Deszendenztheorie, d. h. die Theorie, die annimmt, daß sich die Arten im Laufe der Erdgeschichte aus einer oder wenigen Ahnenarten entwickelt haben und daß so ein genealogischer Zusammenhang unter ihnen besteht. Diese Theorie wurde von der Mehrheit der damaligen deutschen Biologen geteilt, die sich allerdings hinsichtlich des Entwicklungsmechanismus nur darin einig waren, daß er nicht darwinistisch sein durfte. Was die Geschichtlichkeit der Arten angeht, so hatte in der Tat eine Revolution in der Biologie stattgefunden, war tatsächlich die seit Menschengedenken das biologische Denken beherrschende Fundamentalannahme aufgegeben worden, daß die Arten konstant und, wollte man sich nicht auf die Absurdität einer Urzeugung hochentwickelter Organismen einlassen, Kreationen eines Schöpfers sind. Bei dieser Revolution handelte es sich jedoch, wie wohl deutlich geworden ist, in der Tat um eine Non-Darwinian Revolution, worauf vor allem Peter Bowler die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Es war eine Revolution des biologischen Denkens, die der Ungeheuerlichkeit historisch gewordener Arten nicht auch noch die einer Evolution à la Darwin hinzufügen mochte. Es war, so ließe sich vielleicht sagen, eine Revolution unter dem Motto: Wenn schon Evolution, dann aber nach einem vertrauten Muster. Das vertraute Muster organischer Formentwicklung war aber die Ontogenese. In der Tat ließe sich darlegen, was hier aus Raumgründen nur angedeutet werden kann, nämlich daß die verschiedenen, ja rivalisierenden nicht-darwinistischen Evolutionstheorien damals allesamt der Ontogenese als Modell der Evolution verpflichtet waren. Dies gilt für die orthogenetischen Theorien, bei denen dies offenkundig ist. Dies gilt aber auch für den Neo-Lamarckismus der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, für den die an Haeckels Theorie erörterte Verschränkung von Onto- und Phylogenese charakteristisch ist. Auch wenn Haeckel und die Neo-Lamarckisten die orthogenetischen Theorien als Rückfall in Mystizismus und unzulässige Teleologie strikt ablehnten und damit die zum Ontogenese-Modell dazugehörende Vorstellung eines programmierten Prozesses, folgten sie selbst diesem Modell insofern, als sie eine gerichtete Entwicklung annahmen, nämlich eine Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, vom Homogenen zum Funktionsdifferenzierten. Entwicklung und Höherentwicklung fallen in diesem Modell zusammen. Eine biologische Evolutionstheorie, die diesem Modell entsprach, war nicht allein für große Teile der breiten Öffentlichkeit akzeptabel und willkommen, weil sie den Fortschrittsoptimismus, den Glauben an gesetzmäßige Höherentwicklung, naturwissenschaftlich zu bestätigen schien, der ein wesentliches Element der Weltanschauung sowohl weiter Kreise des Bürgertums wie der

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sich organisierenden Arbeiterklasse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellte. Sie war auch insbesondere den Fachbiologen hochwillkommen, da sich mit ihrer Hilfe Probleme und Aporien zwanglos lösen ließen, die sich während der ersten zwei Drittel des Jahrhunderts in den biologischen Disziplinen der Ordnung – Biogeographie, Paläontologie, Systematik und Vergleichende Anatomie – aufgestaut hatten.67 Eine biologische Evolutionstheorie nach dem Modell der Ontogenese war die Form, in der die Deszendenztheorie die damalige Eclipse of Darwinism überleben konnte. – Der Darwinismus überlebte bekanntlich vom zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts an alle alternativen Evolutionstheorien, die ihn seinerzeit verfinstert hatten. Ob dies daran lag, daß sich die Biologen inzwischen von dem so fremdartigen Entwicklungsmodell Darwins überzeugt hatten, wäre eine eigene Untersuchung wert.

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Zu dieser Funktion von Darwins Theorie vgl. z. B. W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt / Berlin / Wien 1984, 94 ff.

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Das erste Bild der Evolution. Wie Charles Darwin die Unordnung der Naturgeschichte zeichnete und was daraus wurde Einleitung Die Bildlichkeit des Darwinismus-Streits ist nicht zu übersehen. Bereits im 19. Jahrhundert produzierte die Debatte um die Evolutionstheorie einen üppigen Bilderkosmos in illustrierten Buchtraktaten, Lehrbüchern und Zeitschriften, in Kunst und Karikatur, in Werbung und Kinderbüchern. Der Ausstellungssalon der französischen Akademie zeigte 1880 etwa das monumentale Ölbild Caïn (Abb. 1), das den Brudermord von Kain und Abel in die frühe Menschheitsgeschichte, die Steinzeit verlegte, wo Kain, in Fell gekleidet und mit einer Keule bewaffnet, den Sieg des Stärkeren davonträgt.1 Mit heruntergeschraubter Theatralik und im kleinen Format widmeten sich gleichzeitig Künstler wie der Symbolist Odilon Redon den Ursprüngen des Lebens, den einfachen Meeresorganismen, die er in einer lithographischen Arbeit mit Titel Origins durch phantastische Szenerien schweben ließ. In England bespielten Karikaturisten wie Charles H. Bennett über Wochen die Ausgaben der London Illustrated News mit Bildhumoresken zur Evolutionstheorie, die durch das gesamte Tierreich die animalischen Ursprünge des Menschen enttarnten, wodurch etwa über mehrere Stufen Gelehrte zu Schweinen und Ochsen wurden, Schuljungen zu Schimpansen oder Zinsleiher zu Haien.2 Der Urheber selbst, Charles Darwin, fand sich zunehmend mit Affenschwanz versehen, in Baumkronen hangelnd in der populären Presse wieder. Schließlich trieb der Affe, zum unfreiwilligen Maskottchen der Evolutionstheorie geworden, in Bilderzyklen eines Wilhelm Busch als Fips, der Affe sein Unwesen oder als singendes Werbetier eines New Yorker Mundwasserproduzenten. Noch in den neunziger Jahren des zuletzt vergangenen Jahrhunderts warb der Computerhersteller Toshiba mit einem 1

Cormons Bild zeigt Kain nach vollbrachtem Brudermord auf der Flucht vor Gottes Strafe. Zu Cormon vgl. M. Lucy, Cormon’s ›Cain‹ and the problem of prehistoric body, in: The Oxford Art Journal 25 (2002), 107–126. Zur Rezeption von Evolutionstheorien in der Kunst des 19. Jahrhunderts siehe das Frühjahrsheft der Internetzeitschrift Nineteenth Century Art Worldwide über: The Darwin Effect. Evolution and Nineteenth Century Visual Culture. Vgl. http://www.19thc-artworldwide.org/spring_03/index.html. 2 Zur Aufnahme der Evolutionstheorie in der Karikatur vgl. J. Browne, Darwin in Caricature: A study in the Popularisation and Dissemination of Evolution, in: Proceedings of the American Philosophical Society 145 (2001), 496–509.

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Abb. 1: Fernand Cormons Ölgemälde Caïn (380 x 700 cm) aus dem Pariser Salon von 1880.

Affen, der sich allmählich aufrichtet und von der haarigen Kreatur zum Mann im Anzug wird, Seite an Seite mit der passenden Apparatur, einer immer fortschrittlicheren Maschine, die vom Rechenschieber zum Computer evolviert.3 Die Popularität von Evolution in den Bildern der Werbung, Kunst und Karikatur ist bis heute ungebrochen. Die Vorstellung allerdings, die Bildlichkeit der Evolutionstheorie sei ein Phänomen der Populärkultur, die von einer wissenschaftlichen Revolution in buntes Nachbeben versetzt worden sei, ist ein Fehlschluß. Weder sind die wissenschaftlichen Publikationen zur Evolutionstheorie weniger bilderreich als die der Populärkultur, noch spielen die Bilder dort eine geringere Rolle. Welche Bedeutung den Bildern von Begründern der Evolutionstheorie zugemessen wird, zeigt sich deutlich an Charles Darwin, der erheblichen Aufwand um die Abbildungen in seinen Werken betrieb. Mitunter gegen den Willen John Murrays, des Verlegers seiner Werke in London, setzte er den Druck verschiedener Abbildungen durch, obwohl sie die Kosten in die Höhe trieben und die Gewinnmargen verringerten, eine Einbuße, die Darwin im Notfall ausglich, indem er die Anfertigung der Druckstöcke aus eigener Tasche bezahlte.4 Über 3

Vgl. St. J. Gould, Leitern und Kegel. Einschränkung der Evolutionstheorie durch kanonische Bilder, in: R. B. Silvers (Hg.), Verborgene Geschichten der Wissenschaft, Berlin 1996. 4 Wegen der teuren fotografischen Illustrationen für Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren verhandelte Darwin beispielsweise 1872 mit Murray, vgl. A. J. Desmond / J. R. Moore, Darwin. The Life of a tormented evolutionist, New York 1991, 594. Für die neuen Abbildungen der zweiten Auflage seines Reisebe-

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die Abbildungen in den Publikationen wachte er zugleich mit strengem Auge: Jede einzelne war entweder von ihm selbst entworfen, aus seiner eigenen Bildsammlung ausgesucht oder nach genauer Anleitung bei einem Graphiker in Auftrag gegeben worden. Bis heute finden sich im Darwin Archiv in Cambridge eine große Fülle von Photographien, Zeichnungen, Drucken und Stichen, ein Bildarchiv, das während Darwins lebenslanger Forschungsarbeit kontinuierlich anwuchs.5 In ansteigender Zahl finden sich die Bilder in seinem Werk wieder: The Origin of Species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life von 1859 erschien zunächst mit einem Bild, zwölf Jahre später, 1871, steigerte sich die Zahl der Abbildungen in The Descent of Man auf knapp achtzig, wiederum ein Jahr darauf hieß es 1872 auf dem Titelblatt von The Expressions of the Emotions in Man and Animals angesichts der Bilderfülle schließlich »zahlreiche Abbildungen« – mit dem Zählen der Bilder hatte Darwin aufgehört. Auch Thomas Henry Huxley und Ernst Haeckel, Darwins aggressivster Fürsprecher in England und Deutschland, publizierten reich bebilderte Bücher. Berühmt wurde etwa Thomas Henry Huxleys Frontispiz zu seinem Werk Evidence as to Man’s Place in Nature von 1863, in dem er die Skelette von Gibbon, Orang-Utan, Schimpanse, Gorilla und Mensch aufmarschieren ließ und damit den Prototyp für die Entwicklungsreihe von Affen zu Mensch schuf, den die Toshiba-Werbung später aufgriff. Geradezu berüchtigt für seine Abbildungen war auch Ernst Haeckel, von den erbost umstrittenen vergleichenden Embryonentafeln in der Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen von 1874 bis hin zu den gefälligen Unterwasserwelten der Radiolarien in den Kunstformen der Natur von 1904.6 Ein Blick in ein heutiges evolutionstheoretisches Lehr- oder Biologiebuch genügt, um sich davon zu überzeugen, daß die Bildlichkeit der Evolutionstheorie kein Phänomen des 19. Jahrhunderts geblieben ist. Kein Lehrwerk kommt daran vorbei, Evolution im Bild zu zeigen: Jedes Schulbuch

richts Journal of Researches hatte Darwin die Anfertigung der Druckstöcke zum Teil sogar aus eigener Tasche bezahlt. Vgl. Charles Darwin an John Murray am 27. Juli 1845, in: F. Burkhardt / S. Smith (Hg.), The correspondence of Charles Darwin, Bd. 3 (1844–1856), Cambridge 1987, 230. 5 Die Bildbestände, die Darwin für sein Werk Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren sammelte, sind erfaßt und bearbeitet von Ph. Prodger, An annotated catalogue of the illustrations of human and animal expression from the collection of Charles Darwin, Lewiston N. Y. 1998 und Ders., Illustration as Strategy in Charles Darwin’s ›The Expression of the Emotions in Man and Animals‹, in: T. Lenoir (Hg.), Inscribing science: scientific texts and the materiality of communication, Stanford Calif. 1998. 6 Vgl. N. Hopwood, Pictures of evolution and charges of fraud. Ernst Haeckel’s embryological illustrations, in: Isis 97 (2006), 260–301.

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enthält etwa ein Diagramm, das die Geschichte des Lebendigen als sich verzweigende Linien vor Augen führt, die das Auffächern von Organismen in immer neue Arten symbolisieren. Ebenso vertraut ist auch die Darstellung des Wandels von Arten, Organismen oder Organen, deren Evolution über mehrere hintereinander gereihte Bilder gezeigt wird, wobei schrittweise der affenähnliche Vorfahre zum Menschen wird, das Reptil zum Vogel, oder der Fisch an Land geht. Solche Bilder der Evolutionstheorie finden sich heute – wie schon im 19. Jahrhundert – in Büchern und Zeitschriften, in Ausstellungssälen von Naturkundemuseen oder auf Werbeplakaten im öffentlichen Raum. Die Bilder der Evolutionstheorie sind jedoch offenbar derart geläufig geworden, daß die Frage nach ihrer Geschichte weitestgehend vergessen wurde.7 Woher aber kommen die Abbildungen, die in Darwins, Huxleys oder Haeckels Werken auftauchen? Welche Bedeutung kommt ihnen in der Evolutionstheorie zu? Und was wurde aus ihnen in der Rezeption? Eine Analyse, die sich mit der Bildlichkeit des Darwinismus-Streits beschäftigt, muß sich sowohl mit der Genese als auch mit dem Fortbestehen der Bilder auseinandersetzen. Da es den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, die Frage nach Herkunft, Bedeutung und Funktion evolutionstheoretischer Bilder im Plural zu beantworten, soll der Blick hier auf ein Fallbeispiel gelenkt werden: Darwins Diagramm von 1859 (Abb. 2), das erste und einzige Bild, das er in Über die Entstehung der Arten zeigte. Es ist dieses Bild, das in zahlreichen Nachbildern bis heute in stammesgeschichtlichen Diagrammen sichtbar ist. Zugleich reicht die Entstehungsgeschichte dieser evolutionstheoretischen Ikone tief in die Bildtradition der Naturgeschichte zurück. So gesehen entfachte der Darwinismus-Streit nicht eine Debatte, wo vorher Einigkeit herrschte. Vielmehr war Darwin selbst das Produkt von erhitzt geführten naturhistorischen Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen er mit seinem Entwurf der Evolutionstheorie Stellung bezog und neuen Widerspruch 7

In der gigantischen Fülle der Literatur zur Geschichte der Evolutionstheorie befaßt sich nur ein verschwindend geringer Teil der Arbeiten mit den Bildern. Zur kulturgeschichtlichen Bildrezeption des Darwinismus vgl. B.-M. Baumunck / J. Rieß, Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte (Ausst.-Kat.), Berlin 1994; zu Darwins Photographien vgl. Ph. Prodger, An annotated catalogue of the illustrations of human and animal expression from the collection of Charles Darwin, Lewiston, N. Y. 1998 und Ders.: Illustration as Strategy in Charles Darwin’s ›The Expression of the Emotions in Man and Animals‹, a. a. O.; zu Darwins Diagrammskizzen in den frühen Notizbüchern vgl. H. E. Gruber, Darwin’s ›Tree of Nature‹ and other images of wide scope, in: J. Wechsler (Hg.), On aesthetics in science, Cambridge, Mass. ³1988, 121–140, zuletzt H. Bredekamp, Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005; J. Voss, Das Auge der Evolution. Charles Darwin zeichnet den Zufall, in: H. Schmidgen (Hg.), Lebendige Zeit. Wissenskulturen im Werden, Berlin 2005 und J. Smith, Charles Darwin and Victorian Visual Culture, Cambridge 2006.

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Abb. 2: Darwins Diagramm aus Origin of the Species von 1859.

provozierte.8 Um die Neuartigkeit seiner Bilder und der darin formulierten Theorie zu verstehen, muß man sie daher im Kontext der naturhistorischen Bildtraditionen betrachten, die Darwin in seiner Ansicht der Evolution zitierte, um mit ihnen zu brechen.

I. Darwins Diagramm in Über die Entstehung der Arten von 1859 Wie hinlänglich bekannt stellte Darwin seine Theorie der Evolution nach über zwanzig Jahren Forschungsarbeit zum ersten Mal 1859 in dem Werk Über die Entstehung der Arten dem lesenden Publikum vor. Das Bild, mit dem die moderne Evolutionstheorie an die Öffentlichkeit trat, findet sich darin als ausfaltbare Klapptafel zwischen Seite 116 und 117 (s. Abb. 2). Ausgefaltet zur doppelten Größe des Buchformats zeigt die Tafel Evolution im Koordinatenkreuz zweier Achsen, mit Horizontalen, Senkrechten, Großbuchstaben und punktierten Linien. Das Bild wird von unten nach oben gelesen, angefangen mit der durchbuchstabierten Punktleiste, deren Markierungen A bis L Arten symbolisieren. Die unterschiedliche Entfernung der Punkte untereinander 8

Zu den Debatten in der Naturgeschichte, aus denen Darwin hervorging vgl. W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt / M. / Berlin / Wien 1984 und D. Ospovat, The development of Darwin’s theory: natural history, natural theology, and natural selection, 1838–1859, Cambridge, N. Y. 1981.

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bezeichnet dabei den Grad, in dem sich die Arten A bis L ähneln. Jeder Punkt streut fächerförmig Linien aus, die das Variieren der Arten anzeigen. Die Varietäten mit Merkmalen, die sich als vorteilhaft erweisen, indem sie am stärksten von der vorangegangenen Generation abweichen, wiederholen den Prozeß, die anderen versteinern auf halbem Weg. Nur selten führt eine Art ihre Geschichte in gerader Linie fort. In den meisten Fällen verzweigen sie sich in andere Richtungen. Bereits innerhalb der ersten Wegetappe, zwischen den beiden ersten Horizontalen, vollführt sich damit das Ineinandergreifen von Selektion und Variation. Entlang des Zeitstrahls der y-Achse hinterlassen Selektion und Variation als Spur die Zickzacklinie der Evolution. Mit jeder Abzweigung wird in das Gleichgewicht des Naturhaushalts eingegriffen. Etappe für Etappe weichen die Arten infolge der Variation nicht nur von ihrer Elterngeneration ab, sondern kraken in die Nische einer Nachbarart aus. Die Varietät vermehrt sich auf Kosten der nächststehenden Art. »Die Concurrenz zwischen den verwandtesten Formen,« erklärte Darwin, »welche nahezu denselben Platz im Haushalte der Natur ausfüllen, ist am heftigsten«.9 Die Linie der Varietäten von B enden dort, wo die Linie von A auslädt. In allen nachfolgenden Stufen wird sich dieser Prozeß der Variation, Selektion und Auslöschung der benachbarten Arten wiederholen und sich zum Evolutionsgeschehen zusammensetzen. Was Darwin in den über fünfhundert Seiten Text des Buches entzerrt schilderte und im Detail belegte, zeigte sich auf einmal und in seiner vielschichtigen Gleichzeitigkeit im Bild: das Variieren, das Auskraken, die Vernichtung, die Entstehung der Arten. Der Unterschied zwischen Darwins erstem Bild der Evolution und solchen wie Fernand Cormons Caïn, das Evolutionstheorie rezipiert, könnte größer nicht sein. Während das Ölgemälde den Topos vom survival of the fittest als Sieg des Stärkeren bildgewaltig inszeniert, zeigt das Diagramm das Panorama der Evolution in einer an Unauffälligkeit grenzenden Bildsprache. Wo das Gemälde wuchtig, dramatisch und narrativ ist, erscheint das Diagramm zögerlich, filigran und verästelt. Der Kampf um’s Dasein, der wohl zu Darwins berühmtestem und berüchtigtstem Erbe wurde und binnen kürzester Zeit als geflügeltes Wort in die Umgangssprache einwanderte,10 taucht im Bild der Evolutionstheorie nur als Resultat auf: Linien enden. Ob eine Art einer anderen im Kampf 9

Vgl. Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein (1860), in: Ders., Gesammelte Werke, aus dem Englischen übersetzt von H. G. Bronn, nach der 6. englischen Auflage wiederholt durchgesehen und berichtigt von J. V. Carus, Bd. II, Stuttgart 1876, 97. 10 Die aus dem Englischen »struggle for life« ins Deutsche als »Kampf um’s Dasein« übertragene Wendung wurde als »geflügeltes Wort« offiziell 1871 in den deutschen Zitatenschatz aufgenommen. Vgl. G. Büchmann, Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volks, Berlin 1871, 84. Zum übermächtigen Topos des Kampfes in der Rezeption der Evolutionstheorie vgl. M. Ruse, The Darwinian Revolution: science red

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unterliegt, geänderte Umweltbedingungen ihre Existenz unmöglich machen oder ihre ökologische Nische von neuen Arten besiedelt wird, zeigt das Bild nicht. Das Aussterben von Arten wird schlicht konstatiert. Bildbeherrschend dagegen ist der Prozeß des Ausfingerns, die unendliche Variation der Arten, kurzum, die Unordnung erzeugende Vielfalt der organischen Natur. Die Pointe wird in Darwins Bild eindeutig zugunsten des einen der beiden Mechanismen, die im Zusammenwirken Evolution produzieren, gesetzt: Die Darstellung des Prinzips der Variation dominiert das der Selektion. Was dem Leserblick bei der Einfachheit der gestalterischen Mittel von Darwins Diagramm zunächst entgeht, ist, daß es sich bei dem Diagramm im Grunde um drei Bilder handelt, die zu einem synthetisiert worden sind. Darwins Diagramm besteht aus einem Vorläufer in der Embryologie, einem zweiten in der Taxonomie und einem dritten in der Geologie, die sich nun zusammengefügt auf einer Bildebene wiederfinden. Die eigenwillige Ästhetik zart gestrichelter Unordnung, die Darwin dabei ins Bild brachte, gilt es im Auge zu behalten, will man den Bruch verstehen, den die Evolutionstheorie für die Naturanschauung des 19. Jahrhunderts bedeutete.

II. Diagramme in der Embryologie vor 1859 Dem naturhistorischen Experten erschien Darwins Bild der Evolution wohl zumindest in Teilen vertraut. Das Prinzip der Verzweigung etwa, das Darwins Diagramm kennzeichnet, kannte der informierte Leser bereits aus mindestens zwei vorangegangenen Darstellungen. Zwanzig Jahre zuvor hatte der Physiologe William Benjamin Carpenter (1813–1885) ein sich verzweigendes Schema benutzt, um die Ausdifferenzierung der Tierklassen in der Embryonalentwicklung darzustellen (Abb. 3). Von einer senkrechten Linie, die den Entwicklungsgang darstellt, teilen sich hier im rechten Winkel drei Horizontalen ab. Die Senkrechte endet mit »M«, dem ausgewachsenen Säugetier (mammal), die Horizontalen mit »F«, »R« und »B«, dem ausgewachsenen Fisch, Reptil und Vogel (bird). Das Diagramm stellte Carpenter den Ausführungen zur Embryologie in seinem physiologischen Handbuch Principles of general and comparative physiology von 1841 zur Seite. Dort hieß es: »The view here stated may perhaps receive further elucidation from a simple diagram. Let the vertical line represent the progressive change of type observed in tooth and claw, Chicago / London 1979 und B. Kleeberg, Die vitale Kraft der Aggression. Evolutionistische Theorien des bösen Affen ›Mensch‹, in: U. Bröckling / B. Bühler u. a. (Hg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, 203–222.

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Abb. 3 und 4: Carpenters Diagramm aus Principles of general and comparative physiology von 1841 und Chambers Diagramm aus Vestiges of the Natural History of Creation von 1844.

in the development of the foetus, commencing from below. The foetus of the Fish only advances to the stage F; but it then undergoes a certain change in its progress towards maturity, which is presented by the horizontal line FC. The foetus of the Reptile passes through the condition which is characteristic of the foetal Fish; and then, stopping short at the grade R, it changes to the perfect Reptile. The same principle applies to Birds and Mammalia; so that A, B, and C, – the adult conditions of the higher groups – are seen to be very different from the foetal, and still more from the adult, forms of the lower; whilst between the embryonic forms of all the classes, there is, at certain periods, a very close correspondence, arising from the law of gradual progress from a general to a special condition, already so much dwelt upon.«11

Inhalt des Gezeigten war also die Ähnlichkeit der Säugetier-, Vogel-, Reptilund Fischembryonen während der Entwicklung, in der sie, zumindest zeitweise, die gleichen Stadien durchliefen, bevor sie die spezifischen Merkmale ihrer Ordnung ausbildeten. Drei Jahre darauf tauchte ein fast identisches Diagramm in dem Werk eines anonymen Autors auf, der sich auf Carpenter berief (Abb. 4). Robert Chambers (1802–1871), der später als Verfasser enttarnt wurde, übertrug das sich verzweigende Schema in sein Skandalbuch Vestiges of the Natural History of Creation. Mit dem verhältnismäßig kurzen Traktat verschaffte Chambers, Verlagsbuchhändler und naturkundlicher Autodidakt, transmutistischen Vorstellungen bereits vor Darwin in England ungeheuere Verbreitung. Die Reaktionen auf Vestiges, das im Jahr 1844 erschien, waren von Seiten der Spezialisten zwar außergewöhnlich scharf, verhinderten aber nicht den Erfolg des Buches. Als 1859 Origin erschien, lag Vestiges bereits in zehnter Auflage vor. Bis Mitte 11

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Vgl. W. B. Carpenter, Principles of General and Comparative Physiology, London 1841, 197.

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der achtziger Jahres des 19. Jahrhunderts war die Auflage von Vestiges höher als die von Origin, das erst Ende des Jahrhunderts gleichzog.12 Im Unterschied zu Carpenter wies Chambers dem Diagramm allerdings eine doppelte Funktion zu. Zum einen repräsentiert es Embryonalentwicklung, zum anderen jedoch gleichzeitig die historische Genese der Ordnungen im Tierreich. Die Ontogenese stand Modell für die Phylogenese. Die Differenzen zwischen den Ordnungen in der Tierwelt, die von den meisten Naturhistorikern der Zeit für unüberbrückbar gehalten wurden, schrumpften bei Chambers merklich zusammen. »[…] it is apparent that the only thing required for an advance from one type to another in the generative process is that, for example, the fish embryo should not diverge at A, but go on to C before it diverges, in which case the progeny will be, not a fish, but a reptile.«13

Das »law of organic development«, wie Chambers es nannte, wurde nun in erdgeschichtliche Dimensionen übertragen, mit dem Ergebnis: »The idea, then, which I form of the progress of organic life upon the globe is […] that the simplest and most primitive type, under a law to which that of likeproduction is subordinate, gave birth to the type next above it, that this again produced the next higher, and so on to the very highest.«14

Aus der embryonalen Entwicklung vom Allgemeinen zum Speziellen war die Evolution vom Niederen zum Höheren geworden. Die Ummünzung des individualgeschichtlichen Modells zu einem gattungsgeschichtlichen veranlaßte Chambers darüber hinaus, eine kleine Formveränderung am Diagramm vorzunehmen. Die Abzweigungen, die Carpenter rechtwinklig von der Senkrechten weggeführt hatte, bog Chambers nun nach oben. Seine Darstellung erhielt dadurch einen dynamischen Zug, der den Eindruck einer Höherentwicklung der Organismen im Verlauf der Erdgeschichte produzierte. Jeder Fisch, jedes Reptil, jeder Vogel schien nun geradezu ein Säugetier sein zu wollen, in der Diagonalen die höhere Stufe anzustreben, allein, die oberste Etage blieb dem Säugetier vorbehalten. So einschneidend dieser kleine Eingriff war, so üblich war es in der Naturgeschichte, solche Veränderungen an Vorlagen vorzunehmen. Mit den Änderungen trieb Chambers nur die Korrekturen weiter, mit denen Carpenter begonnen hatte. Denn auch Carpenter war nicht der originäre

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Zu Geschichte und Erfolg von Vestiges vgl. J. Secord, Victorian Sensation: the extraordinary publication, reception, and secret authorship of ›Vestiges of the Natural History of Creation‹, Chicago 2000. Zum Vergleich der Auflagenzahlen vgl. ebd., 526. 13 Vgl. R. Chambers, Vestiges of Creation, London 1844, 161. 14 Vgl. ebd., 167; Chambers Hervorhebungen.

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Abb. 5: Diagramm aus Martin Barrys On the Unity of Structure in the Animal Kingdom von 1837.

Schöpfer des sich verzweigenden Diagramms, sondern selbst nur Kopist eines anderen noch weiter zurückliegenden, das in einer Fachzeitschrift erschienen war. Wo Chambers Carpenter korrigierte, hatte Carpenter Barry korrigiert. Wie vereinfachend Carpenter schon seinen Vorgänger behandelt hatte, zeigt sich im Vergleich. Bereits vier Jahre vor Carpenter und sieben Jahre vor Chambers hatte der schottische Arzt und Physiologe Martin Barry (1792–1876), der 1833 während

Abb. 6: Martin Barrys The Tree of Animal Development: Shewing fundamental Unity in Structure, and the causes of variety; the latter consisting in Direction and Degree of Development von 1837.

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eines Studienaufenthalts bei Friedrich Tiedemann in Heidelberg Physiologie und Anatomie gehört hatte, einen zweiteiligen Aufsatz über die deutsche embryologische Forschung, insbesondere Karl Ernst von Baer, in der Zeitschrift Edinburgh New Philosophical Journal veröffentlicht. Von Baers embryologische Forschungen, so Barry, hätten bewiesen, »that in all classes of animals, from Infusoria to Man, germs at their origin are essentially the same in character; and that they have in common a homogenous or general structure«.15 Erst im Verlauf der Entwicklung würden die Organismen ihre spezifischen Merkmale ausbilden, die sie von Tag zu Tag immer mehr von anderen Tieren unterschieden. Seine Ausführungen demonstrierte Barry anhand von mehreren Diagrammen. Sowohl der gemeinsame Ursprung, als auch die allmähliche Ausdifferenzierung wurden im Bild gezeigt. Das erste Diagramm (Abb. 5) führt den geteilten Ursprung aus einer archetypischen Form mit mehreren Wellenlinien vor, die einem Punkt A entsprangen und sich dann radial ausbreiten. Die Buchstaben B, C, D und E stehen für die vier Typen der Wirbeltiere, die Fische, Reptilien, Vögel und Säugetiere. Die Schnittpunkte der Wellenlinien mit der horizontalen Achse markieren das Stadium, in dem sich die Embryonen am meisten ähneln. Mit jedem Tag der Weiterentwicklung legen die Organismen danach ihre Ähnlichkeit ab. Das zweite Diagramm (Abb. 6) zeigt die Ausdifferenzierung der Tierklassen im Laufe der Organismusentwicklung. Von einem mit der Ziffer »1« bezeichneten Zentrum entfernen sich mehrere Zickzacklinien, große und kleine, die sich teilweise zu Dickicht verdichten und in verschiedene Richtungen ausladen. Jede Linie folgte dabei dem Gang vom Allgemeinen zum Speziellen über neun durchnummerierte Stufen, in denen die Entwicklung von der Ordnung über die Familie, Gattung, Art bis hin zum Individualorganismus abgeschritten wird. Die Vorstellung, daß von Baers Forschungsergebnisse in dem Sinne gelesen werden könnten, daß sogenannte »höhere Tiere« wie Säugetiere in ihrer Embryonalentwicklung das Stadium von »niederen Tieren« wie Fischen durchlaufen, lehnte Barry ab. »The resemblance […] relates to certain parts only, because each order, family, genus, species, variety, sex, and individual, has its own pecularities, which are repeated in the structure of no other animal.«16

Ein Säugetier entsprach demnach zu keinem Zeitpunkt seiner Entwicklung dem ausgewachsenen Fisch. 15

Vgl. M. Barry, On the Unity of Structure in the Animal Kingdom, in: Edinburgh New Philosophical Journal 22 (1836–1837), 121; Barrys Hervorhebungen. 16 Vgl. ebd., 349.

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»No structure peculiarly characterizing any one set of animals in the perfect state, makes its appearance even in the embryonal life of any other.«17

Die Begriffe »higher« und »lower« in Bezug auf Organismen setzte Barry durchgehend in Anführungszeichen. Statt der Hierarchisierung von Tierarten empfahl er nach »Grad der Spezialisierung« (degree of elaboration) und »strukturellem Typ« (type of structure) zu unterscheiden. Von Evolution war nicht die Rede. »All finite existences presuppose design«18, konstatierte Barry. Die Ausdifferenzierung des Typs in der Entwicklung war kein Produkt von Evolution, sondern folgte einem festgelegten Schöpferplan. Wie sich bereits an Carpenter und Chambers gezeigt hat, bot Barrys Artikel für die englische Naturgeschichte zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die Embryologie, die in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Leitdisziplin der Lebenswissenschaften ausgebaut worden war,19 dehnte sich nun auch in England aus den Grenzen eines Spezialistengebiets bis ins Zentrum der Naturgeschichte aus. Barrys Diagramm war dabei das Nadelöhr, durch das die deutsche Embryologie in den englischen Forschungskanon eingefädelt wurde.20 Für Embryologie interessierten sich in Folge von Barry nicht nur Mediziner oder Embryologen, sondern auch Paläontologen oder Taxonomen. Maßgeblich für die Taxonomen war Barrys These, in der er von Baer nachfolgte, daß allein die Genese eines Organismus Aufschluß über seine Struktur gebe und daher die Grundlage für die Klassifikation der Tiere sein müsse.21 Der Vorschlag, die Embryologie als Hilfswissenschaft für die Taxonomie einzusetzen, sicherte Barrys Artikel zugleich die Aufmerksamkeit in einer erhitzten Debatte, die in den 1830er Jahren in England ihren Höhepunkt erreichte. Auf diesem Weg begann sich nun für Barrys Aufsatz auch ein junger Forscher zu interessieren, der in der Stille seines Arbeitszimmers gerade grundlegende Überlegungen zur Naturgeschichte anstellte. Der junge Forscher war Charles Darwin. Siebenundzwanzigjährig war Darwin im Herbst 1836 von der Weltreise auf der H. M. S. Beagle zurückgekehrt, die ihn von England nach Südamerika, den Galápagosinseln, Tahiti, Neuseeland, Australien, Mauritius und Cape Town geführt hatte. Obwohl er seine fünfjährige Weltreise auch dazu genutzt hatte, um sich auf dem Gebiet der Naturgeschichte, vor allem der Geologie, fortzubilden, waren seine Kenntnisse der Taxonomie auch nach seiner Rück17

Vgl. ebd., 348. Vgl. ebd., 116. 19 Zur deutschen Embryologie vgl. T. Lenoir, The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in nineteenth century German biology, Dordrecht 1982. 20 Zur Rezeption von Barrys Artikel vgl. E. Richards, A question of property rights: Richard Owen’s evolutionism reassessed, in: British Journal for the History of Science 20 (1987), 129–172, sowie R. J. Richards, The meaning of evolution, Chicago 1992. 21 Vgl. ebd., 136 f. 18

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kehr noch mager. Entgegen dem Mythos der sogenannten Darwin-Finken, die dem jungen Forscher angeblich Formenreichtum und Selektionsdruck in der Natur vor Augen führten, hatte Darwin erst einmal, als wäre er im Auftrag der Arche Noah unterwegs gewesen, von jeder Tierart Männchen und Weibchen mit nach Hause gebracht, ungeachtet dessen, von welcher Insel des Galápagos-Archipels die Finken stammten.22 Sowohl seine Etikettierungen als auch seine tabellarischen Aufzeichnungen erwiesen sich als völlig unbrauchbar für die Museumsspezialisten, die in der zoologischen Abteilung des British Museum, der Zoological Society und in der Hunterian Collection des Royal College of Surgeons nach Darwins Rückkehr mit der Klassifizierung beauftragt worden waren.23 Die Entdeckung der artenreichen Finkenfamilie auf den Galápagosinseln etwa war allein John Gould zu verdanken, dem Ornithologen, Vogelillustrator und Händler von Vogelbälgen, der im Auftrag von Darwin die auf der Weltreise zusammengetragene Vogelsammlung bearbeitete. Darwin hatte zunächst die Tiere unterschiedlichen Familien zugeordnet und dabei die enge Verwandtschaft der Arten untereinander übersehen. Daß Darwin erhebliche Schwierigkeiten mit der Klassifikation der Sammlung hatte, kann allerdings kaum verwundern. Denn darüber wie und nach welchen Kriterien klassifiziert werden sollte, herrschte unter den Taxonomen keineswegs Einigkeit. Der Ehrgeiz des Chefkuratoren der zoologischen Abteilung, unter dessen Leitung die Sammlung des British Museum zur größten der Welt angeschwollen war, hatte die englische Taxonomie in eine tiefe Krise gestürzt.24 Die Massen an Tierhäuten, Fellen, Skeletten, Schädeln, eingelegten Organen, getrockneten Bälgen, Käfern, Insekten, Schnecken, Muscheln, Fischen etc., die tagtäglich im Hafen der größten Kolonialmacht der Welt eintrafen, vermehrten bis 1825 die seit Linné bekannten Tierarten um ein Fünffaches. Zwölf Jahre später hatten sie sich bereits verhundertfacht. Auf jede Tierart, die Linné in der zwölften Auflage der Systema Naturae beschrieben hatte, kamen nun hundert neue. Das Linnésche System ächzte unter der Last der Artenvielfalt. Den zunehmend feiner werdenden Unterschieden zwischen Arten und Gattungen, die sich mit jeder neuen

22

Die Aufdeckung des irreführenden Mythos der Darwin-Finken ist Frank Sulloway (Ders., Darwin and his finches: the evolution of a legend, in: Journal of the History of Biology 15 (1982), 1–53, Ders.: Darwin’s conversion: the Beagle voyage and its aftermath, in: Journal of the History of Biology 15 (1982), 325–96) zu verdanken. Darwins ornithologische Kenntnisse behandelt ausführlich F. Steinheimer, Charles Darwin’s bird collection and ornithological knowledge during the voyage of H. M. S. Beagle, 1831–1836, in: Journal of Ornithology 145 (4) (2004), 300–320. 23 Zu Darwins Sammlungen vgl. D. M. Porter, The Beagle collector and his collection, in: D. Kohn (Hg.), The Darwinian Heritage, Princeton, N. J. 1985. 24 Zur Sammlungsgeschichte des British Museums vgl. A. E. Gunther, A century of zoology at the British Museum through the lives of two keepers, 1815–1914, London 1975.

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Lieferung offenbarten, konnte man mit seinem Klassifikationssystem immer weniger gerecht werden. Schließlich brachen die Streben des Ordnungssystems unter den täglichen Schiffsladungen zusammen. Linnés Kriterienkatalog mußte um neue Zusatzannahmen erweitert oder insgesamt durch ein neues System ersetzt werden. Die Vorschläge aber, wie eine bessere Einteilung des Tierreichs, ein besseres Klassifikationssystem gestaltet werden könnte, überschlugen sich.25 Ob ein Tier nach willkürlich ausgewählten äußeren Merkmalen klassifiziert werden sollte, wie Linné es vorgeschlagen hatte, oder beispielsweise Cuviers Methode folgend nach anatomischen Kriterien, den wichtigsten Organen, war sehr umstritten. Die Ergebnisse fielen dementsprechend unterschiedlich aus. Währendessen stapelten sich im Keller des British Museum die Kisten und Gläser mit toten Tieren, die unteren Schichten begannen bereits zu faulen, die Museumsangestellten arbeiteten bis tief in die Nacht, immer wieder neu vor die Frage gestellt, nach welchem Kriterium ein Tier zu benennen sei und ob es sich um einen individuellen Abweichler einer bereits bekannten Art oder den Repräsentanten einer neuen handelte. Weniger vom Variieren der Arten im Naturzustand beeindruckt als vom Variieren der Arten in der Beschreibung der Fachleute, notierte Darwin rückblickend: »Als ich […] die Vögel von den einzelnen Inseln der Galapagos-Gruppe miteinander und mit denen des americanischen Festlandes verglich und andere sie vergleichen sah, war ich sehr darüber erstaunt, wie gänzlich schwankend und willkürlich der Unterschied zwischen Art und Varietät ist.«26

Der Schluß, den er aus der Veränderlichkeit der Arten im Tagesgeschäft der Zoologen zog, war ungewöhnlich und weitreichend: Der Begriff der Art war nicht natürlich. Die Natur kannte nur fließende Übergänge zwischen Individuen, wobei die Art den Grad der Ähnlichkeit bezeichnete. Im Frühjahr des Jahres 1837 25

Zu den erhitzten Debatten um das natürliche System vgl. G. McOuat, Species, rules and meaning: the politics of language and the ends of definitions in 19th century natural history, in: Studies in the History and Philosophy of Science 27 (1996), 473–519 und Ders., Cataloguing Power: Delineating »competent naturalists« and the meaning of species in the British Museum, in: British Journal for the History of Science 34 (2001), 1–28, sowie A. Desmond, The making of institutional zoology in London, 1822–1836, in: History of Science 23 (1985), 153–85 u. 223–50, M. Di Gregorio, In search of the natural system: problems of zoological classification in Victorian Britain, in: History and Philosophy of the Life Sciences 4 (1982), 225–254 und M. P. Winsor, Starfish, jellyfish and the order of life: issues in nineteenth-century science, New Haven 1976. 26 Vgl. Ch. Darwin, On the Origin of Species by means of Natural Selection, or the Preservation of favoured races in the struggle for life, London 1859, 48. In deutscher Übersetzung: Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, a. a. O., 69 f. Vgl. dazu F. Sulloway, Darwin’s conversion: the Beagle voyage and its aftermath, in: Journal of the History of Biology 15 (1982), 379.

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Abb. 7: Darwins Diagramm von 1837 aus Notebook B (by permission of the Syndics of Cambridge University Library).

schwand Darwin daher in Londons zoologischen Sammlungen der Glaube daran, daß Arten unveränderliche Einheiten der Natur seien. Stattdessen wurde er zum Transmutisten und begann nach einem alternativen System zu suchen, das die mannigfaltigen Organismen der Erde, lebende wie tote, miteinander verband. Im Sommer 1837 begann Darwin die sogenannten Transmutation Notebooks, eine Serie von vier Notizbüchern, in denen er seine Gedanken, Hinweise, Daten und Überlegungen zur Transmutation der Arten sammelte. Hier verfertigte er seine ersten systematischen Zeichnungen über den Zusammenhang der Arten. Bereits im ersten Drittel des Notebooks B, dem ersten von vier Notizbüchern, die er zur Frage des Artenwandels angelegt hatte, begann er schließlich eine neue leere Seite mit der Überschrift: »I think.«27 Das, was er dachte, erläuterte er allerdings nicht mit Worten, sondern mit einem Bild. Von dem verbal mit »I think« angekündigten Gedankengang wechselte Darwin ins Bild, um das Gedachte zu konturieren (Abb. 7). Dem Satz folgte ein faustgroßes Diagramm: Von einem mit der Ziffer »1« bezeichneten Ursprung heraus schießt nun eine Linie, die sich kurz darauf dreifach gabelt. Eine Verstrebung endet im Nichts, die beiden anderen fächern sich immer weiter in alle Richtungen auf. Die sich teilenden Linien setzen sich zu einem fragilen und unregelmäßigen Gebilde zusammen, ein wucherndes Wachstum mit Ballungszentren und klaf27

Insgesamt führte Darwin sieben Notizbücher im Zeitraum zwischen 1836 und 1844, die alphabetisch mit den Buchstaben A bis N betitelt sind. In Notebook A finden sich hauptsächlich Aufzeichnungen zur Geologie, B bis E enthalten Notizen zur Transmutation, M und N schließlich Überlegungen zur Metaphysik. Vgl. P. H. Barrett u. a. (Hg.): Charles Darwin’s Notebooks, 1836–1844, London 1987. Alle nachfolgenden Zitate folgen dieser Ausgabe.

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fenden Lücken. Mit den Buchstaben A, B, C und D werden die ausfingernden Abteilungen als vier Gruppen markiert. A, B und D stehen dicht beieinander, zwischen C und A hingegen reißt eine große Lücke auf, in die dürr eine abgerissene Linie hineinragt, das tote Ende einer kurzen Entwicklung. Was Darwin in dem Bild mit ebenso stotternden wie ausufernden Strichen skizzierte, war das gestalterische Zusammenspiel von Variation und Aussterben, den Grundelementen seiner Evolutionstheorie. Das Ausfingern der Linien bezeichnet das Variieren von Arten in der Geschichte der Generationen, das abrupte Ende von Linien markiert ihr Aussterben. Dort, wo die Linien mit einem Querstrich abschließen, handelt es sich um rezente, d. h. noch existierende Arten. »Case must be that one generation then should be as many living as now«, erläutert Darwin rechts oben neben der Zeichnung in einem Satz, der wie eine Gedankenblase angefügt ist, und fährt fort: »To do this & to have many species in the same genus (as is) requires extinction.«28 Die Zahl der rezenten und ausgestorbenen Arten ist daher aufeinander bezogen: Zählt man die auslaufenden und quer abgeschlossenen Striche nach, stehen zwölf ausgestorbenen Arten dreizehn rezente gegenüber. Numerisch überlappen die lebenden Arten die ausgestorbenen nur um eine weitere, die bei Konstanz der Ressourcen den Wettkampf produziert, den Darwin später den »Kampf um’s Überleben« nennen wird. Im Frühsommer 1837 formten damit Variation und Aussterben auf einer Seite des Notebook B das unordentliche krakelige Gebilde, mit dem er das Panorama der Evolution aufzeichnete. Nachdem die Geschichte der Natur im Bild Gestalt angenommen hatte, benannte er später in seinen Aufzeichnungen den zugrundeliegenden Mechanismus, die natürliche Selektion.29 Bemerkenswert an Darwins Diagramm von 1837 ist nicht nur, daß es sich um die erste Skizze der Evolutionstheorie handelt, sondern auch, daß sich Darwins Entwurf in die Reihe von Carpenters und Chambers Diagrammen einordnen läßt. Denn Darwins Diagramm hatte denselben Ausgangspunkt wie die systematischen Zeichnungen von Chambers und Carpenter: Barrys Aufsatz im Edinburgh New Philosophical Journal, der im Januar und April erschienen war, wenige Monate bevor Darwin seine Notizbücher begann.30 Die Reflexionen auf 28 29

Vgl. Charles Darwin’s Notebooks, a. a. O., 36; Darwins Hervorhebung. Vgl. H. E. Gruber, Darwin’s ›Tree of Nature‹ and other images of wide scope, a. a. O.,

127. 30

Oppenheimer hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß Darwin den Artikel von Barry kannte, vgl. J. M. Oppenheimer, Essays in the history of embryology and biology, Cambridge, Mass. 1967, 245. E. Richards und R. J. Richards haben zudem auf die Ähnlichkeit von Darwins und Barrys Diagramm aufmerksam gemacht, vgl. R. J. Richards, The meaning of evolution, a. a. O., 108 f. Horst Bredekamp vertritt dagegen die Theorie, Darwins Diagramme stünden in der Kunstkammertradition und gäben die Form von Korallen wieder. Vgl. H. Bredekamp, Darwins Korallen, a. a. O.

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Abb. 8 und 9: Darwins Diagramm aus Notebook B von 1837 (links) und Barrys Diagramm von 1837 (rechts).

Barry, die Chambers und Carpenter in den 1840er Jahren öffentlich vorstellten, zeichnete Darwin 1837 im Privaten in sein Notizbuch. Bis in die Details ähnelt Darwins Entwurf zunächst dem Barrys (Abb. 8 und Abb. 9). Dieselbe »1«, mit der Barry den Anfang markierte, notierte Darwin in sein Diagramm. Auch Darwin sortierte sein Gebilde in vier Gruppen, die er, wie Barry im ersten Diagramm, mit »A«, »B«, »C« und »D« bezeichnet. Hier wie dort weisen beide Bilder die gleiche wuchernde Energie auf, die fortwährenden Verzweigungen, die klaffenden Lücken und engen Ballungszentren. Doch wie so häufig in der Geschichte der Bilder verschiebt sich mit der Kopie die Semantik: Bei Barry meint die Ziffer »1« den von Baerschen Archetyp, eine gedachte Einheit der Organismen, einen ideellen göttlichen Plan der Tierwelt. Bei Darwin hingegen meint die »1« einen tatsächlichen historischen Ursprung, den Anfang der Evolutionsgeschichte. Aus dem Archetyp wurde damit der Ahne, aus dem Prinzip ein Anfang.31 Soweit deckte sich Darwins Interpretation mit der, die Chambers 1844 in Vestiges vorlegte. Nicht weniger entscheidend aber waren zwei weitere Freiheiten, die sich Darwin bei der Umsetzung nahm: Darwin hatte das Prinzip der Zerstörung in sein Bild mit aufgenommen – es zeigte nicht nur die Entwicklung der Arten, sondern auch ihr Aussterben. Zudem steigerte er Barrys visuelle Überfülle zu dezidierter Unordnung. Der Eindruck der Unübersichtlichkeit, der in Barrys Diagramm durch die Überlagerung immer neuer Verzweigungen entstand, war ursprünglich nicht mit Richtungslosigkeit zu verwechseln, wie Darwin es tat. Im Gegenteil. Bei Barry hatte die Entwicklung des Organismus, deren

31

Vgl. auch A. Desmond, Archetypes and ancestors: palaeontology in Victorian London, 1850–1875, London 1982. Als Kommentar zu Richards Owens On the nature of limbs von 1849, das stark von der deutschen Embryologie beeinflußt war, notiert Darwin in den Umschlag des Buches: »I look at Owen’s Archetype as more than ideas, as a real representation […]«. Vgl. M. Di Gregorio / N. Gill (Hg.), Charles Darwin’s Marginalia, vol. 1, New York 1990, 655.

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Gang das Bild zeigte, eine klare Ausrichtung: Über neun Stufen reifte das Ei zum Individuum, vom Allgemeinen zum Speziellen, um schließlich bei seiner endgültigen Form wie in einem Ziel anzugelangen. In Darwins Diagramm hingegen schlug die Entwicklung in alle Richtungen aus, mal kürzer, mal länger, ohne bestimmbares Ende oder Zielvorgabe. Es verabschiedete sich damit von Teleologie. Die Geschichte des Lebendigen hatte keine Richtung, kein Ziel, kein Ende. Darwins unordentliches Gebilde wich damit entschieden von Barrys Vorlage ab. Es stand auch im deutlichen Unterschied zu der Fortschrittsleiter, die Chambers aus Barrys Diagramm abgeleitet hatte. Darwin und Chambers nahmen beide die Ontogenese als Modell für die Phylogenese, das hier wie dort die Ausdifferenzierung der Tierklassen im Verlauf der Zeit vorführte. Chambers übertrug allerdings die Teleologie der Ontogenie auf die Phylogenie, die er als Höherentwicklung verstand. So wie der Embryo in der Entwicklung feste Stadien durchschreitet, sollten auch die Organismen in der Naturgeschichte die Stadien von Fisch, Reptil, Vogel und Säugetier abschreiten. Darwin hingegen brach mit der Teleologie und tauschte Regelmäßigkeit und Ordnung gegen das Chaos von Variation und Aussterben.

Abb. 10: Diagramm der Annulosa aus William MacLeays Horae Entomologicae von 1821 (by permission of the Syndics of Cambridge University Library).

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III. Taxonomische Diagramme vor 1859 Daß Unordnung statt Ordnung am Beginn von Darwins Denken über Evolution stand, wurzelte in einer zeitgenössischen Auseinandersetzung. Darwin hatte das genealogische Modell von Barry übernommen, als er ein System suchte, das auf die klassifikatorischen Fragen nach dem Zusammenhang der Tiere, die zu Hunderttausenden nach England kamen, eine Antwort gab. Die Debatten um die Kriterien, nach denen die klassifikatorische Ordnung des Tierreichs erstellt werden sollte, wurden dabei von noch weitreichenderen Fragen überschattet. Es waren grundsätzliche Fragen, in denen es um das Bild der Natur an sich ging, um Künstlichkeit versus Natürlichkeit und Ordnung versus Unordnung. Lag dem System der Natur eine feste Ordnung zugrunde? Beruhten die mannigfaltigen Unterschiede, mit denen sich Taxonomen beschäftigen mußten, am Ende auf symmetrischen Zahlenverhältnissen und ausgewogener Harmonie? Oder hatte man es hier mit einem unregelmäßigen System zu tun, in dem Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten unproportional zusammengewürfelt waren? Die Naturhistoriker fielen darüber in zwei Lager auseinander. Man bekriegte sich in Bildern. Unablässig produzierte die eine Seite in ihren klassifikatorischen Werken geometrische Figuren wie Kreise, Kegel, Quadrate und Sterne, in denen das klassifikatorische System des Naturreichs in der Gesamtschau dargestellt wurde. Die Gegenseite konterte mit unregelmäßigen Figuren, die von den verantwortlichen Autoren mit einem sich »verzweigenden Baum« (branching tree), einer »knorrigen Eiche« (gnarled oak) oder dem »Adersystem im Körper« (vascular system of the body) verglichen wurde.32 Bis weit in die 1830er Jahre hinein schien es, daß die Anhänger der Ansicht, das System der Natur sei regelmäßig und harmonisch, in der Überzahl waren. »But, lo,« rief Chambers in Vestiges aus, »the whole plan of being is as symmetrical as the plan of a house, or the laying out of an old-fashioned garden!«33 Seine Zuversicht bezog er aus den klassifikatorischen Arbeiten von William Sharp MacLeay (1792–1865), Zoologe und Naturhistoriker, der den sogenannten Quinarismus begründete, eine in England für einige Jahrzehnte populäre Klassifikationsmethode, in deren Zentrum die Ordnungszahl »fünf« stand. Die Arten wurden von den Quinaristen ringförmig zusammengeschlossen und in kreisförmigen Diagrammen repräsentiert. Die Kreisdiagramme stellten dabei nicht nur die Affinitäten von Arten untereinander dar, sondern auch analoge Beziehungen zwischen Gattungen. In einem komplizierten System von Entsprechungen 32

Vgl. A. R. Wallace, On the law which has regulated the introduction of new species (1855), Nachdruck in: Ders., Contributions to the theory of natural selection, London 1870, 8. 33 Vgl. R. Chambers, Vestiges of Creation, London 1844, 175.

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durchlief nach den Quinaristen jede Ordnung im Tierreich parallel dieselben fünf Stufen der Entwicklung, weshalb etwa die Vögel als die »Schmetterlinge der Wirbeltiere« bezeichnet wurden. Die harmonische Regelmäßigkeit des natürlichen Systems war Ausgangspunkt der Quinaristen (Abb. 10 und Abb. 11). »Nothing in Natural History is, perhaps more curious«, notierte MacLeay als er das Ergebnis eines eigenen Entwurfs zur Taxonomie der Annulosa, einer Unterklasse der Wirbellosen, betrachtete, »than that these analogies should be represented by a figure so strictly geometrical. One is almost tempted to believe that the science of the variation of animal structures may, in the end, come within the province of the mathematician […]«.34 Eine nicht weniger eindeutige Formensprache wies das Diagramm auf, das William Swainson (1789–1855), Ornithologe und Schüler MacLeays, seinem dreibändigen Werk On the Natural History and Classification of Birds beilegte.35 Dreizehn Jahre, gestand Swainson in seinem Buch dem Leser, habe er an der Ausarbeitung des natürlichen Systems der Vögel gearbeitet. Die Frucht seiner Arbeit stellte er nun vor – die Ordnung der Vögel: fünf Kreise, die zu einer umgekehrten Pyramide getürmt waren (Abb. 11). »No rational being«, behauptete Swainson selbstbewußt, »can suppose that the great Architect of the world has created its inhabitants without a plan«.36 Ohne Plan bliebe jedes Tier nur imperfektes Ornament, so als ob ein Architekt Säulen, Friese, Simse und Gebälk entwürfe, ohne sich eine Vorstellung davon zu machen, wie sie später im Gebäude zusammenpassen sollen. Je regelmäßiger also die Struktur des natürlichen Systems, desto sicherer konnte sich der Systematiker fühlen, die Ordnung des Tierreichs richtig repräsentiert zu haben. Zu dieser Auffassung bildete sich bald Opposition: gegen die Lehre von Ordnung und Symmetrie der Natur wurde Unordnung, Abweichung und Verschiedenheit als Charakteristikum der Natur propagiert. »When«, hieß es 1841 in einem Aufsatz der Zeitschrift Annals and Magazine of Natural History, »we find a system of classification proposed as the natural one which […] fetters the organic creation down to one unalterable geometrical figure or arithmetical number, there is, I think, a strong à priori presumption that such a system 34

W. S. MacLeay, Horae Entomologicae; or, Essays on the Annulose Animals, London 1819–21, 395. 35 Da Vögel zu den beliebtesten Sammlungspräparaten zählten, wurden die ausgiebigsten taxonomischen Auseinandersetzungen in der Ornithologie geführt. Vgl. R. J. O’Hara, Diagrammatic classifications of birds, 1819–1901: views of the natural system in 19th-century British ornithology, 2746–2759, in: H. Quellet (Hg.), Acta XIX Congressus Internationalis Ornithologici, Ottawa 1988. 36 Vgl. W. Swainson, A treatise of the geography and classification of animals, London 1835, 319.

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Abb. 11: William Swainsons Aves aus On the Natural History and Classification of Birds von 1836 (by permission of the Syndics of Cambridge University Library).

is the work not of nature but of art«.37 Regelmäßigkeit indizierte nun statt Wahrheit Künstlichkeit, eine gefälschte Natur. Der zitierte Aufsatz stammte von Hugh Strickland (1811–1853), Oxfordabsolvent, Zoologe und Mitglied der Zoological Society, dessen Schriften bis zu seinem frühen Tod 1853 die englische Naturgeschichte ähnlich intensiv beschäftigten wie die des jungen Mediziners Barry.38 Auf der Jahrestagung der British Association for the Advancement in Science stellte Strickland seine folgenreiche Schrift unter dem Titel On the true Method of discovering the Natural System in Zoology and Botany das erste Mal vor, ein Manifest für die Unordnung der Natur, »the law of variety«, wie es bei ihm hieß. »It appears,« bemerkte er einführend, »that the natural system is an accumulation of facts which are to be arrived at only by a slow inductive process, similar to that by which a country is geographically surveyed.«39 Und er fuhr fort: 37

Vgl. H. Strickland, On the true method of discovering the natural system, in: Annals and Magazine of Natural History 6 (1841), 184–194, 187. 38 Stricklands Rolle in den Debatten der Naturgeschichte hat ausführlich herausgearbeitet G. McOuat, Species, rules and meaning: the politics of language and the ends of definitions in 19th century natural history, a. a. O. Zum Verhältnis Stricklands zu Darwin vgl. M. Di Gregorio, Hugh Strickland (1811–1853) on affinities and analogies: or, the case of the missing key, in: Ideas and Production 34 (1987), 35–50. 39 Vgl. H. Strickland, On the true method of discovering the natural system, a. a. O., 185.

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Abb. 12: Ausschnitt aus Hugh Stricklands Chart of the Natural Affinities of Birds.

»Organic life exhibits […] irregularity – no two planets, and no two leaves of the same plant were ever perfectly identical in size, shape, colour, and position. In the »human face divine«, portrait-painters affirm that the two sides never correspond; […] In short, variety is a great and a most beautiful law of Nature; it is that which distinguishes her productions from those of art.40 […] All that we can say at present is, that ramifications of affinities exist; […].41 The true order of affinities can only be exhibited (if at all) by a pictorial representation on a surface, and the time may come when our works on natural history may all be illustrated by a series of maps […]«.42

Daß Strickland das Bild des gestalteten Gartens oder des Hauses, das seine Vorgänger für das natürliche System bemüht hatten, gegen das der Karte austauschte, war entscheidend. Nach Strickland sollte die Ordnung der Natur stückweise, »piecemeal«, erfaßt werden, ausgehend von einfachen Affinitäten wie denen von Arten untereinander. Wie bei einer Expedition folgte daraufhin nach und nach die Erschließung immer größerer Territorien (Abb. 12): Die Arten wurden zu Gattungen zusammengesetzt, die Gattungen zu Familien und die Familien schließlich zu Ordnungen. Strickland selbst zeigte einen provisorischen Entwurf, in dem er die Ordnung der Vögel als ein durch Ver40 41 42

Ebd., 187. Ebd., 190. Ebd., 192.

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bindungs- und Umrißlinien verknüpftes Territorium vorführte. Das Ergebnis solcher Karten konnte ein Gebilde sein, das so zerklüftet und ausgefranst war wie beispielsweise die Küste Feuerlands, zu deren Kartographierung Darwin einst beigetragen hatte. Zuvor war das in der Systematik undenkbar gewesen.43 Die Quinaristen beispielsweise hatten in ihren Diagrammen dort, wo sich keine Gruppe von fünf herstellen ließ, noch ein Sternchen als Platzhalter an die Leerstelle gesetzt in der Überzeugung, es werde sich bald ein geeigneter Kandidat finden, um die Ordnung zu vollenden. Nach Stricklands Methode gab es keine Löcher, die gestopft werden mußten. Sich über die Unregelmäßigkeit des natürlichen Systems hinwegzusetzen wäre ihm wohl so vorgekommen, als ob ein Kartograph Feuerland eine algorithmisch geschwungene Küstenlinie verpaßt hätte. Charles Darwin lernte Strickland 1842 kennen, im Vorfeld der Reform der zoologischen Nomenklatur, über die sich beide in einem Briefwechsel austauschten. Als Mitglied des Kommitées für zoologische Nomenklatur unterstützte Darwin schließlich die neue Regelung, wie sie Strickland vorgeschlagen hatte, der den Namen von Arten rein nominalistische Bedeutung zusprach.44 Darwin unterstützte Strickland nicht nur in Fragen der Nomenklatur. Er selbst arbeitete an einem Projekt, das sich in mindestens zwei Punkten mit Strickland überlappte. In Londons zoologischen Sammlungen hatte auch Darwin das »law of variety« entdeckt. Als wegweisend für seine weiteren Studien sollte nun ebenfalls das Bild des natürlichen Systems als Karte sein.45

43

Gegen die zeitgenössische Vorliebe für Symmetrie greift Strickland auch hier auf ein Motiv zurück, das Linné einst formuliert hatte. In Bezug auf die Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen hatte Linné bemerkt, daß »sie überall hin Verwandtschaft [zeigen], wie ein Territorium auf der Landkarte«. Vgl. H.-J. Rheinberger, Aspekte des Bedeutungswandels im Begriff organismischer Ähnlichkeit vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: History and Philosophy of the Life Sciences 8 (1986), 240; sowie St. Müller-Wille, Das Natürliche System als Karte, in: Ders., Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78), Berlin 1999, 89–104. Im ausgehenden 18. Jahrhundert findet sich eine Reihe von Diagrammen, die der Asymmetrie der Natur Rechnung tragen. Dazu und ebenfalls zur Kartengestalt des natürlichen Systems vgl. G. Barsanti, La Scala, la Mappa, l’Albero, Florenz 1992. 44 Vgl. G. McOuat, Species, rules and meaning, a. a. O. 45 Von Strickland ist nicht bekannt, daß er einer der bereits vor Darwin kursierenden Evolutionstheorien anhing. Er verstarb bereits 1853. Zu Lebzeiten wußte ihn Darwin immerhin so sehr zu schätzen, daß er ihn, für den Fall seines eigenen plötzlichen Todes, als Nachlaßverwalter seiner wissenschaftlichen Arbeit einsetzte. Vgl. J. Browne, Charles Darwin. Voyaging, Princeton, N. J. 1996, 447.

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IV. Geologische Diagramme vor 1859 Die Karten, an denen Darwin sich bei der Erschließung des natürlichen Systems orientierte, waren allerdings nicht die Karten der Geographen, die Strickland ins Feld geführt hatte. Es waren die Karten der Geologen. Ihr Inhalt war nicht die gegenwärtige Erdoberfläche, sondern die vergangene Erdgeschichte. Um 1800 hatte die junge Wissenschaft der Geologie begonnen, das Innere der Erde in Bildern zu erschließen, und mit ihm zunehmend auch die vergangenen Floren und Faunen.46 Bald wurden nicht mehr nur die Tiere der Tropen, Australiens oder der Savanne verzeichnet und gezählt, sondern auch die Organismen des Devon, des Silur oder der Kreidezeit. Im Zuge dieser Kartographierung der Unterwelt verfertigte Louis Agassiz (1807–1873), Schüler Cuviers und späterer Gründer des Museum of Comparative Zoology in Harvard, eine Serie tragischer Karten des Erdinneren an. Tragisch sind seine Bilder deshalb zu nennen, weil sie ähnlich wie Barrys Diagramm zu Schlagbildern der Evolutionisten wurden,47 obwohl Agassiz später zu den Hauptkontrahenten Darwins zählte. Aus der Rückschau scheinen Agassiz’ Bilder daher wie Freudsche Versprecher (Abb. 13).48 Die erste Fossilienkarte veröffentlichte Agassiz 1833, zu diesem Zeitpunkt noch Professor für Naturgeschichte in Neuchâtel mit einer Spezialisierung in Ichtyologie. In Les Poissons fossiles zeigte er unter dem Titel Généalogie de la Classe des Poissons die Geschichte der Fische als Karte. Er brach dabei mit der üblichen Darstellungsart der Tabellen, in denen die Naturforscher vor ihm aufgelistet hatten, welches Tier sie in welcher Erdschicht gefunden hatten. Statt der tabellarischen Auflistung wählte Agassiz nun eine organische Bildsprache. In der Vertikalen notierte er die entsprechenden Erdschichten der Zeitalter, in der Horizontalen die vier Klassen der Fische. Die Verdickungen der blattartigen Figuren veranschaulichten eine statistische Information, nämlich die Menge der Fundstücke.49 Agassiz’ florale Bildsprache blieb dabei eigenartig unent46

Zu der zentralen Bedeutung der Bilder in der Geologie vgl. M. J. S. Rudwick, Scenes from deep time: early pictorial representations of the prehistoric world, Chicago 1992 und Ders., The emergence of a visual language for geological science, 1760–1840, in: History of Science 14 (1976), 149–95. 47 Martin Kemp hat auf die Ähnlichkeiten zwischen Agassiz’ Entwurf und Ernst Haeckels genealogischen Tabellen aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte von 1868 hingewiesen. Vgl. M. Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003, 138–40. 48 Über Freudsche Versprecher in der Geschichte vgl. Ph. Sarasin, Autobiographische Ver-Sprecher. Diskursanalyse und Psychoanalyse in alltagsgeschichtlicher Perspektive, in: WerkstattGeschichte 7 (1994), 31–41. 49 Agassiz führte diese Darstellungsart in die Paläontologie ein. Vgl. dazu St. J. Gould, Asymmetry of Lineages and the Direction of Evolutionary Time, in: Science 236 (1987), Fußnote 7, 1441.

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Abb. 13: Généalogie de la Classe des Poissons aus Louis Agassiz’ Les Poissons fossiles von 1833.

schieden. Lose hängen die längsförmigen Blätter in der Erdgeschichte, sie sprießen aus dem Nichts und enden dort wieder. Die organische Form wird unter Auslassung des Wesentlichen, nämlich der Wurzel, zitiert. Agassiz’ Pflanze war reines Blattwerk, vergleichbar einer Schnittblume. Tatsächlich entsprach das Fehlen einer Wurzel exakt Agassiz’ Theorie der Naturgeschichte. Nach Agassiz gab es keinen Stamm und keine Wurzel. Wenn die Erdgeschichte die Embryonalgeschichte zu wiederholen schien, dann strikt im Sinne eines Prinzips. Die Stufenfolge der Fossilien war kein Produkt einer Abstammungslinie, sondern die sukzessive Entfaltung des Archetyps, die stufenweise Verwirklichung eines göttlichen Jahrmillionenplans.50 Wie sein Lehrer Cuvier teilte er das Tierreich in vier Archetypen ein, die Vertebrata, Mollusca, Articulata und Radiata, zwischen denen keine Verbindungen existierten.51 Die zweite Karte, die er der ersten hinterherschickte, zeigte das deutlich (Abb. 14). Die Lage der Fossilien war hier in die Erdkugel eingetragen, wobei jede Tierklasse sich einen eigenen Schacht in der Erdgeschichte gegraben hatte, zwischen denen es keine Verbindungsstücke gab. Programmatisch eröffnete diese Abbildung als Frontispiz seine Principles of Zoology, Touching the Structure, Development, Distribu50

Vgl. L. Agassiz, Evolution and permanence of type, in: Atlantic Monthly vol. 33, issue 195 (1874), 92–101. 51 Zu Louis Agassiz’ Klassifikationssystem vgl. M. P. Winsor, Reading the shape of nature. Comparative zoology at the Agassiz Museum, Chicago 1991, 19–22.

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Abb. 14: Frontispiz von Louis Agassiz’ Principles of Zoology von 1848.

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tion and Natural Arrangement of the Races of Animals, Living and Extinct, ein Standardwerk, das auch Charles Darwin in seiner Bibliothek führte. Tatsächlich verfolgte Darwin Agassiz’ Arbeiten mit größter Aufmerksamkeit. Die Parallelisierung von Erdgeschichte und Embryonalgeschichte war für ihn von höchstem Interesse, Agassiz’ Kartierung des Erdinneren ebenso. Agassiz’ Karte führte er später in Origin als Beweisstück seiner Theorie auf.52 Agassiz zitierte er als direkten Zeugen seiner Evolutionstheorie. Dort sollte es heißen: »Da der Bau des Embryo uns im Allgemeinen mehr oder weniger deutlich den Bau ihrer alten noch wenig modificierten Stammform überliefert, so sehen wir auch ein, warum alte und erloschene Lebensformen so oft den Embryonen der heutigen Arten derselben Classe gleichen. Agassiz hält dies für ein allgemeines Naturgesetz; und wir dürfen hoffen, es später noch bestätigt zu sehen.«53

Nicht weniger als Agassiz glaubte auch Darwin, daß der Schlüssel zum Geheimnis der natürlichen Ordnung kaum in der Geometrie gefunden werde, sondern in der Kartographierung der Geschichte, die im Erdinneren lag. Anfang der 1850er Jahre trug er sein Diagramm, dessen Prinzipien er über die Jahre beibehalten hatte, in Agassiz’ Zeichnung um (Abb. 15). Agassiz’ mit einem Punkt gekennzeichnetes Zentrum war wieder zu einem Anfang geworden. Statt der starren Kanäle streute Darwins Punkte in alle Richtungen aus, verbunden durch Abstammungslinien hangelten sich die Organismen durch die Erdgeschichte, wobei Darwin Agassiz’ Unterscheidung des »Paleozoic«, »Secondary« und »Tertiary« Age in seiner Skizze beibehielt. »Dot means new form«, notierte er erklärend über die Zeichnung. Welchen Status Darwins Zeichnung hatte ist nicht bekannt. War es ein Gegenbild zu Agassiz’ Frontispiz? Eine theoretische Ausskizzierung? Vielleicht sogar ein Entwurf für ein Frontispiz für das Buch über die Evolutionstheorie? In den nächsten fünf Jahren komplettierte Darwin schließlich sein Systembild der Natur. Aus den Skizzen wurde eine Druckvorlage. Unermüdlich hatte er in den zwei Jahrzehnten, die zwischen dem ersten Diagramm und der Veröffentlichung von Origin lagen, immer weiter Diagramme gezeichnet, Blatt für Blatt mit dem wuchernden Gebüsch von Genealogien, Abzweigungen und Ursprüngen gefüllt. Immer filigraner wurden die Skizzen, mit denen Darwin die Genealogie der Wirbeltiere oder die Ordnung der Hunde nachzeichnete.54 Jede hypothetische Strichführung war im Laufe der Jahre überprüft worden, durch unzählige Anfragen bei Korrespondenten, die Lektüre ebenso vieler 52

Vgl. Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, a. a. O., 403. 53 Vgl. ebd., 534. 54 Darwins Entwürfe finden sich in Cambridge Library, DAR 205.5–6.

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Abb. 15: Darwins Diagramm um 1853/4 (Dar205-5-184, by permission of the Syndics of Cambridge University Library).

Fachzeitschriften und Bücher, Experimente im Vorgarten und statistische Analysen.55 Durch die Arbeiten Alfred Russel Wallaces (1823–1913) unter Druck geraten, der binnen weniger Jahre eine fast gleichlautende Theorie der natürlichen Selektion entwickelt hatte, publizierte Darwin schließlich im Winter 1859 das Buch On the Origin of Species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. Das Panorama der Evolution erstreckte sich nun in der Horizontalen über die ausfaltbare Klapptafel (s. Abb. 2). Den Stecher, der mit der Umsetzung seines Diagramms für den Druck betraut war, hatte Darwin zuvor noch einmal angewiesen, auf die unregelmäßigen Abstände zu achten, die zwischen den mit Großbuchstaben bezeichneten Arten in seiner Vorlage eingezeichnet waren: »Attend to distance from capital letters to each other.«56 Auch den Leser erinnerte er noch einmal daran, daß selbst diese Darstellung schematisch sei: »Doch muß ich hier bemerken«, schob Darwin nach den ersten erklärenden Paragraphen zu seinem Diagramm ein, »daß ich

55

Zu den Experimenten Darwins vgl. H.-J. Rheinberger / P. McLaughlin, Darwin’s experimental natural history, in: Journal of the History of Biology 17 (1984), 345–68. Zu der Auswertung seiner statistischen Analysen in Bezug auf Artendivergenz vgl. J. Browne, Darwin’s botanical arithmetic and the »principle of divergence«, 1854–1858, in: Journal of the History of Biology 13 (1980), 53–89. 56 Vgl. DAR 10.2.26 s.

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nicht der Meinung bin, daß der Proceß jemals so regelmäßig und beständig vor sich gehe, wie er im Schema dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas unregelmäßig scheint.«57

V. Die Rezeption von Darwins Diagramm nach 1859 Mit dem Diagramm von 1859 schuf Darwin die Blaupause für die sogenannten Stammbäume, die in der Evolutionsbiologie bis heute angefertigt werden. Auf Darwins Veröffentlichung setzte fast augenblicklich eine leidenschaftliche Bildproduktion ein. Aus dem 19. Jahrhundert kennt man vor allem die Stammbäume Ernst Haeckels, des Naturhistorikers, Darwinisten und ersten Inhabers des Lehrstuhls für Zoologie in Jena. Während Darwin in seinem Diagramm Evolution schematisch dargestellt hatte, ohne die Evolutionsgeschichte einer bestimmten Gattung oder Art dabei nachzuzeichnen, malte Haeckel in seinen Entwürfen nun konkret die Stammesgeschichte des Tierreichs aus.58 Nach eigenen Angaben stellten seine phylogenetischen Diagramme die erste konkrete Umsetzung der Darwinschen Evolutionstheorie in der Taxonomie dar. Seine frühesten Entwürfe aus der Generellen Morphologie von 1866 verstand Haeckel selbst als Grundsteinlegung für »die wichtigste und interessanteste Aufgabe« der kommenden Forschung, obgleich er sich der Vorläufigkeit seiner Vorschläge bewußt war. Die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte des Pflanzen- und Tierreichs mit Einschluß des Menschen, die er in acht beigelegten Tafeln darstellte, nannte er »gegenwärtig noch äußerst schwierig und bedenklich […]«.59 Die Tafeln, die im gleichen Hochformat wie die Textseiten der Generellen Morphologie verfaßt waren, schienen allerdings für seine Ideen zur Rekonstruktion bei allen Bedenken und Schwierigkeiten eher zu klein. Nur unter großen Verrenkungen wuchs das, was Haeckel »Baum« nannte, im Grunde aber eher nach »shrubs«60, dem Buschwerk, aussah, mit dem Strickland die Gestalt des natür-

57

Vgl. Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, a. a. O., 139. 58 Privat zeichnete Darwin auch konkrete evolutionäre Diagramme: An Charles Lyell schickte er etwa den Vorschlag für den Stammbaum des Mammuts, vgl. Ch. Darwin, The correspondence of Charles Darwin, Bd. 8 (1860), hrsg. von F. Burkhardt / S. Smith, Cambridge 1993, 379 f. Für sich selbst skizzierte er im April 1868 während der Vorarbeiten zu Descent of Man den Stammbaum des Menschen. Vgl. DAR 80, B91. 59 Vgl. E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen: allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft: mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Berlin 1866, XX. 60 Bei Strickland hieß es: »The natural system may, perhaps, be most truly compared to an irregularly branching tree, or rather to an assemblage of detached trees and shrubs

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Abb. 16: Ernst Haeckels Stammbaum der Säugethiere mit Inbegriff des Menschen aus der Generellen Morphologie der Organismen von 1866.

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lichen Systems verglichen hatte, innerhalb der Begrenzungen der Papierränder. Auf allen acht Tafeln teilte sich gleich unten der Stamm in mehrere Äste ab, aus denen immer neue Abzweigungen heraussprossen, die sich wiederum sofort abteilten, so daß – anders als bei einem Baum – kein Stamm, nur Dutzende von Ästen, sichtbar wurden. In einer Tafel griff Haeckel dabei ebenfalls auf Agassiz’ Fossilienkarte aus dem Essai sur la Classification von 1833 zurück, wobei er, die organische Bildsprache zitierend, alle Abteilungen des »Stammbaums der Wirbelthiere« in fortlaufenden Ästen zusammenführte.61 Wie eine Kletterpflanze wuchsen die Äste aus dem Stamm, der links unten auf der Seite platziert war, in der Diagonalen nach rechts weiter. Auf eine andere Tafel quetschte Haeckel den »Stammbaum der Säugethiere«, dessen filigranes Drunter und Drüber mit der Gestalt des Baumes ebenso wenig gemeinsam hatte (Abb. 16). Aus einem weit oben gelegenen Ast ließ Haeckel hier einen Trieb ausschlagen, der wie ein zweiter Busch aus dem Ast des alten Busches hervor sprießt, dort wo sich Zonoplacentalia und Discoplacentalia in unterschiedliche Richtungen gabeln. Den Menschen versteckte er dabei in der Abteilung der Anthropoiden in der oberen rechten Ecke des Blattes, Seite an Seite mit den Gorillas, auf gleicher Höhe wie die Ordnung der Felina, der Katzen, in der linken oberen Ecke.62 Darwin befand sein Bild der Evolution in guten Händen als er 1866 Haeckels Generelle Morphologie studierte: »My dear Haeckel«, schrieb ihm Darwin, »your boldness sometimes makes me tremble but […] someone must be bold enough to make a beginning in drawing up tables of descent.«63 Haeckels »boldness«, wie Darwin es genannt hatte, fand viele Nachahmer. »Mit der Geschwindigkeit der sagenumwobenen Bohnenranken«, bemerkte bereits 1873 ein Zeitgenosse, sollten nun die sogenannten Stammbäume aus dem Boden schießen.64 Angesichts der vielen Nachfolger, die Darwins Vorlage of various sizes and modes of growth.« (Vgl. H. Strickland, On the true method of discovering the natural system, in: Annals and Magazine of Natural History 6 (1841), 190.) 61 Agassiz’ Karte taucht auch in späteren Entwürfen auf. Vgl. dazu M. Kemp, Bilderwissen. Die Anschaulichkeit naturwissenschaftlicher Phänomene, Köln 2003, 138–140. 62 Stephen Jay Gould kritisiert auch an dieser Abbildung, daß Haeckel den carnivores und primates – entsprechend seinen Vorlieben – zu viel Platz eingeräumt hätte. Interessanter scheint mir allerdings die Tatsache, daß Haeckel in dieser Abbildung den Menschen auf die gleiche Höhe mit den anderen Säugetieren stellt. Vgl. dazu St. J. Gould, Wonderful Life. The Burgess Shale and the nature of history, London 1989, 265. 63 Zitiert nach J. M. Browne, Charles Darwin. The Power of Place, New York 2002, 270. 64 Vgl. St. G. J. Mivart, On Lepilemur and Cheirogaleus, and the Zoological Rank of the Lemuroidea, in: Proceedings of the Zoological Society 41 (1873), 485–510, 506. Mivart, der der Evolutionstheorie kritisch gegenüberstand, spielte damit auf das populäre Märchen Jack and the Beanstalk an.

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Abb. 17: Ernst Haeckels Stammbaum des Menschen aus der Anthropologie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen von 1874.

aus Origin nacheiferten, die Geschichte von Darwins Diagramm als Erfolgsgeschichte zu betrachten, wäre jedoch falsch. Der Blick zurück in die naturhistorischen Debatten vor 1859 schärft den Blick dafür, worin Darwins eigener Beitrag zur Evolutionstheorie besteht. Weder war er der erste, der Naturgeschichte als Evolutionsgeschichte beschrieben hatte, noch war es Darwin, der das Bild eines sich verzweigenden Diagramms dafür gemünzt hatte. Beides war 1844 – und lange Zeit in weitaus höherer Auflage – bereits von Robert Chambers vorgestellt worden. Unerhört und neu an Darwins Entwurf war dagegen zum einen die Einbeziehung des Aussterbens von Arten als produktives Prinzip und zum anderen das Drunter und Drüber der Geschichte des Lebendigen. Es war die Entdeckung der Unordnung, die Darwin mit der Teleologie brechen ließ und ihn als Forscher von den meisten seiner Zeitgenossen unterschied. Wie sich herausstellen sollte, erwies sich jedoch die Unordnung als fragilster Teil seines Erbes. Die Versuche, das unregelmäßige suchende Bild der Natur, zugunsten eines ordentlichen geometrischen zurückzunehmen, sind bis heute zahlreich. Ausgerechnet Ernst Haeckel ebnete dieser Bildtradition den Weg,

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Abb. 18: W. C. L. Martins genealogisches Diagramm der Vögel (Dar171-5, enclosure, by permission of the Syndics of Cambridge University Library).

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mit seinen mächtigen Stammbäumen, in denen er in den 1870er Jahren sein anfängliches Evolutionsgestrüpp ins Schema des Baumes presste (Abb. 17). Mit der klar gegliederten Hierarchie des Baumwachstums, dem zentralen Stamm, den tragenden Ästen und sich abteilenden Zweiglein wurde der Evolutionsgeschichte eine ordentlich gegliederte Struktur verpaßt. Das Hauptthema formte der Stamm, dem sich Seitenstränge als Äste und Zweige unterzuordnen hatten. Worauf das Hauptthema der Evolution hinauslief, ist nicht schwer zu erraten: den Menschen. In Haeckels wuchtiger Eiche, die wohl sein berühmtestes Bild wurde, thront er zentral auf dem höchsten Punkt der Krone. Aus der rechten Ecke seines ersten Entwurfs, wo sich Menschen, Gorillas oder Katzen noch das obere Blattende teilten, war nun Zentrum und Gipfel geworden.65 Aus der Peripherie der Evolutionsgeschichte war der Mensch nun ins Zentrum eingezogen. Aus Evolutionsgeschichte wurde damit eine Fortschrittsgeschichte von aufsteigenden Stufenfolgen, die in der Erschaffung der eigenen Spezies gipfelte. Das Prinzip der Verzweigung war im Bild des Baumes minimiert, der kräftige Stamm des Lebensbaumes ummäntelte nur noch die Stufenleiter in seinem Inneren, mit der die Geschichte des Lebendigen immer wieder als eine ständige Höherentwicklung dargestellt worden ist.66 Für Darwins Unordnung der Evolution hatte kaum ein Zeitgenosse Sinn. So scherzte etwa der einflußreiche Astronom und Philosoph Sir John Herschel, mit Darwin hätte nun die Naturgeschichte ihr »law of the higgledypiggledy«67 gefunden. Geschult an den mathematisch faßbaren Gesetzen der anorganischen Natur schien dem Astronomen die Unordentlichkeit kaum ein zufriedenstellendes Naturgesetz. Auch John Mivart, berüchtigt als der gefallene Engel der evolutionistischen Bewegung, da er zuerst zu Darwins glühendsten Mitstreitern zählte und schließlich zum erbitterten Feind wurde, entwarf ein Gegenbild zu Darwins Evolution, das radikaler nicht hätte sein können. Zwar 65

Haeckels Stammbäume waren Gegenstand zahlreicher Kritik. Vgl. St. J. Gould, Leitern und Kegel, a. a. O., 67. Fälschlicher Weise meint Gould hier allerdings, daß Haeckels Eiche aus der Generellen Morphologie stammen würde. Zur Kritik vgl. auch P. Bowler, Life’s Splendid Drama. Evolutionary Theory and the reconstruction of life’s ancestry, Chicago / London 1996, 425 f. 66 Peter Bowler formulierte treffend: »The tree of evolution was thus redrawn to hide the ladder within, providing an axis for the progress that was widely hailed as a necessary feature of the history of life.« (Vgl. P. Bowler, Life’s Splendid Drama, a. a. O., 425.) Zum Bild der Stufenleiter siehe G. Barsanti, La Scala, la Mappa, l’Albero, a. a. O., sowie A. O. Lovejoy, The Great chain of being: a study of the history of an idea, Cambridge, Mass. / London 1964. 67 Der Ausdruck tauchte nie schriftlich auf. Darwin wurde Herschels Bemerkung allerdings zugetragen. Vgl. Darwin an C. Lyell am 12. Dezember 1859, in: Ch. Darwin, The correspondence of Charles Darwin, Bd. 7 (1858–1859), hrsg. von F. Burkhardt / S. Smith, Cambridge 1991, 423.

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hielt auch Mivart für richtig, daß die organische Welt durch einen evolutionären Prozeß durch die Erdzeitalter miteinander verbunden sei. Daß in diesem Prozeß zufällige Variation eine Rolle spielen sollte, schloß er jedoch aus. Der Evolution nach Mivart entsprach das Bild eines rollenden Polyeders: Das System der Natur war demnach zu jedem Zeitpunkt ein symmetrisches harmonisches Ganzes, das sich nur insofern veränderte, als der Polyeder die Lage wechselte und mit einer anderen Fläche auflag.68 Nicht zufällig wählte auch Mivart einen mathematisch bestimmbaren Körper, um Evolution im Bild zu fassen. Dem großen Magen der Naturgeschichte hatte Darwin dagegen mit seinem Bild der Evolution einen schwer verdaulichen Brocken zugemutet. Denn auf der einen Seite war die natürliche Auslese eine streng mechanistische Antwort auf die Frage nach der Artentwicklung. Sie brach mit der Grundüberzeugung der Naturhistoriker, Entwicklung – ganz gleich ob auf der Ebene des Organismus oder der Arten – bedürfe immer der Teleologie. Von Kant bis von Baer, von Whewell bis Agassiz hatte man stets die Überzeugung geteilt, daß sich weder Organismen noch Arten richtungslos entwickelten, sondern Bildungsgesetzen gehorchten, die im Rahmen eines zielgerichteten Werdens abliefen.69 Mit der Teleologie aber räumte Darwin auf. Nach seiner Theorie variierten Organismen zunächst einmal blind. Mit der Anhäufung unzähliger kleiner, durch Selektion beibehaltener Variationen konnte die Geschichte des Lebendigen letztlich beliebige Wege einschlagen, ihre Entwicklung war keineswegs auf ein Ziel hin gerichtet. Auf der anderen Seite formten die Mechanismen von Variation und Selektion aber kein Gesetz, das den üblichen, mathematisch beschreibbaren Gesetzen der Mechanik glich. Er selbst, räumte Darwin ein, kenne kein »festes Entwicklungsgesetz« (no fixed law of development).70 Evolution nach Darwin war ein unvorhersehbarer Prozeß, ein Drunter und Drüber von Werden und Vergehen, dessen Gang zwar durch Mechanismen geregelt wurde, der aber keine Gesetzmäßigkeiten aufwies. Angesichts dessen brachte Herschels Rede vom »law of the higgledy-piggledy« die Eigenart der Darwinschen Evolutionstheorie auf den Punkt. Es war im Grunde kein weniger brilliantes Schimpfwort als die Bezeichnung »Impressionismus« eines Kunstkritikers für die Tupfenmalerei seiner Zeitgenossen, das später zum Namen der Bewegung wurde. Für das kleine Meisterwerk, mit dem ein Korrespondent Darwins kurz nach der Veröffentlichung von Origin

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Vgl. St. G. J. Mivart, On Lepilemur and Cheirogaleus, a. a. O., 97 und 113. Für die deutsche Tradition der Teleologie in der Naturgeschichte von Kant bis Haeckel vgl. T. Lenoir, The Strategy of Life, a. a. O. Zur englischen Teleologie vgl. D. Ospovat, The development of Darwin’s theory, a. a. O. 70 Vgl. Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, a. a. O., 391. 69

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sekundierte (Abb. 18), hätte »law of the higgledy-piggledy« einen passenden Titel abgegeben.71 Darwins Diagramm der Evolution nachfolgend zeigte es die Ordnung der Vögel. Auf einem Papierkarton hatte der Korrespondent für jede Vogelart einen taubenblauen Kreis gemalt und diese anschließend mit Linien verbunden. Aus einem Anfang heraus wucherten die Kreise über das Papier, schlingerten in alle vier Winkel des Blattes hinein und schienen, dicht gedrängt, geradezu gegenseitig übereinander zu stolpern. Aus jedem Kreis platzte ein weiteres Krönchen, dessen Spitzen sich wieder zu neuen Kreisen auswuchsen, bis mit dem Ende des Blattes auch die Evolutionsgeschichte zu einem vorübergehenden Stillstand kam. Der Entwurf, entschuldigte sich der Autor gegenüber Darwin, sei ein »rough sketch on rough paper«.72 Gerade aber in den Spuren des Handwerklichen, im unkaschierten Basteln, bewies er sich als Darwins treuester Nachfolger: Das verschlungene Liniengewirr, das Dickicht der Arten, die toten Enden wucherten so unregelmäßig über die Seite wie in Zeichnungen von Darwins Hand. Gegen die übermächtige Fortschrittsgeschichte der Evolution, an deren teleologischem Endpunkt der Mensch steht, konnten sich in der Rezeption diese Bilder einer sich stets wandelnden, schlingernden Naturgeschichte jedoch kaum behaupten. In der überstarken Rhetorik von »Kampf«, »Fitness« und »Überleben des Stärkeren« in der Rezeptionsgeschichte ging die Ästhetik des Zufalls, die Darwins Bildern ihr Gepräge gegeben hatten, bald unter. Evolution, die in Darwins Bildern kein Ende, weil keine Vollkommenheit fand, sich immer weiter wandelte, ohne je ans Ziel zu gelangen, wurde in Haeckels Ansichten der Natur zu einer Kaderschmiede für Fortschritt und Vollkommenheit. In der naturhistorischen Bildgeschichte war Haeckel ein Wiedergänger: Mit dem Stammbaum aus der Anthropogenie kehrte er 1874 zu den teleologischen Entwürfen zur Geschichte des Lebendigen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück.73 Er war wieder vor 1859 angelangt, bei Chambers Diagramm aus Vestiges, zu dem Darwin in seinen Diagrammen einst das Gegenbild entworfen hatte.

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Im Zeitraum zwischen 1859–61 schickte Charles Linnaeus Martin, den Darwin bereits früher zu Fragen der Tierzucht konsultiert hatte, den Entwurf zu einer Genealogie der Vögel. Brief und Bild finden sich abgedruckt in: Ch. Darwin, The correspondence of Charles Darwin, Bd. 13 (1822–1864), hrsg. von F. Burkhardt / S. Smith, Cambridge 2001, 399–410. 72 Vgl. ebd., 402. 73 Zur Teleologie in Haeckels Naturästhetik vgl. B. Kleeberg, Theophysis. Ernst Haekkels monistische Philosophie des Naturganzen, Köln / Weimar 2005.

Michael Weingarten

Von Darwins Evolutionstheorie zum Darwinismus

I. Eine nicht-darwinistische Revolution? 1988 erschien ein Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Bowler mit dem provozierenden Titel The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth. In ihm versucht er zu zeigen, daß es sich schlichtweg um eine »Erfindung« handele, wenn von einer Darwinschen oder Darwinistischen Revolution gesprochen wird, die 1859 mit dem Erscheinen von Darwins Buch On the Origin of Species by Means of Natural Selection; or, The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life stattgefunden habe. Eine Erfindung deshalb, weil in diesem Buch nicht wirklich neue Erkenntnisse vorgetragen worden seien– viele der für Darwins Evolutionstheorie wichtigen Teilstücke aus Tierund Pflanzengeographie, Morphologie und vergleichender Anatomie sowie aus der Naturgeschichte wurden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt und waren zur Zeit Darwins Gemeingut der Biologen und Naturhistoriker geworden; und auch das Theorem vom »Überleben des Tauglichsten« (survival of the fittest) wurde ja nicht von Darwin, sondern von George Herbert Spencer eingeführt –, sondern durch eine gezielte Kampagne von Sympathisanten und Unterstützern Darwins, einer ominösen »Darwin Industry«, als revolutionäres Ereignis kunstgerecht inszeniert worden sei. Dabei ist es nicht das Ziel einer solchen Darwin-Kritik in Frage zu stellen, daß Lebewesen sich im Laufe der Zeit verändert und auch entwickelt haben. Vielmehr versucht Bowler, einer seit ungefähr 1970 in der Evolutionsbiologie und allen ihr angehörenden biologischen und geologischen Disziplinen laufenden Debatte über den Erklärungswert der Darwinschen Evolutionstheorie und ihrer aktuellen Ausprägung als »Synthetischer Theorie der Evolution« einen historischen Unterbau zu geben. Denn bis heute stellt der anscheinend zirkuläre Charakter des Theorems vom Überleben des Tauglichsten, das so als Kernstück der Darwinschen Theorie vorgestellt wird, ein Problem dar, von dem ausgehend immer wieder Reformulierungen der Evolutionstheorie vorgenommen werden. Dagegen hat S. J. Gould immer wieder versucht zu zeigen, daß das Theorem des Überlebens des Tauglichsten oder Fittesten gar nicht so sehr ein Theorem von Darwin selbst sei, sondern durch den Darwinismus (federführend im englischen Sprachraum Lyell und Wallace; im deutschen Haeckel) im Rückgriff insbesondere auf G. H. Spencer erst in die Evolutionstheorie eingebaut wurde. »Die natürliche Zuchtwahl ist der zentrale Begriff der Darwinschen Theorie – die Tauglichsten überleben und verbreiten ihre begünstigten Charakteristika

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in den Populationen. Die natürliche Auslese wird durch Spencers Ausdruck ›Überleben des Tauglichsten‹ definiert, aber was bedeutet dies berühmte Schlagwort eigentlich wirklich? Wer sind die Tauglichsten? Wie ist ›Tauglichkeit‹ definiert? Wir lesen oft, daß Tauglichkeit nichts anderes mit sich bringe als einen ›differentiellen Reproduktionserfolg‹ – die Produktion von mehr überlebenden Nachkommen als andere mit ihnen im Wettbewerb stehende Mitglieder der Population. Halt! ruft Bethell [einer der vielen Kritiker des Tauglichkeits-Theorems, M. W.], wie schon viele vor ihm. Diese Definition bestimmt die Tauglichkeit allein in Begriffen des Überlebens. Der entscheidende Ausdruck der natürlichen Auslese bedeutet nichts anderes als ›das Überleben derjenigen, die überleben‹ – eine sinnleere Tautologie.«1 Selbstverständlich sähe es um Darwins Theorie schlecht aus, würde er dieses Theorem zirkulär verwenden. Doch hier gibt Gould zu bedenken: »Aber wie konnte Darwin einen so kolossal miesen Fehler machen? Selbst seine strengsten Kritiker haben ihn nie der eklatanten Dummheit bezichtigt. Offensichtlich muß Darwin versucht haben, die Tauglichkeit anders zu definieren – ein vom reinen Überleben unabhängiges Kriterium der Tauglichkeit.«2 Wir werden weiter unten näher auf dieses Problem zu sprechen kommen müssen, denn zusammen mit der Klärung der Verwendung dieses Theorems durch Darwin ist die Bedeutung von Malthus für Darwin zu rekonstruieren. Ein zweites evidentes Problem: Wenn Selektion nur die Fittesten, Tauglichsten, Besten erhält, weil diese im Vergleich zu konkurrierenden Lebewesen besser an die Umwelt angepaßt sind – wie kann dann mittelst ausschließlich erhaltender Selektion die Entstehung »höherer« Lebewesen erklärt werden? Denn nur im Vergleich von z. B. Menschen-ähnlichen Lebewesen kann gesagt werden, welche dieser Varianten »besser« oder »schlechter« angepaßt sind. Warum aber haben sich überhaupt Menschen aus nicht-menschlichen Lebewesen entwickelt, wie haben sie sich entwickeln können? Diese Form selektionistischer Erklärung, der Verweis auf das Überleben der Fittesten, hilft hier genau nicht weiter. In strenger Form bedeutet ein solcher Einwand gegen den Darwinismus, daß er nicht beantworten kann, warum die Entwicklung von Lebewesen nicht auf der Stufe von z. B. Bakterien stehengeblieben ist; denn diese demonstrieren uns Menschen zu unserem Leid doch andauernd, daß sie über genügend Variabilität verfügen, um auch den stärksten Einsatz von Giften zu überleben, mit denen wir sie bombardieren – ohne daß sie sich deswegen weiterentwickelt hätten oder weiterentwickeln müssten zu von Bakterien verschiedenen Lebewesen. Reinhard Mocek hat das Problem in folgende eingängige Frage gekleidet, mit der Entwicklungsbiologen den Darwinismus von Anfang 1 2

St. J. Gould, Darwin nach Darwin, Frankfurt / Berlin / Wien 1984, 31. Ebd., 31.

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an konfrontiert hatten. »Darwins Theorie […] ließ nun aber zwei Diskussionspunkte der älteren Morphologie relativ unberücksichtigt. Das war einmal die Frage nach den morphologischen Differenzierungen einmal entstandenen Lebens (warum bleibt es nicht bei einem ›physiologischen Sack‹?), was mit der Frage nach den jeweiligen Kräften gekoppelt war, die für die je auftretenden Modifikationen verantwortlich zeichneten […] Die zweite damit verbundene Frage betraf die gestaltbildende Rolle bestimmter Körperfunktionen und deren physiologische Basis.«3

II. Auf dem Weg zur Evolutionstheorie Schon mehr als 100 Jahre vor Darwins Buch über die Entstehung der Arten von 1859 bewegt Naturforscher die Frage nach der Geschichte der Lebewesen auf der Erde. Wurde zunächst versucht, die Individualentwicklung mit den unterscheidbaren Etappen von Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter und Tod als Modell für natürliche Veränderungen von Lebewesen zu verwenden, so zeigte sich gleichzeitig, daß die scheinbar natürlich vorfindliche Untergliederung der Lebewesen in Arten genau so genommen Entwicklung ausschloß. Denn wenn Lebewesen in Arten zusammengefaßt werden aufgrund der Bestimmung eines diese Art konstituierenden Merkmals, wie soll das vom Forscher als invariant gesetzte Merkmal zugleich als sich natürlich entwickelnd gedacht werden können, so daß neue Arten zustande kommen könnten. In einer anderen Wendung kann gesagt werden, daß – solange das Fortschreiten gedacht wird im Modell der Individualentwicklung – ein Fortschreiten oder sich Entwickeln der Gattung (insbesondere auch der Gattung Mensch) gerade nicht gedacht werden kann. Und umgekehrt: Soll ein Fortschreiten, ein sich Entwickeln der Gattung gedacht werden können, dann muß nicht nur das Modell der Individualentwicklung als Modell für die Entwicklung der Gattung aufgegeben werden, sondern die Individualentwicklung selbst muß grundsätzlich als anders strukturiert begriffen werden. Denn entscheidend wichtig wird zeigen zu können, daß nicht jede Individualentwicklung (art- oder gattungs-) gleich verläuft wie indiziert in der Stufenfolge Kindheit – Jugend – Erwachsenenalter – Alter, sondern daß die von Individuen realisierte Entwicklung eine je verschiedene ist, resp. daß die Rede von Individuum nur dann Sinn macht, wenn man es als sich unterscheidend im und durch den Vollzug seines Lebens von anderen versteht. Damit ist schon zu Beginn der Biologie um 1800 als 3

R. Mocek, Morphologie – Selbstorganisation – Evolution, in: U. Niedersen (Hg.): Komplexität – Zeit – Methode II, Halle 1988, 99. Vgl. umfassend R. Mocek, Die werdende Form, Marburg 1998.

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grundlegendes Problem (neben der Definition von Art) die Bestimmung des Verhältnisses von ontogenetischer (als Erstellung des gleichen Typs von Lebewesen) und phylogenetischer Entwicklung gesetzt. Darwin war kein Kämpfer, der sich für seine Überzeugungen hätte verbrennen lassen. Daher suchte er überall Anschlüsse herzustellen an vorfindliche Debatten und Konzepte, häufte Unmengen von empirischen Befunden auf, in denen er seine eigenen methodischen und theoretischen Überlegungen einzubinden suchte, auch wenn diese dadurch eher verdeckt oder sogar versteckt wurden. So betont er in seinem Buch Ueber die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl von 1859, daß es nicht das eigentliche Hauptwerk sei, in dem der Beweisgang für seine Evolutionstheorie vollständig vorliegen würde. Aber kaum ein Biologe, Biologiehistoriker oder Wissenschaftstheoretiker hat sich dann die Frage gestellt, ob Darwin sein »eigentliches« Werk noch geschrieben habe oder nicht. M. E. spricht sehr viel dafür, daß das Hauptwerk mit dem 1868 erschienenen voluminösen Band The Variation of Animals and Plants under Domestication vorliegt – auch wenn es von Darwin selbst nicht als das versprochene Buch angekündigt wurde. Schon der Titel des »vorläufigen« Buches von 1859 ist tückisch: von hier aus gesehen dürfte der Leser mit Recht erwarten, daß Darwin in dem damaligen Streit, ob Arten oder Individuen sich entwickeln, wenn sie sich denn entwikkeln, Partei für die Art-Theoretiker ergriff. Aber schon im 2. Kapitel4 betonte er, daß es sich bei »Art« nur um eine Nominal-Definition handele; diese kann zwar durch eine andere Definition ersetzt werden, aber bei Ersetzung einer Definition durch eine andere läßt sich nicht sinnvoll von »Entwicklung« sprechen. Er selbst sprach an den die Entwicklungseinheit betreffenden Stellen von »Gruppen von Varietäten«, also weder von »Arten« als Entwicklungseinheiten noch von Individuen – und das Wort »Population« war wohl durch die seit den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts tobende Malthus-Debatte blockiert. Entwicklungseinheiten sind für Darwin »Gruppen von Varianten«. Diese programmatische Überlegung blieb allerdings – wie das Selektions-Theorem – bis in unsere Gegenwart hinein weitgehend unverstanden; entscheidend bedingt durch das Unverständnis, warum Darwin seine Analysen beginnt mit der Untersuchung des menschlichen Züchtungshandelns, ob dies unter methodischen Gesichtspunkten von Bedeutung sei oder bloße »Didaktik«, und nicht mit der Auflistung von »Fakten«, Beobachtungen und überhaupt empirischen Belegen. Dabei kann man der Diskussion seit Ende des 18. Jahrhunderts entnehmen, daß die Züchtung immer stärker in den Blickpunkt der Naturhistoriker trat, 4

Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1899, 73.

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weil sie von dort Aufklärung erwarteten über mögliche Mechanismen des Wandels von Lebewesen. So veröffentlichte bspw. Alexander von Humboldt 1807 seine Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, die er 1802 noch während seiner Reise um Südamerika herum bis nach Mexiko zu schreiben begonnen hatte. In diesem Buch versucht Humboldt zu zeigen, wie Pflanzen sich divergent ausbilden können in Wechselwirkung mit den klimatischen Faktoren unter denen sie existieren. Dabei sind die klimatischen Faktoren nicht einfachhin die kausalen Ursachen, die Abänderungen und eine bestimmte Richtung der Abänderungen bewirken könnten. Im Anschluß an den Naturforscher Georg Forster und an die Naturphilosophie Schellings möchte er vielmehr zeigen, daß es sich bei diesem Vorgang des Divergent-Werdens um einen Prozeß handele, der auf dem »nie beendigten Streit entgegengesetzter Grundkräfte der Materie« beruhe. Die »vegetabilischen Keime« haben sich zwar »nach einer uralten Mythe vieler Völker« in einer Gegend zuerst entwickelt, sind dann aber »auf schwer zu ergründenden Wegen und der Verschiedenheit der Klimate trotzend, nach allen Weltgegenden gewandert«.5 Die Pflanzen entwickeln sich also selbst in der Art und Weise wie sie sich in Wechselwirkung mit den jeweiligen klimatischen Bedingungen differenzieren. Der phänomenal zunächst beeindruckende Gleichgewichtszusammenhang zwischen Pflanzen, Tieren und ihrer Umgebung, den die Physikotheologie als Resultat des weitsichtigen Schöpfungshandelns Gottes zu erklären sucht, erweist sich für Humboldt dagegen als ein dynamisches Geschehen, das zwar einerseits über die klimatischen Faktoren den Prozeß der Divergenz-Bildung einreguliert auf einen stabilen, die Erhaltung ermöglichenden Zustand, der dann aber wiederum durch die Reproduktion der Pflanzen unter diesen regulierenden Bedingungen selbst überschritten werden kann. »In der großen Verkettung von Ursachen und Wirkungen darf kein Stoff, keine Thätigkeit isolirt betrachtet werden. Das Gleichgewicht, welches mitten unter den Perturbationen scheinbar streitender Elemente herrscht, dieß Gleichgewicht geht aus dem freyen Spiel dynamischer Kräfte hervor; und ein vollständiger Überblick der Natur, der letzte Zweck alles physikalischen Studiums kann nur dadurch erreicht werden, daß keine Kraft, keine Formbildung vernachlässigt, und dadurch der Philosophie der Natur ein weites, fruchtversprechendes Feld vorbereitet wird.«6 In diesen Zusammenhang bindet Humboldt auch den Menschen und seinen Ackerbau ein. »So verändert der Mensch nach Willkür die ursprüngliche Verteilung der Gewächse, und versammelt um sich die Erzeugnisse der entlegensten Klimate.«7 Der »rastlose Fleiß ackerbauender Völker« habe nutzbare 5 6 7

A. von Humboldt, Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, Leipzig 1960, 35. Ebd., 55. Ebd., 41.

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Pflanzen »ihrem vaterländischen Boden entrissen und sie gezwungen, alle Klimate und alle Berghöhen zu bewohnen«.8 Auch wenn Humboldt meint, daß dadurch ihre »ursprüngliche Gestalt« nicht merklich verändert worden sei, so kann er doch bei einem aufmerksamen Leser die Frage entstehen lassen, wie dieses »Erzwingen« durch den Bauern erreicht wird, wie er die Variabilität von Pflanzen für seine Zwecke ausnutzt, Wildformen kultiviert und den kultivierten Formen bestimmte Leistungen abverlangt. Variabilität, Divergenz durch Ausbreitung und infolge der züchterischen Tätigkeit des Bauern sind Hinweise, die Darwin der Lektüre Humboldts entnehmen konnte und die ihm Kriterien an die Hand gaben für seine eigenen Beobachtungen während der Weltreise, auf der es ja viele Berührungspunkte gab mit dem von Humboldt eingeschlagenen Weg. Und da eben unmittelbar durch Beschreibung und Beobachtung der Mechanismus des Divergenz-Vorganges nicht erschlossen werden kann – dies sagt ja auch Humboldt; hier ist für ihn der Einstiegspunkt der Naturphilosophie –, kann für Darwin, der neben Humboldt eben auch die »praktische Naturphilosophie« Herschels als Reiselektüre eingepackt hat, durchaus die Frage entstehen, ob die Untersuchung des Züchtungshandelns nicht einen geeigneteren Einstiegspunkt ergeben kann für die Aufhellung des Mechanismus von Differenzierungsprozessen als eine spekulative Naturphilosophie. Nach Darwin und trotz Darwin waren weiterhin alle Biologen davon überzeugt, daß Arten sich entwickelten (Haeckel, die frühen Genetiker); daß Arten »wie eine Knetmasse« in der Hand der Umwelt seien und dadurch an diese angepaßt würden (Weismann); daß vererbungstheoretische und -experimentelle Untersuchungen, auch wenn sie an einzelnen Individuen vorgenommen würden, typische Vorgänge in einer Art repräsentierten. Aber für die Vermeidung von Art und Individuum als Entwicklungseinheiten hatte nicht nur Darwin gute Gründe. Den meisten Biologen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die mit dieser Vorstellung verbundenen Probleme durchaus bewußt. Denn entweder ist damit ein sich gleichförmig erhaltender, auf ewig sich wiederholender Reproduktionszyklus oder aber ein Degenerationsmodell angesprochen, in dem das »Alter« den Abschluß und das Ende einer Entwicklung darstellt. Und Arten – auch und gerade wenn sie nicht nur a methodo gesetzt sind – können sich nicht entwickeln, sondern nur erhalten resp. degenerieren. Kant mit seinen naturhistorischen Überlegungen liefert für den Fall der Erhaltung ein exemplarisches Beispiel: Arten erhalten sich vermittelst der Fortpflanzung von der Art zugehörenden Individuen. Es können allerhöchstens »Ausartungen« in dem Sinne stattfinden, daß die in dem jeweiligen »Stammelternpaar« vorhandenen Keime und Anlagen einmalig bei gleichzeitigem irreversib8

Ebd.

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len Verlust der übrigen Keime und Anlagen sich entfalten; dies hat Kant exemplarisch bezüglich der Menschenrassen dargestellt. Degenerationstheoretische Konsequenzen hat dagegen ein Verständnis der Art oder eines imaginären Stammelternpaares, wenn es verstanden wird als Original relativ zu dem alle artgleichen Individuen zunehmend schlechter werdende Kopien darstellen; so das Konzept von Buffon oder auch, mit anderer Ausrichtung, die Überlegungen von Malthus.

III. Welche Bedeutung hatte Malthus für Darwin? Obwohl also Darwin immer wieder betont, wie wichtig die Züchtung im Begründungszusammenhang seiner Theorie ist, wird diese Argumentation in ihrer systematischen Bedeutung immer wieder verkannt. Stattdessen wird die Rolle von T. R. Malthus’ Buch An Essay on the Principle of Population, as It Affects the Future Improvement of Society (1798) für die Herausbildung von Darwins Theorie diskutiert. Seine Berechtigung scheint dieser Interpretationsansatz in folgender Äußerung Darwins in seiner Autobiographie, geschrieben 1876, zu finden: »Im October 1838, also fünfzehn Monate nachdem ich meine Untersuchungen systematisch angefangen hatte, las ich zufällig zur Unterhaltung ›Malthus über Bevölkerung‹, und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtung über die Lebensweise von Thieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen erhalten zu werden neigen und ungünstige zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich denn nun endlich eine Theorie, mit welcher ich arbeiten konnte […]«.9 Aber Ernst Mayr, der sich intensiv mit der Beziehung zwischen der Darwinschen und Malthusschen Theorie beschäftigt hat, hebt hervor, daß durch die Lektüre von Malthus die Grundbegriffe der Evolutionstheorie, insbesondere der Populationsbegriff, von Darwin gerade nicht eingeführt werden können. Denn Malthus versteht unter »Kampf ums Dasein« den Kampf zwischen Arten, die selbst homogen zusammengesetzt sind. »Seltsam aber ist: In Malthus’ Schriften finden wir auch bei gründlicher Durchforschung keinerlei Spur eines Populationsdenkens.«10 Die Bedeutung der Verschiedenheit der Individuen innerhalb einer Population, auf der Darwin seine Theorie doch aufbaut, kann gar nicht ins Blickfeld von Malthus’ Überlegungen kommen, weil er im Rahmen 9

Ch. Darwin, Autobiographie, in: Ders.: Leben und Briefe von Charles Darwin, Bd. 1, Stuttgart 1887, 74–75. 10 E. Mayr, …und Darwin hat doch recht, München 1994, 111.

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seiner physikotheologischen Argumentation nur an den Mechanismen interessiert ist, die einen Zustand aufrecht erhalten; das, was wir heute als Evolution im Sinne von Entwicklung bezeichnen, bedeutete für Malthus Degeneration. Gegen den typologischen Art-Begriff bei Malthus hält Mayr daher zu Recht fest: »Die ganze Idee einer Konkurrenz zwischen Individuen wäre bedeutungslos, wenn alle diese Individuen typologisch identisch wären – wenn sie alle dieselbe Essenz hätten. Konkurrenz erlangt in einem evolutionären Sinne erst dann Bedeutung, wenn sich eine Vorstellung entwickelt hat, die Verschiedenartigkeit zwischen den Individuen derselben Population zulässt.«11 Damit sollte schon klar sein, daß Darwin seinen Populationsbegriff nicht aus den Schriften von Malthus gewonnen haben kann und daß Malthus für die Ausarbeitung seiner Evolutionstheorie keinen entscheidenden Beitrag hat liefern können. Schließlich stellt Mayr zu seiner eigenen Überraschung fest, daß Malthus sich zwar an einer Stelle auch auf Tierzucht bezieht, um dann aber zu dem genau entgegengesetzten Schluß von Darwin zu kommen. Denn das, was jeder Tierzüchter macht, nämlich durch Kreuzung eine Steigerung der ihm wichtigen Eigenschaften von Tieren zu erreichen, wird von Malthus glattweg als unmöglich bestritten: »daher kann es nicht zutreffen, daß bei Tieren ein Teil der Nachkommenschaft in höherem Grade die wünschenswerten Eigenschaften der Eltern besitzt oder daß Tiere unendlich beeinflussbar sind.«12 Hätte Darwin Malthus irgendeine Bedeutung zugestanden, dann wäre für ihn spätestens ab dieser Stelle das Verfahren der Tierzucht von keinem Interesse mehr gewesen. Daß dem aber nicht so war, geht aus den Arbeiten von Darwin hervor; so schreibt er über seine Forschungstätigkeit und seine ihn leitenden Überlegungen unmittelbar bevor er auf Malthus zu sprechen kommt: Sofort nach seiner Rückkehr nach England habe er mit dem Sammeln von Beweisen für die Veränderungen der Arten begonnen – indem er sich Kenntnisse über die Verfahrensweisen der Tierzüchter verschaffte. Und als Resultat des Studiums der Tierzucht hielt er fest: »Ich nahm bald wahr, daß Zuchtwahl der Schlüssel zum Erfolg des Menschen beim Hervorbringen nützlicher Rassen von Thieren und Pflanzen ist. Wie aber Zuchtwahl auf Organismen angewendet werden könne, welche im Naturzustande leben, blieb noch einige Zeit für mich ein Geheimnis.«13 1842 versuchte er einen ersten Abriß (35 S.) seiner Überlegungen, im Sommer 1844 folgte ein Entwurf von immerhin 230 Seiten – dort finden sich aber absolut keine Hinweise auf Malthus, was doch zu erwarten wäre, wenn ihn dessen Lektüre so beeinflußt haben sollte. Und er fährt dann fort: »Vom September 1854 an widmete ich meine ganze Zeit der Anordnung meiner un11 12 13

Ebd., 110 f. Th. R. Malthus zit. nach E. Mayr, …und Darwin hat doch recht, a. a. O., 111. Ch. Darwin, Autobiographie, a. a. O., 74.

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geheuren Masse von Notizen, der Beobachtung und dem Experimentieren (!!!!! M. W.) in Bezug auf die Umwandlung der Arten. Während der Reise des ›Beagle‹ hatte die Entdeckung großer fossiler Thiere, die mit einem Panzer gleich dem der jetzt existirenden Gürtelthiere bedeckt waren, in der Pampasformation einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; ebenso ferner die Art und Weise, in welcher beim Hinabgehen nach Süden über den Continent nahe verwandte Thiere einander vertreten, und drittens auch der südamericanische Character der meisten Naturerzeugnisse der Inseln des Galapagos-Archipels und ganz besonders die Art und Weise, wie sie auf einer jeden Insel der Gruppe unbedeutend verschieden sind; keine von den Inseln schien im geologischen Sinne des Worts sehr alt zu sein. Es war offenbar, daß Thatsachen wie diese, ebenso wie viele andere, nur unter der Annahme erklärt werden konnten, daß Species allmählich modificiert werden; und der Gegenstand verfolgte mich. Es war aber in gleicher Weise offenbar, daß weder die Wirksamkeit der umgebenden Bedingungen, noch der Wille der Organismen (besonders was die Pflanzen betrifft), die zahllosen Fälle erklären konnte, in welchen Organismen aller Art ihrer Lebensweise angepaßt sind, – so z. B. ein Specht oder ein Laubfrosch zum Erklettern der Bäume, oder ein Same zur Verbreitung mittelst Haken oder Fiedern. Mir waren derartige Anpassungen immer sehr aufgefallen, und solange diese nicht erklärt werden konnten, schien es mir beinahe nutzlos zu sein, den Versuch zu machen, durch indirecte Beweise festzustellen, daß Species modificirt worden sind.«14 Mayr hält daher völlig zu Recht fest: »Wie anders als mit seinem starken Interesse [an der Erklärung der Mechanismen evolutionären Wandels; M. W.] will man erklären, daß Darwin in der äußerst arbeitsreichen Periode nach der Rückkehr der Beagle so viel Zeit auf das Studium der Veröffentlichungen der Tierzüchter verwandte? Wohlgemerkt, Darwins hauptsächliches Interesse galt der Entstehung von Variation, aber im Verlauf seiner Lektüre kam er gar nicht darum herum, von den Tierzüchtern die wichtige Lektion zu lernen: Jedes Individuum in der Herde unterschied sich von jedem anderen, und bei der Auswahl der Männchen und Weibchen für die Zucht der nächsten Generation mußte man äußerste Sorgfalt walten lassen. Ich bin ziemlich überzeugt davon, daß Darwin nicht zufällig ausgerechnet in dem halben Jahr vor seiner Malthus-Lektüre so aufmerksam die Veröffentlichungen der Tierzüchter studierte.«15 Damit hat Mayr im Prinzip selbst alles Material zur Verfügung, um zu sehen, welche Funktion die Tierzüchtung im Argumentationsgang Darwins besitzt. Darwin hat sich also nicht aufgrund empirischer Erfahrungen vom Kreationisten zum Evolutionisten gewandelt. Dies kann man auch folgender Auf14 15

Ebd., 73 f. E. Mayr, …und Darwin hat doch recht, a. a. O., 112.

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zeichnung in Darwins Autobiographie entnehmen. »Während meines letzten Jahres in Cambridge (1831; M. W.) las ich mit Aufmerksamkeit und intensivem Interesse Humboldt’s Reisebeschreibung. Dieses Buch und Sir J. Herschel’s Einleitung in das Studium der Naturwissenschaft regte in mir die brennende Begierde an, einen Beitrag, und wenn auch nur den allerbescheidensten, für das erhabene Gebäude der Naturwissenschaften zu liefern. Kein anderes Buch oder ein Dutzend anderer hatte auch nur annähernd einen solchen Einfluß auf mich wie diese zwei.«16 Alexander von Humboldt war zwar kein Evolutionstheoretiker in dem Sinne, wie wir heute nach Darwin über Evolution reden – er war aber ein entschiedener Verfechter des Arten-Wandels, der – wie oben umrissen – Variation und Differenzierung von Arten in Abhängigkeit von den klimatischen Bedingungen, unter denen sie leben. Und wenn Darwin »mit Aufmerksamkeit und intensivem Interesse« Humboldts Bücher las – wie anders sollte man sich dies erklären als mit Darwins eigenem Interesse an dem Problem des Artenwandels? Darwin berichtet weiter von einem Muschel-Fund in einer alten Kiesgrube bei Shrewsbury, auf den er aufmerksam gemacht wurde. Sedgwick, Professor für Geologie, meinte auf eine diesbezügliche Frage Darwins nur, daß diese Muschel von irgend jemanden in die Grube geworfen worden sein mußte, nicht aber auf die Existenz eines Meeres in früheren Zeiten an diesem Ort zurückgeführt werden könnte. Darwin gesteht zu, daß Sedgwick geologisch sicherlich recht hatte – aber warum Darwin sich so dafür interessierte, war diesem unklar, was Darwin ironisch notiert und für uns ein weiterer Beleg ist, daß er diese Frage vor dem Hintergrund seiner eigenen entwicklungstheoretischen Überlegungen stellte, die er aber in der Öffentlichkeit nicht ansprach oder auch nur andeutete. Zwar suchte Darwin sicherlich auch nach weiteren empirischen Indizien für den Artenwandel, was ihn aber mehr interessierte und interessieren mußte, war das Problem der Mechanismen, die einen solchen Wandel herbeiführen konnten. Weder die Theorie Lamarcks noch der Lamarckismus, aber auch die Überlegungen seines Großvaters Erasmus Darwin schienen ihm eine Lösungsperspektive dieses Problems zu enthalten. Und auch in den Manuskripten von 1842 und 1844 hat er, nach eigenem Eingeständnis, noch nicht die Bedeutung der »Divergenz der Charaktere« bei weiterschreitender Modification bzw. den diese bewirkenden Mechanismus gesehen. Die differentielle Reproduktion gegenständlicher Elemente, die für den Fall der Naturgeschichte noch näher zu spezifizieren sind, ist es aber, die die Kontinuität und Diskontinuität geschichtlicher Prozesse verbindet und diese dann begrifflich aufzuschlüsseln erlaubt. »Die Lösung ist, wie ich glaube, die, daß die modificirten Nachkommen aller 16

Ch. Darwin, Autobiographie, a. a. O., 50.

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herrschenden und zunehmenden Formen dazu neigen, vielen und in hohem Grade verschiedenartigen Stellen im Naturhaushalt angepaßt zu werden.«17 Auch hier gilt es wieder, die späte autobiographische Notiz mit den alten Forschungsnotizen und Entwürfen zu vergleichen: Denn in den Notizbüchern schreibt er gerade nicht von »angepaßt sein oder werden«, sondern von dem »einkeilen« und »hineinzwängen« u. ä. der Lebewesen in Nischen; und die aktiv-passiv-Differenz zwischen »hineinzwängen« und »angepaßt werden« ist schon ein Unterschied ums Ganze! Zusammenfassend: Darwin war schon vor der Reise von dem Artenwandel überzeugt, konnte aber keinen Mechanismus benennen für einen solchen – und da ereilte ihn das Angebot für die Weltreise. Henslow, Darwins früher Förderer, teilte ihm nämlich brieflich mit, »daß Captain Fitzroy bereit sei, einen Theil seiner eigenen Cabine irgend einem jungen Manne abzutreten, welcher Lust habe, als freiwilliger Naturforscher ohne Bezahlung mit ihm die Reise auf dem ›Beagle‹ zu machen«.18 Gegen empiristische und naturalistische Ansätze in der Begründung der Evolutionstheorie erlaubt Darwins Anfang des Aufbaus der Theorie in der Analyse des menschlichen Züchtens einen ganz anderen Zugang zu dem Problembereich und eine ganz andere Kontrolle der biologischen Behauptungen: Nicht mehr der Blick auf die Natur selbst und das Sammeln von »Fakten« stellt die Basis generalisierender theoretischer Sätze dar, sondern die Verfahren des Züchters sowie die Kriterien, über die Züchter verfügen (müssen), um gelungene von mißlungenen Zuchtschritten unterscheiden zu können. Schon durch die Verschiebung von einer faktischen Basis zu Verfahren wird deutlich, daß als Gegenstand evolutionsbiologischer Forschungen nicht dingliche Entitäten wie etwa Arten zugrunde gelegt werden dürfen, bei denen dann erst in einem zweiten Schritt gefragt werden kann, ob und wie solche Dinge sich ändern können; vielmehr wird über den Beginn bei den Verfahren des Züchtens als Anfang ausgezeichnet ein gegenständlicher Prozeß, die mit Varianz und Divergenz umschriebenen Vorgänge, die sich zwar auch – siehe Alexander von Humboldt – in der Natur beobachten lassen, deren Mechanismen und reproduzierbare Resultate aber zunächst nur in der menschlichen Züchtungspraxis analysiert und experimentell bestimmt werden können. Genau an diesem auch ontologisch bedeutsamen Punkt, dem Anfang bei gegenständlichen Prozessen oder bei dinglichen Entitäten und deren Eigenschaften, findet der Umschlag statt von der Theorie Darwins in den Darwinismus.

17 18

Ebd., 75. Ebd., 53; Hervorhebung von mir.

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IV. Entwicklung als Differenzbildung: Die »Divergenz der Charaktere« In seiner evolutionsbiologischen Argumentation hat sich Darwin zunächst nur auf Vorgänge und Ereignisse in der Natur bezogen, die gegenwärtig ablaufen und damit auch einer direkten Beobachtung und experimentellen Erforschung zugänglich sind. Etwa daß die Artengrenzen nicht scharf sind, sondern durch Varietäten verwischt werden, und diese Varietäten als »beginnende Arten« zu begreifen seien. Hervorgehoben wird so das Moment der Kontinuität in der Abänderung der Organismen. Trotzdem – und hier haben ja besonders die Systematiker eingehakt – bestehen sowohl auf der Ebene von Arten als auch besonders auf der Ebene der Gattungen und Genera scheinbar absolute Diskontinuitäten; d. h. es lassen sich hier keine vermittelnden Glieder aufzeigen, die belegen, wie sich diese Formen durch kontinuierliche Abänderungen herausgebildet haben. Mit dem Prinzip der »Divergenz der Charaktere« kann Darwin nun aber zeigen, daß die absoluten Verschiedenheiten, die etwa der morphologischen Typenlehre Cuviers zugrunde liegen, notwendiges Resultat des Wirkens der natürlichen Selektion, der naturhistorischen Entwicklung also, sind: Zwischenformen existieren heute deshalb nicht mehr, weil sie als weniger an die Lebensbedingungen angepaßte Formen durch besser passende ersetzt wurden, also »ausgestorben« sind. »Deutlicher als einer seiner Gegner erkannte Darwin, daß die beobachteten Diskontinuitäten sozusagen Artefakte der Geschichte waren. Er erklärte die Lücken zwischen Gattungen und noch höheren Taxa durch den allmählichen Vorgang von Merkmalsdivergenz und Aussterben, eine Erklärung, die heute allgemein angenommen ist: Die Konkurrenz wie auch das Eindringen in neue Nischen und Anpassungszonen führen zu einer ständigen Divergenz, aber es ist das Aussterben dazwischenliegender Typen und Bindeglieder, das in erster Linie für die beobachteten Diskontinuitäten verantwortlich ist. Daher sind solche Lücken eher sekundäre Artefakte als ein Abbild des ursprünglichen Entstehungsprozesses der Taxa.«19 So richtig dieses Urteil ist, so zeigt doch seine direkt daran anschließende Frage, worauf Darwins feste Überzeugung vom Gradualismus beruhte, daß Mayr die Beweisstruktur in Darwins Evolutionstheorie nicht verstanden hat. Der Kernpunkt ist, wie Mayr wiederum richtig bemerkt, daß man es mit Artefakten der Natur zu tun hat, mit den Endprodukten oder Resultaten naturhistorischer Verläufe, deren Genese eben nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Als Gründe für Darwins Überzeugung vom Gradualismus benennt Mayr einmal empirisch-induktive Belege und zum anderen eine »metaphysische 19

E. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin / New York / Heidelberg 1984, 408.

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Komponente«. »Unter dem Einfluß der Schriften des Theologen Sumner, war er zu dem Schluß gekommen, alle natürlichen Dinge entwickelten sich allmählich aus ihren Vorgängern, wohingegen Diskontinuitäten, etwa plötzliche Saltationen, Anzeichen für einen übernatürlichen Ursprung, d. h. Zeichen für ein Eingreifen seitens des Schöpfers seien. Sein ganzes Leben lang machte sich Darwin viel Mühe, die allmähliche Evolution von Erscheinungen zu rekonstruieren, die auf den ersten Blick das Ergebnis plötzlicher Ursprünge zu sein schienen.«20 Es stände schlecht um die Beweiskraft von Darwins Theorie, hätte er für sie nur empirische Belege wie etwa die graduelle Verschiedenheit der Finken auf den Galapagos-Inseln, von denen Darwin ja selbst meint, daß sie nicht nur Belege seiner Theorien sind, sondern auch von anderen Theorien als Belege genutzt werden könnten, und metaphysische Überzeugungen. Denn die »idealistischen Morphologen« in der Tradition Goethes und die Typentheoretiker in der Tradition Cuviers gestehen ja die Möglichkeit eines kontinuierlichen Artenwandels im Rahmen des vorgegebenen Typus durchaus zu. Wie aber wird die Genese bzw. die Veränderlichkeit der »Typen« selbst behandelt? Man denke hier an den Übergang vom Leben im Wasser zum Leben auf dem Land oder die Entstehung von fliegenden Lebewesen aus nicht-fliegenden. Das ist doch das Problem, an dem sich die Wahrheit der Evolutionstheorie zeigen muß. Hören wir Darwin selbst zu diesem Problem. »Wie es stets mein Brauch war, so habe ich auch diesen Gegenstand mit Hilfe unserer Culturerzeugnisse mir zu erklären gesucht. Wir werden dabei etwas Analoges finden.«21 Darwin zeigt dann am Beispiel der Taubenzüchtung, daß Züchter ja nicht alle nur ein Merkmal herauszuzüchten versuchten, sondern daß der eine versucht, Tauben mit besonders kurzen, der andere aber solche mit besonders langen Schnäbeln zu züchten; ein dritter möchte eine Taube mit einem besonders großen Kropf und ein vierter schließlich Tauben mit schönen großen Schwanzfedern. Ersichtlich resultiert daraus letztendlich eine große Divergenz in den jeweiligen Charakteren der Tauben. Entscheidend ist aber, daß der Züchter in den aufeinanderfolgenden Generationen nur diejenigen Individuen ausliest und zur Nachkommenproduktion zuläßt, bei denen das ihm wichtige Merkmal am stärksten ausgeprägt ist. Hat er sein Zuchtziel erreicht, besitzt er eine Sorte von Tauben mit dem entsprechenden Merkmal, die Zwischenformen aber, die Stationen auf dem Weg der Herauszüchtung gewesen waren, werden verschwunden sein! Dies ist eine notwendige Folge der künstlichen Zuchtwahl. Die Übertragung oder »Anwendung«, in Darwins Terminologie, auf natürliche Verhältnisse ergibt zunächst, daß aufgrund der beschränkten Lebensbedingungen bei unbegrenzter Vermehrungsfähigkeit ein Selektionsdruck auf mög20 21

Ebd., 408. Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten, a. a. O., 130.

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lichst viele Abänderungen und damit große Varietätenbildung ruht. Dadurch können immer mehr »Nischen« besetzt werden. Darwin spielt dies hypothetisch am Beispiel eines Raubtieres durch und stellt zusammenfassend fest: »Je mehr nun diese Nachkommen unseres Raubthieres in Organisation und Lebensweise verschiedenartig werden, destomehr Stellen werden sie fähig sein, in der Natur einzunehmen. Und was von einem Thiere gilt, das gilt durch alle Zeiten von allen Thieren, vorausgesetzt, daß sie variieren; denn außer dem kann natürliche Zuchtwahl nichts ausrichten.«22 Zur Begründung des Divergierens braucht Darwin also Variabilität, als notwendige Voraussetzung für das Wirken der natürlichen Zuchtwahl, und natürliche Zuchtwahl, die in die Bedingungen der Nachkommenproduktion eingreift und damit günstige Abänderungen erhält, ungünstige dagegen auf die Dauer gesehen zum Verschwinden bringt. Und daß die Umbildungen kontinuierlich in kleinen Schritten erfolgen, hat er ja zumindest an empirischen Beispielen plausibel gemacht. In allen drei Fällen greift Darwin zur Begründung auf seine Ergebnisse bei der Analyse der Züchtungspraxis zurück. Darwin faßt seine Überlegungen zu diesem Thema zusammen: »Wir haben gesehen, daß es in jedem Lande die Arten der größeren Gattungen sind, welche am häufigsten Varietäten oder anfangende Arten bilden. Dies war in der That zu erwarten; denn, wie die natürliche Zuchtwahl durch eine im Kampf um’s Dasein vor den anderen bevorzugte Form wirkt, so wird sie hauptsächlich auf diejenigen wirken, welche bereits einige Vortheile voraus haben; und die Größe einer Gruppe zeigt, daß ihre Arten von einem gemeinsamen Vorfahren einige Vorzüge gemeinschaftlich geerbt haben. Daher wird der Wettkampf in Erzeugung neuer und abgeänderter Sprößlinge hauptsächlich zwischen den größeren Gruppen stattfinden, welche sich alle an Zahl zu vergrößern streben. Eine große Gruppe wird langsam eine andere große Gruppe überwinden, deren Zahl verringern und so deren Aussicht auf künftige Abänderung und Verbesserung vermindern. Innerhalb einer und derselben großen Gruppe werden die späteren und höher vervollkommneten Untergruppen immer bestrebt sein, durch Verzweigung und durch Besetzung möglichst vieler Stellen im Haushalt der Natur die früheren und minder vervollkommneten Untergruppen allmählich zu verdrängen. Kleine und unterbrochene Gruppen und Untergruppen werden endlich verschwinden.«23 Aus einer Zuchtgruppe heraus können also verschiedene Sorten von Tieren herausgezüchtet werden (z. B. Milch-Kühe und Kühe für die Fleisch-Gewinnung). Der Züchter führt über den Weg, auf dem er sein Zuchtziel erreicht hat, genauestens Buch, so daß das Zuchtergebnis von einem anderen Züchter mit einer anderen Zuchtgruppe reproduziert werden kann. Zwei Beschreibungen 22 23

Ebd., 131. Ebd., 142.

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dieses Züchtungshandelns sind hier möglich: einmal eine Beschreibung, die die veränderten Formen und Leistungen in der Aufeinanderfolge der einzelnen Züchtungsschritte festhält; zum zweiten eine Beschreibung, die den Mechanismus der Erzeugung angibt. Diese Unterscheidungen der Beschreibungen dekken sich mit der heute üblichen Unterscheidung von rekonstruierender Morphologie (die Ebene der Beschreibung der Formabänderungen in der Naturgeschichte) und der Evolutionstheorie im engeren Sinne (der Theorie der Evolutionsmechanismen). Für die Evolutionstheorie im engeren Sinne muß hier noch festgehalten werden, daß in dieser Beschreibung der Evolutionsmechanismen im Anschluß an das Vorgehen des Züchters Populationen als Quelle von Varianten bestimmt werden: zunächst unabhängig von Wechselwirkungen mit anderen Populationen kann eine Population sich aufspalten, entweder weil verschiedene Individuen der Population unterschiedliche Angebote ihrer Umgebung ausnutzen (verschiedene »Nischen« besetzen) und sich so zunehmend voneinander differenzieren. Oder es erfolgt durch äußere Gründe eine Aufspaltung der Population (infolge von Wanderungen oder dem Auftreten geographischer Isolationen wie sich neu bildenden Flüssen usw.). Auch damit wird der Reproduktionszusammenhang der ursprünglich einheitlichen Population geändert mit dem Resultat, daß Differenzierungsprozesse einsetzen, die die Fortpflanzung der Individuen der nun getrennten Populationen unmöglich machen (z. B. Änderungen des Verhaltens). Damit sind über das Züchtungsmodell schon diejenigen Prozesse mit ihren Mechanismen eingeführt, die der Populationsbiologe an natürlichen Populationen studiert, an denen er aber begrifflich immer dann scheitert, wenn er etwa glaubt, den Kreuzungsausschluß als Isolationsmechanismus von Populationen und als Entstehungsbedingung von neuen Arten empirisch an natürlichen Populationen einführen zu können. Schließlich kann dann – ebenfalls im Anschluß an die Analyse der Züchtungspraxis – gezeigt werden, daß die biowissenschaftliche Disziplin der Ökologie genau hier ihre methodisch ausgezeichneten Anfänge hat. Differenzierungsprozesse von Populationen erfolgen ja nicht nur infolge der je eigenen Reproduktionsdynamik, sondern werden selbstverständlich auch beeinflußt durch die Wechselwirkungen mit anderen Populationen. Entscheidend ist hier nur, daß die Veränderungsdynamik in einer Population nicht erst durch andere Populationen in Gang gesetzt wird, sondern diese nur modifiziert.24 Dies festzuhalten ist deshalb wichtig, weil Lyell und Wallace im Unterschied zu Darwin nicht ökologische Bedingungen als wesentliche Momente des Differenzierungsgeschehens ansahen, sondern geologische. 24

Vgl. M. Gutmann, Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand, Berlin 1996; Ch. Hertler, Morphologische Methoden in der Evolutionsforschung, Berlin 2001.

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V.

Die Umarbeitung von Darwins Theorie in den Darwinismus: Die Debatte in England

Charles Lyell hatte sich in Gesprächen mit Darwin und durch die Lektüre von dessen Buch Die Entstehung der Arten von einem Gegner arttransformatorischer Vorstellungen zu einem Evolutionisten gewandelt und eine – hier hat Bowler sicherlich recht – zentrale Rolle in der Durchsetzung von Darwins Theorie gespielt. Aber wichtige, gerade für Evolutionstheorien äußerst problematische, ja ihr direkt entgegengesetzte Überzeugungen behielt er trotzdem bei. »Der Kern der Lyellschen Argumentation – und der Grund für die Erledigung einer als unmerklicher Übergang zwischen Arten definierten Evolution – beruht auf der Konzeption, daß Arten Entitäten und nicht Tendenzen sind; Dinge und nicht willkürliche Segmente eines Entwicklungsflusses. Arten entstehen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gegenden. Sie sind, wenn man so will, Partikel mit einem definitiven Ausgangspunkt, einem im Verlauf ihrer geologischen Dauer unveränderlichen Charakter und einem klar erkennbaren Augenblick des Erlöschens.«25 Daß für die Unterstützung Darwins (und damit auch für die Veränderung der eigenen Theorie) wissenschaftsexterne Gründe – und eben solche und nur solche sind mit der Rede der »Darwin-Industrie« gemeint – eine beachtliche Rolle gespielt haben müssen, macht Lyell selbst deutlich. In seinen Principles of Geology hält er nämlich über Darwin fest: »well known by his ›Voyage in the Beagle‹, and various works on Geology […]«.26 Darwin war also als Geologe fest in die damalige Wissenschaftler-Gemeinde integriert, bevor er seine Evolutionstheorie dem breiten Publikum vorlegte; er besaß damit, wenn man so will, im Unterschied zu vielen seiner Vorgänger, eine Art von Vertrauens- oder Glaubwürdigkeitsvorschuß. Und selbstverständlich kommt er im Unterschied zu Alfred Russell Wallace aus »guten Verhältnissen«! Erst nachdem Lyell so die wissenschaftliche (und gesellschaftliche) Seriosität Darwins deutlich gemacht hat, kommt er auf wissenschaftsinterne Begründungszusammenhänge der Darwinschen Theorie zu sprechen: »having made for that purpose a vast series of original observations and experiments on domesticated animals and cultivated plants, and having reflected profoundly on those problems in geology and biology which were calculated to throw most light on that question.«27 Zu erwarten wäre nun, daß Lyell die modelltheoretische Bedeutung der künstlichen Zuchtwahl für das Verständnis der natürlichen Zuchtwahl disku25 26 27

St. J. Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit, München 1990, 217 f. Ch. Lyell, Principles of Geology, London 1872, Bd. 2, 277. Ebd., 278.

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tiert. Und Lyell scheint zunächst auch diesen Erwartungen zu entsprechen, um dann aber bei völlig anderen Konsequenzen zu landen. In Kapitel XXXVI mit der Überschrift Variation of plants and animals under domestication viewed as bearing on the origin of species notiert Lyell: »We have seen that the indefinite modifiability of species in the course of thousands of generations, and under gradually altered conditions in the organic and inorganic world, is a question which has been seriously entertained by naturalists ever since the beginning of the present century. The changes brought about by the breeder and horticulturist, and the new races to which they have given origin, have always been appealed to in support of this theory of unlimited variability.«28 Auch die gegen diese These der unbegrenzten Variabilität vorgetragenen Argumente hält Lyell fest. »The opponents of the doctrine of transmutation have always objected to arguments founded on the results of such experiments, that, in spite of skill an perseverance of the breader, agriculturist, and florist, man has never succeeded in giving origin to one new species.«29 Von den Opponenten wird der Wert solcher Züchtungsexperimente in Frage gestellt nicht durch die Angabe von allein theoretischen Gründen, sondern selbst wiederum durch Experimente: Wenn nämlich durch die menschliche Züchtungstätigkeit eine neue Art gezüchtet werden könne, dann dürfte diese neue Art mit der Art, aus der sie herausgezüchtet wurde, nicht mehr kreuzbar sein, also keine fruchtbaren Nachkommen ermöglichen; die Nicht-Fruchtbarkeit der Nachkommen in solchen Kreuzungsexperimenten war allgemein anerkannt die Markierung von Artgrenzen. Nun waren aber auch z. B. die hochgezüchtetsten Tauben-Sorten immer noch kreuzbar mit anderen Tauben, so daß sie gemäß den Unterscheidungen der Taxonomie allerhöchstens Varietäten oder Rassen derselben Art, niemals aber Repräsentanten zweier Arten sein konnten. »For however far some of the new races may have diverged from the parent stock or from each other, they have always continued to breed freely together and produce fertile offspring, whereas the hybrids which result from the union of two distinct species in nature are always sterile.«30 Experiment stehe gegen Experiment: Lyell glaubt damit die methodisch schwache Stelle in der Darwinschen Argumentation ausgemacht zu haben. Aber bei dem Versuch dieses Problem aufzulösen, verschiebt Lyell nahezu unmerklich für den Leser die Gewichtung der künstlichen Zuchtwahl. Zunächst bezeichnet er die künstliche Zuchtwahl nicht als Modell für das Wirken der natürlichen Zuchtwahl, sondern als eine bloße Metapher, eine Analogie »which exists between the manner in which new races are formed by man and the way 28 29 30

Ebd., 285. Ebd., 286. Ebd., 286.

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in which it is supposed by Darwin and Wallace that they are slowly produced by nature«.31 Wichtiger für die Begründung der Darwinschen Evolutionstheorie sei die »unbewußte Zuchtwahl« des Menschen. »Of the laws which may govern variation we are, as Mr. Darwin admits, profoundly ignorant; and if, as seems probable, these laws enbrace the principle of progressive development explained in the first volume (Chap. IX), they must be of so high and transcendental a nature that we may well despair of ever gaining more than a dim insight into them. But granting what is undeniable, that there is a tendency in all animals and plants to possess individual pecularities by which they differ slightly from their parents and from each other, are there no forces in operation in the organic and inorganic world, which, in the course of thousands or millions of generations, may cause new races, varying more and more in a particular direction, until at length they constitute new species? If there be such a process in nature, it will most nearly resemble that kind of human selection which has been called ›unconscious‹, and which for reasons explained in the last chapter is even more effective in the long run than that which is intentional.«32 Nun scheint der Unterschied von »unbewußter« Zuchtwahl, den übrigens auch schon Darwin verwendete, wenn auch in ganz anderer methodischer Absicht, und künstlicher Zuchtwahl nicht so groß zu sein, daß er die von den Gegnern der Evolutionstheorie vorgetragenen experimentellen Befunde entkräften könnte. Dies ist auch zunächst gar nicht Lyells Absicht. Denn er versucht eine logische Argumentationsfolge zu etablieren, die auf die Behauptung einer von Selektion unabhängigen progressiven Entwicklung in der Natur als Voraussetzung für evolutionäre Veränderungen hinausläuft. Denn wenn es eine solche Entwicklung in der Natur gäbe, dann könne, auch wenn uns dieser Prozeß selbst empirisch nicht zugänglich ist, eine bestimmte Form natürlichen Handelns des Menschen doch darüber Aufschluß vermitteln. Und dieses natürliche Handeln des Menschen ist – so Lyell – eben die unbewußte Zuchtwahl, die vom Menschen nicht in beabsichtigter und geplanter Weise vorangetrieben wird, sondern eher unbeabsichtigtes Resultat von ihm verfolgter anderer Handlungsintentionen ist. Ein Naturvorgang (»progressive development«, Evolution) soll so durch einen anderen Naturvorgang (unbewußte Zuchtwahl) rekonstruiert werden können; die künstliche Zuchtwahl ist dann der empirisch-induktiv gewonnene Begriff über die (möglichen) Ursachen solcher Veränderungen in natürlichen Zusammenhängen. 31 32

Ebd., 319. Ebd., 318.

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Diese grundlegende Veränderung im methodischen Aufbau der Evolutionstheorie führt nun auch zu einschneidenden Veränderungen in der Art und Weise, wie der Vorgang der Evolution bewiesen werden soll. Lyell schreibt: »If the reader will reflect on the changes in the earth’s physical geography and climate which were alluded to in the first volume (Chapters XI. and XII.), as having occurred in the course of geological periods, he will not fail to perceive that the new conditions to which plants and animals inhabiting any given province must be exposed will be far more important in the aggregate than the change of circumstances to which man can in a few thousand years subject any animal or plant under domestication.«33 Nicht nur, daß Lyell hier die unterschiedlichen Zeitfaktoren hervorhebt, daß also geologische Zeitdimensionen in keinem Verhältnis stehen mit der Zeit des Menschen, die Möglichkeiten von Veränderungen der Organismen durch den Menschen keinen Aufschluß geben können über die Veränderungen von Organismen in geologischen Zeitperioden. Viel wichtiger ist ihm, daß die uniformen und andauernden geologischen Veränderungen die wahrscheinlichsten Ursachen für die Veränderungen von Organismen sind! Lyell konstituiert damit zwischen geologischen Veränderungen und organismischen Veränderungen eine Ursache-WirkungsBeziehung. »In this manner Mr. Darwin suggests that as the surrounding conditions in the organic and inorganic world slowly alter in the course of geological periods, new races which are more in harmony with the altered state of things must be formed in a state of nature, and must often supplant the parent type.«34 Bezeichnenderweise führt Lyell für den »altered state of things«, der dann zu geänderten Organismen führe, aber nicht einen Terminus von Darwin ein, sondern den Begriff des »environment« von Herbert Spencer!35 Wenn nun in dieser Weise die Vorstellung etabliert wird, daß zwischen »environment« und Organismen eine harmonische Beziehung bestehen muß, dann erzwingt eine Veränderung des »environment« auch eine Veränderung der Organismen in der Weise, daß Organismen, die eine neue harmonische Beziehung zu dem geänderten environment eingehen können, selektiv bevorzugt werden. Evolution ist so nur noch als Anpassung der Organismen an eine vorgängig veränderte Umwelt vorstellbar; bleibt die Umwelt konstant, verändern sich auch die Organismen nicht und Evolution findet nicht statt. Dies ist aber nur eine erste Konsequenz. Unter methodischen Gesichtspunkten viel wichtiger ist, daß nun der Vorgang der Evolution nicht mehr über ein Modell bewiesen und rekonstruiert zu werden braucht, sondern unmittelbar empirisch an den geologisch feststellbaren Erdschichten abgelesen werden 33 34 35

Ebd., 319 f. Ebd., 279. Ebd., 320.

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können soll. Denn kennt man die Bedingungen des environment durch geologische Untersuchungen, dann sind unmittelbare Rückschlüsse auf Organismen bzw. auf Veränderungen von Organismen aus den geologischen Kenntnissen möglich, weil die Bedingungen des environment festlegen, welche Organismen zu ihnen in einem harmonischen Verhältnis stehen und somit überleben können, und welche nicht. Und schließlich: Eben weil die Organismen gestaltet werden durch die externen Bedingungen, seien sie – so Lyell und Wallace gegen Darwin – auch unbeschränkt abänderbar; gäbe es also wieder die geologischen Bedingungen, die zur Zeit der Saurier herrschten, dann müsste es auch wieder Saurier geben, eine Überlegung, die Darwin in seinen Briefen an seinen amerikanischen Freund Asa Gray und dann systematisch begründet in seinem Buch Über das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustand der Domestikation entschieden zurückwies. Dort also, wo Darwin methodisch über ein Modell, gewonnen aus der Analyse einer menschlichen Handlungspraxis, die Grundbegriffe seiner Evolutionstheorie einzuführen versucht, argumentiert der Darwinismus empiristisch. Genau hierin ist der Grund zu suchen, warum Darwin die Reisebeschreibungen Humboldts auf seine Weltreise mitnahm – er erhoffte sich durch sie Hilfe bei der Lösung entwicklungstheoretischer Probleme –, während er sich die Principles of Geology von Lyell nachschicken ließ – diesen galt es nämlich unter wissenschaftspolitischen Gesichtspunkten von der Legitimität entwicklungstheoretischer Fragestellungen erst einmal zu überzeugen!

VI. Die Umarbeitung von Darwins Theorie in den Darwinismus: Die Debatte in Deutschland Immer wieder behauptete Ernst Haeckel, gerade in seinen populären Vorträgen, daß soziale Institutionen wie Schulen und Kirchen in ihren Lehrprogrammen und Lehrinhalten weit hinter dem Fortschritt der Naturgeschichtsschreibung zurückgeblieben seien. Diese habe erwiesen, daß Fortschritt ein Naturgesetz sei, das durch keine beharrenden sozialen Strukturen und Institutionen aufgehalten werden könne. Diese Fortschritts-Überzeugung, die Haeckel – wie aus einen Studentenbriefen an seine Eltern abzulesen ist – schon vor der Lektüre Darwins als seine weltanschauliche Überzeugung vertrat, sei nun durch Darwins Evolutionstheorie endgültig bestätigt worden. Nun ist aber hier schon festzuhalten, daß Haeckels Fortschritts-Konzeption – und dies ist ein entscheidender Unterschied zu Darwin – eine absolute Wertigkeit impliziert, d. h. das »Überleben des Tauglichsten« ist nicht bezogen auf bestimmte Umweltverhältnisse, so daß das Lebewesen, das in dem einen Kon-

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text bevorzugt ist, in einem anderen negativ bewertet werden könnte, sondern »Überleben des Tauglichsten« meint einen Überlebensvorteil in jedem Kontext. Durch ein einfaches Umzeichnen der Haeckelschen Stammbäume kann dies deutlich gemacht werden: Es gibt eine durchlaufende Hauptlinie der Entwicklung, beginnend bei dem ersten Lebewesen und endend bei dem weißen mitteleuropäischen Mann. Von diesem zweigen Neben- oder Seitenwege ab, auf denen sich alle übrigen Lebewesen befinden; dies bedeutet zum Beispiel auch, daß Neger, Chinesen, Indianer usw. sich nicht auf der Hauptentwicklungslinie befinden, sondern ebenfalls Seitenzweige repräsentieren. Im Rahmen dieser Fortschritts-Konzeption bekommt auch die Selektionstheorie eine eigentlich eher untergeordnete Bedeutung. Denn über sie kann gerade nicht der absolute Fortschritt erklärt werden – wie ja auch bei Lyell und Wallace gesehen –, sondern sie kann das Fortgeschrittene nur erhalten. Das Fortschreiten beruht dagegen auf einem der Natur immanenten progressiven Prozeß, der von sich aus immer »Besseres«, »Höheres« erzeugt. Diese beiden sich bei Darwin nicht findenden Momente übernahm Haeckel aus den Arbeiten insbesondere Ludwig Büchners.36 Dieser schrieb in der 1860 erschienenen Rezension Eine neue Schöpfungstheorie über Darwins Theorie: »Als das Mittel und hauptsächlichste Moment für die Umänderung der Arten bezeichnet er demnach einen Vorgang, welchen er natürliche Züchtung im Kampfe ums Dasein nennt.«37 Jedes Individuum könne in gewissen Grenzen variieren und sich so – ist die Variation nützlich – einen Vorteil gegenüber seinen Mitwesen verschaffen, »wodurch dasselbe eine größere Aussicht auf Erhaltung seiner selbst so wie seiner Nachkommenschaft bekommt«.38 Dieses Prinzip habe keine Grenzen, es brauche nur Zeit, die aber in der (geologischen) Geschichte der Erde zu Genüge vorhanden sei. Die Grenzenlosigkeit des Variationsgedankens ist ebenfalls eine systematisch wichtige Differenz zu Darwin; sie deckt sich dagegen wiederum mit den Überlegungen von Lyell und Wallace. Dann hält Büchner fest: »Ein großes und fast noch unbetretenes Feld für Forschungen über die Veränderungen der Organismen und deren Ursachen wird sich öffnen, und das Studium der Culturerzeugnisse wird unermeßlich an Werth gewinnen. Die bisherigen Classifikationen werden zu Genealogien wer-

36

Der Zusammenhang zwischen den sog. »Vulgärmaterialisten«, Ludwig Feuerbach und Ernst Haeckel bedarf einer eigenen systematischen Rekonstruktion. Im Vordergrund zu stehen hätten dabei die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach der Revolution von 1848. 37 L. Büchner, Eine neue Schöpfungstheorie, in: Ders., Aus Natur und Wissenschaft, Leipzig 1874, 273. 38 Ebd., 274.

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den und dann erst den wirklichen s. g. Schöpfungsplan darlegen.«39 Diese von Büchner formulierte Aufgabe der Darlegung der wirklichen Schöpfungsgeschichte, nämlich die Umformulierung der taxonomischen Klassifikationen in Genealogien, ist dann der Kerngedanke der Haeckelschen Stammbäume. Büchner deutet dann aber auch an, daß der Streit um Darwins Theorie wohl darum gehen werde, ob das von Darwin gefundene »Naturgesetz« ausreiche oder ob nicht doch noch weitere »Gesetze« »gefunden« werden müssten. In diese Richtung der Erweiterung und Ergänzung der Darwinschen Theorie möchte jedenfalls Büchner gehen. Und für viele, die mit Darwins Theorie Anpassung an vorgefundene äußere Umweltbedingungen verbinden, äußert Büchner eine vielleicht überraschende Kritik: »Jedenfalls hat Darwin, wie auch Bronn ausdrücklich anerkennt, den mächtigen Einfluß äußerer Lebensbedingungen auf entstandene sowie auf entstehende Naturwesen viel zu gering angeschlagen […]«.40 Und Büchner beendet die Rezension mit dem nochmaligen Hinweis auf die von Darwin unterschätzte Bedeutung externer Faktoren: »Namentlich ist der Einfluß äußerer Umstände und Lebensbedingungen auf die Umänderung der Naturwesen – wie schon erwähnt – ein viel bedeutenderer, als Darwin glaubt, und fast jede neue Entdeckung oder Beobachtung der Wissenschaft liefert neue Belege für die mächtige Einwirkung dieses, von Darwin wohl nur seiner Theorie zuliebe so gering geschätzten Einflusses.«41 Auch diese Kritik deckt sich wiederum mit der Kritik von Lyell und Wallace an Darwin, so daß offenkundig der Übergang von Kreislaufkonzepten hin zu einem quasi automatisch ablaufenden Fortschreiten zu Höherem und Besserem am leichtesten zu realisieren war über die Betonung externer, insbesondere geologischer Faktoren als den entscheidenden Faktoren der Höherentwicklung. Der »Kampf ums Dasein«, abgeleitet aus der »natürlichen Zuchtwahl«, kann in dem Verständnis von Büchner u. a. auch gar nicht der entscheidende Mechanismus der Entwicklung sein, weil mit ihm nur der Gedanke der Erhaltung und die »Ausmerzung« des »Unnützen« verknüpft wird. Deswegen deutet Büchner auch auf ein »Vervollkommnungsgesetz« hin, »dem zufolge sich voraussichtlich aus den jetzt lebenden Wesen immer schönere, höhere und vollkommnere Formen entwickeln werden«.42 Und diese Höherentwicklung bringt Büchner sofort mit dem Menschen und den Möglichkeiten seiner Höherentwicklung in Verbindung: nicht nur, daß »die Menschen« immer »schöner« und »höher« entwickelt werden, er kann auch präzisieren, daß Kaukasier, als die in den kälteren Klimaten besser Angepaßten, und Neger, als die 39 40 41 42

Ebd., 275. Ebd., 278. Ebd., 280. Ebd., 276.

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in den wärmeren Klimaten besser Angepaßten, die Polynesier und Rothäute verdrängen werden. Diesen auf die Höherentwicklung des Menschen hinweisenden Überlegungen widmet sich Büchner dann noch ausführlicher in vielen weiteren Ausarbeitungen.43 Die Entgrenzung einer naturwissenschaftlichen Theorie hin zu einer universelle Gültigkeit beanspruchenden Weltanschauung ist somit nicht etwas, was der Haeckelschen Theorie kontingent und bloß äußerlich wäre, sondern diese Entgrenzung mit der Konsequenz einer »autoritären Biologie« (Helmuth Plessner) ist dem Haeckelschen Programm von vornherein konstitutiv eingeschrieben.

43

Vgl. insbesondere L. Büchner, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1872; Ders., Vorlesungen über die Darwinsche Theorie von der Verwandlung der Arten, Leipzig 1872.

II. WELTANSCHAUUNG, RELIGION UND KULTUR

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Darwin und die Theologie. Zwischen Kritik und Adaption Als Charles Darwin 1828 auf Anraten seines Vaters vom Medizinstudium in Edinburgh zum Theologiestudium nach Cambridge wechselte, wurden seine Bedenken, seinen Glauben an alle Dogmen der Kirche von England zu erklären, rasch ausgeräumt. Er las einige theologische Bücher, darunter die Schrift Exposition of the Creed des anglikanischen Theologen John Pearson und die 1824 erschienene Publikation Evidence of Christianity Derived from Its Nature and Reception von John Bird Sumner, und gelangte zu dem Schluß, daß man das Glaubensbekenntnis der englischen Staatskirche vollständig annehmen könne. In seiner Autobiographie erklärt er, daß er damals »nicht den geringsten Zweifel an der strikten und wörtlichen Wahrheit jedes Wortes der Bibel hatte […]«.1 Wie unlogisch es sei, an etwas zu glauben, was man nicht erfassen könne und sich auch gar nicht begreifen lasse, das sei ihm damals nicht aufgefallen. Für das Bachelorexamen, das er 1831 absolvierte, mußte er zwei Klassiker der damaligen anglikanischen Theologie durcharbeiten: die 1785 erschienenen Principles of Moral and Political Philosophy von William Paley und dessen 1794 publizierten View of the Evidences of Christianity. Von der Logik dieses apologetischen Werkes und Paleys Natural Theology von 1802 zeigte sich der werdende Landgeistliche ebenso fasziniert wie von Euklid. »Ich beunruhigte mich damals nicht mit Paleys Voraussetzungen; und da ich diese auf Treu und Glauben annahm, so war ich von der umständlichen Beweisführung entzückt und überzeugt.«2 Die Lektüre von Paleys apologetischen Werken empfindet Darwin auch im Rückblick noch als den einzigen Teil seines regulären Studiums, der für seine geistige Bildung von Bedeutung gewesen sei. Angesichts der heftigen Angriffe, die er später von seiten der theologischen Orthodoxie zu gewärtigen hatte, erscheint ihm seine damalige Absicht, anglikanischer Landgeistlicher zu werden, als spaßig. Und er konstatiert: »Auch ist 1

Ch. Darwin, Erinnerungen an die Entwicklung meines Geistes und Charakters (Autobiographie) (1876–1881), Köln 1982, 71. 2 Ebd., 74.

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diese Absicht und meines Vaters Wunsch niemals formell aufgegeben worden, sondern ist eines natürlichen Todes gestorben, als ich beim Verlassen von Cambridge als Naturforscher an Bord der ›Beagle‹ ging.«3 Auf seiner Weltreise mit der Beagle, die er als das wichtigste Ereignis seines Lebens und als seine ganze weitere Laufbahn bestimmend betrachtete, rückte Darwin von den orthodoxen Ansichten seiner Zeit als Theologiestudent ab. Er schenkte dem Alten Testament mit seiner falschen Datierung der Weltgeschichte und seinem rachedurstigen Gott fortan nicht mehr Glauben als den heiligen Schriften anderer Religionen. Abgesehen von den Unstimmigkeiten in den Evangelien erschien ihm am Christentum der Wunderglaube besonders anstößig, da Wunder um so unwahrscheinlicher würden, je mehr Aufschluß wir über die Naturgesetze bekämen. »So beschlich mich in sehr langsamer Weise der Unglaube, bis ich schließlich gänzlich ungläubig wurde. Er kam so langsam über mich, daß ich kein Unbehagen empfand, und niemals habe ich seit jener Zeit auch nur eine einzige Sekunde an der Richtigkeit meines Schlusses gezweifelt.«4 Doch der Verlust des christlichen Glaubens ist nicht gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an einen persönlichen Gott. Wohl lehnt Darwin, einmal überzeugt von dem Gesetz der natürlichen Auslese, Paleys Argument für die Existenz Gottes aus der zweckmäßigen Ordnung der Natur als nicht länger überzeugend ab. Man könne nicht mehr schließen, daß das wunderbare Schloß einer zweischaligen Muschel von einem intelligenten Wesen gebildet sei, weil doch auch das Türschloß von einem intelligenten Wesen, nämlich einem Schlosser, gebildet worden sei. Darwins mechanische Erklärung der Entstehung der Arten durch das Gesetz der natürlichen Auslese schließt eine teleologische Erklärung aus. »In der Variabilität der organischen Wesen und in der Wirkungsweise der natürlichen Zuchtwahl scheint nicht mehr Zweckmäßigkeit zu liegen als in der Richtung, in der der Wind weht.«5 Darwin lehnt aber auch den Beweis der Existenz eines intelligenten Welturhebers aus der innerlichen Überzeugung und dem Gefühl ab und hält die Vernunft für die geeignete Basis, auf der man gegebenenfalls zur Überzeugung von der Existenz Gottes gelangt. Tatsächlich sei er selbst zu dieser Überzeugung gelangt aufgrund der »Unmöglichkeit, einzusehen, daß dieses ungeheure und wunderbare Weltall, das den Menschen umfaßt mit seiner Fähigkeit, weit zurück in die Vergangenheit und weit in die Zukunft zu blicken, das Resultat blinden Zufalls oder der Notwendigkeit sei. Denke ich darüber nach, dann fühle ich mich gezwungen, mich nach einer ersten Ursache umzusehen, die im Besitze eines, dem des Menschen im gewissen Grade analogen Intellekts ist, und ich 3 4 5

Ebd., 72. Ebd.,106. Ebd.

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verdiene, Theist genannt zu werden.«6 Darwin bemerkt, daß diese theistische Überzeugung noch im Hintergrund von On the Origin of Species gestanden habe, während sie hernach allmählich schwächer geworden sei. Schließlich könnte die Überzeugungskraft des Arguments von der starken und vielleicht erblichen Einwirkung, die die ständige Einflößung des Glaubens an Gott auf das Gehirn ausübt, abhängen, so daß es für den Menschen genauso schwer wäre, den Glauben an Gott aufzugeben, wie für einen Affen, seine instinktive Furcht vor der Schlange zu verlieren. Aber anstatt zu einer klaren Ablehnung der theistischen Position zu gelangen, enthält sich Darwin jeder Auskunft über den Anfang der Welt. »Das Geheimnis des Anfangs aller Dinge ist für uns unlösbar; und ich für meinen Teil muß mich bescheiden, ein Agnostiker zu bleiben.«7

I. Die Kritiker Darwins in England und Amerika On the Origin of Species erschien im November 1859, und im Juni des folgenden Jahres kam es zu einem scharfen Angriff auf Darwin von kirchlich-theologischer Seite. Auf dem jährlichen Treffen der British Association for the Advancement of Science in Oxford ergriff der dortige Bischof Samuel Wilberforce die Gelegenheit, sich über Darwins Evolutionslehre zu mokieren. Die Kontroverse, die sich daraufhin im Saal zwischen Wilberforce und Thomas Henry Huxley abspielte, gehört zu jenen Ereignissen, die man gerne als den Beginn eines langwierigen Kampfes zwischen etabliertem Christentum und moderner Wissenschaft betrachtet hat. Huxley hatte auf die Frage des Bischofs, ob es ihm denn gleichgültig wäre, wenn er erkennen müßte, daß sein Großvater ein Affe gewesen wäre, geantwortet, daß er lieber von einem Affen abstammen würde als von einem hochbegabten, einflußreichen Mann, der seine Fähigkeiten dazu benutzt, Lächerlichkeit in eine ernste wissenschaftliche Diskussion hineinzutragen. Allerdings hatte Huxley bereits im Februar 1860 in einer Rede in der Royal Institution in London den Kampf um Darwins Evolutionslehre mit dem Konflikt zwischen Galilei und der römischen Kirche verglichen. Damals wie heute halte die kirchlich-theologische Orthodoxie an dem biblischen Weltbild fest. »In this nineteenth century, as at the dawn of modern physical science, the cosmogony of the semi-barbarous Hebrew is the incubus of the philosopher and the opprobrium of the orthodox. […] But orthodoxy is the Bourbon of the world of thought. It learns not, neither can it forget; and 6

Ebd.,111. Ebd.,112. Vgl. N. C. Gillespie, Charles Darwin and the Problem of Creation, Chicago 1979; G. Altner, Charles Darwin und Ernst Haeckel, Zürich 1969. 7

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though, at present, bewildered and afraid to move, it is as willing as ever to insist that the first chapter of Genesis contains the beginning and the end of sound science.«8 Huxley stilisierte so von Anfang an die Auseinandersetzung um Darwins Evolutionslehre als einen Konflikt zwischen Anhängern der modernen Wissenschaft und Verteidigern der kirchlich-theologischen Orthodoxie, obgleich er sich bewußt war, daß nur eine Minderheit von Wissenschaftlern zu diesem Zeitpunkt Bereitschaft zeigte, sich auf die Seite Darwins zu stellen.9 Auch ist das Votum von Wilberforce keineswegs repräsentativ für die damalige Haltung von Kirche und Theologie gegenüber Darwin. Bereits einen Tag nach dem denkwürdigen Schlagabtausch zwischen Wilberforce und Huxley hielt Frederick Temple, der spätere Erzbischof von Canterbury, anläßlich des Jahrestreffens der British Association in Oxford eine Universitätspredigt über das Thema: The present relations of science to religion. Ohne Darwins Buch und die erregte Debatte vom Vortag zu erwähnen, gestand er der Wissenschaft die volle Freiheit zu, die Gesetze des Universums zu entdecken, in dem Vertrauen darauf, daß das Buch der Natur letztlich mit dem Buch Gottes übereinstimme.10 Allerdings war sich Huxley durchaus bewußt, daß nicht alle anglikanischen Theologen Darwin mit Ablehnung begegneten, zumal er in Charles Kingsley einen der ersten und vehementen Befürworter der neuen Evolutionstheorie zum Bekannten hatte. Im selben Jahr 1860 erschienen die berühmten Essays and Reviews, die sich gegen den orthodoxen Traditionalismus wandten und für ein freies Denken in der anglikanischen Kirche plädierten. In seinem Beitrag On the Study of the Evidences of Christianity wandte sich der Reverend Baden Powell, Geometrieprofessor in Oxford und Fellow der Royal Society, gegen das herkömmliche Wunderverständnis, wonach Wunder Abweichungen von der Kausalordnung sind. Powell berief sich für seine Konzeption der Natur ausdrücklich auf Darwin: »a work has now appeared by a naturalist of the most acknowledged authority, Mr Darwin’s masterly volume on The Origin of Species by the law of ›natural selection‹, – which now substantiates on undeniable grounds the very principle so long denounced by the first naturalists, – the origination of new species by natural causes: a work which must soon bring about an entire revolution of opinion in favour of the grand principle of the self-evolving powers of nature.«11 Im Geschichtlichen Überblick über die Ent8

T. H. Huxley, Collected Essays, Bd. 2, London 1893, 52 f. Ders., On the Reception of the ›Origin of Species‹, in: F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, Bd. 2, London 1887, 186. Vgl. J. R. Moore, The Post-Darwinian Controversies. A study of the Protestant struggle to come to terms with Darwin in Great Britain and America 1870–1900, Cambridge 1979. 10 F. Temple, The Present Relations of Science to Religion, Oxford 1860, 8 ff. 11 B. Powell, On the Study of the Evidences of Christianity, in: Ders., Essays and Reviews, London 41861, 139. 9

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wicklung der Ansichten von der Entstehung der Arten, der dem Werk On the Origin of Species in seiner dritten Auflage von 1861 vorangestellt ist, ging Darwin anerkennend auf Baden Powells Essays on the Unity of Worlds and of Nature von 1855 ein, und zwar auf die in ihnen vertretene »Philosophie der Schöpfung«: »Er beweist aufs überzeugendste, daß das Auftreten neuer Arten ›eine regelmäßige und keine zufällige Erscheinung‹ oder, wie John Herschel es ausdrückt: ›ein natürlicher Vorgang und keineswegs ein Wunder‹ ist.«12 Doch es waren nicht nur Vertreter der liberalen Broad Church, die sich zu Darwin bekannten, sondern – was viel erstaunlicher ist – auch Repräsentanten des konservativen anglokatholischen Flügels der Staatskirche. Der Essayband Lux Mundi, der 1889, fast zwanzig Jahre nach Essays and Reviews, als Manifest der jüngeren anglokatholischen Theologen erschien, enthielt Beiträge von Charles Gore, Aubrey Moore und John Illingworth, die Christentum und Entwicklungslehre miteinander verbanden. Diese positive Einstellung gegenüber Darwin beschränkte sich auch keineswegs auf England und die dortige anglikanische Theologie, sondern galt ebenso für zahlreiche Presbyterianer und Kongregationalisten in Schottland und den Vereinigten Staaten. Es kann also keine Rede davon sein, daß es so etwas wie eine geschlossene Front der Ablehnung auf seiten des angloamerikanischen Protestantismus gegenüber Darwin gegeben hat. Vielmehr hatte Darwin von Anfang an eine breite Anhängerschaft unter den protestantischen Theologen Großbritanniens und Nordamerikas. Sicher ist es richtig, daß Darwin hier wie dort auf entschiedene Gegner stieß. Der bedeutendste theologische Gegner war Charles Hodge, der Hauptrepräsentant der Princeton Theology, einer Version des Old School Presbyterianism, der sich an den Westminster Standards und dem Calvinismus von François Turretini orientierte. Zwar hielt Hodge grundsätzlich an der Inspirationslehre und damit auch an der unfehlbaren Autorität der Schrift fest. Aber als inspiriert galt ihm keineswegs jede Aussage der Bibel, sondern nur die Lehre der biblischen Autoren. Er bestritt daher zwar nicht, daß es in der Bibel irrtümliche Aussagen, wohl aber, daß es Irrtümer in der Lehre der Bibel gebe. Diese Differenzierung gab Hodge beispielsweise die Möglichkeit, das heliozentrische Weltbild zu übernehmen, da dieses von den biblischen Autoren wohl vorausgesetzt, jedoch nirgends gelehrt würde. Während Hodge so meinte, daß der Widerspruch zwischen Bibel und Naturwissenschaft in vielen Fällen sich als ein nur scheinbarer erweise, hielt er Darwins Evolutionstheorie tatsächlich für unvereinbar mit der biblischen Lehre. In seiner Schrift What is Darwinism?, seinem 1874 publizierten letzten Beitrag zur theologischen Diskussion, brandmarkte er Darwins Lehre als atheistisch, weil sie die direkte Erschaffung des 12

Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, übers. von C. W. Neumann, Stuttgart 2001, 22.

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Menschen durch Gott und die teleologische Struktur der Welt leugne. »It is the distinctive doctrine of Mr. Darwin, that species owe their origin, not to the original intention of the divine mind; not to special acts of creation calling new forms into existence at certain epochs; not to the constant and everywhere operative efficiency of God, guiding physical causes in the production of intended effects; but to the gradual accumulation of unintended variations of structure and instinct, securing some advantage to their subjects. […] The grand and fatal objection to Darwinism is this exclusion of design in the origin of species, or the production of living organisms. […] The conclusion of the whole matter is, that the denial of design in nature is virtually the denial of god. […] What is Darwinism? It is Atheism.«13 Hodge stützte seine theologisch begründete antidarwinistische Haltung wissenschaftlich ab durch Louis Agassiz, den aus einer Schweizer Pfarrersfamilie stammenden Geologen und Zoologen in Harvard, der noch kurz vor dem Erscheinen von Darwins Werk 1857 in seinem Essay on Classification die Unveränderlichkeit der Arten behauptet hatte. Er ging grundsätzlich von der der Naturphilosophie Schellings, Okens und Cuviers entlehnten Annahme aus, daß die Struktur der geschaffenen Welt in der göttlichen Vernunft verankert sei und die Aufgabe des Naturwissenschaftlers darin bestehe, diese Struktur zu entdecken. Zur Struktur der natürlichen Welt gehören aber für Agassiz auch die verschiedenen Arten, die daher ebenso unveränderlich sind wie der göttliche Geist. In seiner Systematic Theology konnte sich Hodge deshalb auf Agassiz berufen: »It has in the progress of science been discovered that the whole vegetable and animal world has been constructed on one comprehensive plan. […] So obviously is this case that Professor Agassiz’s Essay on classification is, to say the least, as strong an argument for the being of god as any of the Bridgewater Treatises.«14 Allerdings wich man auch im konservativen Princeton nach dem Tode von Charles Hodge im Jahre 1878 von der Annahme der Konstanz der Arten ab. 1886 veröffentlichte Joseph Van Dyke, presbyterianischer Pfarrer und Absolvent des Princeton Theological Seminary, ein Buch mit dem Titel Theism and Evolution, zu dem Archibald Alexander Hodge, der Sohn von Charles und dessen Nachfolger als Systematischer Theologe in Princeton, die Einleitung verfaßte. Zwar nahm Hodge keineswegs positiv Stellung zu Darwins Entwicklungslehre, aber er lehnte den Entwicklungsgedanken als solchen nicht rundweg ab, sondern meinte, daß man ihm eine Fassung geben könne, in der er durchaus vereinbar sei mit dem christlichen Theismus. Dies sei nämlich dann der Fall, wenn man die Entwicklungslehre nicht als eine Philosophie verstehe, die Auskunft gebe über Ursache und Zweck des Universums, sondern als eine 13 14

Ch. Hodge, What is Darwinism?, New York 1874, 173 f. Ders., Systematic Theology, New York 1872 / 73, Bd. 1, 222.

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wissenschaftliche Erklärung der natürlichen Phänomene und ihrer Gesetzmäßigkeiten, die integriert werden könne in die theologische Konzeption der Evolution als eines Planes, der von einem unendlich weisen persönlichen Gott entworfen worden sei. Für Hodge impliziert dieses Verständnis der Evolution zugleich eine Kritik an Darwin. Denn wenn »progress along the entire line of biological advance is explained wholly on the hypothesis of an all-directioned variation, and the selection of special forms by an accidental environment (the precise position of Darwin), then certainly the universe and its order is referred to chance, teleology is impossible, theism stripped of its most effective evidence, and therefore Dr Charles Hodge was abundantly justified in indicating this phase of evolution as atheistic.«15 Hodge lehnte Darwins Evolutionslehre nicht zuletzt deshalb ab, weil sie in seinen Augen nicht fähig war, die geistige Natur des Menschen – seine Vernunft, sein Gewissen und seinen freien Willen – zu erklären. Van Dyke selbst ging allerdings noch einen Schritt weiter als Hodge. Nicht nur konnte er sich eine Zeit vorstellen, in der die Evolutionslehre Darwins als allgemein akzeptierte biologische Theorie gelten würde. Er wollte auch für diese Zeit Vorkehrung schaffen und Darwin vom Vorwurf des Atheismus befreien. Zwar habe es den Anschein, als sei Darwins Evolutionstheorie atheistisch, weil sie die natürliche Zuchtwahl an die Stelle der zweckmäßigen Ordnung setze. Aber dieser Anschein trügt laut Van Dyke. »Are we to conclude that the diversifications of organic forms, consequent upon the struggle for existence or upon other secondary causes, excludes the possibility of design? Certainly not. Unless an evolutionist affirms that the causes to which he refers changes are self-sufficient, he is not open to the charge of atheism.«16 Darwins Theorie ist für Van Dyke also akzeptabel, wenn man sie integriert in ein theologisches Modell, das die natürliche Selektion als ein Mittel betrachtet, mit dessen Hilfe Gott seinen Zweck realisiert. Zwar teilte auch Van Dyke die Annahme einer unmittelbaren Erschaffung des Menschen als eines geistigen Wesens durch Gott. Aber seine These von der Vereinbarkeit von Darwinismus und christlichem Theismus bedeutete eine grundsätzliche Abkehr vom Anti-Darwinismus eines Charles Hodge. Dasselbe gilt für den langjährigen Präsidenten der Universität Princeton, James McCosh, einen schottischen Presbyterianer, der eine Professur für Logik und Metaphysik innehatte. Sein erstes Buch, The Method of the Divine Government, Physical and Moral, das er 1850 als schottischer Pfarrer publizierte, ging noch von der Konstanz der Arten aus, während er sich in seinen späteren amerikanischen Publikationen, etwa in Development von 1883 und The Religious Aspect of Evolution von 1888, eingehend mit der Evolutionstheorie nicht nur Darwins, son15 16

J. S. Van Dyke, Theism and Evolution, London 1886, XVII f. Ebd., 41.

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dern auch Spencers auseinandersetzte. Der Artenwandel wurde jetzt von ihm ebenso anerkannt wie die natürliche Selektion, wenngleich er den Menschen auf einen unmittelbaren Eingriff Gottes zurückführte. Wie Van Dyke sah auch McCosh keinerlei Widerspruch zwischen der natürlichen Zuchtwahl und der göttlichen Teleologie. »The supernatural power is to recognize in the natural law. The Creator’s power is executed by creature action. The design is seen in the mechanism. Chance is obliged to vanish because we see contrivance. […] Supernatural design produces natural selection. Special creation is included in universal creation.«17

II. Der christliche Darwinismus in Großbritannien und Amerika Für zahlreiche amerikanische, englische und schottische Theologen stand es fest, daß sich Darwins Evolutionstheorie mit einem christlich-theistischen Verständnis der Schöpfung durchaus verbinden lasse. In manchen Fällen bedeutete der Versuch einer derartigen Harmonisierung, daß Darwins Theorie abgeschwächt wurde. So konnte Frederick Temple, der sich bereits am Tag nach der Kontroverse zwischen Wilberforce und Huxley für eine Übereinstimmung zwischen dem Buch der Natur und dem Buch Gottes ausgesprochen hatte, 1884 in seinen Bampton Lectures The Relations between Religion and Science erklären, daß die natürliche Selektion nur ein partieller Ausdruck der ursprünglichen physikalischen, chemischen und teleologischen Eigenschaften sei, mit denen Gott die von ihm geschaffene Materie ausgestattet habe. Gott »impressed on certain particles of matter which, either at the beginning or at some point in the history of His creation He endowed with life, such inherent powers that in the ordinary course of time living creatures such as the present were evolved […]«.18 Man darf im übrigen nicht vergessen, daß es damals neben Darwins Evolutionslehre noch zahlreiche andere Versionen der Evolutionstheorie, von Lamarck bis Spencer, gab, die durchaus wissenschaftlich konkurrenzfähig waren und auf die die Theologen zurückgreifen konnten, wenn ihnen Darwins Erklärung der Evolution allein durch natürliche Auslese als zu eng erschien. Das trifft auch auf den enthusiastischsten Repräsentanten des Evolutionsgedankens, Henry Drummond, Naturwissenschaftler und Theologe der schottischen Free Church, zu, der sich an Spencers Synthetic Philosophy orientierte. Es ist für ihn keineswegs nur der »struggle for life«, der die Entwicklung bestimmt, sondern auch der »struggle for the life of others«. Und zwar sei der Altruismus als Faktor der Evolution entstanden durch Einflüsse 17 18

J. McCosh, The Religious Aspect of Evolution, New York ²1890, 7. F. Temple, The Relations between Religion and Science, London 1885, 113 f.

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der Umwelt, die Drummond nun allerdings nicht bloß als Natur, Welt und Kosmos, vielmehr darüber hinaus als unendlichen Verstand und ewigen Willen charakterisieren konnte. Die Evolution werde daher durch geistig-moralische Kräfte angetrieben, so daß sie nicht nur materiellen, sondern auch geistigen Fortschritt bedeute. Evolution und Christentum kommen laut Drummond darin überein, daß sie vollkommenere Wesen erschaffen, und zwar durch Liebe, so daß beide denselben Ursprung, dasselbe Ziel und denselben Geist haben. Die Evolution sei daher zugleich Offenbarung oder progressive Realisierung Gottes, der Aufstieg der Liebe, der im Menschen kulminiere, in dem sich die Evolution ihrer selbst bewußt werde.19 Die Liste der Autoren, die den Darwinismus mit der Theologie versöhnen wollten, dies aber nicht ohne die Evolutionslehre Darwins zu modifizieren, ließe sich noch verlängern. Doch wesentlich interessanter ist die Tatsache, daß es eine Reihe dezidiert konservativer Theologen gab, die gerade die Evolutionslehre Darwins in ihre Theologie integrierten. Zu ihnen zählt Aubrey Moore, der zu Lux Mundi, dem repräsentativen Dokument des liberalen Anglokatholizismus, den Essay The Christian Doctrine of God beisteuerte. Seine eigenen Beiträge zum Verhältnis von Evolutionslehre und Religion finden sich in den Aufsatzbänden Science and the Faith von 1889 und Essays Scientific and Philosophical von 1890. In dem 1883 auf dem Church Congress in Reading gehaltenen Vortrag Recent advances in natural science in their relation to the Christian faith erklärte Moore, daß die Ansicht, zwischen Evolutionslehre und Theologie bestehe ein Widerspruch, letztlich in einer verfehlten deistischen Auffassung des Verhältnisses von Gott und Welt gründe. Evolution und Schöpfung seien gar keine Alternativen, da Gottes schöpferische Aktivität in der sich entwickelnden Natur sei. Für den christlichen Theologen seien daher die Fakten der Natur die Akte Gottes. Von dieser Position aus kritisierte Moore auch Frederick Temples Versuch, die Beziehung zwischen Evolution und Schöpfung zu klären. Denn wenn man wie Temple Gott in dem Sinne als Schöpfer verstehe, daß er der Materie ursprünglich seinen Willen aufgeprägt habe und sie sich nunmehr nach diesem göttlichen Plan entwickle, so setze dies eine deistische Konzeption Gottes voraus, wonach Gott sich nach der anfänglichen Erschaffung der Welt von ihr zurückzieht.20 Als Francis Darwin 1887 Life and Letters seines Vaters publizierte, nahm Moore dies im folgenden Jahr zum Anlaß, in einem Beitrag Darwinism and the Christian faith darzulegen, wie sich die Evolutionslehre Darwins mit der dogmatischen Lehre der englischen Kirche vereinbaren lasse. Daß Darwin recht habe, setzte er dabei voraus, und das Festhalten an der Konstanz der Arten sah er als eine Haltung orthodoxer Theologen an, 19 20

H. Drummond, The Ascent of Man, New York 1894, 428, 438 f. A. L. Moore, Science and the Faith, London 1889, 99 ff.

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die weder durch die Bibel noch durch die altkirchliche Theologie gefordert werde. Darwins Evolutionslehre ist in Moores Augen wesentlich plausibler als die orthodoxe Lehre von der unmittelbaren Erschaffung der Arten und der fortwährenden Eingriffe Gottes in das Naturgeschehen. Gott stehe nämlich der natürlichen Welt nicht als transzendenter Schöpfer gegenüber, sondern sei der Natur als schöpferische Kraft immanent.21 Zwar ist sich Moore der Tatsache bewußt, daß eine große Zahl von Anhängern Darwins Agnostiker sind. Aber für ihn besteht wohl ein Konflikt zwischen Agnostikern und Christen, nicht jedoch zwischen Darwinisten und Christen. In seinem Beitrag für Lux Mundi schrieb Moore: »The one absolutely impossible conception of God, in the present day, is that which represents Him as an occasional Visitor. Science had pushed the deist’s God farther and farther away, and at the moment when it seemed as if He would be thrust out altogether, Darwinism appeared, and, under the disguise of a foe, did the work of a friend. It has conferred upon philosophy and religion an inestimable benefit, by showing us that we must choose between alternatives. Either God is everywhere present in nature, or He is nowhere. He cannot be here, and not there. He cannot delegate His power to demigods called ›second causes‹. In nature everything must be His work or nothing. We must frankly return to the Christian view of direct divine agency, the immanence of divine power in nature from end to end […] It seems as if, in the providence of god, the mission of modern science was to bring home to our unmetaphysical ways of thinking the great truth of the Divine immanence in creation, which is not less essential to the Christian idea of God than to a philosophical view of nature.«22 John Illingworth konnte in seinem Beitrag zu Lux Mundi, der den Titel The Incarnation and Development trug, diese Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt als »higher Pantheism« bezeichnen und eine Verbindung zur altkirchlichen Logoslehre herstellen.23 Die Evolution war für ihn Ausdruck der Gegenwart des ewigen göttlichen Logos in der Schöpfung, und dessen Menschwerdung faßte er als den Höhepunkt der Evolution auf. Zwischen der Schöpfungstheologie und Darwins Evolutionstheorie vermochte Illingworth keinerlei Widerspruch zu entdecken, zumal eine adäquate Fassung des Entwicklungsgedankens niemals rein mechanisch sein könne, sondern immer teleologische Faktoren in Rechnung stellen müsse. Es waren aber keineswegs nur die liberalen Anglokatholiken im Umkreis von Lux Mundi, die sich auf die Seite der Evolutionstheorie Darwins schlugen. James Iverach, Pfarrer und später Professor für Apologetik der schottischen Free Church, teilte die These 21 22 23

Ebd., 184 f. Ch. Gore (Hg.), Lux Mundi, London 51890, 82. Ebd., 159 ff.

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von der Immanenz Gottes in der Welt. In seinem 1894 erschienenen Werk Christianity and Evolution schrieb er: »To me everything is as it is through the continous power of God; every law, every being, every relation of being are determined by Him, and He is the Power by which all things exist. I believe in the immanence of god in the world, and I do not believe that he comes forth merely at a crisis.«24 Mit diesem der sich entwickelnden Natur immanenten schöpferischen Gott meinte aber auch Iverach den göttlichen Logos, die zweite Person der Trinität. In diesem Sinne war für ihn Darwins Evolutionslehre die Grundlage für eine teleologische Weltsicht, die die Ursache der gesamten Natur in Gott erblickte. Dies führte Iverach sogar zu der Annahme, daß auch der Mensch ein Ergebnis der Evolution sei. Von den Theologen heißt es: »They do not distinguish between man and the lower animals by a difference of origin; for all derived existence must, they believe, trace it’s origin to God. […] As far as the question of origin is concerned, there is for the theologian no question of difference in kind. […] Nor for the evolutionist can there be […] any difference of kind; for all things are from the primal source of being whatever that may be, and all things are what they are by the same kind of process.«25 Wie in Großbritannien gab es auch in den Vereinigten Staaten einen spezifisch christlichen Darwinismus, der vor allem von zwei eng miteinander kooperierenden Calvinisten propagiert wurde, nämlich von Asa Gray und George Frederick Wright. Gray, Professor für Naturgeschichte in Harvard, war der früheste und bedeutendste Verteidiger Darwins in Amerika. Bereits im Erscheinungsjahr der Origins of Species war er von der Richtigkeit seiner Evolutionstheorie überzeugt. Aber anders als Darwin, der seinerseits Gray unterstützte, war es diesem an dem Nachweis gelegen, daß die neue Evolutionslehre der natürlichen Theologie in keiner Weise widerspreche. 1861 erschien auf Anraten Darwins eine Sammlung von Beiträgen Grays zur Verteidigung der Evolutionslehre unter dem Titel Natural Selection Not Inconsistent with Natural Theology. A Free Examination of Darwin’s Treatise on the Origin of Species and of Its American Reviewers. Auf Anregung des kongregationalistischen Pfarrers und Geologen Wright veröffentlichte Gray weitere apologetische Aufsätze 1876 als Darwiniana, und 1880 trug er seine Synthese von Darwinismus und Calvinismus den Theologen in Yale vor, eine Vorlesung, die noch im selben Jahr unter dem Titel Natural Science and Religion erschien. Grays Gegner war in erster Linie Agassiz, sein Kollege in Harvard, dessen metaphysische Naturphilosophie er ebenso ablehnte wie Spencers philosophische Konzeption des Evolutionsgedankens. Was Gray an Darwin schätzte, war gerade das Fehlen metaphysischer Spekulation und die Beschränkung auf empirische Forschung. 24 25

J. Iverach, Christianity and Evolution, London 1894, 175. Ebd., 161.

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Als empirische Hypothese war Darwins Evolutionstheorie zwar kein Beweis für den Theismus, aber sie schloß diesen auch nicht aus. Daher konnte Darwin 1860 an Gray scheiben: »Certainly I agree with you that my views are not at all necessarily atheistical […]«.26 Gray hingegen erklärte: »The Darwinian system, as we understand it, coincides well with the theistic view of Nature. It not only acknowleges purpose […] but builds upon it; and if purpose in this sense does not of itself imply design, it is certainly compatible with it and suggestive of it.«27 Darwin selbst stand einer Einbettung seiner Evolutionslehre in ein teleologisches Gesamtkonzept, das die Evolution letztlich auf eine göttliche Zwecksetzung zurückführte, allerdings ablehnend gegenüber, da sie – wie er sich ausdrückte – seine »deity ›Natural Selection‹« überflüssig mache.28 Gegen Gray wandte er ein: »If we assume that each particular variation was from the beginning of all time preordained, then that plasticity of organisation, which leads to many injurious deviations of structure, as well as the redundant power of reproduction which inevitably leads to a struggle for existence, and, as a consequence, to the natural selection or survival of the fittest, must appear to us superfluous laws of nature.«29 Zwar nicht Darwin selbst, wohl aber Wright, wie Gray der Congregational Church zugehörig, leuchtete die Verbindung von Darwinismus und calvinistischem Theismus ein. Gemeinsam mit Gray machte er sich in seinen Publikationen für diese Synthese stark, vor allem in seinen 1882 veröffentlichten Studies in Science and Religion. Wie Gray lehnte auch Wright die spekulative Philosophie und Metaphysik ab und orientierte sich statt dessen an der induktiven Methode der empirischen Naturwissenschaften, zumal dies in seinen Augen dieselbe Methode sei, derer man sich beim historischen Wahrheitsbeweis des Christentums bediene. Darwins Evolutionstheorie steht für Wright keineswegs im Widerspruch zur calvinistischen Konzeption eines göttlichen Souveräns, der die natürliche Welt durch seine Vorsehung lenkt. Daher konnte er erklären: »The doctrine of the continuity of nature is not new to the theologian. The modern man of science, in extending his conception of the reign of law, is but illustrating the fundamental principle of Calvinism.«30 Es ist nicht etwa ein liberaler, sondern ein dezidiert konservativer Calvinismus, den Wright in Harmonie mit dem Darwinismus sah. Deutlich wird dies nicht zu-

26

F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, Bd. 2, London 1887,

310. 27

A. Gray, Darwiniana, hrsg. von A. Hunter Dupree, Cambridge, Mass. 1963, 311. F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, a. a. O., Bd. 2, 353, 373. 29 Ch. Darwin, The Variation of Animals and Plants under Domestication, London ²1875, Bd. 2, 428. 30 G. F. Wright, Studies in Science and Religion, Andover, Mass. 1882, 220. 28

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letzt an der Art und Weise, wie er die Übereinstimmung von Calvinismus und Darwinismus in der Frage der Einheit der Menschheit begründete. Denn die Vererbungslehre Darwins habe ihre Entsprechung in der calvinistischen Lehre von der Erbsünde.31 Die Übereinstimmung mit Darwin ging bei Wright so weit, daß er auch keinen Anlaß sah, dessen Abstammungslehre zu bezweifeln. In seinem Buch The Origin and Antiquity of Man zeigte er sich 1912 überzeugt, daß »man is genetically connected with the highest order of the Mammalia, but […] not descendend from any existing species of that order […]«.32 Und zwar gelte dies für den Menschen nicht nur als körperliches, sondern auch als geistiges Wesen, wobei die Frage, wann der Schritt vom Tier zum Menschen in der Evolution vollzogen werde, nicht schwerer zu beantworten sei als die Frage, wann aus dem Embryo ein Mensch werde. »When the embryo really becomes human and is endowed with the prerogatives of immortal existence is as much a mystery to the Christian philosopher as the question, When in the line of development did the natural ancestry of man become endowed with its higher human prerogatives?«33 Mit dieser Haltung griff Wright nur auf, was Darwin am Schluß seines Descent of Man im Hinblick auf die in diesem Werk vertretenen Thesen bemerkt hatte: »he who denounces them is bound to shew why it is more irreligious to explain the origin of man as a distinct species by descent from some lower form, through the laws of variation and natural selection, than to explain the birth of the individual through the laws of ordinary reproduction […]«.34

III. Darwin und seine Rezeption in der deutschen Theologie Die positive Rezeption Darwins durch orthodoxe Theologen in England, Schottland und Nordamerika wurde sicherlich dadurch erleichtert, daß sowohl Darwin als auch die Theologen einen gemeinsamen theologischen Hintergrund besaßen: Paleys natürliche Theologie mit ihrer Vorstellung, daß die Existenz Gottes als des persönlichen intelligenten Welturhebers aus der zweckmäßigen Struktur der natürlichen Welt bewiesen werden könne. Mit der traditionellen Unterscheidung von Erst- und Zweit- oder Mittelursache glaubten die calvinistischen Theologen den Mechanismus der natürlichen Zuchtwahl verbinden zu können mit der zweckvollen göttlichen Vorsehung. Für sie war die natürliche Selektion nur ein Werkzeug der Providenz Gottes. Anglokatho31 32 33 34

Ebd., 225 f. G. F. Wright, The Origin and Antiquity of Man, London ²1913, 386. Ebd., 388. Ch. Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, London ²1874, 613.

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liken wie Moore, die dem calvinistischen Gottesbild ablehnend gegenüberstanden, begründeten die Vereinbarkeit von Darwinismus und christlichem Schöpfungsglauben mit der Lehre von der Immanenz des schöpferischen Logos in der Welt. In Deutschland sah die theologische Reaktion auf Darwin und seine Evolutionstheorie hingegen völlig anders aus. Eine Vereinbarkeit von Darwinismus und Christentum wurde jedenfalls sowohl von Rechts als auch von Links bestritten. Deutschland war das einzige Land, in dem Darwins Theorie unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden eine ähnlich lebhafte Diskussion auslöste wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. The Origin of Species erschien bereits 1860 in der deutschen Übersetzung von Heinrich Bronn, der allerdings den Satz des Schlußkapitels, daß von der Evolutionstheorie auch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte fallen werde, wegließ. Huxleys Evidence as to Man’s Place in Nature, in dem die Verwandtschaft von Mensch und Affe behauptet wurde, wurde noch im Erscheinungsjahr 1863 in deutscher Übersetzung gedruckt. Im September desselben Jahres hielt Ernst Haeckel auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin seinen berühmten Vortrag Über die Entwicklungstheorie Darwins, in dem er die These vertrat, daß wir Menschen unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugetieren hätten. 1866 publizierte der Jenenser Zoologe seine Generelle Morphologie der Organismen, und 1868 veröffentlichte er seine gemeinverständlichen Vorträge über Darwins Entwicklungslehre unter dem bezeichnenden Titel Natürliche Schöpfungsgeschichte. Haeckel ging allerdings deutlich über Darwin hinaus, insofern er die Abstammungs- und Selektionstheorie auf das gesamte Naturgeschehen ausweitete und so zu einer Weltanschauung gelangte, die annahm, »daß in der ganzen Natur ein großer einheitlicher, ununterbrochener und ewiger Entwicklungsvorgang stattfindet, und daß alle Naturerscheinungen ohne Ausnahme, von der Bewegung der Himmelskörper und dem Fall des rollenden Steins bis zum Wachsen der Pflanze und zum Bewußtsein des Menschen, nach einem und demselben großen Kausalgesetz erfolgen, daß alle schließlich auf Mechanik der Atome zurückzuführen sind: Mechanische oder mechanistische, einheitliche oder monistische Weltanschauung, mit einem Wort: Monismus.«35 Bereits in der Generellen Morphologie nahm Haeckel Anstoß an den religiösen Schöpfungsmythen, die durch die monistische Weltanschauung, der Darwin den Weg bereitet habe, überholt seien. Eine Schöpfung aus nichts hielt er für unvereinbar mit dem obersten Naturgesetz, daß alle Materie ewig sei und aus der Körperwelt nicht ein einziges Atom verschwinden und kein neues hinzukommen könne.36 Rückblickend schilderte Haeckel die Lage so, daß bis zum Erscheinen des Origin 35 36

E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, Stuttgart 1878, 9 f. E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 1, Berlin 1866, 171.

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of Species das Schöpfungsproblem in der Biologie für supranaturalistisch und transzendental gegolten habe, während Darwin eine wissenschaftliche, physiologische Schöpfungsgeschichte ermöglicht habe. Der modernen Dogmatik wird ein unwürdiger Anthropomorphismus vorgeworfen, der Gott zu einem gasförmigen Wirbeltier erniedrige. Außerdem werde der menschliche Organismus von der Theologie in Gegensatz zur ganzen übrigen Natur gestellt und als von Gott anvisiertes Endziel der Schöpfung und gottähnliches Wesen verstanden.37 Diese Vorstellung von Gott als zwecktätigem Weltbaumeister und von der Sonderstellung des Menschen als eines gottähnlichen Wesens werde durch Darwins Selektionstheorie überwunden, die erkläre, wie durch zwecklos wirkende mechanische Naturprozesse die zweckmäßigen Einrichtungen der Organisation entstehen. Das bedeutet aber nicht, daß Haeckel auf den Gottesbegriff überhaupt verzichtet hätte. Vielmehr ist Gott für ihn das allgemeine Kausalgesetz, damit aber die Notwendigkeit, die Summe aller Kräfte, also auch aller Materie. An die Stelle einer theistischen Gottesvorstellung, die Gott als transzendente intelligente Person betrachtet, rückte Haeckels Monismus so den mit dem Kausalgesetz identischen und daher der Welt immanenten Gott. Es war der Theologe David Friedrich Strauß, der in seinem letzten Werk Der alte und der neue Glaube 1871 zu Darwin und Haeckel positiv Stellung nahm. Darwin sei in The Origin of Species noch so inkonsequent gewesen, für den Anfang der organischen Natur einen Schöpfer anzunehmen, der einige oder vielleicht auch nur eine Urzelle geformt und ihr Leben eingehaucht habe, woraus dann sukzessiv die ganze Mannigfaltigkeit des organischen Lebens entstanden sei. Diese Inkonsequenz sei hingegen von Huxley und Haeckel behoben worden, die an die Stelle des Wunders am Anfang einen natürlichen Übergang vom Anorganischen zum Organischen angenommen und die Annahme einer besonderen Lebenskraft ausgeschieden hätten.38 Was die Arten des Organischen angeht, so lehnte Strauß die von Agassiz verteidigte theologische Lehre von der Konstanz der Arten ab und schloß sich Darwin und der ihm folgenden Naturwissenschaft an, »an die Stelle des ihr fremden Schöpfungsbegriffs den Begriff der Entwicklung zu setzen […]«.39 Zwar rechnet Strauß Lamarck zu den Vorläufern Darwins, aber erst dieser habe die Evolution der Arten durch das Prinzip der Konkurrenz erklärt. Denn sein Kampf ums Dasein sei nichts anderes als »dasjenige zum Naturprinzip erweitert, was wir als soziales, industrielles Prinzip schon lange kennen […]«.40 Doch Strauß akzeptierte nicht nur allgemein Darwins mechanische Erklärung der Evolution der Arten 37 38 39 40

Ebd., Bd. 2, 450 f. D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube, Stuttgart 1938, 120 f. Ebd., 123. Ebd., 132.

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durch natürliche Zuchtwahl, sondern er verteidigte auch die in Darwins soeben erschienenem zweiten Hauptwerk The Descent of Man vertretene These von der Abstammung des Menschen vom Affen. Und zwar meinte er, »daß die Menschheit weit mehr Ursache habe, sich zu fühlen, wenn sie sich von elenden tierischen Anfängen durch die fortgesetzte Arbeit einer unzählbaren Geschlechterreihe allmählich zu ihrem jetzigen Standpunkt emporgearbeitet hat, als wenn sie von einem Paare abstammt, das, nach Gottes Ebenbild geschaffen, später aus dem Paradiese geworfen und immer noch lange nicht wieder auf der Stufe angekommen ist, von der es am Anfang herabgesunken war. Wie nichts den Mut so tief darniederschlägt als die Gewißheit, ein verscherztes Gut doch nie ganz wiedergewinnen zu können, so hebt denselben nichts mehr, als seine Bahn vor sich zu haben, von der gar nicht abzusehen ist, wie weit und hoch sie uns noch führen wird […]«.41 Den Entwicklungsschritt vom Affen zum Menschen bezeichnete Strauß als Menschwerdung des Tieres, und er fragte sich, warum selbst Naturforscher diese Menschwerdung für unglaublicher halten als die Menschwerdung Gottes. Es sei ein Fehler der altgläubigen Naturwissenschaft, Menschen- und Tierwelt als zwei gesonderte Reiche zu betrachten und den Menschen vom Tier durch die unsterbliche Seele geschieden sein zu lassen. Erst Darwins Abstammungslehre habe der spiritualistischen Herausnahme des Menschen aus der Natur ein Ende bereitet, und damit sei die Kluft zwischen Mensch und Tier geschlossen worden, die das den Naturgottheiten feindliche Judentum und das dualistische Christentum aufgerissen hätten.42 Es ist letztlich der jüdisch-christliche Dualismus, gegen den in Strauß’ Augen Materialismus und Idealismus eine einheitliche Front bilden. »Ihren gemeinsamen Gegner haben beide in dem Dualismus, der durch die ganze christliche Zeit herunter herrschenden Weltansicht, die den Menschen in Leib und Seele spaltet, sein Dasein in Zeit und Ewigkeit scheidet, der geschaffenen und vergänglichen Welt einen ewigen Gott-Schöpfer gegenüberstellt. Zu dieser dualistischen Weltanschauung verhalten sich sowohl Materialismus wie Idealismus als Monismus […]«.43 Deshalb machte sich Strauß für ein Bündnis von Idealismus und Materialismus, Philosophie und Naturwissenschaft stark, um gemeinsam den Dualismus zu bekämpfen. Einen selbstbewußten, persönlichen Schöpfer vor und außer der Welt, der diese kraft seines freien Willens geschaffen und zweckvoll geordnet hat, lehnte Strauß ab. Wenn er gleichwohl von einem Weltzweck rede, so meine er damit nur das, was man als das allgemeine Ergebnis des Zusammenspiels der in der Welt wirksamen Kräfte zu erkennen glaube. 41 42 43

Ebd., 138. Ebd., 143. Ebd., 148.

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Strauß stimmte so letztlich mit Haeckels monistischer Weiterbildung der Evolutionslehre Darwins überein, in der er einen entscheidenden Schritt zur Überwindung des christlichen dualistischen Weltbildes sah. Doch Strauß verteidigte Darwin und Haeckel als ein der protestantischen Orthodoxie entfremdeter theologischer einstiger Hegelianer. Konservative Lutheraner wie Christoph Ernst Luthardt und Otto Zöckler lehnten Darwin hingegen rundweg ab. Zöckler begreift in seiner 1877 erschienenen Geschichte der Beziehung zwischen Theologie und Naturwissenschaft den Darwinismus als eine Zeitkrankheit, als eines jener chronischen Übel, wie sie schon oft in Gestalt einseitiger Systeme das geistige Leben heimgesucht haben. Allerdings grenzt er Darwin selbst vom Darwinismus ab, wobei er an Darwin positiv nur die Zurückhaltung hinsichtlich des Anfangs des organischen Lebens wertet. »Ein gewisses Zurechtbestehen der Anschauungen zwar nicht der arg zerfahrenen darwinistischen Schule, wohl aber Darwins selbst und derjenigen seiner Anhänger, die ein göttliches Erschaffensein der allerersten Organismen nicht leugnen, können wir also hinsichtlich jener ersten und grundlegenden Frage nach den Anfängen des Lebens einräumen.«44 Die genealogische Herleitung der Arten aus gemeinsamen Urformen lehnte Zöckler genauso vehement ab, wie er die Sonderstellung des Menschen herausstellt. Der schlichten Aussage der Genesis, daß Adam aus Erde und göttlichem Odem gebildet sei, sei immer noch der Vorzug zu geben vor der Abstammungslehre. »Die Theologie bedarf fürs Erste noch keiner specieller formulirten Concordanz dessen, was sie bezüglich des Menschenursprungs glaubt, mit dem, was naturwissenschaftlicherseits eben hierüber gemuthmaßt wird.«45 Für den biblisch bezeugten und dogmatisch unaufgebbaren Monogenismus konnte sich Zöckler dann wieder auf Darwin berufen.46 In seinem Artikel Mensch, den er 1903 für die Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche schrieb, grenzte er sich aber noch einmal dezidiert von der Abstammungslehre ab und bezeichnet sie als »eine vorzugsweise unter pathologischem Gesichtspunkte zu beurteilende Kette von gleißenden Scheinargumenten und phantasievollen Trugschlüssen […]«.47 Es lasse sich auch naturwissenschaftlich beweisen, daß zwischen Tier und Mensch ein radikaler Unterschied bestehe. Um die biblische Auffassung vom fast sechstausendjährigen Alter der Menschheit zu verteidigen, einer mit der Annahme der Ureinheit der Menschheit und der Ausbildung der schroffen Rassenunterschiede nur schwer vereinbaren kurzen

44

O. Zöckler, Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft mit besonderer Rücksicht auf Schöpfungsgeschichte, Bd. 2, Gütersloh 1879, 730. 45 Ebd., 753. 46 Ebd., 779. 47 O. Zöckler, Mensch, in: RE, Bd. 12, Leipzig 31903, 618 f.

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Dauer, scheute sich Zöckler nicht, auf die zertrennende Wirkung der Sünde hinzuweisen.48 Zöckler ist der Repräsentant einer konservativen theologischen Apologetik, und die negativen Stimmen zu Darwins Evolutionslehre aus diesem Lager lassen sich mühelos vermehren. Am prominentesten neben Zöckler war Luthardt, der 1864 in Leipzig Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christentums hielt, die 1897 bereits in zwölfter bis vierzehnter Auflage erschienen. Auch Luthardt wandte sich entschieden gegen Darwins Abstammungslehre und hielt sie für unvereinbar mit dem Schöpfungsbericht, verkenne sie doch den spezifischen Unterschied der bewußten und vernünftigen Persönlichkeit von allen anderen irdischen Kreaturen. »Sind wir wirklich so weit gekommen, allen Ernstes die Frage behandeln zu sollen, ob zwischen dem Menschen und dem Thier ein wesentlicher Unterschied stattfindet? Ist nicht diese Thatsache selbst, daß man diese Frage nur aufwerfen kann, der schlagendste Beweis für diesen Unterschied? Diese große Verirrung des menschlichen Geistes wäre nicht möglich, wenn nicht der menschliche Geist so hoch gestellt und so frei in seinem Gedankenleben wäre, daß er bis zu einer solchen Thorheit herabsinken könnte.«49 Die geistige Tätigkeit des Menschen war Luthardt bereits der Beweis für die schöpfungsmäßige Artverschiedenheit zwischen Mensch und Tier. Der Mensch gehöre ins Himmelreich, das Tier hingegen nicht.50 Er berief sich auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht, um gegen Darwin die Konstanz der Arten zu begründen. Luthardt betrachtete die Bibel auch in ihren Aussagen über Erschaffung der Arten durch Gott als eine Qelle, die durch die Beobachtung bestätigt werde, während der Vorwurf gegen den Darwinismus lautete, daß er nicht konsequent empirisch verfahre. Daher könne es zwischen Schöpfungstheologie und Naturwissenschaft eigentlich keinen Konflikt geben, wenn nur die Naturwissenschaft die ihr gesteckten Grenzen nicht überschreite. Selbst wo konservative Apologeten wie der konservative Tübinger Systematiker Robert Kübel zwischen der zeitbedingten wissenschaftlichen Form und dem unveräußerlichen theologischen Gehalt des biblischen Schöpfungsberichts unterschieden, meinten sie doch, der Schöpfungsbericht gebe Auskunft über das erste Werden, während die Naturwissenschaft es mit der Entwicklung des so Gewordenen zu tun habe.51 Und Kübel ließ auch keinen Zweifel daran, daß die 48

Ebd., 624. Vgl. G. Altner, Schöpfungsglaube und Entwicklungsgedanke in der protestantischen Theologie zwischen Ernst Haeckel und Teilhard de Chardin, Zürich 1965; J. Hübner, Theologie und biologische Entwicklungslehre, München 1966. 49 C. E. Luthardt, Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christentums, Leipzig 12-141897, 85. 50 Ebd., 86. 51 R. Kübel, Apologetik, in: Handbuch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Darstellung, hrsg. von O. Zöckler, Bd. 3, München ²1883, 245.

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Aussagen der Genesis über die unmittelbare Erschaffung des Menschen durch Gott unbedingte Geltung beanspruchen. Wenn nämlich der Geist des Menschen eine aus Gott stammende Lebenskraft sei, dann sei es »unabweisliche Konsequenz, auch den Ursprung des Menschen, speziell des ersten Menschen als spezifische Gottesthat, nicht als Resultat bloß innerweltlicher Entwicklung zu denken. Eine spezifische Gottesthat aber heißt s. v. a. unmittelbares, persönliches Eingreifen Gottes ad hoc; und wie dieses soll auf entsprechendere Weise anschaulich gemacht werden können, als es die Erzählung der Genesis thut […], ist nicht abzusehen.«52

IV. Naturalistische und religiöse Weltsicht Neben der abweisenden Haltung der konservativen Apologetik gegenüber der Evolutionslehre Darwins gab es in der protestantischen Theologie auch den Versuch, ihr ein begrenztes Recht zuzugestehen. In diesem Sinne sprach sich 1873 der liberale Zürcher Theologe Heinrich Lang in seiner Schrift Die Religion im Zeitalter Darwins aus, der meinte, daß die Religion weder die Naturwissenschaft in ihrer freien Forschung beschränken noch sich durch die Naturwissenschaft in ihrem Eigenrecht beeinträchtigen lassen dürfe. Zudem weise die Religion selbst auf die Einheit der beiden unterschiedlichen Sphären von Natur und Geist in Gott hin. Der Zoologe Georg Jaeger unternahm in seiner 1869 erschienenen Schrift Die Darwin’sche Theorie und ihre Stellung zu Moral und Religion sogar den Versuch, darwinistische Ethik und biblisches Christentum miteinander zu verbinden. Keineswegs ziehe Darwins Abstammungslehre den Menschen auf die Stufe der Tiere hinab, vielmehr bringe sie den trotz der Artverwandtschaft bestehenden Unterschied zwischen Mensch und Tier erst voll zur Geltung. Aufgabe der Moral aber sei es, diesen Unterschied zu einem Gegensatz fortzubilden und so dem Herrschaftsauftrag des Schöpfungsberichts Folge zu leisten. Auch der Jenenser Theologe Bernhard Pünjer hielt in seinem 1877 publizierten Aufsatz Über das Verhältnis des Darwinismus zu Religion und Sittlichkeit die Erklärung des Ursprungs des Menschen durch Darwins Abstammungslehre für theologisch akzeptabel.53 Den umfassendsten Versuch, Schöpfungstheologie und Abstammungslehre miteinander zu verbinden, unternahm Rudolf Schmid in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Werk Die Darwin’schen Theorien und ihre Stellung zur Philosophie, Religion und Moral, das 1883 ins Englische übersetzt wurde. Schmid vertrat einen Standpunkt, »auf welchem 52

Ebd., 252. B. Pünjer, Über das Verhältnis des Darwinismus zu Religion und Sittlichkeit, in: Jahrbücher für protestantische Theologie (1877), 59 ff. 53

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nicht nur die unbedingteste Freiheit des Forschens und die rückhaltloseste Anerkennung seiner Resultate mit der unverkümmerten Pflege unseres gesamten religiösen Besitzstandes in völligem Frieden lebt, sondern auf welchem jener Friede gerade dadurch erhalten und für immer gesichert wird, dass die eine Funktion des Geistes die andere direct verlangt […]«.54 Diese Unterscheidung von Naturwissenschaft und Religion hatte für Schmid zur Folge, daß dann, wenn eine Anschauung, deren Prüfung der Naturwissenschaft obliege, in die religiöse Anschauung aufgenommen worden sei, aus dieser entfernt werden müsse, wenn sie sich als naturwissenschaftlicher Irrtum erweise. Eine vergleichbare Bereitschaft der Korrektur verlangte Schmid von den Naturwissenschaften im Hinblick auf religiös-spekulative Anschauungen.55 Eine rein materialistische Deutung der Natur, wie sie von Büchner und Haeckel vertreten wurde, lehnte er zwar ab. Aber er war davon überzeugt, Darwin in keiner Weise zu widersprechen, wenn er den natürlichen Kausalzusammenhang teleologisch und theistisch interpretierte. Danach liegt der Natur ein Plan zugrunde, der den Geist über den Stoff siegen läßt. »Trägerin dieses Planes wäre die Gesammtheit der auf den Organismus von aussen wirkenden Kräfte und Umstände. Auf die Frage aber, woher nun dieser Plan und seine Verwirklichung komme, hätten wir doch nur wider die eine Antwort: von einer höchsten Intelligenz und Allmacht, vom persönlichen Gott des Theismus.«56 Dagegen hielt Schmid Religion und Theismus für bedroht durch die Behauptung von materialistisch orientierten Darwinisten, »die Existenz von Zwecken und Zielen in der Natur sei durch die Entwicklungstheorie […] widerlegt […]«.57 Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Schmid in seiner 1906 erschienenen und gleichfalls sofort ins Englische übertragenen Schrift Das naturwissenschaftliche Glaubensbekenntnis eines Theologen die Rückkehr von vitalistischen Naturforschern zur Anerkennung eines teleologisch wirkenden Prinzips begrüßte.58 Zwar unterschieden Albrecht Ritschl und seine Schüler die Religion scharf von Metaphysik und Naturwissenschaft und bezogen sie positiv auf die Moral und Sittlichkeit. Auch der Schöpfungsglaube erhielt so wie schon bei Kant eine moralische Bedeutung. Die Erschaffung der Natur durch Gott hat für Ritschl »den Werth einer relativen Nothwendigkeit, nämlich derjenigen des Mittels zu dem vorläufig gesetzten Zweck der Hervorbringung einer Vielheit

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R. Schmid, Die Darwin’schen Theorien und ihre Stellung zur Philosophie, Religion und Moral, Stuttgart 1876, VI f. 55 Ebd., 236 f. 56 Ebd., 256 f. 57 Ebd., 268. 58 R. Schmid, Das naturwissenschaftliche Glaubensbekenntnis eines Theologen, Stuttgart 1906, 79 f.

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von Gott gleichartigen Geistern […] Die gesammte Welt also ist aus dieser Rücksicht, als die Bedingung des moralischen Reiches der geschaffenen Geister, durchaus Schöpfung Gottes zu diesem Zweck.«59 Diese Unterordnung der Natur unter einen moralischen Endzweck führte Max Reischle in seinen Ausführungen über Christentum und Entwicklungsgedanke von 1898 dazu, der Evolutionstheorie die Bedingung vorzuzeichnen, unter der allein sie mit dem christlichen Glauben vereinbar sei, daß sie sich nämlich in einen teleologischen Zusammenhang einfügen lasse. Denn »wenn die Entwicklungstheorie friedlich mit dem christlichen Glauben zusammenleben will, unterliegt sie vor allem der Bedingung, daß sie sich auf jene für sie selbst unlösbare Frage die Antwort gefallen lasse: die Entwicklung ist nicht bloß eine gesetzmäßig notwendige brutale Thatsache, sondern in ihrer kausalen Bedingtheit zugleich Verwirklichung eines göttlichen Zwecks, der zwar letztes Ziel, aber als solches zugleich von Anfang an für die Ursachenordnung bestimmend ist […]«.60 Das Christentum fordere für das Gebiet der Natur, daß der empiristische Entwicklungsbegriff, mit dem die Naturwissenschaft arbeite, dem idealistischen ein- und untergeordnet werde. Der Entwicklungsgedanke kann daher Reischle zufolge nur insofern aufgenommen werden, als die Natur als stufenweise Entfaltung göttlicher Zweckgedanken aufgefaßt wird. Das bedeutete für ihn aber zugleich, daß die Theologie die derzeitige Evolutionstheorie Darwins direkt aufnehmen könne. In ähnlicher Weise lehnte Julius Kaftan den Darwinismus als naturalistische Weltanschauung ab. Denn erklärt sei mit Darwins Entwicklungsgedanken noch nichts; »was wir vor uns hätten, wäre eine allerdings wohl geordnete, unübersehbare Folge thatsächlicher Vorgänge, die des erklärenden Worts harrte. Das erklärende Wort könnte aber nur ein Zweckgedanke sein und als dessen Korrelat eine das Weltall und auch unsere Erde beherrschende geistige Kraft […] Der christliche Glaube aber giebt uns dieses letzte Wort und damit eine Erkenntniss, in und mit der, was die Entwicklungslehre uns irgend und jemals bieten kann, erst zu einem Ganzen wird […]«.61 Die Abwehr einer durch Darwins Evolutionstheorie gestützten rein naturalistischen Weltsicht war das Hauptanliegen der deutschen protestantischen Theologie um 1900. Das läßt sich gerade an jenen beiden Arbeiten verdeutlichen, die sich am eingehendsten mit dem Entwicklungsgedanken auseinandersetzen: an dem 1909 erschienenen Werk Der Entwicklungsgedanke und das Christentum des Wiener Theologen Karl Beth und an Rudolf Ottos

59

A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3, Bonn 41895, 266. 60 M. Reischle, Christentum und Entwicklungsgedanke, in: Hefte zur Christlichen Welt 31, Leipzig 1898, 16. 61 J. Kaftan, Dogmatik, Tübingen 5-61909, 376.

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Buch Naturalistische und religiöse Weltsicht von 1904. Auch Otto ging von dem grundsätzlichen Unterschied zwischen naturalistischer und religiöser Betrachtung der Welt aus. Während erstere die Natur nur immanent nach dem Gesetz der Kausalität erkläre, gehe die Religion von Zwecken aus, die sich in der Natur realisieren und die ihren Grund in Gott haben. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung gelangte Otto zwar zu einer Ablehnung des Darwinismus, aber zu einer Anerkennung des Entwicklungsgedankens. Gerade weil Darwin die Entwicklung als zufällig und nicht als zweckgerichtet ansah, mußte Otto ihn kritisieren. Denn »erst dadurch ist sie ausgesprochen antitheologisch, dass sie antiteleologisch ist […].«62 Daher unterschied Otto scharf zwischen der spezifischen Evolutionstheorie Darwins, die die Entwicklung als Abstammung faßt und durch natürliche Zuchtwahl erklärt, und dem Entwicklungsgedanken als solchen, dessen sich Leibniz und Kant ebenso bedient hätten wie Goethe, Schelling und Hegel, um Einheit und Zusammenhang der Natur zu erklären. »Der Idee und dem Wesen nach ist jede höhere Stufe eine Entwicklung, eine völligere Entfaltung dessen, was auf niederer Stufe, und schliesslich der Mensch die volle Verwirklichung dessen, was schon auf unterster Stufe in der Potenz gesetzt war […]«.63 Die nächsthöhere Stufe bringe jeweils das zur Entfaltung, was potentiell in der niederen Stufe angelegt sei, wobei das Neue und die spezifische Eigentümlichkeit der höheren Stufe keineswegs verneint werde. Die Entwicklung stelle sich so dar als ein schöpferisches Umgestalten. Damit grenzte sich Otto von der Deszendenztheorie ab, die davon ausgehe, daß jede höhere Stufe aus der niederen deszendiere, von ihr abstamme. Die Abstammungslehre ist »eine nebensächliche Begleiterin jener Fragen und Probleme, die durch den Gedanken der Evolution überhaupt gestellt sind, die ohne Darwin in unserer Mitte sein würden, die durch zoologische Einsichten nicht erleichtert und nicht erschwert werden können, und die, wenn sie erledigt werden, die Schwierigkeiten von seiten der Deszendenzlehre sogleich mit erledigen […].«64 Gegenüber der nichtteleologischen Erklärung der Evolution mit Hilfe der Abstammungslehre mußte Otto der Neolamarckianismus und Vitalismus der Jahrhundertwende als begrüßenswert erscheinen. Denn der Neolamarckianismus lehre statt der stupiden passiven Anpassung durch das Sieb der Auslese eine wirkliche Selbstanpassung des Lebendigen an seine Existenzbedingungen.65 Und ähnlich verdienstvoll erschien Otto der Vitalismus eines Driesch, der der religiösen Weltansicht hilft, sich aus der materialistischen Umklammerung zu befreien. »Dasselbe, was einerseits ein Gefüge von Ursachen und Wirkungen 62 63 64 65

R. Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 31929, 107. Ebd., 98. Ebd., 102 f. Ebd., 130.

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ist, wird von innen her verständlich als eine Ordnung von Zwecken und Mitteln. Zwecke, Entelechien, Ideen herrschen und bestimmen den Ablauf […]«.66 Die natürliche Welt sei somit ein zweckgeleiteter Entwicklungsprozeß, der im bewußt wollenden Dasein kulminiere. Und die religiöse Weltansicht füge dem hinzu, daß es Gott sei, der die Welt als Wille zum Geist setze. Das andächtige religiöse Bewußtsein, das sich seiner schlechthinnigen Abhängigkeit bewußt sei, bekenne andächtig von der Welt: Gott »baue sie nicht als fertige, sondern als werdende. Er baue sie nicht wie ein Haus, sondern pflanze sie wie eine Blume im Samenkorne, damit sie wachse von Stufe zu Stufe zu vollerem Dasein sich aufringe, wo sie, im kreatürlichen Abbilde, im freien und vernünftigen der Persönlichkeit fähigen Geiste ihren Daseinszweck verwirkliche […]«.67 Ebenso wie Otto sah sich auch Beth durch den Neolamarckianismus und Vitalismus um 1900 in seiner Kritik am Darwinismus bestätigt. Er wandte sich nicht nur gegen die Weiterbildung der Evolutionstheorie Darwins zum Monismus bei Haeckel, sondern ebensosehr gegen Darwins eigene Selektionstheorie, da sie den Zufall zum Prinzip des Fortschritts erhoben habe.68 »Da nun aber ausser Frage steht, dass die Theorie des Zufalls und der Zwecklosigkeit alles Geschehens der religiösen Weltbetrachtung stracks widerspricht, so steht für uns jedenfalls das eine vor der Hand fest, dass wir mit dem Bekenntnis zum Christentum zugleich die Ablehnung der jüngeren, antiteleologischen Form der Entwicklungsidee aussprechen.«69 Beth wandte sich grundsätzlich gegen die kausale Erklärung der Evolution und die kausale Methode in der Biologie, die nur nach Ursachen und Gesetzmäßigkeiten, nicht aber nach Zwecken frage. Aber: »Seitdem man sich in der Biologie selbst nicht mehr von dem Phantasma der Selektionshypothese gängeln läßt und einsieht, dass durch diese der Zufall nur gewaltsam an die Stelle des Zweckes gesetzt wird, ist auch die Abstammungslehre in der Lage, für die teleologische Weltauffassung zu zeugen.«70 Um seinen teleologischen Entwicklungsgedanken von demjenigen Darwins und seiner Anhänger abzugrenzen, unterschied Beth terminologisch zwischen Entfaltung und Entwicklung. Entfaltung sei gleichbedeutend mit Evolution im Sinne der geradlinigen Ausprägung des mit einer Keimanlage gesetzten Typus, Entwicklung meine hingegen nicht Präformation, sondern Epigenese. Beths eigener teleologischer Entwicklungsgedanke erneuerte letztlich den Entwicklungsgedanken Herders.71 Danach ist die natürliche Welt eine Schöpfung Got-

66 67 68 69 70 71

Ebd., 210. Ebd., 282. K. Beth, Der Entwicklungsgedanke und das Christentum, Berlin 1909, 25. Ebd., 33. Ebd., 95. Ebd., 14 ff.

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tes, die sich zweckmäßig auf den Menschen hin entwickelt. »Die Absicht, die Gott mit der Weltschöpfung hatte, war von Anfang an die und konnte keine andere sein als die, dass die vernünftige Kreatur ihre geistig-ethische Wirksamkeit entfalte nach dem Bilde Gottes.«72 Die Schöpfung ist daher für Beth identisch mit Entwicklung, die er beide als unmittelbares göttliches Tun faßte. Denn nur die Welt, die auf persönlicher Vernunft gründe, könne die persönliche Vernunft erzeugen.

Schluß 1899 legte Haeckel in seinem Buch Die Welträtsel eine auf Darwins Evolutionslehre basierende geschlossene Weltsicht vor, die die Entstehung der anorganischen und organischen Natur rein mechanisch, unter Ausschaltung aller Teleologie erklärte. An die Stelle des zwecksetzenden transzendenten Schöpfers rückte er den mit der Natur und ihrem Kausalgesetz identischen Gott, so daß er den Monismus schon 1892 als Band zwischen Religion und Wissenschaft bezeichnen konnte.73 Geleitet durch Induktion und Deduktion gelange die menschliche Vernunft zur Lösung der vermeintlichen Welträtsel und zur wahren Naturerkenntnis, zu der die Offenbarung nichts beitrage. Mit der Gründung des Deutschen Monistenbundes 1906 durch Haeckel und den Bremer Pfarrer Albert Kalthoff gab sich die monistische Weltanschauung und Religion auch eine kirchenkritische institutionelle Gestalt. Als Reaktion darauf gründete im folgenden Jahr Erich Dennert den Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis, der dem Monismus Befangenheit in materialistischen Dogmen und atheistische Propaganda vorwarf. Dennert hatte bereits zuvor mit seiner Kritik am Darwinismus nicht zurückgehalten. 1901 erschien Die Wahrheit über Haeckel und die Welträtsel, 1904 Bibel und Naturwissenschaft und 1905 / 06 in zwei Bänden Vom Sterbelager des Darwinismus. Dennert sah drei Lücken, an denen die naturwissenschaftliche Forschung versage und wo sie auf den Glauben angewiesen sei: den ersten Anfang der kausalmechanischen Bewegung, das erste Auftreten der Organismen und das erste Auftreten des menschlichen Geisteslebens. Vor allem die Zielstrebigkeit der Organismen lasse nur zwei Erklärungen zu, den Zufall oder die göttliche Leitung. »Wenn man aber sieht, daß die Entwicklung zu einer großartigen Zweckmäßigkeit und Harmonie führte, so ist es doch nicht schwer zu entscheiden, auf welcher Seite die größere Wahrscheinlichkeit liegt […]«.74 72 73

Ebd., 155. Vgl. E. Troeltsch, Ernst Haeckel als Philosoph, in: Die Christliche Welt (1900),

152 ff. 74

E. Dennert, Das Weltbild im Wandel der Zeit, Hamburg 1909, 73.

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Die Kritik an Darwin überwog in der deutschen Theologie des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts die positive Rezeption der Entwicklungslehre. Darin unterschied sich die deutsche Theologie von der Theologie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, die zwar auch den Vorrang der teleologischen Auffassung der Schöpfung betonte, aber Darwins Entwicklungslehre in sie zu integrieren vermochte. Als zwischen 1910 und 1915 zwölf Bände unter dem Titel The Fundamentals erschienen, fand sich in ihnen auch der Beitrag The passing of evolution von George Frederick Wright. Er wies dort zwar alle atheistischen und agnostischen Versionen der Evolutionslehre Darwins zurück, hielt aber ansonsten an Darwin fest, indem er ihn teleologisch interpretierte. »Indeed, if it should be proved that species have developed from others of a lower order, as varieties are supposed to have done, it would strengthen rather than weaken the standard argument from design […]«.75 Trotz der begrifflichen Nähe zum Fundamentalismus gehörte die Kritik an Darwins Evolutionstheorie im Namen eines biblischen Schöpfungsglaubens keineswegs zu den Zielen der Fundamentals. Der fundamentalistische Kreuzzug gegen Darwin und den Darwinismus setzte in den Vereinigten Staaten vielmehr erst nach dem ersten Weltkrieg ein. Erst während dieser Zeit tauchten Buchtitel auf wie The Great Conflict. The Bible versus Evolution, das Grant Christman 1923 publizierte, und erst jetzt kam es zu den zahllosen Prozessen, in denen sich biblizistische Kreationisten und Anhänger der Evolutionslehre Darwins gegenüberstanden.

75

G. F. Wright, The passing of evolution, in: The Fundamentals, Chicago 1910–15, Bd. 7, 10.

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Zwischen Funktion und Telos. Evolutionistische Naturästhetik bei Haeckel, Wallace und Darwin

Schön ist alles, »was durch seine Form Wohlgefallen erregt« – so bringt der Brockhaus 1895 den Grundbegriff der Ästhetik in der kantischen Tradition des »interesselosen Wohlgefallens« dem breiten Publikum nahe. Nach diesem Verständnis bezeichnet die Ästhetik ein eigenständiges Gebiet der Wahrnehmung, in dem Schönheit jenseits funktionaler Einbindungen als Selbstzweck figuriert. So unterscheide sich das Schöne vom Nützlichen dadurch, »daß es keine Zwecke verfolgt, die außerhalb des schönen Gegenstandes liegen, von dem Angenehmen dadurch, daß seine Wirkung über das bloß sinnliche Behagen hinausgeht, von dem Wahren dadurch, daß es nicht durch begriffliches Denken, sondern durch unmittelbare Anschauung erfaßt wird«.1 Was in dieser Definition nicht zur Geltung kommt, ist die gegenläufige Bestimmung des Schönen seitens des Evolutionismus, der zeitgleich Deutungsansprüche im Feld der Ästhetik erhob, die bis heute in immer elaborierteren Formen präsentiert werden. Ihrem Kern nach bestimmt die evolutionäre Ästhetik Schönheit gerade in Relation zu Nutzen, sinnlichem Behagen und Wissen über die Natur: Als Anzeichen der biologischen Fitneß von Geschlechtspartnern rufe sie im Betrachter ein Lustgefühl hervor und sei funktional mit dem Fortpflanzungserfolg im Kampf ums Dasein verbunden; die adaptive Funktionalität ästhetischer Wahrnehmung erkläre, warum Schönes entstehe und als schön empfunden werde. So gebe das Naturschöne den Blick auf die eigentliche Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten frei. Die Frage nach dem Naturschönen verhandelten prominente Autoren wie Charles Darwin, Alfred Russell Wallace und Ernst Haeckel ihrem Selbstverständnis nach auf der kausalen Basis der Selektionstheorie. Sie wandten sich gegen das Design-Argument, den naturtheologischen Analogieschluß von der Schönheit, Harmonie und Ordnung der Natur auf die Existenz Gottes, der die Diskussionen um das Naturschöne vor Erscheinen des Origin of Species bestimmt hatte. Jenseits des Dualismus zwischen Gott und Natur jedoch hielten sich wesentliche Elemente dieser Denktradition durch. 1856 schloß Thomas Henry Huxley aus der Schönheit und harmonischen Vielfalt der Natur, »that the aesthetic faculties of the human soul have also been foreshadowed in the Infinite Mind«.2 Auch Haeckels frühe Äußerungen zur ästhetischen Naturer1 2

Brockhaus’ Konversations-Lexikon, 16 Bde., Leipzig u. a. 141895, 579. Th. H. Huxley, On Natural History, as Knowledge, Discipline and Power (1856), in:

Zwischen Funktion und Telos

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fahrung lassen sich eindeutig naturtheologischen Denkmustern zuordnen: Er betonte die Nachahmungswürdigkeit der Natur und hob hervor, wie »unendlich weit« menschliche Kunstwerke hinter dem »ersten, einfachen Kunstwerk der Natur, hinter dem wundervollen, mit Schönheiten und der höchsten Weisheit des schöpferischen Gedankens überschütteten Bau eines Insekts, eines Wurmes«3 zurückblieben. Damit verknüpfte er die Schönheit der Natur mit ihrem Verweischarakter auf den göttlichen Weltenschöpfer. Scharf wandte sich der junge Haeckel gegen den »Materialisten« Carl Vogt, der an die Stelle Gottes »eine blinde, bewußtlose Naturnotwendigkeit«4 gesetzt habe. Diese Abwehr der Idee eines blinden, kontingenten Naturgeschehens bildete auch nach 1859 ein zentrales Moment zahlreicher evolutionärer Begründungen des Naturschönen, die die transzendente Harmonie, Ordnung und Zweckmäßigkeit in die Natur hineinverlegten und mit der Idee des sinnhaften Naturganzen eher das »Band zwischen Religion und Wissenschaft« festigten, als es im »Kampf um den Entwicklungsgedanken« zu zerschneiden.5 Vor allem die von Wallace und Haekkel vorgelegten naturästhetischen Konzepte verdeutlichen die Abhängigkeit der evolutionären Ästhetik von naturtheologischen und naturromantischen Denkfiguren. Wie die folgenden Überlegungen zeigen sollen, sollte daher gerade im Bereich der Naturästhetik die Rede von dem »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«6 mit Vorsicht betrachtet werden.

M. Foster / E. R. Lankester (Hg.), The Scientific Memoirs of Thomas Henry Huxley, 5 Bde., London 1898–1903, Bd. 1 (1899), 311 f.; vgl. Ph. C. Ritterbush, The Art of Organic Forms, Washington 1968, 55–62; M. J. Kottler, Darwin, Wallace, and the Origin of Sexual Dimorphism, in: Proceedings of the American Philosophical Society 124 / 3 (Juni 1980), 203–226, 205. Stellvertretend für das Design-Argument vgl. W. Paley, Natural Theology, 2 Bde., London 1836. 3 E. Haeckel, Italienfahrt. Briefe an die Braut. 1859 / 1860, hrsg. von H. Schmidt, Leipzig 1921, 5 (16. 02. 1859). Innerhalb der monistischen Bewegung finden sich auch später noch eindeutig naturtheologische Argumentationen, etwa bei A. N. Böhner, Monismus. Die Naturwunder in ihrer Einheit mit dem Leben des Geistes nach den großen Entdeckungen der Neuzeit, Gütersloh 1889, der im Kapitel vom »Einklang des Schönen und Erhabenen im Reiche der Natur mit dem Adel des menschlichen Geistes« (ebd., 11) schreibt: »Das Weltall ist im großen, wie auch im kleinen der Schauplatz der Allmacht, Weisheit und Güte Gottes.« 4 E. Haeckel, Italienfahrt. Briefe an die Braut, a. a. O., 144 (17. 06. 1855). 5 Vgl. E. Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, Bonn 1892; ders., Der Kampf um den Entwicklungsgedanken, Berlin 1905. Der sinnhafte Charakter des Naturganzen konnte mittels Darwins Idee des einheitlichen Entwicklungszusammenhangs integriert werden: vgl. Ders., Die Radiolarien, Berlin 1862, 231 f. 6 K. Löwith, Von Hegel bis Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt / M. 1969. Vgl. bes. P. J. Bowler, The Non-Darwinian Revolution. Reinterpreting a Historical Myth, Baltimore / London ²1992.

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I. Kunsttrieb und Naturgesetz In Haeckels Morphologie des Schönen vereinen sich funktionalistische und naturteleologische Argumentationen. Seine Promorphologie, die Lehre von den morphologischen Grundformen, qualifizierte »reine und vollkommene« Formen als die der mathematisch-geometrischen Grundform der Kugel am nächsten kommenden.7 Die Radiolarien, die seit seinen meereszoologischen Studien der 1850er und 1860er Jahren einen hervorragenden Platz in Haeckels wissenschaftlicher Arbeit einnahmen, fungierten für ihn und seine monistischen Anhänger als naturästhetische Musterorganismen, die die allen natürlichen Formen zugrunde liegenden »idealen Symmetrie-Gesetze« der »reinen und vollkommenen Form« anschaulich machten und so die Einheit der organischen Natur belegten.8 Da die ideale Kugelform auch von anorganischen Flüssigkeiten eingenommen werde, demonstriere die morphologische Gleichheit der perfekten Form der Materie darüber hinaus die Einheit der anorganischen und der organischen Welt. Gewissermaßen als Materie gewordene mathematische Idee bildeten die Radiolarien – neben der Leben schaffenden Eizelle – »alle verschiedenen Grundformen, welche man im geometrischen System unterscheiden und mathematisch definieren kann«.9 Mit den Radiolarien schienen empirische Beispiele gefunden, die Goethes Idee des idealen Urtyps10 in der Empirie verankerten. Als Repräsentanten dieser idealen Grundform waren sie dazu geeignet, den Blick des Betrachters auf die hinter ihnen liegende Wahrheit »idealer Symmetrie-Gesetze« zu lenken und so letztlich ein Naturgesetz der harmonischen Form und Ordnung zu beweisen: Im Naturschönen

7

E. Haeckel, Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträtsel, Stuttgart 1904, 202 u. 198; Ders., Die Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen- Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenz-Theorie, 2 Bde., Berlin 1866, Bd. 1, 375–574; vgl. E. Krauße, Haeckel: Promorphologie und ›evolutionistische‹ ästhetische Theorie – Konzept und Wirkung, in: E.-M. Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1995, 347–394. 8 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 196, 202. Zum Vergleich der Radiolarien mit dem Kunstschönen vgl. K. Bayertz, Die Deszendenz des Schönen. Darwinisierende Ästhetik im Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: K. Bohnen (Hg.), Fin de Siècle. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext, Kopenhagen / München 1984, 88–110. 9 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 197; vgl. E. Haeckel, Die Natur als Künstlerin. Nebst: Dr. W. Breitenbach, Formenschatz der Schöpfung, Berlin 1913, 12. 10 Vgl. J. W. von Goethe, Vorträge über die ersten drei Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie (1796), in: Ders., Die Schriften zur Naturwissenschaft, hrsg. von D. Kuhn, Weimar 1954, Bde. 9 / 10.

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artikuliere sich das »Naturgesetz des Fortschritts« oder der »fortschreitenden Harmonisierung«.11 Die Existenz eines solchen Gesetzes, in dem das Einzelne und das Ganze der Natur sowie deren empirische und ästhetische Erkenntnisformen zur Dekkung kommen, hatte auch der Mathematiker Adolf Zeising postuliert, auf den Haeckel sich ausdrücklich bezieht. Dieser nahm im Sinne der idealistischen Morphologie die Existenz eines morphologischen Urgesetzes an, eines Grundprinzips »aller nach Schönheit und Totalität drängenden Gestaltung« in Natur wie menschlichem Kunstschaffen. Es biete Aufschluß »über die fortschreitende Vervollkommnung und Stufenfolge der Tierformen«, erkläre »die systematische Konstruktion des Sonnensystems und die harmonische Gliederung des Weltgebäudes überhaupt« und liefere Beweise dafür, »wie die weltschöpferische Kraft mit den scheinbar geringfügigsten Mitteln die erhabensten und großartigsten Wirkungen zu Stande gebracht und aus dem Einen den Übergang ins unendlich Viele und Verschiedenartige gefunden hat«.12 In Anlehnung an Alexander von Humboldt betont Zeising, daß eine solche wissenschaftliche, namentlich mathematische Betrachtung der Natur und Kunst es erlaube, den Zauber der Natur aufrecht zu erhalten.13 11

Vgl. stellvertretend: E. Haeckel, Über die Entwicklungstheorie Darwin’s. Öffentlicher Vortrag in der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Stettin am 19. September 1863, in: Ders., Gemeinverständliche Werke, hrsg. von H. Schmidt, 6 Bde., Leipzig / Berlin 1924, Bd. V, 3–32, hier 28. Vgl. K. Bayertz, Deszendenz des Schönen, a. a. O., und A. Daum, Das versöhnende Element in der neuen Weltanschauung. Entwicklungsoptimismus, Naturästhetik und Harmoniedenken im populärwissenschaftlichen Diskurs der Naturkunde um 1900, in: V. Drehsen / W. Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, 203–215, 208 f. Zur naturgesetzlichen Harmonietendenz bei Gustav Theodor Fechner vgl. ders., Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, München 1998, 314. W. Boelsche, Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur, Leipzig 1901, 186 f., benannte ein »Naturgesetz des Ästhetischen«, ebenso C. Sterne, Natur und Kunst. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Kunst, Berlin 1891, 174–213. 12 A. Zeising, Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, Leipzig 1854, V, VI u. VII. Er führe hier Goethes Suche nach dem geheimen Gesetz des Urtyps fort (ebd., IIf.). 13 Vgl. A. von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., Stuttgart / Tübingen 1845–1862, Bd. 1, 14. Das ästhetische Gesetz verbürge, so Zeising, Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, a. a. O., V, die Einheit der Natur. Haeckels Gewährsmann Karl Wyneken, Der Aufbau der Form beim natürlichen Werden und künstlerischen Schaffen, Dresden 1904, 120, hob die Übereinstimmung in Bauplan und Proportionen von Organismen und Himmelskörpern, Organischem und Anorganischem hervor. Zum Zusammenhang des Naturgesetzes der Schönheit mit Goethes »geheimem Gesetz« vgl. E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. I, 46, 377; G. Uschmann, Der morphologische Vervollkommnungsbegriff bei Goethe und seine problemgeschichtlichen Zusammenhänge, Jena 1939, 69, 80 f.

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Hatte der kunstvolle Bau der Radiolarien den Schluß auf ein Naturgesetz des Ästhetischen nahe gelegt, nach dessen Vorgabe die Materie geformt wird, so stellte sich unmittelbar die Frage nach der Ursache der Entstehung natürlicher Formen. Hier stellt sich Haeckel gegen die Naturtheologie: Man dürfe nicht auf einen »weisen Schöpfer«14 oder auf eine bewußt wirkende Kraft rekurrieren, sondern müsse von mechanischen Wirkursachen ausgehen. Ähnlich führte auch Wallace die Formbildung auf natürliche Ursachen zurück, faßte sie als Ergebnis einer Organisation, »which has either been allowed free play, or has been checked and modified for the benefit of the species«.15 Wallace wie Haeckel verwarfen allerdings nur das absichtsvolle teleologische Wirken einer immateriellen Kraft, nicht aber eine progressive Naturentwicklung: Dualistischen Irrtümern könne man entgehen, so Haeckel, indem man das Wachstum und die lange Kette »von allmählich aufsteigenden Entwicklungsstufen« von den einfachsten Protisten zu den »höchst zusammengesetzten Organismen« beobachte.16 Die Rolle der Selektion für die Entstehung des Naturschönen gewichteten Haeckel, Wallace und Darwin dabei durchaus unterschiedlich: Darwin erklärte die Produktion des Schönen mittels der Mechanismen der natürlichen und sexuellen Selektion, wobei er bei der ersten Entstehung der Schönheit auch der zufälligen Variation einen Platz einräumte.17 Wie Darwin ging auch Wallace dabei von rudimentären natürlichen Anlagen zur Produktion von Schönheit aus,18 stellte aber die natürliche Selektion in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Deren Rolle schränkte er freilich hinsichtlich der menschlichen Kunstfertigkeit sogleich ein: Nur solche Fähigkeiten, die allen Individuen einer Spezies gleichermaßen zukämen, ließen sich mittels der natürlichen Selektion erklären, die menschliche Kunstfertigkeit aber existiere »only in a small proportion of individuals […]«.19 Wallace bot deshalb eine andere, eine Erklärung ›von oben‹ an: »These several developments of the artistic faculty […] are evidently outgrowths of the human intellect which have no immediate 14

E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 207. A. R. Wallace, Darwinism. An Exposition of the Theory of Natural Selection with some of it’s Applications, London 1889, 299. 16 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 209; vgl. ebd., 197; A. R. Wallace, Darwinism, a. a. O., 467. 17 Vgl. Ch. Darwin, The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (1871), Princeton 1981, 2 Bde., Bd. 2, 330–337; ders., Variation of Animals and Plants under Domestication, New York ²1899, Bd. 2, 47–51. Zum Zusammenspiel natürlicher und sexueller Selektion vgl., Ch. Darwin, The Descent of Man, Bd.1, 152 f. 18 Vgl. A. R. Wallace, Darwinism, a. a. O., 468. 19 Ebd., 470 f. Hierin unterschieden sich die Fähigkeiten des Menschen »widely from those which are essential to man, and are, for the most part, common to him and to the lower animals […].« 15

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influence on the survival of individuals or tribes […]«.20 Haeckel schließlich argumentierte insoweit funktionalistisch, als er die »unendlich mannigfaltigen Gestalten« der organischen Formbildung auf die Überlebensdienlichkeit idealer Grundformen zurückführte. So seien bei den höheren Tieren besonders deren »bilateral-symmetrische« Grundformen beherrschend, soweit sie sich frei bewegten. »Offenbar ist diese zeugitische Grundform unter allen verschiedenen denkbaren Formen die am meisten nützliche und praktische für die Fortbewegung des Körpers in einer bestimmten Haltung und Richtung; […] Daher sind auch seit Jahrtausenden alle künstlichen Bewegungs-Werkzeuge des Menschen […] nach derselben Grundform gebaut. Die Selektion hat sie als die zweckmäßigste und beste erkannt und beibehalten, während sie die übrigen verworfen hat.«21

Trotz aller seiner Polemiken gegen vitalistisch-teleologische Naturdeutungen bezog Haeckel jedoch einen universalen Kunsttrieb in seine Argumentation ein, der auf den »plastischen Zellinstinkt« zurückgehe.22 Entsprechend führte er über die Radiolarien aus: »Viele dieser Kunstformen sind […] den Produkten hochentwickelter menschlicher Kunst so ähnlich, daß man in beiden auf die Gleichheit des schöpferischen Kunsttriebes schließen könnte.«23 Diese und andere Aussagen Haeckels zeugen von einem unterschwelligen Vitalismus. Das Schöne gerät ihm, darauf hat Kurt Bayertz hingewiesen, zum »wahrnehmbaren Ausdruck eines aller Materie inhärenten ästhetischen Vermögens […]«.24 Schönheit ist demnach kein Epiphänomen organischer Entwicklung, sondern Telos eines naturimmanenten Kunsttriebs, der graduell von den niedersten Organismen bis hin zum Menschen am Werk ist. Es handelt sich um einen Bildungstrieb im Sinne eines Instinkts, der mit einem menschlichen Trieb der Wahrnehmung organischer Formbildung korrespondiert.25 Damit schloß 20

Ebd., 469. E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 203 f. 22 Vgl. E. Haeckel, Die Natur als Künstlerin, a. a. O., 10: Die Form werde »durch die plastische Tätigkeit des Plasmas bedingt.« Als Erklärung diente Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebensteilchen, ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwicklungsvorgänge, Berlin 1876. »Die merkwürdigste und prinzipiell wichtigste Tatsache ist dabei, daß die kunstreichen Baumeister dieser wundervollen, oft höchst zweckmäßig und verwickelt gebauten Kieselgebilde allein die Plastidule oder Biogene sind, die molekularen, mikroskopisch nicht sichtbaren Bestandteile des weichen, festflüssigen Plasma (Sarcode).« (E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 209). 23 E. Haeckel, Die Natur als Künstlerin, a. a. O., 12; Hervorheb. d. Verf. 24 K. Bayertz, Deszendenz des Schönen, a. a. O., 92. 25 Hier greift Haeckel eine Idee der idealistischen Morphologie auf: Es habe sich, so Goethe, im »wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren Teile im Zusam21

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Haeckel an Matthias Jacob Schleiden an, der die Natur als »große Künstlerin« beschrieb, der »wunderbare Verkettungen noch unbekannter Kräfte« zu Verfügung stünden, denen die Wissenschaft auf die Spur kommen werde.26 Die Idee des Kunsttriebs vereinte das erkenntnistheoretische Ideal des Erfassens des Naturganzen mit dem Gedanken der fortschreitenden Harmonisierung der Natur. Mit Humboldt hob der Monismus die Rolle der Natur als eigentliche Lehrmeisterin des Künstlers hervor27 und knüpfte an dessen Programm der komplementären Naturerkenntnis von Wissenschaft und Ästhetik an: Die ästhetische Naturwahrnehmung sichert die Aufmerksamkeit des Betrachters, die Wissenschaft legt die einzelnen Zeichen der Natur offen, so daß der Blick frei wird auf den Sinn der Natur als Ganzer.28 »Der Begriff eines Naturganzen, menhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufzunehmen, und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nahe dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhängt, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden.« (J. W. Goethe, Morphologie (1817), in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, durchges. u. komment. von D. Kuhn / R. Wankmüller, München 1981, Bd. XIII, 51–250, 55.) Vgl. E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. 1, 2. Zur idealistischen und evolutionären Morphologie vgl. R. J. Richards, The Meaning of Evolution. The Morphological Construction and Ideological Reconstruction of Darwin’s Theory, Chicago 1992. 26 M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr Leben. Populäre Vorträge. Mit 5 farbigen Tafeln und 13 Holzschnitten, Leipzig 1848, 38. Auch Gotthilf Heinrich von Schubert, Spiegel der Natur; ein Lesebuch zur Belehrung und Unterhaltung, Erlangen 1845, 60 f., stellte die Idee eines Kunsttriebs und eines auf die »ewige Natur« gerichteten göttlichen Antriebs im Menschen bereit; vgl. K. Wedekind, Die Frühprägung Ernst Haeckels, in: Wissenschaftliche Zeitschrift 25 / 2 (1976), 133–148. 27 Vgl. A. von Humboldt, Kosmos, a. a. O., Bd. 1, 28: »In der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältnis zum Ganzen, als Teil der Welterscheinung betrachtet […]«. Die Idee der Nachahmungswürdigkeit der Natur taucht bei den Monisten konstant auf: Als Künstlerin bringt die Natur gemäß dem naturhistorischen Prinzip der Fülle und dem »horror vacui« eine »unendliche« Zahl »wunderbarer« Gestalten hervor, vgl. E. Haeckel, Aus Insulinde. Malaiische Reisebriefe, in: Gemeinverständliche Werke, a. a. O., Bd. VI, 299–570, hier 424. Nicht umsonst trägt auch Wilhelm Breitenbachs Beitrag in der Natur als Künstlerin, a. a. O., 43–114, den Titel Formenschatz der Schöpfung. Auf die speziell evolutionistische Vorstellung der Kreativität der natura naturans hat Hans Blumenberg hingewiesen: ›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium Generale 10 / 5 (1957), 266–283, 274. 28 Vgl. E. Haeckel, Arabische Korallen. Ein Ausflug nach den Korallenbänken des Roten Meeres und ein Blick in das Leben der Korallentiere. Populäre Vorlesung mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Mit fünf Tafeln in Farbdruck und zwanzig Holzschnitten, Berlin 1875, 1: »Gerade unter diesen ausschließlich meerbewohnenden Tierklassen finden sich aber Lebensformen von allerhöchstem Interesse; teils fesseln sie durch die Schönheit ihrer Gestalten und Farben unser entzücktes Auge; teils erregen sie durch die merkwürdige Einrichtung ihres Körperbaus und ihrer Lebensverhältnisse unsere lebhafteste Wißbegier; teils üben sie durch ihre verwickelten ursächlichen Beziehungen zu einander und zum großen Naturganzen einen bestimmenden Einfluß auf unsere ganze philosophische Weltanschauung.«

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das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklangs im Kosmos werden um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen, die Gesamtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten«29, hatte Humboldt geschrieben. Als wohl prominenteste romantische Naturphilosophie darwinistischen Zuschnitts versuchte der Monismus, das »vernunftgemäße Begreifen des Universums«, das Humboldt als das von ihm selbst unerreichte »erhabene Ziel« der Naturphilosophie beschrieben hatte,30 zu realisieren. Die Naturschönheit verbürgte die Idee der geordneten Ganzheit des Natürlichen und beflügelte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Wahren. »Die unendliche Fülle verschiedener Gestalten, die uns im weiten Reiche des organischen Lebens entgegentritt, erfreut nicht nur unsere Sinne durch ihre Schönheit und Mannigfaltigkeit, sondern sie reizt auch unsere Wißbegierde, indem sie die Fragen nach ihren Ursachen und ihrem Zusammenhange anregt.«31

II. Urteil und Interesse Aus Ähnlichkeiten zwischen Natur- und Kunstschönem auf einen sich im Menschen vollendenden natürlichen Kunsttrieb zu schließen, ist ein gewagtes Unterfangen, denn hier wird evolutionäre Funktionalität mit Schönheit gleichgesetzt: Schön ist, was die Position im »Kampf ums Dasein« stützt – das Weibchen wählt das schönste Männchen.32 Erst so kann davon gesprochen werden, daß beispielsweise ein Pfauenweibchen das Rad eines Männchens »schön« findet, auch wenn Form, Gestalt und Aussehen im Sinne der sexuellen Selektion eigentlich nur eine rein funktionale Bedeutung haben dürften: Die Anwendung des Begriffes »schön« auf Zusammenhänge der sexuellen Selektion ist problematisch, denn die Wahl des Sexualpartners erfolgt streng genommen 29

A. von Humboldt, Kosmos, a. a. O., Bd. 2, 67. A. von Humboldt, Kosmos, a. a. O., Bd. 1, 47; vgl. E. Krauße, Promorphologie, a. a. O., 352. 31 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 195. 32 Auf die Relevanz dieses Schönheitsbegriffs pochen adaptionistische Ansätze noch heute, vgl. stellvertretend S. A. Kellert / E. O. Wilson (Hg.), The Biophilia Hypothesis, Washington (DC) 1993; dazu vgl. B. Kleeberg, Vor der Sprache. Naturalistische Konzepte objektiver Wahrnehmung, in: F. Crivellari u. a. (Hg.), Die Medien der Geschichte – Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, 85–108. Darwin selbst räumte der Adaptation zunächst eine weitaus geringere Rolle ein als die, die sich heute auf ihn berufen: »The effects of Sexual selection, when displayed in beauty to charm the females, can be called useful only in rather a forced sense.« (Ch. Darwin, On the Origin of Species, in: Ders., Works, hrsg. von P. H. Barrett / R. B. Freeman, 29 Bde., London 1986–1989, Bd. 15, 143). 30

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lediglich hinsichtlich bestimmter körperlicher Merkmale, die einen möglichen Reproduktionserfolg signalisieren. »Sexuelle Attraktion« kann in diesem Kontext zunächst nur bedeuten, daß Größe, Form und Farbe des Gefieders eines männlichen Pfaus dessen Paarungs- und Überlebenserfolg anzeigen. Ob das Weibchen das Pfauenrad »schön« findet, ist für eine evolutionstheoretische Erklärung unerheblich – dem roten Hinterteil des Pavianmännchens etwa kommt dieselbe Funktion zu. Eine solche rein funktionale Interpretation jenseits der Annahme naturimmanenter Schönheit wird auch in einigen Aussagen Darwins nahe gelegt, der in diesem Zusammenhang von der Attraktion durch »Neuheiten« und mehr oder minder stark ausgeprägten »Besonderheiten« spricht. »Fanciers always wish each character to be somewhat increased; they certainly do not desire any great and abrupt change in the character of their breeds; they admire solely what they are accustomed to behold, but they ardently desire to see each characteristic feature a little more developed.«33

Daß bestimmte charakteristische Eigenschaften im Rahmen der sexuellen Selektion funktional werden, erklärte Darwin unter Hinweis auf einen Gewöhnungsprozeß, in dessen Verlauf das Unangenehme angenehm werde. Damit wird die Relativität der Schönheit unterstrichen: »but habit has something to do with the result, for that which is at first unpleasant to our senses, ultimately becomes pleasant, and habits are inherited«.34 Derart vorsichtig formulierten 33

Ch. Darwin, The Descent of Man, a. a. O., Bd. 2, 353; Hervorheb. d. Verf.; den »Wunsch nach polarisierender Übertreibung des jeweils Gegebenen« hat Winfried Menninghaus als das »Humboldt-Darwinsche Prinzip aller ästhetischen Differenz am Körper der Lebewesen« bezeichnet, das notwendig alle Ideale verzehre, da diese immer wieder neu und anders aufgebaut würden: W. Menninghaus, Das Versprechen der Schönheit, Frankfurt / M. 2003, 81. Vgl. auch Ch. Darwin, The Descent of Man, a. a. O., 230 f.: »It would even appear that mere novelty, or change for sake of change, has sometimes acted like a charme on female birds, in the same manner as changes of fashions with us. The Duke of Argyll says – and I am glad of following for even a short distance in his footsteps – ›I am more and more convinced that variety, mere variety, must be admitted to be an object and an aim in Nature.‹« W. Menninghaus (ebd., 78 f.) weist darauf hin, daß Darwin mit den Begriffen »novelty« und »variety« zur Kategorisierung der »generellen Merkmale sexueller Ornamentbildung« auf Kernbegriffe der Ästhetik des 18. Jahrhunderts rekurriere. Einzelne Ornamente seien in ihrer evolutionären Entwicklung nicht vorhersehbar, was sich aus Darwins durchgängiger Rede von der »capriciousness« ästhetischer Präferenzen ergebe: »Auch dieses Merkmal der Unableitbarkeit teilen die sexuell gewählten Körperornamente mit jener programmatischen Nicht-Reduzierbarkeit auf gegebene Regeln, welche die Ästhetik förmlich zum Hauptmerkmal ›genialer‹, kreativer Kunstproduktion erklärt hat.« Das kreativ Neue der Genieästhetik läßt sich allerdings kaum mit natürlicher Schönheit gleichsetzen: Hier entsteht das Neue durch zufällige Mutation und ist in seiner Beständigkeit gerade auf die Regeln der Selektion reduzierbar. 34 Ch. Darwin, The Descent of Man, a. a. O., 97.

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Passagen stand bei Darwin allerdings eine Fülle teleologischer Metaphern gegenüber, so daß sich Wallace in seiner Auseinandersetzung mit der schöpfungstheologischen Deutung des Naturschönen des Duke of Argyll darüber beklagte, Darwin habe seinen Gegnern in die Hände gespielt: Der Duke of Argyll verweise auf Darwins »instinktiv« teleologische und intentionale Wendungen, um die Existenz eines göttlichen Baumeisters zu belegen.35 Mit der natürlichen Schönheit setzte sich Darwin in erster Linie in The Descent of Man auseinander. Um den graduellen Übergang zwischen Tier und Mensch zu plausibilisieren, präsentierte er eine Fülle von Material zum Beweis dafür, daß elementare Emotionen wie auch basale mentale Fähigkeiten bei Mensch und Tier dieselben seien, auch wenn sie bei letzteren oft nur rudimentär beobachtet werden könnten. So sei auch der »sense of beauty« durchaus nichts spezifisch Menschliches, sondern finde sich in der Tierwelt allerorten, vornehmlich im Zusammenhang mit der sexuellen Selektion. »When we behold a male bird elaboratory displaying his graceful plumes or splendid colours before the female, whilst other birds, not thus decorated, make no such display, it is impossible to doubt that she admires the beauty of her male partner. […] and this shows that they must receive some kind of pleasure from the sight of such things. With the great majority of animals, however, the taste for the beautiful is confined, as far as we can judge, to the attractions of the opposite sex.«36

Darwin präsentierte hier Schönheit als sexuelle Attraktion, das ästhetische Urteilen somit als »elementares Orientierungsmedium natürlicher Lebewesen […]«.37 Er zeigte damit, wie ästhetische Präferenzen die Entwicklung von Körperformen bestimmt haben, in dem diese sich aufgrund der Partnerwahl evolutionär verfestigen konnten. Seine Rede vom »taste for the beautiful«, aufgrund dessen die wählenden Weibchen den ›schönen‹ Männchen den Vorzug geben, hat Winfried Menninghaus in Bezug zur Ästhetik des Ornaments im 18. Jahrhunderts gestellt, das seit Karl Philipp Moritz und Kant als Inbegriff

Vgl. George D. Campbell 8th Duke of Argyll, The Reign of Law, London 51867; A. R. Wallace, Creation by Law, in: The Quarterly Journal of Science IV (1867), 471–488, 474 f.; Darwin war sich des Problems der teleologischen Redeweise durchaus bewußt, wie nicht zuletzt die Kritik an seinem Großvater Erasmus Darwin zeigt: »Why do bulls & horses, animals of different orders turn up their nostrils when excited by love? Stallion licking udders of mare strictly analogous to men’s affect for womens breasts: Dr Darwin’s theory probably wrong, otherwise horses would have idea of beautiful forms.« (Notebook M, in: Charles Darwin’s Notebooks, 1836–1844. Geology, Transmutation of Species, metaphysical Enquiries, transkr. und hrsg. von P. H. Barrett u. a., Cambridge 1987, 536). 36 Ch. Darwin, The Descent of Man, a. a. O., 96. Vgl. R. J. Richards, Darwin and the Emergence of Evolutionary Theories of Mind and Behavior, Chicago / London 1987, 199. 37 W. Menninghaus, Versprechen der Schönheit, a. a. O., 66. 35

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des zweck- und begriffslosen Schönen verstanden wurde. Die Unterscheidung natürlicher und sexueller Selektion habe es Darwin erlaubt, »die konfligierenden Merkmale ästhetischer Zwecklosigkeit und ästhetischer Zweckmäßigkeit durch Aufteilung auf zwei verschiedene Rücksichten zu entparadoxieren. Die nicht-adaptiven Effekte begründen die ›Autonomie‹ des Ornaments, der adaptive Bezug auf die arteigenen Geschlechtsrollen dagegen die Zweckmäßigkeit des zwecklosen Ornaments.«38 Der »genuine Clou« von Darwins Theorie einer sexuellen Ästhetik der Evolution liege somit im »starken, performativen Sinn von ›taste‹ als des Generators der Objekte, die er bevorzugt«, der »Koevolution von Präferenz und Merkmal […]«.39 Noch stärker als Kant habe Darwin damit das »unbewußte Moment ästhetischer Evaluation« betont, denn diese »Geschmacksurteile sind nicht aus vorhandenen Objektqualitäten ableitbar, sondern unterwerfen umgekehrt diese ihrer eigenen Logik«.40 Diese Auflösung des objektiv Naturschönen in der subjektiven Anschauung läßt sich durchaus als Charakteristikum der Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts fassen.41 Allerdings ist eine Analogisierung des evolutionären und des kantischen Geschmacksbegriffs problematisch: Das subjektive Geschmacksurteil ist zwar auch bei Darwin vom Subjekt der Betrachtung abhängig, jedoch müssen alle Betrachter denselben Geschmack teilen, damit die Schönheit sich in Fortpflanzungserfolg niederschlagen kann. Nicht also das subjektive Geschmacksurteil steht hier im Vordergrund, sondern die Korrespondenz von ›Schönheit‹ des Objekts und Interesse des Subjekts an dessen Existenz als Zei38

Ebd., 71. Zur Diskussion um Funktionalität oder Selbstzweck des Ornaments zwischen Darwin, Wallace, J. Gould und Argyll vgl. M. J. Kottler, Darwin, Wallace, and the Origin of Sexual Dimorphism, a. a. O., 206 ff. 39 W. Menninghaus, Versprechen der Schönheit, a. a. O., 82. 40 Ebd. 41 F. Th. Vischer, Kritik meiner Ästhetik, in: Ders., Kritische Gänge, hrsg. von R. Vischer, Bd. IV, München ²1922, 222–419, 227 ff., faßte das Schöne wie folgt: »Es ergab sich, daß ein Naturschönes, d. h. ein Schönes ohne das anschauende und im Anschauen umbildende Subjekt, in Wahrheit nicht bestehe […] das Schöne ist einmal nicht einfach ein Gegenstand, das Schöne wird erst im Anschauen, es ist Kontakt eines Gegenstandes und eines auffassenden Subjekts […] Kurz, das Schöne ist einfach eine Art der Anschauung.« Ähnlich argumentierte bereits A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1802), Heilbronn 1884, und später Th. Lipps, Ästhetik, Bd. 2, Hamburg / Leipzig 1906. Vgl. auch E. von Hartmann, Philosophie des Schönen, Berlin ²1924, 457: »Auch das Naturschöne als Schönes existiert wie das Kunstschöne nur als ästhetischer Schein in einem Bewußtsein und für dasselbe, und was unabhängig vom Bewußtsein existiert, ist nicht das Schöne, sondern nur die Naturwirklichkeit als äußere Ursache des Schönen.« Wilhelm Bölsche kritisierte diese Positionen, mit denen die deutsche Ästhetik »den Anschluß an die großen treibenden Ideen unserer Gegenwart versäumt« habe: W. Bölsche, Ziele und Wege der modernen Ästhetik. Eine kritische Betrachtung, in: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik, Jg. 1, Bd. 1 (1890), 29–34, 31.

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chen seiner Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit.42 Das Schöne ist nicht das Einzelne, das dem Geschmack des Betrachters entspricht – das Schöne ist das Allgemeine, das die gesamte Natur kennzeichnet und sich evolutionär entwickelt. Die Darwinsche Theorie hilft dabei, die natürlichen Einzelphänomene zu einem Ganzen zu verschmelzen und sorgt so für die Übereinstimmung von Schönheit und Schönheitsempfinden. Nur weil mittels (pan-)adaptionistischer Erklärungen Sinn in die Natur hineinverlegt wird, kann zwischen von Natur aus Schönem und Häßlichem, zwischen Wahrheit und Irrtum in der Natur selbst unterschieden werden. Die Gleichsetzung des Naturschönen mit dem Kunstschönen hatte Kant mit dem Argument zurückgewiesen, daß die schöne Kunst eben darin ihre Vorzüglichkeit zeige, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Der Kern dieser Aussage Kants, das hat Konrad Paul Liessmann herausgestrichen, liegt darin, »daß es zur Dynamik ästhetischen Produzierens gehört, häßliche Wirklichkeit in Schönes zu verwandeln – in solches also, das ohne Interesse zu gefallen imstande ist. Die Kriterien, ob solches gelungen ist, können also nie in der Wirklichkeit oder in der Natur selber liegen.«43 Die Annahme einer Entsprechung der ästhetischen Wahrnehmung und des Naturschönen leide daher unter der »nicht einholbaren Differenz, die zwischen der Schönheit der Welt und der Welt der schönen Dinge liegt«.44 Diese Differenz ebnet die evolutionäre Ästhetik ein: Nicht das »interesselose Wohlgefallen«, sondern vielmehr das universale »Wohlgefallen am Angenehmen«, das »eine Begierde nach dergleichen Gegenständen rege macht« und eine »Beziehung seiner Existenz auf meinen Zustand« voraussetzt,45 steht in ihrem Zentrum. Mit der Anbindung des Schönen an das Angenehme bieten Darwin und Haeckel eine sinnesphysiologische Definition der Schönheit als Etwas, das durch Symmetrie oder Zweckmäßigkeit ein »Lustgefühl« im Betrachter auslöse, an. Unter Berufung auf Hermann Helmholtz argumentiert Darwin: »[…] the eye prefers symmetry or figures with some regular recurrence. Patterns of this kind are employed by even the lowest savages as ornaments; and they have been developed through sexual selection for the adornment of some male animals. Whether we can or not give any reason for the pleasure thus derived from vision

42

Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 5–7, in: Ders., Werke, Bd. 8, hrsg. von W. Weischedel, Darmstadt 1983, 280 f.; dazu M. Seel, Kants Ethik der ästhetischen Natur, in: R. Bubner u. a. (Hg.), Die Trennung von Natur und Geist. Zur Auflösung der Einheit der Wissenschaften in der Neuzeit, München 1990, 181–208. 43 K. P. Liessmann, Natura Mortua. Über das Verhältnis von Ästhetik und Ökologie, in: Kunstforum 93 (3 / 1988), 64–71, 66. 44 Ebd. 45 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., B 7–10 (281 u. 283).

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and hearing, yet man and many of the lower animals are alike pleased by the same colours, graceful shading and forms, and the same sounds.«46

Ähnlich führt Haeckel im Abschnitt über die »Schönheit der Naturformen« seiner Lebenswunder aus: »Das Interesse, das der Mensch den Naturformen ebenso wie den Kunstformen entgegenbringt und das ihn seit Jahrtausenden veranlaßt hat, die ersteren in den letzteren nachzuahmen, beruht zum größten Teile, wenn auch nicht ausschließlich, auf ihrer Schönheit, d. h. auf dem Lustgefühl, das ihre Betrachtung erregt.«47

Natürliche Schönheit als interessegeleitetes Lustgefühl setzt sich im Interesse an der Nachahmung des Naturschönen evolutionär fort. Ästhetik wird zur Subdisziplin der Physiologie. Als solche suche sie nach den Ursachen und Entwicklungsgesetzen der »Lust am Schönen«. Haeckel unterscheidet hier direkte und indirekte Schönheitsempfindungen, wobei erstere in Stufen »aufsteigender« symmetrischer »Vollkommenheit« eingeteilt werden, die Reize aussenden, auf die der Mensch mit einem ästhetischen Lustgefühl reagiere.48 »Ästhetische Neuronen« würden bei der »direkten oder sinnlichen Schönheit« unmittelbar erregt, »phronetische Neuronen«, die »die Vorstellung und das Denken bewirken«, bei der »indirekten oder assozialen Schönheit«.49 Damit läuft seine Bestimmung der direkten Schönheit auf Kriterien hinaus, die anthropologisch universal sind. Die Erkenntnis des Schönen ist eine direkte kausalmechanische Folge der Erregung bestimmter neuronaler Zellen, so wie der Mensch Schönheit produziert, erfaßt er sie auch: automatisch.50 Hier stand Haeckel, der sich in diesem Zusammenhang wie Darwin auf die Ergebnisse der Sinnesphysiologie beruft, auf der Seite der »Nativisten« um Ewald Hering, die im Gegensatz zu den »Empiristen« um Helmholtz den direkten Bezug der Empfindungen auf die Außenwelt betonten und die Leistung der Wahrnehmung danach beurteilten, inwieweit sie einem Lebewesen dazu verhelfe, sich an seine Umwelt anzupassen.51 Demgegenüber

46

Ch. Darwin, The Descent of Man, a. a. O., 97; Hervorheb. d. Verf. E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 210. 48 Vgl. ebd., 211. 49 Ebd., 210 f. (»assozial« meint »assoziiert«). 50 Vgl. K. Bayertz, Deszendenz des Schönen, a. a. O., 103: Dem im Monismus unterstellten gemeinsamen poietischen Moment künstlerischer und natürlicher Schaffensprozesse sowie dem Gedanken des spontanen Hervorbrechens der Kunst aus dem Menschen kommt eine zentrale Bedeutung zu. Es sei das Automatische der ästhetischen Produktion, das die Einheit von Mensch und Natur garantiere, die die Wissenschaft nur theoretisch begründen könne. Vgl. auch W. Boelsche, Weltblick. Gedanken zu Natur und Kunst, Dresden 1904, 155. 51 Dazu vgl. M. Heidelberger, Innen und Aussen in der Wahrnehmung. Zwei Auffas47

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bestimmte Helmholtz Empfindungen nicht als Abbilder, sondern als »Zeichen« der Außenwelt, weswegen man von Inkongruenzen zwischen Empfindungen und Objekten ausgehen müsse, die die Idee einer »prästabilierten Harmonie« der äußeren und inneren Welt in Frage stellten.52 Eine eben solche prästabilierte Harmonie findet sich in der monistischen Ästhetik, in der sich natürliche Schönheit und antwortendes Lustgefühl des Betrachters treffen. Neben die direkte Schönheit stellte Haeckel die indirekte Schönheit, die mehr sei als bloßes Lustempfinden und eine »weit wichtigere Rolle« spiele. Anatomische Vorbedingung dieser höheren physiologischen Leistung sei ein hoher Entwicklungsstand des Hirns, denn in der Verbindung von »Vernunftsphäre« und »Gefühlsphäre« entstünden »viel höhere und wertvollere ästhetische Funktionen«.53 In diesen Bereich falle neben der biologischen Schönheit, bei der das ästhetische Interesse durch die mit dem Bau der Organismen verbundenen Funktionen erregt werde, auch die anthropistische Schönheit, die den menschlichen Körper zum Maßstab der Schönheit der Natur mache und diese anthropomorph deute.54 Die dritte Hauptgruppe indirekter Schönheit bildet die sexuelle Schönheit, die neben den Mechanismus der natürlichen Selektion tritt. Den Zusammenhang von Schönheit und evolutionärer Funktionalität hinsichtlich sexueller und natürlicher Selektion beschrieb Haeckel unsungen des 19. Jahrhunderts (und was daraus wurde), in: O. Breidbach / C. Clausberg (Hg.), Video ergo sum. Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg 1999, 147–157, bes. 147 u. 150. Auf Parallelen zwischen Herings Idee des Gedächtnisses als »allgemeiner Funktion der lebenden Materie« und seiner »Theorie der Plastidule« weist Haeckel in Monismus und Naturgesetz, in: Flugschriften des deutschen Monistenbundes, H. 1, Brackwede i. W. 1907, 29, hin. Die Abhängigkeit des Schönheitsempfindens vom Sinnesapparat und kulturellen Prägungen betonte Ernst Mach, Die Symmetrie (1871), in: Ders., Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 4 1910, 100–116. So könne man leicht einsehen, »daß unsere Vorstellungen von schön und unschön sofort eine Veränderung erfahren müßten, wenn unsere Augen anders würden. Ist die ganze Betrachtung richtig, so wird man notwendig an dem sogenannten ewig Schönen etwas irre. Es ist dann kaum zu glauben, daß die Kultur, welche dem Menschenleib ihren unverkennbaren Stempel aufprägt, nicht auch die Vorstellungen vom Schönen ändern sollte.« (Ebd., 109). 52 H. Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens (1868), in: Ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von J. Brüning, Bd. V.1 Vorträge und Reden, 1. Bd., Braunschweig 41896, 265–365, 333. Helmholtz (Optisches über Malerei, in: Ders., Populäre wissenschaftliche Vorträge, Braunschweig 1876, 55–97, 89 f.) spricht bezüglich der Farben ebenfalls von einer »natürliche Lust«, dieser Trieb habe jedoch »mit dem Kunsttrieb des Menschen noch nicht viel zu schaffen, sondern erscheint nur als die natürliche Lust des empfindenden Organismus an wechselnder und mannigfacher Erregung seiner verschiedenen Empfindungsnerven, die für das gesunde Fortbestehen und die Leistungsfähigkeit derselben notwendig ist.« 53 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 212. 54 Vgl. ebd., 213.

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ter Bezug auf die Vererbung erworbener Eigenschaften als formgebende Kraft der Natur:55 Die unmittelbare Weitergabe der Anpassungsergebnisse an die nächstfolgende Generation, die eine drastische Zunahme der Geschwindigkeit progressiver Veränderungen bewirkt, hatte Haeckel als entscheidenden Schritt zur Überwindung der statischen Natursystematik gewertet.56 Damit bedeutete die evolutionäre Funktionalität der Schönheit nicht Aufgabe der Naturteleologie, sondern lediglich eine Verschiebung der Teleologie in den panadaptionistisch und lamarckistisch erklärten Vervollkommnungsprozeß der Natur: Die Vererbung erworbener Eigenschaften führt zu einer Progression idealer Organisationstypen, aus der wiederum die am besten angepaßten Individuen für die weitere Fortpflanzung selektiert werden. In diesem Kontext tauchte bei Haeckel ein scheinbar rein funktionaler Schönheitsbegriff auf: Bedingt sei die »sexuelle Schönheit«, so Haeckel, durch die gegenseitige Anziehung der Geschlechter und die sexuelle Selektion. Aus diesen Zusammenhängen, die phylogenetisch auf die »Zellenliebe der beiden Sexualzellen« zurückverwiesen, sei eine »unendliche Fülle von ästhetischen Produkten auf allen Gebieten der Kunst« hervorgegangen.57 Ähnlich argumentierte auch Wilhelm Bölsche, der die Versöhnung der »rohen Welt des Mechanischen in der Natur und der Welt des Idealen in der Kunst« mittels des »erotischen Faktors« als Darwins »eigenstes Werk« lobte.58 Die letzte Hauptgruppe der indirekten Schönheit bildet die landschaftliche Schönheit als das Lustgefühl beim Betrachten einer Landschaft, das umfassender ist »als dasjenige aller anderen ästhetischen Empfindungen«.59 Als merkwürdig bezeichnet Haeckel, »daß für die Schönheit der Landschaft (im Gegensatze zur Architektur und zu der Schönheit der einzelnen Naturobjekte) die absolute Unregelmäßigkeit, der Mangel an Symmetrie und von mathematisch bestimmten Grundformen, die erste Vorbedingung ist«.60 Dieser Mangel an 55

Haeckel wendet sich explizit gegen Weismanns Trennung von Soma und Keimbahn, die entsprechende Phänomene nicht erklären könne (ebd., 205). 56 Haeckel stellt die »progressive Heredität«, die er mit Lamarck erklärt, der »konservativen Heredität« gegenüber, die die Konstanz der Arten begründe (E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, 178). 57 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 213. 58 W. Boelsche, Charles Darwin und die moderne Ästhetik, in: Der Kunstwart, Jg. 1 (1888), 125–126, hier 125. Nicht umsonst bildet die erotische Ästhetik denn auch einen wichtigen Bestandteil der fortschrittlichen Naturentwicklung: vgl. W. Boelsche, Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe (1898), 2 Bde., Jena 1909 / 1911, bes. Kap. 7: Boelsche spricht dort von der »Edelwahl der Liebe«, die zu einer beständigen Zunahme an Schönheit führe, was der Tendenz des Kosmos zur Steigerung der Harmonie und Schönheit entspreche. 59 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 213. 60 Ebd., 214.

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Symmetrie kann allerdings durch die gegenüber dem einzelnen ästhetischen Objekt bedeutendere »Größe« und den »Reichtum« der Landschaft kompensiert werden, die »in der Seele des Beschauers eine Fülle der verschiedensten Eindrücke« hervorrufen, »die durch höchst verwickelte Associon der Ideen zu einem großen harmonischen Ganzen verwebt wird«.61 Mit der Wahrnehmung der Natur als »großem harmonischem Ganzen« über die Assoziation phronetischer und ästhetischer Neuronen schließt sich mit der letzten Hauptgruppe der monistischen Ästhetik wieder der Kreis zur Naturerfahrung Humboldts: zur naturromantischen Unterordnung des Einzelnen unter das Naturganze. Diese Unterordnung trifft sich im Sinne des biogenetischen Grundgesetzes62 mit der parallelen fortschrittlich-evolutionären Entwicklung aller Hauptarten der Schönheit der Naturformen, die in einer Stufenleiter »vom Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren« stehen. Jene entspreche der »Entwicklung des Schönheitsgefühls beim Menschen, ontogenetisch vom Kinde zum Erwachsenen, phylogenetisch vom Wilden und Barbaren zum Kulturmenschen und Kunstkritiker« und der »Stufenleiter der Grundformen, die den realen Körperformen ebenso in der Natur wie in der nachbildenden Kunst zu Grunde liegen«.63 Der Naturanschauung als dem Komplement zur wissenschaftlichen Naturerklärung kommt dabei im Monismus der Charakter eines sinnlichen Erkenntnisvermögens zu, wie es schon Alexander Gottlieb Baumgarten Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Konzept einer »ästhetischen Empirik« vorgestellt hatte, auf das Haeckel explizit verweist.64 Baumgarten argumentierte entgegen der Leibniz-Wolffschen Tradition, in der die sinnliche Erkenntnis der rationalen Erkenntnis untergeordnet wurde, daß insbesondere die sinnliche Erkenntnis fähig sei, die Welt unmittelbar zu erfassen, da sie im Gegen61

Ebd., 213. Vgl. E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. II, XIX, 31: »In diesem dreifachen Parallelismus der individuellen, systematischen und der paläontologischen Entwicklung […] erblicken wir einen der unwiderleglichsten Beweise für die Wahrheit der Deszendenztheorie«. Entsprechend zeigt sich das Naturschöne phylogenetisch im Fortschritt der Formentwicklung, ontogenetisch in der Idee des idealen Urtyps und systematisch in der idealen geometrischen Grundform. 63 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 214. 64 Ebd., 210 f., führt Baumgartens Aesthetica, Leipzig 1750–1758, an. Parallelen zur »ästhetischen Empirik« zeigen sich auch in Haeckels wissenschaftstheoretischem Konzept der »empirischen Philosophie«, der Dialektik von Wissenschaft und Ästhetik (E. Haeckel, Die Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O., Bd. I, 64), die an Humboldts Konzept des »denkenden Erkennens« (A. von Humboldt, Kosmos, a. a. O., Bd. 1, 47), Johannes Müllers »denkende Erfahrung« (J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Koblenz 1837–1840, 522) sowie terminologisch an Kant (Kritik der reinen Vernunft, in: Werke, a. a. O., Bde. 3 / 4, B 868) anknüpfte. 62

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satz zur rationalen Erkenntnis nicht von der sinnlichen Wahrnehmungsfülle abstrahiere. Kant verabschiedete diese Idee einer »schönen Wissenschaft« bzw. einer »Wissenschaft des Schönen« mit dem Argument, daß die ästhetische Anschauung der Natur nicht mit deren (wissenschaftlicher) Objektivierung vereinbar, das Einzelne nicht unter das Ganze subsummierbar sei.65 Diese von Kant vollzogene Trennung des Wahren und Schönen löste Haeckel im Baumgartenschen Sinne auf, indem er das Zusammenwirken »sinnlicher« und »vernünftiger« Neuronen bei der Schönheitsempfindung postulierte:66 Das Lustgefühl, mit dem der Betrachter auf das Naturschöne reagiert, zeigt eine eigenständige Wahrheit über die Natur an. Die ästhetische Wahrnehmung fokussiert zwar wie bei Kant und Baumgarten durchaus das Individuelle, verweist dabei aber auf das Naturganze, das die Objektivation der rational erschlossenen empirischen Dinge sichert. Das Einzelding ist im Monismus nicht als Besonderes schön, sondern weil es die naturgesetzliche Notwendigkeit des Schönen spiegelt. Diese Naturimmanenz des Schönen entspricht Baumgartens supramundaner höchster Vernunft-Ursache, die das Funktionieren seiner ästhetischen Empirik überhaupt gewährleistet. Indem die monistische Naturanschauung versucht, der postulierten sinnvollen Ordnung der Welt teilhaftig zu werden, wird ihre Naturerfahrung zu einer hermeneutischen Erfahrung. Im monistischen Verständnis bedeutet Naturwahrnehmung »sinnlichen Kontakt zu zeitlosem Sinn«: Die Natur wird als ein sinnhafter, zeichenhafter Korrespondenzzusammenhang, der einen inneren, absoluten Sinn – das ästhetische Naturgesetz – besitze, verstanden. Auch hier steht Haeckel in der Tradition der Vorstellung eines poietischen Subjekts der Natur.67 Damit widersteht die monistische Natur der Dissoziation von Wissenschaft und Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts.68 Der Mensch erkennt in der monistischen Naturästhetik das, was »schön« ist, als Naturwesen immer schon intuitiv. Die Natur kann sich dem Menschen deshalb direkt offenbaren, weil der vollendeten Morphologie beispielsweise der Radiolarien die vollendete Physio-

65

I. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., §44, V 305; vgl. M. Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt / M. 1991, 24. 66 E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 210 f. 67 Vgl. M. Seel, Eine Ästhetik der Natur, a. a. O., 120. Zur romantischen und nachromantischen Restitution absoluter Naturkorrespondenz und zur Kompensation der unzugänglichen Natur vgl. O. Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, bes.179 ff. 68 Vgl. A. Rueger, Experiments, Nature and Aesthetic Experience in the Eighteenth Century, in: British Journal of Aesthetics 37 (1997), No. 4, 305–322, 319: »The accompanying dissociation of sensual experience and scientific aim, the more laborious way from experiment to theory, leaves aesthetic delight behind, restricting it to oldfashioned fields of science like natural history […]«.

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logie des sie erkennenden menschlichen Wahrnehmungsapparates entspricht. Die Korrespondenz zwischen natürlichem Kunsttrieb und der menschlichen Wahrnehmung organischer Formbildung verdeutlichen auch die Illustrationen aus Haeckels ausdrücklich zum Zwecke künstlerischer Nachahmung publizierten Kunstformen der Natur. Wie Olaf Breidbach hervorhebt, sollte mit der dort vorgenommenen Stilisierung des stereometrischen Aufbaus der Naturgegenstände exemplarisch die Möglichkeit der Erkenntnis der Organisation und Ordnung des Lebendigen bereits in der Anschauung selbst zur Geltung gebracht werden. Ästhetik sei demnach »nichts als ein Widerspiegeln des der Natur Eigenen«.69 Nicht nur dem ästhetischen Vermögen des Menschen ist so seine Sonderrolle genommen – auch als urteilender Betrachter, als Rezipient von Naturgegenständen reiht er sich vollständig in die Natur ein.70 Die Kriterien, auf deren Basis ästhetische Urteile gefällt werden, entstammen nicht den Sinnzusammenhängen menschlicher Handlungspraxis, bleiben jedoch am Bild menschlichen Schaffens orientiert, dessen teleologische Struktur in die Natur hineinverlegt wird. Erkenntnistheoretisch abgesichert wird das menschliche Urteilen mittels einer lamarckistischen Variante evolutionärer Erkenntnistheorie – der Vererbung erworbenen Wissens: die im Laufe des individuellen Lebens gewonnenen – aposteriorischen – Erkenntnisse würden weitervererbt und bildeten fortan einen stammesgeschichtlichen – apriorischen – Wissensfundus. So stelle der Monismus Kants Erkenntnistheorie auf physiologische und phylogenetische Grundlagen,71 womit sich Schönheit und antwortendes Lustgefühl des Betrachters nicht nur als Reiz und Reaktion zwischen Männchen und Weibchen trafen: Die Korrektheit des ästhetischen Urteils, die durch eine adaptionistische Passung von Rezeption und Produktion gewährleistet wird, bedeutet, daß die evolutionär perfektionierte sinnliche Wahrnehmung das evolutionär perfektionierte Naturschöne direkt erfaßt. Die ästhetische Naturwahrnehmung erblickt in der Schönheit der Natur monistisch ihre eigene Schönheit. Mit der evolutionären Herleitung von Vernunft und Schönheits-

69

Vgl. O. Breidbach, Kurze Anleitung zum Bildgebrauch, in: E. Haeckel, Kunstformen der Natur. Die einhundert Farbtafeln im Faksimile mit beschreibendem Text, allgemeiner Erläuterung und systematischer Übersicht, München / New York 1998, 7–16, 11 f. 70 Die Idee der Entsprechung zwischen Subjekt und Objekt der Naturwahrnehmung ist wahrscheinlich K. Wyneken, Der Aufbau der Form, a. a. O., 120, geschuldet, auf den E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 194, verweist und der sich seinerseits auf Haeckels Welträtsel und Kunstformen der Natur bezieht. 71 Vgl. E. Haeckel, Die Lebenswunder, a. a. O., 11 f., 15 f. Auch Charles Darwin begründete apriorisches Wissen stammesgeschichtlich: »Plato […] says in Phædo that our ›necessary ideas‹ arise from the preexistence of the soul, are not derivable from experience. – read monkeys for preexistence.« (Ch. Darwin, Notebook M, a. a. O., August 1838, 551).

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empfinden als überlebensdienlichen menschlichen Eigenschaften und der damit verbundenen Rückbindung ästhetischer und phronetischer Wahrnehmung und Erkenntnis an neurophysiologische Vorgänge wird die erkenntnislogische Begründung dieses komplementären Miteinanders physiologisiert. Damit steht die wissenschaftliche Erkenntnis dem Naturgenuß nicht in einer Weise gegenüber, daß sie selbst nicht die innere Harmonie des Kosmos zu erkennen vermag und dazu der ästhetischen Naturbetrachtung bedarf – vielmehr wird die harmonische Seite der Natur in Erkenntnis und Genuß der Natur gedoppelt. Mit dieser evolutionär verbürgten Korrespondenz zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung konnte der Monismus die epistemologische Unsicherheit überwinden, die mit der sinnesphysiologischen Ablösung der Wahrnehmungserfahrung von der äußeren Realität aufgekommen war,72 ohne den Weg der mechanischen Herstellung der Objektivität einzuschlagen.73

III. Naturganzes und Kontingenz In seiner Auseinandersetzung über das Naturschöne mit dem Duke of Argyll hatte Wallace 1867 die Gesetze der natürlichen Entwicklung dem Schluß von natürlicher Schönheit und Zweckmäßigkeit auf »the constant supervision and direct interference of the creator«74 entgegengestellt und sich gegen die Auf72

Mitte des 19. Jahrhunderts habe »die Wahrnehmungserfahrung jene Garantien, die einst ihre privilegierte Beziehung zu den Fundamenten des Wissens begründet hatten, verloren«, so Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt / M. 2002, 21 f. 73 Vgl. L. Daston / P. Galison, Das Bild der Objektivität, in: P. Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt / M. 2002, 29–99. Seine evolutionäre Erkenntnistheorie ermöglichte es Haeckel, Idealtypen naturgetreu zeichnerisch – und damit: subjektiv – festzuhalten, ohne damit die Objektivität wissenschaftlicher Darstellung zu gefährden, die die moralische Ökonomie der »Selbstbeherrschung« (vgl. ebd., 95–97) abzusichern suchte. Haeckels Anhänger lobten die »photographisch treue Wiedergabe der Naturschönheit« (J. Engert, Der naturalistische Monismus Haeckels auf seine wissenschaftliche Haltbarkeit geprüft, Wien 1905, 291), seine »streng wissenschaftliche Illustration« (W. Bölsche, Zwei Naturgeschichten für das Volk, in: Deutsche Welt, Jahrgang 3, Bd. 3 (1900), 180–183, 183) sowie die von ihm eingegangene Verbindung von Kunst und Wissenschaft in der Tradition Humboldts: W. May, Versuch einer Chronik seines Lebens und Wirkens, Leipzig 1909, 247 f. May weist aber auch darauf hin, daß es speziell die populärwissenschaftliche Ausrichtung sei, die künstlerische Naturdarstellung erfordere, während die »strengen exakten Wissenschaftler« sich zurecht gegen »zuviel Phantasie« wendeten. 74 A. R. Wallace, Creation by Law, a. a. O., 471. Er glaube, so Wallace weiter (ebd., 473), »that the universe is so constituted as to be self-regulating; […] and that this adjustment necessarily leads to the greatest possible amount of variety and beauty and

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fassung gewandt, die organische Welt und ihre Gesetze seien zu kompliziert, um unabhängig von einem göttlichen Schöpfer zu sein. Im Gegenteil: »Why should we suppose the machine too complicated to have been designed by the Creator so complete, that it would necessarily work out harmonious results? The theory of ›continual interference‹ is a limitation of the Creator’s power.«75 Ohne einen eingreifenden Gott falle die Welt mitnichten ins Chaos, denn mit dem Gesetz der Selektion verfüge die Natur über eine »inherent power of developing beauty or variety« und könne die überall gesehene Zweckmäßigkeit erklären.76 1889 aber schränkte Wallace die Rolle der Selektion ein: Die Entstehung der Kunstfertigkeit »compel us to recognise some origin for them wholly distinct from that which has been served to account for the animal characteristics […] of man«.77 Diesen Ursprung siedelte er jenseits der funktionalen evolutionstheoretischen Erklärungen an. »The special faculties we have been discussing clearly point to the existence in man of something which has not derived from his animal progenitors – something which we may best refer to as being of a spiritual essence or nature, capable of progressive development under favourable conditions.«78

Bei dieser »geistigen Essenz« handele es sich um etwas, das der tierischen Natur des Menschen als »workings of a higher nature which has not been developed by means of the struggle for material existence« hinzugefügt worden sei. Zwar lasse die Kontinuität der »progressiven Evolution« streng genommen weder die Einführung neuer Ursachen, noch die Annahme plötzlicher Veränderungen zu – dennoch aber müsse man davon ausgehen, daß sich drei entscheidende Entwicklungssprünge ereignet hätten: Der Sprung von der anorganischen Welt zum Leben, vom Leben zum Bewußtsein, und vom Bewußtsein zum Geist. Neben Vitalität und Bewußtsein müsse ein »unseen universe« angenommen werden, »a world of spirit, to which the world of matter is altogether subordinate«.79 Die drei Entwicklungsstufen des Lebens hingen wahrscheinlich

enjoyment, because it does depend on general laws, and not on a continual supervision and re-arrangement of details. As a matter of feeling and religion, I hold this to be a far higher conception of the Creator and of the Universe than that which I must call the ›continual interference,‹ hypothesis«. In Generelle Morphologie der Organismen, a. a. O, Bd. 2, 450–452, stellte Haeckel der »entwürdigenden« christlichen Gottesvorstellung seine »Gott-Natur« gegenüber. 75 A. R. Wallace, Creation by Law, a. a. O., 479. 76 Ebd., 480. 77 A. R. Wallace, Darwinism, a. a. O., 473. 78 Ebd., 474; Hervorheb. d. Verf. 79 Ebd., 476; vgl. ebd., 478: »We thus fi nd that Darwinian theory […] lends a decided support to, a belief in the spiritual nature of man. It shows us how man’s body

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von »different degrees of spiritual influx« ab. Man müsse daher eine mit den Prinzipien der Evolutionstheorie konsistente geistige Natur des Menschen annehmen, »dependent on those fundamental laws and causes which furnish the very materials for evolution to work with«.80 Diese »geistige Natur« identifiziert Wallace nicht mit einem Schöpfergott, faßt sie aber als Ziel der progressiven evolutionären Entwicklung, wobei er gleich Haeckel in naturromantischer Manier auf das harmonische Naturganze verweist. »As contrasted with this hopeless and soul-deadening belief [i. e. »that we are but products of the blind eternal forces of the universe«], we, who accept the existence of a spiritual world, can look upon the universe as a grand consistent whole adapted in all its parts to the development of spiritual beings capable of indefinite life and perfectibility. To us, the whole purpose, the only raison d’être of the world […] was the development of the human spirit in association with the human body. From the fact that the spirit of man – the man himself – is so developed, we may believe that this is the only, or at least the best, way for its development […]«.81

Mit der Einführung des »unseen universe of Spirit« begab sich Wallace zwar nicht auf direkt naturtheologische Bahnen, stattete seinen Naturbegriff aber dennoch mit der sinnstiftenden Kraft einer providentia generalis aus. Hier zeigen sich Parallelen zur monistischen Kontingenzreduktion. Dem klassischen Topos der christlich-platonischen Naturfrömmigkeit, der Offenbarung einer sinnhaften Ordnung des Kosmos, in der Natur und Gott in eins fallen,82 folgend, führte Franz Goerke im Vorwort zu Haeckels Die Natur als Künstlerin aus. »Mag es auch Haeckel oft verdacht werden, daß seine Lehre den Glauben an einen Gott beeinträchtige, so werden viele ihm danken müssen, daß sie durch ihn im Urgrund der Natur ihren Gott fanden, denn im Genuß der Naturschönheiten – in welcher Form sie sich auch offenbaren mögen – wird unsere Naturbetrachtung zum Gottesdienst.«83

may have been developed from that of a lower animal form under the law of natural selection; but it also teaches us that we possess intellectual and moral faculties which could not have been so developed, but must have had another origin; and for this origin we can only find an adequate cause in the unseen universe of Spirit.« W. Bölsche, Auf dem Menschenstern. Gedanken zur Natur und Kunst, Dresden 1909, 126, kritisierte Wallaces Position als »nicht monistisch«, weil er an ein »Geistesprinzip« glaube. 80 A. R. Wallace, Darwinism, a. a. O., 476. 81 A. R. Wallace, Darwinism, a. a. O., 477; erste zwei Hervorheb. d. Verf. 82 Vgl. R. Groh / D. Groh, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: Dies., Die Außenwelt der Innenwelt: Zur Kulturgeschichte der Natur 2, Frankfurt / M. 1996, 83–146, bes. 108–114. 83 F. Goerke, Vorwort, in: E. Haeckel, Natur als Künstlerin, a. a. O., o. P. [6].

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Indem die monistische Naturästhetik auf Basis einer ästhetischen Empirik die Trennung von Wahrnehmen und Verstehen bestritt, wahrte sie in genuin naturteleologischer Manier die Einheit des Naturganzen. Als Komplement der objektivierenden Wissenschaft verbürgte sie das metaphysische Ganzheitserleben inmitten der Natur, die »unmittelbare Einheit von Individuum und Kosmos […]«.84 Die ontologische Einheit der Natur und die erkenntnistheoretische Einheit des Wissens über sie bildeten das Wahre, das Überleben der fortgeschrittensten Organismen das Gute. Den dritten Pfeiler stellt die Lehre vom Schönen bereit. Die kantische Tradition des interesselosen Wohlgefallens lösen Haeckel wie auch Darwin und Wallace evolutionär auf. Während Darwin das Naturschöne funktional an Selektion und Zufall bindet, wird es bei Wallace dualistisch durch das Konzept des »Universums des Geistes« gesichert und bei Haeckel teleologisch als Prinzip der allumfassenden Gott-Natur gefaßt. Haekkels und Wallaces evolutionäre Ästhetiken vermochten es so, die darwinistisch induzierte définition noire der »riskanten Natur«85 mittels der Annahme eines sinnvollen Naturganzen zu überwinden, das die Übel der Welt im Rahmen der fortschrittlichen Naturentwicklung kompensiert und die evolutionäre Herausbildung des Menschen als telos der Natur herausstreicht.

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K. Bayertz, Deszendenz des Schönen, a. a. O., 102. Zur Frage der ästhetischen Kompensation der riskanten Präsenz und der Sinnkrise der Natur vgl. bes. K. Bayertz, Biology and Beauty: Science and Aesthetics in Finde-Siécle Germany, in: M. Teich / R. Porter (Hg.), Fin de Siécle and its Legacy, Cambridge u. a. 1990, 278–295, und O. Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt / M. 1992, 85–106, bes. 92–95. 85

Monika Ritzer

Darwin und der Darwinismus in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts

Präliminarien Wie bereits im Kontext des ›Materialismus-Streits‹ erläutert, geht es auch bei der Frage nach den Reflexen Darwins in der Literatur primär um bewußtseinsbzw. kulturgeschichtliche Motive, die aufgrund ihres Weltanschauungswertes zur Modellbildung beitragen. Ging es in Bezug auf den Materialismus um eine Ausformung des Wirklichkeitsbegriffs als solchen, so thematisiert der Diskurs um Darwin die Ausformung eines speziell biologischen Naturbegriffs, der insofern ›Streitpotential‹ enthält, als er ganz selbstverständlich alle menschlichen Lebensäußerungen umgreift. Man kann diese mit Darwins Namen verbundene ›Naturalisierung‹ in zwei relevanten Theoriekomplexen konzentrieren. 1. Die Evolutionslehre postuliert den natürlichen Ursprung aller Arten und impliziert damit allgemein die in On the Origin of Species (1859 / 1860) dokumentierte Immanenz der Entwicklung (Schöpfungsverdikt), im besonderen die in The Descent of Man (1871 / 1871) ausgeführte stammesgeschichtliche Entwicklung der menschlichen Lebensund Kulturformen aus primitiven tierischen (Affe) oder menschlichen (Rassen) Vorformen. 2. Die Selektionstheorie postuliert die Naturgesetzlichkeit dieser Evolution, wobei auch hier das erste Werk das Prinzip aufstellt (by means of Natural Selections) und das zweite die Geltung für den Menschen nachweist (Selection in Relation to Sex). Impliziert ist zugleich das Theorem der naturgesetzlichen ›Zuchtwahl‹, wonach sich, im konkurrenzbedingten Ringen der Arten und Individuen um die Selbsterhaltung, die lebenstauglichsten Merkmale bzw. die lebensfähigsten Individuen durchsetzen (Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life). Diese in der englischen Version weitgehend neutral bezeichnete und dargestellte Überlebensfähigkeit, die Herbert Spencer geschickt als ›survival of the fittest‹ beschreibt, gewinnt durch Darwins Metaphorik und die latent anthropomorphe Auslegung ›Überleben des Tüchtigsten‹, vor allem aber durch die martialische Formel vom ›Kampf ums Dasein‹, die Bronns Übersetzung etabliert (1860), kulturelle Breitenwirkung.1 Zur Frage wird dann, inwiefern diese per se notwendige, aus menschlicher Perspektive aber inhumane Verdrängungsstrate1

Vgl. hierzu auch U. Pörksen, Zur Metaphorik der naturwissenschaftlichen Sprache. Dargestellt am Beispiel Goethes, Darwins und Freuds, in: Neue Rundschau 89 (1978), 64–82.

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gie die Natur insgesamt und menschliches Leben insbesondere dominiert, womit sich in der Regel pessimistische Akzentuierungen verbinden. Sub specie vitae dagegen kann der Blick auf Anpassungsfähigkeit und genetische Optimierung der Lebensformen eine optimistische Natur- bzw. Weltanschauung stützen. Die Literatur reflektiert die gesamte Bandbreite von Darwins Argumentation, wobei allerdings auch weltanschauliche Momente reaktiviert und reformuliert werden − wie das Schöpfungsverdikt und die Autonomie der Natur −, die bereits in den 30er und 40er Jahren (Feuerbach), dann erneut im populärphilosophischen Materialismus (Büchner) diskutiert werden und von daher zu den grundlegenden bewußtseinsgeschichtlichen Tendenzen des 19. Jahrhunderts gehören. Da allerdings der ›Darwinismus‹, also die ideologische Verdichtung der beiden genannten Theoreme, auch in dieser Hinsicht Veränderungen evoziert, gehe ich in einem ersten Abschnitt kurz auf diese Voraussetzungen ein. Die folgenden Abschnitte geben, konzentriert auf Reaktionsmuster, einen Überblick über die literarische und poetologische Diskussion von der ersten Rezeption Darwinscher Theoreme (1861) bis zur breiten Adaption seiner Theorie im Naturalismus (1890). Dabei gilt Ähnliches wie bei den Voraussetzungen: Auch in die Rezeption Darwins gehen andere, ältere wie neuere Tendenzen ein. So wird die Aufnahme durch die, Mitte der 60er Jahre verstärkt einsetzende, Breitenwirkung Schopenhauers beeinflußt, die nicht nur den Stimmungswert liefert (Pessimismus), sondern mitunter auch die Deutung der natürlichen Prozesse überlagert. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte gewinnt dagegen Haeckels monistisch orientierte ›Schöpfungsgeschichte‹ so sehr an Dominanz, daß der Rekurs auf Darwin marginalisiert wird; Literatur und Kunst der Jahrhundertwende stehen daher hier nicht mehr zur Diskussion.

I. Vor Darwin: Objektivierung und Kultivierbarkeit der Natur Die avancierte Literatur der 40er Jahre zeigt bereits allenthalben den Versuch, einen postidealistisch säkularen Naturbegriff auszugestalten und damit ethische wie gesellschaftstheoretische Überlegungen zu verbinden. Adalbert Stifter (1805–1868) ist in dieser Hinsicht besonders interessant, da er die Objektivierung der Natur zum textinternen Programm erhebt und sich für diesen Aufbau eines objektiven Weltbilds explizit auf die Naturwissenschaften beruft. Obgleich sich in Stifters nachgelassener Bibliothek bereits eine Erstausgabe von Darwins Origin of Species fand,2 kommen die Innovationen der 50er (Materialismus) und 60er Jahre (Darwinismus) nicht zum Tragen. Stifters 2

E. Streitfeld, Aus Adalbert Stifters Bibliothek, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1977), 103–148.

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Naturbegriff zeigt vielmehr sehr genau die Divergenzen innerhalb eines wissenschaftlich fundierten Weltbilds. Ich verdeutliche dies kurz an der Erzählung Hochwald, 1841 publiziert und 1844 im ersten Band der Studien veröffentlicht, die sämtlich Exempel für die Unfähigkeit darstellen, die erkannte Naturgesetzmäßigkeit des Lebens zu realisieren. Zu Beginn vermittelt der szenisch präsente Erzähler zwei unterschiedliche Aspekte: den ›dunklen‹ Aspekt einer sich selbst überlassenen Natur um den einsamen Hochwald-See, die Gewalt, Chaos, Tod assoziiert, und den ›hellen‹ Aspekt einer kultivierten Flußlandschaft, die menschliches Leben möglich macht. Man könnte differenzieren: Natur in ihrer Ursprünglichkeit, als Kraft oder Wirkungspotential, deren ahumaner Charakter »traurig« stimmt − und Natur in ihrer Systemfunktion, deren lebenserhaltende Qualität einen »freundlichen« Eindruck erweckt. Doch sind es bei Stifter die zwei Seiten der gleichen Natur, die der Erzähler in einem grandiosen Rundblick zusammenführt. Die Geschichte erzählt das Schicksal der früheren Bewohner einer (nun von Natur überwucherten) Schloßruine und begründet es klar im Verhältnis zur Natur, die es zu entdecken gilt. Die Reise der beiden Mädchen, die im Innern des Gebirges vor den Wirren des dreißigjährigen Krieges Schutz finden sollen, gestaltet sich daher visuell wie mental als Vorstoß in eine neue Welt mit eigenen Gesetzen. Der Text zeigt dies in der Gegenüberstellung des kultiviert-ritterlichen Vaters der Mädchen und seines Helfers im Hochgebirge, des ›naturrohen‹ Gregor, wobei auch hier der Dualismus benannt und aufgehoben wird: »Es war ein schöner Anblick, […] Beide so ungeheuer verschieden und Beide doch so gleich […]«.3 Kultur und Natur stehen sich gegenüber − kein Bereich ohne den anderen existierend und doch geschieden und vor allem zu scheiden. Denn in dieser Differenzierung liegt die epochenspezifische Intention des Textes. Gregor vermittelt den Gästen zunehmend den Eigen-Sinn der Natur, und er tut dies durch eine systematische Entmythologisierung, wie wir sie in den 40er Jahren nicht nur bei Stifter finden. Der Realismus beginnt ja mit der Kritik an den subjektiven Kategorien des Weltbilds,4 und also, wie Feuerbach wenig später sagt, mit der Unterscheidung »zwischen dem, was der Natur, und dem, was dem Menschen angehört […]«.5 Diese Objektivität ist nichts Selbstverständ3

A. Stifter, Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. von A. Doppler /W. Frühwald, Stuttgart 1978 ff. 4 Diese wie andere Epochenbezeichnungen haben hier ausschließlich literaturhistorische Bedeutung. 5 Feuerbach verteidigt mit diesen Worten seine für die Objektivierung des Naturbegriffs zentrale Kritik der Kategorien in dem Aufsatz Das Wesen der Religion (1846). »Ordnung, Zweck, Gesetz sind Worte, mit denen der Mensch die Werke der Natur in seine Sprache übersetzt, um sie zu verstehen«. (L. Feuerbach, Gesammelte Werke, hrsg. von W. Schuffenhauer, Bd. 10, 344 f.)

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liches, sondern ein bewußtseinsgeschichtlicher Fortschritt,6 nach Auguste Comte bekanntlich der epochale Wechsel in das ›positive‹ Stadium. Mit literarischen Mitteln verortet Stifters Text diese Subjektivität in einem Frühstadium der Menschheit: Damals, erinnert sich Gregor, »kam nie Einer herauf; denn sie fürchteten die Einöde«, und so entstand die Sage von einem »schwarzen Zauberwasser«, in dem »unnatürliche Fische schwimmen […]«.7 Furcht und eine je nach Stimmungslage akzentuierte Mythisierung sind die Verhaltensmuster des vorrealistischen Weltverhältnisses; »je weniger man nämlich die Natur und ihre Gesetze kannte«, desto gewisser mußte man für sie »übernatürliche Ursachen« aufsuchen.8 ›Wunderbar‹ erscheinen dann die unbegreiflichen Phänomene, und anthropomorphe Sagen rankten sich um unbekannte Vorgänge. Die Menschen, sagt Gregor, »können nichts betrachten, als in der Meinung, es sei für sie gebildet«, solange sie nicht hinausgehen in die Natur, um deren »Wesenheit zu lernen«.9 Ein Beispiel für diesen Lernprozeß liefert die Frage nach der Ursache für das Zittern des Espenlaubs. In seiner Antwort stellt Gregor noch einmal die für den epochalen Wechsel charakteristischen »zwei Meinungen« gegenüber: Die ›alte‹ gehört in den Kontext subjektiv-mythologischer Weltanschauung und begründet das Zittern der Blätter mit Schuld und göttlicher Bestrafung; die ›neue‹ gehört in den Kontext realistischer Weltsicht, basiert auf Beobachtung und erklärt das Phänomen aus Beschaffenheit und Bedürfnis der Pflanze.10 Die so erkannte Natur hat in sich Zweck und Zusammenhang11 − aber es ist auch bei Stifter bereits ganz klar ein Funktionszusammenhang, der mensch6

»Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind, sehen in den Dingen nicht sie selbst, sondern nur ihre Einbildungen von ihnen, legen ihr eigenes Wesen in sie hinein. […] Die Vorstellung liegt dem ungebildeten, subjektiven Menschen näher als die Anschauung«, schreibt Feuerbach in den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843), in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 9, 326. 7 A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 4.1, 265 f. 8 L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 6, 158. 9 Ebd., 268 f. 10 »Das Zittern der Espe kommt gewiß nur von den gar langen und feinen Stielen, auf die sie ihre Blätter, wie Täfelchen stellt, daß sie jeder Hauch lüftet und wendet, worauf sie ausweichen und sich drehen, um die alte Stellung wieder zu gewinnen.« Dieser Erkenntnis kommt eine so fundamentale Bedeutung zu, daß sie dem Pfingstsonntag zugeordnet wird (A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 4.1, 246). 11 Feuerbach umkreist diesen naturimmanenten Funktionszusammenhang in vorsichtigen Formulierungen: »Die Dinge in der Natur ziehen sich an, bedürfen und begehren einander, denn eines ist nicht ohne das andere, treten also durch sich selbst in Beziehung, verbinden sich aus eigener Kraft miteinander, […] und begründen dadurch jenen bewunderungswürdigen Zusammenhang, welchen der Mensch […] als das Werk eines nach […] Zwecken wirkenden […] Wesens sich erklärt.« (L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 6, 144).

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lichen Erwartungen nicht entspricht. So verteidigt Gregor den Geier, den sie »draußen ein Raubthier heißen«, obgleich er Fleisch ißt, »wie wir Alle auch«, und sich seine Nahrung sucht »wie das Lamm, das die unschuldigen Kräuter und Blumen ausrauft […]«.12 Nicht anders als dann bei Darwin erhält sich Leben durch die Vernichtung von Leben. »Es muß wohl so Verordnung sein in der Welt«, sagt Gregor im naiven Vertrauen auf eine immanente Ordnung, »daß das Eine durch das Andere lebt […]«.13 Ästhetische und ethische Aspekte bleiben daher Projektionen. So liegt zwar in der Stille des Hochwalds »ein Ausdruck von Tugend«; aber es ist »die Seele allein, die all ihre innere Größe hinaus in das Gleichnis der Natur legt […]«.14 Das heißt: Der Funktionszusammenhang der Natur beeindruckt, vor allem im Kontrast zum Krieg, der hier nur unter Menschen tobt; aber die Kategorien für diese Qualität sind menschliche. Im Leben in und nach der Natur liegt daher keine Alternative. Wenn Gregor die in die Einsamkeit des Waldes zurückgenommene Liebesbegegnung der älteren Schwester mit einem befreundeten Schweden im Blick auf die biologische Funktion billigt − »es ist schon so Natur«, der Schöpfer binde die zwei Geschlechter durch Gefühle, damit sie »seinem Zwecke dienen«15 −, dann verkennt er, wie die weltvergessenen Liebenden selbst, das Defizit an kultivierenden Werten (Anstand, Vertrauen, Selbstbewußtheit), das dann im Handlungsverlauf mit natürlicher Konsequenz zum Untergang führt. Natur bildet die Basis der Kultur16 − hier liegt für einen zeitgenössischen Rezensenten Stifters Innovation17 −, aber erst diese verantwortet und gestaltet die dort herrschenden Gesetze. Ausgehend von solchen Fallstudien entwickelt Stifter im Werk der 50er Jahre − ähnlich wie Gottfried Keller − ein realistisches Bildungskonzept, das von einem naturwissenschaftlich fundierten Wissen um die natürlichen Grund12

A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 4.1, 264. Ebd., 259. 14 Ebd., 241. 15 A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 4.1, 298. 16 »So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes«, heißt es dann in der berühmten Vorrede zu den Bunten Steinen (A. Stifter, Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 2.2, 12). 17 So schreibt der vormalige ›Jungdeutsche‹ Karl Gutzkow: »Diese Studien verdienen vorzugsweise modern genannt zu werden; sie sind das Ergebnis einer poetisch wissenschaftlichen Anschauung […], durch welche die Begriffe über Gegensätze zwischen Natur und Mensch, wie sie sich im klassischen und Mittelalter geltend machten, modifiziert werden. Ausgerüstet mit einem Schatze moderner Kenntnisse, namentlich naturwissenschaftlicher Art, […] greift der Verfasser mit einer Hand in das Menschenleben, mit der andern in das ihn umgebende Schaffen der Natur und bringt beides in eine glühende Vermischung.« (M. Enzinger, Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit, Wien 1968, 42 f). 13

Darwin in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts

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lagen des Lebens ausgeht, um so die Richtlinien für eine lebensgemäße Kultivierung der inneren wie äußeren Natur zu gewinnen. Das Ziel gleicht dem positivistischen Grundsatz des ›savoir pour prévoir‹; Voraussetzung ist hier wie dort die potentielle Interaktion von Natur und Kultur. »Die Begriffe vom Menschen und von der Welt haben immer als unvereinbar gegolten«18, schreibt Auguste Comte in seiner etwa gleichzeitig veröffentlichten Soziologie: »Die neue Philosophie verbindet beide, da sie jedem den Einfluß gestattet, der ihrer Natur entspricht, wobei ihre Harmonie niemals gestört wird.«19 Es ist diese potentielle Harmonie, von der nach Darwin nicht mehr die Rede ist.

II. Schwierige Arrangements: Darwin im Realismus (mit einem Exkurs zu Ludwig Büchner) Die Realisten der zweiten Generation sind Autoren, die in den 50er Jahren zu schreiben beginnen und damit bereits einen säkular konsolidierten, ja in wachsendem Maß ›materialisierten‹ Wirklichkeitsbegriff vorfinden. Sie reflektieren in ihrem Werk von Beginn an diese Verdichtung der Natur und neigen von daher noch einmal zu weltschmerzlichen Reaktionen, wie wir sie aus den ersten Dekaden des Jahrhunderts kennen. Denn zur nachidealistischen Literatur gehört das Bewußtsein von der Fremdheit der Natur − Feuerbach spricht vom »großen Trauerspiel«20 −, sei es, daß im Kontext des sogenannten Weltschmerzes der Verlust an Humanität beklagt wird (Grabbe, Grillparzer, Büchner u. a.), sei es, daß der beginnende Realismus die Neutralität der Natur demonstriert (Stifter, Keller u. a.). So finden wir, noch vor Darwin, den leicht depressiven Blick auf ein Leben, das sich einer zunehmend unzugänglichen Natur ausgesetzt findet. Die Rezeption von Darwins erstem Buch bewirkt vor diesem Hintergrund keinen radikalen Umschwung, sondern führt eher zu graduellen Veränderungen innerhalb dieser Dichotomie von Natur und Leben. Ich zeige dies zunächst an zwei Texten von Theodor Storm (1817–1888). Storms Ausgangspunkt in den frühen 50er Jahren ist, wie bei Wilhelm Raabe, eine sanfte Melancholie. Man trauert der verlorenen Poesie des Lebens nach, die mit den Idealen des Vormärz und im Pragmatismus des Nachmärz unterging. So ist der Protagonist in der Novelle Immensee (1850), die für Storm den literarischen Durchbruch bringt, ungeachtet der Jugendlichkeit des Autors ein alter Mann. Er trägt in den Augen eine ›verlorene Jugend‹, der die neutral 18

A. Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. von F. Blaschke, Stuttgart 1974, 458. 19 Ebd. 20 L. Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in: Ders., Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 1, 286.

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gehaltene Erzählung in markanten, teils sinnbildlich verdichteten Episoden nachgeht. Im Mittelpunkt steht eine unerfüllte Liebe, deren Verlust komplex motiviert ist. Daß Elisabeth nicht ihn, Reinhard, heiratet, sondern Freund Erich, hat zunächst merkantile Gründe. Erich ist liebenswürdig, aber auch ein praktisch denkender Geschäftsmann, der konsequent mit seiner Zeit geht, indem er die von seinem Vater auf dem Gehöft errichteten Wirtschaftsgebäude um eine moderne Kornbranntweinfabrik erweitert. Kein Wunder also, daß Elisabeths Mutter auf die Heirat mit dem Erfolgreichen drängt, wobei die Situation der Tochter allerdings im Bild des vergoldeten Kanarienvogel-Käfigs, den ihr Erich schenkt, vorweggenommen wird. Im Gegensatz zu Erich präsentiert sich Reinhard als Romantiker; er dichtet und interessiert sich auch als Botaniker für den poetischen Reiz der Natur. So stehen sich der modern prosaische und der poetische Charakter gegenüber, wobei der Autor bei aller Sympathie für seinen Helden auch die realen Probleme in den Blick nimmt. Als Reinhard zum Früchtesammeln in den Wald geschickt wird, bringt er zwar ein ›Lied‹ zurück, sonst aber nur ›Hunger und Durst‹: »Wer ungeschickt ist, muß sein Brot trocken essen«, heißt es; »so geht es überall im Leben […]«.21 In der Linie dieses Unvermögens liegt Reinhards Versagen: Er versäumt es, der Geliebten seine Liebe zu gestehen und sie an sich zu binden. Warum dies geschieht, ist in der Forschung umstritten; doch weisen zwei Episoden auf die inneren Voraussetzungen hin. Als Student erlebt Reinhard in der Stadtschänke eine erotische Begegnung, die sein Blut in Wallung bringt, wenngleich er sich (am Weihnachtsabend) solcher ›Sündhaftigkeit‹ entzieht. Erkennbar wird also eine Dichotomie von Geist und Sinnlichkeit, sei es, daß die Motive dafür in Elisabeths Charakter liegen oder in der Unfähigkeit des Helden, Ideal und Wirklichkeit zu vereinen. Für letzteres spricht eine in ihrer Symbolik rasch berühmt gewordene Textpassage: Zu Gast auf dem Gut des Ehepaares, kommt Reinhard in der ›schwülen Mondesdämmerung‹ einer Sommernacht die Lust an, eine weiße Wasserlilie »in der Nähe zu sehen«. Er versucht die Ferne schwimmend zu erreichen; als er ihr aber nahe kommt, »fühlte er sich wie in einem Netze verstrickt […]«.22 Daß der Schwimmende in die Pflanzenschlingen geriet, ist nur eine pragmatische Motivation; die eigentliche liegt in der Angst vor dem Leben, das dem Romantiker − der die Höhenperspektive liebt23 − als »fremdes Element« begegnet.24 Kritik bleibt freilich suspendiert; der Autor zeigt in der Darstellung Dissonanzen auf, die nicht aufzulösen sind.

21

Th. Storm, Sämtliche Werke, 4 Bde., hrsg. von K. E. Laage / D. Lohmeier, Frankfurt / M. 1987, Bd. 1, 300. 22 Ebd., 323. 23 Vgl. ebd., 315. 24 Ebd., 323.

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Ein gutes Jahrzehnt später verdeutlicht Storms Erzählung Im Schloß − 1862 in der »von mehreren hundert Tausend Menschen […] mit Begeisterung«25 gelesenen Gartenlaube publiziert −, wie sich der Dichter nun um eine realistische Lebensanschauung seiner Figuren bemüht und wie Darwin diese Bemühung erschwert. Die Schwierigkeiten in der Ausformung eines adäquaten Naturbegriffs werden schon in den für Storm ungewöhnlichen Veränderungen deutlich, die das Grundkonzept in der Entstehungsphase durchläuft, wobei zu vermuten ist, daß sie mit einer ersten Rezeption Darwins zu tun haben. Storm beginnt mit der Ausführung der Erzählung nämlich im Sommer 1861, kurz nachdem in der Gartenlaube eine der ersten Reaktionen auf die Entstehung der Arten erschienen war: Ludwig Büchners Aufsatz Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein. Ich stelle die Argumentationsweise dieses in der Forschung kaum bekannten Essays kurz vor, um das Wirkungspotential zu verdeutlichen. Schon die negative Titelmetaphorik von Büchners Essay (›Schlachtfeld‹) dürfte die deutsche Genese des Darwinismus nicht unerheblich beeinflußt haben. Er verwundert insofern, als vor dem Hintergrund von Büchners populärwissenschaftlichem Materialismus zwei Theoreme Darwins − die Naturgesetzlichkeit der Artenentwicklung und damit das Schöpfungsverdikt − keinerlei Provokation darstellen konnten. Ja, es stand zu erwarten, daß er als Vertreter des »sogenannten Materialismus«26 beides als Bestätigung für die Immanenz und vor allem auch für die Qualität der Natur begrüßte. Die Richtigkeit dieser Erwartung belegt Büchners Brief vom Oktober 1863 an den Sekretär der Londoner anthropologischen Gesellschaft anläßlich dessen Übersetzung von Kraft und Stoff. Büchner spricht darin von einer erhofft positiven Aufnahme, weil das Buch »dem Geiste Ihrer Landsleute weniger ungewohnt sein werde als dem der meinigen, bei denen der Glaube an die Wunder einer übersinnlichen Spekulation immer noch mächtiger zu sein scheint als das Vertrauen auf die Wirklichkeit […]«. Und in der Tat begrüßt Büchner »die berühmte Darwinsche Theorie« von der Einheit der »Organismenwelt« als den ersehnten wissenschaftlichen Beleg für sein eigenes weltanschauliches Interesse an einem philosophisch-›ideellen‹ Wirklichkeitsbegriff, der die Natur »in ihrem inneren Zusammenhang und ihrer höchsten philosophischen Einheit zu begreifen sucht […]«.27 Im Trend der Zeit trage Darwin zur Säuberung der 25

Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 1, 1122. L. Büchner, Bestätigung der Unsterblichkeit der Materie durch die Darwinsche Theorie, in: G. Altner (Hg.), Der Darwinismus, Darmstadt 1981, 191–199. Büchners terminologische Reserve richtet sich gegen den Vorwurf einer ›einseitig‹ materialistischen Erklärung. Wie Moleschott betont er immer wieder die Ausgewogenheit eines Geist und Materie gleichermaßen gerecht werdenden Weltbilds. 27 L. Büchner, Bestätigung der Unsterblichkeit der Materie durch die Darwinsche Theo26

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Naturanschauung von subjektiven Momenten bei (»verderbliche Zweckmäßigkeitstheorie«) und also zur Etablierung einer objektiven Erkenntnis, die die Ordnung der Natur transparent mache.28 Daß diese Ordnung den Menschen mitumfaßt, ist für den ›Materialisten‹ selbstverständlich. So rühmt Büchner, daß Darwin mit seiner naturgesetzlichen Erklärung von der Entstehung der Arten den »Faden« gefunden habe im »verwirrenden Chaos« der Natur, indem er durch den genetischen Aspekt das Problem der »Stellung des Menschen in der Natur« löse, das Kraft und Stoff substantiell angegangen sei. Insgesamt sieht Büchner durch Darwins bereits im Ursprung der Arten ablesbare Lehre von der natürlichen Abstammung des Menschen die »von uns behauptete langsame und schwierige Hervorbildung des Menschen aus tierischen Anfängen« bestätigt: Der Mensch ist, als Geistwie Kulturwesen, nichts Abgetrenntes, sondern »edelster und bester Sohn« der »ewig jungen Mutter Natur«; diese ist kein »regelloses Chaos« unbegreiflicher Naturmächte, sondern ein »durch einige wenige große und ewige Gesetze verbundenes und geleitetes Ganzes […]«.29 Dieser erste Eindruck wird dann schrittweise präzisiert durch die sechsteilige Vorlesungsreihe zu Darwins Theorie, die Büchner im Winter 1866 und 1867 in Offenbach und Mannheim abhält und 1868 unter einem recht ausführlichen Titel publiziert.30 Von diesem grandiosen Bild ist nun aber in Büchners populär gehaltenem − und vielleicht deshalb etwas sensationslüsternem − Gartenlauben-Essay von 1861 nicht die Rede. Schon der erste Satz zitiert Darwin vielmehr als Beweis für die lang befürchtete Inhumanität der Natur. »Wie oft schon hat man die Natur mit einem Schlachtfeld verglichen, auf dem die lebenden Wesen mit einander

rie, a. a. O., 191 f. »Kann es doch kaum eine mehr ideale Vorstellung geben als die Einheit des gesamten − körperlichen und geistigen − Daseins in denselben Grundursachen und Grundgesetzen!« Zur besseren »Religion« wird so der »Gedanke einer obersten und höchsten Weltregierung« in Form eines »obersten Gesetzes selbst, aus dem alle Erscheinungen auf eine uns unerkennbare Weise fließen« (ebd., 196 f.). Diese Ausrichtung auf traditionelle Wertvorstellungen (Einheit, Ganzheit, Zweck), ja die Substituierung der alten durch eine neue Religion ist charakteristisch für den Wirklichkeitsbegriff der Jahrhundertmitte, bleibt aber Folie für das gesamte 19. Jahrhundert. 28 Vgl. Abschnitt 1. »Mit jedem Schritt, den die Wissenschaft vorwärts tut, erobert sie der Gesetzlichkeit, der Ordnung einen neuen Boden und drängt Willkür und Aberglauben in den Hintergrund« (ebd., 193 f.). 29 L. Büchner, Bestätigung der Unsterblichkeit der Materie durch die Darwinsche Theorie, a. a. O., 193, 195 f. 30 L. Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwin’sche Theorie von der Verwandlung der Arten und die erste Entstehung der Organismenwelt, sowie über die Anwendung der Umwandlungstheorie auf den Menschen, das Verhältniß dieser Theorie zur Lehre vom Fortschritt und den Zusammenhang derselben mit der materialistischen Philosophie der Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1868.

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um ihr Dasein ringen«31, ohne daß man die Wahrheit dieses Vergleichs geahnt habe, der sich nun mit Darwin bestätige.32 Zwar hebt Büchner die so erzielten Folgen rühmend hervor (»schöne und vortreffliche Anpassungen«). Aber so recht wohl scheint ihm selbst nicht im Blick auf die martialischen Vorgänge von ›Kampf‹, ›Mord‹ oder ›Unterdrückung‹, die diesen Erfolgen mittel- oder unmittelbar vorausgehen.33 So kommt es zu einem latent dualistisch geprägten Weltbild, das den gefällig ästhetischen Aspekt der Natur mit einem deutlich desillusionierenden Wissen über den Kern der Wirklichkeit konfrontiert. »Aeußerlich, so setzt Darwin auseinander, scheint die Natur in Heiterkeit und Ueberfluß zu strahlen; aber in Wirklichkeit ist es nur ein steter, ununterbrochener, mit Aufbietung aller Kräfte geführter Kampf sowohl der Einzelwesen unter einander, als derselben gegen die äußeren Lebensverhältnisse, in welchem schließlich nur der Stärkere, Beste oder mit irgend einem eigenthümlichen Vortheil Ausgerüstete den Sieg davonträgt.«34

Das indirekte Zitat geht auf einen Satz Darwins in Kapitel 3 ›Der Kampf ums Dasein‹ zurück,35 der den Rezensenten offensichtlich besonders beeindruckt hat. Nicht zufällig findet sich das gleiche Zitat wortwörtlich auch bei Friedrich Albert Lange, belegt es doch eindrucksvoll die ›Kurzsichtigkeit‹ einer anthropozentrisch-moralischen Naturanschauung.36 Büchner geht im folgenden zwar noch auf die Einheitlichkeit und Positivität von Darwins »großem Fortschritts- und Entwicklungsgesetz« ein, welches »das Geheimniß der Geheimnisse«, nämlich die Entstehung der Arten gelöst habe.37 Doch dürfte die Leserschaft der bürgerlichen Gartenlaube insgesamt weniger enthusiasmiert, als entsetzt gewesen sein. Büchners explizite Übertragung der Metapher auf den Menschen und, als wohl erstes Zeugnis, auf den 31

L. Büchner, Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein, in: Gartenlaube 6 (1861), 93. 32 Ebd., 93–95. 33 »So ist die Natur ein Schlachtfeld, auf welchem stets das Eine durch das Andere mordet oder zu unterdrücken strebt, und zwar nicht bloß in unmittelbarem Kampfe, sondern noch mehr mittelbar durch größere Fruchtbarkeit, bessere Werkzeuge zur Aufsuchung der Nahrung oder Vermeidung von Gefahr und Verfolgung und Aehnliches.« (Ebd., 93.) 34 Ebd., 93. 35 »Wir sehen das Antlitz der Natur heiter erstrahlen; wir sehen überall nur Überfluß an Nahrung. Aber wir sehen nicht oder übersehen, daß die Vögel, die sorglos rings um uns singen, von Insekten oder Samen leben und damit ständig Leben vernichten.« (Ch. Darwin, Die Entstehung der Arten, dt. von C. W. Neumann, Stuttgart 1981, 101.) 36 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, Bd. 2, hrsg. von A. Schmidt, Frankfurt / M. 1974, 691 f. 37 L. Büchner, Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein, a. a. O., 94.

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Kulturkampf der ›Menschenrassen‹38, mag dem Bürger der siegreichen Zivilisation schmeicheln. Es herrschen aber wohl, bei Autor wie Leser, zwiespältige Gefühle im Blick auf eine Natur »des ewigen Kampfes und gegenseitigen Mordens«, die versöhnliche Hinweise auf die Schnelligkeit des Todes und den Sieg des Kräftigen kaum zu beschwichtigen vermögen.39 Nimmt man Storm als aufmerksamen Leser dieses Aufsatzes an − die Lektüre ist zu vermuten, aber nicht nachweisbar −, so verwundert es nicht, daß ihm die Ausformung einer ›positiven‹ Naturanschauung Schwierigkeiten bereitet. Im Mittelpunkt der Erzählung steht wieder ein junges Paar, das seine Liebe verfehlt, wobei nun auch der Standesdünkel eine Rolle spielt, der für den liberal-demokratischen Storm (in der Tradition der politischen Metaphorik Feuerbachs) eine Parallele zum Absolutismus der Theologie bildet. Gerade darum geht es in der Geschichte: Eine positive Lösung wird in dem Maß möglich, wie es Anna gelingt, einen in jeder Hinsicht säkularen Lebensbegriff auszubilden. Die Tochter eines Schloßherrn verlebte nämlich eine kontaktarme Jugend, deren Einsamkeit sie durch poetisch-religiöse ›Träumereien‹ ausglich: »Aber ich war nicht allein«40; ein kindlich ›lieber Gott‹ war überall bei ihr. Unterschwellig wirkten hier die Eindrücke des alten Rittersaals nach, in dem Ahnenporträts von der Vergänglichkeit des Menschen künden: Ein Basrelief stellt den »Krieg des Todes mit dem menschlichen Geschlechte«41 dar. Das Kind verband beide Regungen nicht; der Text aber läßt erkennen, wie sehr alle Religiosität im Vergänglichkeitsbewußtsein gründet. Von der »Angst des sterblichen Menschen vor dem Alleinsein« spricht der kluge alte Oheim, der sich bald als Annas Lehrer in Sachen Transzendenzverzicht versucht. Behutsam versucht der dilettierende Naturforscher, der ›allerhand Getier‹ sammelt und archiviert, die Sehnsucht nach dem Jenseits durch das Verständnis des Diesseits zu ersetzen: Um ihr zu zeigen, »was noch viel wunderbarer ist«, fing und tötete er eine Fliege und begann, ihr »den kunstreichen Bau dieses verachteten Tierchens zu erklären«. Der Erfolg bleibt zunächst

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»Unter den jetzt lebenden Menschenracen wird ein gegenseitiger Kampf geführt, wie kaum irgend wo unter Naturwesen, ein Kampf, bei dem die jüngsten und demnach vollkommensten oder wenigstens am besten angepaßten Racen auch die meiste Aussicht auf Erfolg haben.« (Ebd., 95). 39 Büchners Aufsatz schließt mit dem tröstlichen Rekurs auf die Entstehung: »Diejenigen, welche aus der Betrachtung des ewigen Kampfes und gegenseitigen Mordens in der Natur ein beunruhigtes oder erschrecktes Gefühl davon tragen möchten, sucht Darwin mit dem Gedanken zu trösten, daß der Krieg nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist und daß es meist der Kräftigere, Gesündere und Geschicktere ist, welcher den Sieg davonträgt.« (Ebd., 95). 40 Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 1, 492. 41 Ebd.

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gering: »die Wunder der Natur hatten keinen Reiz für mich nach den phantastischen Wundern der Märchenwelt […]«.42 Diese Aufklärung im Geiste Feuerbachs43 geht nach Annas Rückkehr aus der Stadt, wo sie eine rigide ›Dressur‹ durchläuft, in eine zweite Phase. Als Anna im Beisein des Onkels eine alte Kirchenlied-Strophe über die ›göttliche‹ Liebe auswendig lernt, konfrontiert sie dieser mit den Tatsachen einer entgötterten Natur, die in ihrer Härte deutlich über Feuerbachs Begriff der ›Ungemütlichkeit‹ hinausgeht. »Weißt du«, fragt der Onkel, »wie der Carabus den Maikäfer frißt«, und er beginnt »mit unerbittlicher Ausführlichkeit die grausame Weise darzulegen, womit dies gefräßige Insekt sich von andern seinesgleichen nährt […]«.44 Der Text reflektiert also die Dialektik von Leben und Vernichtung − die Storm auch später wiederholt als Grundstruktur des natürlichen Funktionszusammenhangs bezeichnet − und stellt sie zugleich auf eine Weise dar, die nicht nur die Suspension menschlicher Kategorien, sondern die Inhumanität dieses Geschehens deutlich macht. »Und das mein Kind« lautet des Onkels Resümee, »ist die Regel der Natur […]«. Auch die Liebe sei nacktes Bedürfnis, »nichts als die Angst des sterblichen Menschen vor dem Alleinsein […]«. Durch diese im Wortsinn brutale Naturanschauung wird Anna »der Boden unter [den] Füßen fortgezogen«; das irdische Dasein scheint von ›Trostlosigkeit‹ geprägt. Ihre Resignation wächst, als sie wenig später das mitleidslose Spiel einer Katze (›Raubtier‹) mit einer Maus (›entrinnende Kreatur‹) beobachtet. Diese nun zweifach veranschaulichte Brutalität der Natur ist dem entstehenden säkularen Weltbild kaum zu vermitteln: »Befreien Sie mich« vom schwarzen Käfer »und − von der schwarzen Katze«, sagt Anna zu Arnold, dem jungen bürgerlichen Hauslehrer, »ich habe bisher noch immer den Finger des lieben Gottes in meiner Hand gehalten […]«.45 In Erlebnis wie Bewußtsein der Figuren verweist Storm also noch einmal auf den Kontrast der nur-natürlichen zu einer ›spirituellen‹ Weltanschauung. Inwiefern dieses Naturbild durch Darwin weiter verdüstert wurde, bleibt dahingestellt. Der Blick auf Storms Biographie macht es eher wahrscheinlich,

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Ebd., 494. In seiner Abhandlung Über das Wunder (1839) sieht Feuerbach dieses als Syndrom einer prärealistischen Weltanschauung, die sich in ihrer Willkür »an kein Gesetz, keine Notwendigkeit, keinen Zweck bindet« (L. Feuerbach, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 8, 301), worin Theologie, Phantasie, Idealismus und Absolutismus konvergieren. So gehört das Wunder zum »gedankenlosen Schlendrian seiner Jugendgewohnheiten«, wo der Mensch das Natürliche noch nicht als eigengesetzlichen Gegenstand und damit selbst »etwas Wunderbares« erkennt (ebd., 323). − Eine Feuerbach-Lektüre ließ sich bei Storm bislang nicht nachweisen; doch waren die Kritikpunkte in Intellektuellenkreisen bekannt. 44 Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 1, 508. 45 Ebd., 510. 43

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daß dadurch zunächst noch einmal die weltschmerzlichen Spannungen seiner Jugend reaktiviert werden. Denn wie früh schon ein solch illusionsloser Blick dem stets religionskritischen Storm geläufig war, zeigen briefliche Äußerungen aus den 40er Jahren zum ›großen Mechanismus‹ der Natur, dem selbst werthafte Gefühle wie die Mutterliebe eingeordnet seien − für Storm zu dieser Zeit der (unverkennbar idealistisch akzentuierte) Beweis, »daß wir keine freien selbständig geistigen Wesen sind […]«.46 Darwin dürfte diese überholte ›mechanistische‹ Vorstellung eher gelockert haben. Er intensiviert aber andererseits die Naturalisierung des menschlichen Lebens, die sich, bei Storm wie bei Raabe, bald in einer ausgeprägten Tiermetaphorik niederschlägt. Im Kontext des vorliegenden Textes ist freilich zu erkennen, daß der Naturaspekt dem Aufbau eines realistischen Weltbilds, zumindest zu Beginn der 60er Jahre, nicht grundsätzlich entgegensteht. »Es gibt noch einen andern Gott«, wendet Arnold gegen Annas traditionellen Gottesbegriff ein. Als diese zunächst ungläubig reagiert (»aber der ist unbegreiflich«), entwickelt der Lehrer eine klare Sinndimension aus der endogenen Geschichte der menschlichen Kultur, die er, noch vor Haeckel, im Bild eines natürlichen Stammbaums veranschaulicht.47 Mit gebührender Vorsicht läßt sich hier auch die moderne Naturwissenschaft einbeziehen, wobei allerdings die Kriterien nicht genannt werden.48 So weist der Oheim »mit einer gewissen Feierlichkeit« auf die »Werke der neueren Naturforscher«: »Das sind die Männer, die ihn suchen, von denen wird er sich suchen lassen; aber der Weg ist lang und führt oftmals in die Irre.«49 Immerhin festigt sich daraufhin in Anna »ein Gefühl ruhigen Glückes«, »war es die neue, bescheidenere Gottesverehrung, die jetzt in 46

D. A. Jackson, Storms Stellung zum Christentum und zur christlichen Kirche, in: B. Coghlan / K. E. Laage, Theodor Storm und das 19. Jahrhundert, Berlin 1989, 47. − Die ›triebhafte‹ Interpretation liegt noch in der Linie Schopenhauers, der gleichfalls vom Instinkt der Mutterliebe spricht. 47 »›In der Bibel steht ein Wort: So ihr mich von Herzen suchet, so will ich mich finden lassen! − Aber sie scheinen es nicht zu verstehen; sie begnügen sich mit dem, was jene vor Jahrtausenden gefunden oder zu finden glaubten.‹ Und nun begann er mit schonender Hand die Trümmer des Kinderwunders hinwegzuräumen, das über mir zusammengebrochen war; und indem er bald ein Geheimnis in einen geläufigen Begriff des Altertums auflöste, bald das höchste Sittengesetz mir in den Schriften desselben vorgezeichnet wies, lenkte er allmählich meinen Blick in die Tiefe. Ich sah den Baum des Menschengeschlechtes heraufsteigen, Trieb um Trieb, in naturwüchsiger ruhiger Entfaltung, ohne ein anderes Wunder als das der ungeheuren Weltschöpfung, in welchem seine Wurzeln lagen.‹« (Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 1, 510). 48 Wie schwierig es war, in das konsolidierte Weltbild auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft einzuordnen, belegt der Umstand, daß Storm in der Vorfassung keine argumentative Verbindung zwischen Arnold und dem szientistischen Oheim aufbaute. Dort oblag die Religionskritik Arnold, das säkulare Weltbild aber dem Oheim. 49 Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 1, 511.

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meinem Herzen Raum erhielt, oder gehörte es mehr der Erde an, die mir noch nie so hold erschienen war«.50 Auf der Basis dieser jedenfalls ›irdischen‹ Religion bekennt sie sich zu ihrer reinmenschlichen, Standesdünkel und antiquierte Moral überwindenden Liebe. Hier liegt das didaktische Moment, das Storm nach eigenen Angaben den Lesern der Gartenlaube vermitteln will. Daß die Metapher vom ›Schlachtfeld der Natur‹ bei Storm nachwirkt, belegt die Wahl der Metaphorik in seiner brieflichen Äußerung zum deutsch-französischen Krieg, der ihm − wenn auch in einer verqueren, Darwin mit Schopenhauer überlagernden Argumentation − zum Exempel für die Omnipräsenz des Darwinismus gerät. »Was mich hauptsächlich beherrscht, […] das ist der Ekel, einer Gesellschaft von Kreaturen anzugehören, die außer den übrigen ihnen von Natur auferlegten Funktionen des Futtersuchens, der Fortpflanzung etc. auch die mit elementarischer Stumpfheit befolgt, sich von Zeit zu Zeit gegenseitig zu vertilgen. Das Bestehen der Welt beruht darauf, daß alles sich gegenseitig frißt, oder vielmehr das Mächtigere immer das Schwächere; den Menschen als den Mächtigsten vermag keines zu fressen; also frißt er sich selbst […]. Dies ist die eigentliche Ursache der Kriege, die andern sog. Ursachen sind nur die Veranlassungen.«51

Bezeichnend für die Ideologiegeschichte der 70er Jahre konvergieren in Storms Argumentation Darwins Selektionstheorie (zweckmäßige Korrektur von Überpopulation) und Schopenhauers Willensmetaphysik (›Selbstzerfleischung‹ durch Leerlauf des Triebes). Bereits selbstverständlich aber ist offenbar die Übertragung des Daseinskampfs auf die menschlichen Lebensformen; Darwins Descent of Man stellt in dieser Hinsicht also keinen Einschnitt dar. Zum Problem wird, mit Darwin, dagegen die zunehmend erkannte Bedingtheit des menschlichen Handelns durch die vitalen Bedürfnisse. Im Gegensatz zu Stifter und Comte kann diese Vitalität bei Storm nun weder kultiviert noch gesteuert werden, weil eine übermächtig erscheinende Natur, die im Spätwerk mythische Züge gewinnt (Schimmelreiter), sich dieser Bedürfnisse zu ihrer konservativen wie regenerativen Selbsterhaltung bedient. »Keine Zivilisation wird, ja darf das je überwinden«52, heißt es im gleichen Brief weiter. Denn im Prinzip beruht darauf das Funktionieren, die innere ›Balance‹ einer Natur, die den Menschen übergreift.53 Storm dürfte also Darwins Malthusianische Begründung des Daseinskampfes zur Vermeidung von Überpopulation 50

Ebd., 512. Am 3. August 1870 an den Sohn Ernst, in: Th. Storm, Briefe, 2 Bde., hrsg. von P. Goldammer, Berlin 1984, Bd. 2, 19. 52 Ebd. 53 In einem nicht veröffentlichten Entwurf zu Eine Halligfahrt (1871) heißt es: »Die letzte Ursache des Krieges ist keine andere als die von Urbeginn der Schöpfung dagewe51

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zur Kenntnis genommen haben. Er akzeptiert sie; doch ist dieser Gedanke, daß der Mensch in seinem Handeln einen seiner Humanität widerstrebenden Naturzweck vollzieht,54 »niederdrückend«, ja »einer, über den man verrückt werden könnte«.55 Trost liegt für die zweite Generation der Realisten nur in einer partiellen Distanzierung, die Storm in seinen Erzählungen mit narrativen Stilmitteln (z. B. Rahmenhandlung), hier im Rückgriff auf traditionelle Denkfiguren veranschaulicht: Schon die Tatsache, daß man jenen Gedanken fassen könne, sei doch ein Beweis dafür, »daß wenigstens der einzelne sich über diesen Zustand erheben kann […]«.56 Die Unabweisbarkeit einer zutiefst problematischen Naturhaftigkeit führt in Storms späteren Novellen zu einem aporetischen Schuldbegriff. So ›erfüllt sich‹ in Aquis submersus (1876) die Liebesbeziehung des jungen Paars, obgleich ebenso provoziert durch die mit Tiermetaphorik veranschaulichte Brutalität der barocken Junker-Gesellschaft (›Wulf‹)57 − die der Text durch Vererbung innerhalb des Geschlechts erklärt −, im Tod des gemeinsamen Kindes. Zwar habe er, so Storms Kommentar, »an keine Schuld des Paares gedacht«; doch fallen die Protagonisten »durch die Schuld oder Unzulänglichkeit des Menschenthums«, liege dieses »Feindliche« nun in ihm selbst oder seiner Umwelt, möge er dagegen zu kämpfen haben oder darüber zu Grunde gehen.58 So wird die Fatalität des Geschehens zum Zeichen für eine zumindest in jener vergangenen Welt − Storms charakteristische Rahmenkonstruktion führt von der Gegenwart in die Geschichte zurück − nicht zu leistende Sittlichkeit. Auch Wilhelm Raabe (1831–1910) gehört zur zweiten Generation realistischer Autoren, die in den 50er Jahren zu schreiben beginnen und damit keine ethisch motivierte Wendung zum Objektiven durchlaufen, sondern sich, mit allen Folgen, in eine natürliche Wirklichkeit ›geworfen‹ finden. sene; − aus welcher die Creaturen ihr Futter suchen gehn und ihr Geschlecht vermehren. Damit die Welt balancire, muß aber noch hinzukommen, daß immer Eins das Andere verschlingt; und da der Mensch keinen Würger über sich hat, so vollzieht er blind und toll dieß Naturgesetz in der eigenen Familie […]. Ich hasse den Krieg, weil er wie nichts Andres, den Menschen zum willenlosen Werkzeug der Natur erniedrigt.« (Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 1, 787). 54 »Mir erscheint im Kriege«, schreibt Storm am 31. Oktober 1873, »trotz alles Erhabenen, was dabei gelegentlich vorkommt, der Mensch, oder besser, die Menschheit in ihrer tiefsten Erniedrigung; denn er, oder sie, erscheint hier als das willenlose − trotz alledem willenlose − Werkzeug der Natur, die ohne Vernichtung nicht balancieren kann und deshalb ihre Kreaturen aneinanderhetzt.« (Th. Storm, Briefe, a. a. O., Bd. 2, 74). 55 Ebd. 56 Vgl. Th. Storm, Briefe, a. a. O., Bd. 2, 19. 57 Von drei »furchtbaren Dämonen« erklärt sich der Held verfolgt: Zorn, Todesangst und Liebe (Th. Storm, Sämtliche Werke, a. a. O, Bd. 2, 419). 58 Ebd., 929.

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»Es ist eigentlich eine böse Zeit«, lautet der Anfang von Raabes berühmtem Erstlingsroman Die Chronik der Sperlingsgasse (1854). »Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil! In der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt.«59 Es ist eine eher stimmungsmäßig empfundene als real begründete Not, die alle Aspekte eines nur-irdischen Daseins umfaßt. Armut und Sterben, menschliche Kälte und metaphysische Desorientierung summieren sich zu einer tiefen Skepsis über den Sinn und Wert menschlichen Lebens. Das Greisenalter des Erzählers gründet in dieser Symbolik der Lebenserfahrung: Am Ende steht die ›Einsamkeit‹ in einer ›kalten, traurigen Gegenwart«, die den menschlichen Sehnsüchten fremd gegenübersteht; ›De vanitate hominum‹ lautet der Titel der Mappe, in die der Gelehrte seine Beobachtungen zu den ›Antinomien des Daseins‹ einheftet. Besonders im ersten Teil des Romans häufen sich die charakteristisch weltschmerzlichen Reflexionen: Von »Strom des Gehens und Kommens«60 ist die Rede, dem »Getön des Weltenrades«61 oder dem unentrinnbaren »Arm der Notwendigkeit«62, der das Dasein zum »Puppenspiel«63 macht; das ganze Leben erscheint als »Gang zum Richtplatz«, dem allgegenwärtigen Tod.64 Unter dem Aspekt der Endlichkeit erscheint alles menschliche Streben sinnlos – von »zertretenen Generationen, gemordeten Völkern und gestorbenen Individuen«65 zeugen die Blätter des Weltbuchs −, es gleicht einer willentlichen Selbsttäuschung: »Verkehrt auf dem grauen Esel ›Zeit‹ sitzend, reitet die Menschheit ihrem Ziele zu […].«66 Inwiefern Raabe hierbei schon das wissenschaftlich-materialistische Weltbild reflektiert, das in den 50er Jahren die Öffentlichkeit schockiert, bleibt ungewiß. Die Parallelität der literarischen Weltmodelle läßt, wie gesagt, auf eine breite Skepsis gegenüber den Bedingungen des nun rückhaltlos ›realen‹ Daseins schließen.67 59

W. Raabe, Sämtliche Werke, 20 Bde., hrsg. von K. Hoppe, Braunschweig / Göttingen 1959 ff., Bd. 1, 11. 60 Ebd., 25. 61 Ebd., 26. 62 Ebd., 77. 63 Ebd., 31. 64 Ebd., 29. 65 Ebd., 124. 66 Ebd., 31. 67 Dieses erneute Gefühl einer Reduktion trennt die Literatur Stifters von der Storms und Raabes. Ein Freund Raabes spricht in seiner Würdigung des Dichters später vom »klaffenden Durchriß zwischen der realen, nackten Erkenntniß der Wirklichkeit und den unabweisbaren Forderungen des Gemüths, der seinen Abgrund nie weiter gähnend als zu unserer Zeit ausgedehnt« habe. (W. Jensen, Wilhelm Raabe. Ein Beitrag zur Würdigung des Dichters (1878), zitiert nach M. Bucher / W. Hahl u. a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880, Stuttgart 1976 / 1981, Bd. 2, 541.)

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Da Realisten gleichwohl nicht hinter die Bedingungen der Wirklichkeit zurückgehen, auch wenn sie stets deren menschlichen Aspekt einklagen, entfaltet der Erzähler in seiner neu angelegten ›Chronik‹ der Gasse ein in der Summe tröstliches Lebensbild. Nicht zuletzt für sich selbst sucht Raabe Klarheit zu gewinnen über die Position, die das Individuum in der realen Welt einzunehmen hat, und den Spielraum, den es beanspruchen kann. So wäre die Mitte zu finden zwischen den beiden Extremen, wie er sie erstmals im Roman Ein Frühling (1857) in polaren Figuren umspielt: zwischen der Souveränität eines radikal eigenen, ja selbstherrlichen Daseins – ein Ideal, das nicht nur auf alte romantische Sehnsüchte zurückgeht, sondern auch aus neuen materialistischen Ängsten resultiert –, und dem mitverantwortlichen, aber uneigentlichen Leben in der Gesellschaft. Immer wieder thematisiert Raabe diese Alternative in den unterschiedlichen, oft polaren Figuren seiner Texte. Darwin dürfte dieser Konstellation ein wesentliches Moment hinzugefügt haben. Auch für diese Begegnung gibt es bei dem theoriescheuen Raabe keinen Beleg; doch zeichnen sich gerade 1861, also im Umfeld von Büchners Gartenlauben-Aufsatz, markante Veränderungen ab. Im Herbst 1861 beginnt Raabe mit einem mehrbändig geplanten Projekt, wohl im Stil eines Entwicklungsromans, unter dem Titel Robert Wildhahn. Dieser Name wird bald in ›Robert Wolf‹ geändert, dokumentiert in dieser Variation aber die Konstanz der ›tierischen‹ Semantik. Wie sehr Raabe daran liegt, zeigt auch die im Februar 1861 begonnene und fertiggestellte Erzählung Das letzte Recht, in der ein ›Wolf Scheffer‹ den brutalen ›Krieg‹ verdeutlicht, der, wie in Büchners Darwin-Zitat, unter der ›schönen‹ Oberfläche des Lebens tobt.68 − »Decken Sie doch einmal […] die Dächer Braunschweigs ab«, schlug Raabe einem Gesprächspartner in vergnügter Runde vor, »und Sie werden sich entsetzen vor dem grauenhaften Elend, vor den Krankheiten und Verbrechen, die Sie erblicken werden«.69 − Im Roman verweist 68

Rothenburg im Tal ist auf den ersten Blick ein idyllischer Ort der »guten alten« Zeit. »Wenn man die kleine Stadt so im Sonnenschein des Augusts 1704 […] liegen sah, […] so hätte man es wirklich nicht für möglich halten sollen, daß es so viel Unglück, Haß, Zwietracht, […] Ehrgeiz und Geiz in der Welt geben konnte. Es war leider aber doch damit also bestellt«, und hierin spiegelt die Stadt den eben stattfindenden Spanischen Erbfolgekrieg (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 4, 26). Dem damit verbundenen ›Naturrecht‹ stellt die Dichtung freilich ein anderes, wenngleich ebenso ›reales‹ Recht entgegen: Als der seelisch verwilderte Wolf Scheffer sich als Scharfrichter fremdes Besitztum aneignen will, wird er im Augenblick des Triumphs unter dem maroden Gebäude begraben. Während das Volk »Gottes Gericht« erkennt, kommt der Erzähler zum säkularen Resümee, »daß alle Menschen und alle Sachen in dieser Welt einen Augenblick haben, in welchem ihnen das letzte Recht gegeben wird« (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 9.1, 8). 69 W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Erg. bd. 4, 187 f.

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die namensinterne Animalität wertneutral auf den ›wilden‹ Ursprung des Protagonisten, seinen ›tierischen‹ Trieb der Selbstbehauptung,70 wozu sich dann im Titel des November 1862 beendeten Romans noch das Vegetative der ›Mutter Erde‹ gesellt: Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale. Mit dieser Thematik knüpft Raabe an die Interessen der 50er Jahre an: die Frage nach den Entwicklungsbedingungen und -möglichkeiten junger Menschen in der modernen Welt. Doch erscheinen die Faktoren dieser Entwicklung zu Beginn der 60er Jahre nun eben unter ›naturkundlichem‹ Aspekt. So antwortet zu Beginn der weitgereiste Hauptmann auf die Frage, warum er sich die Vernehmung des jungen Wolf auf dem Polizeipräsidium anhöre: »Ich treibe Naturgeschichte der Menschheit […]. Die weite Welt und diese Polizeistube bieten ein gleich ergiebiges Bild; der Kampf um das Dasein bleibt überall derselbe […]«.71 Der Vergleich basiert zum einen auf darwinistischer Aggressivität − vom »kämpfenden Geschlecht der Menschen« ist die Rede72 −, zum andern aber auf der mit Darwin bewußtwerdenden Gleichheit der stammesgeschichtlich bedingten Verhaltensform, die die gemeinsame natürliche Basis des sich individuell ausdifferenzierenden Lebens bildet. Im Blick auf diese natürlichen Voraussetzungen greift Raabe auch in seinen reifen Werken immer wieder zum Tiervergleich, signifikant etwa in der Krähenschlacht, die den Krieg der Menschen im historischen Roman Odfeld (1888) begleitet.73 Menschliche Kultur zielt freilich noch immer über dieses Natur-Sein hinaus; doch liegen die Zielpunkte nun, bei Raabe nicht anders als bei Storm, jenseits des Lebens: »Sieh nach den Sternen! / Gib acht auf die Gassen!« lautet das Motto des Romans, das Raabe später verschiedentlich als persönliche Lebensweisheit zitierte.74 70

Ein Beispiel: »Wenn ein edles freies Tier« in Gefangenschaft gerät, »so mag es ungefähr ein gleiches Bewußtsein seiner Lage haben, wie Robert Wolf […]. Besinnung, Überlegung, alles war untergegangen in dem tierischen Trieb, um sich zu schlagen« (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 5, 39 f.). 71 Ebd., 24. 72 »›Ein Messer wetzet das andere und ein Mann den andern.‹ Wir leben in einem großen Gedränge; es fehlt weder an Messern noch an Männern; wer aber vom besten Stahl ist, der kommt auch am besten weg.« (Ebd., 160). 73 Motiviert durch die Nahrungskonkurrenz der beiden Heeren als Begleitzüge voranfliegenden Vögel und insofern Anzeichen für die bevorstehende (historische) Schlacht, ist das »Naturspiel« (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 17, 26) zugleich Sinnbild für die animalische Affektivität – »Leidenschaft, Grimm und Haß« (ebd., 30) – des Krieges und insofern (seitens des Textes) eine »letzte Warnung« zu menschlicher Selbstbesinnung (ebd., 31). Wo immer das Naturverhalten dominiert – und sei es im ängstlichen Kauern der Gruppe »wie die Krähen« (ebd., 195) – werden menschliche und tierische Wesen für Raabe vergleichbar. 74 W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., 159. »Auf der Erde halte dich an die Dinge selbst, die Materie«, lautet der Rat für Wolf; »verachte aber die Ideen nicht, welche über der Materie sind« (ebd., 337).

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Will man die Funktion der Natur in Raabes konzeptionell vielschichtigem und weltanschaulich wie im Stimmungswert changierendem75 Werk zusammenfassen, so liegt sie in dieser stammesgeschichtlichen Ursprünglichkeit, die ihm durchaus an Darwin klargeworden sein könnte, obgleich hier auch die breite biologische Debatte der 60er Jahre einzubeziehen wäre. Intention des realistischen Autors ist in jedem Fall die Erinnerung (der Figuren wie des Lesers) an diese Grundlage, das Bewußtsein von der Natur, wobei er damit in den wechselnden Figurenkonstellationen der Werke unterschiedliche Zwecke verfolgt. So sammelt Heinrich Schaumann mit explizit naturkundlichem Engagement Fossilien, der Protagonist in Stopfkuchen, der sich, im Wissen um die Beschränkung der individuellen Natur, auf ein ihm gemäßes Nahziel konzentriert und damit, im Gegensatz zum bildungsbürgerlich weltgereisten Ich-Erzähler, ein bescheidenes Glück realisiert. Bei aller Differenziertheit der Individuen, die Raabe in seinem Werk immer wieder auf subtile Weise betont,76 liegt der gemeinsame Aspekt in der Begrenztheit des einzelnen durch seine Natur.77 Raabes subtilster Reflex dieser natürlichen ›Artenbildung‹ ist die Erzählung Zum wilden Mann (1873), die wie keine andere seine Leserschaft spaltete. Der Text erhält novellistische Struktur durch die Konzentration auf den Abend, an dem der Apotheker Kristeller, Altachtundvierziger, Schöngeist und Altruist, im Kreis dreier Freunde das 30jährige Bestehen seiner Apotheke ›Zum wilden Mann‹ feiert. Ideeller Kernpunkt der Novelle ist die Ironie des Schicksals, daß der Apotheker gerade in dem Moment, in dem er die Vorgeschichte seiner Existenzgründung berichtet − ein rätselhafter Jugendbekannter übergab ihm in 75

Daß Raabe während der Leute Schopenhauer in die Hand bekam, belegt eine biographisch motivierte Ergänzung in der Ausgabe von 1889 (vgl. ebd., 452). Raabes nächste Werkphase ist jedenfalls vom Verfall des Weltvertrauens geprägt. Mitte der 60er Jahre entsteht die Trilogie − Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump (= Pestkarren als Sinnbild für die Gebrechlichkeit des Daseins) −, die ihm den Vorwurf des Pessimismus eintrug. Fragen nach seiner ›schopenhauerisch-pessimistischen Meinung‹ ging er freilich aus dem Weg. Zwar blieb Schopenhauer der einzige Philosoph, den der ideologiescheue Raabe überhaupt stärker zur Kenntnis nahm. Aber was ihm imponierte, waren die ›Geisteswerte‹: die seelische Energie, mit der jener die Lebensfaktoren bilanzierte. 76 Wie nebenbei, doch im Blick auf die anstehende Beurteilung der Handlung, betont der Erzähler zu Beginn von Der wilde Mann die Divergenz der Voraussetzungen: »[W]er [die Straße] durchwanderte, steht gewöhnlich am Ausgange mehrere Augenblicke still, sieht sich um und […] äußert seine Meinung in einer je nach Charakter, Alter und Geschlecht verschiedenen Weise« (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 11, 162 f.). 77 »[D]er einzige Trost ist nur, daß eben nicht jeder nach seiner Wahl ein Pomeranzen- oder Palmenbaum werden kann. Je früher der Mensch herausfindet, in welche Klasse er nach Linné oder Buffon gehört, desto […] schneller kommt er […] zur Zufriedenheit mit seinen Zuständen. […] Ich halte das auch für eine Philosophie.« (W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 11, 206).

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einer Notsituation Geld −, die Auflösung des ›Mysteriums‹ erhält. In die Feier platzt nämlich Dom Agonista, jener nun durch die Auswanderung nach Südamerika gestählte Bekannte, und liefert nicht nur die biographische Erklärung für das Geldgeschenk, sondern erkennt und ergreift seine Chance. Indem er sich Kristellers Dankbarkeit zunutze macht, entzieht er diesem mit dem Kapital die Lebensgrundlage. »Der Hund«, soll Gottfried Keller bei der Lektüre erbost ausgerufen haben;78 doch ist gerade dies die Falle, die Raabe seinen Lesern stellt. Denn wie die Urteile folgen die Verhaltensweisen der Beurteilten aus der individuellen Natur (als einer Summe von Anlage, Erziehung und Erfahrung) und sind von daher ohne moralische Relevanz: Der ›Böse‹ folgt nicht weniger endogenen Dispositionen und entsprechend persönlichen Interessen als der ›Gute‹.79 Der textimmanente Diskurs erhält freilich noch eine neue, speziell darwinistische Färbung durch den lebenspraktischen Vergleich der beiden Charaktere. Während sich der bürgerliche Humanist nämlich die Welt mit Illusionen verstellt und scheitert, wird der ›Agonist‹, energisch, willensstark und entschlußfreudig, dabei zielorientiert und pragmatisch, zwar in seiner Rücksichtslosigkeit zum Repräsentanten für das soziale Problem der Gründerzeit, den kapitalistisch geführten Kampf ums Dasein − in seiner Durchsetzungskraft aber zum Exempel für den Sieg der lebenstauglicheren Art.80 In der Typologie der Figuren entwirft Raabe daher erstmals einen Dualismus von Dekadenz und Vitalität, der seine Brisanz bis ins 20. Jahrhundert, zu Thomas Mann etwa, behaupten wird. Mit aktuellem Bezug auf die Affen-Metaphorik, die im Gefolge von Darwins Descent of Man in den 70er und 80er Jahren zum literarischen Modetrend avanciert,81 findet sich die Erinnerung an die Naturgrundlagen in Raabes Spätwerk Die Akten des Vogelsangs (1896). Hier ist es der Idealist Velten Andres, 78

Vgl. ebd., 477. »Ich gab also, wie es nicht anders sein konnte, meiner Natur nach«, erläutert Kristeller sein Verhalten in der Vorgeschichte (ebd., 182). Wenig, heißt es, habe »der Unterschied zwischen [dem Tier] und dem Menschen zu bedeuten […] in allen Dingen, die mit Erde, Wasser, Licht und Luft zusammenhängen« (ebd., 190). 80 Rund zehn Jahre später ist die Umwertung bereits selbstverständlich, wie Konzept und Rezeption von Ludwig Anzengrubers Sternsteinhof belegen. So rühmt ein Rezensent an der Protagonistin: »Ein eiserner Wille […], die kraftvolle und kluge Betätigung einer überquellenden gesunden Selbstsucht sind die beste Ausrüstung für den Kampf ums Dasein«. Zitiert nach W. Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859–1914, Wien 1998, 237. 81 Nur zwei Beispiele: Die Affen heißt ein nachgelassenes Gedicht von Wilhelm Busch, das die Popularität des für den Menschen wenig schmeichelhaften Vergleichs mit dem Tier verdeutlicht. Auf satirische Weise geißelt der ›Antimaterialist‹ Robert Hamerling die Affenmode in seinem ›Modernen Epos in zehn Gesängen‹ Homunkulus (1887). Im Kapitel ›Affenschule‹ bemüht sich ein Doktor Krallfratz − apostrophiert als »dieser 79

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der sich in seiner Sehnsucht nach Freiheit auf dem Baum des Lebens, wie es heißt, ›verklettert‹ hat. In dem Moment aber, wo er, enttäuscht und verbittert, durch die Tilgung seines Erbes alle Verbindungslinien zum Leben kappen will, begegnet ihm unter den Schaustellern eines nahen Varietés der ›Affenmensch‹ German Fell, »von der Anthropologie genannt ›das gefundene Mittelglied‹«82 und als solches »von der Wissenschaft und den Herren Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer und so weiter«83 lang gesucht und hochgeschätzt. (Für die »Anhänger der Affentheorie« war es, so Bölsche, vor allem wichtig, die Verbindung durch die Interpretation von Knochenfunden zu beweisen.84) Raabes Ton ist im Blick auf den wissenschaftlichen Ehrgeiz der Genannten ironisch; in der Sache aber zitiert er Darwins Deszendenztheorie als heilsame Lehre für seinen unverbesserlichen Idealisten, ja vielleicht für eine zunehmend ›höher‹ strebende Gründer-Zeit, die sich über »thierische Rohheit« erhaben dünkte.85 Wenn der ›Affenmensch‹ − der in seinen Mußestunden, nach eigener Auskunft, ›transzendentale Menschenkunde‹ betrieb − nun mit großer Geste aus seinem Fell steigt, dann repräsentiert er eine ontogenetische Entwicklung, die die phylogenetische Neigung des Individuums spiegelt: Beide streben, vergeblich, nach gänzlicher Überwindung ihrer natürlichen Abstammung. Der anthropologische ›Affenmensch‹ begrüßt daher den Idealisten Velten als ›Nachbarn‹ im Gezweig der Weltesche, in der man sich »auf mehr als eine Art und Weise« verklettern kann. Und erst diese Anthropologisierung relativiert den »freien Weltwanderer« Velten Andres nachhaltig, der noch seinen lebenszugewandten, aber leicht philiströsen Freund und Erzähler mühelos transzendieren konnte − »aber Herrn German Fell nicht. Der blieb ihm drin!«86 Darwin, dieser Haeckel, dieser Büchner […] / Dieser Faust des Affenvolks« − zunächst um eine Höherentwicklung des Affen, dann um eine Retortenbildung, ehe er von seinem ›Affenungeheuer‹ zur Strecke gebracht wird. (M. M. Rabenlechner (Hg.), Hamerlings Werke, Auswahl in 10 Bdn., Leipzig o. Jg., Bd. 9, 138). 82 W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 19, 376. 83 Ebd., 380. 84 W. Bölsche, Die Eroberung des Menschen. Ziele und Grenzen unserer Kenntnis vom Ursprung des Menschen im Lichte einer idealistischen Weltanschauung, Bad Pyrmont 1930, 110 ff. Zu einigen Fakten von Raabes Rekurs vgl. auch E. Rohse, ›Transzendentale Menschenkunde‹ im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1988), 168–200. 85 Möglich, daß der kritische Raabe hier den zunehmend an Bodenhaftung verlierenden Kulturoptimismus seiner Zeit reflektiert. So betont Schack im Nachwort seines Versepos, das, darwinistisch inspiriert, die Stufen der Entwicklung durchläuft, daß der Mensch sich »im Laufe unzählbarer Jahrtausende allmählich aus thierischer Rohheit erhoben« habe und nun, wie man »auf Grund der neuesten Naturwissenschaft« annehmen dürfe, aufsteige »zu immer höherer Entwicklung«. (A. F. Graf von Schack, Nächte des Orients oder Die Weltalter, Stuttgart 21878, 269 f.). 86 W. Raabe, Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 19, 381 f.

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III. Naturalisierungen: Darwin als Basis der literarischen Anthropologie In Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895) finde die Literatur den lang erwarteten »Empiriker«, schreibt der österreichische Feuilletonist Ferdinand Kürnberger 1865 in seinem Begleitwort zu Don Juan von Kolomea. Denn der Autor stelle in seinen galizischen Erzählungen naturwüchsige Menschen dar und gebe, ohne zu theoretisieren, nicht mehr und nicht weniger als eine »Naturgeschichte des Menschen«. Was diese zeigt, ist offenbar ein Gegenbild zur Zivilisation. In jedem Punkt, so Kürnberger, verrate der Text den resignierenden Idealisten, der sich über die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Konventionen keiner Illusion hingibt und die wahren Strukturen des menschlichen Zusammenlebens erkennt, konkret »den von Haus aus feindlichen Gegensatz der Geschlechter […]«.87 »Naturgesetz« sei, daß jeder »Täuschung« erleide und praktiziere, »weil die Natur selbst zwischen […] Idee und Realität einen ewig unaufgehobenen Rest gesetzt« habe. In natürlichen Verhältnissen aber könne man nur »Hammer oder Amboß« sein.88 Sacher-Masoch übernimmt Kürnbergers Begriff der ›Naturgeschichte‹ für sein geplantes Großprojekt Das Vermächtniß Kains, das in sechs Abteilungen zu bestimmten Problemkreisen − Liebe der Geschlechter, Eigentum, Staat, Krieg, Arbeit, Tod − sechsteilige Novellenzyklen vereinen sollte. (Nur zu den beiden ersten Abteilungen liegen allerdings die Novellen vor, darunter Don Juan.) Dichtung, schreibt der Autor 1881 in der Vorrede der von ihm gegründeten Zeitung Auf der Höhe, stehe heute unabdingbar an der Seite der Wissenschaft, insofern sie der »Wahrheit« diene, und sie liefere, deren sittlich positive Aufklärungsarbeit durch einen »Realismus der Darstellung« unterstützend,89 in kulturhistorischen oder ethnographischen Bildern eine ›poetische Naturgeschichte‹.90 Dabei bezieht er sich schon in der Theorie explizit auf Darwin: Sein Vermächtniß Kains, heißt es im zweiten Teil, werde »erst dann seine volle 87

L. von Sacher-Masoch, Mondnacht. Erzählungen aus Galizien, Berlin 1991, 439 f. Ebd. 89 Ebd., 140. 90 »Die heutige Prosadichtung macht […] den Eindruck, als ob die Welt seit fünfzig Jahren still gestanden wäre, als wenn alle die großen Entdeckungen der Naturforschung, durch welche in allen anderen Wissenschaften eine vollständige Umwälzung stattgefunden hat, und alle unsere Grundanschauungen und Begriffe, die ästhetischen und moralischen nicht ausgenommen, umgestaltet worden sind, gar nicht gemacht worden wären. / Wir werden Alles aufbieten, um der Prosadichtung den Platz zu erobern, der ihr heute, als Führerin der Dichtkunst, an der Seite der Wissenschaft gebührt; deren lichtbringende und befreiende Thätigkeit sie zu unterstützen die Aufgabe hat, indem sie […] zu den Problemen der Forscher die farbenreichen Bilder malt und so gleichsam eine poetische Naturgeschichte des Menschen liefert.« (L. von Sacher-Masoch, Vorrede, in: Auf der Höhe, I (1881), IV). 88

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und allgemeine Geltung haben, wenn die Lehren Schopenhauers und Darwins vollständig gesiegt haben […]«.91 Diese durchaus zeittypische Konvergenz der beiden ›Lehren‹ zeigt schon, daß der Dichter mit Darwin einen pessimistischen Blick auf die menschliche Natur verbindet.92 Dabei steht Schopenhauers Name für die krypto-idealistischen93 Vorbehalte gegen die Natürlichkeit des Menschen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder massiv zunehmen. Schopenhauersche Theoreme finden sich bei Sacher-Masoch daher überall dort, wo es um die ethische Problematik der menschlichen Natur geht. So ist der Mensch in seiner Natürlichkeit ›Bruder‹ aller Naturwesen und als solcher für den Egoismus seines Lebenswillens schuldhaft. Vom »Vermächtnis Kains« spricht der Autor in Hinsicht auf die Ausplünderung und Vernichtung, die der Mensch immer schon, unmittelbar oder mittelbar, an allen seinen Mit-Lebewesen begeht. Dieser Mord gründet zwar in natürlichen, bestenfalls anthropologischen Motiven: dem naturbedingten Ringen aller Lebewesen um ihre Existenz,94 mit modernen Anklängen auch im Tod als dem Urmotiv menschlichen Handelns.95 Doch spielt Sacher-Masoch mit der Philosophie, wenn es um die ethische Reflexion dieser Natürlichkeit geht. So ist selbstverständlich auch der Raubvogel »ein Mörder«, wie es in der programmatischen Novelle Der Wanderer heißt; »er vergießt Blut wie alle, die leben« − »aber müssen wir es deshalb auch?«96 Die Frage bleibt offen, da sich im Leben kein realer Ausweg abzeichnet; wie bei Schopenhauer führt die Transzendierung der Naturbedingungen über das Leben hinaus. Doch bleibt das ethische Problem auf diese Weise präsent. So gibt es in den galizischen Novellen oft als Perspektiventräger einen zivilisierten Außenseiter, der aus quasi humaner Perspektive das Treiben der naturwüchsigen Landleute beobachtet, das der Autor selbst freilich mit unverkennbarer Vorliebe für solch unverhüllte Natürlichkeit darstellt. 91

W. Michler, Darwinismus und Literatur, a. a. O., 124. Zu Pessimismus führt der philosophische Blick auf die (höhere) Ziel- und Zwecklosigkeit des (naturimmanenten) Existenzkampfs, wie sie ähnlich auch Friedrich Albert Lange moniert. »Alles Mühen, alle Angst ist nur um dieses Dasein, das keinen anderen Zweck hat als sich selbst «, klagt der schopenhauerisch inspirierte Titelheld des Wanderers. »Leben! Leben! will ein jeder, nur sein Leben weiter fristen und dies unselige Dasein auf andere fortpflanzen.« (L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 11). 93 Vgl. schon den Titel des Buches Die geschiedene Frau. Passionsgeschichte eines Idealisten, 1870. 94 Mitunter überblendet Sacher-Masoch Darwins natürliche Daseinsbehauptung mit Schopenhauers triebbedingtem Begehren, so daß sich der Mensch dann aufgrund »seiner stets unbefriedigten Sehnsucht« des Andern bemächtigt (L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 9). 95 Ebd., 10. 96 Ebd., 11. 92

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In der Anthropologie seiner Figuren ist Sacher-Masoch entschlossen Darwinist; ja, er liefert ein geradezu extremes Beispiel für die, zumindest intendierte, Adaption Darwinscher Theoreme. So verabsolutiert er das Aggressionsprinzip der Selektionstheorie zu einer naturimmanenten, über Darwins Zwecksetzung hinaus wirksamen Praxis.97 Und er rekurriert insofern auf die Abstammungslehre, als der Mensch noch immer, versteckt unter der Maske bürgerlicher Konventionen und romantischer Idealismen, die Relikte jener primitiven Verhaltensformen in sich trägt, die für die Entstehung und Ausformung menschlichen Lebens notwendig waren. Der Mensch ist daher au fond ›Tier‹, wie es in seinen Novellen immer wieder heißt, und zwar nicht mehr Affe, sondern Beute schlagendes Raubtier − »die vernünftigste, blutgierigste und grausamste der Bestien«98, die den natürlichen Existenzkampf mit menschlichen Waffen verfeinert und damit zugleich brutalisiert.99 »Kampf ums Dasein« heißt, in der Natur wie im Menschengeschlecht, »Leben auf Kosten anderer […]«.100 Hinzu kommt bei Sacher-Masoch noch ein besonderer Aspekt, nämlich die Verquickung der Selbsterhaltungstendenz mit dem Machtfaktor. So wird das (notwendige) Leben durch andere zur (aktiven) Bemächtigung, ja ›Versklavung‹ des Anderen. Im Kampf ums Dasein gibt es folglich nur Sieg oder Niederlage, Herrschaft oder Knechtschaft. Dies gilt auch im Verhältnis zur Natur selbst. Da Sacher-Masoch in einer idealistischen Regung schon den Lebenswillen des einzelnen als Unterjochung der Persönlichkeit durch die Natur interpretiert, kommt es zu einer Dialektik der Gewalt: Kampf prägt generell das Verhältnis des Menschen zur Natur; die Novellen zeigen dies in Szenen des Widerstands gegen die Elemente (Schneesturm, Feuer u. a.).101 Im Bereich der Kultur zeichnen sich drei große Bereiche dieser aggressiven Selbsterhaltung ab: Liebe (Sexus, Ehe, Familie), Eigentum (soziale Dominanz, Kapital) und Staat (Regentschaft, Nation, Krieg). So ist die Familie nur eine Expansion des einzelnen mit vervielfachter »Selbstsucht«; Geld und Besitz 97

»In der Luft wie im Wasser und auf der Erde kämpft alles Todte und Lebendige ununterbrochen den Kampf um das Dasein. Der Mensch insbesondere liegt im immerwährenden Kriege mit seiner Umgebung und ein Jeder dieses unseligen Geschlechtes sucht auf Kosten des Anderen zu leben«. (Zitiert nach M. Bucher / W. Hahl u. a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit, a. a. O., Bd.1, 135). 98 L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 11. 99 Dieser ›Bestialisierung‹ des Menschen entspricht umgekehrt die Anthropomorphisierung der Tiere: »Ein Geier läßt gleich einem Indianer auf dem Kriegspfad seinen drohenden Jagdruf ertönen […].« (L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 220). 100 Ebd., 11. 101 »Alles friert. […] Moral und Christentum hängen uns wie erstarrter Nebel in den Haaren, das Elementarische an uns wird gewaltsam herausgekehrt. […] Hier ist es ein Kampf um das Dasein, aber man kämpft ihn wie ein Element, geduldig, stumm, resigniert, beinahe gleichgültig.« (Ebd., 88).

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fungieren als Instrumente der Selbstbehauptung im Kampf ums Dasein;102 der Staat verdankt sich und seine Institutionen der Lebenssicherung, das Vaterland dem Willen zur Vorherrschaft103 − »ein dreifacher Kampf also, den ein jeder kämpft«104, und zwar für sich und gegen den andern. Primäres Schlachtfeld ist bei Sacher-Masoch allerdings der Kampf zwischen Mann und Frau. »Die Liebe ist der Krieg der Geschlechter, in dem sie darum ringen, eines das andere zu unterwerfen, zu seinem Sklaven […] zu machen, denn Mann und Weib sind Feinde von Natur […].« Sie werden zwar, »wie alle Lebendigen«, durch das sexuelle Interesse zusammengeführt, das sich in der Kultur durch die Formen romantischer Liebe oder bürgerlicher Verehelichung kaschiert.105 Doch geschieht die Vereinigung nur, um anschließend »noch rücksichtsloser um die Herrschaft zu streiten […]«.106 ›Glück‹ im Sinn leib-seelischer Partnerschaft gibt es daher, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit. Die eigentliche Lebensform ist hier wie überall ein vitalistischer ›Kampf ums Dasein‹, der sittliche Normen (z. B. Bestrafung des Ehebruchs107) suspendiert. Da in Sacher-Masochs literarischer Anthropologie der Mann durch sein Begehren unmittelbar an die Frau gefesselt wird,108 während sie die Liebe nur als Mittel zum Zweck der Nachkommenschaft betreibt,109 findet er sich stets in jener charakteristischen Sklavenrolle wieder, die man seit Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) mit Sacher-Masochs Namen bezeichnet. Das pathologische Moment, also die ›masochistische‹ Faszination des Mannes durch diese Versklavung, ist nicht leicht zu erklären; hier versiegt auch des Autors 102

»Es war eine Zeit […], wo die Menschen sich untereinander mordeten und beraubten wie jetzt noch die Tiere, dann aber machten es […] die Kinder Kains untereinander aus und gaben Gesetze, und jene, die das Eigentum haben, leben seitdem auf Kosten jener, die ohne Besitz sind − […] − die Armen dienen den Reichen gleichsam zur Nahrung« (ebd., 248). 103 »Was uns als Liebe zum Volke […] so hoch gepriesen wird, ist es etwas anderes als Selbstsucht? Die Völker, die Staaten sind große Menschen und gleich den kleinen beutelustig und blutgierig. Die Natur hat uns alle angewiesen, vom Tode anderer zu leben«. […] Was ist der Krieg […] als der Kampf um das Dasein im großen« (ebd., 15). 104 Ebd., 313. 105 »Das Herz hat zwischen Mann und Weib das wenigste zu sagen. […] Da ist immer nur von dem die Rede, was der Mensch mit dem Tier gemein hat.« Es handelt sich, »wie überall nur um das nackte Leben« (ebd., 131). 106 Ebd., 12. 107 »Es lag in der Natur. An wem sollte ich dafür Rache nehmen, daß ich ein Mensch bin, daß sie ein Weib ist?« (Ebd., 124). 108 Zu den vielen Unstimmigkeiten des Werks gehört, daß sich in diesem Begehren biologischer Begattungstrieb und geistiges Identifikationsbedürfnis überschneiden können. 109 In Don Juan erlischt die ausgeprägte Partnerschaft daher schlagartig mit der Geburt des ersten Kindes.

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sonstige Kommentierfreudigkeit. Sie gründet aber wohl in der gleichzeitigen Stilisierung der Frau zum Inbegriff der Natur. Von daher stammt denn auch der Fetisch-Charakter des Pelzes, der alle Texte, vor allem aber Sacher-Masochs bekanntesten Roman Venus im Pelz prägt. Pelze erscheinen als Kennzeichen des Tierischen − Bär und Wolf bilden durchgängig Bezugspunkte −, sie renaturieren daher sichtbar das Kulturwesen Mensch. Wenn der Romanheld die Frau, von der er sich als Stigma seiner Versklavung peitschen läßt, als Domina im Pelz ersehnt, dann verlangt er gerade nach dieser Manifestation des Ursprünglich-Animalischen, weil sie seine Unterlegenheit zu einem, per se genußfähigen, Akt des Naturerlebens steigert. Das existentialpsychologische Motiv könnte darin liegen, daß der Mann in seinem Verhalten zur Frau die ambivalente Grundsituation des Menschen in der Natur nachvollzieht, die ihn (in seiner Triebdynamik) überwältigt und (in ihrer quasi-göttlichen Kraftfülle) zugleich attrahiert.110 Was Sacher-Masoch wieder mit Schopenhauer verbindet, ist die ethische Reaktion auf die Einsicht in die Naturnotwendigkeit. Verworfen werden entsprechend Illusion oder Aufbegehren. Der wahre Mann lebt seine Natur und hält ihr, im Unterschied zur Frau,111 stand: Er geht erstarkt aus der Erfahrung hervor − Sacher-Masochs Erzählungen sind stets Fall-Geschichten im Doppelsinn des Wortes − und weiß sich, im Spektrum humaner Möglichkeiten, über die Wirkungen der Natur erhaben.112 (Nur als Fernziel scheint das religiöse Modell lebenstranszendierender ›Entsagung‹ auf.113) Der Autor findet in seinen slawischen Kraftnaturen daher denselben »gesunden Pessimismus« wie bei Schopenhauer, »dieselbe rückhaltlose Anerkennung der Naturgesetze, dasselbe

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Eine vergleichbare Faszination der ebenfalls darwinistisch konnotierten Natur findet sich bei Paul Heyse, dem vielgelesenen Romancier und Erzähler der Gründerzeit. So rühmt der Künstlerroman Im Paradiese (1875) an Rubens »den Sieg der Naturkraft über die Zivilisation im Kampf ums Dasein: ›Denn Kraft ist ja immer freudenvoll.‹« (M. Bucher / W. Hahl u. a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit, a. a. O., Bd. 1, 134.) 111 Die Frau »hat sich nicht so losgerissen von der Natur und ist um ebensoviel schlechter und auch besser als die Natur. […] Der Mann ist ein anderer geworden im Lauf der Zeiten […], er hat das Tier weit hinter sich gelassen« (L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 157). ›Wahre‹ Frauen zeigen bei Sacher-Masoch daher die (per se faszinierende) Amoral der Natur. 112 »Ich meine, man muß tragen, was notwendig ist, […] oder was so in der Natur liegt, wie allenfalls der Winter oder die Nacht oder der Tod. Aber ist es auch notwendig, daß die Ehen so in der Tat unglücklich sind? Ist da […] eine Notwendigkeit, eine Regel […]: ein Gesetz in der Natur?« (Ebd., 35). 113 »Und doch bist du herbe, heilige Entsagung, ist dein sicherer Friede das einzige Glück, das uns beschieden ist, Ruhe, Stille, Schlaf und Tod« (L. von Sacher-Masoch, Mondnacht, a. a. O., 150). In anderem Kontext erscheint Jesus als Vorbild für den Verzicht auf Egoismus – und damit Liebe, Eigentum, Macht.

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Gefühl der Notwendigkeit, dieselbe Resignation, dieselbe Strenge des Pflichtgefühls, dieselbe tiefe Natur-, Tier- und Menschenliebe […]«.114 Darwin steht dagegen durchgängig für die moderne Wissenschaftlichkeit in der Analyse jener triebbedingten Verhaltensformen, die Schopenhauer noch, spätidealistisch, zu einem realiter nicht verortbaren ›Willen‹ hypostasierte. Sacher-Masoch konkretisiert diese Triebstruktur, extendiert sie aber auf alle Bereiche von Leben und Kultur. Und damit erhebt sich die Frage, was von Darwins Lehre bleibt, wenn sie sich auf die aggressiv agonale Form eines sozialen Egoismus reduziert, der zugleich in der Begründung durch die vitale Selbsterhaltungsfunktion ›naturalisiert‹ wird. Wilhelm Busch löst das Problem jedenfalls mit der für ihn charakteristischen Respektlosigkeit, wenn er in Eduards Traum (1891) auf die baldige wissenschaftliche Entdeckung und also Entfernung der »Konkurrenzdrüse« hofft.115

IV. Expansionen: Darwin im Naturalismus Zum »Vorläufer« avanciert Sacher-Masoch in den Schriften der Naturalisten, zeige er doch beispielhafte »Naturanschauung« wie auch »Schilderungsgabe«. Der Verehrte selbst grenzt sich allerdings mit klaren Worten gegen die aufkommende »naturalistische Epidemie« ab, die nun gar nicht mehr »von der Natur inspiriert« sei, sondern an der Wissenschaft klebe und deren mehr oder weniger gesicherten Erkenntnisse in der Darstellung des krankhaft Abnormen präsentiere.116 Als ›Naturalisten‹ oder auch ›konsequente Realisten‹ bezeichnet sich eine Richtung der literarischen Avantgarde der 80er Jahre, die, programmatisch − im Anschluß an den französischen Naturalismus (Emile Zola, Hippolyte Taine) − und mit partieller Gruppenbildung, ihrer Kunst einen radikalisierten Wirklichkeitsbegriff, eben die ›Natur‹ zu Grunde legt. Man orientiert sich an ›Naturgesetzen‹, um die Autonomie dieser ›wahren‹ Natur herauszustellen, und man folgt deshalb, sich bewußt ›modern‹ gebend, der Naturwissenschaft, indem man sich deren neuester Erkenntnisse für eine ›wirklichkeitsgetreue‹

114

Ebd., 141. W. Busch, Ausgewählte Werke, hrsg. von G. Ueding, Stuttgart 1988, 567. − Er habe, schreibt Busch in Was mich betrifft (1886), zunächst Darwin gelesen, später Schopenhauer. Mittlerweile habe aber die Begeisterung für beide wieder nachgelassen: »Ihr Schlüssel scheint mir wohl zu mancherlei Türen zu passen, in diesem verwunschenen Schloß dieser Welt, nur nicht zur Ausgangstür.« (Ebd., 399 f.). 116 M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 123. 115

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Darstellung oder ›Wiedergabe der Wirklichkeit‹ bedient.117 Der Name Darwins, der für die Öffentlichkeit noch immer eine leichte Provokation besitzt, fällt in diesem Zusammenhang auf Seiten der Künstler ebenso selbstverständlich wie auf Seiten der Kritiker, wobei man die bekannten, nun zum »Darwinismus« verfestigten Theoreme zitiert.118 Die Frage ist allerdings, was man von Darwin tatsächlich literarisch nutzen konnte − ganz abgesehen von dem irrigen Glauben aller Naturalisten, daß Kunst ›beobachten‹ könne, ohne nach (vermeintlich faktischen) Gesetzen zu konstruieren.119 Der literarische Naturalismus zielt auf die Begründung aller Lebensphänomene in der (inneren wie äußeren) Natur und impliziert insofern einen Determinismus, den man − trotz der latent Schopenhauerisch-pessimistischen Komponente120 − nicht nur akzeptiert, sondern als Signum einer künstlerischen ›Wahrheit‹ proklamiert, die für sich Geltung beansprucht oder zum Verständnis des Lebens beiträgt.121 Diese Bedingtheit des Menschen durch Faktoren der Wirklichkeit äußert sich in drei kommunizierenden Bereichen, die, mehr oder weniger explizit auf Darwin bezogen,122 die literarische Darstel-

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Heinrich Hart 1889: »Der Realismus von heute, der wahre […] Realismus, ist aber noch in besonderem Sinne modern. Und zwar als objektiver Realismus, als ästhetisches Prinzip, das aus dem innersten Grund unseres Zeitalters erwachsen ist. Dieser Geist ist kein anderer, als der des vorurtheilslosen Forschens, […] das sich durch keine Wünsche und Neigungen des eigenen Ichs, durch keine Satzungen der Außenwelt, durch kein Glauben und Hoffen beirren läßt […]. Es ist der Geist der absoluten Objektivität«. (M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 123). 118 Der Literaturkritiker Karl Frenzel in Der moderne Realismus (1891 / 2): »Da nicht das Schöne, sondern das Wahre sein letztes Ziel ist, so unterwirft [der Naturalismus] den Menschen in jeder Beziehung der grausamsten Prüfung. Und hier berührt er sich auf das Engste mit der modernen Wissenschaft. […] So hat [die naturalistische Kunst] Darwins Lehre von dem Kampfe um das Dasein, in dem die Stärkeren […] aus der Natur der Dinge heraus die Schwächeren unterdrücken […], die Zuchtwahl und die Vererbung der Eigenschaften als Dogmen aufgenommen.« (M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 384). 119 »Es ist ein toll gewordener Darwinismus«, urteilt der Kritiker Ludwig Pfau 1880 zur Rezeption von Zolas Roman-Zyklus, »der die Physiologie der Fortpflanzung in die Phantasmagorie der Romantik übersetzt und sich einbildet, einen wissenschaftlichen Realismus zu treiben, wenn er die Gesetze der Entwicklung, die sich nur aus dem Facit tausender von Generationen […] ergeben können, willkürlich erfindend, für die enge Zufälligkeit einer Familiengeschichte klein hackt.« (M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 647). 120 Zur Parallelisierung Darwins und Schopenhauers vgl. etwa ebd., 653. 121 »Der naturalistische Roman hat sich zur Aufgabe gestellt, Gesetze und Causalzusammenhänge, welche das Menschenleben beherrschen, wahrheitsgetreu darzustellen, um die richtige Einrichtung desselben durch Benutzung dieser Gesetze zu ermöglichen.« (Ebd., 75). 122 W. Michler (Ders., Darwinismus und Literatur, a. a. O.) weist zu Recht auf den

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lung prägen: Charakter, Vererbung, Milieu. ›Charakter‹ meint die primär physische und von daher nur sehr bedingt individuelle Disposition.123 Muster für die (mit Darwin verknüpfte124) ›Vererbung‹ waren neben Zolas Romanzyklus der Familie Rougon-Maquart − der Darwin in diesem Punkt freilich kühn mit der Physiologie Claude Bernards, der Physiognomik Cesare Lombrosos (Genie und Wahnsinn ital. 1864) und anderem verquickte − vor allem Henrik Ibsens Gespenster (1882), ein analytisches Drama, das die Wirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart durch die Gehirnparalyse des Sohns, Erbstück seines geschlechtskranken Vaters, verdeutlicht. Das gleiche Thema, nun bezogen auf Alkoholismus, gestaltet Gerhart Hauptmann in seinem bahnbrechenden Drama Vor Sonnenaufgang (1889), wobei er im Protagonisten, einem biologistischen Reformer, zugleich die Unmenschlichkeit der Reinheitsideologie thematisiert.125 Das dritte Moment, die Bedingtheit durch das ›Milieu‹ − in der Tradition von Taines Gesetz ›temps, race et milieu‹ − spiegelt sich durchgängig nicht nur in den Themen der naturalistischen Werke, sondern schon in der Form: Eine Fülle von minutiösen Beschreibungen bzw. genauesten Regieanweisungen verdeutlicht die Prägung der Figuren durch ihre Umwelt. Charakter, Vererbung und Milieu haben freilich nicht direkt mit Darwin zu tun; schon Zola gab das zu erkennen.126 Die naturalistischen Dichter beschränwissenschaftlichen Synkretismus der zeitgenössischen Vererbungstheorie hin (ebd., 205 ff.). Wie sehr die vage Vorstellung jede Rezeption prägte, zeigt etwa Dahns wohlwollende Bemerkung zu Gustav Freytags gründerzeitlichem Großprojekt Ahnen (1873– 1881): Sie wären »die schönste Verwerthung der Darwin’schen Principien von Individuation, Vererbung, Anpassung und Atavismus« (ebd., 128). 123 »In Thérèse Raquin wollte ich Temperamente studieren und nicht Charaktere«, schreibt Zola im Vorwort zur 2. Auflage seines ersten ›Experimentalromans‹ (1869). »Ich habe Personen gewählt, die unumschränkt von ihren Nerven und ihrem Blut beherrscht werden, die sich nicht im Besitz ihres freien Urteilsvermögens befinden« und bei jeder Handlung ihren Trieben unterliegen. Zola nennt sie daher »Menschentiere« oder einfach »Tiere«. (E. Zola, Thérèse Raquin, a. a. O., 5). 124 Explizit mit Darwin verbunden findet sich die Vererbungslehre bereits 1862 bei Büchner. Vgl. L. Büchner, Aus Natur und Wissenschaft. Studien, Kritiken und Abhandlungen, 21869, 359. 125 Zu thematisch verwandten Werken weniger bekannter Autoren vgl. die (marxistisch orientierte) Untersuchung von G. Schmidt, Die literarische Rezeption des Darwinismus. Das Problem der Vererbung bei Émile Zola und im Drama des deutschen Naturalismus, Berlin 1974, 132 ff. 126 So führt Zola in seiner Programmschrift Le roman expérimental (1879) aus: »Der Determinismus beherrscht alles. […] Ohne […] Gesetze zu formulieren, glaube ich, dass die Vererbung einen großen Einfluß auf die Kundgebungen des menschlichen Verstandes- und Gemütslebens hat. Auch dem Milieu spreche ich eine hohe Bedeutung zu. Nun müßte man auf die Darwinschen Theorien kommen« − aber hier will Zola sich plötzlich ›nicht in Details verlieren‹ (M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 91).

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ken sich in ihren Programmschriften daher auf das gelehrte Zitat (»Ergebnisse der Darwin-Häckel’schen Biologie«127, »Evolutionismus«128) oder subsumieren alles irgendwie Interessante unter dem bekannten Namen. Nicht weniger massiv sind die Bezugnahmen in der Poetik, wobei die Präzision allerdings mit der beruflichen Qualifikation schwankt. So nutzt der stringent argumentierende Literaturwissenschaftler Wilhelm Scherer in seiner dezidiert positivistischen Poetik (1888) Darwins Schrift Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren (dt. 1874) − die in der Literatur der Zeit zugleich eine neue Physiognomisierung der Figurendarstellung bewirkt haben dürfte129 − zu einer systematischen, aber keineswegs unkritischen Herleitung künstlerisch-literarischer Kulturformen aus primitiven Verhaltensformen.130 Dagegen liefert der junge Publizist Wilhelm Bölsche in seiner Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) eher ein Beispiel für die Multifunktionalität Darwinscher Theoreme. Darwin erscheint in Bölsches Grundlagen als fixer Bezugspunkt für die Wissenschaftlichkeit der Kunst;131 ja, es gibt sogar ein Kapitel mit der Überschrift ›Darwin in der Poesie‹. Doch findet der Leser ein Konglomerat von Theoremen, die nur schwer eine Leitlinie erkennen lassen. So steckt der »Darwin’sche Gedanke von der umwandelnden Macht des Kampfes um’s Dasein«132 schon in 127

Ebd., 11. Ebd., 39. 129 So zeigen die Figuren schon in Erscheinungsbild und Verhaltensform die charakteristische Disposition. Vgl. hierzu auch die Erläuterungen Michlers zu Ludwig Anzengruber, in: W. Michler, Darwinismus und Literatur, a. a. O., 223 ff. 130 Scherer zitiert Darwin als wissenschaftliche Instanz, grenzt sich aber gegen eine naiv ›darwinistische‹ Gleichsetzung, etwa von Vogelsang und menschlichem Singen, ab. Vgl. W. Scherer, Poetik, hrsg. von G. Reiss, Tübingen 1977, 58 u. a. 131 »Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmäßigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt, dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen […] Bethätigung wir aber Zeuge sind.« »Vornehmstes Object« ist der Mensch, »und es ist der fortschreitenden Wissenschaft gelungen, über das Wesen seiner geistigen und körperlichen Existenz ein ausserordentlich großes Thatsachenmaterial festzustellen.« (W. Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik (1887), hrsg. von J. J. Braakenburg, Tübingen 1976, 4.) Der Dichter verhält sich daher wie ein »Experimentator«, wenn er seine »Menschen« durch die »Macht der Umstände« in Konflikte geraten und je nach ihrer Natur »als Sieger oder Besiegte« hervorgehen läßt. »[A]uch diese Menschen fallen in’s Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äußere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter […] zu beachten hat.« (Ebd., 7). 132 Ebd., 35. 128

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der Bildung von Zell-Verbänden; Darwin erklärt aber ebenso die »Erscheinung des bahnbrechenden Genies«133, indem er die daseinskämpferische Durchsetzungsfähigkeit der »Idee« (!) beweist.134 »Zahllose Puncte« wären ins Auge zu fassen, wenn es um die Geltung Darwins für Begriff und Darstellung der Gesellschaft geht: »einfache Zuchtwahl« als physische oder geistige Durchsetzung, Qualifikation durch Arbeitskraft, Schönheit oder Kapital usw.135 Eine weitere »Frucht darwinistischer Studien« sieht Bölsche in dem »verschärften Verständniss des Dichters« für den »Entwicklungsprocess im Menschenleben«136, der nicht weiter erläutert wird. Schließlich liegt ein gewichtiger Vorteil der darwinistischen Methode in der Behandlung des Zufalls: Erscheint »nicht Wenigen« das Leben unter dem nun herrschenden Kausalitätsprinzip bedenklich kontingent, so könnte ein an Darwin geschulter Dichter die »logischen Consequenzen« in den sich kreuzenden »Causalitätsreihen« erkennen und darstellen. Durch solch quasi wissenschaftliche ›Forschung‹ entstünde ein tröstliches Gesamtbild des Lebens, wie Bölsche es generell in der Wissenschaft vorzufinden glaubt.137 Er spricht daher von einer ›Idealisierung‹ des Lebens, wenn der Dichter das Besondere im Stil Darwins durch allgemeine Gesetze höheren Zwecken zuordnet.138 Das ist nicht nur Mangel an intellektueller Präzision. Bölsches Synkretismus resultiert auch daraus, daß er Darwin mit innerer Überzeugung im Licht der Evolutionsbiologie von Ernst Haeckel begreift, dem von Beginn an markantesten Vertreter einer ›optimistischen‹ Lesart. (Sie wird verstärkt durch Bölsches publizistische Begeisterung für die spirituellen Spätschriften Theodor Fechners.) Damit liegt Bölsche freilich in einem Trend, dem sich auch die anderen Naturalisten nicht entziehen können. Bewußtseinsgeschichtlich konvergieren darin drei Tendenzen: (1) Der Naturalismus beerbt den Realismus des 19. Jahrhunderts auch insofern, als er, ungeachtet neuer ›Wahrheiten‹, dessen irdischen Optimismus übernimmt.139 (2) Dieser neue Optimismus wird aber bereits getragen von einer ›Spiritualität‹, die sich mit dem Nahen der Jahrhundertwende 133

Ebd., 55. »Die Idee überträgt sich von Gehirn zu Gehirn, kämpft vermöge ihrer bessern Kraft sich durch im Kampfe um’s Dasein mit andern Ideen und befestigt sich schließlich im Denkapparate der ganzen Culturmenschheit. […] Nicht der Mensch siegt im Kampfe um’s Dasein, sondern die Idee; so lautet derselbe Satz in wissenschaftlicher Form.« (Ebd., 56). 135 »Das ganze sociale Leben mit all’ seinen Klippen und Irrthümern, seinen Triumphen und Fortschritten fordert die Beleuchtung vom Darwin’schen Gesichtspuncte aus.« (Ebd., 57). 136 Ebd., 59. 137 Ebd., 59 f. 138 Ebd., 58. 139 Hier wie dort führt der Abbau der Illusionen zugleich zu »Weltfreude« und 134

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in allen Bereichen des intellektuellen und künstlerischen Lebens abzeichnet. (3) Der Übergang vollzieht sich fließend vor dem Hintergrund der spezifisch gründerzeitlichen Intention eines »Realidealismus«, der eine (wie auch immer definierte) ideelle Perspektive mit der unabweisbaren realen zu vereinen sucht. Darwin kann sich zunächst, nicht zuletzt durch Haeckels monistisch orientierte Vermittlung, auch in diesem Umfeld gut behaupten. »Einmal durch Darwin und Haeckel auf die einschlägigen Tatsachen aufmerksam gemacht«, läßt sich, so Bölsche, die durchgängige »Idee einer naturgesetzlichen Weltentwicklung« bis zum Menschen herauf in dezidiert »optimistischer Auffassung« vertreten. Doch gleitet die Welt in dieser Anschauung, wie Bruno Wille 1906 in seinem Brief an Bölsche sehr richtig bemerkt, unvermeidlich ins ›Panpsychische‹ ab. »Darwins Ideenrichtung ging darauf aus, die Gestaltung der Geschichte der Natur aus bloßen Naturgesetzen zu erklären, ohne das ›Wunder‹ wie einen ›deus ex machina‹ eingreifen zu lassen. Aber Darwins Bild einer streng gesetzlichen Welt erfordert keine mechanistische oder materialistische Philosophie, sondern paßt auch in den Rahmen eines idealistischen Naturbegriffs hinein. Wir beide, Freund Bölsche, sind Idealisten, indem wir der gesamten Natur einen seelischen, geistigen Charakter zuschreiben. Zugleich bekennen wir uns zum Darwinismus, weil er bei mancher Lükkenhaftigkeit doch im großen ganzen eine durch reine Vernunft klar einleuchtende und daher […] unwiderlegliche Theorie darstellt. Oft haben wir auf unseren Waldgängen Darwins Lehre in unser panpsychisches Naturbild hineingezeichnet.«140

Diese Spiritualisierung des Naturbegriffs − der in der Literatur der Jahrhundertwende ›neuromantische‹ Themen und Formen entsprechen − markiert, ungeachtet weiterer Sympathiebekundungen, die Grenze der Adaptierbarkeit Darwinscher Theoreme. Die Phase der literarischen Darwin-Rezeption im 19. Jahrhundert ist damit abgeschlossen.

»Humanismus« (»die Welt ist unser«). Man vollzieht eine weltanschauliche Kehrtwende gegen den Pessimismus, indem man den materiellen Aspekt des Lebens als Positivum akzeptiert, und die Gesetzmäßigkeit der Natur zum ›realistischen Ideal‹ (Bölsche) verklärt. (M. Brauneck / Ch. Müller (Hg.), Naturalismus, a. a. O., 127). 140 Ebd., 112.

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Wissenschaft als Weltanschauung, Weltanschauung als Wissenschaft. Der Darwinismus und die Verallgemeinerung von Wissenschaft um 1900 I. »There is grandeur in this view of life« »There is grandeur in this view of life« – die Schlußworte von Darwins Origin of Species beschwören emphatisch die Großartigkeit der Sicht des Lebens, die sich durch die grundlegende Idee eines Evolvierens von Formen ergebe.1 Darwin charakterisiert die endlose Zahl (»endless«) von evolvierenden Formen mit ästhetischen und sogar ans Religiöse reichenden Kategorien (»most beautiful and most wonderful«). Er integriert allerdings ein weiteres Element in seinen Schlußsatz, das solche stets auch subjektiv gefärbten Kategorien dadurch ergänzt, daß das Ideal von Objektivität, das Paradigma eines Naturgesetzes schlechthin, mit der Entwicklung schöner und wunderbarer Formen verbunden wird: »whilst this planet has gone cycling on according to the fixed law of gravity, from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved.«2 Der Verweis auf das Gravitationsgesetz leistet mehr, als die zunächst nur äußerliche Anknüpfung über die zeitliche Koexistenz von gravitationsgesetzlicher Planetenrotation und Formevolution ausspricht. Was kennzeichnet Darwin durch »grandeur«? In den vorangegangenen Sätzen hatte Darwin eine Liste der Gesetze, »laws«, in unserer unmittelbaren natürlichen Umwelt (»acting around us«) angeführt, durch die die Vielfalt der lebendigen Formen produziert (»produced«) sei. Ohne es auszusprechen, führt Darwin selbst in seinem letzten Satz eine Entsprechung zwischen dem Gravitationsgesetz Newtons und diesen Gesetzen aus. Darwin scheint die Großartigkeit in zwei Aspekten seiner Gesetze zu begründen: Zum einen in dem Moment der Begründbarkeit einer endlosen Vielfalt von Formen auf der Grundlage weniger Prinzipien, zum anderen aber, und nun auf einer allgemeineren Ebene, in dem Erlebnis, daß überhaupt eine gesetzesartige Erklärung möglich ist. Hiermit wird die wissenschaftliche Erklärbarkeit selbst als großartig apostrophiert; Darwin beansprucht »grandeur« dafür, daß auch organische Natur in einem bestimmten, in Analogie zum 1

Ch. Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection: Or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859), hrsg. von J. W. Burrow, London 1968, 459 f. 2 Ebd., 460

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Gravitationsgesetz gefaßten Sinn wissenschaftlich behandelt werden kann. An anderer Stelle, am Ende des siebten, den Instinkten gewidmeten Kapitels von Origin of Species, faßt Darwin die am Ende des Gesamtwerkes in Form mehrerer Gesetze aufgelistete Grundstruktur markant als »one general law«3 zusammen, dadurch Einheit und Allgemeinheit als wesentliche Ideale seiner Theorie ausweisend. Darwin betont nicht die Korrektheit seiner Resultate, sondern gibt ihnen einen affektiven Wert. Dies zieht sich als Strategie durch den ganzen Schlußabschnitt von Origin of Species. In den letzten Absätzen von Origin of Species spricht Darwin zunächst die »naturalists« an.4 Wenn er dann ankündigt, »in the distant future« würden auf der Grundlage seiner Arbeiten »open fields for far more important researches« eröffnet, nennt er in einem einzigen Satz die Psychologie, noch knapper und ohne ausdrückliche Adressierung die Geschichte des Menschen und das Thema des Ursprungs des Menschen, das den theologischen Fragenkomplex zumindest streift.5 In den konkreten Zukunftsperspektiven hält Darwin sich also zurück; ein vorsichtiger Optimismus wird verbunden mit gut gezügelten Hoffnungen, was die Ausweitung auf andere Gebiete angeht. Einen gänzlich anderen Tenor schlägt der Schlußabsatz an. Darwin setzt hier mit dem idyllischen Naturbild von der »entangled bank« an, das in die Feier der »laws acting around us« und der »grandeur« der entfalteten Weltsicht mündet. Die unmittelbar vertraute oder ersehnte landschaftliche Idylle und die Großartigkeit seiner Wissenschaft werden unmittelbar verbunden. Darwin verfolgt eine Strategie der Einbettung seiner Theorie in einen allgemeineren Kontext. Bereits jede einzelne gesetzesartige Aussage innerhalb der Theorie selbst verallgemeinert. Dennoch betont Darwin zusätzlich die Verallgemeinerbarkeit seiner Theorie insgesamt. Darwins Theorie eignet sich in besonderer Weise für eine solche Verallgemeinerung; zugleich trifft sie auf eine kulturelle Situation, in der wissenschaftliche Verallgemeinerungen wünschenswert erscheinen. Die Ausbildung eines auf unterschiedlichen Ebenen wirksam werdenden Darwinismus ist Resultat einer solchen Verallgemeinerung. Wie stark das Vertrauen in die unbedingte Generalisierbarkeit von Darwins Aussagen sein konnte, illustriert eine spekulative, aber mit voller Überzeugung vorgetragene Generalisierung, mit der der Physiologe Max Verworn, ein Haeckel-Schüler, auf der Grundlage Darwins sogar noch Voraussagen über das Seelenleben der Marsianer traf: »Das Eine können wir jedenfalls mit voller Sicherheit sagen: ›Wenn auf dem Mars […] denkende Wesen sich finden, dann ist ihr Denken von derselben Art wie unser Denken, […] weil in jedem Fall 3 4 5

Ebd., 263. Ebd., 453. Ebd., 458.

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ihr Gedankenleben sich entwickelt haben muß unter der selektiven Wirkung der gleichen Gesetzmäßigkeit, wie das unsrige, denn die Gesetzmäßigkeit der gesamten Welt ist überall ein und dieselbe. […].‹«6 Eine Verallgemeinerung von Wissenschaften findet hier in mehreren Dimensionen statt. Jede Gesetzesaussage in den einzelnen Wissenschaften generalisiert bereits; das jeweilige einzelwissenschaftliche Generalisieren weist auf ein allen Wissenschaften gemeinsames, auf einer abstrakteren Ebene liegendes Merkmal hin. Alle einzelnen Wissenschaften werden schon hierdurch zu Teilen eines übergeordneten Ganzen, der Wissenschaft schlechthin. Man könnte vermuten, daß derartige Generalisierungsargumente nur für die gesetzesartig erklärenden Wissenschaften gelten, also nicht beispielsweise für deskriptiv verfahrende Geisteswissenschaften. Gerade die Suche nach vollständigen Generalisierungen führt aber, wie im folgenden zu belegen sein wird, dazu, daß die Natur-Geisteswissenschaften-Opposition immer wieder überwunden wird. Besonders deutlich wird dies, wenn derartige Integrationsleistungen über den engeren Bereich der Wissenschaft hinausgehen bzw. diesen Bereich selbst in einer Weise ausdehnen, daß er zu einer umfassenden Weltanschauung werden kann. Wenn das 19. Jahrhundert sich selbst als »Jahrhundert der Naturwissenschaften« versteht, wird damit eine solche Generalisierung der Bedeutung der Wissenschaften in den Bereich des Weltanschaulichen hinein ausgesprochen. Dies impliziert zunächst eine Ausweitung des Gültigkeitsanspruchs der Wissenschaften auf Durchdringung aller Lebensbereiche, verbunden damit, daß Einzelwissenschaften nun Funktionen übernehmen, die bislang den prototypisch allgemeinen Wissenschaften wie der Philosophie oder ausgezeichneten Teilgebieten der Philosophie wie der Metaphysik vorbehalten waren. Zugleich werden immer neue und zunehmend allgemeine Einzelwissenschaften kreiert.7 Zentral bei beiden Modi der Verallgemeinerung ist, daß (Einzel-)Wissenschaften gerade aufgrund ihrer einzelwissenschaftlichen Qualitäten als für solche allgemeineren Funktionsübernahmen qualifiziert verstanden werden. Wesentlich dabei ist das Konstatieren von Konvergenzen zwischen einzelnen Theorien oder ganzen Wissenschaftsbereichen. Aufgrund der gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierten Eigenständigkeit der Einzelwissenschaften 6

M. Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes. Ein Vortrag, Jena 1910, 30 f. Beispiele bieten insbesondere die Herausbildung einer neuen, mathematischen Logik oder die Bildung neuer mathematischer Teilgebiete wie einer reinen »Mannigfaltigkeitslehre« bei Hermann Grassmann, die wiederum enge Beziehungen zu Konzeptionen wie der einer »Ordnungslehre« bei Wilhelm Ostwald oder Hans Driesch aufweist. In der Philosophie ist z. B. auf die »Phänomenologie« z. B. bei Carl Stumpf und Edmund Husserl zu verweisen. – Eingehender dazu vgl. P. Ziche, Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der ›nicht-reduktive Symbolismus‹, Zürich 2007. 7

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und der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems sind Konvergenzen, wenn man sie tatsächlich festzustellen meint, besonders starke Indikatoren für tiefliegende Gemeinsamkeiten, da der Verdacht, in ihnen nur apriorische Einheitsannahmen wiederzufinden (wie vielleicht in den spekulativen Systemen der Zeit um 1800), nun entfällt. Allgemeinheit ist, wie in ihrer Verbindung mit weltanschaulichen Idealen deutlich wird, nicht nur wissenschaftstheoretische Tugend. Sie ist auch Desiderat der Zeit, einer Zeit, die in kulturanalytischen Perspektiven durchgehend mit Konzepten wie Zersplitterung, Entfremdung oder Vereinzelung charakterisiert wird. Vereinheitlichung erhält vor diesem Hintergrund ihre überwältigende Kraft und ihren Status als erstrebenswertes Gut. Zugleich deutet sich eine tiefgreifende und letztlich unbewältigte Ambivalenz an: Technik und Wissenschaften sind wesentliche Urheber der kritisch vermerkten Zustände, und dennoch sieht man in ihnen die wichtigsten Hoffnungsträger für eine Überwindung der beklagten Lage. Hierüber ergibt sich eine Konvergenz von naturwissenschaftlichen Theorien, die diese Tugend besitzen, mit ganz anders ansetzenden, aber auf dieselben Zeittendenzen reagierenden Aspekten der Geisteswissenschaften und der geisteswissenschaftlichen Philosophie. Eine Darwin-Rezeption gehört zentral zu diesen Prozessen. Darwins Theorie wird als ein wesentlicher Faktor in der Bestimmung des 19. Jahrhunderts als »Jahrhundert der Naturwissenschaften« gesehen und dabei bereits direkt mit der Herausbildung einer neuen Weltanschauung verbunden (dazu Abschnitt II). Dabei werden scheinbar fest etablierte Grenzen zwischen Wissenschaftsbereichen – etwa die zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – bewußt übergangen. Noch bei Wilhelm Dilthey, also in der prototypisch geisteswissenschaftlichen Form einer Auseinandersetzung mit Weltanschauung, spielt eine »Entwicklungslehre« eine zentrale Rolle.8 Dilthey verwendet also denselben Terminus, den man im Anschluß an Darwin prägte, für seine Philosophie der Weltanschauungen; man wird überlegen dürfen, ob die Prägung allgemeiner Bezeichnungen für Darwins bzw. für darwinistische Theorien (neben »Entwicklungslehre« wäre z. B. auch an »Deszendenztheorie« zu denken) bereits ein Moment einer Verallgemeinerung einer speziellen wissenschaftlichen Theorie darstellt und einer neuen, allgemeineren Wissenschaft von Entwicklung bzw. Deszendenz dienen soll. Jedenfalls kennzeichnen solche Begriffe die Theorie Darwins als eine Theorie eigenen Ranges, jenseits bestehender Disziplinen bzw., wie die Prominenz des Entwicklungsbegriffs in geisteswissenschaftlichen Richtungen zeigt, auch jenseits der Grenze ganzer Disziplinenfelder. Vor die8

Vgl. z. B. W. Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Leipzig / Berlin 1931, z. B. 77 f.

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sem Hintergrund lassen sich allgemeinere Kontextmerkmale einer Verweltanschaulichung von Wissenschaft zusammenstellen (dazu Abschnitt III), die nicht ausschließlich auf den Darwinismus bezogen sind, aber den Rahmen für die Ausbildung eines Darwinismus abstecken. Aus der Betrachtung der Verallgemeinerung von Wissenschaften im Umkreis des Darwinismus läßt sich eine weiterführende wissenschaftshistorische und -philosophische Aussage über die Lage der Wissenschaften um 1900 gewinnen. Solche Konvergenzen müssen nämlich von der Voraussetzung ausgehen, daß die Wissenschaften selbst nicht in Frage stehen, selbst wenn sie sowohl Verursacher der Probleme der Zeit als auch zugleich deren Überwinder sein sollen. Kennzeichnend für die Zeit um 1900 ist es, daß man – wie sich bereits in Darwins Schlußworten angedeutet hat – als Grundlage einer Verallgemeinerung von Wissenschaften wesentlich deren jeweilige Wissenschaftlichkeit, also eine zunächst auf einen bestimmten Gegenstandsbereich bezogene methodische und inhaltliche Kompetenz, akzeptierte. Unterschiedlichste Wissenschaftsformen konnten dadurch nebeneinander zu stehen kommen. Bereits die Konkurrenz bzw. das darin indizierte Nebeneinander von Naturund Geisteswissenschaften in dieser Zeit zeigt an, daß – ungeachtet solcher Benennungen wie »Jahrhundert der Naturwissenschaften« – keineswegs eindeutig eine bestimmte Wissenschaft als Leitmodell feststand. Aus einer solchen Perspektive gewinnt das Phänomen, daß ungefähr gleichzeitig einerseits die Wissenschaften zur Grundlage von Weltanschauung werden und andererseits – etwa bei Dilthey – eine Wissenschaft von der Weltanschauung entwickelt wird, besonderes Interesse.

II. »von selber auf das System geführt« Die Wissenschaften würden in der hier betrachteten Zeit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, »von selber auf das System geführt […]«.9 Diese These wird im Jahr 1883 in einer programmatischen Antrittsvorlesung von Alois Riehl formuliert, einem Philosophen, der im Prinzip der geisteswissenschaftlich orientierten Richtung des südwestdeutschen Neukantianismus zuzuordnen ist. Konkret begründet wird Riehls These durch den Hinweis auf zwei Resultate der Naturwissenschaften, nämlich die Theorie Darwins und den Satz von der Erhaltung der Energie. Riehls Überlegung kann symptomatisch für eine weithin geteilte Auffassung der Rolle der Wissenschaften in dieser Zeit stehen. Sie deutet weitreichende Konvergenzen an, die von naturwissenschaftlichen 9

A. Riehl, Ueber wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie. Eine akademische Antrittsrede, Freiburg i. Br. / Tübingen 1883, 6.

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Einzelresultaten, unter denen Darwins Theorie eine besonders prominente Stellung einnimmt, bis zur Philosophie und zu traditionellen philosophischen Idealen wie beispielsweise der um 1850 schon für obsolet gehaltenen Systemidee reichen. Dies soll im folgenden in weiteren exemplarischen Zitaten belegt und unter dem Stichwort der Verallgemeinerung von Wissenschaft und Wissenschaften versuchsweise systematisiert werden. Fast zeitgleich mit Riehls Vortrag präsentiert ein herausragender Exponent der Naturwissenschaften, der Physiologe Emil Du Bois-Reymond, entsprechende Gedanken. In einer Rede von 1882, gehalten aus dem repräsentativen Anlaß der Feier des Kaisergeburtstags vor der Akademie der Wissenschaften in Berlin, verweist Du Bois-Reymond ausdrücklich auf Newton zurück, um den Rang der Wissenschaften in seiner Zeit zu charakterisieren. »So ungerecht ist die Anschuldigung, die heutige Wissenschaft zersplittere sich in Einzelheiten, daß man bis auf Newtons Zeit zurückgehen muß, um einem Beispiel einer ähnlichen Erweiterung unserer theoretischen Vorstellungen zu begegnen, wie sie der Lehre von der Erhaltung der Energie und von der Bewegung, die wir Wärme nennen, entsprang.«10

Du Bois-Reymond geht, unter Verwendung derselben Figur des Rückgriffs auf Newton als anscheinend unproblematisch verfügbares Ideal der Werte der Wissenschaft, mit der Darwin Origin of Species geschlossen hatte, sogar noch über Darwin hinaus. Ihm geht es nicht um die Legitimierung eines bestimmten neuen Theoriebereichs angesichts möglicher Vorbehalte, sondern um die Legitimierung der Wissenschaften seiner Zeit insgesamt, also um den Aufweis ihrer Bedeutsamkeit in allen Belangen des sozialen und kulturellen Lebens. Der Verweis auf Newton dient dazu, einen allgemeinen kulturkritischen Vorwurf, den der Zersplitterung, zu entkräften. Diese Argumentationsfigur eines zusammenfassend beurteilenden Zugriffs auf die Wissenschaften überhaupt setzt sich fort, wenn Du Bois-Reymond Resultate und Protagonisten sehr unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete anführt, um so seine allgemeine Aussage über die Wissenschaften durch spezielle Beispiele zu begründen. »Anorganische und organische Chemie, von Anbeginn geschieden, erkennen jetzt in der Quantivalenz der Atome einen alles beherrschenden Grundgedanken an. Wie Mechanik und Physik in der Erhaltung der Energie, die Chemie in der Wertigkeitslehre ihren Leitstern fanden, so wurde das Gebiet des Lebens durch die Deszendenztheorie zu einem Bilde zusammengefaßt, welches die unermeßliche Gestaltenfülle

10

E. Du Bois-Reymond, Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart. In der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtstagsfeier des Kaisers und Königs am 23. März 1882 gehaltene Rede, in: Ders., Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hrsg. von S. Wollgast, Berlin 1974, 189–203, hier 193.

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der Gegenwart mit den unscheinbaren Spuren entlegenster Vergangenheit in einem Rahmen vereint […]. Auch Wissenschaften, deren Kreise früher kaum je sich schnitten, näherten sich einander. Die Spektralanalyse schlug eine Brücke zwischen Astronomie und Chemie. Die Siege der induktiven Methode machten Historiker und Sprachforscher, wie Thomas Buckle und Max Müller, begierig, sich derselben Vorteile zu bemeistern, da sich denn ergab, daß zwischen ihrer Tätigkeit und der des Naturforschers im Grunde kein so großer Unterschied ist […].«11

Diese Passage und der in ihr enthaltene Katalog wissenschaftlicher Leistungen, deren gemeinsamer Nenner durchgehend in der Herstellung neuer Vereinheitlichung liegt, können in vielfältiger Hinsicht ausgelegt werden. Zunächst wird man konstatieren, daß für Du Bois-Reymond seine eigene Zeit eben deshalb an das heroische Zeitalter Newtons anknüpfen kann, weil »zusammengefaßt«, »vereint« wird, so daß »im Grunde kein so großer Unterschied ist« zwischen Wissenschaften, die man vielfach für grundsätzlich divergierend hielt, nicht einmal zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Gerade die letztere These beinhaltet aber Konfliktpotential, denn Du Bois-Reymond wählt gerade solche Geisteswissenschaftler aus, die sich der induktiven Methode, also eines Methodenideals der Naturwissenschaften bedienen. Die von Du Bois-Reymond angeführten Autoren, Buckle und Max Müller, werden beispielsweise in einer vieldiskutierten Rektoratsrede des Wiener Juristen Adolf Exner, in der dieser eine »politische Bildung« unter anderem gegen das Umsichgreifen einer Naturalisierung einfordert, als Vertreter einer verfehlten, der »Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen« stattgebender und dadurch die Geisteswissenschaften »gänzlich auf Abwege« führender Wissenschaftsauffassung bezeichnet.12 Trotz solcher Differenzierungs- und Grenzziehungsversuche kann man festhalten, daß der Optimismus, man gehöre um 1900 zu einer in der Geschichte der Wissenschaften insgesamt herausragenden Epoche, durch Konzepte wie Zusammenfassung und Vereinigung begründet wird, die im Blick auf die konkreten Wissenschaften in einer weitreichenden Öffnung von Abgrenzungen umgesetzt werden.13 Es scheint mehr darauf anzukommen, daß man sich überhaupt auf wissenschaftliche Resultate stützen kann, als auf die speziellen Einzelresultate selbst oder auf den Wissenschaftsbereich, dem diese Einzelresultate

11

Ebd., 194 f. – Henry Thomas Buckles (1821–1862) Hauptwerk behandelt die History of civilisation in England (1857 / 61), Max Müller (1823–1900) befaßte sich insbesondere mit Sprachtheorie und Forschungen zur indischen Religion. 12 A. Exner, Über politische Bildung. Rede gehalten bei der Übernahme der Rektoratswürde an der Wiener Universität, Leipzig 31892, 24. 13 Hieraus kann man einen theoretischen Rahmen für das Verständnis monistischer Richtungen und ihrer Popularisierungsleistung in der Zeit um 1900 gewinnen.

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entstammen. Betrachtet man die Kataloge herausragender wissenschaftlicher Resultate, mit denen man die Titulierung des 19. Jahrhunderts als »Jahrhundert der Naturwissenschaften« zu stützen suchte, fällt nämlich auf, daß immer wieder Resultate aus unterschiedlichen Gebieten nebeneinander genannt werden, weil diese Resultate unter bestimmten allgemeineren Gesichtspunkten vergleichbar seien. Bereits die Parallelen in den angeführten Passagen von Du Bois-Reymond und Riehl bestätigen dies. Sucht man nach einer Möglichkeit allgemeiner Zusammenfassung dieser Überlegungen, so lassen sich zwei Argumentationslinien beobachten: Einmal die Suche nach Vereinigungen auf einer sehr allgemeinen Ebene, zum anderen der Ausgang von einzelnen Resultaten, die – wie in der Entdeckung neuer Gesetzmäßigkeiten – innerhalb eines bestimmten Bereichs des Naturalen zu Vereinigungen führen. Wichtig ist: Man nimmt hierin eine Konvergenz wahr, sieht die Fortschritte in der Formulierung von Gesetzen nicht einfach als Zunahme einer Naturalisierung, in der andere Erfahrungsbereiche wegfallen.

(a) Allgemeinheit als abstraktes Wissenschaftsideal14 So populär die (auf Werner von Siemens zurückgehende) Titulierung des 19. Jahrhunderts als naturwissenschaftliches Zeitalter auch war, so ist doch klar, daß sie keineswegs universell anerkannt wurde.15 Zudem läßt diese Formel unterschiedliche Auslegungen zu, insbesondere muß »Jahrhundert der Naturwissenschaften« kein Kampfbegriff sein, der alles nicht-Naturwissenschaft14

Zu ganzheitlichen Tendenzen in den (deutschen) Wissenschaften um 1900 vgl. A. Harrington, Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, Princeton, New Jersey 1996; W. Gebhard, »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984 (Hermaea. N. F. Bd. 47), 49–77 (v. a. mit Rückgriff auf Romantik und Idealismus und unter dem Leitgedanken einer analogischen Deutung von Gesamtheitstopoi) und 534–576; speziell zur Gestaltpsychologie M. G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge u. a. 1995. Zur Rolle eines Bezugs auf Naturwissenschaften im Zusammenhang nationaler Einigungsgedanken vgl. auch J. Kolkenbrock-Netz, Wissenschaft als nationaler Mythos. Anmerkungen zur HaeckelVirchow-Kontroverse auf der 50. Jahresversammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1877), in: J. Link / W. Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991 (Sprache und Geschichte, Bd. 16), 212–236. 15 W. Siemens, Das naturwissenschaftliche Zeitalter, in: Tageblatt der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Berlin vom 18. bis 24. September 1886, Berlin 1886, 92–96. – Eine sehr viel umfangreichere Liste von möglichen Charakterisierungen des 19. Jahrhunderts findet sich z. B. bei H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, I. Hälfte, München ²1900.

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liche ausschließt oder, in der Terminologie moderner Wissenschaftstheorie, eliminiert. Nicht einmal bei einem harten Materialisten wie Ludwig Büchner findet sich diese Konnotation. Am Ende des 19. Jahrhunderts blickt Büchner zurück und sieht sein Jahrhundert als Übergang in ein »Jahrhundert der Versöhnung«.16 »Jahrhundert der Aufklärung – Jahrhundert der Wissenschaft – Jahrhundert der Versöhnung – so glaubten wir […] die drei auf einanderfolgenden Jahrhunderte des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten charakterisieren zu dürfen […]«.17

Die Einschätzung Büchners ist, ungeachtet aller kulturpessimistischen Diagnosen der Jahrhundertwende und ungeachtet der kämpferischen Haltung der materialistischen Theoretiker der Jahrhundertmitte, unverkennbar von großem, eben auf Versöhnung zielendem Optimismus getragen. Wenn es aber darum geht, konkret aufzuweisen, auf welche wissenschaftlichen Leistungen sich ein solcher Optimismus stützen kann, scheint Büchner zunächst zu einer Einschränkung gezwungen zu sein – um diese aber sofort, und nun unter dem Stichwort der »Gesamtheit«, also wiederum eines Terminus aus einem Verallgemeinerungsdiskurs, zurückzunehmen. »Und wenn auch unter diesen Fortschritten keiner ist, welcher für sich allein an allgemeiner Wichtigkeit dem Sieg des Kopernikanischen Weltsystems oder der Entdeckung Amerikas gleichkäme, so übertreffen dieselben doch, wenn auch nicht im einzelnen, in ihrer Gesamtheit alles vorher Dagewesene […]«.18

Der bei Büchner unter dem Titel der »Gesamtheit« formulierte Anspruch einer Berufung auf die (Natur-)Wissenschaften geht im naturwissenschaftlichen Zeitalter so weit, daß man traditionelle Werte z. B. der Metaphysik in neuer Form restituieren möchte, selbst wenn die Metaphysik insgesamt um die Jahrhundertmitte angesichts der Erfolge der Naturwissenschaften in Verruf geraten war. Die stärkste Argumentationsstrategie hierzu bestünde darin, ein-

16

Zum Stichwort der »Versöhnung« vgl. A. Daum, Das versöhnende Element in der neuen Weltanschauung. Entwicklungsoptimismus, Naturästhetik und Harmoniedenken im populärwissenschaftlichen Diskurs der Naturkunde um 1900, in: V. Drehsen / W. Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, 203–215; W. Gebhard, »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1984 (Hermaea. N. F. Bd. 47); F. K. Ringer, The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890–1933, Cambridge, Mass. 1969, 384–403 (schwerpunktmäßig zu geisteswissenschaftlichen Aspekten). 17 L. Büchner, Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blicke eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit, Gießen 1898, 19. 18 Ebd.

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geforderte Konzepte wie das der Einheit oder des allseitigen Zusammenhangs aus den einzelnen Wissenschaften selbst zu begründen und so in neuartiger Weise abzusichern, zugleich dabei vom Erfolg der einzelnen Wissenschaften zu profitieren. Daß man zur Bestimmung von traditionell metaphysisch belegten Begriffen wie »Einheit« oder »Zusammenhang« tatsächlich eine Orientierung an den einzelnen Wissenschaften suchte, wird beispielsweise deutlich, wenn mit Ludwig Boltzmann ein herausragender Physiker19 einige der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts als »Philosophen« würdigt, die ein nie aufgegebenes Bedürfnis nach Metaphysik befriedigen: »Die Metaphysik scheint einen unwiderstehlichen Zauber auf den Menschengeist auszuüben, der durch alle mißlungenen Versuche, ihren Schleier zu heben, nicht an Macht einbüßt. Der Trieb zu philosophieren, scheint uns unausrottbar angeboren zu sein. Nicht bloß Robert Mayer, der ja durch und durch Philosoph war, auch Maxwell, Helmholtz, Kirchhoff, Ostwald und viele andere opferten ihr willig und erkannten ihre Fragen als die höchsten an, so daß sie heute wieder als Königin der Wissenschaft dasteht.«20

(b) Vereinigungsleistungen in speziellen wissenschaftlichen Resultaten Boltzmanns Liste zentraler Autoren erweist sich als durchaus repräsentativ. Boltzmann konzentriert sich auf Wissenschaftler, die zur Entwicklung des Energieerhaltungssatzes beigetragen haben. Helmholtz als einer der Begründer des Energieerhaltungssatzes beschreibt diesen in seinem Vortrag Über die Erhaltung der Kraft – unter Verwendung der bereits vertrauten Begrifflichkeit von »Allgemeinheit« und »Zusammenhang« – als ein »neue[s] allgemeine[s] Gesetz […] aller Naturerscheinungen«, das durch seine »ausserordentlich ausgedehnte […] Tragweite und wegen des Zusammenhangs, den es zwischen den Naturerscheinungen aller Art, auch der fernsten Zeiten und fernsten Orte nachweist«,21 von herausragender Bedeutung sei. Als zweite große wissenschaftliche Leistung des 19. Jahrhunderts wird stereotyp immer wieder die Theorie Darwins genannt. Ein Beleg hierfür, direkt mit einer WeltanschauungsTerminologie formulierend und in der Ausbildung einer »ganze[n]« neuen 19

Boltzmann war allerdings ab 1903 auch Nachfolger von Ernst Mach auf der Lehrkanzel für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« in Wien. 20 L. Boltzmann, Principien der Naturfilosofi. Lectures on Natural Philosophy 1903– 1906, hrsg. von Ilse M. Fasol-Boltzmann, Berlin u. a. 1990, 154. 21 H. von Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Einleitung eines Cyclus von Vorlesungen, gehalten in Carlsruhe während des Winters 1862 auf 1863, in: Ders., Populäre wissenschaftliche Vorträge, 2. Heft, Braunschweig 1871, 137–179, 141.

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Weltanschauung die wesentliche Leistung Darwins sehend, findet sich wieder bei Büchner. Die Biologie sei die Wissenschaft, »welche wohl den größten aller naturwissenschaftlichen Fortschritte des Jahrhunderts zu verzeichnen hat durch die Wiederaufnahme und den Sieg der von Darwin im Jahre 1860 neubegründeten und von Haeckel und anderen weitergeführten Entwicklungs-, Deszendenz- oder Abstammungslehre, welche die alte Schöpfungstheorie gänzlich verdrängt und damit eine ganz veränderte Weltanschauung geschaffen hat.«22

In beiden Fällen, bei Darwin bzw. dem Darwinismus wie bei der Energieerhaltung, werden Verbindungen zwischen vorher heterogenen Gebieten der Wissenschaften hergestellt, wobei auch die Grenze zwischen den Wissenschaften vom Organischen bzw. Anorganischen überschritten werden. Diese Verbindungen ergeben sich nicht als spekulatives Postulat, sondern als Resultat experimenteller und – insbesondere bei Helmholtz – auch quantifizierender, mathematische Gesetze aufstellender Forschung. Zugleich werden wissenschaftliche Aussagen neuen Allgemeinheitsgrades möglich; es geht nicht mehr um einzelne Ereignisse, sondern um Austauschbeziehungen, um Umwandlungsprozesse, die gesetzmäßig erfaßbar werden.23 Ein weiterer gemeinsamer Aspekt, der insbesondere auch die Resultate von Darwins Theorie betrifft, besteht in der Eignung dieser wissenschaftlichen Sachverhalte zur Popularisierung und zur Herausbildung von Weltanschauungen. Hierzu trägt bei, daß sie auch von einem Publikum ohne weiterreichende naturwissenschaftliche Kenntnisse zumindest in Ansätzen und in ihrer allgemeineren Bedeutsamkeit rezipiert werden konnten, da sie sich – wie der Energieerhaltungssatz – auf alltägliche Phänomene bzw. – wie Evolutionstheorie – auf solche, die insbesondere den Menschen und sein Selbstverständnis sehr direkt betreffen, beziehen. Die Vereinigung vorher unverbunden nebeneinanderstehender Gebiete kennzeichnet auch die übrigen Theorien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder als herausragende naturwissenschaftliche Leistungen genannt werden, etwa Heinrich Hertz’ Arbeiten über elektromagnetische Wellen und 22

L. Büchner, Am Sterbelager des Jahrhunderts, a. a. O., 45 f. Zur Geschichte der Energieerhaltung ist neben Kuhns klassischem Aufsatz (Thomas S. Kuhn, Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung, in: Ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von L. Krüger, übers. von H. Vetter, Frankfurt / M. 31988, 125–168) auf folgende Texte zu verweisen: K. L. Caneva, Robert Mayer and the Conservation of Energy, Princeton, N. J. 1993; Y. Elkana, The discovery of the conservation of energy, Cambridge, Mass. 1974 (Harvard Monographs in the History of Science); P. M. Harman, Energy, Force, and Matter. The Conceptual Development of Nineteenth-Century Physics, Cambridge u. a. 1982 (Cambridge History of Science). 23

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damit über den Zusammenhang von Elektrizität und Licht, Charles Lyells geologische Arbeiten mit dem als sensationell wahrgenommenen Resultat, daß erdgeschichtliche Vorgänge in sehr viel längeren Zeiträumen ablaufen als bislang angenommen, oder Ergebnisse der Astrophysik, wo es durch die Arbeiten von Robert Bunsen und Gustav Kirchhoff zur Spektralanalyse möglich wurde, die irdische Chemie auf das ganze Universum auszudehnen.

(c) Konvergenzwahrnehmungen unter der Prämisse allgemein gesicherter Wissenschaftlichkeit Wenn die Naturwissenschaften für die Rehabilitation traditioneller Gebiete wie der Metaphysik in Anspruch genommen werden, stehen Annahmen im Hintergrund, die auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht vorgebracht werden können. Der eingangs zitierte Philosoph Alois Riehl (1851–1930), Nachfolger Wilhelm Windelbands in Freiburg, aber auch von Ernst Mach selbst als Machs Nachfolger für die Wiener Professur für »Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften« ins Gespräch gebracht, kann hier als Exempel dienen.24 Riehl erklärt, unter Hinweis auf Energieerhaltung und Evolution als die allgemein akzeptierten Garanten eines »Jahrhunderts der Naturwissenschaften«, seine Zeit unter Berufung auf die »Synthese«, die durch diese naturwissenschaftlichen Errungenschaften bewirkt werde, geradezu zum »philosophischen Zeitalter«. »Ein Zeitalter der Wissenschaft, das mit dem Prinzip der Unzerstörlichkeit der Energie ein sämtliche Vorgänge in der äußeren Natur beherrschendes und verbindendes Gesetz entdeckt und mit der Lehre der Abstammung und Entwicklung der Arten die philosophische Idee der Einheit des organischen Lebens in die biologische Wissenschaft eingetragen hat, ein solches Zeitalter der Synthese ist, man mag dies Wort haben, oder nicht, ein philosophisches Zeitalter.«25

In seiner Antrittsvorlesung mit dem programmatischen Titel Ueber wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie von 1883 betont Riehl ausdrücklich anhand der Beispiele von Energieerhaltung und Evolutionstheorie – die auch er als herausragende Ereignisse in der Wissenschaftsentwicklung des

24

Vgl. einen Artikel aus der Arbeiter-Zeitung vom 29.10.1903, abgedruckt in L. Boltzmann, Principien der Naturfilosofi, 148 f.: Die Fakultät habe zunächst Riehl als Nachfolger Machs vorgeschlagen, Riehl erhielt die Professur aber aufgrund einer früheren antiklerikalen Schrift nicht. 25 A. Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. Acht Vorträge, Leipzig 3 1908, 3 f.

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19. Jahrhunderts kennzeichnet –, daß sich diese Systematisierung sozusagen automatisch, ohne einen von außen, etwa aus der Philosophie, kommenden Anstoß aus der einzelwissenschaftlichen, arbeitsteiligen Tätigkeit ergebe: »Im Fortgange des wissenschaftlichen Forschens selbst werden nicht selten die scheinbar entlegensten Tatsachen einheitlich verbunden und ganze, früher getrennte Untersuchungsgebiete einander genähert. Wärme und Massenbewegung wurden als verschiedene Formen einer und derselben Kraft erkannt, zwischen welchen eine unveränderliche numerische Beziehung besteht: das mechanische Aequivalent der Wärme. Die Abstammungs- und Entwickelungslehre Darwins hat sämmtliche biologische Wissenschaften in fruchtbare Berührung und Wechselwirkung gebracht. So gelangt die Wissenschaft gerade auf dem Wege der Spezialisierung und Arbeitsteilung, den ihr das Interesse strenger Wissenschaftlichkeit vorschreibt, im Laufe der Zeit zur Vereinigung ihrer Forschungsergebnisse. Sie findet sich von selber auf das System geführt, oder doch demselben näher gebracht, ohne es zu suchen.«26

Durch diese Qualitäten ihrer Resultate rücken die Naturwissenschaften eng an die Philosophie heran. Die Naturwissenschaften scheinen, in ihrer alltäglichen, abgesicherten Praxis, Probleme zu lösen, die in die traditionelle Problemstellung der Philosophie fallen. »Einheit« ist nun ein gesichertes, experimentell gewonnenes und mathematisch formulierbares Resultat der Wissenschaften, wird aber zugleich ganz bewußt als Grundkategorie der Philosophie eingebracht und bedient so allgemeinere kulturelle Bedürfnisse. Die weitgehende Einstimmigkeit bei der Auswahl der herausragenden, kennzeichnenden wissenschaftlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts zeigt, daß man diesen Zusammenhang der drei Ebenen von Wissenschaft, Philosophie und Kultur sehr eindeutig und klar sah. Daß einzelne Theorien und Resultate der Wissenschaften als Belege für einen solchen Zusammenhang angeführt werden, weist auf eine starke Voraussetzung hin, nämlich darauf, daß die einzelnen Wissenschaften selbst bereits soweit verselbständigt sind, daß ihr Status nicht mehr zur Diskussion und Disposition steht. Einzelne Resultate können vor dem Hintergrund einer etablierten und gesicherten »Gesamtheit der Wissenschaften« weiterführende Bedeutung erlangen. Das ist in doppelter Weise zu kontrastieren mit der Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Erstens: Um 1900 ist eine versöhnliche Haltung verbreitet; die Überzeugung von der Reichweite der Wissenschaften führt nicht zu einem Ausschluß, sondern zu einem universellen Einschluß aller Erkenntnisund Lebensbereiche, bis hin etwa zu ästhetischen und religiösen Elementen.27 Zweitens: Es geht nicht mehr um eine erkenntniskritische Scheidung zwischen – aufgrund allgemeiner philosophischer, beispielsweise erkenntnistheoretischer 26 27

A. Riehl, Ueber wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie, a. a. O., 5 f. Vgl. dazu ausführlicher P. Ziche, Wissenschaftslandschaften um 1900, a. a. O.

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Kriterien – gesicherten und aufgrund solcher Kriterien unhaltbaren Behauptungen. Die wissenschaftsmethodologischen Anstrengungen sowohl der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (genannt seien Autoren wie M. J. Schleiden oder Fries) wie auch der Versuch der Neukantianer, der Philosophie als Ort einer solchen Erkenntniskritik ein Existenzrecht neben oder sogar über den einzelnen Wissenschaften zuzuschreiben, weisen sich demgegenüber als ihrerseits eingeschränkte, spezialistische Zugriffsweisen aus.

III. »Die Gesetzmäßigkeit der gesamten Welt ist überall ein und dieselbe.« Der Physiologe Max Verworn (1863–1921), der in seiner Extrapolation irdischer Gesetzlichkeiten, vor allem der Gesetze Darwins, in den Kosmos auch den Bereich der Psychologie einbezogen wissen will, verallgemeinert nicht nur, wie Bunsen und Kirchhoff, die irdische Chemie zu einer kosmischen, sondern verbindet Darwinismus, Psychologie und Physiologie zu einer neuen kosmischen Psycho-Entwicklungslehre. Auch hierfür, also für ein neues und noch dazu hypothetisches Gebiet, nimmt er im Rückgriff auf Darwin durchgehende Gesetzmäßigkeit in Anspruch. Besser ist das Vertrauen in die ungebrochene Generalisierbarkeit und in die Verläßlichkeit der Wissenschaften nicht zu illustrieren. Verworn reflektiert aber auch ausdrücklich über das Verhältnis von Wissenschaft und Weltanschauung. Eine Weltanschauung kann man in einer ersten Annäherung als eine umfassende Weltdeutung aus einheitlichen Gesichtspunkten definieren; die Ganzheits- und Allgemeinheitsansprüche, die typischen Weltanschauungen inhärieren, entsprechen denen, die sich, wie geschildert, aus den Wissenschaften ergaben. Eine Verbindung von Weltanschauungsbegründung und den angeführten Aspekten der Wissenschaftswahrnehmung hatte bereits Büchner angesprochen. Weltanschauungen werden damit in doppelter Weise zum Thema. Autoren wie Verworn und zahlreiche andere Vertreter einer naturwissenschaftlich orientierten Weltsicht proklamieren die unmittelbare weltanschauliche Relevanz der (Natur-)Wissenschaften,28 wäh28

Typische Beispiele finden sich beispielsweise im monistischen Kontext; genannt sei weiter der insbesondere aus theologischer Richtung massiv angegriffene Text von A. Ladenburg, Über den Einfluß der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung. Vortrag, gehalten auf der 75. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, Leipzig 1903. Zwei Beispiele für Diskussionsbeiträge aus primär philosophischer Perspektive: E. von Hartmann, Die Weltanschauung der modernen Physik, Leipzig 1902; Th. Lipps, Naturwissenschaft und Weltanschauung. Vortrag gehalten auf der 78. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart, Heidelberg 1906. – Das Projekt einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung wurde in mehreren Zeitschriften umgesetzt; so trug das Publikationsorgan des Deutschen Monistenbundes, Der Monismus, später Das Mo-

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rend zugleich eine Wissenschaft der Weltanschauungen etabliert wird, die sich unmittelbar auf geisteswissenschaftliche Traditionen stützt und z. B. bei Dilthey zu einer eigenen Weltanschauungsphilosophie führt. In der ersteren Richtung werden einzelne Wissenschaften zur Grundlage von Weltanschauung, in der zweiten werden Weltanschauungen selbst zum Gegenstand einer sich selbst genau reflektierenden Wissenschaft. Bemerkenswert für die hier verfolgte Fragestellung ist nun, daß auch in diesen gegensinnigen Bewegungen markante Konvergenzen auszumachen sind. Beide, in ihrer Berufung auf Natur- bzw. Geisteswissenschaften scheinbar diametral entgegengesetzte Richtungen sind durch eine Fülle von gemeinsamen Begrifflichkeiten und Argumenten miteinander verknüpft und lassen sich so als komplementäre Beiträge in einem gößeren Kontext der Ausweitung von Wissenschaften verstehen.

(a) Naturwissenschaft und Weltanschauung Ein programmatischer Text zum Zusammenhang von Wissenschaft und Weltanschauung, nun aus dem unmittelbaren Kontext der Darwin-Rezeption, wird von Max Verworn vorgelegt. Verworn konstatiert, unter dem Titel Naturwissenschaft und Weltanschauung, »daß heute die Beschäftigung mit allgemeinen, ja mit den letzten Fragen für die Naturwissenschaft wieder einen neuen Reiz gewonnen hat«,29 und stellt dar, wie eine einheitliche Weltanschauung zu gewinnen sei, die bei Verworn in einem (Psycho-)Monismus besteht. Verworn kontrastiert dabei eine einzelwissenschaftliche Zersplitterung und ein vereinheitlichendes Wissenschaftskonzept; der Diskurs zur Verallgemeinerung von Wissenschaften setzt sich in ihrer Umsetzung in Weltanschauungen ohne Modifikationen fort. Verworns eigene Rückverweise auf Darwin machen deutlich, daß seine Darwin-Rezeption gerade unter dem Leitproblem einer Verallgemeinerung ablief. Verworn versucht, auch in seinen physiologischen und psychologischen Arbeiten auf Darwin zurückzugreifen. Im Gefolge Haeckels wendet er seine Aufmerksamkeit den Einzellern zu und erörtert deren physiologische und psychonistische Jahrhundert, jeweils den Untertitel Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik bzw. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Kulturpolitik; die Zeitschrift des 1911 als Separatgründung zum Monistenbund entstandenen Humboldt-Bundes führte den Weltanschauungsbegriff direkt im Titel: Neue Weltanschauung. Monatsschrift für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage (ab 1908). Auch die vom anti-monistischen ›Keplerbund‹ vertretene Gegenposition griff den Begriff der Weltanschauung auf, wenn die Zeitschrift des Keplerbundes unter dem Titel Unsere Welt. Illustrierte Zeitschrift für Naturwissenschaft und Weltanschauung (ab 1907) erschien. 29 M. Verworn, Naturwissenschaft und Weltanschauung. Eine Rede, Leizig 1904, 7.

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logische Leistungen vor der offenkundigen Hintergrundannahme, daß in einem evolutionstheoretisch gedeuteten Weltbild solche elementaren Organismen Einblick in die elementaren Strukturen auch von Psychologie und Physiologie ermöglichen.30 Die Ausweitung auf die Physiologie beruht für Verworn auf dem Charakter der Darwinschen Aussagen als allgemeingültiger Naturgesetze, die eine Übertragung auf die »Mechanik des Seelenlebens« im kleinsten Organismus, aber eben auch – in spekulativer, aber mit dem Anspruch voller wissenschaftlicher Überzeugung vorgetragener Generalisierung – die ultimative Ausweitung ins Weltall gestatten.31 Der Ausweitung, die Verworn als Physiologe vornimmt, korrespondiert, mit denselben Argumenten, eine Ausweitung, die das Weltbild insgesamt betrifft.

(b) Wissenschaft und Weltanschauung vs. Weltanschauungsphilosophie? Ludwig Büchner sah, wie zitiert, die entscheidende, an Newton heranreichende Leistung Darwins darin, daß Darwin eine neue, veränderte Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage entwickelt habe. Eine solche Aussage muß sich messen lassen an den Überlegungen, die um 1900 von der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Philosophie entwickelt werden, die in dieser Zeit das Thema der Weltanschauungen und der diesen zugrundeliegenden Gesetzlichkeiten für sich entdeckt. Eine Definition von Weltanschauung in diesem Kontext gibt Max Frischeisen-Köhler 1911 in der Einleitung zu einem repräsentativen – am Anfang steht Wilhelm Diltheys Abhandlung über Weltanschauungslehre – Band mit dem lapidaren Titel Weltanschauung. FrischeisenKöhlers Definition ergibt sich implizit aus einer Analyse wissenschaftlicher Resultate und eines allgemein gefühlten Bedürfnisses unter dem Leitbegriff des »Zusammenhangs«, an anderer Stelle auch der »Einheit«. »Die Aufteilung der Wissenschaftsarbeit, die Andacht zum Kleinen und zum Tatsächlichen, die wir jahrzehntelang gepflegt, die uns unser naturwissenschaftliches Weltbild wie unser historisches Bewußtsein geschaffen haben, können wir nicht mehr preisgeben. […] Aber das Bedürfnis, über die Einzelerkenntnisse, welche die wissenschaftliche Forschung erarbeitet hat, zu einer Gesamterkenntnis des Zusammenhangs der Dinge, in welchem wir uns befinden, fortzuschreiten, das Verlangen, die Fragmente und Bruchstücke, die der Mensch in seiner Hand hält, zu einem

30

Vgl. M. Verworn, Psycho-physiologische Protisten-Studien. Experimentelle Untersuchungen, Jena 1889. – Zur Thematik vgl. auch J. J. Schloegel / H. Schmidgen, General Physiology, Experimental Psychology, and Evolutionism. Unicellular Organisms as Objects of Psychophysiological Research, 1877–1918, in: Isis 93 (2002), 614–645. 31 M. Verworn, Die Entwicklung des menschlichen Geistes, a. a. O., 2.

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sinnvollen Ganzen zu ordnen, in welchem das Verhältnis unserer Lebenserfahrung zu unserem Weltbilde sich klärt, ist unausrottbar.«32

Die Stichworte entsprechen denen, die in den Verallgemeinerungstendenzen in den Naturwissenschaften aufgewiesen wurden. Eine andere Wendung tritt in Frischeisen-Köhlers geisteswissenschaftlich ausgerichteter Konzeption dadurch zutage, daß er die Dimensionen der Sinngebung und der Lebenserfahrung namhaft macht und damit suggeriert, diese Dimensionen seien einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung nicht zugänglich. Auch hier aber ist eine Konvergenz in den Argumentationen erkennbar; auch Boltzmann hatte mit der identischen Begrifflichkeit von »unausrottbaren« Bedürfnissen für die Bedeutsamkeit gerade der Naturwissenschaften argumentiert. Von daher lassen sich die geisteswissenschaftliche Weltanschauungsphilosophie und die Verallgemeinerung der Naturwissenschaften am ehesten als zwei Reaktionen auf eine gemeinschaftlich diagnostizierte Bedürfnislage verstehen. Interessanterweise finden sich auch in den epistemischen Ansprüchen Parallelen zwischen beiden Richtungen. Obwohl eine geisteswissenschaftliche Philosophie gerade auf Einzeldeskriptionen, nicht auf generelle Erklärungen zielt, ist sie insoweit mit naturwissenschaftlichen Wissenschaftskonzeptionen einig, als sie einem bloßen Relativismus nebeneinanderstehender Positionen entgegenarbeiten will. In beiden Fällen wird Erkenntnissicherung, wenn auch für unterschiedliche Objekte (deskriptiv erfaßte historische Tatbestände bzw. gesetzlich erklärbare Tatsachen) angestrebt. Sieht man auf den gemeinsamen Bezugspunkt einer allgemein anerkannten Bedürfnislage, so lassen sich weitere signifikante und bemerkenswerte Konver-

32

M. Frischeisen-Köhler, Einleitung, in: Ders. (Schriftleitung), Weltanschauung. Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey […], Berlin 1911, IX– XVIII, hier: IX. Zum Stichwort »Einheit« vgl. ebd., X: die Spezialwissenschaften »heben […] gerade die Beziehung auf die Einheit, welche das wesentliche Merkmal jeder Weltanschauung ist, auf […].« – Allgemein zum Weltanschauungsdiskurs um 1900 vgl. z. B. H. Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: L. Danneberg / F. Vollhardt (Hg.), Wissen in Literatur des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2002, 338–380; O. Marquard, Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, in: H. Rombach (Hg.), Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag. Freiburg / München 1966, 428–442; V. Drehsen / W. Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996; F. H. Tenbruck, Heinrich Rickert in seiner Zeit. Zur europäischen Diskussion über Wissenschaft und Weltanschauung, in: J. Oelkers / W. K. Schulz / H.-E. Tenorth (Hg.), Neukantianismus. Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie, Weinheim 1989 (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft. Bd. 4), 79–105.

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genzen feststellen. Auch in den Texten und in der Praxis des frühen logischen Empirismus, im Wiener Kreis, spielen Überlegungen zu Weltanschauungen und ihrer Funktion eine bedeutende Rolle. Wenn Rudolf Carnap in den ersten Seiten seines Logischen Aufbaus der Welt ausdrücklich davon spricht, daß »auch wir«, also auch die Denker des Wiener Kreises, »›Bedürfnisse des Gemütes‹« hätten,33 und wenn das sog. ›Manifest‹ des Wiener Kreises unter dem Titel Die wissenschaftliche Weltauffassung34 steht, wird eine Terminologie aufgegriffen, die in ihrer Herkunft den Idealen des Wiener Kreises zunächst nicht zu entsprechen scheint. Inhaltlich werden diese »Bedürfnisse« nun auch anders ausgelegt. Carnap nennt nicht mehr das metaphysische Ideal schlechthinniger Allgemeinheit, sondern Ideale wie Klarheit, Sauberkeit, Verantwortlichkeit, Zusammenarbeit, wobei auch diese Ideale in der veränderten kulturellen Lage der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts breite kulturelle Relevanz besitzen. Das Bemühen, Philosophie durch den Anschluß an die Wissenschaften weltanschaulich bedeutsam werden zu lassen, bleibt auch in der nun veränderten Form einer Wissenschaftsorientierung erhalten.

(c) Wissenschaftlicher Liberalismus und weltanschauliche Streitkultur Die benannten Konvergenzen ermöglichen in den jeweils unterschiedlichen Richtungen einen inhaltlich unterschiedlich ausgerichteten Enthusiasmus hinsichtlich der umfassenden Bedeutsamkeit des jeweils speziellen Fachs. Zugleich aber führt der enge Kontakt, wie er durch das gemeinsame Ideal der Verallgemeinerung gestiftet wird, unmittelbar in eine Konkurrenzsituation, die die – trotz aller Bekenntnisse zur Versöhnung – scharf ausgeprägte Streitkultur der Zeit um 1900 erklären kann. Die Debatte um Darwin und den Darwinismus gehört auch hier zu den zentralen und meistdiskutierten Themen. Gerade der Anspruch einer umfassenden Betrachtung des Menschen in allen seinen Lebensbezügen führt zu einer wichtigen Doppeldeutigkeit im Weltanschauungsdiskurs der Zeit um 1900. Einerseits gibt es die Tendenz, auf der Grundlage eines verallgemeinerten Wissenschaftlichkeitsbegriffs in sehr liberaler Weise unterschiedliche Wissenschaften nebeneinander akzeptieren zu können, zum anderen kommt es auf der Ebene von Weltanschauungen zu »Kämpfen«, die mit höchster polemischer Schärfe geführt wurden. Typischerweise beriefen sich die Streitpartner in gleicher Weise jeweils auf die Wissenschaften; der 33

R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee 1928, V. O. Neurath / H. Hahn / R. Carnap, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929), in: O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hrsg. von R. Haller / H. Rutte, Bd. 1, Wien 1981, 299–336. 34

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Streit betraf also nicht die Frage, ob Wissenschaften überhaupt von umfassender Bedeutung sind.35 Beispielsweise kann ein Konzept wie Metaphysik aus sehr unterschiedlichen Richtungen eine wissenschafts- oder weltanschauungsbezogene Rehabilitierung erfahren. Gerade deshalb konnte ein solches Konzept zu einem Kampfbegriff werden, den sich wiederum die weltanschaulichen Streitpartner mit wechselseitig einander entsprechenden Argumenten gegenseitig vorhalten konnten.36 Die Austauschbarkeit der Vorwürfe belegt, daß erstens die Konzepte, mit denen hier operiert wird, nicht klar genug bestimmt sind. Die Tatsache, daß man sich ihrer zur wechselseitigen Kritik bedienen kann, zeigt zweitens, daß sie mit Wertsetzungen belegt sind, die auch ohne klare argumentative Grundlage für die Diskussion um philosophische Positionen bedeutsam werden können. Der polemische Streit um die richtige Weltanschauung findet seinen Niederschlag auch in der um 1900 verbreiteten Rede vom »Kampf um die Weltanschauung«, in dem sich gerade naturwissenschaftlich ausgerichtete Denker mit Affinitäten zum Darwinismus und ihre Antagonisten, etwa aus kirchlichen Kreisen, gegenüberstanden.37 Typischerweise werden in diesen Polemiken Begriffe ausgetauscht, die zwischen einer technischen, engen Bedeutung (etwa Metaphysik als Einheit in Anlehnung an wissenschaftliche Resultate) und einer sehr viel weitergehenden Bedeutung (Metaphysik als absolut umfassende, einheitliche Welterklärung) changieren. Ein anderes Beispiel böte der Begriff »Materialismus« als Materietheorie einerseits, als reduktive Gesamterklärung der Welt andererseits. Zur Polemik, zur in Schlagworte kondensierten Aburteilung taugen solche Begriffe 35

Vgl. dazu P. Ziche, Wissenschaftliche Weltanschauung. Gemeinsamkeiten und Differenzen monistischer und anti-monistischer Bewegungen, in: K.-M. Kodalle (Hg.), Die Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900–1940, Würzburg 2000 (Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 5), 63–87. 36 Zum Metaphysik-Vorwurf vgl. P. Ziche, Die ›Scham‹ der Philosophen und der Hochmut der Fachgelehrsamkeit. Zur fachphilosophischen Diskussion von Haeckels Monismus, in: Ders. (Hg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000, 61–79. 37 Zwei typische Titel (denen man viele weitere beigesellen könnte) aus einem typischen Kontext, der Debatte um den Monismus bzw. die Evolutionstheorie im Umkreis von Monisten- und Keplerbund: R. Burdinski (Hg.), Der Kampf um die Weltanschauung in Berlin. Ausführlicher Bericht über die Vorträge des Jesuitenpater Wasmann und den Diskussionsabend mit kritischen Bemerkungen, Berlin 1907; E. Dennert, Die Naturwissenschaft und der Kampf um die Weltanschauung. Ein Beitrag zur Begründung des Keplerbundes, Hamburg 1908. – Vgl. auch, in einem etwas anderen Kontext, U. Hoyer / H. Schwaetzer (Hg.), ›Kampf zweier Weltanschauungen‹: Metaphysik zwischen Naturwissenschaft und Religion im Werk Gideon Spickers, Hildesheim / Zürich / New York 1999 (Philosophische Texte und Studien, Bd. 48); H. Thomé, Weltanschauungsliteratur, a. a. O., mit weiteren Angaben.

Wissenschaft als Weltanschauung, Weltanschauung als Wissenschaft

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genau deshalb, weil ein als terminus technicus verstandener Begriff gleichzeitig für eine umfassende Weltanschauung, die mit Werturteilen belegt ist, fungieren kann (natürlich kann auch umgekehrt der technische Gebrauch solcher Begriffe durchaus vom Interesse an einer Verwissenschaftlichung einer solchen Weltanschauung getragen sein). Auch die Streitkultur zwischen unterschiedlichen Formen einer Berufung auf die Wissenschaften ist mithin in einem Zwischenbereich zwischen einzelwissenschaftlicher Spezialkompetenz und universalistischem Anspruch befangen. Die Rhetorik der Streitkultur bildet die Tiefendimension der theoretischen Debatte ab, in der Wissenschaften, universelle Ausweitung und allgemeinere weltanschauliche bzw. kulturelle Dimensionen konvergieren. Wie bereits bei der Aufstellung der zentralen wissenschaftlichen Leistungen des 19. Jahrhunderts zu beobachten, sind es immer wieder mehrere Bereiche naturwissenschaftlicher Theorie, denen ähnliche Leistungen zugemutet werden und die dann auch auf entsprechende Probleme führen. Der Darwinismus und seine Rezeption ordnet sich in eine breitere, unter dem Leitbegriff einer Verallgemeinerung38 von Wissenschaftlichkeit stehende Strömung ein, die zugleich durch das mit Darwin assoziierte Erlebnis einer Verwissenschaftlichung gerade der unmittelbar weltanschaulich relevanten Stellung des Menschen wesentlich geformt wird.

38

Zur Rolle der »Allgemeinheit« in den Wissenschaften vgl. M. Hagner / M. D. Laubichler (Hg.), Der Hochsitz des Wissens. Das Allgemeine als wissenschaftlicher Wert, Zürich / Berlin 2006.

III. PHILOSOPHIE UND EVOLUTION

Dirk Solies

Evolution oder Entwicklung? Kritik und Rezeption eines Darwinistischen Grundbegriffs I. Materialismus-Streit und Darwinismusdebatte »Vielleicht«, so stellt Eduard von Hartmann 1875 exemplarisch im Rückblick auf über ein Jahrzehnt philosophischer Darwin-Rezeption in Deutschland fest, »hat nichts so sehr zum raschen Aufschwung des Darwinismus beigetragen, als der Eifer, mit welchem die Theologie aller Confessionen im Bunde mit der Professorenphilosophie denselben zu bekämpfen sich beeilte.«1 Und in der Tat wurde der Darwinismus, wie ein Blick auf die zeitgenössische Literatur zeigt, von weiten Teilen der Theologie als frontaler Angriff auf zentrale Glaubenssätze wie »Schöpfung« und »Ordnung« wahrgenommen. Wenn auch gerade in der evangelischen Theologie die Reaktion zwischen Aneignung, Integration und Relativierungsstrategien changierte.2 In der philosophischen Darwinismusdebatte seit den 60er Jahren hingegen stand von Anfang an der Begriff der Entwicklung im Zentrum der Auseinandersetzung. Philosophiehistorisch ist dieser Umstand vor allem deshalb so interessant, weil diese Auseinandersetzung um die Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts der Diskreditierung der so genannten »Naturphilosophie« einerseits und der Erfolge der empirischen Lebenswissenschaften andererseits längst zu einer der drängendsten Existenzfragen der Philosophie geworden war.3 In der philosophischen Darwinismusdebatte geht es von Anfang an 1

E. von Hartmann, Wahrheit und Irrthum des Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungslehre, Berlin 1875, 1. 2 Das in der Forschung oft vertretene Urteil von der pauschal unreflektierten Gegnerschaft der beiden Kirchen gegen die Darwinsche Theorie bedarf, wie der Beitrag von J. Rohls im vorliegenden Band deutlich macht, einer kritischen Korrektur. 3 Dies gilt allerdings nur für die Philosophie selbst. Innerhalb der Lebenswissenschaften dagegen herrschte weitgehend Einigkeit darüber, daß die »Naturphilosophie« zu dem Projekt der exakten Forschung nichts beizutragen habe und weiterer Fortschritt nicht durch philosophische Spekulation, sondern einzig und allein durch Experiment

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nicht um fachspezifische Einwände gegen Darwins Theorie, sondern um die weltanschaulichen Implikationen der neuen »Entwicklungslehre« (Haeckel), die je nach gesellschaftspolitisch-weltanschaulichem Standpunkt emphatisch begrüßt oder mit gleicher Entschiedenheit abgelehnt werden. Charakteristisch für die zeitgenössische Rezeption ist deren Prägung durch Hintergrundannahmen weltanschaulicher, ideologischer, und nicht zuletzt auch religiöser Art.4 Hierzu gehören die vielfältigen gesellschaftspolitischen Implikationen der Darwinschen Lehre, für die die Intellektuellen in Deutschland nach den Erfahrungen von 1848 in besonderer Weise sensibilisiert waren. Auch wenn Darwin selbst sich in seinen veröffentlichten Werken dieser spekulativen Fortführungen seiner Theorie zeitlebens enthalten hat, so ändert dies nichts daran, daß der Darwinismus, wie zehn Jahre zuvor bereits der von Büchner, Moleschott und Vogt ausgelöste Materialismus-Streit,5 in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von atheistischen, materialistischen und sozialistischen Positionen vereinnahmt wurde.6 Die Darwinismusdebatte in Deutschland setzt den Maund Beobachtung zu erreichen sei. Bereits 1824 hatte J. Müller in seiner Antrittsvorlesung diese Richtung als »falsche« und »dogmatische Naturphilosophie« bezeichnet. Auch die geistesverwandte »transzendentale Morphologie« (Oken, Spix, Carus) hat in der Folge zu viel ›mathematischem Mystizismus‹ geführt und war daher für die weitere Entwicklung der Morphologie ohne weitere Bedeutung (T. Lenoir, The strategy of life. Teleology and mechanics in nineteenth century German biology, Chicago / London ²1989, 147). Dies bedeutet allerdings nicht, daß philosophische Ansätze für die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt bedeutungslos gewesen wären. Im Gegenteil – wie Lenoir (ebd., 124 ff.) nachweist, ist Kants Teleologiekonzept für die Ausprägung des ›teleomechanistischen‹ Forschungsprogramms von größter Bedeutung gewesen. Erst 1878 setzte im Neukantianismus wieder eine »idealistische Wende« ein, die gegen naturalistische Theorieansätze gerichtet war (K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt / M. 1986, 404–433). 4 Wittkau-Horgby (Dies., Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 149) nennt dies die materialistische Vermutungsbedeutung des Darwinismus. 5 Ablesbar wird diese Verklammerung des Darwinismus mit (oft utopischen) gesellschaftspolitischen Zielsetzungen an der Biographie des »Vulgärmaterialisten« Karl Vogt, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 als entschiedener Anti-Monarchist auftrat, sich später als Anhänger Bakunins und Anarchist gerierte. Darwinismus wurde hier, wie Rupke (N. Rupke, Zu einer Taxonomie der Darwin-Literatur nach ideologischen Gesichtspunkten, in: R. Brömer / U. Hoßfeld / N. Rupke (Hg.), Evolutionsbiologie von Darwin bis heute, Berlin 2000, 63) feststellt, als »subversive und gegen das gesellschaftliche Establishment verwendbare Waffe« eingesetzt. 6 Daum stellt allerdings neben dieser Strömung eine andere, ›divergierende Mythisierungsstrategie‹ fest, die gerade unter Berufung auf die Entwicklungslehre die Freiheit der Vernunft argumentativ zu begründen versuchte. Vgl. A. W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, München 1998, 77 f.

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terialismus-Streit der 50er Jahre in wesentlichen Punkten fort,7 und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die vorgebliche Nähe zu mechanistischen und materialistischen Positionen einer der umstrittensten Punkte der darwinschen Evolutionstheorie blieb. Einer der entschiedensten populären Verfechter der Darwinschen Lehre, Konrad Guenther, verglich den Prozeß der Entstehung und Veränderung von Arten mit der Veränderung von Kieseln in einem Bachbett. Genau so, wie diese durch die Flut im Bachbett herumgewälzt würden, die kleinen weiterrollten und die großen liegen blieben, genau so werde eine Art durch strenge Naturgesetze verändert, die damit letztlich materialistisch-mechanistischer Natur seien.8 Die Tatsache, daß solche Gleichsetzungen von Darwinismus und Materialismus offenbar allgemein akzeptiert waren, legt den Schluß nahe, daß die alten Begriffsraster vielfach noch zu grobmaschig waren, um das genuin Neue der darwinistischen Innovation zu erfassen. Das Mißverständnis besteht ja erstens darin, daß nicht das Individuum (der Stein), sondern die Art sich auf dem Wege der Mutation, der natürlichen Selektion und der Vererbung verändert (in ähnlicher Weise ist ja auch der darwinsche Begriff des »struggle for life«, der sich auf den Konkurrenzkampf der Individuen und der Arten bezieht, in etwas kurzschlüssiger Weise vielfach auf den physischen Kampf der Individuen reduziert worden). Diese Veränderung geschieht zweitens eben nicht durch mechanische äußere Einwirkung, sondern durch einen Prozeß der natürlichen Auslese, der keineswegs mechanisch einwirkt, sondern im Sinne einer prozeduralen Vorschrift zu verstehen ist.9 Die Erklärung der Entwicklung von angepaßten Lebensformen, die nach heutigem Verständnis als bottom-up-Prozeß 7

F. A. Lange schreibt in der zweiten Auflage (1873 / 75) seiner Geschichte des Materialismus: »Als die erste Auflage unsrer Geschichte des Materialismus erschien, war der Darwinismus noch neu […]. Seitdem hat sich das Interesse von Freund und Feind dermaßen auf diesen Punkt konzentriert, daß nicht nur eine weitschichtige Literatur über Darwin und den Darwinismus entstanden ist, sondern daß man auch behaupten darf, der Darwinismus-Streit ist gegenwärtig das, was damals der allgemeinere MaterialismusStreit war.« (F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), Leipzig ²1873 / 75, 685). 8 Zitiert nach Wille (B. Wille, Wie die Natur zweckmäßig bildet, in: M. Apel, Darwin. Seine Bedeutung im Ringen um Weltanschauung und Lebenswert, Berlin 1909, 36 f.), der jedoch selbst die Auffassung vertritt, Darwin sei weder Materialist noch Mechanist: »Aber Darwins Bild einer streng gesetzlichen Natur erfordert keine materialistische oder mechanistische Philosophie« (ebd., 36). 9 Seit der synthetischen Theorie weiß man, dass sich evolutionäre Prozesse mithilfe von Computerprogrammen hervorragend simulieren lassen (Artificial Life). Dennett geht sogar so weit, den Prozess der natürlichen Auslese sogar als Algorithmus zu bezeichnen, was allerdings den Begriff des Algorithmus unterdifferenziert. Vgl. D. C. Dennett, Darwins gefährliches Erbe: die Evolution und der Sinn des Lebens, übers. von S. Vogel, Hamburg 1997.

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zu bezeichnen ist, mußte dieser Denkweise von vornherein als ausgeschlossen und widersinnig erscheinen. Für eine solche Relation, die sich heute mit dem Begriff der Emergenz fassen läßt, fehlte damals noch weitgehend ein ausgearbeitetes begriffliches Konzept – trotz der bereits im angloamerikanischen und im deutschen Sprachraum geleisteten Vorarbeiten.10 Infolgedessen konzentrierte sich die anti-darwinistische Position weitgehend auf den Vorwurf eines materialistischen Reduktionismus, der auch schon im Kontext des Materialismus-Streits zur Disposition gestanden hatte.

II. Rezeptionsstrategien Die philosophischen Reaktionen auf Darwin waren zwiespältiger Art. Eine typische Rezeptionsstrategie allerdings läßt sich bei vielen Autoren, zumal bei den Philosophiehistorikern feststellen. Sie besteht darin, das typisch Neue der darwinschen Theorie dadurch zu relativieren, daß man ihm philosophische Vorgänger an die Seite stellte. Vor allem unter den Autoren, die Darwin in diesem Punkt positiv gegenüber standen, neigte man in ganz auffallender Weise zu einer Integration in bestehende philosophische Denkschemata und Systeme. Schon Kuno Fischer vertrat in seiner Geschichte der neueren Philosophie die Auffassung, die »Idee der Weltentwicklung« als Grundprinzip der Hegelschen Lehre sei eben jenes Prinzip, das durch Darwin auch in der Naturwissenschaft zum Sieg gelangt sei.11 Windelband glaubte das Prinzip des »Überlebens des Zweckmäßigen« bereits bei Empedokles feststellen zu können,12 und Cassirer stellt in seiner Studie über das Erkenntnisproblems rückblickend fest: »In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Blütezeit des Darwinismus, glaubte man Goethe kein höheres Lob zusprechen zu können, als daß man ihn zum ›Darwinianer vor Darwin‹ stempelte«.13 Eine ganz ähnliche Strategie läßt sich auch bei Nietzsche feststellen, in dessen Interpretation sich gleich mehrere typische Motive der Darwinrezeption exemplifizieren lassen (dessen Lehre wegen ihrer positivistischen Implikationen an anderer Stelle übrigens abschätzig als »Philosophie für Fleischerbur10

Stephan verweist im deutschen Sprachraum vor allem auf Lotze und Fechner, Reil, Stahl u. a. Vgl. A. Stephan, Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation, Dresden / München 1999, 73 ff. 11 K. Fischer, Geschichte der neueren Philosophie (1854), Jubiläumsausgabe, Bd. VIII: Hegels Leben, Werke und Lehre, Teilbd. I, Heidelberg 41901, 219 ff. 12 W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1892), Tübingen 61912, 44. 13 E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1957), Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von B. Recki, Hamburg 2000, 159.

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schen«14 bezeichnet wird). Bereits in seiner Fröhlichen Wissenschaft spricht Nietzsche von dem »erstaunlichen Griff Hegel’s, der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte, daß die Artbegriffe sich aus einander entwickeln: mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen Bewegung präformirt wurden, zum Darwinismus – denn ohne Hegel kein Darwin.«15 Die Tatsache, daß Darwins Bekenntnis zum Transformationismus hier als ›letzte große Entwicklung‹ der Neuzeit bezeichnet wird, akzentuiert immerhin die besondere Bedeutung, die auch Nietzsche dem Darwinismus auch in philosophischer Hinsicht durchaus zugesprochen hat. In einem späteren Fragment von 1885 spitzt Nietzsche diesen Aspekt wie folgt zu: »Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel – Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise Heraklit’s und Empedokles’ ist wieder erstanden. Auch Kant hat die contradictio in adjecto »reiner Geist« nicht überwunden: wir aber – – –«.16

Auch hier ist die Analogisierung Darwins mit Hegel ganz offensichtlich dem Bestreben geschuldet, Darwins biologisch-naturwissenschaftliche Leistung in eine philosophiehistorische Bewegung einzuordnen. Jenseits dieser – vermutlich nur wissenschaftssoziologisch zu qualifizierenden – Argumentationsweise formuliert das Zitat eine bemerkenswerte Einsicht. Und zwar auch und gerade dann, wenn sie einer streng philosophiegeschichtlichen Überprüfung nicht standhält. Hegel hat mit seinem dialektischen Entwicklungskonzept weder zu den Anregern noch zu den Quellen Darwins gezählt, und auch für eine mittelbare Rezeption Hegels durch Darwin (etwa durch sekundäre Quellen) fehlt jeder Beleg, so daß angenommen werden muß, daß eine solche Rezeptionsbeziehung nicht besteht. Hinzu kommt, daß die von Hegel und Schelling mitbegründete Tradition der spekulativen Naturphilosophie gerade in England mit noch größerem Argwohn (nämlich als ein letztlich den Fortschritt der Wissenschaften hemmender Faktor) wahrgenommen worden ist, als dies in der Entwicklung der Lebenswissenschaften in Deutschland der Fall war. Auch dies läßt Nietzsches These nicht eben plausibler erscheinen. Diese könnte jedoch unbeschadet dieser Ungereimtheiten (deren sich Nietzsche zweifellos bewußt war) in einem anderen, grundlegenderen Sinne doch erhellend sein: In Hegels Historisierung des Geistes qua dialektischem Entwicklungsbegriff sieht Nietz14

F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer bis Ende September 1875, Kritische Studienausgabe [KSA] Bd. 8, hrsg. von G. Colli / M. Montinari, München 1980, 259. 15 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA 3, 598. 16 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente April – Juni 1885, in: KSA 11, 34 [73], 442.

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sche nämlich eine geistesgeschichtliche Bewegung beginnen, die sich über Lamarck und Darwin fortsetzt und innerhalb deren sich jenes Projekt vorbereitet, das dann auch als zentrales Programm von Nietzsches eigener Philosophie angesehen werden kann: Eine Ausarbeitung einer Philosophie des Werdens, die dem dynamischen Charakter der modernen Kultur gerecht wird. Die These, daß das Paradigma »Entwicklung« tatsächlich das tertium comparationis von Darwins Transformationismus und Hegels Dialektik sei, erfordert zu ihrer kritischen Überprüfung allerdings eine präzisierende Reformulierung des Entwicklungsbegriffs. Dieser wird nämlich durch Darwins Evolutionskonzept vom klassischen Entwicklungsdenken, wie es sich vor allem noch im Bildungsroman Goethes findet, in ein Prozeßdenken umgewertet. Im literarischen Kontext (Herder, Goethe) wurde der Begriff »Entwicklung« vielfach noch in Anlehnung an die »Auswickelung« J. Böhmes gefaßt, nämlich im Sinne einer Entwicklung verborgener Potenzialitäten, als ein Ans-LichtBringen unentfalteter individueller Anlagen im Prozeß individueller Bildung. Mauthner parodiert diese Auffassung respektlos, aber durchaus zutreffend: »da mag sich aber wirklich allzu kraß die Vorstellung eingeschlichen haben, daß eine richtige Vorsehung das hineingewickelt hätte, was die Zeit nachher auswickelte. Wirklich wie ein Kind im Wunderknäuel findet, was der gütige Fabrikant hineingeheimnißt hat.«17 Von einem solchen Entwicklungsbegriff kann im Darwinismus nicht mehr die Rede sein. Entwicklung ist hier nicht mehr, wie noch im hegelschen Systemdenken, als planmäßige und daher auch sinnvolle Entfaltung verborgener Potentialitäten, als Zu-sich-Kommen eines sich entfremdeten Gesamtprozesses (des »Geistes«) mit einem diskreten End- oder Zielpunkt zu denken, sondern als evolutionäres Prozeßdenken, das in dieser Form tatsächlich erst durch Darwin initiiert worden ist. Für dieses Prozeßdenken ist charakteristisch, daß es sich der Spekulation über Anfang und Ende der Entwicklung enthält und daß auch vermeintlich substantielle Bestimmungen (die »Arten«) in eine historische Entwicklung quasi aufgelöst werden. Dem entspricht der historische Verlauf der Darwinrezeption in Deutschland eindeutig. Darwins Bekenntnis zum Transformationismus war die erste und größte Provokation, die auch sofort wahrgenommen und mit äußerster Schärfe diskutiert wurde. Der Transformationismus stand allerdings nicht erst seit Darwin, sondern bereits seit dem Eklat um das anonym erschienene Werk des schottischen Schriftstellers Robert Chambers (1802–1807), Vestiges of the Natural History of Creation, im Zielfeuer vor allem konservativer Kritiker. In Deutschland scheint die Transformationstheorie derjenige Teil der darwinschen Theorie gewesen zu sein, der sich nach anfänglicher Polemik als erstes 17

F. Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1910), Leipzig ²1923, 425.

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durchgesetzt habe, wie E. von Hartmann bereits 1875 feststellt.18 Nicht, daß der Gedanke einer Entwicklung in der Natur selbst neu oder revolutionär gewesen wäre. Anhand ästhetischer Analysen läßt sich vielmehr zeigen, daß die Verzeitlichung der Natur ein seit langem vorbereiteter Prozeß ist, der bereits im 18. Jahrhundert einsetzt.19 Daß aber die nach Gottes Willen geformten Arten das Produkt eines kontingenten (»blinden«) Prozesses seien, stellte offenbar eine immense Herausforderung dar. Die philosophische Implikation dieser Erkenntnis wurde nämlich darin gesehen, daß nicht nur die Dinge in der Natur, sondern die Verstandeskategorien, mit denen wir diese betrachten, derselben Entwicklung unterliegen. In diesem Kontext müssen auch die im 19. Jahrhundert entstandenen Versuche einer Psychologisierung des Kantischen Apriori gesehen werden. Ludwig Stein geht in diesem Punkt noch einen Schritt weiter, wenn er fordert, »der Evolutionismus« müsse »ganz und ohne Rest in den Kriticismus hineingebildet werden«: »Raum und Zeit als Anschauungsformen, die zwölf Kategorien als Denk- bezw. Verknüpfungsformen a priori nehmen sich bei Kant so aus, als seien sie ursprüngliche und nicht vielmehr erworbene Gehirntätigkeiten des sich entwickelnden Menschengeschlechtes. Hier können wir unmöglich stehen bleiben. Die gesamte Entwicklungsgeschichte in der neueren Biologie ist ein einziger lebendiger Protest gegen diese, auf Platon hinschielende Fassung des a priori. Soll Kant uns fruchtbar sein, so müssen seine Wahrheiten an denen Darwins gemessen werden.«20

Steins Forderung markiert in dieser Auseinandersetzung zweifelsohne eine Extremposition, der sich zwar nicht viele Nachahmer angeschlossen haben, die aber den Gedanken der Entwicklung in Richtung auf eine Evolutionisierung des Erkenntnisapparates radikalisiert und damit von dem im 19. Jahrhundert ebenfalls begegnenden Programm einer Psychologisierung der apriorischen Erkenntnisformen nicht allzu weit entfernt ist. Beide Programme laufen auf eine Radikalisierung des Entwicklungsbegriffes hinaus. Die philosophische Brisanz von Darwins grundsätzlicher These, der zufolge das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl als Ursache aller Veränderung anzusehen ist, besteht also darin, daß es sich bei diesem Prozeß streng genommen um 18

E. von Hartmann, Wahrheit und Irrthum des Darwinismus, a. a. O., 1. Vgl. H.-D. Weber, Die Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989 sowie D. Groh / R. Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt / M. 1991, 11–91: »Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise. Naturteleologie und Geschichtsoptimismus in der Frühen Neuzeit«. Zur Verzeitlichung ästhetischer Leitbilder vgl. D. Solies, Natur lesen. Geschichte und Gestalt ästhetischer Leitbilder, St. Augustin 1999. 20 L. Stein, An der Wende des Jahrhunderts, Versuch einer Kulturphilosophie, Freiburg 1899, 264. 19

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keine Entwicklung im Sinne eines gesteuerten Vorganges der Entfaltung verborgener Potentialitäten handelt, sondern um einen Prozeß, innerhalb dessen eine prozedurale Vorschrift (die Konkurrenzsituation des struggle for life im Zuge der natürlichen Selektion) schließlich zur Ausbildung bestimmter Formen und Arten führt. Von daher ist das zustimmende Diktum Marx’, Darwin habe der Teleologie den Todesstoß versetzt, nur allzu verständlich, denn in der Tat ist ja eine solche Positionierung des Entwicklungsprozesses mit der Vorstellung einer zielgerichteten Entwicklung natürlicher Formen inkompatibel.

III. Interne oder externe Entwicklung? Lamarck gegen Darwin Die durch Darwin inspirierte Fassung des Prozeßdenkens implizierte noch ein anderes Moment, das vor allem von den Philosophen intensiv und kontrovers diskutiert worden ist. Es betrifft die Frage, wo genau das Entwicklungszentrum zu lokalisieren sei. Es ging, genauer gesagt, um die Frage, ob die individuelle Entwicklung externen Notwendigkeiten folgte oder auf eine interne Spontanleistung des Individuums zurückzuführen sei. Einer der populärsten Rezipienten Darwins, E. Dühring, bemerkte, der »tiefere Grund der Beschaffenheit der Gebilde« sei »in den Lebensbedingungen und kosmischen Verhältnissen zu suchen, während die von Darwin betonte Naturzüchtung erst in zweiter Linie in Frage kommen kann«.21 Engels kommentiert diese Stelle in seiner polemischen Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft in gewohnt süffisanter, wenn auch wenig zielführender Weise: »Also doch Naturzüchtung, wenn auch zweiter Klasse; also mit der Naturzüchtung auch Kampf ums Dasein und damit auch priesterlich-malthusianisches Bevölkerungsgedränge! Das ist alles, im übrigen verweist uns Herr Dühring auf Lamarck.«22 Mit seiner Bezugnahme auf Lamarck stellt Dühring in der Tat ein typisches Beispiel eines am Paradigma der Teleologie geschulten Gelehrten des 19. Jahrhunderts dar, und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Antithese Darwin – Lamarck in der Darwin-Rezeption des 19. Jahrhunderts quasi allgegenwärtig ist. Der Name Lamarck wird dabei in der Darwin-Debatte der 60er bis 80er Jahre zumeist synonym gebraucht mit dem »Prinzip des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs der Organe«. Dabei wurde Lamarck vielfach so mißverstanden, als verstünde er »Entwicklung« im Sinne eines internen Gestaltungstriebes der Organismen, was inhaltlich schon deshalb unzutreffend ist, weil das Prinzip 21

E. Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, 115. 22 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), MEW, Bd. 20, Stuttgart 1894, 69–70.

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des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs bei Lamarck streng materialistisch gefaßt ist, also von einer Gestaltung aus »inneren Antrieben« gerade nicht die Rede sein kann.23 Dennoch scheint gerade dieses Mißverständnis für die Diskussion in Deutschland durchaus wesentlich zu sein, insofern hiermit nämlich eine Kontinuität mit der Diskussion um die von von Baer so genannte »Gestaltungskraft« hergestellt ist. Nicht nur von Baer, sondern auch die Vertreter eines methodischen Vitalismus waren ja um 1850 von spontanen, endogenen Gestaltungsimpulsen als dem Organisationsprinzip lebendiger Systeme ausgegangen (»Lebenskraft«). Die intensive Rezeption des »Lamarckismus« in Deutschland erklärt sich in diesem Kontext auch aus der Tatsache, daß sich durch das Prinzip des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs die Gelegenheit zu bieten schien, angesichts der exogenen Regelungsmechanismen der Darwinistischen Evolutionstheorie diese Annahme eines spontanen, endogenen Gestaltungspotentials der Organismen zu rehabilitieren. E. von Hartmann beispielsweise spricht in seiner bereits erwähnten Untersuchung von einem »von innen heraus waltenden Gestaltungstrieb«24 der Organismen. Auch dieser Impetus hält sich bis zu Nietzsches Darwin-Kritik der 80er Jahre durch.25 In einem Nachlaßfragment findet sich die Notiz: » – der Einfluß der ›äußeren Umstände‹ ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt; das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die ›äußeren Umstände‹ ausnützt, ausbeutet …«.26

Auch hier wird der Versuch deutlich, eine spontan formschaffende Kraft des Organismus (die im Begriff des Willens zur Macht bereits deutliche Anklänge an das Motiv der Selbstorganisation aufweist) als Ursache morphologischer Veränderung nachzuweisen. Aber auch diese Kritik trifft eigentlich nicht den Kern des darwinschen Theorieansatzes. Darwin selbst hatte zu der Frage nach dem Entwicklungswert des Prinzips des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs eine ambivalente Haltung eingenommen. In der letzten Ausgabe von Origin of Spe-

23

R. Mocek, Das Lamarck-Darwinsche Prinzip des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Organe und seine Rolle in der entwicklungsbiologischen Diskussion, in: S. Kirschke, Darwinismus in Vergangenheit und Gegenwart. Zum Erscheinen von Darwins Hauptwerk vor 130 Jahren, Halle (Saale), 48, Anm. 4. 24 E. von Hartmann, Wahrheit und Irrthum des Darwinismus, a. a. O., 91. 25 Wie man heute weiß, hat Nietzsche viel von seiner Kenntnis des Darwinschen Werkes über den Anatom W. Roux bezogen, der bis in die späten 80er Jahre ein prominenter Verfechter der »funktionellen Anpassung« gewesen ist, die wesentliche Parallelen zum Prinzip des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs aufweist. 26 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Ende 1886 – Frühjahr 1887, in: KSA 12, 7 [25], 304.

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cies (1872) korrigiert er vorsichtig seine bisherige Auffassung, der zufolge alle Veränderung ausschließlich auf natural selection beruhe. Die hier entstehenden Variationen, so ist in der genannten Ausgabe zu lesen, seien letztlich »in wesentlicher Weise durch die vererbten Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Teile unterstützt« (»aided in an important manner by the inherited effects of the use and disuse of parts«): »In den früheren Auflagen dieses Werkes unterschätzte ich, wie es mir jetzt wahrscheinlich scheint, die Häufigkeit und die Bedeutung der als Folgen spontaner Variabilität auftretenden Modificationen. Es ist aber unmöglich, dieser Ursache die unzähligen Structureinrichtungen zuzuschreiben, welche der Lebensweise jeder Species so gut angepasst sind. Ich kann hieran nicht mehr glauben als daran, dass die so gut angepassten Formen eines Rennpferdes oder eines Windhundes hierdurch erklärt werden können, welche den älteren Naturforschern so viel Überraschung gewährten, ehe das Princip der Zuchtwahl durch den Menschen gehörig verstanden wurde.«27

Das Zitat macht deutlich, daß Darwin, seinem Zugeständnis gegenüber dem Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Teile zum Trotz, an der natürlichen Auslese als Hauptprinzip natürlicher Evolution festhält. Immerhin zeigt sich in Darwins Umgang mit dem lamarckschen Prinzip eine undogmatische Flexibilität, die, wie so oft, seinen eigenen Rezipienten abgegangen zu sein scheint. Der Standpunkt, die natürliche Selektion sei der einzig zulässige Erklärungsgrund für die Entstehung der Arten, wurde in dieser ausschließlichen Form nämlich erst wieder von der durch A. R. Wallace und A. Weismann vertretenen neo-darwinistischen Schule vertreten, die sich erst 1889, also sieben Jahre nach Darwins Tod konstituierte.28 Auch hier also ist festzuhalten, daß die Antithese »Darwin oder Lamarck« eine Simplifikation darstellt, insofern Darwin selbst das Prinzip des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs der Organe keineswegs in einer so rigorosen Weise abgelehnt hat, wie dies später bei Wallace und Weismann der Fall gewesen ist. In der philosophischen Adaption ist der so genannte »Lamarckismus« – wohl wegen der ethischen Implikationen, die sich aus der Annahme ableiten lassen – schon immer auf größere Sympathien gestoßen, was wohl zum einen daran liegen mag, daß diese Theorie schon von vornherein als eine »philosophie zoologique« verstanden wurde, zum anderen aber daran, daß die An27

Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf um’s Dasein (1872), übers. von J. V. Carus, hrsg. von G. H. Müller, Darmstadt 91992, 237. 28 J. R. Moore, The Post-Darwinian Controversies. A study of the Protestant struggle to come to terms with Darwin in Great Britain and America 1870–1900, Cambridge u. a. 1979, 180.

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nahme, daß die aktuelle Lebensweise eines Lebewesens auf die Nachkommen vererbbar sei, gewichtige ethische Konnotationen implizierte und somit in ethischer Hinsicht »ergiebiger« war. Auch wenn das Prinzip des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs in der Folgezeit durch die paradigmatische Trennung von Soma und Keimbahn quasi offiziell verabschiedet worden ist, so scheinen doch neuere Forschungsergebnisse den Schluß nahe zu legen, daß diese Frage auch heute noch von einer endgültigen Klärung weiter entfernt ist, als die vordergründige Lamarck-Polemik dies vermuten läßt.29

IV. Pan-Utilitarismus und Geschichtsoptimismus Ein letzter Kritikpunkt betrifft die darwinsche Zweckmäßigkeitskonzeption, genauer gesagt die möglichen panutilitaristischen Konsequenzen, die sich aus dieser Lehre ableiten ließen. Mit Pan-Utilitarismus ist dabei die sich auf Darwin berufende Auffassung gemeint, daß (1) alle Veränderungen, die sich im Laufe der Evolution durchgesetzt haben, angepaßter und damit grundsätzlich nützlicher sind als die vorhergehenden.30 Aus dieser Prämisse würde sich (2) zwangsläufig die Konsequenz ergeben, daß die Summe dieser Anpassungsleistungen eines Systems über die Generationen stetig zunimmt. Etwas weniger zwangsläufig ließen sich hieraus (3) politische Restaurationstendenzen (die ständige Entwicklung des Gemeinwesens zum Besseren) sowie (4) grundlegende metaphysische oder erkenntnistheoretische Konzeptionen ableiten.31 Diese bereits im 19. Jahrhundert vielfach geäußerte Kritik beruht zunächst auf der pan-utilitaristischen Annahme, daß jede Veränderung der Gestaltungen nutzbringend sein müsse. Bei genauerem Hinsehen impliziert dies wiederum zwei Voraussetzungen: (1) jede Veränderung ist das Ergebnis einer Anpassung

29

Wieser (W. Wieser, Gentheorien und Systemtheorien. Wege und Wandlungen der Evolutionstheorie im 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Die Evolution der Evolutionstheorie. Von Darwin zur DNA, Heidelberg / Berlin / Oxford 1994, 44) kritisiert die Auffassung vom »egoistischen Gen«, plädiert für eine Auffassung vom Genom als einem modularen Netzwerk, beschreibt »sehr konkrete Möglichkeiten der gezielten Einflußnahme von Proteinen auf das Genom« (ebd., 41). 30 Damit wird im Prinzip bereits Stephen Goulds Kritik der durchdringenden Anpassung in wesentlichen Punkten vorweggenommen. 31 Eine solche Auffassung ist ja in der Tat von der so genannten Evolutionären Erkenntnistheorie der 1980er Jahre (Riedel, Wuketits u. a.) vertreten worden, die ja von einer wachsenden Erkenntnisleistung als Ergebnis immer perfekterer Anpassung an die Umgebung ausgeht.

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(Pan-Adaptionismus) und (2) jede Anpassung übertrifft die vorangegangene in Bezug auf ihren Nützlichkeitsaspekt. Diese letzte Annahme wird in dieser radikalen Form jedoch nicht von Darwin selbst, sondern wiederum erst von Wallace vertreten.32 Auch hier muß man feststellen, daß sich die Darwin-Kritik der 60er bis 80er Jahre vielfach gegen Zuschreibungen an die Adresse Darwins richtete, die jedoch nicht dem Wesensgehalt der darwinschen Theorie selbst entsprachen.33 In Deutschland allerdings war eine solche Lesart durch Haeckel vorbereitet. Entwicklung, das ist auch für Haeckel »das Zauberwort, welches alle ›Welträtsel‹ […] zur Lösung führt«: »Wie sich der graue Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelenorgans, im Laufe der Tertiärzeit aus der einfacheren Großhirnrinde unserer Primatenahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen Seelentätigkeit der letzteren bis zu den Anfängen des Zählens und Messens bei den niederen Naturvölkern fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der Mathematik der Kulturvölker.«34

Dieser haeckelschen Argumentation liegt eine Schlußfigur zugrunde, die seither immer wieder in soziobiologischen Begründungen begegnet: Aus der phylogenetischen Entwicklung des Gehirns wird die geradezu zwangsläufige Entwicklung der Kulturleistungen gefolgert – eine reduktionistische Begründungsfigur, die sich so bei Darwin nicht findet. Und so kann es auch nicht verwundern, daß die Kritik an dieser Wallace-Haeckelschen Fassung des Utilitätsprinzips im Diskurs des behandelten Zeitraums praktisch allgegenwärtig ist. Eine Summe dieser Argumente findet sich wiederum bei Nietzsche, der im § 14 seiner Götzen-Dämmerung seine Hauptargumente gegen den Darwinismus zusammenfaßt. Dieser kurze Text ist für die deutsche Darwin-Rezeption so bezeichnend, daß es sich lohnt, die hier geäußerten Argumente einmal Punkt für Punkt herauszupräparieren: »Anti-Darwin. Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint er mir einstweilen, mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der 32

J. R. Moore, The Post-Darwinian Controversies, a. a. O., 181: »In fact, Wallace’s panutilitarian deduction had as little to do with the Origin of Species as the views expressed in Darwinism had to do with ›Darwin’s earlier position‹. 33 Ein Teil dieser zeitgenössischen Mißverständnisse ist zweifellos auf Übersetzungsprobleme zurückzuführen. So legt bereits die Übersetzung durch Darwins »struggle for life“ bzw. »struggle for existence“ durch das deutsche »Kampf ums Dasein« die irreführende Annahme nahe, als sei Darwin von einem bellum omnium contra omnes ausgegangen, was in der Tat malthusianische Fehlinterpretationen begünstigt hat. 34 E. Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (1899), Leipzig 111919, 577 f.

Evolution oder Entwicklung?

219

Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht … Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln.«35

Dieser erste Punkt richtet sich gegen Darwins Ausgangspunkt, natürliche Selektion sei das Ergebnis eines Kampfes um knappe Ressourcen. Vielmehr gehe es, Nietzsches eigener Konzeption des Willens zur Macht entsprechend, um die Feststellung konkreter Machtverhältnisse, d. h. letztlich um die oben erörterten endogenen Gestaltungsimpulse. Der Hinweis, man solle nicht Malthus mit der Natur verwechseln, richtet sich gegen den auch von anderen Autoren36 kritisierten universalen Utilitarismus der darwinschen Theorie. Gleichzeitig schwingt hierin bereits die Warnung vor einer vorschnellen Übertragung populationsgenetischer Beobachtungen auf kulturelle Phänomene mit. Nietzsche fährt fort: »Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger […]. Darwin hat den Geist vergessen ( – das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist … Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– »lass fahren dahin! denkt man heute in Deutschland – das Reich muss uns doch bleiben« …)«.37

Der zweite Punkt betrifft also den Transfer adaptionistischer Prozesse auf den Bereich des »Geistes«, allgemeiner gesagt der Kultur überhaupt und die damit zusammenhängende pragmatische Kulturkonzeption. Ein solcher Transfer gelange deshalb zu fehlerhaften Konklusionen, weil sich der Akt »Kulturschöpfung« grundsätzlich nicht als Anpassungsvorgang beschreiben lasse. Dieser Punkt wird von Nietzsche offenbar bereits um 1885 als ernsthafte Bedrohung vorausgeahnt. Die in Klammern nachgeschobene Bemerkung schließlich verweist darüber hinaus auf die Opposition gegen ein auch in den 80er Jahren noch präsentes, wenn auch nach den politischen Ereignissen von 1848 zutiefst diskreditiertes gesellschaftliches Phänomen: gemeint ist der von herrschender Seite vielfach instrumentalisierte populäre Geschichtsoptimismus Hegelscher Prägung,38 der durch einen konsequenten Adaptionismus eine unerwartete Rehabilitation erfahre. 35

F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: KSA 6, 120. E. von Hartmann (Ders., Wahrheit und Irrthum des Darwinismus, a. a. O., 92) zieht eine Parallele zu John Stuart Mills praktischer Philosophie. 37 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: KSA 6, 120. 38 Das Hegelsche Geschichtskonzept stellt deshalb für Nietzsche das theoretische Fundament eines rücksichtslosen und kritikwürdigen Vernunftabsolutismus dar, weil 36

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Der Aphorismus endet mit einem Hinweis auf Nietzsches eigene Geistkonzeption: »Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend).«39

Interessanterweise macht sich Nietzsche hier, allen genannten Vorbehalten zum Trotz, eine Auffassung von »Geist« zu eigen, die in einem weiten Sinn als evolutionistisch zu bezeichnen ist. Insofern zeugt gerade Nietzsches Anti-Darwin davon, daß eine evolutionär inspirierte Sichtweise allen Vorbehalten zum Trotz in den 80er Jahren längst zum festen Bestandteil des philosophischen Weltbildes geworden war. Es lohnt sich aber auch, abschließend einmal die »Gegenprobe« zu machen, sich nämlich einmal zu vergegenwärtigen, welche Konsequenzen, so naheliegend sie aus heutiger Sicht auch erscheinen mögen, aus Darwins Theorie im 19. Jahrhundert noch nicht gezogen wurden. Ernst zu nehmende Ansätze zu einer evolutionären Kulturtheorie finden sich hier nämlich noch nicht. Die Integrität des Bereichs »Kultur« bleibt im 19. Jahrhundert, trotz aller utilitaristischen Inanspruchnahmen, vom darwinistischen Zugriff noch weitgehend unangetastet. Und dies, obwohl gerade in den letzten zwei Dekaden dieses Jahrhunderts besonders in Neukantianismus und Lebensphilosophie eine intensive Auseinandersetzung um den Kulturbegriff geführt wird und obwohl die möglichen sozialdarwinistischen Implikationen durchaus gesehen und in der Mehrzahl kritisch bewertet werden. Bis Ende des 19. Jahrhunderts findet sich jedoch kaum eine ernst zu nehmende Äußerung, die davon ausgeht, daß auch die Entstehung und Veränderung kultureller Objekte sich nach dem Muster darwinistischer Entwicklung, nach Selektion und Mutation vollziehe. Zwar finden sich in Nietzsches Nachlaß sehr vereinzelte Stellen, die sich als fragmentarisch gebliebene Vorstufen zu einer evolutionären Kulturtheorie deuten ließen.40 Auch Präformen zu einer evolutionären Theorie der Erkenntnis, wie sie erst wieder in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert worden ist, lassen sich in den Schriften Nietzsches41 und Georg Simdie Hegelsche Geschichtslogik letztlich auf dem »Glauben an die größere Vernunft auf Seiten des Siegreichen« beruhe. Vgl. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887, in: KSA 12, 9 [178], 442. 39 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: KSA 6, 120. 40 Eine vereinzelte Notiz findet sich in Nietzsches frühen nachgelassenen Schriften: »Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus Recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren.« (F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Sommer 1872 – Ende 1874, in: KSA 7, 448. 41 Insbesondere in Nietzsches früher Schrift Über Wahrheit und Lüge im aussermo-

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mels42 nachweisen. Aber die Auffassung, daß kulturell wirksame Ideen (von Dawkins und Dennett so genannte »Meme«) sich nach demselben Muster und prinzipiell nach denselben Gesetzen fortpflanzen und verändern wie natürliche Organismen, ist eine relativ neue Spielart des Darwinismus, die in Dawkins’ (1978) Rede vom »egoistischen Gen« vielleicht nicht ihre erste, sicher aber ihre griffigste Formulierung gefunden hat. Dies liegt in erster Linie daran, daß der hier vollzogene Transfer von natürlichen Lebewesen auf kulturelle Ideen (Meme) von der Auffassung ausgeht, daß es in erster Linie die in den Genen repräsentierte Information sei, die sich auf dem Wege geschlechtlicher Fortpflanzung vererbe und sich hierzu der erforderlichen Mittel bediene. Eine solche Genzentriertheit ist jedoch erst durch die auf dem Genbegriff basierende synthetische Theorie induziert worden. Diese Auffassung liegt der Darwin-Debatte des 19. Jahrhunderts noch fern.

* Der Blick auf die Rezeption der darwinschen Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert öffnet den Blick für zahlreiche, z. T. produktive, Fehldeutungen und Mißverständnisse des Werkes Darwins. Der kontroverse Darwin-Diskurs zeugt jedoch gerade in diesen Mißverständnissen von den historischen Gegebenheiten, unter denen er stattfand. Daß einige der bereits im 19. Jahrhundert geäußerten Kritikpunkte bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben, unterstreicht die über eine bloß philosophiehistorische Bedeutung hinausgehende, inhaltliche Relevanz des Darwin-Streits im 19. Jahrhundert.

ralischen Sinne: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden.« (F. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KSA 1, 874.) Hiermit wird bereits Nietzsches späterer Geistbegriff vorbereitet: »Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubthier-Gebiss zu führen versagt ist.« (Ebd., 876). 42 G. Simmel, Über eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie (1895), in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 5. Zur Kritik evolutionärer Erklärungsansätze bei Simmel vgl. D. Solies, Natur in der Distanz. Zur Bedeutung von Georg Simmels Kulturphilosophie für die Landschaftsästhetik, St. Augustin 1997, 99 ff.

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Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur »Car pourquoy ne dira un oison ainsi: Toutes les pieces de l’univers me regardent; la terre me sert à marcher, le Soleil à m’esclairer, les estoilles à m’inspirer leurs influances…je suis le mignon de nature; est-ce pas l’homme qui me traite, qui me loge, qui me sert?« Michel de Montaigne, Essais, II, 12.

I. Zur Problemstellung In seinem bekannten Aufsatz Teleological and teleonomic. A new analysis (1974)1 gibt Ernst Mayr einen kurzen Überblick über die kontroverse Debatte. Zum Beweis der mit dem Thema verbundenen bemerkenswerten interpretatorischen Unsicherheiten erinnert der Autor an einige Schlußfolgerungen, die zumindest unvereinbar sind, wenn sie nicht gar im offenen Gegensatz zueinander stehen. Denjenigen beispielsweise, die behaupten, daß »the evolutionary theory did away with teleology, and that is that«2, stehe die Auffassung derer entgegen, die vertreten, daß »what is most challenging about Darwin, is his reintroduction of purpose into the natural world«3. Diese beiden Positionen bilden die Extrempunkte, welche die Diskussion schon unmittelbar nach dem Erscheinen von On the Origin of Species (1859) charakterisierten. Die Veröffentlichung dieser Arbeit rief in der breiten Öffentlichkeit eine Fülle von Reaktionen hervor, die von der einen Seite zur anderen pendelten. Während nach dem berühmten Urteil von Karl Marx Darwin der Teleologie den »Gnadenstoß« versetzte, war sein eigener Sohn, Francis Darwin, davon überzeugt, eines der größten Verdienste seines Vaters für die Naturforschung bestehe gerade darin, die Teleologie wiederbelebt zu haben. Es scheint, daß diese Konfrontation sich bis heute hält. In einer 2005 erschienenen Anthologie zur Philosophie der Biologie liest man: »Die Evolutionstheorie gilt daher heute, v. a. unter Biologen, als die Theorie, die der Teleologie im Bereich des Lebendigen ein solides Fundament geliefert hat […]«.4 Anderen zufolge

1

E. Mayr, Teleological and teleonomic. A new analysis, in: Ders., Evolution and the diversity of life, Cambridge / London 1976, 383–404. 2 Ebd., 384. 3 Ebd. 4 U. Krohs / G. Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt /M. 2005, 158.

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benötigt die vom Darwinismus gelieferte Naturerklärung gerade keine Zweckkausalität.5 Es ist aber schon zu Beginn darauf hinzuweisen, daß die beiden erwähnten Positionen sich offensichtlich auf verschiedene Dinge beziehen. Man könnte nämlich, zunächst noch grob vereinfachend, behaupten, daß diejenigen, die sich mit Darwin von jeglicher teleologischen Betrachtung der Natur verabschieden, unter »Teleologie« ein Konzept von Zweckmäßigkeit verstehen, das gebunden ist an einen ›Plan‹ oder ›Entwurf‹ eines der Natur äußeren Geistes. Wer hingegen in Darwins Werk eine Legitimation der teleologischen Betrachtung sieht, hat (meist) eine Zweckmäßigkeit von anderer Art vor Augen, nämlich eine, für die in den fünfziger Jahren gewissermaßen ex novo eine neue Terminologie geprägt wurde, die inzwischen geradezu klassisch geworden ist: Teleonomie. Einmal von den vielfältigen Nuancen abgesehen, die mit dem Ausdruck »Teleonomie« verknüpft sind, wird er verwendet, um die Präsenz einer Zielgerichtetheit anzuzeigen, ohne daß ein solches Ziel zuvor ›gesetzt‹ sein müßte.6 Demzufolge scheint der Widerspruch zwischen den beiden Positionen in dem Augenblick zu verschwinden, da man präzisiert, welche Bedeutung von »Teleologie« jeweils gemeint ist. Doch gerade an dieser Stelle entspringen die Probleme. Während sich beide Parteien in der Tat schnell darüber verständigen könnten, daß Darwin unwiderruflich mit der Designer-Zweckmäßigkeit, d. h. mit Zwecksetzung gebrochen hat, wird es doch erheblich schwieriger, den Sinn einer Teleologie zu bestimmen, die aus diesem Paradigma heraustritt, und die Frage zu klären, ob eine solche Zweckmäßigkeit mit der Evolutionstheorie vereinbar ist oder nicht. Der Terminus »Teleonomie« jedenfalls beinhaltet diverse Schwierigkeiten, die ebenso schon dem Ausdruck »Teleologie« anhafteten, der doch gerade zwecks Klärung ersetzt wurde.7 Mit der vorliegenden Arbeit soll ein kleiner Beitrag zur Klärung des Begriffs von Teleologie dieser anderen Art geleistet werden; einer Teleologie also, die über das antike ›Design-Argument‹ hinausgeht, oder, etwas allgemeiner for-

5

Vgl. beispielhaft T. Pievani, Santi, navigatori, poeti: e oscurantisti, in: Micromega, 4 (2005), 158. 6 Zu den verschiedensten Nuancen des Ausdrucks »Teleonomie« vgl., zusätzlich zum bereits zitierten Aufsatz, vom selben Autor: E. Mayr, The multiple meanings of teleological, in: History and Philosophy of the Life Sciences, 20 (1998), 35–40. 7 Die Idee, eine andere Terminologie einzuführen, welche die anthropomorphischen Implikationen des Zweckbegriffs vermeiden könnte, ist natürlich nicht gerade neu. Es genügt, als ein Beispiel den Vorschlag Karl Ernst von Baers zu erwähnen, den Begriff der Zweckmäßigkeit durch den der Zielstrebigkeit zu ersetzen; ein Begriff, der die Affinität zur aristotelischen Entelechie unterstriche. Vgl. K. E. von Baer, Über den Zweck in den Vorgängen der Natur (1876), in: K. Boegner (Hg.), Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur, Stuttgart 1983, 25.

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muliert, von der Idee einer in der Natur wirkenden übernatürlichen Ursache, die intentionale und bewußte Ziele setzt, befreit ist. Wie könnte eine Definition dieser Art Teleologie aussehen? Ist sie kompatibel mit der Darwinschen Evolutionstheorie, oder eliminiert diese jede denkbare Art von teleologischer Naturbetrachtung? Mit anderen Worten: Angenommen, man könne in Darwins Theorie eine Zweckmäßigkeit der Natur jenseits jener anthropomorphen und anthropozentrischen, auf intentionalen und bewußten Zielen basierenden finden, brächte dies nicht eine Entleerung des Sinns von Teleologie mit sich, wie es eben der Ausdruck ›Teleonomie‹ schon zu zeigen scheint?8 Führte es nicht zu einer Trivialisierung der Teleologie, wenn man organische Zweckmäßigkeit auf reine Naturgesetzlichkeit stützte und somit Finalität auf einen reinen Mechanismus, auf das ›Spiel‹ von Mutation und Selektion, reduzierte?9 Sicherlich nicht in der Hoffnung, diese hochkomplexen Probleme zu lösen oder die daraus entsprungenen unbegrenzten Diskussionen, aber doch in der Absicht, einen Denkweg aufzuzeigen, der, wäre er bis zu Ende beschritten worden, sich hätte als sehr fruchtbar erweisen können, wollen wir auf diesen Seiten versuchen, ausgehend von Überlegungen Darwins selbst, erste Aufklärung zu leisten. Anschließend werden wir die Auffassung einiger Zeitgenossen Darwins untersuchen, die, obwohl sie ebenfalls ein mechanistisches Naturkonzept teilten, dennoch glaubten, aus Darwins Theorie einen legitimen und authentischen Sinn von Teleologie ziehen zu können. Dies ist beispielsweise der Fall bei Thomas Huxley und besonders bei einem heute wenig bekannten, aber dennoch wichtigen Autor: Friedrich Albert Lange. Schließlich sei versucht, eine Bedeutung von Teleologie herauszuarbeiten, die nicht nur unstrittig ist, sondern auch vom Evolutionismus selber in gewisser Weise gerechtfertigt wird: innere Zweckmäßigkeit. Um aber zu verstehen, in welchem Sinne diese möglich ist, müssen wir zurückschauen auf das, was sich schon vor Darwin ereignete.

II. Teleologie und Naturgesetzlichkeit bei Darwin Es besteht kein Zweifel, daß Darwin sich in gewisser Hinsicht an die Spitze eines Befreiungsprozesses von teleologischer Naturbetrachtung setzt, der schon mit Beginn der (neuzeitlichen) wissenschaftlichen Revolution einsetzte. Die

8

Gemäß der Deutung von Reinhard Löw und Robert Spaemann wird mit »Teleonomie« eine effektive Zweckmäßigkeit in einer vollständig a-teleologischen Welt indiziert. Vgl. R. Löw / R. Spaemann, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981, 218. 9 Nach Mayr sind »teleonomic explanations […] strictly causal and mechanistic«. (E. Mayr, Teleological and teleonomic, a. a. O., 403).

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Epoche nach dem Erscheinen von On the Origin of Species, charakterisiert durch eine gründliche Neubestimmung der Stellung des Menschen in der Natur, steht in enger Kontinuität mit dem zu Beginn des 16. Jahrhunderts eröffneten Weltbild. In diesem Sinne stellt Darwins Evolutionstheorie die Vollendung einer schon seit langem andauernden Bewegung dar: »Daß der Zweck als eine selbständige Potenz, als eine eigene Naturkraft, die neben oder über den physikalisch-chemischen Kräften steht, ein ›Fremdling in der Naturwissenschaft‹ [Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 390] sei, war schon seit der Kritik der Urteilskraft mehr und mehr anerkannt worden.«10

Zum Verständnis der Überlegungen Darwins müssen zwei Ebenen unterschieden werden: einerseits diejenige der expliziten und auch persönlichen Äußerungen Darwins zu Fragen der Teleologie, des Zufalls und zu theologischen und religiösen Themen im allgemeinen, und andererseits diejenige der Implikationen, die sich aus seiner Evolutionstheorie ergeben, insbesondere aus der Rolle, welche die Begriffe der »zufälligen Mutationen« und der »natürlichen Selektion« darin spielen. Hier wollen wir uns auf die erste Ebene beschränken, in dem Wissen freilich, daß beide doch innig miteinander verknüpft sind, wenn man sieht, daß der fortschreitende Vertrauensverlust in die ewigen göttlichen Gesetze, der Darwins Denkweg kennzeichnet, mit seiner Entdeckung der natürlichen Selektion einhergeht. Darwins theologische und philosophische Reflexionen drücken paradigmatisch die Zweifel und Skepsis eines Wissenschaftlers der viktorianischen Zeit aus. Seine persönliche Biographie weist einen fortschreitenden Verlust an Gewißheiten aus, einen stufenweisen Übergang von einer deistischen Position lato sensu zu einer, die er selbst in Verwendung eines in eben jenen Jahren von Huxley geprägten Ausdrucks als »agnostisch« definiert. In seiner Autobiographie bekennt Darwin, daß er zu der Zeit, als er sich auf seine Reisen mit der Beagle begab, noch gänzlich der Orthodoxie verfallen war und daß die Bibel für ihn gar eine unhinterfragte Autorität gewesen ist. An die Existenz Gottes und der Seele glaubend, habe er das großartige Gefühl erfahren, welches an das »Erhabene« Kants erinnere: »It is not possible to give an adequate idea to the higher feeelings of wonder, admiration, and devotion wich fill and elevate the mind.«11 Es ist daran erinnert worden, daß Darwin, noch als er von seinen Reisen zurückkehrte, die Auffassungen der Naturtheologen teilte.12 Von dieser

10

E. Cassirer, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von B. Recki, Hamburg 2000, 191. Ch. Darwin, Autobiographies, London 2002, 52. 12 Vor 1838, dem Jahr der Entdeckung der natürlichen Selektion, galt: »Darwin’s interpretation of evolutionary change depended on God’s planing and was thus clearly a finalistic interpretation.« (E. Mayr, The concept of Finality in Darwin and after Dar11

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Position der Nähe zur Naturtheologie entfernte er sich zunehmend, und zwar Schritt für Schritt mit der Entdeckung von Naturphänomenen, welche die Vorstellung einer prinzipiell geglückten Anpassung erschütterten, sowie mit der Entwicklung der Theorie der natürlichen Selektion, so daß die letzten Jahre seines Lebens von einem wachsenden Agnostizismus gekennzeichnet waren: »Nothing is more remarkable«, bemerkt er ebenfalls in seiner Autobiographie, »than the spread of scepticism or rationalism during the latter half of my life«.13 Dies aber ist eine Einstellung, die nicht nur ausschließlich den Glauben der Offenbarungsreligion betrifft, sondern auch die Idee eines göttlichen Entwurfs der Natur, die durchaus nicht mit dem der natürlichen Selektion zugrunde liegenden Begriff des Zufalls vereinbar ist, wie man aus einer oft zitierten Stelle ersehen kann: »The old argument of design in nature, as given by Paley, which formerly seemed to me so conclusive, fails, now that the law of natural selection has been discovered. We can not longer argue that, for instance, the beautiful hinge of a bivalve shell must have been made by an intelligent being, like a hinge of a door by man. There seems to be no more design in the variability of organic beings and in the action of natural selection, than in the course which the wind blows. Everything in nature is the result of fixed laws.«14

Die natürliche Selektion, so Darwin, liefere den unzweideutigen Beweis, daß ein Design im Sinne eines von einem (göttlichen) Geiste gesetzten Zweckes in der Natur inzwischen als ein Ding der Unmöglichkeit angesehen werden muß. Eine der Konsequenzen des neuen Naturbildes scheint im Gegenteil gerade die zu sein, daß »alles, was in der Natur existiert, das Resultat unwandelbarer Gesetze ist«. Das Konzept des Naturgesetzes nimmt nun die zentrale Rolle ein. Zu sagen, daß alles, was existiert, ein Resultat von Gesetzen sei, ist offenbar der Behauptung äquivalent, daß auf der Basis der natürlichen Selektion die mechanistische Erklärung von Anpassung und Evolutionsprozeß die einzig mögliche

win, in: Scientia, 118 (1983), 102.) Die fortschreitende Emanzipation Darwins von der Naturtheologie ist bestens beschrieben von Dov Ospovat in: D. Ospovat, The Development of Darwin’s Theory: Natural History, Natural Theology, and Natural Selection, 1838–1859, Cambridge 1981. 13 Ch. Darwin, Autobiographies, a. a. O., 55. Man bemerkt die veränderte Haltung auch vor dem Hintergrund des vorhergehenden Naturbildes, genauestens im Tagebuch notiert: »The state of mind which grand scenes formerly excited in me and which was intimately connected with a belief in God, did not essentially differ from that which is often called the sense of sublimity.« (Ebd.) Ferner: »I will remember my conviction that there is more in man than the mere breath of his body. But now the grandest scenes would not cause any such convictions and feelings to rise in the mind.« (Ebd., 52–53). 14 Ch. Darwin, Autobiographies, a. a. O., 50.

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ist. Die Idee des göttlichen Entwurfs wird von einem Naturbild ersetzt, das anscheinend die vollständige Eliminierung jeglicher Zweckkausalität mit sich bringt, wodurch eine Entwicklung sich zu vollenden scheint, die mit der wissenschaftlichen Revolution zu Beginn des 16. Jahrhunderts einsetzte. Die Situation ist dennoch komplexer. Nicht nur müßte man sich fragen, ob ausschließlich eine Alternative zwischen Mechanismus und Zwecksetzung besteht, ob es also nur den Weg des strikten Mechanismus auf der einen Seite und den der Zweckmäßigkeit auf Basis einer vorausgehenden (göttlichen) Zwecksetzung auf der anderen gibt, sondern auch, ob der Begriff des »unwandelbaren (und strikten, d. h. ausnahmslosen) Gesetzes« tatsächlich synonym ist mit dem des Mechanismus, oder ob nicht, in irgendeiner Weise, eine subtile Verbindung zwischen Gesetzlichkeit und (naturaler) Zweckmäßigkeit bestehen könnte. Die Schwierigkeit, die entspringt, ist mit anderen Worten diejenige, die Möglichkeit eines ›dritten Weges‹ zu erkunden, auf dem die Natur ohne die metaphysische Annahme eines Designers als etwas ausgewiesen werden kann, das ›mehr‹ ist als das bloße Resultat einiger Naturgesetze, wodurch dann insbesondere der Eigentümlichkeit des Lebendigen Rechnung getragen werden könnte. Es ist dies ein Weg, der von Darwin selbst mitunter erahnt, aber eben nicht diskursiv gemacht wurde, bekannte er doch diesbezüglich stets große Verwirrung und Unschlüssigkeit. Diese Verwirrung bekräftigt Darwin in einem berühmten Brief von 1881 an William Graham (1839–1911), den Autor von The Creed of Science (1881). Darwin bekennt dort sein großes Interesse, das dieses Werk in ihm hervorgerufen hat, auch wenn ihm sehr daran gelegen war, gerade die Punkte herauszustellen, die er nicht teilen konnte: »The chief one«, betont er, »is that the existence of socalled natural laws implies purpose. I cannot see this.«15 Unmittelbar danach aber und anscheinend im Widerspruch zu dem soeben Geäußerten erklärt sich Darwin in bezug auf einen grundlegenden Punkt voll und ganz einverstanden, nämlich damit, daß das Universum kein Produkt des Zufalls sei: »Nevertheless you have expressed my inward conviction though far more vividly and clearly than I could have done, that the Universe is not the result of chance.«16 Auf der einen Seite steht somit die Ablehnung von Zweckmäßigkeit in der Natur und auf der anderen die Schwierigkeit, sich mit der Idee zu arrangieren, daß alles nur dem Zufall entsprungen sei, einem Zufall verstanden als die Abwesenheit von Gesetzlichkeit, d. h. gewissermaßen als bloße Willkür. Am Ende schließlich bekennt Darwin: »But I have had no practice in abstract reasoning, and I may be all astray.«17 Aufschlußreich ist aber, wie hier eindringlich betont werden 15 16 17

F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, Bd. 1, New York 1905, 285. Ebd. Ebd.

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soll, daß Darwins Unsicherheit keineswegs ausschließlich dem Zweckgedanken gilt, sondern vielmehr auch den Naturgesetzen selber, bezieht sich das »sogenannte« (»so-called«) doch auf eben diese. Dieselbe Problematik beschäftigte Darwin in ungefähr denselben Termini schon zwanzig Jahre zuvor. In einem berühmten Brief (an Asa Gray, 1860) versuchte er auch einen Lösungsversuch zu skizzieren: »With respect to the theological view of the question; this is always painful to me. – I am bewildered. – I had no intention to write atheistically. But I own that I cannot see, as plainly as others do, […] evidence of design & beneficence on all sides of us. There seems to me too much misery in the world. I cannot persuade myself that a beneficent & omnipotent Good would have designedly created the Ichneumonidae with the express intention of their feeding within the living bodies of caterpillars, or that a cat should play with mice. Not believing this, I see not necessity in the belief that the eye was expressly designed. On the other hand I cannot anyhow be contented to view this wonderful universe & especially the nature of man, & to conclude that everything is the result of brute force. I am inclined to look at everything as resulting from designed laws, with the details, whether good or bad, left to the working out what we may call chance. Not that this notion at all satisfies me.«18

In der Idee der »geplanten Gesetze« (»designed laws«) – eines Ausdrucks, dessen Mehrdeutigkeit kaum betont zu werden braucht, ruft doch das Adjektiv »designed« schon den Designer auf – scheint der Versuch Darwins zu stekken, einen möglichen ›dritten Weg‹ zwischen Plan und ›blinder Kraft‹ (dem Synonym zum »Zufall« im zitierten Brief an Graham) zu finden. Darüber hinaus muß angemerkt werden, daß an dieser Stelle ein weiteres ›sogenanntes‹ auftaucht (er schreibt: »we may call«), das sich dieses Mal sinnigerweise nicht auf die Gesetze bezieht, wie im eben erwähnten Brief von 1881, sondern vielmehr auf den Zufall. Der sogenannte Zufall steht in diesem Kontext aber nicht einfach für die Abwesenheit von Gesetzlichkeit: Mit »Zufall« wird vielmehr ausschließlich eingeräumt, daß wir die Ursachen nicht kennen, daß wir das Ergebnis nicht vorherbestimmen können. Er indiziert also (bloß) Grenzen der Erkenntnis. Aus dieser Perspektive sind »Gesetzlichkeit« und »Zufall« durchaus keine gegensätzlichen Konzepte.19 Wenn man also, so läßt sich ausgehend von den zitierten Passagen der Stand der Dinge fassen, unter »Zweckmäßigkeit der Natur« nur eine solche versteht, die das Resultat einer vorausgehenden übernatürlichen Intention ist, erweist sich Darwin als ein Gegner der teleologischen Naturbetrachtung. Im selben 18

Darwin an A. Gray, den 22. Mai 1860, in: Ch. Darwin, The correspondence of Charles Darwin, Bd. 8 (1860), hrsg. von F. Burkhardt, Cambridge 1993, 224. 19 Es ist vielleicht eben diese Perspektive, in der die Zustimmung Darwins zu der Auffassung zu lesen ist, daß das Universum kein Produkt des Zufalls sei.

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Zuge jedoch sieht Darwin keine zufriedenstellende Lösung in der Auffassung der uns umgebenden Welt als Produkt des blinden Zufalls bzw. der reinen Zufälligkeit. Die Suche nach einer anderen Lösung, nach einem »Mittelweg«, bleibt dennoch von Ambiguität gezeichnet. Begriffe wie »designed laws« irritieren, lassen sie doch an einen Designer denken, der die Gesetze entwirft, und nichts ist weiter von der Theorie der natürlichen Selektion entfernt und weniger vereinbar mit ihr als die Idee des übernatürlichen planenden Geistes. Um den Sinn der hier in aller Kürze dargestellten Überlegungen Darwins zusammenzufassen, sei eine geglückte Formulierung Étienne Gilsons zitiert: »Darwin […] voulait au contraire une nature où tout se passerait comme s’il y avait eu choix, bien que personne ni rien ne fût là pour choisir.«20 [Darwin wollte eine Natur, in der alles wie infolge freier Wahl geschieht, obgleich es nichts und niemanden gibt, der wählt.] Die Konstanten in seinen Reflexionen bleiben in jedem Fall der Zweifel und die Unsicherheit: »My theology is a simple muddle; I cannot look at the universe as the result of blind chance, yet I can see no evidence of beneficent design, or indeed of design of any kind, in the details.«21

20

É. Gilson, D’Aristote a Darwin et retour. Essai sur quelques constantes de la biophilosophie, Paris 1971, 138. 21 Darwin an Joseph Dalton Hooker, den 12. Juli 1870, in: F. Darwin / A. C. Seward (Hg.), More letters of Charles Darwin, London 1903, I, 321. Die Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten, welche die philosophischen Äußerungen Darwins kennzeichnen, werden keinesfalls geringer, wenn es um Formulierungen geht, die er zur Bestimmung der Rolle und Funktion der natürlichen Selektion verwendet. Es genügt an die berühmte Passage zu erinnern, wo er dieselbe in On the Origin of Species darstellt (Ch. Darwin, On the Origin of Species, London 1859, 83–84), welche einige Interpreten gar dazu veranlaßten festzustellen, daß »Darwin never referred to or conceived natural selection as operating in mechanical fashion, and the nature to which selection gave rise was perceived in its parts and in the whole as a teleologically self-organizing structure.« (R. J. Richards, The Romantic Conception of life. Science and Philosophy in the Age of Goethe, Chicago / London, 2002, 534.) Richards ist von dem wesentlich nicht-mechanistischen Charakter der Darwinschen Theorie überzeugt. (Vgl. ebd.) Man vgl. jedoch das gegenteilige Urteil von E. Mayr (der damit eine These Ospovats aufgreift), daß On the Origin of Species frei von jeglicher teleologisierenden Sprache sei, E. Mayr, The concept of Finality, a. a. O., 103.

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III. Huxleys »wider teleology« und Langes »Axiom von der Begreiflichkeit der Welt« Unzweifelhaft besteht das Herzstück von Darwins Unternehmen gerade darin, daß der Evolutionismus dem ganzen Natursystem Rechnung tragen kann, ohne sich auf einen Schöpfungsplan zu beziehen. Und es ist gleichfalls wahr, daß zufällige Mutationen und Selektion der Überlebensfähigsten zwei nichtbewußte Mechanismen darstellen; keine der Mutationen, die in der Natur geschehen, ist mit irgendeiner Art intentionalen Handelns verknüpft.22 Doch dies bedeutet, für sich betrachtet, noch nicht, daß man nicht in eben derselben Darwinschen Theorie ein Modell für eine andere Form von Zweckmäßigkeit erblicken kann, die vom Paradigma der bewußten Intentionalität befreit ist, und welche gar in gewisser Weise grundlegender ist als jene. Wie aber wäre eine derartige Zweckmäßigkeit zu definieren? Worin bestünde ihr Status, und wie könnte man sie rechtfertigen? Die zu Beginn aufgeworfenen Fragen kehren also wieder: Fragestellungen, die zu großen Teilen die philosophischen Diskussionen der heutigen Biologie bestimmen, zumindest, seit der Zweckbegriff kein ungebührlicher mehr ist, der aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden müßte. Die Antworten freilich sind sehr verschieden. Auch einige Zeitgenossen Darwins haben sich dieser Problematik gestellt, wenn sie auch jede Art von Vitalismus aus der Naturforschung kategorisch ausschlossen und sich vielmehr zu einem erklärtermaßen mechanistischen Naturbild bekannten. Ihre Anstrengungen richteten sich jenseits aller Versuche, den Evolutionismus mit der Vorstellung vom göttlichen Weltentwurf zu versöhnen, auf die Identifikation einer »legitimen« und »authentischen« Teleologie, welche durch Darwins Evolutionstheorie nicht nur nicht in Zweifel gezogen, sondern gar durch sie auf ein solideres Fundament gestellt wird. Es fragt sich aber, ob mit diesem Versuch der Begriff der Zweckmäßigkeit nicht entleert wird, da hier Teleologie mit der Naturordnung identifiziert und damit letztlich auf den Mechanismus reduziert wird. Zu diesen im Verlaufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gerade seltenen ›Mechanisten‹, die geneigt waren, dem Zweckgedanken zuzustimmen, zählt vor allem Darwins bulldog, Thomas Huxley: »But perhaps the most remarkable service to the Philosophy of Biology rendered by Mr. Darwin is the reconciliation of Teleology and Morphology, and the explanation of the facts of both, which his views offer. The teleology which supposes that the eye, such as we see it in man, or one of the higher vertebrata, was made with the precise

22

2002.

Vgl. hierzu Ch. De Duve, Life Evolving. Molecules, Mind, and Meaning, Oxford

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231

structure it exhibits, for the purpose of enabling the animal which posses it to see, has undoubtedly received its death-blow. Nevertheless, it is necessary to remember that there is a wider teleology which is not touched by the doctrine of Evolution, but is actually based upon the fundamental proposition of Evolution.«23

Wenn auch jenes teleologische Modell unwiderruflich überwunden ist, das bezüglich jeder morphologischen Struktur glaubt, in der aktualen Funktion den Existenzgrund und die ursprüngliche Bestimmung zu finden (sinnbildlich repräsentiert im Verhältnis zwischen Auge und Sehakt), so lädt uns Huxley doch ein, in Darwins Theorie eine ›Teleologie im weiteren Sinne‹ (»wider teleology«) aufzuspüren, die zu ihr nicht im Gegensatz steht.24 Was aber intendiert er genau mit einem »weiteren Sinn« von Teleologie? Und worin besteht die ›entscheidende Aussage der Evolutionstheorie‹? Man könnte denken, daß Huxley hierbei eben jene Darwinschen Formulierungen im Sinn hat, die mit Fachausdrücken wie »Nutzen«, »Tauglichkeit«, »Anpassung« oder »Funktion« gespickt sind, mit denen zweifelsohne die teleologische Dimension angesprochen ist. Es war im übrigen gerade dies einer der Einwände, die gegen Darwin vorgebracht wurden: Ihm wurde vorgeworfen, einen vielleicht noch primitiveren Finalismus als den der Naturtheologen in die Naturforschung einzuführen, demgemäß jeder Organismus ›einem Nutzen‹ unterworfen ist und anscheinend um ›der Anpassung‹ willen existiert. Daß Huxleys Gedanken nicht etwa in diese Richtung gehen, zeigt sich im unmittelbar folgenden desselben Abschnitts: »This proposition [die Fundamentalaussage der Evolutionstheorie] is that the whole world, living or not living, is the result of the mutual interaction, according to definite laws, of the forces possessed by the molecules of which the primitive nebulosity of the universe was composed. If this be true, it is no less certain that the existing world lay potentially in the cosmic vapour, and that a sufficient intelligence could, from a knowledge of the properties of the molecules of that vapour, have predicted, say the state of the fauna of Britain in 1869, with as much certainty as one can say what will happen to the vapour of the breath on a cold winter’s day.25

23

Th. Huxley, Critiques and Adresses, London 1973, 305. Der fragliche Text, On the Reception of the ›Origin of Species‹, erscheint auch in: F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, a. a. O., 554. (Kursivierungen von mir.) 24 Die Idee, Morphologie und Teleologie zu vereinen, fi ndet sich auch bei einigen Naturalisten, die noch in einer frühen Phase eine deutliche Trennung der beiden Bereiche verfochten hatten. So etwa bei William Whewell, der einräumt, daß die Entdeckung eines allgemeinen Plans uns auf einen überlegenen Standpunkt hebe. Vgl. W. Whewell, History of the Inductive Sciences, from the Earliest to the Present Times, London 1836, 3. Aufl. 1857, Bd. III, 560–61. 25 F. Darwin (Hg.), The Life and Letters of Charles Darwin, a. a. O., 554 f.

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Die Teleologie ›im weiteren Sinne‹ darf also nicht mit einer Zweckmäßigkeit verwechselt werden, die nur für lebendige Organismen gültig wäre, sondern sie betrifft vielmehr jene strikte Regularität der Naturgesetze, die es erlaubt, das Naturgeschehen vom Beginn des Universums aus vorherzubestimmen, und die somit den vollständigen Ausschluß des Zufalls in sich trägt. Dies ist eben die Thematik, mit der schon Darwin, wie wir gesehen haben, seine Mühe hatte. Dennoch ist hier (und viel deutlicher als noch bei Darwin) die Vorstellung einer ›weiteren‹ Teleologie mit jener der natürlichen Ordnung verknüpft, dem fundamentalen Axiom des wissenschaftlichen Denkens ergeben, demzufolge »there is not, and never will be, any disorder in nature«26. Der Zufall (im Sinn von »Unordnung«) steht diesem Axiom entgegen und mithin der Rationalität der Gesetze, die das Universum ununterbrochen beherrscht haben.27 Vereinbar wäre sie nur mit jenem Zufall (im anderen Sinne) als der bloßen Unkenntnis der Ursachen, also als der Unmöglichkeit des Menschen, eine Erklärung für Phänomene zu geben, die ein höheres Wesen jedoch durchdringen könnte. Auf diese Weise verstanden, d. h. als Synonym für die natürliche Ordnung, droht diese Teleologie mit der Idee einer der Natur innewohnenden Notwendigkeit zusammenzufallen. Obwohl Huxley also davon überzeugt ist, den Mechanismus mit der Teleologie versöhnt zu haben, kann aus seiner Sicht die Natur, und das in völligem Einklang mit dem klassischen szientistischen Weltbild, doch nicht aus dem ›Reich der Notwendigkeit‹ heraustreten. Eine derartige ›Teleologie‹ scheint – weit davon entfernt, ein ›weiterreichender‹ Begriff zu sein – in Wahrheit zur Entleerung desselben beizutragen.28 »Les mécanistes les plus attentifs le reconnaissent à leur manière, qui est, non de nier la finalité, mais d’essayer d’en donner des explications mécanistes.«29 [Die eifrigsten Mechanisten erkennen sie auf ihre Weise an, d. h. sie leugnen die Zweckmäßigkeit keineswegs, sondern versuchen ihr eine mechanistische Erklärung zu geben.] Sehr ähnliche Überlegungen, aber mit einer stärkeren Betonung auf den

26

T. H. Huxley, Scientific and pseudo-scientific Realism, in: Ders., Collected Essays, V, London 1894, 70. 27 In diesem Sinne verstanden, hält Huxley die Teleologie für vereinbar, wenn nicht gar für identisch, mit der ›Vorsehung‹: »If the doctrine of a Providence is to be taken as the expression, in a way ›to be understanded of the people‹, of the total exclusion of chance from a place even in the most insignificant corner of Nature; if it means the strong conviction that the cosmic process is rational; and the faith that; throughout all duration, unbroken order has reigned in the universe – I not only accept it, but I am disposed to think it the most important of all truths.« (Th. Huxley, An Apologetic Irenicon, in: The Fortnightly Review (November 1892), 567). 28 Wie sich zeigen wird, liegt dies vor allem daran, daß dieses Konzept nicht zwischen belebter und unbelebter Natur unterscheidet. 29 É. Gilson, D’Aristote a Darwin, a. a. O., 175.

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Grenzen der menschlichen Erkenntnis, finden sich bei Friedrich Albert Lange, dessen Darwin-Rezeption im Kontext seiner Geschichte des Materialismus lange zu Unrecht vernachlässigt wurde.30 Zumindest dem Anschein nach kommt Lange einen Schritt vorwärts, indem er – mit der Hilfe Kants – durch die Unterscheidung der Natur als Erscheinungswelt und der noumenalen Welt an sich die eher monistische Position Huxleys überwindet. In bezug auf die Natur als Erscheinungswelt kehrt jenes Argument von Zufall und Naturordnung, das schon Huxley und Darwin beschäftigte, in erklärtermaßen kritischer Wendung wieder. Im Naturverlauf gebe es Zufall nur dann, »wenn wir diesen Ausdruck im Gegensatz zu den Folgen einer menschenähnlich berechnenden Intelligenz betrachten«31. Das Naturgeschehen erscheine nur in dem Moment als zufällig, da man denkt, die Natur agiere anthropomorphisch, nach der Art des menschlichen Verstandes, indem sie sich Zwecke setzt. In Wahrheit aber sei das, »was wir in der Entfaltung der Arten Zufall nennen, […] natürlich kein Zufall im Sinn der allgemeinen Naturgesetze, deren großes Getriebe alle jene Wirkungen hervorruft«32. Wollte man das Auftreten bestimmter Formen in der Natur dennoch »zufällig« nennen, so nur im Wissen um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Solches Erscheinen könne »mit dem Maßstabe menschlichen Verstandes gemessen nur dem blindesten Zufall gleichgestellt«33 und also nicht als von der Natur bezweckt erkannt werden. Wenn also die Darwinsche Theorie als eine Theorie des Zufalls erscheine, so nur deshalb, weil wir nicht in der Lage seien, bestimmte Phänomene zu erklären. Wenn wir eine bestimmte Gestalt »zufällig« nennten, so nur deshalb, weil »wir keinen Grund anzugeben wissen, warum gerade diese in diesem Augenblick auftritt«.34 Die Ablehnung dieser ›falschen Teleologie‹, d. h. dieses Anthropomorphismus, hat aber nach Lange gerade keine vollständige Eliminierung jeglicher Teleologie zur Folge, sondern gebe vielmehr einen »Einblick in das objektive Wesen der Zweckmäßigkeit der Erscheinungswelt«35. Diese Zweckmäßigkeit sei

30

Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. 2 (1872), Frankfurt / M. 1974. Das Kapitel mit dem Titel Darwinismus und Teleologie wurde von Lange für die zweite Auflage des Werkes überarbeitet, ohne jedoch signifikante Änderungen erfahren zu haben. Es stellt, nebenbei bemerkt, einen auch für die Rezeption der teleologischen Thematik seitens des jungen Nietzsche grundlegenden Text dar, wie dieser in seinen Notizen Die Teleologie seit Kant (1868) bekannt hat. 31 Ebd., 692. 32 Ebd. 33 Ebd., 691; Kursiv von mir. 34 Ebd., 718. 35 Ebd., 693.

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keine menschliche; sie sei nicht, wie man glauben könnte, durch »höhere Weisheit« gesetzt, sondern gerade durch Mittel, »welche ihrem logischen Gehalt nach entschieden und klar die niedrigsten sind, welche wir kennen«.36 So gelange man zu einem Konzept einer ›gerechtfertigten Teleologie‹, welche nicht nur mit dem Darwinismus vereinbar ist, sondern geradezu mit ihm identisch: »Die ganze Frage der richtigen Teleologie aber läßt sich darauf hinaustreiben, daß man untersucht, inwiefern gerade in dieser Einrichtung der Natur in Verbindung mit dem mechanisch wirkenden Entwicklungsgesetze etwas gefunden werden darf, das man einem ›Weltplan‹ vergleichen darf.«37

Wie Huxley an eine Koinzidenz von Teleologie und natürlicher Ordnung dachte, die ihn gar zu einer Gleichsetzung derselben mit der Vorsehung trieb (siehe Anmerkung 27), so entdeckt Lange einen »Weltplan«, der von keinem übernatürlichen Akteur abhänge; einen Weltplan als Produkt des natürlichen Mechanismus, der unbewußt operierend – mit den ihrem logischen Gehalt nach niedrigsten Mitteln – etwas zum Leben verhilft, das wir als Ordnung betrachten und sogar als schön. So gesehen, fällt dieser Plan mit den ewigen Gesetzen des Universums und mit der Notwendigkeit des Ganzen zusammen: »Im großen Ganzen ist alles und somit auch das Auftreten dieser Bildungen, welche durch Anpassung und Vererbung zur Grundlage neuer Schöpfungen werden, notwendig und durch ewige Gesetze bestimmt.«38

Im tapferen Bestreben, die Natur vor jeder übernatürlichen Ursache zu schützen, führt Lange die »richtige Teleologie« auf den »geregelten Lauf der Naturkräfte«39 zurück: Die Teleologie ist tatsächlich die unbedingte, Eingriffe seitens mystischer Kräfte nicht benötigende Domäne der in der Natur vorhandenen Kausalverknüpfungen. Wenn sich unsere Welt als »ein Spezialfall« betrachten läßt, so ist sie dies in Wahrheit nur, insofern sie für uns begreifbar ist, d. h. insofern sie mit unserem Verstand übereinstimmt oder ihm entspricht. Dies nennt Lange das Axiom von der Begreiflichkeit der Welt oder auch das Fundamentalprinzip, auf dessen Basis die Welt zu unserer psycho-physischen Organisation paßt, die uns erlaubt, eine objektive Naturordnung zu erkennen, wenn auch nur bezüglich der Natur als Erscheinungswelt. Nach Lange fällt dieses Prinzip mit der von Kant so bezeichneten »formalen Zweckmäßigkeit« zusammen: »In der Kantschen Philosophie […] wird daher die erste Stufe der Teleologie geradezu identifiziert mit dem Grundsatze, den wir wiederholt als das Axiom von der Begreif36 37 38 39

Ebd. Ebd., 718–719. Ebd., 718. Ebd., 717.

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lichkeit der Welt bezeichnet haben, und der Darwinismus in weiterem Sinne des Wortes, d. h. die Lehre von einer streng naturwissenschaftlich begreiflichen Deszendenz, steht nicht nur nicht im Widerspruch mit dieser Teleologie, sondern ist im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung derselben.«40

Als Abstammungslehre soll die Darwinsche Theorie somit mit einer Teleologie versöhnt sein, die nicht aus der natürlichen Ordnung heraustritt und die man daher »exakt-wissenschaftlich« nennen könnte. In jedem anderen Sinne wird die Teleologie hingegen aus dem Bereich der Natur ausgeschlossen und auch als unvereinbar mit der Evolutionstheorie angesehen. All das, was Lange sehr allgemein »spekulative Weiterbildungen« dieser Zweckmäßigkeit nennt, stützt sich nämlich auf einen die Natur als Erscheinung transzendierenden Grund: Die spekulativen Weiterbildungen betreffen einen nicht-phänomenalen idealen Bereich und somit die »Natur an sich selbst«, aufgefaßt im Sinne der Zwei-Welten-Lehre. Wenn diese Trennung der Welt an sich von der Erscheinungswelt auch garantiert, daß jeder Konflikt mit den Naturwissenschaften vermieden wird, und so Langes Ziel der wechselseitigen Unabhängigkeit beider Bereiche erreicht scheint, so begründet sie doch einen neuen Hiat. Das »Axiom von der Begreiflichkeit der Welt« erlaubt zwar Lange, den zahlreichen Dogmen und Ideologien seiner Zeit41 zu entkommen, doch wird eben damit jede Vermittlung zwischen den Bereichen der Natur und des Geistes, dem Reich der Notwendigkeit und dem der Freiheit definitiv unmöglich. Der kantische Dualismus führt Lange also nicht über Huxley (und Darwin) hinaus: Im Bereich der Erscheinungswelt wird die Teleologie ebenso mit der natürlichen Ordnung identifiziert und daher auf den Mechanismus reduziert wie bei Huxley, und jede Teleologie im Bereich der noumenalen Welt bleibt von der empirischen abgetrennt. Der Vollständigkeit halber muß aber angemerkt werden, daß Lange im Ausgang von Kant noch eine weitere Ebene zu erkennen scheint, was ihm ermöglichen könnte, einen Schritt aus dem bis hierhin dargelegten Dualismus zu vollziehen, nämlich jene Ebene der ›objektiven Teleologie‹, der »inneren Zweckmäßigkeit« der lebendigen Organismen: »Die Organismen erscheinen uns […] als Wesen, in denen jeder Teil durch jeden andern durchgängig bestimmt wird, und wir werden sodann vermöge der Vernunft-

40

Ebd., 720. Nach Klaus Christian Köhnke gehört Lange jener »skeptischen Generation« der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts an, wo der Bezug zum kritischen Kant im Kontext derer steht, die sich gegen alle Parteien wenden. Er wehre sich daher gleicherweise gegen den in jenen Jahren vorherrschenden Materialismus wie gegen die systematische Philosophie und die christliche Lehre. Vgl. K. Ch. Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt / M. 1993, 109 ff. 41

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idee einer absoluten wechselseitigen Bestimmung der Teile im Weltganzen dazugebracht, sie so anzusehen, als ob sie Produkt einer Intelligenz seien.«42

Doch dieser erfolgversprechende Weg wird von Lange nur angedeutet und nicht beschritten: Indem er nur den heuristischen Charakter dieser Teleologie betont und deren Unbeweisbarkeit im Rahmen der Naturwissenschaften, weist er die entscheidende Idee Kants zurück, daß nämlich die teleologische Beurteilung der Organismen eine notwendige Folge der Einrichtung der Vernunft sei. Auf diese Weise mißverstanden, d. h. jeder Gültigkeit beraubt, würde Kants Vermittlungsversuch in der Dritten Kritik gar keinen wesentlichen Teil des kantischen Systems bilden. Langes in völligem Einklang mit den (mechanistischen) Naturwissenschaften bleibende Kant-Lektüre und seine Furcht, in die spekulative Naturphilosophie zurückzufallen, ermöglichen ihm kein tieferes Verständnis des »organisierten Naturwesens«: Dies ist aber gerade der ›Gegenstand‹, der, angemessen interpretiert und begründet, ihn wirklich in die Nähe einer ›legitimen Teleologie‹ hätte bringen können, die tatsächlich vereinbar, »wenn nicht gar identisch« mit jener des Darwinismus ist.

IV. Die innere Zweckmäßigkeit des Naturwesens bei Kant und Hegel In seiner Kritik der Urteilskraft führt Kant eine berühmte Unterscheidung ein, die vor allem in der Romantik und im Idealismus rezipiert wurde, nämlich die einer »innere[n] Zweckmäßigkeit des Naturwesens«43 gegenüber einer bloß relativen der Natur. Unter äußerer Zweckmäßigkeit wird dabei diejenige verstanden, »da ein Ding der Natur einem anderen als Mittel zum Zwecke dient«44. Eine solche Zweckmäßigkeit wird einem Naturding also nur zugesprochen, insofern es ein nützliches Mittel zur Erreichung eines ihm äußeren Zieles ist. Sie dient daher nicht eigentlich seiner eigenen Bestimmung, sondern einem anderen Naturding. Hegel veranschaulicht diese Form von Zweckmäßigkeit durch eine syllogistische Figur, in der die Extreme nicht untereinander vertauscht werden können und in der das Mittlere nicht an die Stelle eines der Extreme treten kann. Das Vermittelnde symbolisiert so die geradlinige

42

F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 720. I. Kant, Kritik der Urteilskraft (KdU), Akademie-Ausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, 367. Um genau zu sein, unterscheidet Kant zunächst innerhalb der sogenannten objektiven Zweckmäßigkeit zwischen »formaler« und »materialer« Zweckmäßigkeit (§ 62), um anschließend innerhalb der letzteren, der allein die Kritik der teleologischen Urteilskraft gewidmet ist, zwischen »äußerer« und »innerer« zu differenzieren (§ 63). 44 KdU, § 82, 425. 43

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Gerichtetheit von der Vorstellung des Ziels zum Handeln als Mittel, es zu erreichen.45 Mit der Idee einer inneren Zweckmäßigkeit tritt hingegen ein gänzlich neuer Standpunkt auf, demgemäß es zu einer reversiblen Bewegung kommt, bei welcher der einseitig gerichtete Weg vom einen Extrem zum anderen invertiert werden kann. Genau dies, so Kant, geschehe im Innern eines Organismus: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.«46 Im »organisierten Produkt der Natur« tauschen die Extreme die Rollen, und zwar in doppeltem Sinne: Nicht nur hängt das Ganze von seinen Teilen ab, wie bei einem (zusammengesetzten) bloßen Objekt, sondern auch die Teile vom Ganzen, und nicht nur bringt ein Teil einen anderen hervor, sondern die (konstitutiven) Teile eines Organismus erzeugen sich wechselseitig. Der Organismus ist, so Kant, ein »sich selbst organisierendes Wesen«47, modern gesprochen: ein Fall von Selbstorganisation. Da ein jeder Teil »durch alle übrigen da« sei, existiere er »um der anderen und des Ganzen willen«48, so daß der letztlich ausschlaggebende Grund der Existenz eines Teiles die anderen und das Ganze sind. Es ist kaum zu bestreiten, daß Kant sich mit diesem Konzept eines Organismus und des damit zusammenhängenden Begriffs der inneren Zweckmäßigkeit von der Vorstellung einer ›intentionalen‹ Teleologie entfernt. Sowohl die wechselseitige Abhängigkeit der Teile eines Ganzen untereinander und des Ganzen von seinen Teilen als auch die Definition des »Naturzwecks«49 selbst stehen der Vorstellung eines planenden Geistes entgegen. Der Organismus ist eine von Geburt an in sich vollendete Einheit, die unter Wahrung dieser Vollendetheit heranwächst und sich entwickelt. Kein (konstitutiver) Teil kommt in einer folgenden (Lebens-)Phase hinzu: In seinem Entwicklungsprozeß verwirklicht sich der Organismus als der, der er schon ist, und somit im Gegensatz zum planenden Geist, der etwas zunächst bloß Vorgestelltes verwirklicht, das noch nicht ist. Ein Naturzweck, der seine eigene Ursache und Wirkung ist, verwirklicht in seiner Entwicklung sich und nicht etwa einen anderen oder etwas anderes als sich wie im Falle der äußeren Zweckmäßigkeit. Ein Organismus ist mithin kein Produkt eines externen Geistes wie eine Maschine, sondern er ist das Prinzip seiner eigenen Organisation. Doch aus dieser Verbindung des 45

Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, hrsg. von F. Hogemann / W. Jaeschke, Hamburg 1981, 154 ff. 46 KdU, § 66, 376. 47 KdU, § 65, 374. 48 Ebd. 49 »Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist.« (KdU, § 64, 370).

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Organismus mit dem Konzept einer ›naturalen‹ Teleologie, in der die geradlinige Zweckmäßigkeit sich ›zurückbiegt‹ und eine immanente Zirkularität zum Vorschein kommt, entspringt eines der größten Probleme der kantischen Systematik. Bekanntlich betrachtet Kant die Zweckmäßigkeit der Natur nicht als ein objektives Prinzip, sondern als ein bloß regulatives, nämlich als eine subjektive Maxime der teleologischen Urteilskraft. Sie hat daher keine konstitutive Gültigkeit, sondern einen eher heuristischen Wert. Dies ist aber nach Kant nicht zuletzt unserer Unfähigkeit geschuldet, eine von Absichten unabhängige Teleologie denken zu können.50 Obgleich es nicht gelinge, die organisierten Wesen als zweckfrei zu denken51, könnten wir doch nicht anders, als die Analogie zum menschlichen Handeln zu bemühen, wenn wir versuchen, diese Zweckmäßigkeiten der Organismen diskursiv zu machen: Sie aufzufassen, »als ob« sie geplant und »als ob« sie bewußte Wirkungen wären, sei der einzige Weg, der ihrer Zweckmäßigkeit eine Grundlage gebe. So aber wird der Begriff mehrdeutig – wie jener der »Technik der Natur«.52 Als »Technik« aufgefaßt, kann Naturkausalität den inneren Konstitutionsprozeß der Organismen aber nicht verständlich machen, da dieser Begriff an ein Geschehen gebunden ist, das auf einer linearen Kausalität basiert und daher nur zu »äußerer Zweckmäßigkeit« Anlaß geben kann.53 Doch hat man sich einmal klar gemacht, daß »genau zu reden, […] also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität [hat], die wir kennen«54, ist diese Wahl am Ende wohl die einzige Option, die Kant ermöglichen könnte, die Widersprüchlichkeiten anderer Formen der Zweckmäßigkeit wie etwa der Fatalität oder des Hylozoismus55 zu vermeiden. In Anbetracht der Denkunmöglichkeit der inneren Zweckmäßigkeit im Rahmen dieser Arten des zweckmäßigen Geschehens optiert Kant zuletzt aber für eine 50

»Gewisse Naturprodukte müssen, nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes, von uns ihrer Möglichkeit nach absichtlich und als Zwecke erzeugt betrachtet werden.« (KdU, § 77, 406). 51 »So folgt daraus, daß es bloß eine Folge aus der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes sei, wenn wir Produkte der Natur nach einer anderen Art der Kausalität, als der der Naturgesetze der Materie, nämlich nur nach der der Zwecke und Endursachen uns als möglich vorstellen.« (KdU, § 77, 408). 52 Vgl. etwa KdU, § 78, 411. 53 Man vgl. hierzu insbesondere F. Chiereghin, Sulla recezione in Hegel della teleologia kantiana, in: Kant e la finalità della natura. A Duecento anni dalla Critica del Giudizio, Cedam, Padova 1990, 140 ff., und R. Spaemann, Teleologie und Teleonomie, in: D. Henrich / R.-P. Horstmann (Hg.), Metaphysik nach Kant?, Stuttgart 1988, 545–556, bes. 553–554. 54 KdU, § 65, 375. 55 Vgl. KdU, §§ 72–73.

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noch immer bewußte und absichtliche Form, die mit der Vorstellung eines Planes oder Entwurfs verbunden bleibt: »He was unable to free himself from the design-designed analogy.«56 Symptomatisch ist die Sichtweise Langes, dergemäß auch das Konzept der inneren Zweckmäßigkeit am menschlichen Ideal ausgerichtet bleibt, »wenn auch die außerweltliche Person aufgegeben wird, die nach Menschenweise diesen Zweck erst erdenkt und dann ausführt«57. Eine radikale Weiterentwicklung der im kantischen Konzept der inneren Zweckmäßigkeit angelegten Idee findet sich bei Hegel, der versucht hat, sie vom bloß reflektierenden Charakter der teleologischen Urteilskraft zu lösen, um darin vielmehr eine Bestimmung der Objektivität zu sehen. Bei Hegel wird die innere Zweckmäßigkeit zu einem internen, konstitutiven Gesetz des Lebendigen, was freilich erheblichen Widerspruch provoziert hat. Hegels Radikalisierung des Konzepts und seine Deutung des konstitutiven Charakters der naturalen Zweckmäßigkeit sind häufig als Versuch interpretiert worden, eine metaphysische Zweckmäßigkeit wiederzubeleben. Die Distanzierung von einer bewußten und absichtlichen Zwecksetzung ist in Richtung einer gewissermaßen über-intentionalen Zweckmäßigkeit gelesen worden, die zwar nicht mehr in die Sphäre des Intentionalen, des wissentlichen Denkens fällt, aber dennoch an eine ›höhere‹ Sphäre gebunden ist, nämlich an jene des (Hegelschen) Geistes. Es ist dies eines der Motive, weshalb der Hegelianismus insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diskreditiert war: Jene »bildende Kraft«, die Kant als unerkennbar charakterisierte, als einsichtig anzusehen, käme der Wiedereinführung des Vitalismus gleich. In Wahrheit aber ist die Hegelsche Betonung des konstitutiven Charakters der naturalen Zweckmäßigkeit als Versuch zu lesen, jener Form von Zweckmäßigkeit eine eigene Würde zu verleihen, die Kant letztlich als in sich widersprüchlich betrachtet hat, nämlich der nicht-intentionalen. Hegel löst den Begriff des Zwecks von dem des vorstellenden Bewußtseins: »Beim Zwecke muß nicht gleich oder nicht bloß an die Form gedacht werden, in welcher er im Bewußtsein als eine in der Vorstellung vorhandene ist.«58 Das bedeutet natürlich nicht, daß der Zusammenhang zwischen dem Zweck und seiner Vorstellung auf der Ebene des Bewußtseins nicht rekonstruierbar wäre, sondern es 56

E. Mayr, Teleological and teleonomic, a. a. O., 402. Da Kant aber den bloß heuristischen Wert dieses Ansatzes betont, kommt ihm nach Mayr doch das Verdienst zu, die Naturprodukte besser zu verstehen als in rein mechanistischen Begriffen: »It permits us to make products and processes of nature far more intelligible than trying to express them purely in terms of mechanical laws.« (Ebd.). 57 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. O., 690–691. 58 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (Enz), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 20, hrsg. von W. Bonsiepen / H.-C. Lucas, Hamburg 1992, § 204 Anm.

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meint nicht mehr und nicht weniger, als daß der Zweck schon auf viel elementarerer und grundlegenderer Ebene vorhanden ist: »Bedürfnis, Trieb, sind die am nächsten liegenden Beispiele vom Zweck.«59 Der Trieb sei das beste Zeugnis eines nicht-bewußten, von den Bestimmungen des Intentionalen unabhängigen Zwecks, der in der objektiven Realität präsent sei.60 Nach Hegel offenbart sich schon im Instinkt die Eigentümlichkeit des Lebendigen, nämlich dessen Selbstbewegung. Das wesentliche Kennzeichen des Lebens sei in der Tat »das anfangende, sich selbst bewegende Prinzip«61, jene Aktivität, sich von sich zu unterscheiden, ohne sich zu verlieren. Aufgrund eben dieser Art von Bewegung, sich zu entäußern und doch es selbst zu bleiben, müsse schon der Organismus als Selbstzweck charakterisiert werden: »Die Natur eines Dinges ist ein […] Sichselbstgleiches, welches sich von sich selbst abstößt, und sich verwirklicht, hervorbringt. […] Die Wahrheit ist die Identität seiner Realität mit dem Begriffe in der Äußerung.«62 Bedürfnis und Trieb verkörpern auf einer primitiven Ebene die Zweckmäßigkeit der Natur, gerade weil in ihnen der wahre Charakter des Lebens, sich im ›Sich-Verlieren‹ zu erhalten, explizit ist. Die Bewegung des ›Sich-Spaltens‹ in sich selbst, die den Organismus in dem Moment auszeichnet, da er sich, angetrieben durch seine Bedürfnisse, der äußeren Welt öffnet, gestaltet sich nicht als ein Verlust des Inneren, sondern als der Erhalt dieses Inneren im ›Sich-Entäußern‹ und im Mangel.63 Es ist daher nicht das einfache Zur-Kenntnis-Nehmen eines Mangels, das Bedürfnis und Instinkt charakterisiert, sondern sie stellen vielmehr etwas dar, das Hegel als die wahre und eigentliche Aktivität des Mangels definiert, und zwar in dem Sinne, daß »die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt« nichts anderes meint, als daß »etwas in sich selbst und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist«64.

59

Ebd. »Das Geheimnisvolle, das die Schwierigkeit, den Instinkt zu fassen, ausmachen soll, liegt allein darin, daß der Zweck nur als der innere Begriff aufgefaßt werden kann, daher bloß verständige Erklärungen und Verhältnisse sich dem Instinkte bald als unangemessen zeigen. […] Der Instinkt ist die auf bewußtlose Weise wirkende Zwecktätigkeit.« (Enz, § 360, Anm.) Vgl. zu dieser und ähnlichen Stellen F. Chiereghin, Sulla recezione in Hegel della teleologia kantiana, a. a. O., insbes. 153 ff. 61 G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 12, a. a. O., 287. 62 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. II (Aristoteles), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 18, hrsg. v. H. Glockner, Stuttgart 1928, 345. 63 Vgl. hierzu insbesondere das Fragment Zum Mechanismus, Chemismus und Erkennen, in: G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 12, a. a. O., 278 f. 64 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erster Band: Die objektive Logik (1812–13). Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 11, hrsg. v. F. Hogemann / W. Jaeschke, Hamburg 1978, 183. 60

Darwin und das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur

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Wir können an dieser Stelle nicht weiter in die Überlegungen Hegels eindringen, die selbstverständlich größeren Raum und weitergehende Erläuterungen nötig hätten. Dennoch sei hier der entscheidende Punkt markiert: Das, was Kant davor zurückschrecken ließ, der Zweckmäßigkeit eine konstitutive Funktion zuzuschreiben, nämlich die Unmöglichkeit, die Zwecke als absichtlich wirkende Ursachen aufzuzeigen, wird bei Hegel zum Motiv, eine grundlegende Zweckmäßigkeit wiederzuerwecken. Diese Wiedererweckung bewegt sich – wie zu vertiefen wäre – in Richtung einer Versöhnung des kantischen Konzepts der inneren Zweckmäßigkeit mit jenem des Aristoteles. In den Worten Hegels gesagt, hat Kant in der Tat »die Bestimmung des Aristoteles vom Leben« reetabliert, dessen innere Zweckmäßigkeit »unendlich weit über« dem modernen Konzept von Teleologie liegt, das ausschließlich an der äußeren Zweckmäßigkeit orientiert ist.65 Die Verbindung zwischen Kant und Aristoteles ermöglicht es Hegel, sowohl zu anthropomorphistischen Arten der Teleologie Distanz zu halten als auch zu äußerer Zweckmäßigkeit im allgemeinen. Es erlaubt ihm, wie gesagt, einem nicht-intentionalen Zweck objektive Realität zu geben, sich also von jeglicher wissentlicher Zwecksetzung zu befreien, ohne deshalb dem Zweck seine Realität zu nehmen. Doch nicht nur das: Es ermöglicht ihm ebenso, das kantische Konzept der »Wechselwirkung« zu überwinden, demgemäß sich alles Organische im wechselseitigen Hervorbringen der Teile und im (wechselseitigen) Verhältnis der Teile zum Ganzen auflöst, wodurch ja letztlich die innere Zweckmäßigkeit des Ganzen auf eine äußere Zweckmäßigkeit der Teile zurückgeführt wird.66 In der Hegelschen Lesart des Konzepts vom Organismus liegt eben nicht nur das Beieinander von Kausalerklärungen in aufsteigender und in absteigender Reihe wie bei Kant. Der Organismus besteht nicht nur als eine Einheit, die lediglich über das wechselseitige Verhältnis ihrer Teile in ein Verhältnis zu sich tritt, sondern er ist: Selbstzweck. Und dies bedeutet, dem Lebendigen anzuerkennen, der Zweck seines eigenen Daseins zu sein.

65

Vgl. Enz, § 204, Anm. »Immer handelt es sich in Kants Explikation dieses Begriffs um die Frage nach dem Zweck von etwas für etwas anderes, sei diese Frage nun bezogen auf das Verhältnis der Teile eines Organismus zueinander oder auf das Verhältnis dieser Teile zum Organismus als einem Ganzen.« (B. Rang, Zweckmäßigkeit, Zweckursächlichkeit und Ganzheitlichkeit. Zum Problem einer teleologischen Naturauffassung in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, in: Philosophisches Jahrbuch, 100 (1993), 51.) 66

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V. Teleologie und Organismus Indem Lange und Huxley die Teleologie auf den allgemeinen Begriff einer natürlichen Ordnung zurückführen, behandeln sie sie als universales Phänomen, das einer einheitlichen Erklärung zugänglich ist. Im Unterschied dazu verwenden Kant und Hegel das Konzept der inneren Zweckmäßigkeit vor allem und zunächst zur Charakterisierung ganz bestimmter Objekte innerhalb der natürlichen Welt, nämlich der Organismen. Für beide bezeugt die Existenz der Organismen die Grenzen des mechanistischen Paradigmas und die Notwendigkeit, ein weiteres Erklärungsmodell einzuführen, das nicht auf jenes der Maschine und des Artefakts reduziert werden kann. Die Berufung auf die innere Teleologie reflektiert die Eigentümlichkeit des Lebewesens und das Besondere einer bestimmten Naturwissenschaft, der Biologie. Wie gezeigt, fassen weder Kant noch Hegel die innere Zweckmäßigkeit als ein Paradigma auf, das demjenigen des Mechanismus entgegenstünde; sondern beide begreifen es vielmehr als eines, das gewissermaßen komplementär zu ihm ist. Kant verteidigt beide Modelle, Teleologie und Mechanismus, gegen ihre scheinbare Unvereinbarkeit, indem er sie zwei verschiedenen Maximen der reflektierenden Urteilskraft zuordnet (§ 70). Bei Hegel werden Teleologie und Mechanismus zu konstitutiven statt bloß regulativen Prinzipien, und er löst die drohende Antinomie, indem er sie als zwei aufeinanderfolgende und komplementäre Momente eines selbigen Bestimmungsprozesses auffaßt: Nicht das mechanistische Verständnis der Dinge wird geleugnet, sondern nur dessen Verabsolutierung. In diesem Sinne steht die innere Zweckmäßigkeit dem Mechanismus nicht entgegen; sie widerspricht nicht dem mechanistischen Naturverständnis. Sie ist ein gänzlich anderes Modell als jene der Darwinschen Evolutionstheorie oft und zu Unrecht zugeschriebene Vorstellung, die in der Evolution eine Tendenz zum ›Besseren‹ sieht, ein Prozeß der fortschreitenden Perfektionierung auf Basis der irrigen Gleichung »angepaßter = besser«. Die innere Zweckmäßigkeit wird gerade nicht so verstanden, als ginge eine weniger gelungene Gestalt in eine gelungenere über, sie ist nicht durch den Übergang von einem Stadium der Unvollständigkeit zu einem der ›größtmöglichen Perfektion‹ darstellbar. Wie wir versucht haben zu zeigen, ist sie darüber hinaus auf einer viel grundlegenderen Ebene anzusiedeln als die äußere Zweckmäßigkeit und als das mit ihr in vielfältiger Weise zusammenhängende Paradigma der Absichtlichkeit. Aus diesem Grunde ist sie aber auch schwerer zu begreifen, und sie ist vielleicht gerade deshalb lange vernachlässigt, wenn nicht gar zurückgedrängt worden. Nicht zu Unrecht hat man sie die »neglected teleology«67 genannt. Dennoch ist 67

S. T. Asma, Following Form and Function. A Philosophical Archaeology of Life Sci-

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es gerade die »neglected teleology«, die nicht nur nicht im Kontrast zur Darwinschen Evolutionstheorie steht, sondern ihr zugrunde liegt, wie auch das Objekt, das sie auszeichnet, der Organismus, der modernen Evolutionsbiologie zugrunde liegt. Es ist eben gerade der Begriff des ›Organismus‹, der in jeder Theorie der Entwicklung von Organismen immer schon vorausgesetzt wird und nicht etwa durch sie geklärt würde.68 Für jeden, der sich vornimmt, die Teleologie vom Konzept des Organismus her zu verstehen, ist der Bezug auf Kant inzwischen geradezu ›klassisch‹. Dies zeigt sich insbesondere in der gegenwärtigen Philosophie der Biologie, wo die Ideen Kants zu Recht sehr verbreitet sind69, wenn auch der Vorbehalt gilt, daß »it would be absurd, however, to use Kant’s tentative comments two hundred years later as evidence for the validity of finalism«70. Ein sehr viel schwierigeres und in gewissem Sinn ›gefährlicheres‹ Unterfangen scheint hingegen die Berufung auf Hegels Konzept des Organismus zu sein. Die von ihm vollzogene Wiederaufnahme des Aristotelismus, aber auch die Interpretation seines Denkens im Rahmen der hegelianischen Schule haben dazu beigetragen, dieses Konzept stark mit der »Wiedergeburt« der Zweckursachen und des Vitalismus zu identifizieren. Doch die aristotelische Idee, die Hegel in Wahrheit wiederbeleben wollte, nämlich daß ›Natur‹ bedeutet, daß etwas wird, das von Beginn an präsent ist, darf weder derart interpretiert werden, daß ein übernatürlicher

ences, Evanston 1996, 99. Berühmten Interpretationen gemäß ist die innere Zweckmäßigkeit (im aristotelischen Sinn des Wortes) lange durch die christlich-platonische Traditionslinie der äußeren Zweckmäßigkeit (im Ausgang des Timaios) verdrängt worden, nach der die Natur das Werk eines ›künstlichen‹ Agenten auf Basis einer intelligenten Zwecksetzung ist. Da die frühmoderne Kritik an den Zweckursachen nicht explizit zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit unterschieden hat, ging mit der Ablehnung der äußeren Zweckmäßigkeit die der inneren Schritt für Schritt einher. Wenn man beispielsweise die anti-teleologischen Argumente bei Bacon und seinen Nachfolgern analysiert, überrascht doch die Oberflächlichkeit der Kritik, die nicht nur lediglich ein Minimum der Punkte behandelt, welche die scholastische Diskussion um die Finalität prägten, sondern das aristotelische Konzept der inneren Zweckmäßigkeit gänzlich vernachlässigt. 68 »Die Annahme einer Selektion ermöglicht es daher im Rahmen einer Evolutionstheorie zwar, die besondere Erscheinung jedes einzelnen Merkmals eines Organismus als das Ergebnis einer Anpassung zu erklären – der Begriff des Zwecks wird damit aber nicht geklärt, sondern immer schon vorausgesetzt«. (G. Toepfer, Teleologie, in: U. Krohs / G. Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie, a. a. O., 44). 69 Zu den jüngsten Untersuchungen zählen P. McLaughlin, What Functions Explain: Functional Explanation and Self-Reproducing System, Cambridge 2001; G. Töpfer, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004, 13 ff. 70 E. Mayr, Teleology, in: Ders., What Makes Biology Unique? Considerations on the autonomy of a scientific discipline, Cambridge 2004, 44.

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Geist oder ein göttlicher Urheber Keimformen in die Natur eingepflanzt hätte, noch so, daß die Entwicklung der Keime – der Übergang vom Möglichen zum Wirklichen, vom An-sich zum Für-sich – eine Wende zum Besseren, zur ›größtmöglichen Perfektion‹ darstellte. In dieser Idee ist keine Vorwegnahme eines Zieles vorhanden, keine backward causation, keine Zweckursache.71 Den Organismus als Selbstzweck zu charakterisieren, drückt nichts anderes aus, als daß er in jedem Augenblicke seiner Existenz vollständig ist: Er ist eine in jedem Moment des Prozesses im ganzen vorhandene und wirkende Einheit, die Hegel als »Aktivität des Mangels« charakterisiert. Darüber hinaus ereignet sich diese Einheit als eine solche, die auch in den niedrigsten Sphären, auch im einfachen Sich-Fühlen, Selbstzweck ist. Schon auf organischer Ebene ist dieser Prozeß kein bloßes ›Leben‹, kein reiner Lebensimpuls, sondern gewissermaßen bereits ein ›gutes‹ Leben.

71

Einige angesehene Aristoteles-Interpreten (Balme, Gotthelf, Lennox, Nussbaum) betonen die Aktualität der aristotelischen Teleologie bezüglich der Probleme der Ontogenese und der natürlichen Anpassung der Organismen. Vgl. hierzu E. Mayr, Teleology, a. a. O., 44. Nach Enrico Berti korrespondiert die aristotelische Finalursache keineswegs mit einer intentionalen Zwecksetzung: »[La causa finale aristotelica] è semplicemente l’espressione di un ordine, di una regolarità, di una costanza, non molto diversa da quello che, nell’ambito, per esempio, della contemporanea biologia molecolare, viene chiamato ›programma genetico‹ o ›codice genetico‹, e viene descritto in termini molto simili a quelli usati da Aristotele.« (E. Berti, Profilo di Aristotele, Edizioni Studium, Roma 1979, 162.) [(Die aristotelische Zweckursache) ist einfach der Ausdruck einer Ordnung, einer Regularität, einer Konstanz, die nicht sehr verschieden von jener ist, die beispielsweise im Bereich der gegenwärtigen Molekularbiologie ›genetisches Programm‹ oder ›genetischer Code‹ genannt wird, und die mit sehr ähnlichen Begriffen beschrieben wird, die schon Aristoteles verwendete.]

Reinhard Mocek

Darwin und die Moral. Überlegungen zu einem Problemkern der Weltanschauungsdebatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Es gibt kaum ein besseres wissenschaftshistorisches Lehrstück über die vielfältigen Einflüsse, Befreiungen, Verlockungen und Gefahren hypothetischer Einsichten in die historische wie aktuelle Natur des Menschen als die Literatur über den Darwinismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Einen kleinen Ausschnitt vor allem dieser »Verlockungen« will ich zu umreißen versuchen und zeigen, wie facettenreich die Reaktionen der moralischen Welt von damals auf Charles Darwins (1809–1882) Schrift On the origin of species by means of natural selection aus dem Jahre 1859 waren.1 Doch so ganz historisch ist die Thematik nicht; ihre Permanenz ist durch die aktuellen Debatten um die moralische Aneignung des biologischen Wissenschaftsfortschritts nach wie vor für alle sichtbar gegeben. Daneben gibt es immer wieder naturphilosophisch unterbaute Versuche, die älteren Evolutionsdebatten neu zu beleben. Die Soziobiologie ist der zeitlich gesehen letzte Versuch, über Darwin den Verhaltenskodex der Moderne festzumachen. Ob der Darwinismus damit ethisch ausgeschöpft ist, wage ich nicht zu sagen. Obwohl sich die weltanschaulich-ethischen Implikationen des Darwinismus mit einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Philosophien reiben, dominieren ganz offenkundig die Sympathien des philosophischen Materialismus zum Darwinismus; insbesondere auch zu den moralischen Herausforderungen, die dieser in sich birgt.

I. Der Darwinismus und das ethische Profil des Materialismus im 19. Jahrhundert Materialistische Philosophien vor Darwin2 waren eher auf ontologischem Felde wirksam, weniger auf ethischem. Wohl differiert das von Standpunkt zu Standpunkt und gilt als negative Aussage vor allem für den »mechanischen« 1

Aus einer großen Liste einschlägiger Literatur seien herausgegriffen: K. Bayertz (Hg.), Evolution und Ethik, Stuttgart 1993; E.-M. Engels / Th. Junker / M. Weingarten (Hg.), Ethik der Biowissenschaften. Geschichte und Theorie, Berlin 1995; Erklärung deutscher Philosophen zur sog. »Singer-Affäre«, in: R. Hegselmann / R. Merkel (Hg.), Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt / M. 1991. 2 Vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1865), Leipzig 1907.

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Materialismus. So gab es in der Ethik Heinrich Czolbes (1819–1873) mit dem auf physiologische Vorgänge im Menschen zurückgehenden Prinzip des »Wohlwollens« nur einen einzigen fundamentalethischen Bezugspunkt. Andere Materialisten im Umkreis des Einflusses Ludwig Feuerbachs (1804–1872) konzentrierten sich auf das »Glückseligkeitsstreben« als Dreh- und Angelpunkt moralischen Verhaltens. Ansonsten dominierte in diesem Schrifttum noch das wesentlich von Immanuel Kant (1724–1804) geprägte Bild einer allgemeinen Menschheitsethik, deren Maßstäbe in den christlichen Verhaltensformen wie im praktischen Vernunftgebrauch ihre Wurzeln haben und auf wenige Handlungsmaximen hinausliefen. Das trifft besonders für den im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Materialismus zu, der von der Mehrheit der namhaften Naturforscher des 19. Jahrhunderts vertreten worden ist, jedoch in der Regel nicht systematisch ausgearbeitet war. Der traditionelle naturwissenschaftlich ausgerichtete Materialismus hat zwar die Welt und den Menschen gänzlich neu in den Blick genommen, aber die Spezifika der moralischen Aneignung der Wirklichkeit samt der daraus folgenden Selbstprägungen des homo sapiens weitgehend vernachlässigt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprossen gleich mehrere materialistische bzw. monistische Ethiken aus der naturwissenschaftlich fundamentierten Wissenschaftskultur, wobei der Darwinismus als Bezugspunkt obenan stand. Sie unterschieden sich zwar in der Herauspräparierung der Verhaltensmaximen, nicht aber in der Voraussetzung selbst, die darin bestand, daß sich die wichtigsten als sozialprägend akzeptierten zwischenmenschlichen Verhaltensformen in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit herausgebildet haben: der Übergang vom Egoismus zum Altruismus, die Herausformung eines spezifisch menschlichen Empfindungslebens, gipfelnd im Glückseligkeitstrieb, ein zunehmend menschengemäßes Gruppenverhalten, die Achtung der Integrität, später dann der Würde des anderen, aber auch die moralische Akzeptanz der Ungleichheit, die nichts anderes war als die moralische Widerspiegelung der tatsächlichen vorerst anthropologischen, später dann vornehmlich sozialen Ungleichheit. Religiöse Aspekte spielten in einer solchen naturhistorischen Sicht stets eine Rolle und wurden – je nach weltanschaulicher Bindung des Interpreten – entweder relativiert, übergangen oder mehr oder weniger scharf bekämpft. Die damalige Ethik im Umfeld der kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Kultur wurde vor allem durch die mit Darwins Theorie verbundene plötzliche Aufwertung der älteren naturtheoretisch-materialistischen Anschauungen, wonach das Organismenreich auf dieser unserer Welt einen natürlichen Ursprung hat, in Aufruhr versetzt. Die darwinistische Sicht auf die Erd- und Lebensgeschichte forderte vom Materialismus nun auch die Erklärung ein, welche Rolle die moralischen Maßstäbe in der Evolution der Sozialstrukturen gespielt haben, aber auch, als Kehrseite dieser Medaille, wie

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die Evolution dieser Sozialstrukturen und des gesamten menschlichen Beziehungslebens zur Entwicklung der Moralbeziehungen geführt hat, war doch das biblische Bild von der Entstehung und vom Kulturstand der ersten Menschen mit dem äffischen Ursprungsbild der Entwicklungstheorie unvereinbar. Hier kam es zu einer Art Ideengemeinschaft zwischen Materialismus und Darwinismus, und es schien, als müsse sich diese fortan nur dem verfeinernden Wissenschaftsfortschritt stellen, keineswegs aber Anfechtungen aus Philosophie und Religion. Doch dabei blieb es nicht. Darwins Theorie wurde durch die materialistischen Naturforscher und Philosophen wie eine Fackel der modernen Wissenschafts- und Weltanschauungskultur vorangetragen und unters Volk gebracht. Mit diesem erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen Bonus ausgestattet öffneten sich dem Darwinismus jedoch auch solche Anwendungsfelder, die der Menschheit lieber erspart geblieben wären; in erster Linie in der Übertragung des Zuchtwahl- bzw. Selektionsgedankens auf die Gesellschaft wie auch mit der Anwendung der Zentralthese des Darwinismus vom Kampfe ums Dasein auf die Sozialgeschichte der Menschheit. Aktuelle soziale Widersprüche wurden darwinistisch interpretiert. So stieß der Darwinismus mitten in die Degenerationsdiskussion des ausgehenden 19. Jahrhunderts und schien nicht wenigen der Diskutanten als einziger Ausweg aus dieser vorgeblichen Menschheitsgefahr zu sein.3 Auslese, Eugenik und Sterilisierungsprogramme großen Stils (nicht nur, aber vor allem auch in den USA und in den skandinavischen Ländern) waren die Folge; nahezu sämtliche sozialen Parteiungen waren beteiligt. Es hat lange gedauert, ehe die Populationsgenetik die Sterilisierung als Irrweg zu »Bereinigung« des Genpools bestimmter relativ geschlossener Bevölkerungsgruppen nachgewiesen hat. Mindestens ebenso fatal schlugen die insbesondere auf anthropologischen und darwinistischen Erkundungszügen gewonnenen Theorien über die Ungleichwertigkeit der Menschen, Rassen oder Nationen zu Buche. So schlitterte eine naturwissenschaftliche Theorie unversehens in die Verdachtszone geistiger Untaten; der sie begleitende monistische Materialismus offenbarte sich zumindest in dieser Beziehung als menschenfeindlich. Am Ende stehen beide da als kulturzerstörerische Ausgeburten fehlgeleiteten wissenschaftlichen wie philosophischen Denkens.4 Damit ist der zweite Pol der Darwinismusdebatten jener Wissenschaftsära umrissen. Die unmittelbare ethische Relevanz dieser Theorie wie auch des 3

Aus der Fülle der Literatur zu diesem damals gefürchteten Menschheitsproblem vgl. G. Mann, Dekadenz – Degeneration – Untergangsangst im Lichte der Biologie des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 20 (1985), 6–36. 4 Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Materialismuskritik von Hedwig ConradMartius in Utopien der Menschenzüchtung, München 1955; lange bevor sich die neue Generation von Sozialwissenschaftlern in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR mit dieser Thematik zu befassen begann.

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theoretisch-weltanschaulichen Bündnisses mit dem monistischen bzw. naturwissenschaftlichen Materialismus geriet in ein grelles Zwielicht. Das wurde ganz wesentlich durch die öffentlichkeitswirksamen Auftritte führender Naturforscher jener Zeit vorbereitet, in denen die Projektion des Darwinismus auf politisch relevante weltanschauliche Zielstellungen insbesondere seit dem Auftritt von Ernst Haeckel (1834–1919) auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin 1863 verstärkt in den Vordergrund trat. Die andauernden Kontroversen zwischen Haeckel und vor allem Rudolf Virchow (1821–1902) auf den nachfolgenden Versammlungen von München (1877) bis zur Eisenacher Tagung 1882, auf der Haeckel in seinem berühmt gewordenen Beitrag Über die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck feststellte, daß nunmehr und für alle Zeiten das einheitliche Weltbild der Naturwissenschaft die Grundlage der modernen Weltanschauung geworden sei, haben diese Rolle der Naturforschung für die ethische und geistige Kultur nachdrücklich unterstrichen. Auch für Virchow in Wiesbaden 1873 war die Bedeutung der Naturwissenschaften für die sittliche Erziehung der Menschheit ganz unbestreitbar geworden; jedoch mit Haeckels materialistisch-monistischer wie antireligiöser Interpretation des Darwinismus ging er nicht konform und blieb bei seinem Stettiner Standpunkt, wonach der vielzitierte naturwissenschaftliche Materialismus nur ein »vermeintlicher« sei.5 Mit diesen Debatten, denen sich eine nahezu unübersehbare Literatur anschloß, wurde das Verhältnis von Materialismus, Darwinismus, Ethik und Religion zu einem der wichtigsten Themen damaliger geistig-kultureller Weltorientierung. Die Versammlungen der deutschen Naturforscher wurden, wie Schipperges feststellte, zu einem Gremium, das »nicht mehr in den akademischen Raum hinein spricht«, sondern sich berufen fühlt, »von höchster Warte aus in den öffentlichen Raum zu sprechen, ja, sich als ein Organ der Öffentlichkeit zu verstehen«.6 Dabei muß man die Wertschätzung des Materialismus nicht allein mit den deutschen philosophischen Maßstäben messen. Nach Kant blieb dieser im Volke der Dichter und Denker nie ganz frei von einer gewissen öffentlichen Geringschätzung; er galt als praktisch, physiologisch und eben »bloß« naturwissenschaftlich. Die geistige Spannweite der deutschen philosophierenden Klassik wurde ihm zu keiner Zeit zuerkannt. Das war in England und vor allem im Frankreich des 18. Jahrhunderts ganz anders. Hier waren die hehren Ideale der europäischen Aufklärung materialistisch fundiert. Insbesondere in seiner französischen Herkunft in den Jahren vor der Revolution 1789 hat dieser Materialismus von Paul Holbach (1723–1789) über Denis Diderot (1713–1784) 5

Siehe H. Schipperges (Hg.), Weltbild und Wissenschaft. Eröffnungsreden der Naturforscherversammlungen 1822–1972, Hildesheim 1976. 6 Ebd., 37.

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bis zu Francois Noel Babeuf (1760–1797) gezeigt, daß es ihm nicht nur um die bloße Deutung der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gattung ging, sondern um die argumentative Ausstattung einer großen, aufklärerischen Losung, die darin gipfelte, daß die Fragen der Gestaltung der Zukunft der Menschheit dieser Menschheit selbst zu überlassen sind. Wenn nun, wie die großen Evolutionsdenker zeigten, die Erklärung der Naturgeschichte der Menschheit ohne jenseitige, überirdische Verankerungen auskommt, dann sollte das auch auf die Sozialgeschichte der Menschheit zutreffen. Insofern hatte die kognitive Bindung der biologischen Entwicklungstheorien an den Materialismus des 19. Jahrhunderts, einsetzend mit der Theorie Jean Baptiste de Lamarcks (1744–1829), einen ausgeprägten sozialphilosophischen Hintergrund. Auch daraus erklärt sich die eminente Schärfe, mit der die prodarwinistischen Materialisten gegen den teils klerikalen, teils philosophisch-idealistisch fundierten Antidarwinismus zu Felde zogen. Doch der Darwinismus hatte für die Klärung sozialhistorischer Fragen kaum wirklich überzeugende Argumente zu bieten; die Reduktion dieses vielschichtigen Vorgangs auf wenige Formeln, von denen der »Kampf ums Dasein« bald zur vorherrschenden wurde, konnte vor allem die deutsche Philosophie nicht zufrieden stellen, wie am Beispiel Nietzsches noch zu zeigen ist. Die relative Zurückhaltung, mit der auch Karl Marx (1818–1883) auf Darwins Werk reagierte, erklärt sich zu guten Teilen daraus, daß er Darwins Werk wohl freimütig als die naturhistorische Grundlage der eigenen Anschauung begrüßte, aber zugleich den Überschwang zu bremsen suchte, Darwin als den Problemlöser der Sozialgeschichte zu feiern. Eben das war er in Marxens Sicht nicht. Doch diese Differenz innerhalb der beiden streitbaren Richtungen des Materialismus im 19. Jahrhundert bedingte auch, daß sich die eine Richtung, die mit dem Darwinismus zugleich die wichtigsten sozialtheoretischen Fragen als gelöst betrachtete, verstärkt den ethischen Fragen zuzuwenden begann, die nunmehr eine gleichermaßen ausführliche und gründliche historisch-evolutionstheoretische Interpretation erforderten. Der andere, der Marxsche Materialismus, hatte für derartige Versuche nur scharfe Kritik und – vor allem in den Auseinandersetzungen von Friedrich Engels mit Eugen Dühring (1833–1921) und den von ihm so bezeichneten Vulgärmaterialisten – durchgängige Ablehnung übrig. Ethik war im marxistischen Blick eine eigene Form sozialgeprägten menschlichen Verhaltens. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Kernstück jeder Ethik, waren im klassischen Marxismus gebunden an die proletarischen Lebensverhältnisse; die Ethik war hier weitgehend eine Soziologie der industriekapitalistisch dominierten Arbeits- und Lebenswelt.7 Mit Darwin 7

Vgl. u. a. F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (1845), in: MEW, Bd. 2, Berlin 1959.

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war das zunächst nicht verbunden; es soll im weiteren noch gezeigt werden, daß der Darwinismus in gänzlich anderer Gestalt in sozialistische Überlegungen eintrat – nämlich über die Zukunftsvision, den Menschen nicht nur in seinem äußerlichen Leben glücklich zu machen, sondern ihn auch »besser« zu machen, was sich mit der frühen sozialistischen Forderung nach der Schaffung eines »neuen Menschen« verband.

II. Herbert Spencers Begründung einer evolutionistischen Ethik Der eigentliche Begründer einer ausgearbeiteten evolutionistischen Ethik ist der englische Philosoph Herbert Spencer (1820–1903). Spencer gilt als Vorläufer des Darwinismus, hat er doch wichtige theoretische Grundlagen und Begriffe der neuen Entwicklungslehre bereits vor Darwin antizipiert. Sein Essay Progress, its law and cause erschien bereits 1857, also zwei Jahre vor Darwins fundamentaler Schrift. Sein sechsteiliges ethisches Hauptwerk legte Spencer jedoch lange nach Darwins Schrift und ganz unter dem Eindruck der seitherigen entwicklungsethischen Debatten vor. Schon in dem Essay macht Spencer auf zwei wichtige naturphilosophische Grundlagen einer Theorie der Entwicklung aufmerksam; einmal auf die durchgehenden Entwicklungslinien vom Einfachen zum Komplexeren und Verwickelteren, womit Höherentwicklung an sich schon als ein Naturgesetz aufscheint; zum anderen auf die Korrektur des verbreiteten mechanischen Begriffs von Ursache und Wirkung. Für Lebensvorgänge gelte die übliche vereinfachte Handhabung der Kausalität nicht, denn da setzen Ursachen in aller Regel mehrere Wirkungen, womit die Kausalanalyse im Bereich des Organischen gänzlich anders vorzugehen habe und sich komplexem Systemverhalten stellen muß. Dazu gehört der Grundstandpunkt von der evolutiven Bevorzugung des Fittesten im Kampf ums Dasein sowie die Hochwertung der Anpassungserfahrungen der Individuen für die Entwicklung der Art. Für Spencer ist die Kulturleistungsgesamtheit der Menschheit eine Form der Anpassung des Menschen an die Kultur. Insofern wird Anpassung nicht allein an die erbliche Reproduktion gebunden (als Vererbung erworbener Eigenschaften), sondern als eine Gattungseigenschaft allen höher entwickelten Lebens betrachtet. Doch auch in der Projektion der Vererbung erworbener Eigenschaften auf die je individuellen Erbwege sprach sich Spencer eher für Lamarck als für Darwin aus. In dem zwischen Spencer und dem deutschen Entwicklungsbiologen August Weismann (1834–1914) geführten Streit um die Gültigkeit dieses Prinzips einer Vererbung erworbener Eigenschaften wurde von Weismann diese Ausdehnung des Erblichkeitskonzeptes Spencers nicht akzeptiert, weil für Weismann ein überindividuelles genetisches System nicht vorstellbar war, was für die große Mehrheit der damaligen Evolutionstheoreti-

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ker ebenfalls gilt.8 Für Spencer war allerdings auch ein solches biotisches Artgenom nicht vorausgesetzt; das Medium dieser Form der progressiven Vererbung erblickte er in den soziologischen Grundvorgängen und kommunikativen Zusammenhängen der menschlichen Gattung. Doch abgesehen davon, daß im Rückblick Spencer gegen Weismann nur der zweite Sieger war, besteht die große Bedeutung Spencers darin, als erster Philosoph und Sozialtheoretiker die Neubewertung der meisten traditionellen Moralgrundsätze auf der neuen evolutionistischen Basis diskutiert und kritisch beleuchtet zu haben. Ich will zunächst stichpunktartig die wichtigsten Thesen Spencers zu seinen ethischen Prinzipien referieren,9 um auf dieser Grundlage die ihm nachfolgenden Ethiken bewerten zu können. Wie schon angedeutet, gilt für Spencer das allgemeine Weltgesetz der Entwicklung auch für die moralische Welt, nur sind die Formen, in denen es sich im psychischen und moralischen Bereich vollzieht, entschieden verwickelter. Zunächst muß ein bestimmter Stand der Anpassung an die Lebensbedingungen durch die frühen Menschheitsstufen erfolgt sein, ehe von moralischen Beziehungen zwischen den Menschen gesprochen werden könne. Diese Stufe gilt als erreicht, wenn die menschliche Selbstanpassung an die äußere Welt vollzogen ist und die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit einsetzen wird – ein Vorgang, der mit der Herausbildung der Kulturmenschheit gegeben sei. Eine Geschichte der Ethik müsse diesen Einschnitt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit voraussetzen – für die frühen Phasen der Menschheitsentwicklung gelte eine »relative Ethik«, für das Stadium der Kulturmenschheit jedoch die »absolute«. Diese »absolute Ethik« aber bildet nicht nur sittliche Beziehungen ab, sondern formuliert zugleich die Voraussetzungen, unter denen die höchste Entwicklung der menschlichen Natur überhaupt möglich wird. Die Prinzipien der Moral Spencers bewegen sich in einer auf den ersten Blick ziemlich einfachen Moralkonstellation zwischen »gut« und »schlecht«. Gutes Handeln weist in die Richtung der Selbsterhaltung und der Erzielung eines höheren Vollendungsgrades sowohl der Individuen als auch der Gattung, das schlechtere hingegen hat eine lebensmindernde Tendenz. Dabei heißt »lebensmindernd« nicht Abbau von Entwicklungswerten oder gar Untergang der Existenz, sondern bezieht sich auf die mit schlechten Taten verbundenen minderen Möglichkeiten, einen angestrebten Vollendungsgrad zu erreichen. Die

8

A. Weismann, Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer, Jena 1893; H. Spencer, A Rejoinder to Prof. Weismann, London 1893. 9 Ich stütze mich dabei auf die konzise Zusammenfassung der sechs Teile der Ethik Spencers (The Data of Ethics (1879), I. Teil; The Inductions of Ethics – The Ethics of Individual Life (1892), II. und III. Teil; Justice (1891), IV. Teil; Negative Beneficence – Positive Beneficence (1893), V. und VI. Teil, durch Otto Gaupp, Herbert Spencer, Stuttgart 1923.

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Frage, woher die jeweils individuellen Entscheidungen zur guten Handlung ihren Impuls erhalten, wird, ganz in der englischen utilitaristischen Tradition stehend, mit dem Hinweis auf die Prinzipien von Lust und Unlust beantwortet. Gute Taten bereiten Lust, schlechte hingegen Unlust; oder anders: nützliches Handeln ist lustbetontes Handeln. Das aber führt Spencer, hier in Abgrenzung zum Utilitarismus, nicht allein auf individuelle Lustgefühle im ganz physiologischen Sinne zurück, sondern zugleich auf einen Apriorismus, der aber nicht als angeborener kategorischer Handlungsimperativ verstanden wird, sondern als eine ursprüngliche und im Gattungsleben reproduzierte Gattungserfahrung. Nützliches und Zweckmäßiges sind wie Schädliches und Unzweckmäßiges im kollektiven Gedächtnisschatz der Menschheit eingegraben. Durch die früheren Erfahrungen der menschlichen Rasse hat sich die Vorstellung vom Nützlichen befestigt und entsprechende Nervenmodifikationen hervorgebracht, die durch fortgesetzte Vererbung und Anhäufung zu einem gewissen moralischen Anschauungsvermögen geworden sind; »zu Gefühlen, die rechtem und schlechtem Handeln entsprechen, aber in den individuellen Erfahrungen vom Nützlichen keine Grundlage zu haben scheinen«.10 Damit ist die Ethik natürlich ziemlich weit vom individuellen Habitus entfernt und wird als Gattungsdisziplin vorgestellt, die sich auf die Notwendigkeiten eines geordneten Zusammenlebens stützt. Angesichts der bereits in den waldursprünglichen Perioden der Menschheitsentwicklung dominierenden kriegerischen Auseinandersetzungen verschiedenster Menschheitsgruppen und Völkerschaften kann jedoch nach Spencer von einem völkerübergreifenden einheitsethischen Verhalten nicht gesprochen werden. Sondern das Prinzip der Selbsterhaltung verlangt von jedem Angehörigen einer solchen Völkerschaft nach innen hin Freundschaft und Zusammenarbeit, nach außen hin jedoch Abwehr und Feindschaft. An diesem Punkte kommt Spencer mit der christlichen Religion in Konflikt, was ihn jedoch nicht zur Korrektur seines evolutionsethischen Ansatzes veranlaßt, sondern zu der zivilisationskritischen Folgerung, wonach nur eine »dünne Schichte von Christentum« über einer »dicken Schichte unverfälschten Heidentums« lagere.11 Damit ist moralisches Handeln den Anforderungen einer bestimmten charakteristischen sozialen wie politischen Struktur verpflichtet. Das läßt sich auf die neueren Entwicklungsphasen vor allem der europäischen Kulturen insofern übertragen, als eine Gesellschaft, die über lange Zeiten gegen andere Völker um ihr Existenzrecht kämpfen mußte, ein Sittengesetz hervorbringt, in dem vor allem kriegerische Tugenden hochgeschätzt werden; und umgekehrt bringt eine auf Frieden und Ausgleich mit anderen Völkern bedachte Sozietät ein solches Gesetz hervor, das Gerechtigkeit und Freundschaft zu anderen 10 11

H. Spencer, zit. n. O. Gaupp, Herbert Spencer, a. a. O., 136. Ebd., 138.

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belohnt. So erklären sich die unterschiedlichen Bewertungen, die die verschiedenen Völkerschaften und Nationen im jeweils internationalen vergleichenden Blick erfahren. Von dieser Warte aus müßte man Preußens kriegerischen Geist auf eine mit dem Daseinskampf Preußens verbundene Erklärung projizieren – eine gewiß gewagte Erklärung, setzt sie doch die Eroberermentalität des Soldatenkönigs mit dem einfachen preußischen Bürger gleich, der gewiß anderes im Sinne hatte, als Kriege zu führen! Doch abgesehen von derartigen historischen Spezifikationen nationaler Moralen akzeptiert Spencer ein allgemeines Moralgesetz als Rahmen für sittliches Verhalten aller, das in der Selbsterhaltung und Beförderung der jeweiligen Sozietät für alle gilt. Zunächst davon abgelöst behandelt Spencer das Einzelhandeln; denn es ist natürlich klar, daß nicht sämtliche Individuen einer Sozietät vollkommen gleiche Verhaltensformen zeigen. Diese Unterschiede erklärt er nicht über die Erfordernisse der Sozietät, sondern führt sie auf die jeweilige physische wie psychische Veranlagung der Individuen zurück. Jeder müsse so handeln, daß er das Gleichgewicht seiner physischen wie psychischen Funktionen wahrt und zugleich die Möglichkeit einer solchen Bewahrung von der Gemeinschaft einfordert. Damit erscheint das Prinzip des Egoismus als eine Grundlage für die altruistischen Anforderungen, die die Gemeinschaft an jedes Individuum stellt. Das Lustgefühl als Ausdruck einer solchen Übereinstimmung ist in dieser Interpretation ein Zeichen, den richtigen Weg zur Einforderung der subjektiven Entwicklungsziele zu beschreiten, der Schmerz hingegen bezeuge das Gegenteil. Doch Spencers Egoismusvotum gilt nicht uneingeschränkt, sondern wird durch drei Gattungsforderungen an jedes Individuum eingeschränkt. Das ist einmal die Selbstunterordnung mit Blick auf die Zeugung, Aufzucht und Erziehung der Nachkommen; zweitens die Selbstbeschränkung durch die Erfordernisse eines für alle Seiten zuträglichen Zusammenlebens; drittens die in manchen Fällen geforderte Aufopferung des individuellen Lebens für die Gattung. Bezogen auf die tatsächliche Reichweite der Gattungsforderungen ergibt sich relativ klar, daß Spencer die Gattungsinteressen über die Individualinteressen stellt. Die Rechte der Individuen werden auffällig an der Wahrnehmung der biologischen Lebensrechte der Individuen festgemacht: Recht auf physische Integrität, auf Freiheit der Bewegung, Ortsveränderung und Gebrauch der natürlichen Lebensmedien wie Licht, Luft und Land. Vor allem letzteres bringt ihn angesichts der festgefügten Eigentumsverhältnisse der englischen Gesellschaft in arge Verlegenheit, so daß er sich auf die Eigentumsrechte an ideellen bürgerlichen Zusicherungen hält: das Recht auf Vertragsfreiheit, Gewerbefreiheit, die Glaubens-, Rede- und Druckfreiheit. Damit mündet seine Ethik notwendig in die Hochschätzung der Rolle des Staates als Garant der wichtigsten individuellen und gattungsmäßigen Entwicklungswerte. Wie anhand der Zeiten kriegerischer Dauerzustände bereits gezeigt, war die Rolle des

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Staates zunächst auf die organisierte Abwehr äußerer Feinde gerichtet. Erst spät in der Menschheitsgeschichte rückte die Regelung innergesellschaftlicher Beziehungen in den Mittelpunkt staatlicher Macht, woraus sich nach und nach die Voraussetzungen ergaben, die wichtigsten Fundamente für die Anforderungen des kulturellen wie zivilisatorischen Fortschritts zu schaffen. Die hier lauernde Gefahr einer Absolutsetzung der staatlichen Machtansprüche sieht Spencer sehr wohl; die Forderung nach weniger Staat ist für ihn eine logische Konsequenz dieser Entwicklung. Doch eine Übergabe der Staatsmacht an das Volk würde, so Spencer, in erster Linie nur chaotische Zustände bewirken. Wie später für Ernst Haeckel und andere Darwinisten liegt eine Konsequenz seiner evolutionistischen Ethik in der Abwehr sozialistischer Gedanken und Forderungen. Auch der sozialistische wie vorher schon aufklärerische Grundsatz, durch Erziehung die für eine jeweilige Staatsordnung geeigneten Individuen heranzubilden, wird von Spencer als reine Illusion betrachtet, denn nur über die Modi der Umstände, die über den physiologisch fundierten Lustanreiz wirken, ergeben sich Verhaltensänderungen. Individuen bilden sich nur um, so Spencer mit brachialer Deutlichkeit, durch die »grausame Zucht, die durch die Natur der Verhältnisse geübt wird.«12 Will man Spencers evolutionistische Ethik mit wenigen Strichen zusammenfassen, dann sind folgende Charakteristika anzumerken: Erstens – Ethik ist zwangsläufig auf die Erfordernisse des Gattungsüberlebens ausgerichtet. Das Individuum bekommt seine Rechte in dem Maße zugesprochen, in welchem diese für die Gattung wichtig und wirksam sind. Zweitens – menschliches Sozialhandeln stellt eine Verbindung von Lustgewinn und Gattungsverantwortung dar. Letztere jedoch ist das entscheidende. Drittens – das ethische Modell des Utilitarismus wird von Spencer an einer entscheidenden Stelle aufgekündigt, nämlich dort, wo er das Prinzip des »größten Glücks für die größte Zahl von Menschen« in die Funktionalität des Staates übergehen läßt, der vor allem für die Interessen der Gattung zu sorgen habe, diese jedoch zunehmend auf Partialinteressen richtet. Das Wertegefälle von Gesellschaft und Staat bis hin zum Individuum ist augenfällig. Damit ist gesagt, daß zumindest Spencers evolutionistische Ethik keine wertneutrale Ethik mit biologischem Begründungshintergrund ist, sondern die Existenz der Kulturmenschheit aus dem biologischen Handlungsrahmen der bisherigen Menschheitsgeschichte ableitet und diesen Entwicklungspfad als den einzig menschengemäßen, einzig wissenschaftlichen und damit einzig ethisch unterstützenswerten wichtet und akzeptiert. Die Entwicklungstheorie in Spencers Sicht begründet die Unabänderlichkeit und den Geltungsanspruch der vorliegenden sozialen und politischen Entwicklungsresultate. 12

Ebd., 149.

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III. Friedrich Nietzsches Skepsis hinsichtlich der kulturellen Kraft Darwinscher Prinzipien Im Unterschied zu Spencer liegt bei Friedrich Nietzsche (1844–1900) keine ausgearbeitete Entwicklungsethik vor, sondern man findet nur viele über das ganze Werk verstreute Anmerkungen und Reflexionen zum Darwinismus und zu Interpretationen Dritter zur ethischen Brauchbarkeit der Lehre des »neuen Messias«13. Doch Nietzsche behandelt Darwin mit spitzen Fingern; erblickte in ihm wohl den »größte(n) Wohltäter der allerneuesten Menschheit«14, vermag jedoch im Kontext zu derartigen Lobliedern nur schwer einen hintergründigen Sarkasmus zu verbergen. Zunächst war für ihn, den großen Hegelspötter und Hegelkenner, der ganze Evolutionismus des Wirklichen nicht denkbar ohne den Tiefblick eben gerade Hegels, »als er zu lehren wagte, daß die Artbegriffe sich auseinander entwickeln; mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten großen wissenschaftlichen Bewegung präformiert wurden, zum Darwinismus […]«.15 Und dann kommt Nietzsches entscheidende Konklusion: »denn ohne Hegel kein Darwin«16. Keine Revolution in den Sachen, im Empirischen, keine Umwertung der Werte aus der Analyse der Werte, nein, die philosophische Vorarbeit erst läßt die Evolutionsidee nicht als pures Auswickeln, sondern als Entstehung von Neuem zu. Entwicklung wird als schöpferische Antwort des Lebens auf sich verändernde Welten denkbar, weil logisch faßbar. Und mit Blick auf David Strauss (1808–1874) rügt er dessen auf den Philisterbeifall abgestellten Bezug auf Darwins Kampf ums Dasein. Nietzsche fordert, die neue Lehre ohne Sensationsgebaren, sondern mit natürlichem Mut vorzutragen, sieht allerdings, daß man mit einer »echten und ernst durchgeführten darwinistischen Ethik« den Philister gegen sich hätte, den man bei allen Ausfällen gegen die öffentliche Ordnung und vor allem gegen Staat und Religion »für sich hat«.17 Auf eine solche darwinistische Ethik hat Nietzsche selbst keinen Anspruch erhoben, vielmehr mit Anstößen zu den verschiedensten Ausbildungen Darwinscher Ansätze laut oder leise Darwin auch weitergedacht. Eine schöne derartige Stelle findet sich in der Schrift Menschliches Allzumenschliches, wo er den in aller Munde befindlichen Kampf ums Dasein durch die feinsinnige Bemerkung regelrecht unterläuft, wonach der Stärkere selbst doch wohl der Gipfelpunkt von Entwicklung sei und damit aus sich heraus keine Verän-

13

F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Ders., Werke in drei Bänden (Werke), hrsg. von K. Schlechta, München 81977, Bd. 1, 183. 14 Ebd., 167. 15 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke, a. a. O., Bd. 2, 226 16 Ebd. 17 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke, a. a. O., Bd. 1, 168.

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derung, keine Entwicklung, keine Bereicherung mehr vollbringen könne. Der Starke ist mithin kein progressives Element in der Evolution! Dies aber komme von dem Feinsinnigen hinzu; »gerade die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten überhaupt erst möglich«.18 Damit ist dieser Kampf ums Dasein schlichtweg als markantester Entwicklungsfaktor relativiert, ja, um es mit Nietzsches Intention zu sagen, hintertrieben. Daß andernorts dieser Kampf ums Dasein in Nietzsches Genealogie der Moral zum Begründungsbild der weltgeschichtlichen Sendung der Starken aufgerüstet wird, ist typisch für Nietzsches Denken in Gegensätzen in einer Welt, die längst keine lineare Entwicklung mehr kennt. Aber auch dieses Votum für die »Stärksten und Glücklichsten« entspringt aus der enttäuschten Sicht auf die Realität dieser konkreten Welt – denn wo ist sie denn, die Wahrheit dieses Satzes, wonach sich jene Starken und Glücklichen durchsetzen? Nirgendwo, während das »unerwünschte Schauspiel« in dieser Welt so aussieht, daß »die Niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind«.19 Es ist doch überall das Gegenteil von dem verwirklicht in dieser Welt, »was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will«.20 Es ist unschwer zu erkennen, daß Nietzsches Darwin-Interpretation auf den tiefen Widerspruch hinausläuft, den er zwischen Theorie und Realität von Darwins Theorie erblickt, sobald man diese auf die Geschichte der Menschheit ausdehnt. Das ist auch dort der Fall, wo er die interessante Bemerkung macht, wonach Darwin »den Geist vergessen« hat. Die Schwachen haben ihn, weil sie ihn nötig haben – und man verliert ihn, wenn man selbst stark ist und den Geist nicht mehr nötig hat. »Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes«.21 Um dann zu definieren: »Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend)«.22 So ist in Nietzsches Augen all das am Darwinismus grundverkehrt, was das Individuum in die große Masse stellt. Als größter Fehler Darwins wird gebrandmarkt: »Der Einfluß der ›äußeren Umstände‹ ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die ›äußeren Umstände‹ ausnützt, ausbeutet […].«23 Im evolutionstheoretischen Diskurs erscheint eine solche Interpretation der Innenfaktoren evoluierender Systeme erst ein halbes Jahrhundert später!24 Und 18 19 20 21 22 23 24

F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke, a. a. O., Bd. 1, 584. F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Werke, a. a. O., Bd. 3, 749. Ebd., 748; kursiv im Original. F. Nietzsche, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, in: Werke, a. a. O., Bd. 2, 999. Ebd. F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Werke, a. a. O., Bd. 3, 889. Und zwar bei Th. Dobzhansky, Die genetischen Grundlagen der Artbildung, Jena 1939.

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er hat auch eine physiologische Erklärung für diesen Vorgang parat: »Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt, aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.25 Evolution ist ein subjektinternes Phänomen – und so ist die gesamte Evolution in Nietzsches Sicht eine subjektbedingte Aneignung des Äußeren durch das Innere, ist schöpferische Antwort auf sich wandelnde äußere Umstände. Über die Art und Weise, wie sich biotisch Äußeres in Inneres umsetzt, hat sich Nietzsche bei Wilhelm Roux (1850–1924) orientiert, dem großen Jenenser Entwicklungsbiologen, der in den achtziger Jahren mit seiner Schrift über den Kampf der Teile26 einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Darwinismus leistete, was der greise Darwin noch zur Kenntnis nahm und mit hohem Lob bedacht hat.27 Für das hier interessierende Problem scheint es schon wichtig zu sein, daß Nietzsches individualistische Ethik mit Roux’ Grundauffassung über den Mechanismus der Evolution zusammenstimmt; und das insofern, als hier eine philosophische These auf die damals modernste Version der biotheoretischen Literatur bezogen wird.28 Überhaupt ist der Eindruck, den man nach der Lektüre der Darwin-Passagen in Nietzsches Schriften einerseits und andererseits der Hochschätzung der Entwicklungsethik Nietzsches, wie wir sie beispielsweise bei Alexander Tille (1866–1912) vorfinden, zwiespältig.29 Nietzsche fand bei Darwin wohl wichtige Schlagworte für seine eigene Ethik der Starken gegen die Schwachen, aber die Sprengkraft des darwinistischen Ansatzes war in seinen Augen durch die philiströse überkommene Moral entscheidend behindert. Vergleichen wir diese Stichpunkte Nietzsches mit der ausgearbeiteten evolutionären Ethik Spencers. Zwischen beiden liegen Welten! Für Nietzsche taugt die ganze Ableitung der beiden Grundkategorien des Guten und des Bösen in der Spencerschen Sicht nichts. Der eigentliche Ursprung des Gegensatzes

25

F. Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Werke, a. a. O., Bd. 1, 1889 / 90; kursiv im Original. 26 W. Roux: Der züchtende Kampf der Theile oder die ›Theilauslese‹ im Organismus (1881), in: W. Roux, Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen, Bd. 1, Leipzig 1895. 27 In einem Brief an G. J. Romanes hat Darwin dieses Werk von Roux bezeichnet als das »bedeutungsvollste Buch über Entwicklung, welches seit einiger Zeit erschienen ist«. Siehe W. Roux, Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., 141. 28 Vgl. dazu W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), 189–224. 29 A. Tille, Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik, Leipzig 1895. Siehe auch: A. Tille, Charles Darwin und die Ethik., in: K. Bayertz (Hg.): Evolution und Ethik, Stuttgart 1993, 49–66.

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von gut und schlecht liegt für Nietzsche im »Pathos der Vornehmheit«.30 Das Gute ist damit ein personell Höheres, ist Ausdruck einer vornehmen Selbstbeherrschung, die überall dort fehlt, wo man kriecherisch dem andern recht gibt, um sich doch damit nur selbst zu loben.31 Ich kann mir weitere Textstellen Nietzsches ersparen – deutlich wird, daß Nietzsches Ansatz zur Rekonstruktion einer evolutionären Ethik dem Spencerschen direkt gegenüberliegt. Die Evolution verlief konträr zu Darwin; die wichtigsten Entwicklungsformen der Menschheit sind in diesem Prozeß, so Nietzsche, verloren gegangen. Denn die Kriterien von Evolution liegen im Außergewöhnlichen, nicht in einer wie man heute sagen würde Systemlogik der Gene. Auf der anderen Seite liefere gerade Darwins Theorie den Unterbau für die Philistermoral. Alles, was uns ethisch begegnet in dieser Welt, steht in der Tradition der Vorurteile dieser Welt der Verzärtelten, Verweichlichten, der Mitleidigen. Nietzsche aber haßt die Verweichlichung wie auch die Hochwertung des Altruistischen gegenüber dem Egoistischen. Anliegen seiner Schrift ist es, die Herkunft dieser Vorurteile aufzuweisen.32 Aber diese menschliche Moralgeschichte ist schwer zu entziffern – viel zu leicht machen es sich die Spencer und Co., um deren Hieroglyphen aufzuklären. Auch einem Dr. Rée wird bescheinigt, diese Hieroglyphen nicht zu kennen; aber, so Nietzsche im hinreißenden Spott, er hatte den Darwin gelesen – und »so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die uns zum mindesten unterhaltsam ist, die Darwinsche Bestie und der allermodernste bescheidene Moral-Zögling, der ›nicht mehr beißt‹, artig die Hand«.33 Der Verweis auf diesen Dr. Rée bezieht sich auf die Schrift eines eher unbedeutenden philosophierenden Schriftstellers zur darwinistischen Ethik, Paul Rée (1849–1901), der als Fünfundzwanzigjähriger 1874 in Basel mit Friedrich Nietzsche zusammentraf und mit diesem Freundschaft schloß, die allerdings nur kurze Zeit währte. Rée war von der englischen utilitaristischen Ethik stark beeinflußt, was in seinem 1877 erschienenem Buch Der Ursprung der moralischen Empfindungen eher versteckt weil unzitiert zum Ausdruck kommt. Nietzsche erwähnt Rée vor allem in der Genealogie der Moral und zieht dessen Werk an mehreren Stellen zu Rate, jedoch in überaus distanzierter Form.34 30

F. Nietzsche, Die Genealogie der Moral, in: Werke, Bd. 2, 773. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Werke, Bd. 2, 749. 32 Ebd., 763. 33 Ebd., 769. 34 Daß Rée einen »großen Einfluß« auf Nietzsches »Genealogie der Moral« gehabt haben soll, wie in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie behauptet wird, kann man aus den Textstellen Nietzsches zu Rée eigentlich kaum herauslesen. Es ist viel eher distanzierte Ablehnung, die aus Nietzsches Worten spricht. Vgl. W. Killy / R. Vierhaus (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, München 1998, 183. Nietzsche spricht die Distanz zu Rée in der »Genealogie« insbesondere auf S. 766 unmißverständ31

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Rées Buch ist aus heutiger Sicht eine recht primitive Interpretation Dutzender biologischer Beispiele ohne theoretische Spannweite. Nur eine dieser Analogien sei vorgestellt: Da die Affen als die Vorfahren des Menschen bereits über »sociale Instincte« verfügten, so erkläre es sich, daß der Mensch, als er sich aus dem Affen entwickelte, schon den Trieb in sich hatte, »auch für andere Menschen zu sorgen. Wer einen solchen Trieb hat, wird Freude darüber fühlen, dass andere glücklich sind (unegoistische Mitfreude) und Schmerz darüber, dass sie unglücklich sind (unegoistisches Mitleid)«.35 So werden die wichtigsten ethischen Begriffe ziemlich oberflächlich durchdekliniert und alte Vorurteile erneut geschürt – so wird die Eitelkeit besonders dem weiblichen Geschlechte mahnend vorgehalten. Um die Abklärung der Begriffe des Eigennutzes und des Altruismus werden regelrechte Eiertänze nach dem Motto »sowohl als auch« ausgeführt; so, wenn der eigennützige Arzt, der nur wegen des Geldes seine Patienten kuriere, eben doch unter der Hand Gutes tut, weil das ja für seine Klienten nützlich ist. Aber dennoch wird dann das Unegoistische als das Nützliche empfunden, aber festgestellt, daß der Mensch »durchaus Egoist« sei, weil er über so viele unersättliche Triebe verfüge wie nicht einmal sein Vetter, der Affe.36 Aber beides, das Egoistische wie das Unegoistische, sei angeboren. Daß nur das eine davon löblich sei, habe sich dann in der Kulturentwicklung gezeigt. Und so hangelt sich unser Autor von einer Banalität zur anderen. Man muß natürlich auch sagen, daß in den Schriften nicht weniger Naturforscher jener Zeit, die sich auf ähnliche Verhaltensanalogien zwischen Tier und Mensch wagten, in aller Regel nichts Besseres herausgekommen ist. Auch Darwin hat das Prinzip der natürlichen Auswahl auf die wünschenswerte Ausmerzung der Idioten, Krüppel und chronisch Schwerkranken ausgedehnt und war überzeugt davon, daß dadurch, daß sich die schwachen Individuen fortpflanzen können, »dies äußerst nachteilig für die Rasse ist«.37 Bleibt unterm Strich, daß Nietzsche dem Evolutionsgedanken weitaus mehr abgewinnt als vergleichsweise Spencer und nahezu alle Epigonen der utilitaristischen evolutionären Ethik. Nur wenige Autoren gingen mit vergleichbarer Souveränität an das schwierige, aber doch auch verlockende Geschäft der Prolich aus: »Vielleicht habe ich niemals etwas gelesen, zu dem ich dermaßen, Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir nein gesagt hätte wie zu diesem Buche«, während er in einer früheren Schrift wohl auf Sätze aus Rées Buch Bezug nahm, dabei jedoch »an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend«. (F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Werke, Bd. 2, 766.) 35 P. Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz 1877, 8. 36 Ebd., 12. Dann wird den Kommunisten bescheinigt, sie würden sich irren, wenn sie die Menschen für gut hielten, »während sie schlecht sind« (ebd., 16). 37 Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen (1871), Volksausgabe von H. Schmidt, Leipzig o. J. (1908), 94.

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duktion neuer Ethiken. Erwähnt seien William Salter und Georg von Gizycki; letzterer in einem Artikel in der Deutsche[n] Rundschau 1885, wo er den Motor der Evolution auf die bewußte Tat des Individuums projiziert hat. Die Evolution ist nichts, was sich gewissermaßen außer und über uns vollziehe, sondern »die Evolution wirkt durch Euch und mich«!38

IV. Die sozial-ethische Ausschöpfung des Darwinismus durch die sozialistische Literatur Es ist in der ideengeschichtlichen Literatur durchaus nicht allbekannt, daß die sozialistische bzw. arbeiterkommunistische Literatur vor der Entstehung des Marxismus eine ausgesprochen naturtheoretische Komponente hatte. Diese bestand – hier ganz summarisch zusammengefaßt – in der Überzeugung vom Eingebettetsein des Menschen in eine kosmische Harmonie, die gebieterisch einforderte, daß der arbeitende Mensch ein naturgemäßes Leben führen müsse.39 Dazu gesellte sich die Überzeugung vom Einbeschlossensein des Menschen in eine gestaltbare Umwelt, in deren Gestaltung er sich selbst entwickelt und immer weiter vervollkommnet. Ganz zentral war dieser Sozialtheorie der Grundwert der Gesundheit. Nicht die Gattung, sondern das Individuum stand im Mittelpunkt. Die Evolution (naturtheoretisch im Lamarckschen Sinne) wurde über die aktive Rolle des Menschen realisiert; im Mittelpunkt stand die bewußte soziale Tat.40 Die Rezeption des Darwinismus hat diese Positionen zunächst nicht berührt. Das sozialtheoretische Interesse am Darwinismus nahm nun jedoch in dem Maße zu, in dem sich die allgemeinen Lebensbedingungen des Proletariats durch die rapide ansteigende Industrialisierung verschlechterten. Die damit verbundene fortschreitende Urbanisierung, der rasche Anstieg der Bevölkerungszahlen sowie die zunehmenden physischen wie psychischen Belastungen im Arbeitsleben bedingten eine Entwicklung, die sowohl in der bürgerlichen Sozialtheorie wie in der proletarischen Literatur als bedrohlich eingeschätzt wurde. Insbesondere die Frauenarbeit unter äußerst gesundheitsgefährdenden Bedingungen, die Kinderarbeit, die ansteigende Arbeitsinvalidität, der als keimschädigend geltende, mit diesen miserablen 38

G. v. Gizycki, Darwinismus und Ethik, in: Deutsche Rundschau Bd. XLIII (1885), 281. Siehe auch W. Salter, Die Religion der Moral, Leipzig 1885. 39 Näher ausgeführt in R. Mocek, Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt / M. u. a. 2002, 109–163. 40 Wichtige Vertreter dieser Überzeugungen waren u. a. Théodore Dézamy (1808– 1850), Wilhelm Weitling (1808–1871) und Roland Daniels (1819–1855). Von Interesse ist die Übereinstimmung in diesem Punkte mit Salter und Gizycki!

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Lebensbedingungen ursächlich verbundene Alkoholismus, die auch dadurch bedingte Zerstörung vieler Arbeiterfamilien, die Prostitution und vieles andere wirkten in verheerender Weise zusammen. All das erweckte den Anschein, als ob der sich vehement entwickelnde Kapitalismus die menschliche Reproduktion fundamental gefährde. Auf diesen keineswegs beiläufigen Sachverhalt muß aus heutiger Sicht tatsächlich mit Nachdruck hingewiesen werden, weil bereits mit Beginn des 20. Jahrhunderts von der inzwischen kundigen Genetik festgestellt wurde, daß es sich hier um einen rein umweltinduzierten phänotypischen Vorgang mit allerdings massenhafter Ausprägung gehandelt hat. Diese genetische Entwarnung ließ bald schon die Sorge um diesen Vorgang vergessen machen. Die allgemeine Degenerationsangst war also aus heutiger Sicht weitgehend unbegründet; viel eher mußte man sich Sorgen machen um die reale Not der Betroffenen, nicht aber um die Fortexistenz der Menschheit. Das ändert aber nichts daran, daß man das über Jahrzehnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig anders gesehen hat. Friedrich Albert Lange (1828–1875) sprach in seiner Schrift Die Arbeiterfrage 1865 von »Verwüstungen«41, die der kapitalistische Kampf ums Dasein in die Gesellschaft getragen habe, und zitiert aus dem Bericht der englischen Gesundheitskommission von 1863 über die Lage der Töpfer, wo es heißt: »Die Töpfer als eine Klasse, Männer und Weiber, repräsentieren eine entartete Bevölkerung, physisch und geistig entartet«.42 Und weiter: »Die ungesunden Kinder werden ihrerseits ungesunde Eltern, eine fortschreitende Verschlechterung der Rasse ist unvermeidlich«.43 Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand – sowohl in der bürgerlichen wie in der proletarischen Politik und Literatur wurde nach Mitteln und Wegen gesucht, um diesem Entartungsprozeß entgegenzusteuern. Da vor allem die Arbeiterbevölkerung betroffen war, konnten sich die Sozialisten in dieser Frage natürlich nicht bedeckt halten. Die Forderung nach einer durchgreifenden Verbesserung des Arbeitslebens allein genügte da nicht, war man doch überzeugt, daß eine soziale Revolution für die Lösung dieses Problems zu spät kommen würde. Jetzt schon müsse man handeln – und Darwins Lehre vom Kampfe ums Dasein, aber auch die von der natürlichen Zuchtwahl bot sich dafür an! Der erste proletarische Schriftsteller, der diesen evolutionstheoretischen Gedanken zur züchterischen Verbesserung der Menschheit aufgriff, war August Bebel (1840–1913). Dabei tut es an dieser Stelle nichts zur Sache, daß Bebels derartige Passagen in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus gegenüber dem Hauptanliegen dieser Schrift, nämlich die gesellschaftstheoretischen wie 41

F. A. Lange, Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, (1865), Berlin 1910, 64. 42 Ebd., 113; im Original gesperrt. 43 Ebd.

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sozialethischen Grundlagen für die Gleichberechtigung der Frau als Forderung des Tages darzutun, eher randständig sind. Aber sie markieren den Einstiegspunkt einer sozialistischen Darwinrezeption mit der eindeutigen Tendenz, die Gesetze Darwins, vor allem das Zuchtwahlgesetz, für die Höherentwicklung der menschlichen Gattung gezielt einzusetzen. Sehen wir uns einige Kostproben aus Bebels Schrift an: »Will man über die Entstehungsursachen und Weiterentwicklung guter wie schlimmer Eigenschaften der Geschlechter, oder auch ganzer Völker sich klar werden, so muß dieselbe Methode angewendet, müssen dieselben Gesetze zu Rathe gezogen werden, welche die moderne Naturwissenschaft für die Untersuchung über die Entstehung und Ausbildung der Gattungen und die Entwicklung ihrer Charaktereigenschaften in der organischen Welt in Anwendung bringt. Also jene Gesetze, welche nach ihrem Haupt-Entdecker vorzugsweise die Darwinschen genannt werden und sich aus den materiellen Existenzbedingungen, der Vererbung und Anpassung, resp. Züchtung und Erziehung erklären.«44 Diese Gesetze macht er zuerst für die Anpassung des weiblichen Geschlechts an die sittlichen und sozialen Gegebenheiten der Männerwelt verantwortlich. Danach ist die »sprüchwörtlich gewordene Frauenfrage wie die sprüchwörtlich gewordene […] Geduld und Sanftmuth der Frauen nur das anerzogene und anererbte Resultat der Tyrannei der Männer, das Resultat vieltausendjähriger Zucht und Vererbung […], das auch auf diesem Gebiet Darwin’s Entdeckungen zu Ehren bringt«.45 Aber auch die kritikwürdigen Eigenschaften des weiblichen Geschlechts sieht er in dieser Naturgesetzlichkeit verankert. Dazu gehöre die »gefürchtete Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung, über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltungen zu führen, die Gedankenführung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der Hang für alle Modetorheiten, leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen«.46 Das alles seien »in hohem Grade ererbte Anlagen«.47 Und dann lobt er unter deutlichem Bezug auf diese leidigen Eigenschaften die sorgfältig vorgenommene Zuchtwahl im alten Sparta und in Platons Idealstaat.48 Den Geschlechtstrieb bezeichnet er als die »Inkarnation des menschlichen Wesens«, der gebieterisch seine Befriedigung verlange bei »Strafe schwerer körperlicher und geistiger Leiden«.49 Daß hier die »alten Jungfern« zum Beweise herhalten müssen, versteht sich fast von selbst. So be-

44 45 46 47 48 49

A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), Berlin / Stuttgart 1891, 113. A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin ³1892, 33. Ebd., Ausgabe 1991, 113. Ebd. Ebd., Ausgabe 1959, 200. Ebd., Ausgabe 1891, 123.

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wegt sich Bebel seitenlang in Vorurteilen, die schließlich darin gipfeln, daß er allen Ernstes von einer anzustrebenden physischen Gleichrangigkeit von Mann und Frau spricht, die künftig einmal die anthropologischen Defizite der Frau gegenstandslos machen würde. Einen solchen Zustand zu erzielen sei jedoch auch wiederum nur eine Frage der Erziehung, oder, »naturwissenschaftlich derb ausgedrückt, der Züchtung«.50 Kurz gesagt, der Mensch der (sozialistischen) Zukunft wird unter Zuhilfename darwinistischer Zuchtregeln erstellt! Es soll an dieser Stelle eingefügt werden, daß diese Ratschläge Bebels in der realsozialistischen Gesellschaft alle unter den Tisch gefallen sind; man weiß nicht so recht, wem man danken soll! Denn sowohl einer der Fortsetzer des biologistischen Arbeitersozialismus – Karl Kautsky (1854–1938) – als auch die Volkskommissare Nikolai Alexandrowitsch Semaschko (1874–1949) und Anatoli Lunatscharski (1875–1933) hatten ein ausgesprochenes Faible für eine darwinistisch fundierte Verhaltensethik im jungen Sowjetrußland. Ersterer, indem er für einen sozialistischen Zukunftsstaat eine rassenhygienische Institution einzurichten vorschlug;51 die beiden letzteren, indem sie Liebe und Fortpflanzung gesetzesnotorisch strikt zu trennen suchten und allein die Liebe als Privatsache akzeptierten, jedoch sämtliche Fragen der Fortpflanzung zur Angelegenheit des Staates erklärten. Eine eugenisch bewußte Partnerwahl und der Verzicht auf Nachwuchs bei schlechter Indikation gehörten dabei zu den sittlich geforderten individuellen Verhaltenserwartungen des Staates an seine Bürger.52 Erst mit Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden diese gefährlichen Tendenzen einer rigiden Sexual- und Fortpflanzungsethik in der UdSSR zurückgedrängt; nicht zuletzt durch Argumente aus den Reihen der russischen Genetik, die damals noch weltweit führend war und nicht im Schatten Lyssenkos stand. Für Kautsky wie für eine stattliche Reihe nachfolgender sozialistischer Autoren, von denen an dieser Stelle nur Oda Olberg (1872–1955), Henriette Fürth (1861–1938) und Alfred Grotjahn (1869–1931) genannt werden sollen, war die individuelle Befolgung der Vererbungsgesetze in einer strengen eugenischen Auslegung die Voraussetzung der sozialistischen Ethik. Die Wahrung einer strengen Erbhygiene wird regelrecht zum Kriterium eines sozialistischen Gewissens ausgerufen und die öffentliche Meinung wird aufgefordert, die Befolgung dieser neuen Sittlichkeit zu überwachen. Wie sich die Kautsky & Co

50

Ebd., 194. K. Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart 1910, 258 ff. 52 A. S. Serebrovskij, Antropogenetika i evgenika v socialisticeskom obscestve, in: Medico-Biologiceceskij Zurnal Bd. 5 (1929), 3–19. Deutsch von G. Preissler in: L. Weß (Hg.): Die Träume der Genetik, Nördlingen 1989. 51

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den neuen eugenisch profilierten sozialistischen Bürger vorgestellt hatten, soll mit einem Zitat Kautskys gezeigt werden. »Ein neues Geschlecht wird erstehen, stark und schön und lebensfreudig, wie die Helden der griechischen Heroenzeit, wie die germanischen Recken der Völkerwanderung, die wir uns als ähnliche Kraftnaturen vorstellen dürfen, wie etwa heute noch die Bewohner Montenegros […].«53 Hier wäre die Frage anzuschließen, welche Unterschiede es zwischen diesem sozialistischen Sozialdarwinismus und seiner »bürgerlichen« Spielart gegeben hat. Dieser Sozialdarwinismus war weitaus verbreiteter und ist zudem in der Literatur weit ausführlicher behandelt. Ich kann mich an dieser Stelle auf ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Sozialdarwinismen bezüglich ihrer ethischen Konsequenzen beschränken; die sozialistische Eugenik wollte die Durchführung des Programms hin zum »neuen Menschen« nur in die Hände einer Interessenvertretung aller legen, also den sozialistischen Staat, beraten durch rassenhygienische Ämter und wissenschaftliche Kontrolle. Doch ohne Restriktionen, so war man überzeugt,54 wird es wohl nicht ablaufen. Aber der kapitalistische Staat soll gefälligst die Hände von der Eugenik lassen, denn er würde die Eugenik lediglich im bürgerlichen Klasseninteresse durchführen. Das Illusionäre dieser Argumentation muß hier nicht weiter begründet werden, die Geschichte ist Argument genug. Daß im Faschismus selbst die schlimmsten Befürchtungen gegenüber einer drohenden eugenischen Politik weit übertroffen wurden, hat alle sozialdarwinistischen Menschheitsverbesserungslosungen ad absurdum geführt.

V. Ethik für den »modernen Menschen« – Bartholomäus von Carneri und Ludwig Büchner Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts schießen die neuen Ethiken wie Pilze aus dem Boden. Darwin war inzwischen in aller Munde, und die Abprüfung der traditionellen kulturellen Gegebenheiten und Werte vor dem Richterstuhl der neuen Wahrheiten stand auf der Tagesordnung. Alles war neu zu durchdenken – das ganze überkommene religiöse wie wissenschaftliche und geistig-kulturelle Erbe stand buchstäblich zur Disposition. Entsprechend umfassend fielen die neuen den darwinistischen Lebensgeist propagierenden Schriften aus. Ludwig Büchner (1824–1899) vor allem setzte die Maßstäbe und schreckte dabei nicht davor zurück, überkommene Institutionen einer fundamentalen Kritik zu unterziehen, jedoch gleichzeitig den rationellen Kern 53 54

K. Kautsky, Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft, a. a. O., 267. Vgl. u. a.: O. Olberg, Die Entartung in ihrer Kulturbedingtheit, München 1926, 20.

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der modernen Lebenskultur herauszupräparieren und in das Gefüge der neuen Weltanschauung, der darwinistischen eben, einzupflanzen.55 Doch die Darwinrezeption hatte nach der religiösen und Sozialkritik der ersten progressiven Periode vor allem im Deutschen Reich eine interessante Wendung vollzogen. Neuere Sozialtheorien fanden in Darwin durchaus Anknüpfungspunkte für die Permanenz des Bisherigen.56 Man hatte keineswegs bislang an die falschen Götter geglaubt. Bartholomäus von Carneris (1821–1909) Gottüberall weist die religiösen Mißbräuche, das Pfaffentum und ein Hineinreden der Religion in die Naturwissenschaft entschieden zurück. Doch anstelle eines atheistischen Gegenbildes macht er auf den wahren Heiland aufmerksam, und dessen Bild ist doch nichts anderes als das Lebensbild des modernen wissenschaftsgebildeten Menschen.57 Ludwig Büchner warnt vor der Demokraten-Pest58 und weiß sich eins mit den konservativen Kräften Preußens und des ganzen Landes, wenn er die Sozialisten, Demokraten und alle anderen Weltverbesserer energisch in die Schranken weist. Der Darwinismus eignet sich plötzlich als neues Wahrheitsband für den Fortbestand des alten Regimes! Bartholomäus von Carneri weiß um die Kraft des gebildeten Konservatismus, um im Gewande Darwins den modernen Menschen der Zeit vorzustellen. Aber die Orientierung an den alten Werten muß diese vom Muff der Zeiten befreien. Der Glückseligkeitstrieb, den von Carneri wie Feuerbach zum Kernpunkt seiner Ethik erklärt, habe sich in ein lusterheischendes BefriedigtseinWollen vergossen. Die Jagd nach ständig neuen Glückserlebnissen aber stumpft ab. Um die »wahre Glückseligkeit« auf den Weg zu bringen, komme es darauf an, gegen das »widernatürliche Ziel« der neueren Erziehungstheorien anzukämpfen und dem verbreiteten Kollektivismus wieder das Ideal des Individualismus entgegenzustellen. Darwinismus ist für von Carneri in diesem Zusammenhang die Einsicht, daß man die aus der Entwicklungslehre sich ergebenden Konsequenzen hinsichtlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit auch zieht, aber eben so, daß daraus die Stellung des Menschen als oberster Wert der Evolution nicht gekippt, sondern gestärkt wird. Dazu gehören auch Neuerungen hinsichtlich überkommener Wertvorstellungen und Ordnungen. Keine Kirche mehr über dem Staat, fordert er. Aber auch die Wissenschaft ist nicht nur der 55

L. Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung. Nebst einer darauf gebauten Moral oder Sittenlehre (1855), Leipzig 161888. 56 Auch der Keplerbund und Kreise der Kirche fanden bald schon Darwinismus und religiöse Ethik für durchaus vereinbar – vgl. dazu G. Jaeger, Die Darwin’sche Theorie und ihre Stellung zu Moral und Religion, Stuttgart 1869. 57 B. von Carneri, Der moderne Mensch. Versuche über Lebensführung (1890), Leipzig 5 1901. 58 L. Büchner, Fremdes und Eigenes aus dem geistigen Leben der Gegenwart, Leipzig ²1890, 234.

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große beglückende Hauch von Entwicklung, der sich über uns legt, sondern sie ist Wissen um die großen Veränderungen allein des letzten Jahrhunderts, um den großen praktischen Nutzen von Erkenntnis, woraus unsere Erde sich endgültig von einem Jammertale freimachen wird. Von all diesem Neuen wird der moralische Fortschritt mitgerissen und wird so zu einem Teil des allgemeinen Menschheitsforschritts. Beide zusammen machen dem Menschen die Erde untertan, aber ohne Überhebung, ohne Egoismus. Und von Trostlosigkeit weiß die Entwicklungslehre nichts. Aber all das muß erarbeitet werden! »Nur der arbeitende Mensch ist ein ganzer Mensch«, ruft er aus.59 Das ist der Begriff des wahrhaften Glücks; er durchdringt das gesamte Empfinden und Erkennen und hilft auch unser moralisches Dasein zu veredeln. Aber von selbst, vom Müßiggang gar, ist nichts zu erwarten. »Denn auf dieser Erde können wir wohl die Hölle finden, aber auch den Himmel«.60 Von dieser Grundlage aus streift von Carneri durch ein ganzes ethisches Wörterbuch und prüft, wie sich diese traditionellen und festgelegten Begriffe mit der Entwicklungsethik vereinbaren lassen. Dabei geht er davon aus, daß der Mensch ganz im Zeichen seiner natürlichen Herkunft steht und »von Haus aus ein böses Tier« ist.61 Sich für den anderen zu opfern, widerstreitet der menschlichen Natur. Wie nun ist aus diesem Dilemma herauszukommen und zu einer Ethik edlen Menschseins zu gelangen? Eine Antwort auf diese Frage findet von Carneri in den durchaus zahlreichen Beispielen, in denen sich Menschen für andere Menschen oder Ideale aufgeopfert haben. Es ist also möglich, daß sich dieses egoistische Tier »Mensch« aus dem bloßen Selbsterhaltungstrieb so weit herauslösen kann, daß es seine Triebe mit den Bedürfnissen anderer zu koordinieren vermag. Das aber ist letztlich, so ist von Carneri überzeugt, nur dann überhaupt möglich, wenn er dabei höchstes Glück erfährt! Vollbringt er das, dann hat er durch ein solches Streben derart sein Ich erweitert, daß er sich als ein höheres Individuum fühlt und erkennt. Insofern gibt es im Menschen auch keine guten und bösen Triebe, sondern nur rohe, die sich insbesondere in den frühen Kindheitstagen zeigen. Sie zu veredeln, ist Sache der Erziehung. Da Triebveredlung Sinnengenuß ist, kann Erziehung lustvoll sein. Gerade aber dem widerstreitet unsere Erziehungspraxis, davon ist von Carneri fest überzeugt. Denn dieses System veredele nicht die menschlichen Triebe, »sondern verstümmele sie«!62 Auch der vordergründige Nutzensstandpunkt des Utilitarismus sei verfehlte Erziehungspraxis, da hier nur an den Verstand appelliert werde, nicht jedoch an das Gefühl. Aber es ist der ganze Mensch, der fühlt, 59 60 61 62

B. von Carneri, Der moderne Mensch, a. a. O., 8. Ebd., XI. Ebd., 13. Ebd., 17.

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denkt und will! Nur so kann der Mensch zu einem altruistisch handelnden Individuum werden; das andere ist, ihn zum sittlichen Krüppel zu machen. So könnte man von Carneri nun über die ganze Liste seine ethischen Stichworte referieren; Gerechtigkeit, Nervosität, Leidenschaft – emporlodernde Leidenschaft ist eine Flamme des Fortschritts! Und das Gute ist »identisch mit Fortentwicklung«.63 Gottes Idee bekommt nur in Verbindung mit der Natur ihren Sinn, erklärt er im vollen spinozistischen Überschwang. Und nur der Religionslose kümmert sich um das Wesen der Dinge, während es dem Gläubigen selbstverständlich ist. Die Wahrhaftigkeit ist Anfang und Ende aller Ethik! Zu fordern ist sie von Jedem; da vieles in der Welt relativ ist und wir nur wenig wissen, wird sie stets unvollkommen bleiben; umso mehr ist sie einzufordern.64 Weitere sittliche Werte, die alle aus der Naturgeschichte des Menschen stammen und vom veredelten Menschsein mit Lustgewinn realisiert werden, bilden die Liebe und die Familie. Die Liebe ist die »Goldprobe des richtig entwickelten Individuums«, eine das »ganze Leben durchflutende Seelensymphonie«.65 In diesem Zusammenhang betrachtet sich von Carneri als Anhänger der mechanischen Weltanschauung, fügt aber hinzu, daß eine solche einem »lebenswarmen Realidealismus« keineswegs fremd gegenüberstehe, nur den Spiritualismus ablehne.66 Die Emanzipation des Weibes stehe zwar im Widerspruch zur naturgegebenen Arbeitsteilung, aber die Frau ist nicht nur ein halber Mensch! Ebenbürtigkeit ist das mindeste, was hier einzufordern ist; und wer sagt denn, daß die Arbeit des Weibes weniger wichtig ist als die des Mannes?67 Was aber sollen tradierte Werte wie das Ehrgefühl? Hier spricht die Macht einer falschen Erziehung, zumal wenn man ganz in einer Gesellschaft aufwächst, die von diesem Gefühl durchdrungen ist! Das unsägliche Duellwesen habe bereits Schopenhauer zur Genüge entlarvt und als »Narrenkodex« bezeichnet.68 Jedoch ist Ehrgefühl, auf höhere Werte bezogen (natürlich, das Vaterland), unverzichtbar. Aber gerade die an diesem Beispiel sichtbare Zwieschlächtigkeit vieler Werte muß vorsichtig stimmen. Und so manchem Priester, der damit droht, man könne die Liebe Gottes verlieren, ist entgegenzutreten mit dem Wissen um das Wort des Gottessohnes, wonach Gott alle Menschen mit gleicher Liebe umfängt.69 Und auch dem Tod begegnet die Evolutionsethik anders als es unsere Traditionen verlangen. Der Tod ist nichts Schreckhaftes, er ist die ewige Ruhe, ist kein Unglück. 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., 71. Ebd., 64. Ebd., 75. Ebd., 103. Ebd., 75. Ebd., 100. Ebd., 105.

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Manche sittlichen Kategorien haben einen Doppelsinn, so die Duldsamkeit, die sowohl für jedes Individuum, aber auch für die Beziehungen zwischen den Staaten von größter Bedeutung ist. Wenn die Staaten die Duldsamkeit auf ihre Fahnen schreiben, dann ist die eigentliche Zivilisation angebrochen.70 Auch der Rassenbegriff gehört zu diesen sittlich relevanten Worten. Die Entwicklungsethik geht davon aus, daß jede Menschenrasse besondere Schwächen und Fehler aufweise!71 Manch Bemerkenswertes bietet von Carneri. Man ist versucht zu fragen, wo gibt es heutzutage noch eine solche Ethik? Und man vergleicht sofort, was andere damals von verschiedensten Seiten herausgebrachte, auf den Darwinismus bezogene Ethiken zu bieten haben. Blicken wir deshalb noch kurz in Büchners Kraft und Stoff, wo ja, als Anhang, eine darwinistische Ethik vorgestellt wird. Doch die Enttäuschung ist schon groß, denn Büchner geht hier nur auf ganz prinzipielle Ableitungen ein. Die gleich eingangs gestellte Frage, was die Begriffe Tugend und Sünde bedeuten, wenn man keine höheren Mächte anerkennt und nicht von der gottgegebenen Sittlichkeit ausgehen wolle,72 beantwortet er im Grunde nicht. Unsere Moral, so behauptet er, ist durch lange Übung und Erfahrung zustande gekommen. Auf die aktuelle Situation übertragen, wird als grundlegend erachtet, was die Gesellschaft »zum gegenseitigen Besten als gut oder nützlich erkannt hat«.73 Als Basis des zwischenmenschlichen Verhaltens gilt einzig das Prinzip der Gegenseitigkeit.74 Obwohl Büchner von Carneri zustimmend zitiert, geht er auf keine einzige ethische Konfliktsituation wirklich ein. Das Zitat findet sich dort, wo Büchner, von Carneri folgend, den traditionellen Satz »Thue was Du mußt!« durch die moderne, auf die Naturwissenschaft gegründete Ethik ersetzt: »Thue, was Du kannst!«75 Im Zustand der Wildheit gebe es nur die allgemeinen Antriebe der tierischen Soziabilität; mit dem Aufkeimen der Moral werde diese zum »Gesetz der gegenseitigen Achtung des allgemeinen, wie des privaten gleichen Menschenrechtes zum Behuf der Sicherung allgemeinen Menschenglücks«.76 Aber Büchner ist sich im klaren, daß eine vorgebliche »höhere Moral« nur dann in Erscheinung treten könne, wenn es gelingt, den privaten Egoismus mit den Interessen des Gesamtwohls zu versöhnen. Aber davon könne längst noch nicht die Rede sein, denn im Grunde genommen bildet die Eigenliebe die Grundlage

70 71 72 73 74 75 76

Ebd., 117. Ebd., 119. L. Büchner, Kraft und Stoff, a. a. O., 478. Ebd., 485. Ebd., 486. Ebd., 487. Ebd., 488.

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all unserer Handlungen. Hier eine Übereinstimmung zu erzielen, betrachtet er als das große Moralprinzip der Zukunft.77 Büchner ist wohl der realistischere, von Carneri hingegen malt ein Idealbild in eine Welt, die sich zunehmend in all ihren Abteilungen der Entwicklungsethik zuzuwenden begonnen hat. Aber unterm Strich sind beide Entwürfe schöne Programme geblieben. Was man befriedigt herausnehmen kann, das sind einzelne Überlegungen von Carneris zur Kultur zwischenmenschlichen Verhaltens.

VI. Wilhelm Ostwalds »edle Energie« als Fundament eines humanen Sozialwesens und ihre Synthese mit dem Darwinismus in Rudolf Goldscheids Ethik der Menschenökonomie Wir müssen nun einen größeren Gedankenbogen schlagen. Bei von Carneri hatten wir eine ausgearbeitete Evolutionsethik vor uns, nun konzentriert sich die Analyse auf ein Gedankenmodell, wie eine hypothetische Erörterung aus der Naturwissenschaft als physikalischer Ermöglichungsgrund für soziale Gegebenheiten dient. Es ist allgemein bekannt, daß der große Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) ein energetisches Weltkonzept begründet hat, wobei er von Beginn an bestrebt war, aus dieser seiner »Energetik« einen sozial-ethischen Grundsatz abzuleiten; Vergeude keine Energie – verwerte und veredle sie!78 Doch steht dieser Grundsatz nie allein; erst ergänzt durch die Tendenz des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und auf soziale Gebilde übertragen wird er sozialtheoretisch interessant. Denn auf sozialem Gebiet verliert das diesem Hauptsatz folgende Geschehen tatsächlich Energie, aber man vermutete, daß bei derartigen Umwandlungen Formen von edler Energie entstehen! Edle Energie finde sich vor allem in menschlichen Kulturleistungen, als geronnene, keineswegs verpuffte Energie; und diese edle Energie bilde die wichtigste Ausgangsform für alle geistigen Leistungen. Der Begriff der »edlen Energie« gehört gewiß zu den unklarsten, problematischsten wie zugleich interessantesten Begriffsschöpfungen im Umkreis des Energetismus. Man geht bestimmt nicht fehl, wenn man diesen Begriff aus den gegenseitig umrechenbaren quantifizierten Energieformen wie mechanische

77

Ebd., 489. Diese Darstellung des Ostwaldschen Satzes fand ich bei Peter Wermes, Naturwissenschaftlicher Materialismus als Naturphilosophie. Zu Wilhelm Ostwalds Versuch einer Grundlegung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1981), 50. 78

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Energie, Wärmeenergie, elektrische und magnetische Energie, chemische Energie und strahlende Energie heraushält und ihm die Bedeutung einer philosophischen Wortschöpfung zuschreibt. Doch der quantitative Rahmen ist ja bereits beim Übergang der chemischen Energie zu den Nervenenergien gesprengt. Liest man die späteren Darlegungen Ostwalds zu diesem Veredlungstheorem, dann erhält man den Eindruck, daß er an energieähnliche Vorgänge in den höheren sozialen wie kulturellen Bewegungsformen denkt. Streng geurteilt haben wir es hier mit einer Metapher zu tun, doch die besagten Nervenenergien erhalten sich auf dem ganzen Bündel der niederen Energien und sind ihrerseits verantwortlich eben für das, was man die Kulturleistungen der Menschheit nennt. Das bezieht sich dann strikt evolutiv auf die weiteren Verfeinerungen dieser edlen Energien, die sich hier als Weiterentwicklung der unedlen Energien darstellen; beispielsweise von den Uranfängen der Musikalität bis zu den Beethovenschen Symphonien, vom relativ undifferenzierten Tonunterscheidungsvermögen zum ausgeprägten Hörsinn. Dieses Fortschreiten wird gewöhnlich als allmähliche Anpassung des Menschen an das vorhandene und sich erweiternde Nerven-Energiekapital gedeutet oder aber als eine Art Mutationsfolge in die Richtung der Evolution der menschlichen Nervenenergien. Evolution verläuft demnach stets in die Richtung der Anhäufung einer größtmöglichen Menge edler Energie. Dieses hier nur knapp umrissene Gedankenmodell Ostwalds bietet nun auch den Ansatzpunkt, um großflächige Lebensräume historischen Zuschnitts zu erklären. Einige Evolutionstheoretiker haben dieses Modell herausgezogen, um daraus eine energetische Geschichtsauffassung abzuleiten.79 Die Grundidee ist dem evolutionären Modell vergleichbar. Danach entstehen bzw. blokken sich Kulturwerte auf in Richtung einer Anhäufung einer größtmöglichen Menge edler Energie. Zu einer fortschreitenden Nutzung dieses Prinzips waren jedoch in der bisherigen Geschichte außer dem homo sapiens keine anderen Lebewesen in der Lage. Etliche niedere Arten sind in solchen Anhäufungen stecken geblieben wie die Ameisen, Bienen oder andere staatenbildende Insekten; wahrscheinlich auch die Neanderthaler bzw. andere frühe Vormenschenformen. Diese Idee von Oskar Nagel hat sich in der Geschichte der Wissenschaft inzwischen wohl verlaufen; die flankierende Annahme der evolutiven Schaffung edler Energien zur Erklärung des Phänomens der Höherentwicklung könnte aber wohl doch als eine Alternative zu der groben Analogie des Kampfes ums Dasein gelten.80 79

O. Nagel, Versuch einer energetischen Geschichtsauffassung, in: Annalen der Naturphilosophie VII (1907), 257 ff. 80 Vgl. dazu: W. Ostwald, Nietzsche und der Kampf ums Dasein, in: Monistische Sonntagspredigten, Erste Reihe, Leipzig 1911, 127.

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Man könnte diesen Ansatz vielleicht vergessen, wenn er nicht als Anregung für eine bemerkenswerte ökonomische Theorie fungiert hätte – den ökonomischen Energetismus des österreichischen Sozialtheoretikers und späteren Vorsitzenden des österreichischen Monistenbundes, Rudolf Goldscheid (1870– 1931). Zwischen Ostwald und Goldscheid hat eine hochinteressante geistige Wechselwirkung stattgefunden; Goldscheid widmet seine Hauptschrift Höherentwicklung und Menschenökonomie (1911) Ostwald; der sich damit revanchiert, daß das Herzstück einer jeden biologisch fundierten Soziologie im folgenreichen Gedanken der Menschenökonomie bestehe, d. h. in der Annahme, daß der Mensch das wertvollste Gut im ökonomischen Leben ist.81 Goldscheids Anliegen bestand in der Umorganisierung der Wirtschaft; und zwar sollten in der Volkswirtschaft der Zukunft nicht die materiellen Produktivkräfte und der Bilanzgewinn die entscheidende Faktoren sein, sondern der Arbeiter soll zum Objekt sozialer Hege und Pflege avancieren, oder, wie Goldscheid zu sagen pflegte, das »organische Kapital«. Alle ökonomischen Energien werden auf das Wohlergehen des Produzenten gerichtet; im Ergebnis dessen, so war sich Goldscheid sicher, werden die Produktionsleistungen nicht etwa zurückgehen, sondern sich steigern. Zwei Ansatzpunkte des Konzepts von Goldscheid sollen noch hervorgehoben werden, beziehen sie sich doch ganz direkt auf die hier vorliegende Thematik: die Lehren von Darwin und von Ostwald! Er ist überzeugt, daß die Wirtschaft die organischen Bewegungsgesetze ausschöpfen müsse und die organischen (edlen) Energien voll nutzbar zu machen sind. Das aber stelle nichts anderes dar als die Einführung humaner Verwertungsbedingungen des organischen Kapitals. Als logische wie soziale Folge einer solchen Wirtschaftsorganisation ergebe sich, so ist Goldscheid überzeugt, eine durchgreifende Rückwirkung auf den Produzenten selbst. Alle sozialen Forderungen der Gewerkschaften und der Sozialisten werden erfüllt, ein gesunder Menschenschlag werde sich herausbilden, die biotische Natur der Frau wird in einer so behüteten Wirtschaft voll zum Zuge kommen – kurz, die eugenischen Forderungen der Zeit werden bei Goldscheid nicht über Sterilisierung und Zeugungsverbote bewerkstelligt, sondern über eine Humanisierung der Arbeitswelt.82 Außer Spesen nichts gewesen? Ein wirklich überzeugendes Programm einer Ethik, die auf Darwins Lehren fußt, ist in der Geschichte des Problems wohl nicht auszumachen. Das ganze bleibt ein historisches Lehrstück und verleitet uns heutige gewiß nicht zur Nachahmung. Man kann die damaligen Maßstä81

W. Ostwald, Das große Elixier, Leipzig-Gaschwitz 1920, 70. Vgl. dazu R. Goldscheid, Darwin als Lebenselement unserer modernen Kultur, Wien 1909. 82

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be zur Neubegründung einer Ethik nicht auf die Gegenwart projizieren. Wir sollten uns aber auch davor hüten, die Projektion vom Heute in das Gestern beckmesserisch vorzunehmen. Ethiken wirken, wenn überhaupt, stets in ihrer konkreten Zeit. Sie sind Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche. Und in dieser Beziehung haben die Spencer & Co in ihrer Zeit manch Richtiges und Typisches erfaßt.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Kurt Bayertz, seit 1993 Professor für praktische Philosophie an der Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Anthropologie und politische Philosophie. Wichtige Publikationen: GenEthik. Probleme der Technisierung menschlicher Fortpflanzung, Reinbek 1987 (übersetzt ins Englische und Chinesische); Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004 (2. Aufl. 2006). Myriam Gerhard, seit 2004 Juniorprofessorin für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Naturphilosophie, Klassische Deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Von der Materie der Wissenschaft zur Wissenschaft der Materie. Schellings Naturphilosophie im Ausgang der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes, Berlin 2002. Walter Jaeschke, Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Direktor des Hegel-Archivs. Arbeitsschwerpunkt: Klassische deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart 2003; Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986; Editionen insbesondere von Werken Hegels und Friedrich Heinrich Jacobis. Bernhard Kleeberg, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am International Graduate Centre for the Study of Culture, Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Anthropologie, Biologie und der Sozialwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikationen: B. Kleeberg / S. Metzger / W. Rapp (Hg.), Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen, Tübingen 2001; Theophysis. Ernst Haeckels Philosophie des Naturganzen, Köln / Weimar 2005; B. F. Crivellari / B. Kleeberg / T. Walter (Hg.), Urmensch und Wissenschaftskultur. Konzeptionen und Funktionen des Urmenschen in den modernen Wissenschaften, Darmstadt 2005. Wolfgang Lefèvre, Prof. Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit (15. bis 19. Jh.).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Wichtige Publikationen: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt /M. 1984; (Hg.), Picturing Machines, Cambridge / Mass. 2004; U. Klein / W. Lefèvre, Materials in Eighteenth-century Science – A Historical Ontology, Cambridge / Mass. 2007. Francesca Michelini, seit 2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionswissenschaften in Trient. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie; Philosophie des Deutschen Idealismus. Wichtige Publikationen: Sostanza e assoluto. La funzione di Spinoza nelle »Scienza della logica« di Hegel, Bologna 2004; P. Costa / F. Michelini (Hg.), Natura senze fine. Il natralismo moderno e le sue forme, Bologna 2006. Reinhard Mocek, Professor für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (1964–1991), anschließend am Wissenschaftskolleg Berlin, am Soziologischen Institut der Universität Bielefeld und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin tätig, 1990 Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, seit 2004 Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Ideologie- und Ideengeschichte, Philosophische Probleme der Naturwissenschaften, Geschichte der Biologie, Wissenschaftstheorie. Wichtige Publikationen: Gedanken über die Wissenschaft, Berlin 1980; Neugier und Nutzen, Berlin / Köln 1988; Die werdende Form. Eine Geschichte der kausalen Morphologie, Marburg 1998; Biologie und soziale Befreiung, Frankfurt / M. u.a. 2002. Monika Ritzer, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. Publikationen zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zu Theorie und Geschichte der Tragödie. Herausgeberin des Hebbel-Jahrbuchs, Mitherausgeberin von KulturPoetik. Jan Rohls, Professor für Systematische Theologie mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie, Abteilung für Systematische Theologie an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Ethik und Dogmatik; Religionsphilosophie. Wichtige Publikationen: Geschichte der Ethik, Tübingen ²1997; Protestantische Theologie der Neuzeit, 2 Bde., Tübingen 1997; Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002. Dirk Solies, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Initiator und Leiter der LSI-Forschergruppe »BIOS – Grenzfragen des Lebens«. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des 19. Jahrhunderts (Hegel, Nietzsche, Lebensphilosophie, Philosophische Rezep-

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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tion naturwissenschaftlicher Theorien im 19. Jahrhundert), Theorie der Kultur und Interkulturalität, Ethische Probleme der Forschung am Menschen, ethische Aspekte der Sterbehilfe. Wichtige Publikationen: Wie das Leben in die Philosophie kam. Der Lebensbegriff im philosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts (in Vorb.; einger. Habilitationsarbeit, Mainz 2007); Natur lesen. Geschichte und Gestalt ästhetischer Leitbilder, St. Augustin 1999; Natur in der Distanz. Zur Bedeutung von Georg Simmels Kulturphilosophie für die Landschaftsästhetik (Diss.), St. Augustin 1998. Julia Voss, Dr. phil., Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft (Dissertation). Arbeitsschwerpunkte: wissenschaftliche Bilder, Geschichte der Biologie. Wichtige Publikation: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837– 1874, Frankfurt / M. 2007. Michael Weingarten, Honorar-Professor für Philosophie an der Universität Marburg und stellvertretende Professur in Philosophie an der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: dialektische Philosophie, philosophische Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie der Biowissenschaften, der Ökologie und der Geographie. Wichtige Publikationen: Wahrnehmen, Bielefeld 2003; Leben (bioethisch), Bielefeld 2003; Sterben (bioethisch), Bielefeld 2004. Paul Ziche, Privatdozent am Philosophie-Department der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Schelling-Kommission an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des deutschen Idealismus, Wissenschaftsgeschichte des 18.-20. Jahrhunderts, Philosophie und Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Psychologiegeschichte. Wichtige Publikationen: (Hg.) Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000; O. Breidbach / P. Ziche (Hg.), Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar, Weimar 2001; B. Görs / N. Psarros / P. Ziche (Hg.), Wilhelm Ostwald at the Crossroads of Chemistry, Philosophy and Media Culture, Leipzig 2005.