Was bleibt: »Frühvollendete« in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht [1 ed.] 9783428551866, 9783428151868

Der Band erinnert an zehn verstorbene Rechtswissenschaftler, deren Werke ihre ersten Fürsprecher und Kritiker früh verlo

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Was bleibt: »Frühvollendete« in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht [1 ed.]
 9783428551866, 9783428151868

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EIKE MICHAEL FRENZEL (HRSG.)

Was bleibt „Frühvollendete“ in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht

Duncker & Humblot · Berlin

Was bleibt „Frühvollendete“ in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht

Was bleibt „Frühvollendete“ in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht

Herausgegeben von Eike Michael Frenzel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Umschlagbild: © Tomasz Zajda – Fotolia.com Printed in Germany ISBN 978-3-428-15186-8 (Print) ISBN 978-3-428-55186-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85186-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Man arbeitet jahrelang an derselben Universität, an derselben Fakultät, vielleicht in demselben Fachgebiet, und geht regelmäßig doch nur gemeinsam zum Mittagessen; gelegentlich trifft man sich bei Sitzungen und Veranstaltungen; selten besucht man sich gegenseitig bei Vorträgen, eher gar nicht in der Lehre. Das Zusammentreffen nutzt man für den Austausch, über Wetter, Essen, Politik, Feuilleton, Flurfunk, vielleicht auch etwas Fachliches, was einen bewegt oder auch nur beschäftigt, in der Hoffnung auf Irritationen, wenn nicht Antworten. Zeit, gemeinsam wissenschaftliche Projekte zu betreiben, wird einem nicht aufgedrängt – gleichwohl ist sie vorhanden. Diese Zeit nahmen sich die Autorinnen und Autoren der in diesem Buch versammelten Beiträge im Juli 2013, indem sie sich trafen, um zu überlegen, ob man unter dem Oberbegriff der „Frühvollendung“ ein gemeinsames Projekt betreiben könnte und wolle, um Ernst zu machen mit dem immer wieder geäußerten, fixen Gedanken: „Man müsste einmal etwas gemeinsam machen“. Im März 2014 kam ein erweiterter Kreis im Studienhaus Wiesneck in Buchenbach bei Freiburg zusammen, innerhalb dessen einzelne Werkstattberichte vorgestellt, von jeweils einem/einer Kollegen/in vorbereitet kommentiert und in der Runde diskutiert wurden. Nach und nach stellten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser kleinen Tagung ihre Beiträge fertig; einzelne verabschiedeten sich, einzelne traten noch hinzu und präsentierten ihre Ergebnisse fragmentierten Öffentlichkeiten, zuletzt im Juni 2016. Als Ergebnis eines andauernden Gesprächs über das, was bleibt, präsentiert sich dieser Band als kleiner Beitrag zur Erkundung der „Staatsrechtslehre als Mikrokosmos“ (Helmuth Schulze-Fielitz). Karlsruhe, Januar 2017

Eike Michael Frenzel

Inhaltsverzeichnis Eike Michael Frenzel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Meskouris Franz Tibor Hollós – Staatskirchenrecht im Jahre 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nils Wegner Dietrich Jesch – „Gesetz und Verwaltung“: Werk und Rezeption . . . . . . . . . . . .

23

Julia Faber Christoph Sasse – Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . .

45

Stefan Lorenzmeier Dieter Suhr – „Repräsentation von Menschen in und durch Menschen“ . . . . . . .

65

Robert Klotz Dieter Blumenwitz – ein später Frühvollendeter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Eike Michael Frenzel Henning von Olshausen – zeitlos, furchtlos, nicht fruchtlos . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Dorothea Keiter Jürgen Rödig – Gesetzgebungstheorie zwischen Logik und Praxis . . . . . . . . . . . 109 Christoph A. Kern Jochen Schröder – interessengerechte Lösungen im internationalen Recht . . . . . 131 Arnd-Christian Kulow Wilhelm Mößle – erinnern und lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Thomas Huber Niklas Luhmann – ein Phantom der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Einleitung Von Eike Michael Frenzel Haben. Lesen. Verstehen. Drei unvermeidliche Voraussetzungen, um sich mit einer wissenschaftlichen Publikation inhaltlich auseinandersetzen, zu ihr Stellung nehmen und sie für die eigene Arbeit aufnehmen oder verwerfen zu können. Die Person des Urhebers ist dafür in mehrfacher Hinsicht nicht relevant: Anschaffungsvorschläge werden nicht mit der Begründung abgelehnt, die Person sei eine persona non grata, Aussonderungspläne werden nicht damit begründet. Das Lesen einer relevanten Publikation abzulehnen, weil man den Autor ablehnt, könnte, so nachvollziehbar die persönlichen Gründe sein mögen, methodisch nicht überzeugen, genauso wie das Gegenteil, die Hyperrezeption wegen persönlicher Verbundenheit. Die Person des Autors spielt allenfalls für das Verstehen eine Rolle – sie gehört zum Kontext der Publikation, der dogmatisch betrachtet gleichwohl nachgeordnet ist. Das Wissen zirkuliert, als individuelle Quelle tritt der Urheber in den Hintergrund.1 Idealtypischer Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung ist das Werk, die Publikation, aus der sich selbstverständlich Fragen zur Person, zu ihrer wissenschaftlichen Sozialisation, zu ihrer Berufserfahrung und zum gesellschaftlich-politischen Umfeld, sprich: zum Kontext ihrer Thesen ergeben können, aber nicht müssen. Unter welchen persönlichen Umständen eine Publikation entstanden ist, ist für die Plausibilität, die Schlüssigkeit, die Überzeugungskraft ohne Bedeutung. Und erst recht ist die Antwort auf die Frage dafür irrelevant, ob der Urheber früher oder später nach oder sogar vor der Veröffentlichung gestorben ist. Der Tod ist ein trauriges Thema: Der Hochschullehrer, Kollege, Betreuer fehlt plötzlich im Hörsaal und an der Fakultät. Wissenschaftliche Projekte und Dialoge enden abrupt. Durch den Tod, zumal einen frühen, überraschenden, immer tragischen, wird keine wissenschaftliche Arbeit besser oder schlechter, keine Argumentation schlüssiger oder unschlüssiger und keine – jedenfalls keine rechtswissenschaftliche – These bewiesen oder widerlegt. Selbst die Bereitschaft, für die eigenen Überzeugungen oder wegen dieser Überzeugungen zu sterben,2 oder der Umstand, dafür oder deswegen gestorben zu sein, würde den Wahrheitsgehalt nicht erhöhen. Diese Umstände sind allenfalls für die Geschichtsschreibung und für die Beschreibung der Widerständigkeit gegen Argumentationen und Gedankengänge oder auch nur Behauptungen relevant. Darauf bezieht sich dieses 1

Vgl. – in anderem Zusammenhang – Steinfeld, Eine Fassade von Wissenschaft, in: Lepsius/Meyer-Kalkus (Hrsg.), Inszenierung als Beruf, 2011, S. 45 (50). 2 Bruno, Dialoghi filosofici italiani, 2000, S. CXIII: „Maiori forsan cum timore sententiam in me fertis quam ego accioiam“.

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Eike Michael Frenzel

Projekt jedoch nicht. Eher: „Wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert.“3 So unergiebig der Tod ist: Er hat uns die Namen – erschreckend – vieler Wissenschaftler hinterlassen, ohne dass mit diesen, von Ausnahmen abgesehen, ein früher Tod in Verbindung gebracht worden wäre. Der frühe Tod ist nicht Thema der Rechtswissenschaft – zu Recht. Der frühe Tod ist hier lediglich Impulsgeber, sich mit diesen Personen (wieder) auseinanderzusetzen; er dient nicht einer sinnvollen inhaltlichen Kategorisierung und Systematisierung für Leistungen und Phänomene im Wissenschaftsbetrieb. Einige der Namen – Hermann von Mangoldt, Norbert Achterberg und Ferdinand O. Kopp – waren schon und noch aus dem Studium bekannt, und man wäre eher nicht auf die Idee gekommen, ihre Namen mit einem frühen Tod zu verbinden. Weil der frühe Tod anderer Wissenschaftler – etwa von Winfried Brugger und Cornelia Vismann – noch nicht lange zurückliegt, mag just dieser Umstand noch in Erinnerung und mit ihrem Wirken verbunden sein, besonders für die Zeitgenossen. Am Anfang stand also die Erkenntnis, dass zahlreiche Staatsrechtslehrer – wie auch Zivilrechts- und Strafrechtswissenschaftler – „vor ihrer Zeit“ verstorben sind: Der Tod stand am Anfang dieses Projekt, er war nicht die Antwort, sondern die Frage. Mit dieser wurde zunächst die Vermutung verbunden, dass der frühe Tod sich auf die Rezeption des Werks auswirke, negativ, weil das Werk mit dem Tod des Urhebers seinen ersten und wichtigsten Fürsprecher und Interpreten verliere, und vielleicht auch positiv, soweit das wissenschaftliche Werk als Teil der Trauerarbeit gepflegt und rezipiert werde. Das abrupte Ende des Wirkens eines Wissenschaftlers könne, so die Hypothese, eine Sonderlage verursachen, in der das Wissen noch nicht vom Urheber abgelöst sei. Der frühe Tod steht dem regulären Abschluss von Prüfungen und Verfahren, der Pflege des Werks durch sich und andere entgegen, er verhindert eine Abschiedsvorlesung und Festschriften, ebenso ein frühere Schriften relativierendes oder verschärfendes Spätwerk, allgemein die Betreuung einer „Inkubationszeit“ des eigenen Werks. An die Stelle dieser Mechanismen treten – gegebenenfalls – Nachrufe, Gedenkveranstaltungen oder Gerichtsprozesse4. Der frühe Tod kann aber auch eine sehr spezifische Rezeption auslösen, als eine Möglichkeit, dem Verstorbenen ein würdiges Andenken zu bewahren. Die Vermutung eines allgemeinen Zusammenhangs zwischen frühem Tod und Rezeption ließ sich aus zahlreichen Gründen nicht bestätigen: Der Rezeptionsbegriff ist unscharf. Das Wirken eines Beitrags hängt nicht vom Weiterleben des Urhebers ab. Das Weiterleben als Fürsprecher und Interpret in eigener Sache kann für – und gegen – das Werk wirken. Andere Faktoren scheinen jedoch wichtiger zu sein: 3 Vgl. als wichtige Beiträge Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, 1988, sowie dies. (Hrsg.), Streitbare JuristInnen, 2016. 4 So im Falle von Niklas Luhmann: BGH, Beschluss vom 9. November 2005 – IV ZR 206/ 04; zum Für und Wider von Festschriften vgl. Otten/Wirth, Festschriften: Kultivieren oder abschaffen?, Forschung und Lehre 1996, 486/487.

Einleitung

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das Thema und seine Aktualität, die Erreichbarkeit, die Länge, die Sprache, die Klarheit der Beiträge, die anderweitig gut oder weniger gut begründete Rezeptionsfähigkeit und die Möglichkeiten des Nachweises, um nur einige zu nennen. Dass die Vermutung eines allgemeinen Zusammenhangs zwischen frühem Tod und Rezeption nicht zu belegen war, zeichnete sich frühzeitig ab, als die Projektbeteiligten damit begannen, sich jeweils mit einem derjenigen Wissenschaftler zu befassen, den der frühe Tod zur Auswahl gestellt hatte. Damit war die Fokussierung aber nicht erledigt – die durch die Irritationen hervorgerufenen Resonanzen bestanden und wurden von den Beteiligten aus unterschiedlichen Gründen dazu bestimmt, auch bedient zu werden: Faszination für das Werk des Wissenschaftlers, dessen Name und Werk bis dahin nicht oder nicht näher bekannt gewesen waren, und sein jeweils spezifisches Grenzgängertum, Interesse an der gemeinsamen Arbeit an einem Thema und an Aspekten der (um ein Wort von Dieter Suhr zu verwenden5) „Daseinsnachsorge“, die bisweilen tabuisiert wird. Das Projekt ist daher dazu bestimmt, einen Beitrag wider das Vergessen zu leisten, nicht mehr, aber auch nicht weniger, und damit auch einen Beitrag zur Staatsrechtslehre als Mikrokosmos.6 Einheitliche Schlussfolgerungen ließen sich nicht ziehen – wie auch die Herangehensweisen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Personen, die Werke, die Methoden unterschiedlich sind. Das Werk einiger frühzeitig verstorbener Wissenschaftler wurde vielschichtig rezipiert, ohne dass die Rezeption auch nur im Ansatz als überschießende Trauerarbeit zu qualifizieren wäre: Das beste Beispiel hierfür ist Dietrich Jesch, wie Nils Wegner herausarbeitet. Nicht für das Verwaltungsrecht, sondern für das Europarecht und für den Prozess der europäischen Integration vergleichbar relevant sind die Beiträge von Christoph Sasse, ohne dass sie so präsent wären, wie sie es sein sollten. Einige Wissenschaftler sind nicht nur dem Namen nach weniger bekannt, sondern mit ihrem Werk zu einem großen Teil unbekannt geblieben – sicher nicht an ihren Fakultäten, in den Fachkreisen, denen sie thematisch zugeordnet werden können, und nicht notwendig bei ihren Studentinnen und Studenten, aber außerhalb dieser Kreise; dieser Gruppe sind Dieter Suhr und Henning von Olshausen zuzurechnen. Eine dritte Gruppe von Wissenschaftlern ist schon deshalb sehr präsent, weil ihr Tod erst wenige Jahre zurückliegt und sie seither vielfältige, sichtbare Würdigungen erfahren haben: Zu dieser Gruppe gehören Dieter Blumenwitz und Wilhelm Mößle. Dass die Frage nach „Was bleibt“ auch außerhalb der Staatsrechtslehre formuliert werden kann, zeigen die Beiträge über Jürgen Rödig und Jochen Schröder. Ein großes Werk hinterließ auch Niklas Luhmann, der siebzigjährig im Jahre 1998 verstarb, und dessen Bezeichnung als „Frühvollendeter“ kontraintuitiv ist: Thomas Huber zeigt, dass Intuition insoweit täuschen kann. Den Anfang in diesem Band macht Johannes 5 Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat 9 (1970), 67 (77), in Bezug auf den Sozialstaat, der statt der Symptome die Wurzeln sozialer Probleme fokussieren solle; auf diesen verweisend Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Beziehungen, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 1975, S. 134 (143 f.). 6 Dazu Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S. 3 ff.

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Eike Michael Frenzel

Meskouris mit Franz Tibor Hollós, und dessen Beiträge scheinen aus einer vermeintlich anderen Zeit zu stammen, sind aber in der Sache erstaunlich aktuell. Der Anspruch dabei war und ist, dass es sich dabei nicht um eine subjektiv behauptete Aktualität handelt, gegen deren Erzeugung sich der Betroffene nicht zur Wehr setzen könnte. Das Spektrum des möglichen Umgangs mit den wissenschaftlichen Werken ist weit: Haben. Lesen. Verstehen. Kommentieren. Diejenigen, die die Rezeption des Werks – unabhängig vom Tod des Urhebers – zu ergründen versuchten, kehrten mit unterschiedlichen Befunden zurück. Dass eine einschlägige Publikation nicht erwähnt wird, kann im Nicht-Haben, Nicht-Lesen, Nicht-Verstehen begründet oder ein stiller Kommentar der Missbilligung sein. Aus methodischen Gründen und erst recht wegen zeitlicher Distanz kann der Kommentar misslingen.7 Die zeitgenössische Rezension eines Beitrags wird regelmäßig anders klingen als die Rezension aus der Perspektive einer Wissenschaft, die dreißig, vierzig, fünfzig Jahre klüger zu sein scheint. Im Vordergrund stand daher bei den Beitragenden das, was bleibt, was lehrreich, was erhellend ist, was Antworten auf Fragen gibt, die man selbst angesichts aktueller Entwicklungen hat, und was sich aus dem Einander-Zuhören ergibt.8 Niedergeschrieben werden sollte das, was man selbst gerne lesen wollte und dessen Lektüre angedroht werden könnte.9 Dieses Buch ist daher allenfalls ein Beitrag zur Theorie freundlicher (und bisweilen unfreundlicher) Rezeption – mit dem (frühen) Tod hat dies nichts mehr zu tun, abgesehen von dem Umstand, dass man die Urheber nicht mehr anrufen kann.

7

Wie es Holbein, Samthase und Odradek, 1990, S. 23 f., für das Zitat beschreibt. Vgl. Thomä, Sie hören allenfalls noch eigenen Vorträgen zu, FAZ Nr. 209 vom 9. September 2009, S. N 5. 9 Vgl. die Forderung von Sloterdijk, Der Heilige und der Hochstapler – Von der Krise der Wiederholung in der Moderne, in: Dreier/Ohly (Hrsg.), Plagiate. Wissenschaftsethik und Recht, 2013, S. 11 (27). 8

Franz Tibor Hollós – Staatskirchenrecht im Jahre 1948 Von Johannes Meskouris Das Amtsgericht Lörrach hatte jüngst über einen Fall zu befinden, in dem ein streitbarer Landwirt, derweil ihn einige Polizisten zum Streifenwagen trugen, durch kräftige Strampelbewegungen einem der Beamten den Finger brach. Das Land Baden-Württemberg nahm den wackeren Landwirt – im Folgenden: Beklagter – auf Schadensersatz in Anspruch. Die Sonderheit des Falls indes lag wie folgt: Der Beklagte erkannte die Bundesrepublik Deutschland nicht an, auch nicht das Grundgesetz, erst recht keinen Ausfluss bundesdeutscher Staatsgewalt und auch nicht Baden-Württemberg als Land. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland besteht seit über 65 Jahren. So sehr, angesichts der bemerkenswerten Stabilität in Deutschland und Europa nach 1945, unser Beklagter in seiner Ablehnung der Bundesrepublik als Mitglied einer Randgruppe gelten kann – so sehr gab es auch Zeiten, in denen nicht nur, aber auch völkerrechtlich alles in Fluss und Umbruch war, in denen sich im Nachhall des Kanonendonners die tektonischen Platten der Nationalstaaten und Verbünde und ihres Rechts verschoben. Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Ein waidwunder Kontinent genas nur langsam von zwei Weltkriegen in kurzer Folge. Alles war wundgeschlagen, auch das Recht. Das Recht, wie alles Übrige, war im Wandel. Grenzen wurden aufgebrochen; aufgelöst; Grenzlinien wurden neu definiert. Dieser Beitrag ist Franz Tibor Hollós gewidmet, einem Wissenschaftler in jener Zeit, einem Grenzgänger in vielerlei Hinsicht. Hollós, geboren 1906 in Ungarn, verstorben 1954 in Erlangen, erlebte in seinen achtundvierzig Lebensjahren zwei Weltkriege. Er wirkte in zwei Berufen; und als er sich für die Jurisprudenz entschied, übte er sie an der Scheidelinie zweier Rechtsgebiete aus, des Kirchen- und des Völkerrechts. Es dürfte nicht zu viel behauptet sein, dass bereits Hollós’ Jugendjahre von Umbrüchen geprägt waren. Von 1917 an bis 1925 besuchte er humanistische Gymnasien in den Orten Baja, Erlau (ungarisch: Eger), Gran (Esztergom) und Waitzen (Vác) – allesamt Ortschaften, die sich zu Beginn von Hollós’ Sekundarschulbildung im Kernland Österreich-Ungarns befanden und an deren Ende nahe an Ungarns Außengrenzen.

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Johannes Meskouris

Im Jahr 1917 war Franz Tibor Hollós Sextaner. Österreich-Ungarn befand sich da bereits seit mehr als drei Jahren im Krieg und, kriegsmüde und ausgelaugt, in der Defensive1. Hollós war Quintaner, als der Erste Weltkrieg für Österreich-Ungarn am 3. November 1918 durch die Waffenstillstands- und Kapitulationserklärung von Villa Giusti sein Ende fand2 und unmittelbar darauf auch Österreich-Ungarn selbst3. Er war wohl frisch in der Quarta, als Ungarn – ehedem Königreich, zwischenzeitlich Räterepublik, bei Vertragsschluss unter einer Ungarischen Nationalregierung4 – sich im Juni 1920 als Folge des Vertrages von Trianon5 mit den Alliierten auf 28 % seines ehemaligen Staatsgebiets reduziert fand6. Diese „nationale Katastrophe“7 berührte auch Hollós unmittelbar. Nicht zuletzt war die Stadt Kassa bzw. Castro Jászo (deutsch: Kassau), an deren Ordensschule er 1925 sein Studium der Katholischen Theologie aufnahm, als Folge des Vertrages von Trianon Teil der Tschechoslowakei geworden8; nunmehr hieß sie Kosˇice. Im Jahr 1929 vollendete Hollós seine theologische Ausbildung in Prag und wurde 1930 zum Priester geweiht. Zentrum seiner seelsorgerischen Tätigkeit war das Kloster Strahov in Prag. Weshalb ihn dieser Berufs- und Lebensweg nicht erfüllte, kann wohl nur spekuliert werden – fruchtlos, denn nichts zu jener Zeit kann selbst als äußere Orientierungslinie dienen, geschweige denn als innere. Der Zweite Weltkrieg brach aus und riss alles, was sich gefügt haben mochte, in seinen Tiden fort9. Der genaue zeitliche Ablauf der folgenden Jahre bleibt vage. Gesichert ist, dass Hollós im Jahr 1943 das Studium der Rechtswissenschaften an der Deutschen Universität in Prag aufnahm, bis seine Ausweisung aus der Tschechoslowakei im Jahr 1945 1 Zum Kriegsgeschehen 1917 s. Basil Henry Liddell Hart, History of the First World War, 1930 (1970 edition), S. 383 – 464; speziell zur Caporetto-Offensive ebd. S. 449 ff. 2 Textfassung des Abkommens unter http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/ 19181103 - 1.pdf (letzter Abruf: 30. November 2016) – zit. nach Treaties, Conventions, International Acts, Protocols, and Agreements between the United States of America and Other Powers 1910 – 1923, Vol. 3, 1923, S. 3529. 3 Einen Überblick über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn bietet Bettina Reichmann, Bischof Ottokár Prohászka (1858 – 1927) – Krieg, christliche Kultur und Antisemitismus in Ungarn, 2015, S. 167 ff. 4 Vgl. Reichmann, Ottokár Prohászka (Fn. 3), S. 190 – 194. 5 Vertragstext unter https://wwi.lib.byu.edu/index.php/Treaty_of_Trianon (letzter Abruf: 30. November 2016). 6 Zu den Folgen des Vertrages von Trianon Reichmann, Ottokár Prohászka (Fn. 3), S. 194 – 197. 7 Vgl. Reichmann, Ottokár Prohászka (Fn. 3), S. 197 – mit folgendem Zitat nach Norbert Spannenberger, Die katholische Kirche in Ungarn 1918 – 1939, 2006, S. 52: „[M]anche christlichen Zeitungen verglichen die Zerstückelung Ungarns sogar mit der Kreuzigung Christi“. 8 s. Artikel 27 Ziff. 2 des Vertrages von Trianon (o. Fn. 5): „The frontiers of Hungary shall be fixed as follows: … 2. With the Serb-Croat-Slovene State: … a line to be fixed on the ground passing … south of Kassad …“. 9 Bestimmte Nachweise erübrigen sich. Einen militärhistorischen Überblick bietet beispielhaft Basil Henry Liddell Hart, History of the Second World War, 1970.

Franz Tibor Hollós – Staatskirchenrecht im Jahre 1948

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den Studienfortschritt unterbrach. Bis 1946 setzte Hollós sein Studium in Erlangen fort. Noch in seiner Prager Zeit begann Hollós’ rechtswissenschaftliches Wirken. 1945 verfasste er seine Promotionsschrift mit dem Titel Die Rechtsverhältnisse der Strahover Grundherrschaft zu Anfang des 15. Jahrhunderts, aufgrund derer er 1946 in Erlangen summa cum laude zum Dr. iur. utr. promoviert wurde. Allerdings sind sowohl Hollós’ Promotionsarbeit wie auch seine Habilitationsschrift zum Thema Der Senat des Römischen Pontifex unter Berücksichtigung seiner diplomatischen Tätigkeit (1947) „infolge der Ungunst der damaligen Zeit ungedruckt geblieben“10. Um Hollós’ rechtswissenschaftliches Schriftenverzeichnis zu beurteilen, muss der Beobachter aus dem 21. Jahrhundert denn auch in Rechnung stellen, dass der Theologe und Rechtswissenschaftler erst unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu publizieren begann. So darf nicht überraschen, dass der Umfang seines Werks, gemessen am (notgedrungenen) Output rechtswissenschaftlicher Hochschullehrer heute, bescheiden bleibt. Es umfasst kaum zwei Handvoll Werke. Franz Tibor Hollós legte nie das Assessorexamen ab. Dessen ungeachtet wurde er im Frühjahr 1948 per Senatsbeschluss der Universität Würzburg zum Ordinarius für die Fächer Völkerrecht, Kirchenrecht, Internationales Privatrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsenzyclopädie berufen – anstelle von Ernst Wolgast, der, bereits gestandener Ordinarius im öffentlichen Recht, als Favorit für die Stelle galt11. Seinen auch insofern unüblichen Werdegang verdankte Hollós in Teilen der Ausnahmesituation der Nachkriegszeit. Würzburg war im Zweiten Weltkrieg fast vollkommen zerstört worden. Erst mit dem Sommersemester 1947 begann die Universität wieder mit dem Lehrbetrieb, die amerikanische Besatzungsmacht hatte allerdings einen Großteil der Professoren der juristischen Fakultät entlassen12; Ersatz war geboten. Gleichermaßen war es aber Hollós’ persönlichen Meriten zu danken, dass er statt des arrivierten Völkerrechtlers Wolgast berufen wurde13 ; denn Hollós war, mit den Worten seines Lehrers Hans Liermann, „[n]eben dem Gelehrten […] unermüdliche[r] Seelsorger seiner Landsleute, der gütige Mensch in allen Wandlungen seines äußeren Lebens, welche ihm die Nachkriegszeit auferlegt hat, und der Freund, der im größten Flüchtlingselend das Letzte hergab […].“

Und:

10 Liermann, In memoriam Tibor Hollós, ZRG, Kanonistische Abteilung XL, 71 (1954), S. 377. 11 Details bei Christopher Benkert, Die Juristische Fakultät der Universität Würzburg 1914 bis 1960 – Ausbildung und Wissenschaft im Zeichen der beiden Weltkriege, Diss. Würzburg 2005, S. 194; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band 1945 – 1990, S. 70. 12 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Fn. 11), S. 70. 13 So Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Fn. 11), S. 70.

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Johannes Meskouris „Seine Gestalt musste sich als eine nicht alltägliche Erscheinung jedem, der ihr einmal begegnet ist – und es haben unendlich viele Menschen den Weg des Professors, des Seelsorgers, des Theologen, des Juristen gekreuzt – tief in das Gedächtnis einprägen“14.

In das Jahr 1948, zeitgleich mit seiner Berufung zum Ordinarius, fällt Hollós’ größter rechtswissenschaftlicher Schaffensschub. Besonders augenfällig wird dies am Beispiel seines Lehrbuchs zum Staatskirchenrecht, auf das wir ein kurzes Schlaglicht werfen wollen. Im Vergleich mit heutigen Lehrbüchern ist der Schaffensprozess des Werkes nicht außergewöhnlich: Hollós’ Staatskirchenrecht, erstveröffentlicht im Jahre 1948, ist ein überarbeitetes Skript der gleichnamigen Vorlesung, die der Autor an der Universität Erlangen hielt. Das Buch aus der Serie Erlanger Vorlesungshefte umfasst knapp unter 200 Druckseiten. Der darstellende Teil besteht aus 130 Seiten; ein siebzigseitiger Anhang ist Gesetzesmaterialien vorbehalten. Im Vorlesungsstil wird der Leser in der Rolle eines virtuellen Studenten in einem Erlanger Hörsaal der Nachkriegszeit unmittelbar angesprochen. Der tatsächliche Verbreitungsgrad des kurzen Werks und sein (wissenschaftlicher) Einfluss können nicht abschließend bemessen werden. Festzuhalten bleibt indes, dass Hollós’ Staatskirchenrecht die erste Gesamtdarstellung der Rechtsmaterie nach dem Zweiten Weltkrieg war – „wenngleich nach Umfang, Form und Inhalt noch nachkriegsmäßig bescheiden“15. Hollós’ Staatskirchenrecht ist anzumerken, dass es in einer Zeit nicht abzusehenden Umbruchs verfasst wurde. Das Feld der hauptsächlichen wissenschaftlichen Betätigung des Verfassers, die Schnittstelle zwischen Kirchen- und Staatsrecht bzw. auch kanonischem und weltlichem Recht, war in grundlegendem Wandel begriffen. Dies galt zunächst für die völkerrechtliche Dimension. So befasst sich Hollós in seiner ebenfalls 1948 erschienen Schrift Die gegenwärtige Rechtsstellung der Katholischen Kirche in Deutschland16 mit der Fortgeltung von Konkordaten, die der Heilige Stuhl teils mit dem Kaiserreich, teils in Weimarer Zeit und teils mit dem Deutschen Reich des Jahres 1933 geschlossen hatte17. Waren diese Konkordate noch in Kraft? Und wenn denn ja: in welcher Form und geschlossen zwischen welchen Völkerrechtssubjekten? Denn, wie Hollós anmerkt, ist

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Liermann (Fn. 10), 377. So Alexander Hollerbach, Staatskirchenrecht oder Religionsrecht?, in: Aymans u. a. (Hrsg.), Schmitz-FS, Regensburg 1994, S. 869 (876). 16 29 Seiten, Würzburg 1948 – auf einem Vortrag fußend. 17 Mit diesem Gegenstand befasst sich Hollós auch im Beitrag „Die katholische Weltkirche und ihre Diplomatie“, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit, 1952, S. 193 – 225. 15

Franz Tibor Hollós – Staatskirchenrecht im Jahre 1948

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„…eine eingehende Erörterung der noch heute, – also fast drei Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges – umstrittenen völkerrechtlichen Frage bezüglich der Weiterexistenz der Verhandlungspartner [der Konkordate] gar nicht möglich“.18

Die in zahlreichen rechtswissenschaftlichen Gutachten erörterte Frage nach Deutschlands Fortbestand19 war auch 1948 nicht endgültig geklärt; denn „[d]ie Alliierten haben zwar in der bekannten Berliner Deklaration vom 5. 6. 1945 ihre Absicht, Deutschland nicht zu annektieren ausdrücklich ausgesprochen, aber zwischen dieser Erklärung und der weiteren politischen Entwicklung bestehen derartige Gegensätze, daß nicht nur diejenigen, die Deutschlands Weiterexistenz behaupten, sondern auch die anderen, die seinen Untergang annehmen, gewichtige Argumente für die Richtigkeit ihrer Ansicht ins Treffen führen können.“20

Somit stand nach dem Zweiten Weltkrieg fundamental infrage, welche Konkordate des Heiligen Stuhls mit welchem Staatswesen auf deutschem Boden noch fortgalten – und ob überhaupt irgendwelche. Auswirkungen und Ausgang der Besatzung Deutschlands waren im Jahr 1948 nicht zu bemessen. Ein Konkordat aber als völkerrechtlicher Vertrag kann nur fortgelten, wenn beide Vertragspartner noch bestehen. Damit war in Hollós‘ Schrift zur gegenwärtigen Rechtsstellung der Katholischen Kirche in Deutschland unmittelbar die Vorfrage aufgeworfen: Gibt es noch den Rechtsträger Deutschland – und wenn ja, wer ist er? Was ist und wessen Rechtsnachfolger ist dieses Deutschland, von dessen Besatzung die Schmutztitel von Hollós’ jeweiligen Schriften aus 1948 künden: Published under Information Services Division License No. US. – E. – 122 /151 –?

Der beklagte Landwirt vor dem Amtsgericht Lörrach hätte seine Freude gehabt. Auf die Frage: Existiert Deutschland? wäre im Jahre 1948 schlechterdings jede Antwort möglich gewesen. Es war die Zeit vor Bundesrepublik und Grundgesetz. Und an der Schnittstelle von Staat und Kirche sucht der jüngst berufene Professor und katholische Ordensbruder Hollós nach pragmatischen Antworten, nicht erst in den intrikaten Punkten des „Wie“ im Staatskirchenrecht, sondern bereits auf der Ebene des „Ob“. Die katholische Kirche nämlich konnte, wie Hollós herausstellt, ihre Aufgabe, die unbeschreibliche materielle und soziale Not der deutschen Bevölkerung tätig zu lin18 Hollós, Die gegenwärtige Rechtsstellung der katholischen Kirche in Deutschland auf Grund des Reichskonkordates und der Länder-Konkordate, 1948, S. 3. 19 Neben einer Aufzählung mehrerer Gutachten und Arbeiten in Rechtsstellung (Fn. 18), S. 8 f., bezeichnet Hollós als „besonders bemerkenswert“ ein Gutachten des Obersten Finanzgerichtshofes München vom 5. April 1946 und ein Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 1. Dezember 1945. Gemeinsam mit einem Gutachten der juristischen Fakultät Leipzig von September 1945 in einem Sonderheft der Zeitschrift Versicherungswirtschaft (vgl. Hollós, a.a.O.) sind diese gerichtlichen Quellen unter den genannten die ersten – die rechtssichere Beantwortung der Frage nach dem Fortbestand Deutschlands war für die wirtschaftliche Praxis evident drängend. 20 Hollós, Rechtsstellung (Fn. 18), S. 7 f.

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Johannes Meskouris

dern21, nur auf gesicherten rechtlichen Grundlagen erfüllen. Wo aber diese im Jahre 1948 finden? An dieser Stelle verweist Hollós auf zwei historische Präzedenzfälle, in denen sich ein Zustand der Rechtssicherheit selbst ohne zu sichernde Rechtslage herausgebildet hatte. Die faktische Einhaltung rein rechtlich erloschener konkordatärer – essentiell: völkerrechtlicher – Verpflichtungen war zu einem anerkannten Rechtsregime geronnen. Das hauptsächliche Beispiel betrifft die Frage der Weitergeltung eines Konkordats in den französischen Provinzen Elsass und Lothringen: „Als nämlich nach Beendigung des ersten Weltkrieges diese beiden Länder an Frankreich zurückgefallen waren, hatte sich die Frage ergeben, ob das zwischen Napoleon und Pius VII. am 15. 7. 1801 abgeschlossene Konkordat, das nach der Abtretung dieser Provinzen an das Reich im Jahre 1870 von der Kurie im Jahre 1872 ursprünglich als erloschen erklärt, aber praktisch bis zur Beendigung des ersten Weltkrieges in Elsaß-Lothringen in Geltung verblieben war, nunmehr in den zurückerworbenen Provinzen weiterhin in Geltung verbleiben sollte, wie es die Bevölkerung dieser Gebiete erforderte.“22

In jenem Fall stellte sich neben dem zweifachen Souveränitätswechsel der betreffenden Gebiete und der frühen „Erlöschenserklärung“ des Heiligen Stuhls ein weiteres Problem. Per Gesetz von Dezember 190523 nämlich hatte Frankreich das Prinzip der strengen Laizität verordnet, also eine vollkommene Trennung von Staat und Kirche auf französischem Boden. Als Elsass und Lothringen an Frankreich zurückfielen, war die im Konkordat von 1801 – unter anderem – vorgesehene Möglichkeit der Alimentation Kirchenbediensteter durch den französischen Staat mit der neuen Rechtslage inkompatibel. Der französische Conseil d’Etat, der auch die Funktion des obersten Verwaltungsgerichts erfüllt24, entschied die Frage nach der Fortgeltung des Konkordats in einem „ebenso salomonischen wie staatsklugen Urteil am 24. 1. 1925 dahingehend“25, dass, einerseits, das Konkordat an sich formell nicht gälte. Andererseits aber sei das „Régime Concordataire“ – der Norminhalt des Konkordats – weiterhin als Richtlinie zu befolgen. Er sei zu materiell gelebtem Recht geworden. Wenn dieser Ansatz auch nicht der Rigorosität entspricht, mit der hierzulande zumindest die Rechtsdogmatik gepflegt wird – es war doch eine pragmatische Lösung in einer unsteten Zeit. Eine entsprechende Lösung schlägt Hollós auch für die Konkordatslage in der jungen Bundesrepublik vor. Staat und Kirche sollten sich sorgfältig um die Einhaltung der überkommenen Konkordatsregeln bemühen; jedenfalls ein

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Vgl. dens., Rechtsstellung (Fn. 18), S. 25. Ders., Rechtsstellung (Fn. 18), S. 28 f. 23 Im Text a.a.O., S. 29 ist irrtümlich von 1906 die Rede. 24 Vgl. http://www.conseil-etat.fr/Conseil-d-Etat/Missions/En-bref (letzter Abruf: 30. November 2016). 25 Hollós, Rechtsstellung (Fn. 18), S. 29. 22

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daraus erwachsendes rechtliches Verhältnis werde Anspruch auf dauerhaften Bestand haben26. Im ca. siebzigseitigen Werk Zur Kontroverse über den gegenwärtigen Status Deutschlands sollte Hollós im Jahre 1950 eine eigene, vertiefte Analyse der Rechtssubjektivität und der Rechtsnachfolgefrage Deutschlands publizieren. Das Büchlein aus der Reihe Erlanger Vorlesungshefte qualifiziert sich selbst als Auszug aus der Vorlesung Völkerrecht (Kriegsrecht), die Hollós als Privatdozent an der Universität Erlangen gehalten hatte27, und spiegelte offenbar die Rechts- und Entwicklungslage des Jahres 1948 wider; eine gewisse Konsolidierung durch das Bonner Grundgesetz vom 23. Mai 1949 war noch nicht erfolgt. Hellsichtig schließt Hollós denn auch nach 66 Seiten staats- und völkerrechtlicher Analyse mit der Passage: „Im übrigen erscheint gerade die gegenwärtige ,Rechtslage‘ Deutschlands und seine derzeitige ,Rechtsordnung‘ in der richtigen Beleuchtung, wenn zum Schluß dieser Erörterungen über den Status Deutschlands auf jenen, der dynamischen Natur des Völkerrechtes eigentümlichen Grundsatz verwiesen wird, der […] zumeist nicht genügende Beachtung findet. […g]eradeso gilt im Völkerrecht der Grundsatz, daß gewaltsam – ja sogar mit ausgesprochen völkerrechtswidriger Gewalt – herbeigeführte völkerrechtliche Tatbestände durch die ,Macht der vollzogenen Tatsache‘ legalisiert werden, also – neues Recht begründen –. […]“ „In diesem Sinne kann man allerdings sagen, daß sich zahlreiche Tatbestände im heutigen Status Deutschlands in Bestätigung des alten völkerrechtlichen Grundsatzes von der Legalisierung der vollzogenen Tatsache – gegenwärtig in einem Stadium ihrer Entwicklung zu neuem Recht befinden.“

Wenn also bereits ein Deutschland als Rechtsgebilde, erst recht als Staat im Unklaren ist – wie kann es dann um ein Staatskirchenrecht stehen? In seinem hier zu beleuchtenden Werk beschreibt Hollós das Staatskirchenrecht des Jahres 1948 als einen Gegenstand, der selbst im Umbruch ist. Denn „Revolution ist zwar ein politischer Begriff, aber dieses Phänomen [verursacht] vor allem auf rechtl. Gebiete […] gewöhnlich ein Chaos, altes Recht ist zerbrochen, neues hat sich

26 Hollós, Rechtsstellung (Fn. 18), S. 29. – In Frankreich hat die Fortgeltung der Konkordatsnormen von Juli 1801 für die heutigen Départements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle in jüngerer Zeit auch einer verfassungsrechtlichen Prüfung standgehalten. Auf Vorlage des Conseil d’Etat hat das Conseil Constitutionnel am 21. Februar 2013 entschieden, dass hierin kein Verfassungsverstoß liege. Zum einen sei das das strenge Laizitätsprinzip anordnende Gesetz vom 9. Dezember 1905 im Erlasszeitpunkt nicht auf Elsass und Lothringen anwendbar gewesen, da diese Teil des deutschen Reichs waren. Seit 1919 dann hätten für diese Départements fortwährend Übergangsgesetze die Anwendbarkeit der vorherigen Partikularrechtsregime angeordnet, so dass das strenge Laizitätsprinzip nie zum Tragen gekommen sei. In materieller Hinsicht stellt das Conseil Constitutionnel darauf ab, dass auch das in Art. 1 Abs. 1 der französischen Verfassung verankerte Laizitätsprinzip ausweislich der Gesetzesmaterialien nicht darauf abzielen sollte, bestehende Partikularrechte in Bezug auf die Kirchen aufzuheben (Décision n8 2012 – 297 QPC du 21 février 2013 – www.conseil-constitutionnel.fr/ decision/2013/2012297qpc.htm [letzter Abruf: 30. November 2016]). 27 Prominent der Vermerk im Schmutztitel: „Nur für Studenten – Nicht im Buchhandel“.

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Johannes Meskouris noch nicht gebildet, und das ist eine Lage, aus der sich eine allgemeine Unsicherheit auf allen Gebieten, natürlich auch im Staatskirchenrecht ergibt“28.

Das gewissermaßen in der Schwebe Befindliche des Untersuchungsgegenstands beginnt bereits bei seinem Namen: Staatskirchenrecht. Staatskirchenrecht war seit dem 19. Jahrhundert die überkommene Bezeichnung für jenes Recht, durch welches die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften geregelt werden. Im Nationalsozialismus indes wurde der Begriff gemieden; es begann die Benennung als „Religionsrecht“ vorzudringen, die den Bezug zur katholischen und zu den evangelischen Kirchen mied29. Nicht so bei Hollós, der die überkommene Begrifflichkeit verwendet – um dann, indem er schwerpunktmäßig die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zum Staatskirchenrecht behandelt, zunächst von Gewesenem zu schreiben. In § 6 seines Staatskirchenrechts beschreibt Hollós die Entstehung der staatskirchenrechtlichen Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung (WRV) im Präteritum. Die Weimarer Republik war ein Ding der Vergangenheit. Sodann aber, in der langen Passage der §§ 8 – 11 des Werks30, werden die einzelnen Artikel der WRV, namentlich die Artt. 135 – 141, 124, 146, im Präsens einzeln adressiert. Weshalb? – Vielleicht ahnte Hollós das Grundgesetz voraus. Vielleicht sollte ein Kurzkommentar der staatskirchenrechtlichen Vorschriften der WRV, im Tonfall des Jetzigen geschrieben und gleich so, als gälten sie ohne Frage, eine große Ungewissheit überbrücken, was denn nun gelten mochte; ob denn etwas gelten mochte. Noch näher kann indes liegen, in dieser Schreibweise den „Rechtsoptimismus“ zu erkennen, mit dem Hollós auch andere seiner Werke beschließt: dass auch formal vergangenes Recht, so es weiter gelebt wird, wieder lebendig werde31 und durch die normative Kraft des Faktischen gar wieder zu Rechtsnormstatus erwachse32. Worauf auch immer sie fußen möge: Dieselbe Darstellungsweise kommt auch für das Reichskonkordat von 1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl (§ 14) zum Tragen. Erst am Ende des darstellenden Teils seines Staatskirchenrechts – in § 18 – widmet sich Hollós auf zweieinhalb Druckseiten der Frage der Gültigkeit der Reichsverfassung und der Konkordate, mithin: der Frage nach dem Hier und Heute des Jahres 1948. In der Kürze und scheinbaren dogmatischen Nonchalance dieses Abschnitts

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Hollós, Staatskirchenrecht, S. 30. Hollerbach, Schmitz-FS (Fn. 15), S. 869 (874 f.). 30 S. 37 – 79; ein § 7 fehlt. 31 Vgl. das Evozieren des ins Werk gesetzten „régime concordataire“ und das hierdurch wiederherzustellende rechtliche Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Hollós, Rechtsstellung (Fn. 18), S. 29. 32 Vgl. – für das Völkerrecht – das Anführen der „legalisierenden Kraft der vollzogenen Tatsache“ in Hollós, Zur Kontroverse über den gegenwärtigen Status Deutschlands, wohl 1950, S. 65 f. 29

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zeigt sich der hemdsärmelige Pragmatismus der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa wenn Hollós auch an dieser Stelle konstatiert: „Es ist vorläufig noch umstritten, ob das Deutsche Reich nach den uns allen bekannten Ereignissen bei Ende des zweiten Weltkrieges rechtlich untergegangen ist, oder ob es nur seine völkerrechtliche Handlungsfähigkeit und -freiheit vorübergehend eingebüßt hat. Es ist daher überflüssig, auf die Einzelheiten dieses Problems näher einzugehen.“33

Die Essenz sei diese: Selbst der Untergang des Reichs lasse seine Rechtsordnung im Grundsatz unberührt – darunter auch die staatskirchenrechtlichen Artikel der Reichsverfassung. Was aber das Reichskonkordat und die Länderkonkordate betreffe, so seien sie zwar vom intakten Fortbestand beider Vertragspartner abhängig. Auf staatsrechtlicher Ebene sei ihr Normgehalt indes längst in – fortgeltendes – Reichsund Länderrecht transformiert. Auf völkerrechtlicher Ebene aber? Das stehe dahin. Beide Parteien hielten an den Konkordaten fest. Es gelte – wie schon an anderer Stelle ausgeführt34 –, was der französische Conseil d’Etat in der Folge des Ersten Weltkriegs festgestellt hatte: ein faktisches „régime concordataire“. Am 23. Mai des Folgejahres trat das Grundgesetz in Kraft. Dessen Artikel 140 inkorporiert die Artikel 136 – 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung. Noch heute liest sich Hollós’ Staatskirchenrecht insofern zeitgemäß. Und auch in anderer Hinsicht behält dieses Werk, das erste seiner Art in der Nachkriegszeit, von ungewisser wissenschaftlicher Rezeption und gewissem praktischen Wert für jene Studenten, die es direkt adressiert, vollkommen Recht. Mit Feststellungsurteil vom 26. März 1957 bestätigte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Fortgeltung des Reichskonkordats von 1933 in der Bundesrepublik Deutschland35. Es hielt fest, dass sich am Fortbestand des Deutschen Reichs durch den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nichts geändert habe36. Das deutsche Staatskirchenrecht hatte sein dogmatisches Fundament wiedergefunden. Hollós, den 1954 Verstorbenen, hätte dies erfreut. Nicht so den beklagten Landwirt sechzig Jahre später. Es wäre interessant gewesen, seine persönliche Reaktion auf den Geltungsanspruch deutschen Rechts zu beobachten; indes – aus seiner Sicht folgerichtig – forderte er in einem ersten Schritt die Belegschaft des Amtsgerichts Lörrach zur Auflistung all ihrer Platinvorräte auf, um seine naturrechtlich gegebenen späteren Schadensersatzansprüche zu bedienen. Dem Verhandlungstermin eines Gerichts der Bundesrepublik, an die er nicht glaubte, blieb er fern. Die Bundesrepublik aber glaubte an ihn. Sie ließ es per Versäumnisurteil wissen.

33 Hollós, Staatskirchenrecht, S. 123. Einzelheiten aber bei dems., Gegenwärtiger Status Deutschlands (Fn. 32). 34 Vgl. Hollós, Rechtsstellung (Fn. 18), S. 28 f. 35 BVerfGE 6, 309 – Reichskonkordat. 36 So bereits in BVerfGE 3, 288 (319 f.) – Berufssoldatenverhältnisse.

Dietrich Jesch – „Gesetz und Verwaltung“: Werk und Rezeption Von Nils Wegner I. Einleitung Dietrich Jesch, geboren 1923, war nach seiner Zeit als Assistent seines wissenschaftlichen Lehrers Otto Bachof – zunächst in Erlangen, später in Tübingen – gerade erst im Jahr 1960 zum Ordinarius für Öffentliches Recht an die Philipps-Universität Marburg berufen worden. Ein Jahr später, 1961, wurde seine Habilitationsschrift „Gesetz und Verwaltung“ veröffentlicht. Bis zu seinem frühen Tod im Alter von nur 39 Jahren im Jahr 1963 war ihm als Wissenschaftler nur wenig Zeit vergönnt, die Rezeption seines Werkes zu befördern.1 Der folgende Beitrag soll von dieser Schrift und ihrer Rezeption handeln. Was aber ist Rezeption und wie wirkt sich der frühe Tod eines Wissenschaftlers auf die Rezeption seiner Arbeit aus? Lässt sich eine Veränderung der Rezeption, so es sie denn gibt, auch nachweisen? Allgemein versteht man unter Rezeption die „verstehende Aufnahme eines Kunstwerks, Textes oder Ähnlichem durch den Betrachter, Leser oder Ähnlichem“.2 Während die sensuelle, hier visuelle Aufnahme eines Textes sich im Laufe der Zeit kaum verändert, ist das Verständnis des Lesers von vielen individuell verschiedenen Faktoren abhängig. Von großer Bedeutung ist dabei das Vorverständnis des Lesers vom Gegenstand des Textes. Dieses wiederum scheint abhängig vom Wissen des Lesers3 einerseits, aber auch zu nicht unerheblichem Maße vom zeitlichen und räumlichen Kontext der Aufnahme andererseits.4 Das Vorverständnis kann entscheidend sein, dem Versuch des Verstehens eines Textes zum Erfolg zu verhelfen. Wo der Versuch, wie häufig genug, schief geht,5 bedarf es der Kor1

Ein, soweit ersichtlich, vollständiges Publikationsverzeichnis der wissenschaftlichen Schriften Dietrich Jeschs findet sich im Anschluss an den Nachruf von Bachof, Nachruf auf Dietrich Jesch, AöR 88 (1963), 347 (349 ff.). 2 Stichwort „Rezeption“, Duden, Das Bedeutungswörterbuch, 3. Auflage 2002. 3 Einschränkend soll es im Folgenden nur um die Rezeption durch solche Leser gehen, die professionell mit dem Recht vertraut sind. 4 Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich das Verständnis eines zeitgenössischen Textes des eigenen Kultur-, hier Rechtskreises, dem Leser anders erschließt als das eines historischen Textes anderer Herkunft. 5 Eindrücklich und pessimistisch zu den Erfolgsaussichten jeder Kommunikation Canetti, Das Gewissen der Worte, 1998, S. 48: „Ich begriff, daß Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen; daß ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen;

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rektur. Dass auf diese ein Autor durch spätere Publikationen und aktive Teilnahme an der Rezeption seines Werkes einwirken kann, ist selbstverständlich. Wie es sich jedoch auswirkt, wenn dies unterbleibt und wegen des frühen Todes des Autors unterbleiben muss, scheint aufgrund der Individualität und Multi-Kausalität jeder Rezeption eine schwierig bis unmöglich zu beantwortende Frage. Ihre Beantwortung kann nur auf die Hypothese eines nie geschehenen Lebens aufbauen. Möglich dagegen scheint es, die tatsächliche Rezeption von Jeschs Werk näher zu beleuchten und möglicherweise bestehende Brüche in der Rezeptionsgeschichte aufzuzeigen. Dies will ich im Folgenden versuchen. Wie aber nähert man sich Werk und Rezeption eines Juristen, der vor über 50 Jahren verstarb? Die Hoffnung, mithilfe des Internets sich die Rezeptionsgesichte in einem ersten Zugriff erschließen zu können, wird nur teilweise erfüllt. Hinweise finden sich durchaus – das Bild, das man erhält, bleibt jedoch bruchstückhaft. So finden sich vor allen Dingen Standortnachweise für Jeschs Dissertations- und Habilitationsschrift in über die ganze Welt verteilten Bibliotheken,6 nicht zuletzt auch der Übersetzung von „Gesetz und Verwaltung“ ins Spanische.7 Daneben finden sich zahlreiche digitalisierte juristische Schriften in denen das Werk Erwähnung findet. Ein weiterer Fund veranschaulicht darüber hinaus, wie unsicher der Rückschluss von einer textlichen Erwähnung auf einen Rezeptionsvorgang sein könnte. So fand Jeschs Werk auch in der Dissertationsschrift des derzeitigen deutschen Außenministers Steinmeier Erwähnung. Gerade in einer jener Fußnoten, die verdächtigt wurden, in der Form des Plagiats in die Arbeit übernommen worden zu sein.8 Wie auch immer dieser konkrete Fall zu bewerten ist,9 müssen aus der Kenntnis um derartige daß es keine größere Illusion gibt als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Man spricht zum anderen, aber so, daß er einen nicht versteht… Wie Bälle springen die Ausrufe hin und her, erteilen ihre Stöße und fallen zu Boden. Selten dringt etwas in den anderen ein, und wenn es doch geschieht, dann etwas Verkehrtes.“ 6 Neben zahlreichen deutschen Bibliotheken finden sich u. a. Nachweise für amerikanische (University of California; Stanford University; University of Minnesota; Northwestern University); skandinavische (national library of Norway; Stockholm University) und asiatische (Taiwan University; Nagoya University) Bibliotheken. 7 Z.B. Biblioteca del Congreso Nacional de Chile; Universidad de Bogotá, Colombia; Universidad de León; Universidas de alamanca; Biblioteca Nacional de Espana. 8 Die Verdächtigung wurde geäußert auf der inzwischen zu einiger Bekanntheit gelangten Internetseite „vroniplag.de“, deren Betreiber es sich zur Aufgabe gemacht haben, wissenschaftliches Fehlverhalten von ihnen ausgewählter Autoren ausfindig und öffentlich zu machen. Im Falle von Steinmeier wurde dort u. a. auf Seite 176 seiner Schrift „Bürger ohne Obdach. Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum“, 1992, Fn. 247 als mögliches Plagiat aus der Schrift von Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 10, ausgewiesen. 9 Die Universität Gießen prüfte im Rahmen eines Verfahrens zur Aberkennung des Doktorgrades und stellte dieses schließlich ein, da es am Vorliegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens, wenn auch nicht an handwerklichen Schwächen gefehlt habe. Die Bewertung einzelner Fußnoten wurde jedoch nicht öffentlich gemacht, Pressemitteilung der Universität Gießen, Nr. 213 vom 5. November 2013.

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Fälle Schlussfolgerungen für die Untersuchung einer Werkrezeption gezogen werden? Ein kurzes Schlaglicht fällt dann noch auf die öffentliche Person des auch politisch engagierten Professors. Jesch unterzeichnete als einer von 29 Professoren der „politischen Wissenschaft und des Staatsrechts“ ein Schreiben an den damaligen Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger, um gegen das Vorgehen staatlicher Stellen gegen Angehörige der Redaktion des „Spiegel“ in der sog. Spiegel-Affäre ihre Stimme zu erheben und Konsequenzen der politisch Verantwortlichen zu fordern.10 Und schließlich findet sich sogar ein Eintrag beim Kurznachrichtendienst „Twitter“, in dem ein Nutzer auf Japanisch über sein Studium von „Gesetz und Verwaltung“ berichtet.11 All diese Funde mögen Rückschlüsse darauf zulassen, dass die Schrift Jeschs rezipiert wurde und wird. Über die Art der Rezeption erfährt man jedoch wenig. Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung soll (nicht nur) deshalb die Schrift „Gesetz und Verwaltung“ selbst sein (II.). Die Fragestellung sowie der Hintergrund der Entstehung der Schrift, über den ihr Autor selbst referiert, wird kurz beleuchtet (II. 1.). Einer Erörterung der Methode Jeschs (II. 2.) schließt sich die Untersuchung der wesentlichen Aussagen des Werkes an (II. 3.). In einem zweiten Schritt wird die Rezeption der Schrift erkundet. Hier werden die Auseinandersetzung mit der Methodik Jeschs sowie drei Phasen der Rezeption unterschieden (III.1.–4.) Der Beitrag schließt mit einer Würdigung des bleibenden Werts der Schrift (IV.). II. Dietrich Jesch – Gesetz und Verwaltung 1. Hintergrund der Entstehung und Fragestellung Dietrich Jesch hatte sich als Wissenschaftler schon vor der Abfassung seiner Habilitationsschrift ausführlich mit der Aufteilung der Staatsgewalt auf die im Grundgesetz benannten Gewaltenträger auseinandergesetzt. Seine 1956 erschienene Dissertationsschrift „Die Bindung des Zivilrichters an Verwaltungsakte“ hatte das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive in einem speziellen Bereich ausführlich beleuchtet.12 Mit einer Abhandlung über unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessen, 10 Abgedruckt in „Der Spiegel“ vom 28. November 1962. Einer Kommentierung der damals noch laufenden gerichtlichen Verfahren gegen Verleger, Herausgeber und Mitarbeiter der Wochenzeitschrift wegen Landesverrats enthielten sich die Professoren ausdrücklich. 11 Die Lehren Jeschs wurden durch einen Aufsatz von Hiroya Endo in Japan bekannt gemacht, ders., Theorie Dietrich Jeschs von Verfassungsstruktur (1), Hokkaido Law Review 1968, 1 ff. Nach Auskunft von M. Yoneda, Universität Hokkaido und ehemals Gastwissenschaftler am Institut für Öffentliches Recht der Universität Freiburg, besitzen die Lehren Jeschs unter Verwaltungsrechtswissenschaftlern in Japan hohe Bekanntheit. Dieser anscheinend reichen Rezeptionsgesichte kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags leider nicht weiter nachgegangen werden. 12 In anderer Form war dieses Verhältnis auch bereits Gegenstand weiterer Aufsätze Jeschs gewesen. Vgl. ders., Entscheidung des Rechtsmittelgerichts im Verwaltungsprozeß und re-

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die 1957 im Archiv des öffentlichen Rechts erschien,13 hatte er sich bereits auch dem Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive zugewandt, dem Thema also, dem er auch seine spätere Habilitationsschrift widmete. Den äußeren Anlass für die erneute Befassung mit diesem Thema bildete für Jesch der Wandel der soziologischen Struktur des Staates hin zum modernen Verteilungsstaat.14 Zwar war dies keine neue Erscheinung der jungen Republik oder des 20. Jahrhunderts überhaupt, zumindest aber eine neue Schwerpunktbildung bei den Verwaltungsfunktionen.15 Gleichzeitig, im Angesicht der gestiegenen Bedeutung staatlicher Leistungen für den Einzelnen, hielten Rechtsprechung und herrschende Lehre an der aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie überkommenen Begrenzung des Gesetzesvorbehalts auf staatliche Eingriffe in Eigentum und Freiheit fest.16 Das Bundesverfassungsgericht hatte die Ausnahme des Leistungsbereiches erst im Jahre 1958 ausdrücklich bestätigt.17 Vom Vorbehalt des Gesetzes, der weiterhin nur im Bereich des allgemeinen Gewaltverhältnisses zwischen Bürger und Staat Anwendung fand, waren ebenfalls die sog. besonderen Gewaltverhältnisse ausgenommen. Die Rechtsverhältnisse von Schülern, Beamten, Soldaten und Strafgefangenen, die seit Laband dem Innenbereich des Staates zugeordnet worden waren,18 konnte die Verwaltung deshalb ebenso wie den Leistungsbereich ohne gesetzliche Ermächtigungen der Legislative ordnen und ausgestalten. Zwar war gerade die Institution der besonderen Gewaltverhältnisse bereits seit einiger Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion

formatio in peius, DÖV 1955, 391 ff.; Zur Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe, DÖV 1956, 77 ff. 13 Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957), 163 ff. 14 Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 176. 15 Jesch (Fn. 14), S. 177 mit Verweis auf die Fürsorge- und Versorgungsleistungen des modernen Staates und in Abgrenzung zu Forsthoff, der in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, das Recht der öffentlichen Sachen und die Anstaltsnutzung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen der Daseinsvorsorge als Verwaltungsfunktion rückte. Diese aber zeigten gerade, so Jesch, dass das Phänomen der Leistungsverwaltung durchaus schon im 19. Jahrhundert bekannt gewesen sei. Forsthoff hatte für diesen Bereich der Verwaltung den Begriff der „Daseinsvorsorge“ geprägt, vgl. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938 sowie sein Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 1950. 16 Vgl. Mallmann, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, VVDStRL 19 (1961), S. 165 ff. (166) sowie Jesch (Fn. 14), S. 201 mit zahlreichen Nennungen aus der damaligen Rechtsprechung und Literatur. 17 BVerfGE 8, 155 (167); hierzu Jesch, Zulässigkeit gesetzesvertretender Verwaltungsverordnungen, AöR 84 (1959), S. 74, (91 f.). 18 Laband, Staatsrecht, Bd. 2, 5. Auflage 1911, S. 181. Ehmke führte auf der Staatsrechtslehrertagung 1964 in der Aussprache zum Thema „Verwaltung und Schule“ mit einiger Ironie aus, die eigentliche Bedeutung der besonderen Gewaltverhältnisse sei es, „die Zuchthäusler, die Irren und die Professoren in eine Kategorie zu bringen“, VVDStRL 23 (1966), 258.

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unter Druck geraten,19 nur ganz vereinzelt fanden sich aber breiter angelegte Versuche, einen Totalvorbehalt des Gesetzes für staatliches Handeln zu etablieren.20 Trotz bereits vier verschiedener Verfassungslagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte ein nicht unbedeutender Teil des aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie tradierten Begriffsguts, darunter auch der im 19. Jahrhundert entstandene Gesetzesvorbehalt, auch in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik noch Geltung beanspruchen.21 Im Bereich des Gesetzesvorbehalts machte sich Jesch nun an den Versuch, die veränderte Verfassungssituation herauszuarbeiten und ihr zur Geltung zu verhelfen. Neben der Frage nach der Geltung des Gesetzesvorbehalts im Bereich der Leistungsverwaltung sowie der besonderen Gewaltverhältnisse ging Jesch auch dem Problem der Ermächtigungstechnik, d. h. der Frage nach, in wieweit der Gesetzgeber die Verwaltung in ihren Entscheidungen zu binden hatte.22 2. Methodik Während soziologische Veränderungen der Staatsstruktur für Jesch den äußeren Anlass für seine Untersuchung bildeten, sah er für die juristische Begründung eines modernen Vorbehaltsverständnisses – anders als sein Kollege Hans Heinrich Rupp, der ebenfalls Assistent bei Bachof in Tübingen war und zum gleichen Thema arbeitete23 – einzig verfassungsrechtliche Veränderungen als relevant an.24 Als spezielle

19 Vgl. die Berichte und Diskussionen zum besonderen Gewaltverhältnis auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer in Mainz, 1956 in: VVDStRL 15, 1957. Siehe auch Jesch (Fn. 14), S. 207 m.w.N. 20 Jesch (Fn. 14), S. 202 mit Verweis auf Maunz, Deutsches Staatsrecht, 9. Auflage 1959, S. 58 sowie Spanner, Gutachten für den 43. Deutschen Juristentag, Bd. I, 2. Teil A, S. 6 ff.; Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 38, 1954. Für die Weimarer Zeit bereits Köttgen, Artikel 114 und 115, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 348 (355 f.). Der Begriff des „Totalvorbehalts“ soll hier in dem Sinne verstanden werden, dass er grundsätzlich eine gesetzliche Ermächtigung aller Staatstätigkeit fordert. Dies spricht nicht gegen die Existenz von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen der Verwaltung. 21 Jesch (Fn. 14), S. 5. 22 Jesch (Fn. 14), S. 2. 23 Norbert Achterberg prägte später für beide den Begriff der „Tübinger Schule“, ders., Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 52. H. H. Rupp veröffentlichte seine Schrift „Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre“ 1965. Zu den bei Jesch behandelten Fragen hatte er aber bereits zuvor Stellung genommen. Vgl. ders., Verwaltungsakt und Vertragsakt, DVBl 1959, 81 ff.; bei allen inhaltlichen, vor allen Dingen methodischen Differenzen waren beide freundschaftlich miteinander verbunden. Rupp widmete seine 1965 erschienenen „Grundfragen“ „Dietrich Jesch zum Gedächtnis“. Er folgte ihm auch auf den Lehrstuhl in Marburg nach, Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4: Staatsund Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945 – 1990, 2012, S. 443. 24 Jesch schloss sich mit seiner dogmatisch juristischen Methode Labands Positivismus an, Jesch (Fn. 14), S. 60.

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Forschungsmethode hielt Jesch die Lückenausfüllung (nicht die Textauslegung)25, genauer einer systematisch-deduktiven Gewinnung eines Rechtssatzes aus der Verfassungsordnung für notwendig.26 Jesch erteilte damit der Herleitung des Gesetzmäßigkeitsprinzips aus einzelnen Verfassungsprinzipien wie dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Gewaltenteilungsgrundsatz eine klare Absage, da diese ihrerseits lediglich „Leerformeln“ seien, deren rechtlich verbindlicher Inhalt sich erst in der Zusammenschau mit anderen Verfassungsnormen ergebe.27 Über den richtigen Weg von der Verfassungsordnung auf der einen Seite zu dem gesuchten Gesetzmäßigkeitsprinzip auf der anderen stellte Jesch die methodische Hypothese auf, dass das Gesetzmäßigkeitsprinzip eine Funktion der jeweiligen Verfassungsstruktur sei. Mit der Veränderung der Struktur der Verfassung von einer konstitutionellen Monarchie hin zu einer parlamentarischen Demokratie müssten sich, infolge der angenommenen funktionalen Abhängigkeit, auch Inhalt und Umfang des Gesetzmäßigkeitsprinzips ändern.28 Zur Durchführung einer juristisch exakten Ableitung hatte Jesch zunächst die funktionale Stellung des überkommenen Gesetzmäßigkeitsprinzips in der Verfassungsstruktur der konstitutionellen Monarchie darzustellen. Aus der veränderten Struktur des Grundgesetzes war dann auf die veränderte funktionale Stellung und damit den Inhalt des „modernen“ Gesetzmäßigkeitsprinzips zu schließen.29 Dabei betrachtete er all diejenigen Normen, die, im Sinne eines materiellen Verfassungsbegriffes, den Charakter oder „die Eigenart“ des konkreten Staates ausmachten und ihn so von anderen Staaten unterschieden.30 3. Der Vorbehalt des Gesetzes bei Dietrich Jesch Das wesentliche Strukturmerkmal der Verfassung der konstitutionellen Monarchie in Deutschland war für Jesch das monarchische Prinzip, wonach der Monarch Oberhaupt des Staates und Träger der Staatsgewalt ist.31 Fürstensouveränität32 und monarchische Regierungsform waren dadurch anerkannt, Volkssouveränität und parlamentarische Regierungsform zurückgewiesen.33 Wenn auch der Fürst kein absolu25 Jesch (Fn. 14), S. 63, sah diesen Weg dadurch als nicht gangbar an, dass es bei der Beantwortung seiner Frage nicht um einen Schluss vom Besonderen auf Besonderes ging, sondern um die Gewinnung eines allgemeinen Grundsatzes, für den der überkommene Gesetzesvorbehalt lediglich einen Unterfall bildete. 26 Jesch (Fn. 14), S. 64. 27 Jesch (Fn. 14), S. 66; insoweit revidierte er auch seine eigene noch in AöR 82 (Fn. 13), 163 (245, Fn. 298), vertretene Auffassung. 28 Jesch (Fn. 14), S. 66. 29 Jesch (Fn. 14), S. 66 f. 30 Jesch (Fn. 14), S. 68. 31 Jesch (Fn. 14), S. 76 f. 32 Zur genauen Einordnung der Fürstensouveränität als Organsouveränität im Unterschied zur Herrschersouveräntität vgl. Jesch (Fn. 14), S. 78 ff. 33 So die Umschreibung des monarchischen Prinzips bei Stahl, Das monarchische Prinzip, 1845, wiedergegeben nach Jesch (Fn. 14), S. 78.

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ter mehr war und seine Macht „am Recht und an der Macht des Parlamentes“ endete,34 hatte seine, die monarchische Exekutive, es doch vermocht, ihre Stellung in einem wesentlichen Punkt aus der absolutistischen Zeit in die konstitutionelle Monarchie hinüberzuretten. Ihre Zuständigkeiten bezog sie auch weiterhin aus der durch das monarchische Prinzip geprägten Stellung und zu ihren Gunsten bestand eine Zuständigkeitsvermutung, wenn nicht eine ausdrückliche Beschränkung ihrer Befugnisse durch die Verfassung vorgesehen war.35 „Nur das von der Gesellschaft eroberte Terrain war vom Recht beschienen; im Übrigen herrschte das ,Nicht-Recht‘ des Absolutismus.“36 Unter dem fortwährenden Dualismus von Staat und Gesellschaft sicherte der Gesetzesvorbehalt eine einheitliche37 Freiheitsphäre des Bürgers gegen staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum ab.38 Wegen dieser Schutzfunktion des Vorbehalts für die bürgerliche Sphäre war der Leistungsbereich der monarchischen Exekutive von ihm ebenso ausgenommen, wie der der Gesellschaft gegenüber stehende Innenraum des Staates mit seinen besonderen Gewaltverhältnissen. Hinzu kam, dass sich der auf dem demokratischen Gesetzesbegriff und damit dem Gedanken der Selbstregierung beruhende Vorbehalt für inhaltliche Anforderungen an die Ausgestaltung gesetzlicher Grundlagen nicht in Stellung bringen ließ. Entschied sich das Parlament für eine gesetzliche Globalermächtigung an die monarchische Exekutive, so war dem Vorbehalt damit genüge getan.39 Unter der Herrschaft des Grundgesetzes hatten sich nun aber jene für Jesch entscheidenden Verfassungsstrukturen verändert. Träger der Staatsgewalt, deren Ausübung auf die Organe der Legislative, Exekutive und Judikative verteilt wird, ist das Volk. Die Stellung des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung ist gegenüber der des Monarchen in konstitutioneller Zeit sogar stärker, handelt das Parlament doch völlig unabhängig von der Exekutive.40 Zwar wird es bei der Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen durch Art. 80 Abs. 1 GG beschränkt, die Exekutive dadurch jedoch sogleich als „vollziehende“ Gewalt ausgewiesen.41 Kreations- und Kontrollfunktion des Parlaments bilden das parlamentarische Prinzip und bestimmen das Verhältnis von Legislative und Exekutive.42 Die parlamentarische Regierungsweise schließlich führt zur beinahe völligen Abhängigkeit der Regierung vom Par34

Jesch (Fn. 14), S. 88. Jesch (Fn. 14), S. 169 f. 36 Jesch (Fn. 14), S. 90. 37 Jesch (Fn. 14), S. 124 ff. 38 Jesch (Fn. 14), S. 108 f. sowie 112. Zur ideengeschichtlichen Begründung der Freiheit und Eigentum-Formel aus den naturrechtlich begründeten Menschenrechten, der Idee der Gewaltenteilung und dem Prinzip der Volkssouveränität vgl. Jesch (Fn. 14), S. 117 ff. 39 Jesch (Fn. 14), S. 169. 40 Der Monarch hingegen bedurfte für die Gesetzgebung der Zustimmung des Parlaments, Jesch (Fn. 14), S. 87. 41 Jesch (Fn. 14), S 94 f. 42 Jesch (Fn. 14), S. 95. 35

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lament.43 Diesem komme, nicht zuletzt unter Berücksichtigung seiner Fähigkeit zur Verfassungsänderung im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG, die Organsouveränität zu und sei als höchstes Staatsorgan zu betrachten.44 Die im Parlament repräsentierte pluralistische Gesellschaft habe sich so „des gesamten Staatsapparates“ bemächtigt, den alten Dualismus von Gesellschaft und Staat gebe es nicht mehr.45 War nun aufgrund der veränderten Verfassungsstrukturen des Grundgesetzes, entsprechend der methodischen Hypothese Jeschs, auch von einer veränderten inneren Struktur des Gesetzesvorbehalts auszugehen? Waren die Begrenzung des Gesetzesvorbehaltes in der konstitutionellen Zeit auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum und sein Ausschluss vom Bereich der besonderen Gewaltverhältnisse obsolet geworden?46 Aus der herausgehobenen Stellung des Parlamentes gegenüber der Exekutive folgerte Jesch, dass sich diese zur vollziehenden Gewalt im strengen Sinne gewandelt hatte.47 Abgesehen von einer verfassungsrechtlichen Handlungskompetenz im Bereich echter politischer Entscheidungen auf Regierungsebene sollte sie vollumfänglich vom Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigung des Parlaments abhängig sein.48 Die Grundlagen zu rechtlich verbindlichem Handeln gegenüber dem Bürger wie auch die nötige demokratische Legitimation empfange die Exekutive somit erst durch das Parlament.49 In der Folge bejahte Jesch für den Bereich der staatlichen Begünstigungen50 die gestellte Frage ausnahmslos.51 Die neue Führungsrolle des Parlaments umfasste danach auch eine „Leitungs- und Lenkungsaufgabe“ im Bereich aller staatlichen Begünstigungen,52 die Exekutive wurde auch hier abhängig von parlamentarischen Ermächtigungen in Gesetzesform.53 43

Jesch (Fn. 14), S. 95. Jesch (Fn. 14), S. 98, 99 f. 45 Jesch (Fn. 14), S. 172 f.; ein Spannungsverhältnis besteht nun, da die Parlamentsmehrheit zumeist die Regierung trägt, vielmehr „zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition“ – zumeist einer Minderheit – andererseits, BVerfGE 49, 70 (85 f.). 46 So die Fragestellung Jeschs für die „Moderne Problematik“ im fünften Kapitel seiner Arbeit. 47 Jesch (Fn. 14), S. 170. 48 Jesch (Fn. 14), S. 171. 49 Jesch (Fn. 14), S. 171 f.; Während spätere Rezipienten Jesch bzgl. seines Strukturvergleichs zustimmten, entzündete sich gerade an den hier dargestellten Schlussfolgerungen die Kritik und führte zu Diskussionen um die eigenständige demokratische Legitimation der Exekutive unter dem Grundgesetz. Vgl. dazu sogleich II. 2. b). 50 Als für die zu untersuchende Frage zu unpräzise lehnte Jesch die Nutzung des Begriffs der Leistungsverwaltung ab und unterschied im Folgenden zwischen staatlichen Begünstigungen im Gegensatz zu staatlichen Belastungen, Jesch (Fn. 14), S. 182. 51 Jesch (Fn. 14), S. 205, mögliche verfassungsmäßig übertragene Ermächtigungen an die Regierung seien hier nicht betroffen. 52 Jesch (Fn. 14), S. 205. 53 Jesch (Fn. 14), S. 205. Dass Jesch hier die Gesetzesform meint, obwohl er lediglich von parlamentarischer Ermächtigung spricht, ergibt sich aus seiner Heranziehung des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs. Vgl. zu diesem Jesch (Fn. 14), S. 24 ff. (insbesondere S. 26). 44

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Auch auf den Bereich der besonderen Gewaltverhältnisse, die Jesch im Rahmen seiner Arbeit als gegeben behandelte, ohne ihre grundsätzliche Berechtigung zu hinterfragen,54 übertrug er seine Argumentation. Die Vorstellung rechtsfreier Räume sei aufgrund der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes unhaltbar. Die Ablehnung der absolutistischen Vorstellung eines der Gesellschaft entgegengesetzten und dem Zugriff des Parlaments entzogenen Innenraums des Staates war nach seiner Analyse der veränderten Verfassungsstruktur nur konsequent. Folgerichtig sah er den Vorbehalt des Gesetzes auch als auf die besonderen Gewaltverhältnisse erstreckt an.55 Insoweit dem allgemeinen Gewaltverhältnis gleichgestellt, stufte Jesch die Bedeutung der Kategorie von der verfassungsrechtlichen auf die verwaltungsrechtliche Ebene herunter56 und gestand ihr nur noch die Wirkung einer die Grundrechtsausübung begrenzenden immanenten Schranke bei prinzipieller Grundrechtsgeltung oder einer die extensive Auslegung einer Ermächtigungsgrundlage zulassenden Rechtfertigung zu.57 Aus der Struktur des Grundgesetzes leitete Jesch, aufbauend auf einem den demokratischen überlagernden rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff,58 schließlich auch Anforderungen für die inhaltliche Ausgestaltung der im Vorbehaltsbereich liegenden Gesetze ab. Danach seien Globalermächtigungen grundsätzlich unzulässig, da sich der Gesetzgeber andernfalls seiner ihm zugedachten Normierungs- und Lenkungsaufgabe entziehen würde.59 Im Bereich der Eingriffsverwaltung gelte hinsichtlich der geforderten Regelungsdichte ein Messbarkeitserfordernis, dass sich insbesondere aus der in Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Garantie gerichtlicher Kontrolle ergebe und den Gerichten erst ermögliche, die angegriffenen Maßnahmen an einem gesetzlichen Maßstab zu überprüfen.60 Dies schließe die Einräumung behördlichen Ermessens und die Benutzung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht aus, werde jedoch dadurch begrenzt, dass die Legislative den Maßstab zu stellen, der Richter hingegen lediglich zu messen und nicht erst die Grundlage des Messens zu finden habe.61 Derselbe Maßstab gelte auch im Bereich der leistenden Verwaltung, soweit dem Leistungsempfänger ein Anspruch eingeräumt werden solle. Hier stelle jede gesetzeswidrige Nichteinräumung der Leistung eine Verletzung des garantierten Anspruchs dar und müsse erforderlichenfalls durch Gerichte in gleichem Maße kontrollierbar sein wie im Eingriffsbereich.62 Lediglich dort, wo staatliche Begünstigungen bei normativer Bindung der Verwaltung keinen subjektiven Anspruch begründen, diese also 54

Jesch (Fn. 14), S. 206. Jesch (Fn. 14), S. 211. 56 Jesch (Fn. 14), S. 212. 57 Jesch (Fn. 14), S. 212. 58 Jesch (Fn. 14), S. 213. 59 Jesch (Fn. 14), S. 222. 60 Jesch (Fn. 14), S. 223 f. 61 Jesch (Fn. 14), S. 226. 62 Jesch (Fn. 14), S. 228. 55

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allenfalls einen bloßen Reflex darstellen, seien geringere Anforderungen an die Begrenzung der Ermächtigung zu stellen. Die Normierungs- und Lenkungsrolle der Legislative fordere hier lediglich die Bestimmung des Leistungsbereiches, verlange hingegen nicht weitergehend auch eine genaue Normierung der Mittelverteilung, da mangels Möglichkeit subjektiver Rechtsverletzung das Messbarkeitserfordernis hier nicht eingehalten werden müsse.63 III. Rezeption von „Gesetz und Verwaltung“ 1. Die Rezeption der Methodik Jeschs Dietrich Jesch legte mit hohem Aufwand die Methodik seiner Untersuchung in der Überzeugung nieder, dass nur so eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die juristischen Probleme seiner Arbeit möglich sei.64 Obwohl selbst skeptisch ob des für eine solche Offenlegung zu erwartenden Dankes angesichts einer in seinen Augen zu sehr auf das „richtige“ Ergebnis fokussierten Disziplin,65 fand eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Teil seiner Arbeit durch spätere Rezipienten immer wieder statt.66 Dabei wurde das Verständnis Jeschs von einem angemessenen Methodensynkretismus ebenso zum Gegenstand gemacht67 wie die seiner Untersuchung zugrunde liegende methodische Hypothese.68 Ihr wurde entgegengehalten, dass juristische Institutionen nicht notwendigerweise ihre innere Struktur änderten, wenn sich das sie umgebende Verfassungsgefüge veränderte. Sie beizubehalten könne durchaus sinnvoll sein, wenn sich auch ihre Bedeutung für das Ganze wandelte.69 Auch sein Tübinger Kollege Hans Heinrich Rupp setzte sich im Rahmen seiner „Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre“ ausführlich mit der Methodik Jeschs auseinander und hielt schließlich an seinem schon früher verfolgten70 – von

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Jesch (Fn. 14), S. 227 f. Jesch (Fn. 14), S. 8. 65 Jesch (Fn. 14), S. 36 f. Schon C.-F. Menger würdigte in seiner Rezension aber gerade auch die Offenlegung der Methode durch Jesch, Menger, Gesetz und Verwaltung – Bemerkungen zum gleichnamigen Buch von Dietrich Jesch, Der Staat 1 (1962), 360 (362). Und auch Bachof betonte in seinem Nachruf das Talent Jeschs für methodische Fragen, Bachof (Fn. 1), 348. 66 Dies dürfte nicht zuletzt auch daran liegen, dass Jesch mit bewundernswerter Klarheit auch zahlreiche Grundbegriffe der juristischen und allgemein wissenschaftlichen Methodik klärte, die auch für die Bearbeiter völlig anderer Fragestellungen noch heute von Interesse sind. 67 Lerche, Stil, Methode, Ansicht, DVBl. 1961, 690 (696, Fn. 59). 68 Huber, Maßnahmegesetz, 1963, S. 175; in diese Richtung geht auch eine Bemerkung von Bachof, Über einige Entwicklungstendenzen im gegenwärtigen deutschen Verwaltungsrecht, in: Külz/Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. 2, 1963, S. 3 (7). 69 Huber (Fn. 68), S. 175 (insbes. Fn. 3). 70 Rupp (Fn. 23), 81 (84 f.). 64

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Jesch ausdrücklich verworfenen71 – Ansatz einer Neubestimmung des Gesetzesvorbehalts aus der gewandelten Zielrichtung des Freiheitsverlangens fest. Noch heute wird die methodische Arbeit Jeschs zum Anknüpfungspunkt eigener Stellungnahmen gemacht. So hat sich Reimer jüngst mit dem Argument gegen die spezielle Lösungsmethode Jeschs gewandt, dessen „normative[r] Hebel“ bestehe aus „Entwicklungslinien“ oder einer „Verfassungsstruktur“, die verfassungsrechtlich unmaßgeblich, wenn auch perspektivgebend seien. Nach seiner Ansicht müssten stets die in der Verfassung enthaltenen expliziten Gesetzesvorbehalte Ausgangspunkt jeder dogmatischen Bestimmung eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts sein. Der speziellen Forschungsmethode der Einzel- oder Gesamtanalogie sei wegen ihrer größeren Nähe zum Verfassungstext gegenüber einer Anwendung der Verfassungsprinzipien der Vorrang zu geben.72 Will man sich der Ansicht Reimers bzgl. der Vorzugswürdigkeit von Gesamtanalogien auch im hier relevanten Zusammenhang anschließen und lehnt man überdies auch den normativen Eigenwert von Verfassungsstrukturen ab,73 so müsste man sich meiner Ansicht nach jedoch auch damit auseinandersetzen, dass Jesch die Möglichkeit eines Analogieschlusses explizit abgelehnt hatte, da es bei der Beantwortung seiner Fragestellung nicht um einen Schluss vom Besonderen auf Besonderes, sondern von dem überkommenen, in seiner Reichweite beschränkten Eingriffsvorbehalt i.S.e. Spezialfalls auf den weiterreichenden allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes ging.74 Erst aber wenn auch dieses Argument widerlegt ist, stünde auch die Methode der Gesamtanalogie als Alternative zu Jeschs Vorgehen zur Verfügung. Hinzu kommt, dass Jesch bei der von ihm gewählten Methode der systematisch-deduktiven Gewinnung75 zur Ermittlung der Verfassungsstruktur durchaus auch die einzelnen expliziten Vorbehalte des Grundgesetzes mit einbezog76 und auch selbst ausdrücklich – wie bereits ausgeführt – eine Ableitung allein aus Verfassungsprinzipien ablehnte, so dass die Kritik Reimers meiner Ansicht nach nicht voll durchschlägt.77 Auch Schönberger knüpft bei seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Jeschs an dessen methodischem Vorgehen an. Seine Kritik richtet sich dabei gegen Jeschs Er71

Jesch (Fn. 14), S. 203. F. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Auflage 2012, Rn. 31 und Fn. 254. 73 Anders aber insoweit BVerfGE 2, 380, 4. Leitsatz, auf den sich auch Jesch bezieht; vgl. weiterhin Thieme, Der Gesetzesvorbehalt im Besonderen Gewaltverhältnis, JZ 1964, 81 ff. (82) sowie Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 226, die beide für die Behandlung des Vorbehaltsproblems auf den Gesamtzusammenhang der Verfassung zugreifen. 74 Jesch (Fn. 14), S. 64. 75 Jesch (Fn. 14), S. 64. 76 Hinsichtlich der grundrechtlichen Vorbehalte Jesch (Fn. 14), S. 135, hinsichtlich Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 Seite 154 und für Art. 115 Satz 2 und 3 Seite 85. 77 Jesch (Fn. 14), S. 135 sowie Fn. 155. 72

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klärung, bei der Beantwortung seiner Fragestellung auf eine rechtsvergleichende Betrachtung ausländischer Verfassungen zu verzichten, da sie für die konkrete Verfassungssituation des Grundgesetzes zu erfolgen habe.78 Diese von Schönberger als verfassungsdogmatisch richtig, gleichzeitig aber verfassungstheoretisch unbefriedigend empfundene Rechtfertigung ist für ihn symptomatisch für eine starke Binnenorientierung der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu Beginn der Bundesrepublik, die der Entwicklung neuer Lösungen, im Sinne einer wirklichen Überwindung vorkonstitutioneller Restbestände, nicht förderlich war.79 Dem soll nicht widersprochen werden. Es scheint mir dennoch wichtig zu betonen, dass Jesch durchaus den fruchtbringenden Nutzen rechtsvergleichender Betrachtungen auch im Verfassungsrecht anerkannte, wenn er auch für ihre Durchführung zunächst eine Klärung der eigenen Begriffe für notwendig hielt.80 Der vorläufige Verzicht auf die vergleichende Betrachtung erscheint mir deshalb durchaus gut begründet.81 2. Die Rezeption Jeschs in der zeitgenössischen Diskussion um den Vorbehalt des Gesetzes Auch der inhaltliche Teil von „Gesetz und Verwaltung“ fand nach ihrer Veröffentlichung 1961 schnell „allgemeine Beachtung und Anerkennung“.82 Christian-Friedrich Menger, damals Professor in Kiel, besprach die Arbeit Jeschs äußerst positiv, bezeichnete sie als eine historisch ausgreifende, außerordentlich gründliche und reich dokumentierte Untersuchung83 mit großem Wert für die Rechtswissenschaft84 und stimmte dem Vorgehen in weiten Teilen zu. Menger arbeitete auch den Knackpunkt der Arbeit heraus, mit dem die Richtigkeit der Ergebnisse stehe und falle:85 Stimmte man nicht mit den Thesen Jeschs über die veränderte Stellung der Exekutive zur Legislative, ihrem Charakter als vollziehende Gewalt im strengen Sinne, die nur dort zum Handeln befugt sein sollte, wo sie durch die Legislative dazu ermächtigt wurde, überein, so konnte man – zumindest auf dem von Jesch beschrittenen Weg – auch den Folgerungen über die Ausweitung des Gesetzesvorbehalts hin zu 78

Jesch (Fn. 14), S. 4. Schönberger, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 (79). 80 Jesch (Fn. 14), S. 4. 81 Dies wiederspricht nicht Schönbergers Beurteilung – nicht gerechtfertigt erscheint aber seine Bezeichnung der Rechtfertigung durch Jesch als „karg“ (Fn. 79), S. 79 (Fn. 116). Karg ist lediglich der von Schönberger zitierte Satz. Diesem geht allerdings ein ganzer Absatz voraus, in dem Jesch seine Entscheidung wohl begründet. 82 Bachof (Fn. 1), S. 348. 83 Menger (Fn. 65), S. 361; ähnlich die Einschätzung bei Thieme (Fn. 73), 81, der die Arbeit Jeschs als „die vielleicht gründlichste Arbeit“ zum Problem des Vorbehalts des Gesetzes im Bereich besonderer Gewaltverhältnisse bezeichnet. Thieme folgte der Argumentation Jeschs im Ansatz, nicht aber im Ergebnis. 84 Menger (Fn. 65), S. 366. 85 Menger (Fn. 65), S. 364. 79

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einem Totalvorbehalt nicht zustimmen. Und selbst wenn man mit den Prämissen übereinstimmte, so bedeutete dies noch nicht, dass man auch die gleichen Schlüsse daraus zog.86 Der Rezensent Menger jedoch tat dies mit einschränkender Klarstellung87 und folgte auch den weiteren Ableitungen. Dass die Schrift Jeschs auf Interesse stieß, verwundert nicht weiter, gab sie doch eine (mögliche) Antwort auf Fragen, die schon seit einiger Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen waren. Die anhaltende Diskussion spiegelte sich nicht zuletzt auch in den Berichten und Diskussionen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wider.88 Die von Jesch behandelten Fragen bildeten dabei nur einen Ausschnitt aus einer breiteren rechtswissenschaftlichen Strömung,89 die eine stärkere Konstitutionalisierung des einfachen Rechts, insbesondere des Verwaltungsrechts,90 einforderten. Als Jeschs Schrift erschien, waren die Diskussionen bereits in vollem Gange,91 und auch Jesch selbst hatte schon publizistisch in die Auseinandersetzungen eingegriffen.92 Gegen eine Ausweitung des Gesetzesvorbehalts formierte sich jedoch auch Widerstand. Dieser versuchte die überkommene und weiterhin herrschende Lehre zu verteidigen und agierte zugleich in mehrere Richtungen. Man berief sich nicht nur auf die geschichtliche Entwicklung der Rechtsinstitution und geltendes Verfassungsrecht, sondern brachte auch eine teleologische Überlegung über den Existenzgrund des Staates selbst zur Geltung und unterstützte schließlich die eigene Position mit

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So Thieme (Fn. 73), S. 82. Menger (Fn. 65), S. 364 f. 88 Vgl. die Berichte von Krüger und Ule über „Das besondere Gewaltverhältnis“, VVDStRL 15 (1957), 109 ff.; die Berichte von Köttgen und Ermacora zur Organisationsgewalt, VVDStRL 16 (1958), 154 ff.; Mallmann und Zeidler zu den Schranken nichthoheitlicher Verwaltung (Fn. 16), 165 ff. 89 Die Zuordnung dieser Strömung zu einer bestimmten Generation von Juristen scheint dabei nicht möglich. Zwar waren an ihr tatsächlich viele jüngere Wissenschaftler beteiligt, unter den Befürwortern eines Totalvorbehalts bspw. befanden sich aber auch T. Maunz (geb. 1901), H. Spanner (geb. 1908) und W. Wallmann (geb. 1908). 90 Neben den hier behandelten Fragen der Bindung der Verwaltung lassen sich u. a. zu dieser Entwicklung auch Forderungen nach der weitergehenden Umsetzung der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 IV GG, des Sozialstaatsgebots und der Drittwirkung von Grundrechten zählen. Vgl. zu letzteren auch die Bemerkungen von Schneider, Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung, NJW 1962, S. 1273 (1274 f.). 91 Ossenbühl sieht die Schrift des Schweizers Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 38, 1954, als maßgeblichen Auslöser für die Diskussion rund um die Neubestimmung des Gesetzesvorbehalts. Diese Einschätzung teilt auch Mallmann (Fn. 16), S. 175. 92 Vgl. insbesondere seine Anmerkung zu BVerfGE 8, 155 (Fn. 17) sowie ders. (Fn. 13), S. 163 – 249, in dessen verfassungsrechtlichem Teil (S. 234 ff.) sich Jesch um die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Rechtsprechung und Verwaltung bemühte. 87

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praktischen Erwägungen.93 Mitunter geriet die Kritik zur Polemik: Hans Schneider ätzte gegen Forderungen nach Ausweitung des Gesetzesvorbehalts und bezeichnete sie als Ausdruck einer „Legalitätssucht“94. Der Verfassungspurismus der Autoren irritierte ihn zusätzlich, erwartete er von den „zornigen“ jungen Juristen doch eher Protest als Verfassungskonformität. Diese Form von Konformität gerate zum Drang nach Perfektion und beraube so auch den besten Grundsatz seines Sinnes.95 Schneider knüpfte damit an die schon in den 60er Jahren geäußerte Kritik an der allseits beobachteten Überlastung des Gesetzgebers an. An Gewicht gewann die rechtsdogmatische Kritik an Jeschs Analyse, wenn eine verbliebene Selbstständigkeit der Verwaltung nicht als naturgegeben dargestellt,96 sondern anhand des Grundgesetzes näher begründet wurde. Diese Kritik richtete sich nicht so sehr gegen Jeschs Schluss auf eine Suprematie des Parlaments im Allgemeinen.97 Vielmehr dürfe daraus lediglich ein absoluter Vorrang, nicht aber auch ein totaler Vorbehalt des Gesetzes abgeleitet werden.98 Autoren wie Böckenförde und später auch Ossenbühl kritisierten, ein Totalvorbehalt trage der demokratischen Legitimation der Verwaltung unter dem Grundgesetz nicht hinreichend Rechnung. Während das Parlament zwar aufgrund der unmittelbaren Wahl der Abgeordneten durch den Souverän eine den anderen Organen gegenüber stärkere personelle Legitimation besitze, seien Parlament und Verwaltung hinsichtlich der institutionellen demokratischen Legitimation, die sie unmittelbar durch den pouvoir constituant im Verfassungsakt erfahren hätten, gleichgestellt.99 Diese Kritik traf insbesondere deshalb, weil Jesch dem Problem in seiner Schrift kaum Beachtung schenkte.100 Selbst wenn man aber der Kritik folgen wollte, ist zu beachten, dass diese ihrerseits nicht geeignet ist, irgendein anderes Ergebnis zu begründen. Demokratische Legitimation ist geeignet, eine Verteilung staatlicher Macht zu legitimieren, nicht sie zu begrün93 So Peters, Verwaltung ohne gesetzliche Ermächtigung?, in: Imboden/Bäumlin/Eichenberger (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Festschrift für Hans Huber, 1961, S. 206 (210). 94 Schneider (Fn. 90), 1273 (1274). 95 Schneider (Fn. 90), 1273 (1275); in diese Richtung geht auch die Bezeichnung der Anhänger eines ausgedehnten Vorbehaltsbereichs als „Formaljuristen“ und „Nurjuristen“ durch Peters (Fn. 93), S. 215. Elegant pariert durch Jesch, Zur Festschrift für Hans Huber, Der Staat 1 (1962), S. 107 ff. (115), der erklärt, diese als „epitheta ornantia“ hinnehmen zu müssen. 96 So der Vorwurf Mallmanns an Peters (Fn. 16), S. 186. 97 Diese Analyse wird z. B. auch geteilt von Ossenbühl (Fn. 73), S. 201, 212 und Thieme (Fn. 73), S. 82. 98 Ossenbühl (Fn. 73), S. 214 und leicht abgeschwächt S. 228: „wohl […], nicht aber unbedingt […]. 99 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 79.; Ossenbühl (Fn. 73), S. 197, 199, 207. 100 Dass die Verwaltung die nötige demokratische Legitimation erst über das Gesetz empfange wird von Jesch (Fn. 14), S. 171 f., recht lapidar festgestellt und nicht weiter problematisiert. In diesem Sinne auch Mallmann (Fn. 16), S. 186.

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den. Neuere Versuche der Bestimmung der Reichweite des Gesetzesvorbehalts haben deshalb auch weitere Argumentationsstränge entwickelt, denen hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann.101 3. Die Rezeption Jeschs in späteren Jahren Das Bundesverfassungsgericht schloss sich der an der Lehre vom Totalvorbehalt geäußerten Kritik an. Zwar hatte das Gericht schon früh Zweifel an der Richtigkeit des überkommenen Verständnisses vom Vorbehalt des Gesetzes ausgedrückt, es machte jedoch in seiner Kalkar I-Entscheidung deutlich, dass auch der Verwaltung eine aus Art. 20 Abs. 2 GG folgende unmittelbar sachliche sowie eine mittelbar personelle demokratische Legitimation zukomme, die durch „einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen“ würde.102 Da, wie ausgeführt, die Kritik an der Lehre vom Totalvorbehalt rein destruktiv war, eine eigene Bestimmung der Reichweite des Vorbehalts also nicht beinhielt, musste das Bundesverfassungsgericht, wollte es den Vorbehalt des Gesetzes über den damals erreichten Stand hinaus trotz der Absage an Jeschs Lösung ausweiten, neue Begründungsansätze finden. Das tat es auch, zunächst allerdings nicht im Bereich des allgemeinen, sondern der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Veränderungen des Eingriffsbegriffs sowie Ausweitungen der Schutzbereiche der Grundrechte führten gleichzeitig zu einer Erweiterung der Anwendungsbereiche der speziellen Gesetzesvorbehalte.103 Über die Konstruktion von Leistungsgrundrechten wurden besondere Gesetzesvorbehalte auch im Bereich der leistenden Verwaltung wirksam, ohne den allgemeinen Gesetzesvorbehalt von seinen Beschränkungen auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum befreien zu müssen.104 Auch dieser Schritt unterblieb aber nicht. Da die dem 19. Jahrhundert entstammende Formel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum zur Bestimmung der Reichweite des allgemeinen Gesetzesvorbehalts nicht mehr dem heutigen Verfassungsverständnis entspreche,105 suchte das Gericht eine neue, der demokratisch-parlamentarischen Staatsverfassung entsprechende Formel, die unabhängig von dem häufig zu ungenauen Kriterium des „Eingriffs“ sein sollte.106 Erfasst sein sollten die Entscheidungen „aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmit101

Vgl. z. B. Ossenbühl (Fn. 73), S. 229 ff. BVerfGE 49, 89 (125) – Kalkar I, zustimmend insoweit Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (686), dieser führt aus, Jesch übersehe, dass die demokratische Legitimierung der Verwaltung den Gegensatz von Gesetzgebung und Verwaltung im demokratischen Staat als weitaus weniger scharf erscheinen lasse, als denjenigen zwischen monarchischer Exekutive und demokratischer Legislative im konstitutionellen Staat; Grzeszick, in: Maunz/Dürig GG, 51. Lfg. Dezember 2007, Art. 20, VI. Rn. 85 sowie 108. 103 Kloepfer (Fn. 102), S. 687. 104 So auch die Einordnung der Rechtsprechung von Kloepfer (Fn. 102), S. 687. 105 Dies hatte das BVerfG bereits in BVerfGE 8, 155 (167) erwogen, ohne allerdings eine Konsequenz daraus zu ziehen. 106 BVerfGE 40, 237 (249). 102

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telbar betreffen“.107 In Entscheidungen zum Schulrecht weiterentwickelt konnte der Vorbehalt nun, losgelöst von „überholten Formeln“, von seiner „demokratischrechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt“ werden, „auf dem aufbauend Umfang und Reichweite dieses Rechtsinstituts neu bestimmt werden“ sollten.108 Ergebnis dieser Entwicklung war die sog. Wesentlichkeitstheorie, die nicht nur fordert, dass alle wesentlichen Entscheidungen in der Form des Gesetzes zu treffen sind, sondern diese auch – als Parlamentsgesetzesvorbehalt109 – vom Gesetzgeber selbst entschieden und nicht etwa auf die Exekutive zu delegieren sind. Gegenüber der traditionellen Lehre entstand so ein die Grenzen des Art. 80 I GG überspielendes Delegationsverbot für das Parlament. Nachdem der Gegensatz zur monarchischen Exekutive entfallen war, wurde das Parlament nun vor sich selbst geschützt.110 Wenn auch das BVerfG seine Rechtsprechung in den Grundlagen zumindest im Schulrecht als akzeptiert ansah,111 so war die deutliche, teils polemisch vorgetragene Kritik nicht zu überhören. Sie richtete sich zum einen gegen die hohe Unbestimmtheit der Formel von der „Wesentlichkeit von Entscheidungen“112 zum anderen gegen die Degradierung der nichtparlamentarischen Rechtssetzung, der allenfalls noch die Ermächtigung zu „minder wesentlichen Maßnahmen“ verblieb.113 Inzwischen haben sich herrschende Lehre und Rechtsprechung, von unterschiedlichen Richtungen aus kommend, im Ergebnis jedoch gegenseitig angenähert114 und verfolgen eine Bestimmung des Vorbehaltsbereichs durch bereichsspezifische Konkretisierungen. Tendenzen im Bereich der Eingriffsverwaltung, Entscheidungen auf die Exekutive zu verlagern, geschehen nicht so sehr mit Blick auf die nach wie vor herrschende Ablehnung eines Totalvorbehalts des Gesetzes – denn ein solcher gilt

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BVerfGE 40, 237 (249). BVerfGE 47, 46 (78 f.). 109 Zur Unterscheidung der Begriffe „Parlamentsgesetzesvorbehalt“ und „Parlamentsvorbehalt“ siehe Reimer (Fn. 72), Rn. 24; vgl. auch Grzeszick (Fn. 102), Rn. 76. 110 Kloepfer (Fn. 102), S. 690; Hierin liegt auch ein wesentlicher Unterschied zur Lehre Jeschs. Während dieser nämlich einen Totalvorbehalt vertrat, ließen seine Anforderungen an die Ausgestaltung der Ermächtigungsgrundlagen weitaus größeren Spielraum für eine Delegation von Entscheidungen im Wege der Verordnungsermächtigung an die Exekutive. 111 BVerfGE 47, 46 (78). 112 Vgl. Kloepfer (Fn. 102), S. 692: „Allgemeiner und nichtssagender geht es kaum!“; „Wesentlich ist, was das BVerfG dafür hält“; die Kritik leise wiederholend Reimer (Fn. 72), Rn. 48; Grzeszick (Fn. 102), Rn. 103; Kritisch auch Herzog, der sich, nach eigenem Bekunden, trotz Geltendmachung seiner Bedenken aber innerhalb des BVerfG nie habe durchsetzen können, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, NJW 1999, S. 25 (26). 113 Kloepfer (Fn. 102), S. 692, vgl. auch S. 693: Fn. 84: „Was soll dann eigentlich noch Art. 80 GG?“. 114 Die Literatur zu diesem Thema und die Einzelheiten der Auseinandersetzungen können hier nicht einmal ansatzweise widergegeben werden. Vgl. aber die Literaturnachweise bei Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Auflage 2011, Art. 20, Rn. 116 ff. 108

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faktisch zumindest im Bereich der Eingriffsverwaltung115 – sondern im Zuge der Relativierung oder Spezifizierung der Wesentlichkeits-Rechtsprechung hinsichtlich der erforderlichen Regelungsdichte.116 Auch im Bereich der Leistungsverwaltung wurden grundrechtlich begründete Gesetzesvorbehalte wegen ihrer Bedeutsamkeit für die Realisierung grundrechtlicher Freiheit stark ausgeweitet. Sofern man in diesem Bereich von einer Zurückhaltung der Rechtsprechung sprechen will,117 bezieht sich diese eher auf die Frage der Regelungsdichte. In dieser Frage allerdings hatte auch Jesch nie eine Absolutheit parlamentarischer Regelungen gefordert, sondern aus der „Leitungs- und Lenkungsaufgabe“ des Parlaments sowie dem insbesondere aus Art. 19 IV GG entnommenen „Meßbarkeitserfordernis“ moderate Anforderungen an die Regelungsdichte abgeleitet.118 Ob in Zukunft die viel gescholtene Wesentlichkeitslehre verabschiedet werden kann und durch neue Bestimmungen der Vorbehaltsbereiche ersetzt wird,119 bleibt abzuwarten. 4. Historisierende Reflexionen Nicht allein dem Fortgang der Zeit ist es geschuldet, dass sich über die zeitgenössischen Diskussionen und die dogmatischen Auseinandersetzungen mit der Schrift Dietrich Jeschs inzwischen eine weitere Schicht der Rezeption – genauer: einer historisierenden Reflexion – gelegt hat.120 Hier weitet sich der Blick und setzt zur Einordnung der Auseinandersetzungen in die größeren Diskussionen der letzten Jahrzehnte an. Die Feststellung Schönbergers, dass eine solche Betrachtung die „Perspektive zeitloser Geltung“ dogmatischer Erwägungen, aus der heraus scheinbar nicht das ewig gleiche gültige Recht, sondern allenfalls seine bessere Erkenntnis einen Prozess durchmacht, bei Seite lassen müsse, um den Blick auf die historischen Entwicklungen zu werfen, ist auch für die Frage der Rezeptionsforschung relevant. Beschäftigt sich der Historiker mit den Schriften eines Autors, so unterstellt und erforscht er deren Wirksamkeit mit Blick auf andere Geschehnisse. Eine Wirkungsge115 Nach Reimer (Fn. 72), Rn. 45 kommt der allgemeine Gesetzesvorbehalt durch den Einfluss der Wesentlichkeitslehre dem zumindest nahe. 116 Grzeszick (Fn. 102), Rn. 114 – „Umgekehrte“ Wesentlichkeit. 117 Grzeszick (Fn. 102), Rn. 117 – der Hinweis auf BVerfGE 8, 155 (167 f.) vom 6. Mai 1958 lässt allerdings nicht unbedingt einen Rückschluss auf den heutigen Stand der Rechtsprechung zu. 118 Vgl. BVerwGE 58, 45 (48) sowie 104, 220 (222) wo es um Fälle geht, in denen dem Einzelnen kein subjektiver Anspruch auf eine Leistung zukommt. Für diese Fälle hatte auch Jesch lediglich aus der Leitungs- und Lenkungsaufgabe des Parlaments entnommene Mindestanforderungen, nicht aber eine Regelung verlangt, die eine Messbarkeit der Mittelverteilung ermöglicht. Jesch (Fn. 14), S. 228 f. Die weitergehenden Anforderungen des Meßbarkeitserfordernisses sollten dagegen nur in Fällen gelten, in dem die gesetzliche Grundlage dem Einzelnen einen Anspruch vermittelt. 119 Dies fordert z. B. Reimer (Fn. 72), Rn. 60 m.w.N. 120 Z.B. Schönberger (Fn. 79), S. 55; Stolleis (Fn. 23), S. 226 ff. (insbesondere 235 ff. 249 ff u. 442 f.); Lepsius, Wiedergelesen, Dietrich Jesch: Gesetz und Verwaltung, 1961, JZ 2004, 350 ff.

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schichte geistigen Inhalts setzt deren Rezeption voraus. Anders als bislang steht hier aber nicht mehr der einzelne Rezeptionsvorgang, sondern deren Folgen im Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive wurde das Werk Jeschs als Teil eines Fortschritts vom obrigkeitsstaatlichen zum Verwaltungsrecht der parlamentarischen Demokratie unter dem Grundgesetz gesehen.121 Wurde diese Sicht schon früh bestritten und die Geschichte auch unter entgegengesetzten Vorzeichen erzählt,122 wird heute, nach einer Zeit kritischer Neubewertung, die erhellende Kraft solcher „Großdeutungen“ zu Recht bezweifelt und der Blick auf die konkreten Probleme der Zeit gelenkt.123 So betrachtet erscheint „Gesetz und Verwaltung“ als Teil jener Strömung, die das Erbe der konstitutionellen Monarchie zwar bekämpfte, bei der angebotenen Lösung jedoch die eigene Verhaftung eben jener Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts offenbarte. Die Konzentration auf das Mittel des Parlamentsgesetzes zur Bindung der Verwaltung erscheint in dieser Sicht mehr als Versuch einer „posthume[n] Perfektionierung konstitutioneller Leitvorstellungen als die Umstellung auf die neue Struktur der parlamentarischen Demokratie“.124 Bei dieser Bewertung schwingt in anderem Gewand auch die dogmatische Kritik an Jesch mit, die demokratische Legitimierung der Verwaltung unter dem Grundgesetz nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und entsprechende Folgerungen daraus gezogen zu haben.125 Haben Jesch und andere dadurch dazu beigetragen, den überkommenen Dualismus von Staat und Gesellschaft, den sie selbst doch rechtlich überwinden wollten, tatsächlich zu perpetuieren?126 Oder hat die verspätete Verwirklichung des Rechtsstaates im Namen der Demokratie127 erst die rechtliche und gesellschaftliche Grundlage dafür geschaffen, dass sich zwei gegeneinander abgegrenzte Sphären nun Schritt

121 Jesch selbst als Erzähler dieser „Fortschrittsgeschichte“ einzuordnen, so Schönberger (Fn. 79), S. 57, gilt aber nur insoweit, als dass er die Geltung eines „fortschrittlichen“ Rechts behauptete. In der Wirklichkeit forderte er diesen Schritt gegenüber den verharrenden Kräften der jungen Republik aber gerade ein, erzählte mithin eine Geschichte vom Mangel des Fortschritts. 122 So die von Schönberger (Fn. 79), a.a.O., S. 56 als „Verfallsgeschichte“ bezeichnete Deutung bei Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Barion (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff. 123 Vgl. Schönberger (Fn. 79), S. 56 f. 124 Schönberger (Fn. 79), S. 81. 125 Schönberger (Fn. 79), S. 79. Dabei erscheint es aber als begründungsbedürftig, wenn Schönberger ausführt, Jesch und Rupp hätten aus „Kelsens rechtstheoretischen Erkenntnissen inhaltliche Postulate im Hinblick auf Gesetzesvorbehalt und verwaltungsgerichtliche Kontrolle“ abgeleitet, „die bei Kelsen selbst gerade gefehlt hatten und rechtstheoretisch auch gar nicht begründbar waren“. Jesch selbst forderte ausdrücklich zwischen „deren [der Wiener Schule] rechtstheoretischen Erkenntnissen, rechtspolitischen Postulaten und positivierten Grundsätzen scharf“ zu unterscheiden, ders. (Fn. 14), S. 188, sowie (Fn. 95), S. 115. 126 Schönberger (Fn. 79), S. 83. 127 Schönberger (Fn. 79), S. 82.

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für Schritt annähern und Vermischungen wieder zulassen konnte?128 Eine eindeutige historische Bewertung fällt nicht zuletzt auch im Angesicht der Unsicherheiten von Akteuren späterer Jahre über die Bestimmung der Stellung der Verwaltung unter dem Grundgesetz schwer. Der lange Streit um die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts spricht jedoch nicht dafür, ihn allein als Phänomen einer bestimmten Epoche zu betrachten, sondern die Grundsätzlichkeit und Zeitlosigkeit der Problematik zu betonen. Vom verschleiernden Begriff der „Wesentlichkeit“ verdeckt fällt es allerdings schwer, den Wendungen der letzten Jahrzehnte zu folgen.

IV. Schluss Was aber bleibt von Dietrich Jeschs Schrift „Gesetz und Verwaltung“ heute übrig? Oliver Lepsius schließt sein „Wiedergelesen“ von „Gesetz und Verwaltung“ mit der Vermutung, dass Jeschs Modell wohl aus der Mode gekommen sei.129 Und tatsächlich gewinnt man diesen Eindruck. Betrachtet man, wie Lepsius auch, die Diskussionen um die „verspätete Demokratisierung des Verwaltungsrechts“ mithilfe von Verbandsklagen, Informationsansprüchen und der vermehrten und frühzeitigen Einbindung gesellschaftlicher Akteure in Entscheidungsverfahren, so spielt das Mittel des Vorbehalts des Gesetzes hier doch kaum eine Rolle. Diskussionen um die Abgrenzung von Staat und Gesellschaft sind solchen um ihre Kooperation gewichen.130 In den verbleibenden Diskussionen um Gesetzesvorbehalte hat sich das Gewicht eher auf die Frage der geforderten Regelungsdichte im grundrechtlich relevanten Bereich verlagert. Die Bestimmung des Anwendungsbereichs des allgemeinen Gesetzesvorbehalts scheint dagegen aus dem Fokus der Rechtswissenschaft entschwunden und kehrt dorthin nur noch anlassbezogen zurück.131 Ein Anpassungsdruck auf das deutsche Recht geht heute überdies weniger von verfassungsrechtlichen als von europarechtlichen und internationalen Vorgaben aus. Zuallererst bleibt aber dennoch ein rechtsgeschichtlicher Wert. Die Lektüre öffnet dem heutigen Leser nicht nur die Tür zu den verfassungsrechtlichen Diskussionen 128 Danach scheint es nicht verwunderlich, dass stärker differenzierende Ansichten, wie die Scheuners, erst Ende der 1960er Jahre vermehrt Gehör fanden, Scheuner, Das Gesetz als Auftrag der Verwaltung, DÖV 1969, S. 585 ff. 129 Lepsius (Fn. 120), S. 351. 130 Vgl. statt vieler Jochum, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsprozessrecht, 2004 – auch sie eine Rezipientin von Jeschs Methodik, vgl. § 1, S. 17 ff.; Dies ist allerdings keine neue Diskussion. Spätestens mit dem Referat von Brohm über „Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung“ hatte sie die deutsche Staatsrechtslehre vollends erreicht, VVDStRL 30 (1972), 245 ff. (insbes. 293 ff.), und war Anlass für einen fruchtbaren Austausch mit den Sozialwissenschaften. 131 So z. B. anlässlich der Urteile des BVerfG zu staatlichen Warnungen, BVerfGE 105, 252 – Glykol; BVerfGE 105, 279 – Osho; soweit es den Bereich der Leistungsverwaltung angeht, kann man dies auch mit der gesunkenen Bedeutung der Frage aufgrund der nahezu vollständigen einfachgesetzlichen Normierung der relevanten Bereiche erklären – so Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 19.

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der 50er und 60er Jahre, das weite Ausgreifen Jeschs führt einen zudem in die juristische Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein. Seine Auseinandersetzung mit Autoren wie Otto Mayer, Gerhard Anschütz, Hans Kelsen, Richard Thoma, Carl Schmitt, Rudolf Smend, Hermann Heller und Paul Laband soll hierfür stellvertretend stehen.132 Von unverändertem Wert bleibt auch Jeschs Diskussion der eigenen Methode. Weniger, soweit sie seine spezielle Forschungsmethode zum Gegenstand hat, da dieser Teil Jesch vor allen Dingen zur Rechtfertigung des eigenen Vorgehens diente, als vielmehr die allgemeinen Aussagen über juristische Methodik und die Auseinandersetzung mit methodischen Fragen an sich. Schon Jesch musste diesbezüglich konstatieren, dass die Auseinandersetzung mit Methodik und die Offenlegung der eigenen Methode mühevoll sei und bei der Rechtswissenschaft nur selten Dank ernte.133 Die Analyse der Rezeption seiner Schrift hat jedoch gezeigt, wie wertvoll gerade dieser Teil seiner Arbeit für die späteren wissenschaftlichen Diskussionen war. Gerade deshalb forderte er auch völlig zu Recht: „Die Rechtswissenschaft muß aber methodenbewußt sein und muß ihre Methode offenlegen, sonst ist nicht nur ihre ,Wertlosigkeit als Wissenschaft‘ (v. Kirchmann) bewiesen, sondern auch die Bezeichnung ,Rechtswissenschaft‘ eine Täuschung.“134 Dies gilt heute nicht weniger als zu Beginn der 1960er Jahre. Und dennoch ist es wohl nicht kühn zu behaupten, dass das heutige Bemühen um methodische Sauberkeit und Transparenz nicht größer ist als damals. Und dies, obwohl mit der ständigen Verfügbarkeit des Internets und des dadurch möglichen Zugriffs auf zahllose juristische Entscheidungen und andere juristische wie nicht juristische Veröffentlichungen die Besinnung auf eine saubere und transparente Methodik in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – und genauso auch in der täglichen professionellen juristischen Arbeit im Allgemeinen – immer wichtiger wird. Schon Jesch hat sich gegen die Auflösung juristischer Begriffe gewehrt, um einer einseitig topischen Methode bei der Rechtsfindung Einhalt zu gebieten.135 An der Wichtigkeit dieser Aufgabe hat sich nichts geändert. Schließlich: Schaut man über die Grenzen Deutschlands hinaus, so scheinen auch die inhaltlichen Lehren Jeschs noch aktuell zu sein. Der Wechsel von Staatsformen und die Bemühungen um eine stärkere demokratische und rechtsstaatliche Bindung der Exekutive sind keine deutsche Erscheinung und gehören bei weltweiter Betrachtung keinesfalls der Vergangenheit an. Trotz der spezifischen Bezogenheit der Un132 Auch aus sprachlichem Interesse heraus lohnt die heutige Lektüre. Nicht nur vermochte es Jesch seine Gedanken in einer Klarheit zu schildern, die heute selten geworden scheint, gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Autoren besaß Jeschs Sprache auch noch jene Schärfe, wie sie früher verbreitet war, heute aber vielen unangebracht erscheint und wohl auch schon zu Beginn der 1960er Jahre im Rückzug begriffen war. Vgl. auch die diesbezügliche Selbsteinschätzung Jeschs, nicht zu den „Leisetretern“ zu gehören, widergegeben von Bachof (Fn. 1), S. 349. 133 Jesch (Fn. 14), S. 36 f. 134 Jesch (Fn. 14), S. 37. 135 Davon berichtet Bachof (Fn. 1), S. 348 f.

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tersuchung Jeschs auf die deutsche Verfassungsentwicklung wurde „Gesetz und Verwaltung“ im Jahre 1978 ins Spanische übersetzt und veröffentlicht.136 Eine einfache Internetrecherche zeigt, dass die Rezeption seines Werks auch heute noch in der spanisch-sprachigen137 wie auch der portugiesisch-sprachigen138 Welt in Wissenschaft und Praxis stattfindet. Weitere Untersuchungen wären allerdings nötig, um Art und Umfang der Rezeption in diesen Ländern im Einzelnen aufzuzeigen. Wenn der aus seiner Schrift gewonnene Eindruck nicht täuscht, hätte Dietrich Jesch an den Auseinandersetzungen mit seiner Schrift – gerade mit den kritischen – seine Freude gehabt und er hätte wohl beherzt darauf entgegnet. Es war ihm leider nicht vergönnt. Menger schloss seine Rezension von „Gesetz und Verwaltung“ mit den Sätzen: „Gleichgültig, ob man dem Verfasser in allen Einzelergebnissen seiner Untersuchung folgen will […], bestehen bleibt doch eine überzeugende wissenschaftliche Leistung von bleibendem Wert. Dietrich Jeschs Werk über Gesetz und Verwaltung fördert die Verfassungs- und die Verwaltungsrechtswissenschaft gleichermaßen. Es kann aufmerksamer Leser gewiß sein.“139 Dem kann nur zugestimmt und die Hoffnung auf aufmerksame Leser erneuert werden.

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Jesch, „Ley y administracion. Estudio de la evolucion del principio de legalidad“, Madrid: Instituto de Estudios Administrativos, 1978, Übersetzung von Manuel Heredero. 137 Siehe Porras Nadales, La Ley Singular y el problema del control de su soporte causal, Revista de derecho politicó, núm. 30, 1989, S. 11 ff.; aus der Praxis: Ministerio de Hacienda – Tribunal de Apelaciones de los Impuestos Internos y de Aduanas, San Salvador, Inc. R1008007.TM, Seite 24 des pdf-Dokuments; Calvo Fernández de la Peña, Reserva Legal Tributaria, Santiago, Chile 2011. 138 Revista Eletronica ad Judica, Ano I, Número 1, 2013, Seiten 8 und 11; Moreira Barbosa de Melo, in: Tagungsdokument der Conferência Internacional – Direitos Humanos e Comportamento Policial, Lissabon 2005, Seite 2. 139 Menger (Fn. 65), S. 366.

Christoph Sasse – Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik Von Julia Faber I. Einleitung Christoph Sasses Laufbahn ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen war er nicht „nur“ Wissenschaftler, sondern auch viele Jahre in der Praxis der EGInstitutionen tätig. Zum anderen, so viel sei bereits vorweggenommen, war er zeitweise Inhaber eines öffentlich-rechtlichen Lehrstuhls, obwohl er im Bereich Rechtsgeschichte promoviert hatte und keine abgeschlossene Habilitation aufweisen konnte. Was heute für die Vita eines Europarechtlers üblich ist, hob Sasse unter seinen Zeitgenossen noch hervor: seine umfangreiche Auslandserfahrung, die er bereits im Studium sammeln konnte. II. Biografisches1 Geboren wurde Sasse am 6. September 1930 in Berlin als Sohn eines freiberuflich tätigen Diplomingenieurs. In den Jahren 1940 bis 1949 besuchte er das humanistische Gymnasium in Weimar, Greifswald und Krefeld. Nach dem Abitur studierte er von 1949 bis 1953 Rechtswissenschaft in Marburg, Poitiers (Tours) und Genua. In dieser Zeit eignete er sich wohl bereits die fachspezifischen Fremdsprachenkenntnisse an, die ihm für seine späteren beruflichen Tätigkeiten und Veröffentlichungen nützlich werden sollten. Nach seinem Referendarexamen (1953) war Sasse zunächst zwischen 1954 und 1956 als Hauptassistent am Institut für antike Rechtsgeschichte in Marburg beschäftigt. 1957 wurde er unter der Betreuung von Emil Kießling mit einer rechtsgeschichtlichen Arbeit promoviert, die mit dem Prädikat summa cum laude ausgezeichnet wurde. Einer Karriere als Rechtshistoriker stand nichts mehr im Weg. Sasse hatte jedoch noch weitere ambitionierte Pläne: Neben dem Referendariat widmete er sich zwischen 1957 und 1960 dem Studium der Volkswirtschaft in Marburg. Bereits ab 1957 und bis 1963 war Sasse zudem Lehrbeauftragter für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät von Marburg. Trotz dieser zeitraubenden parallelen Tätigkeiten gelang es ihm im Jahr 1960, die Große juristische Staatsprü1 Soweit nicht anders gekennzeichnet, beruhen die folgenden Ausführungen auf: Bieber/ Bleckmann/Capotorti u. a. (Hrsg.), Das Europa der zweiten Generation. Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, Bd. I, 1981, S. XIX ff.; Börner, Christoph Sasse †, EuR 1979, 103, und P. Schneider, Nachruf Christoph Sasse, JZ 1979, 414.

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fung mit der Note „gut“ abzulegen. Sasse, dem damit alle Türen offenstanden, entschied sich zunächst für die Fortführung seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Er wurde wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht in Marburg und blieb dort von 1960 bis 1963. In dieser Zeit nahm er auch eine Habilitationsschrift in Angriff, ohne diese jedoch zu vollenden. Außerdem kehrte Sasse, nachdem er bereits einen Teil seines Studiums in Poitiers verbracht hatte, zu einem Forschungsaufenthalt nach Frankreich, genauer gesagt an die Faculté de Droit in Paris, zurück. Sasse wandte anschließend der Bundesrepublik Deutschland den Rücken zu und wechselte in die Praxis. Sicherlich auch aufgrund seiner Fremdsprachenkenntnisse und Auslandsaufenthalte erwies er sich als idealer Kandidat für eine Beschäftigung bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im Herbst 1963 begann Sasses Karriere in Brüssel, die bis 1970 dauern sollte. Zunächst war er im Juristischen Dienst der Kommission tätig; ab 1967 wirkte er als Berater des deutschen Vizepräsidenten Fritz Hellwig und stellvertretender Kabinettschef. Wieso Sasse diese vielversprechend begonnene Laufbahn aufgab, lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln. Jedenfalls kehrte er in die Wissenschaft zurück – ab 19682 war er Inhaber des neugeschaffenen Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Recht der Europäischen Gemeinschaften und Internationalen Organisationen in Gießen. Dass ihm dies trotz fehlender Habilitation möglich war, beruhte wohl auf seinen einschlägigen Praxiserfahrungen und mehreren Veröffentlichungen, die in der Summe die Habilitationsschrift ersetzen konnten („Sammelhabilitation“).3 Es folgten einige Jahre4, in denen Sasse – neben drei weiteren Inhabern öffentlichrechtlicher Lehrstühle – als ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht in Gießen tätig war. Nach Einschätzung des damaligen Zivilrechtsprofessors Thilo Ramm handelte es sich jedenfalls beim rechtswissenschaftlichen Fachbereich in Gießen um eine Reformfakultät5 ; die Professorenschaft bezeichnet er als „Ansammlung von Außenseitern“6, wobei es auch interne Spannungen ge-

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Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945 – 1990, 2012, S. 429, 432 m. Anm. 227, nennt 1968 als Jahr der Annahme des Rufs nach Gießen, 1969 als Beginn von Sasses Tätigkeit an der dortigen Universität. 3 Sehr kritisch dazu Ramm, Die Reformfakultät und die 68er – Der Zeitzeuge und der Zeithistoriker nach vierzig Jahren –, KritV 92 (2009), 115 (122): „Der Ersatz der Habilitationsschrift durch die Addition von Aufsätzen, die ,Sammelhabilitation‘, war ein fauler Kompromiss, den wir leider auch in Gießen praktizierten.“ Dass auch Sasse auf diese Weise zu seinem Lehrstuhl gekommen war, wird nicht explizit erwähnt, ist aber naheliegend. 4 Die Zeitangaben weichen leicht voneinander ab. Schneider schreibt in seinem Nachruf (Fn. 1), 414, Sasse sei ab dem 1. Januar 1970 ordentlicher Professor in Gießen gewesen und sei „zwei Jahre später“ einem Ruf nach Hamburg gefolgt. Nach Stolleis (Fn. 2), 429, dauerte Sasses Tätigkeit in Gießen von 1969 bis 1973. 5 Ramm (Fn. 3), 115 (118, 124). 6 Ramm (Fn. 3), 115 (123).

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geben habe7. Zudem habe Gießen als „Sprungbrett“ auf dem Weg zu anderen Universitäten gedient8, was sich an Sasses weiterer Laufbahn zeigen lässt: Er verließ Gießen nach wenigen Jahren und wurde Anfang der 1970er Jahre9 Inhaber eines Lehrstuhls an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg. Dort trat er die Nachfolge von Hans Peter Ipsen an10 und bekleidete das Amt des Direktors der Abteilung für Europäisches Gemeinschaftsrecht11. In Hamburg gründete Sasse zudem das Institut für Integrationsforschung der Stiftung Europa-Kolleg, das er dann auch als erster Direktor leitete. Schon bald zog es Sasse wieder ins Ausland: 1973 wurde er professeur associé für europäisches Wirtschaftsrecht an der Rechtsfakultät in Limoges. In den Jahren 1974 und 1975 war er als Visiting Professor bzw. Inhaber des deutschen Lehrstuhls an der Georgetown University in Washington, D. C. tätig. Während dieser Zeit, die er selbst als äußerst anregend empfand, arbeitete er nicht nur an seinem Werk „Regierungen, Parlamente, Ministerrat“12, sondern gab er auch eine knappe Sammlung von Reden und Diskussionen im Rahmen einer Tagung des „German-American Forum“ heraus13. Im Teilnehmerverzeichnis taucht er nicht als Professor, sondern nur als „Dr. Christoph Sasse“ auf. Nach seiner Rückkehr aus den USA hielt es Sasse nicht dauerhaft in Hamburg. 1976 ging er nach Florenz, um seine profunden Europarechtskenntnisse als erster Leiter der Abteilung Rechtswissenschaft am neu gegründeten Europäischen Hochschulinstitut (EHI) in Florenz fruchtbar zu machen. Dort konnte Sasse echte 7

Vgl. Ramm (Fn. 3), 115 (118, 124). Ramm (Fn. 3), 115 (124, Fn. 35). 9 Börner (Fn. 1), 103, und Stolleis (Fn. 2), 432, zufolge wurde der Ruf nach Hamburg 1974 erteilt; letzterer spricht aber an anderer Stelle (Anm. 227) davon, Sasse sei bereits 1973 dorthin gewechselt. Nach der Darstellung Schneiders (Fn. 4) ging Sasse bereits 1972 nach Hamburg. 10 Diesem widmete Sasse „in Dankbarkeit und Freundschaft“ sein 1975 erschienenes Werk „Regierungen, Parlamente, Ministerrat“. An anderer Stelle nannte er Ipsen und Nicolaysen seine „verehrten Hamburger Freunde“, die er „nicht allzu sehr […] erzürnen“ wolle, obwohl er deren Standpunkt zum Legitimationsdefizit der Gemeinschaften nicht ganz teile (Sasse, Die institutionelle Fortentwicklung der Gemeinschaften, in: Die institutionelle Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften in den siebziger Jahren. Wissenschaftliches Kolloquium am 20. und 21. April 1972 in Bad Ems, veranstaltet von der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht, Kölner Schriften zum Europarecht, Band 22, 1973, S. 61 [74 f.]). Er steuerte auch einen Beitrag zur Festschrift für Hans Peter Ipsen zum 70. Geburtstag bei (Sasse, Integration und Verfassungsjustiz – Bemerkungen zu einigen krisenhaften Vorgängen, in: FS Ipsen, 1977, S. 701). 11 Vgl. das Autorenporträt in: Sasse, Kooperationsabkommen und EG-Handelspolitik. Parallelität oder Konflikt?, EA 1974, 695 (695). 12 Im Vorwort (S. 11) bringt Sasse seine Freude über die Arbeitsbedingungen in Washington und seine Kritik an den vergleichsweise ungünstigen Verhältnissen an deutschen Universitäten zum Ausdruck. Vgl. dazu näher unten II. 1. 13 Domestic Determinants of Foreign Policy, Third Forum, 6 – 8 October 1974. Auch hier spricht Sasse im Vorwort von der „politisch anregenden Atmosphäre Washingtons“. 8

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Pioniertätigkeit leisten. Er selbst berichtete von „typische[n] Anlaufschwierigkeiten“ wie dem Mangel an qualifizierten Bewerbern aus bestimmten Mitgliedstaaten, war jedoch insgesamt optimistisch, dass diese nach Etablierung des EHI ausgeräumt sein würden.14 In den folgenden Jahren war Sasse an zwei großen Forschungsprojekten beteiligt15: Das eine beschäftigte sich mit dem Grundrechtsschutz in der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft, das andere mit der Ausarbeitung eines einheitlichen Verfahrens zur Wahl des Europäischen Parlaments. Letzteres war als interdisziplinäres Projekt angelegt; Sasse arbeitete hier mit dem Politikwissenschaftler Jacques Georgel und dem Rechtswissenschaftler Geoffrey Hand zusammen. Neben der Forschung war Sasse auch die Lehre am EHI ein besonderes Anliegen. Als Ziele gab er die „streng wissenschaftliche Weiterbildung für Postgraduierte und in der Regel de [n] Abschluß durch eine Dissertation“ vor.16 Daneben setzte sich Sasse dafür ein, „vorzugsweise jüngere Lehrkräfte von ausgezeichnetem wissenschaftlichem Profil“ einzustellen, „deren Interessengebiete sich mit den jeweils unternommenen wissenschaftlichen Projekten“ decken sollten.17 Insgesamt sah er das EHI als „Experiment“ an, das trotz aller „Konstruktionsmängel […] den hoffnungsvollen Beginn eines neuen Kapitels europäischer Integration“ darstelle.18 Ein längeres Wirken am EHI war Sasse tragischerweise nicht vergönnt: Am 26. Februar 1979 kam er bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Florenz ums Leben. Er hinterließ eine schwangere Ehefrau und sechs Kinder, die im niedersächsischen Echem lebten.19 III. Sasses Werk20 1. Allgemeines Michael Stolleis merkt zu Sasses Werk an: „Er hatte als Romanist begonnen, wandte sich aber entschieden dem Europäischen Gemeinschaftsrecht und Datenschutzrecht zu.“21 Nicht erwähnt sind in dieser Zusammenfassung einige finanzver14 Sasse, Das Europäische Hochschulinstitut. Ein Zwischenbericht, EuR 1976, 354 (357; vgl. auch 358 zu anfänglichen Problemen bei der Bibliotheksausstattung). 15 Sasse (Fn. 14), 354 (355); ders., Das Europäische Hochschulinstitut in Florenz – Versuch einer Zwischenbilanz –, in: Arbeitskreis Europäische Integration e. V. (Hrsg.), Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, 1978, S. 19 (21 f.). 16 Schneider (Fn. 1), 414 (415); vgl. zur Promotion am EHI auch Sasse (Fn. 14), 354 (355); ders. (Fn. 15), S. 22 f. 17 Sasse (Fn. 14), 354 (358). 18 Sasse (Fn. 14), 354 (359). 19 Börner (Fn. 1), 104, erwähnt sechs Kinder, wobei unklar bleibt, ob das ungeborene Kind das sechste oder das siebte war. 20 Ein (nahezu vollständiges) Publikationsverzeichnis findet sich in: Bieber/Bleckmann/ Capotorti u. a. (Fn. 1), S. XXIII ff. 21 Stolleis (Fn. 2), 432.

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fassungs-22, allgemeinverfassungs-23 und verwaltungsrechtliche Abhandlungen. Letztere beschränken sich auf ein einziges Thema, das Sasse allerdings tiefgehend und präzise behandelte: den Rechtscharakter von Verkehrszeichen.24 Diese seinerzeit noch stark umstrittene Problematik löste Sasse dahingehend, dass er Verkehrszeichen als „situationsbezogene Allgemeinverfügungen“ einordnete.25 Hingewiesen sei auch auf eine kurze strafrechtliche Veröffentlichung der damaligen Referendare und späteren Professoren Christoph Sasse und Ernst-Walter Hanack26, der zwar aus heutiger Sicht wegen einer Gesetzesänderung keine juristische Relevanz mehr zukommt27, die aber Rückschlüsse auf Sasses Vielseitigkeit28 zulässt. In einer seiner letzten Veröffentlichungen29 beschrieb Sasse für einen Adressatenkreis aus „Politik, Administration und Medien“30 das deutsche Bundestagswahlrecht. Hierbei handelte es sich um ein „Nebenprodukt“ der Arbeiten an einem einheitlichen europäischen Wahlverfahren.31 22

Sasse, Die verfassungsrechtliche Problematik von Steuerreformen. Ein Beitrag zur Interpretation der Art. 105 und 106 des Grundgesetzes und zur Frage der verfassungsrechtlichen Bestandsgarantien, AöR 85 (1960), 423; ders., Verfassungsrechtliche Aspekte einer Bundesund Gemeindefinanzreform, KStZ 1962, 161. 23 Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, JZ 1961, 719 (vgl. dazu Schneider [Fn. 1], 415: „Abhandlung […], welche seinerzeit Aufsehen erregt hat“); Helmut Lenz/Sasse, Parteiausschluß und Demokratiegebot, JZ 1962, 233; dies., Zur Regelung des Parteiausschlusses von CDU-Mitgliedern, JZ 1962, 432; Sasse, Haushaltsvollzug ohne Haushalt? Der Etatkonflikt des Jahres 1972, JZ 1973, 189. Vgl. auch die Ausführungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht bei Sasse, Persönlichkeitsrecht und Datenschutzgesetzgebung in Deutschland, in: FS Mallmann, 1978, S. 213 (213 ff.). 24 Sasse, Sind Verkehrszeichen wirklich Rechtsvorschriften? Diskussionsbeitrag zu einem Fall der Formenwirrnis, DÖV 1962, 321; ders., Entgegnung [zum Beitrag von Scheerbarth, Nochmals die Verkehrszeichen, DÖV 1962, 781], DÖV 1962, 781; ders., Rechtscharakter von Verkehrszeichen – Zulässigkeit von Parkscheiben. Bemerkungen zu dem unter Seite 61 veröffentlichten Urteil des VGH Hessen vom 24. 4. 1963, DÖV 1964, 42. 25 Sasse, DÖV 1962, 321 (329). In DÖV 1962, 781 (783), räumt ders. dann ein, es sei nicht gewiss, ob dies „der Weisheit letzter Schluß“ sei, immerhin sei aber „die generell-konkrete Allgemeinverfügung in der Hand der Exekutive schon wegen des erweiterten Rechtsschutzes weniger bedenklich, als eine praktisch weitgehend kontrollfreie Verordnungsbefugnis ohne parlamentarische Legitimation (Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG).“ 26 Hanack/Sasse, Zur Anwendung des § 56 StGB auf den Teilnehmer, DRiZ 1954, 216. Der durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I, S. 735) kurz zuvor eingefügte § 56 StGB lautete: „Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine höhere Strafe, so trifft diese den Täter nur, wenn er die Folge wenigstens fahrlässig herbeigeführt hat.“ 27 Die Neufassung des § 18 StGB erwähnt neben dem Täter auch den Teilnehmer, was die Streitfrage eindeutig gelöst hat. 28 Diese betont auch Schneider (Fn. 1), 414. 29 Sasse, Bundesrepublik Deutschland, in: ders./Georgel/Hand (Hrsg.), Das Wahlrecht der Neun, 1979, S. 77. 30 Sasse/Georgel/Hand, Vorwort, in: dies. (Fn. 29), 8. 31 Sasse/Georgel/Hand (Fn. 30), 7.

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In seinem Nachruf würdigt Peter Schneider32 die Schriften Sasses als „breit angelegt“.33 Die von ihm gewählten Themen hätten sich oft „am Rande der herkömmlichen Dogmatik“ bewegt und seien mit „Sensibilität“ und „Tastsinn für Lösungen, die im Sinn der herkömmlichen Dogmatik ungenau sind“, behandelt worden.34 Sasses knapp 150 Seiten umfassende rechtshistorische Dissertation „Die Constitutio Antoniniana“ beschreibt Schneider mit folgenden Worten: „Sprachwissenschaftliche Akribie und sorgfältige Einzelinterpretation gelenkt durch die Einsicht, daß selbst mit feinsten Instrumenten der Beobachtung und Deutung der Rahmen des Hypothetischen nicht gesprengt werden kann, zeichnen die Studie aus. […] Spürbar […] ist die Sensibilität für Indizien, für Grade der Wahrscheinlichkeit, für Plausibilität und der Verzicht auf den plumpen Durchgriff zur Wahrheit schlechthin.“35

Am Rande sei noch erwähnt, dass Sasse keine Scheu davor hatte, in seinen Veröffentlichungen an passenden Stellen auch Kritik an etablierten Institutionen zu üben. So ließ er sich in einer – unter Mitarbeit seines Assistenten Otto Ernst Kempen36 veröffentlichten – Abhandlung zum „Kommunalwahlrecht für Ausländer“ zur Aussage hinreißen, selbst „die brennenden politischen Themen eher abgeneigte ,Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer‘“ habe „ihre Jahrestagung 1973 u. a. der ,Staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland‘ gewidmet“.37 Dieser unterschwellige Vorwurf einer konservativen Einstellung ist umso mutiger, als Sasse selbst etwa zu dieser Zeit in die Vereinigung aufgenommen wurde.38 Ein Seitenhieb auf „gesetzesgläubige kontinentale Juristen“ findet sich in 32 Schneider war zunächst Rektor und dann von 1970 bis 1980 Präsident der Universität Mainz. Vgl. Denninger/Eifler/Hillebrand/Saame/Schumacher/Zitzlsperger, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Person und Amt. Peter Schneider zum 60. Geburtstag, dem Präsidenten zum Abschied, 1980, S. 7 f. Vermutlich lernte er Sasse in Florenz kennen, als Schneider Mitglied und beratendes Mitglied des Obersten Rates des EHI war. Vgl. zu dieser Tätigkeit Denninger/ Hinz/Mayer-Tasch/Roellecke, Vorwort, in: FS Schneider, 1990, S. 11 f. 33 Schneider (Fn. 1), 414. 34 Schneider (Fn. 1), 414 (415). 35 Schneider (Fn. 1), 414 (414 f.). 36 Dieser beschreibt seinen Werdegang folgendermaßen: „Ich selbst war 1969 als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Christoph Sasse in Gießen mit dem Europäischen Wirtschaftsrecht, der Parlamentarisierung der Gemeinschaft und der Europäischen Aktiengesellschaft beschäftigt. Ende 1973 wurde ich Justitiar der damaligen IG Bau-Steine-Erden […].“ (Kempen, Zeitgenössisches zu den Auswirkungen der „68er-Bewegung“ auf das Arbeitsrecht, KritV 2009, 152 [155]). 1973 schloss er auch seine von Christoph Sasse und Helmut Ridder betreute Dissertation ab (vgl. Kempen, Grundgesetz, amtliche Öffentlichkeitsarbeit und politische Willensbildung, 1975, Vorwort). 37 Sasse/Kempen, Kommunalwahlrecht für Ausländer? Staatsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen, 1974, S. 8. 38 Dies ergibt sich aus einem Vergleich der Mitgliederverzeichnisse in den Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL). Im Verzeichnis mit Stand April 1973 findet sich Sasses Name noch nicht; im Verzeichnis mit Stand April 1974 ist er erstmals erwähnt. Siehe VVDStRL 31 (1973), 315 (325), bzw. VVDStRL 32 (1974), 271 (282). Vgl. auch Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S. 466 m. Fn. 42,

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seiner Darstellung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.39 Dass Sasse nicht unbedingt glücklich über die Arbeitsbedingungen an deutschen Universitäten gewesen sein kann, geht aus dem Vorwort zu seinem bereits erwähnten Werk „Regierungen, Parlamente, Ministerrat“ hervor, in dem er feststellt: „Das Manuskript verdankt seinen planmäßigen Abschluß nicht unwesentlich der wohltuenden Atmosphäre, die der Verfasser als Visiting Professor an der Georgetown University vorfand. Die Abgeschiedenheit des alten Stadtteils verbindet sich hier mit der in Washington greifbaren Informationsfülle zu einem Arbeitsklima, wie es an deutschen Universitäten selten geworden ist.“40

Des Weiteren merkte Sasse im Rahmen seiner Beschreibung des EHI kritisch an, „zuviel vom problematischen Arbeitsstil der Gemeinschaften“ sei „ziemlich unbesehen auf das Institut übertragen worden“.41 Sasse war ferner zeitweise einer der geschäftsführenden Herausgeber der Zeitschrift „Europarecht“42 und Mitherausgeber der „Schriftenreihe Europäische Wirtschaft“ (Nomos Verlagsgesellschaft)43. 2. Die europarechtlichen Abhandlungen Aus Sasses Werk sollen im Folgenden beispielhaft einige europarechtliche Veröffentlichungen dargestellt werden, da diesem Forschungsbereich sein besonderes Interesse galt und sie auch heute noch durchaus lesenswert sind. a) Demokratische Legitimation der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft, institutionelle Fragen und Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene Die Zeitspanne zwischen Mitte der 1970er Jahre und Mitte der 1980er Jahre wird, was die europäische Integration angeht, zum Teil als Periode der Stagnation eingestuft.44 So sind denn auch Sasses europarechtliche Schriften, die in diesen Zeitraum fallen, im Ausgangspunkt geprägt von Frustration angesichts der Lückenhaftigkeit und der Defizite des Gemeinschaftsrechts seiner Zeit. 1972 begann er einen Aufsatz der darauf hinweist, Sasse sei ohne öffentlich-rechtliche Habilitation Mitglied der Vereinigung gewesen. 39 Sasse, Persönlichkeitsrecht und Datenschutzgesetzgebung (Fn. 23), 213 (215 f.). 40 Sasse, Regierungen, Parlamente, Ministerrat. Entscheidungsprozesse in der Europäischen Gemeinschaft, 1975, S. 11. 41 Sasse (Fn. 14), 354 (358). 42 Bieber/Bleckmann/Capotorti u. a. (Fn. 1), S. XX; Börner (Fn. 1), 104. 43 In dieser Schriftenreihe erschien 1979 der Sammelband „Das Wahlrecht der Neun“ (Fn. 29). 44 Dinan, Introduction, in: Cichocki/Zyczkowski (Hrsg.), Institutional Design and Voting Power in the European Union, 2010, S. 1 (8).

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mit den Worten: „Die Zukunft des Organsystems der Europäischen Gemeinschaft liegt im ungewissen, wenn nicht im argen“45 ; in derselben Abhandlung bezeichnete er das Institutionengefüge (insbesondere das Verhältnis Kommission/Rat) sogar als „dies verkrüppelte System“46 ; die Gemeinschaft insgesamt befinde sich in einer Phase der „konfliktfreie[n] Stagnation“, und ihre Organe seien gekennzeichnet durch eine „stabile Ineffizienz“47. 1976 sprach Sasse davon, das Europäische Parlament leide an „Kinderkrankheiten“.48 1972 hatte er sogar noch einen Vergleich mit der Entwicklungsstufe des Embryos gezogen.49 Diese Bestandsaufnahme ließ Sasse jedoch nicht resignieren, sondern bot ihm Anlass zu Forderungen nach Weiterentwicklung des Europarechts. Allerdings strebte er kurzfristig keine radikalen Veränderungen an, was wohl seiner jahrelangen Tätigkeit in der Europäischen Kommission zuzuschreiben ist.50 Er selbst ging davon aus, dass „die Zeit für eine grundlegende Verfassungsreform der Gemeinschaft noch nicht gekommen“ sei.51 Den Grund dafür sah Sasse insbesondere in der französischen Blockadehaltung, wobei er auch Kritik an Präsident Pompidou nicht scheute.52 Für den heutigen Leser instruktiv ist auch die „Solange-Formel“, die Sasse 1972 aufstellte: „Solange die Gemeinschaftsverfassung hinter den machtbildenden Strukturen der mitgliedstaatlichen Ordnung so weit zurückbleibt wie bisher, wird es zu keiner weiteren Verlagerung relevanter Entscheidungsbereiche auf die Gemeinschaft kommen, insbesondere nicht zu der

45 Sasse, Die Zukunft der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft. Überlegungen zu einigen Reformkonzepten, EA 1972, 87. 46 Sasse (Fn. 45), 87 (89). 47 Sasse (Fn. 45), 87 (97). 48 Sasse, Le renforcement des pouvoirs du Parlement, et spécialement ses nouveaux pouvoirs budgétaires, in: Institut d’Etudes Juridiques Européennes (Hrsg.), Collection scientifique de la Faculté de Droit d’Economie et de Sciences sociales de l’Université de Liège, Bd. 42: Le parlement européen. Pouvoirs – Election – Rôle futur, 1976, S. 21 (51). 49 Sasse, Kommission und Rat. Konstitutionelle Rivalen oder funktionale Partner?, EuR 1972, 341 (343). 50 Sasses Insiderkenntnisse von den Strukturen innerhalb der Kommission werden auch in seinen Veröffentlichungen sichtbar. So schreibt er etwa: „Wer die Arbeitsweise der Kommission kennt, weiß jedoch, daß die genaue Kenntnis der Ausgangslage in allen Mitgliedstaaten häufig erst durch das jeweilige Kommissionsmitglied vermittelt wird und den Vorlagen der Dienststellen oft nicht zuverlässig entnommen werden kann.“ (Sasse, Zur Verfassung der Europäischen Union, in: Heinrich Schneider/Wolfgang Wessels [Hrsg.], Auf dem Weg zur Europäischen Union? Diskussionsbeiträge zum Tindemans-Bericht, 1977, S. 189 [213]). Vgl. auch dens. (Fn. 45), S. 88 f. Auch mit den Abläufen im Rat scheint Sasse bestens vertraut zu sein, wenn er anmerkt: „Wer diese Sitzungen kennt, weiß, wie segensreich sich der rauhe Luftzug größerer Publizität auswirken und wieviel gouvernementalen und diplomatischen Nebel er davonjagen würde“ (Sasse [Fn. 45], S. 99). 51 Sasse (Fn. 40), 9. 52 Vgl. Sasse (Fn. 45), 87 (97 ff.).

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im Beschluß vom 22. März 1971 großzügig, weil unverbindlich, projizierten Wirtschaftsund Währungsunion.“53

Besonders deutlich tritt Sasses Haltung in einer seiner letzten Veröffentlichungen hervor, die er nach einer Tagung im Oktober 1976 verfasste.54 Nachdem er bereits zuvor die „europäische Grundrechtsphobie“ als „rein deutsche Spezialität“ gebrandmarkt hat55, spricht er jetzt vom gegenwärtigen „Zustande hoffnungsloser Rückständigkeit und flagranten Nachholbedarfs“56 und stellt er die bloß punktuelle Weiterentwicklung der Grundrechte durch den EuGH in Frage57, bevor er einen Lösungsansatz präsentiert: die Aufstellung eines Grundrechtskatalogs, idealerweise in der Form einer feierlichen Resolution des Europäischen Parlaments, keinesfalls jedoch in Gestalt eines „von Regierungssachverständigen ausgehandelte[n] Abkommenstext [s]“58. Diese Forderung begründet Sasse mit der herausragenden Bedeutung der Grundrechte über den Individualrechtsschutz hinaus. Aus seiner Sicht geht es „gar nicht in erster Linie um die Verhinderung von Unrecht im Einzelfall, also ein Problem des individuellen Rechtsschutzes, […] sondern um die viel prinzipiellere Frage der Legitimation von öffentlicher Gewalt“.59 Erst die Garantie grundrechtlicher Freiheiten rechtfertige den Vorrang des Gemeinschaftsrechts.60 Für den heutigen Leser interessant ist ferner noch Sasses – nicht näher begründete – Aussage, die Europäische Gemeinschaft könne nicht Partner der EMRK sein61, die er in einer seiner letzten Veröffentlichungen nochmals bekräftigte62.

53 Sasse (Fn. 45), 87 (96); Sasse nimmt hier Bezug auf die Entscheidung des Rates vom 22. März 1971 über die Verstärkung der Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. (EG) Nr. L 73/12 vom 27. März 1971. 54 Sasse, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, in: Mosler/Bernhardt/Hilf (Hrsg.), Grundrechtsschutz in Europa. Europäische Menschenrechtskonvention und Europäische Gemeinschaften, 1977, S. 51. 55 Sasse (Fn. 10), 61 (75). 56 Sasse (Fn. 54), S. 59. 57 Sasse (Fn. 54), S. 57 f. 58 Sasse (Fn. 54), S. 59 f. Zur Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs durch ein direkt gewähltes Europäisches Parlament vgl. bereits dens. (Fn. 48), S. 64: „Le Parlement européen élu au suffrage universel pourrait se saisir avec plus de justification de problèmes fondamentaux et constitutionnels susceptibles de sensibiliser l’opinion publique, comme une charte européenne ou une déclaration des droits individuels spécifiquement communautaires.“ 59 Sasse (Fn. 54), S. 53. 60 Sasse (Fn. 54), S. 54 f. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Grundrechtsbindung der Europäischen Union und Anwendungsvorrang des Unionsrechts später auch BVerfGE 126, 286 (303). 61 Sasse (Fn. 54), S. 61. 62 Sasse, La protection des droits fondamentaux dans la Communauté européenne, in: Faculté de Droit, d’Economie et de Sciences sociales de l’Université de Liège (Hrsg.), Mélanges Fernand Dehousse, Bd. 2: La construction européenne, 1979, S. 297 (298): „La Communauté ne pourrait pas être Partie contractante de la CEDH.“

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Ähnlich entfaltet Sasse seinen Gedankengang in dem Aufsatz „Eine Gemeinschaft – Neun Legitimitäten. Eine Skizze zur Machtverteilung in der EG“, der auf einem englischsprachigen Vortrag beim Weltkongress der International Political Science Association (IPSA) in Edinburgh im Jahr 1976 basiert.63 In seiner Bestandsaufnahme verweist er zunächst auf ein noch bestehendes „Legitimitäts- und damit Politikdefizit der Gemeinschaft“.64 Anschließend geht er auf den Zusammenhang zwischen Legitimation und Macht ein, den er bereits zuvor herausgearbeitet hat: „So ist Legitimation nicht nur demokratisches Gebot, sondern zugleich Macht. Fehlende Legitimation gemäß den anerkannten Regeln verdammt in allen wichtigeren Fragen zur Machtlosigkeit.“65

Vor diesem Hintergrund fordert Sasse den Ausbau der gemeinschaftseigenen (nicht nur von den Mitgliedstaaten abgeleiteten) Legitimität: Man müsse „der Gemeinschaft durch ein Mehr an Legitimation mehr Macht zuführen“66. Dabei seien allerdings die Grenzen der europäischen Integration im Auge zu behalten und Fehlentwicklungen zu vermeiden: „Im Hinblick auf den […] Zusammenhang von Machtausübung und Legitimität ist es einfach unrealistisch, sich vorzustellen, die Gemeinschaft könne in ihrer gegenwärtigen Gestalt allmählich die Nationalstaaten in ihren politisch-ökonomischen Führungsrollen ersetzen. Um Befugnisse zu übernehmen, deren absoluter Umfang gleichbleibt, bedarf es einer Gemeinschaftsstruktur, die Kristallisationspunkt für Legitimität sein kann. Nur wenn die Gemeinschaft auch hier in Wettbewerb zu den Staaten treten kann, besteht die Hoffnung, daß die momentane Kooperationsform in ein politisches System mit relativer Autonomie umgeformt werden kann. Wenn dies jedoch in der näheren Zukunft nicht geschieht, könnte eher eine Erosion der rechtlichen Autonomie die Folge sein.“67

Erforderlich sei – wie Sasse an anderer Stelle hervorhebt – die Stärkung der Gemeinschaft insgesamt, nicht nur die des Europäischen Parlaments: 63 Sasse, Eine Gemeinschaft – Neun Legitimitäten. Eine Skizze zur Machtverteilung in der EG, ZParl 1978, 254. 64 Sasse (Fn. 63), 254 (260); dazu auch ders. (Fn. 45), S. 87, 89 f.; ders., Verfassung (Fn. 50), 199 f. 65 Sasse (Fn. 45), 87 (96). 66 Sasse (Fn. 45), 87 (97). 67 Sasse (Fn. 63), 254 (258). Vgl. auch dens. (Fn. 45), 87 (90): Eine Wirtschafts- und Währungsunion sei nur denkbar auf der Grundlage „permanent handlungsfähiger, im Gemeinschaftlichen – nicht im Staatlichen – politisch motivierter und legitimierter Organe“. Ähnlich ders., Verfassung (Fn. 50), 199: „Unter den heutigen Bedingungen der Integration kann sich Legitimität nur entwickeln, wenn auf die Herrschaftsausübung der Gemeinschaft dieselben formellen Legitimationsverfahren angewandt werden, wie sie für staatliche Herrschaft gelten. Das sind demokratische Mitwirkungsrechte […].“ Vgl. auch dens. (Fn. 48), 21 (26): „Prétendre que la Communauté puisse se développer en s’écartant davantage des modèles politiques des Etats n’est donc qu’une illusion. Si elle a une chance d’accéder à cette autonomie qui était impliqué par sa creation et qu’exigent ses tâches, c’est uniquement par un rapprochement plus grand aux caractéristiques institutionnelles dominants l’exercice de l’autorité publique dans les Etats.“ Vgl. auch a.a.O., S. 63.

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„Es geht auch gar nicht darum, aus Gründen demokratischer Kosmetik die Blöße der Europäischen Gemeinschaft mit einem parlamentarischen Feigenblatt zu verzieren.“68

Entgegen der heute verbreiteten Ansicht, die den wichtigen Beitrag der mitgliedstaatlichen Parlamente zur demokratischen Legitimation der EU betont69 und die sich inzwischen auf Art. 10 Abs. 2 EUV stützen kann, misst Sasse diesem Legitimationsstrang kaum Bedeutung zu – er kritisiert die dahinter stehende Vorstellung sogar mit deutlichen Worten: „Nationale parlamentarische Kontrolle des Gebarens der Minister im Rat sättigt nicht den demokratischen Bedarf der Gemeinschaft, sondern tendiert dazu, eigensüchtige Interessen zu schützen.“70

Die „parlamentarische Verantwortung der einzelnen Ratsmitglieder“ bewirke nur eine „verdünnte demokratische Legitimation“; diese „heimische Verantwortung“ spiele „nur eine sehr geringe Rolle […], denn die Vorgänge im Rat sind weit weg, voller Geheimnisse und für die nationalen Parlamente undurchschaubar“71, umhüllt von einem „gouvernementalen und diplomatischen Nebel“; die oft produzierten „faulen Kompromisse“ versteckten sich „hinter dem Dunstschleier wichtigtuerischer Geheimniskrämerei und nichtssagender Pressemitteilungen“.72 Hier wie auch an anderen Stellen geht Sasse von einem Konkurrenzverhältnis zwischen Europäischer Gemeinschaft und Nationalstaaten aus. Besonders deutlich wird dies in einer Aussage aus dem Jahr 1972: „Institutioneller Widersacher einer autonomen Gemeinschaftsgewalt sind die Regierungen.“73 Dies begründet Sasse damit, dass die Herrschaftsgewalt notwendig zwischen beiden aufgeteilt werden müsse und jeder nach Erhalt bzw. Ausbau seiner eigenen Macht strebe: „La Communauté créée afin de relayer les Etats dans des domaines essentiels est le concurrent naturel des systèmes nationaux, dans le sens que la puissance publique disponible globalement dans l’aire communautaire doit être divisée entre les deux niveaux.“74 68

Sasse (Fn. 45), 87 (95). Vgl. nur BVerfGE 89, 155 (185 f., 190 f.), insbesondere 185: „Im Staatenverbund der Europäischen Union erfolgt mithin demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“); BVerfGE 123, 267 (283, 356, 364). 70 Sasse (Fn. 63), 254 (259). Vgl. auch dens. (Fn. 45), 87 (88 f.), wo auf „diplomatisches Getriebe und Gehabe“ im Verhältnis Rat/Mitgliedstaaten hingewiesen und auch die indirekte Legitimation der Ratsmitglieder thematisiert wird. 71 Sasse (Fn. 45), 87 (96). 72 Sasse (Fn. 45), 87 (99). 73 Sasse (Fn. 45), 87 (97). 74 Sasse (Fn. 48), 21 (26). Dem Bundesverfassungsgericht zufolge (BVerfGE 126, 286 [303]) sind die „im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen“ zwischen Unionsorganen und Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge […] im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen“. Das Gericht spricht auch von einer „kooperativen Organisationsstruktur der Europäischen Union“ (BVerfGE 126, 286 [306 f.]). 69

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Die Ausübung von Herrschaftsgewalt beruhe jedoch in jedem Fall auf demselben Rechtfertigungsgrund, nämlich dem demokratisch-parlamentarischen System.75 Aus heutiger Sicht bemerkenswert sind auch die teilweise fast visionären Ausführungen Sasses in seinem Beitrag „Die institutionelle Fortentwicklung der Gemeinschaften“76. Dort weist er in deutlichen Worten und metaphernreicher Sprache77 auf Missstände hin, etwa die „agoniehaften Züge des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses zu Sechst“78, die „Zangengeburt des reformierten Sozialfonds“ der Europäischen Gemeinschaften79 oder den „Sündenfall der Quotenregelung beim Zucker“80. Die sich abzeichnende Entwicklung hin zu einer europäischen Wirtschaftsund Währungsunion bewertete er folgendermaßen: „Die Gemeinschaft steht seit dem Ratsbeschluß vom 9. 2./22. 3. 1971 in der – allerdings aufhaltsamen – Verwirklichung der ersten Phase der Wirtschafts- und Währungsunion. Was hier heranwächst, droht aus einem Wunsch- zu einem kränklichen Sorgenkind zu werden, wenn ihm nicht bald einige Stärkungsmittel verordnet werden. […] Es handelt sich also um einen funktional notwendigen Anpassungsvorgang größten Ausmaßes. Das hindert es aber offenbar nicht, daß die Einsicht in seine politische Bedeutung und demgemäß das Verständnis für seine instrumentellen Anforderungen nur sehr wenig verbreitet sind.“81

Anschließend bewies Sasse fast schon prophetische Fähigkeiten, als er – als ahnte er bereits von späteren Entwicklungen wie ESM-Vertrag und Fiskalpakt – darauf hinwies, „daß sich die grundgesetzliche Konformitätsproblematik (im Rahmen von Art. 24 und 79 III GG) in Zukunft einmal stellen kann, z. B. anläßlich qualitativer Schritte in Richtung auf die Wirtschafts- und Währungsunion“.82 75 Sasse (Fn. 48), S. 21 (26). Vgl. zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Grundwerten der Union jetzt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 S. 1, Art. 10 EUV. 76 Vgl. Sasse (Fn. 10). 77 Vgl. nur Sasse (Fn. 10), S. 68: „Das Organsystem der Gemeinschaft wird von Dysfunktionen geschüttelt […] So verzichtete man also darauf, die Kommission an den Blutkreislauf der politischen Machtbildung in den Mitgliedstaaten anzuschließen“; S. 70: „Der Staat europäischen Kalibers erwies sich trotz unbestreitbarer und sogar zunehmender Dysfunktionen […] nicht als aussterbende Spezies der politischen Fauna“; S. 74: „Knirschen im Gemeinschaftsgetriebe“. 78 Sasse (Fn. 10), 61 (62). Vgl. auch dens. (Fn. 45), 87 (89): „Die Prozeduren sind schon zu sechst schwerfällig und zähflüssig. Ohne package deal und Marathonsitzung sind wichtigere Beschlüsse […] nicht mehr möglich […].“ 79 Sasse (Fn. 10), 61 (65). 80 Sasse (Fn. 10), 61 (77). 81 Sasse (Fn. 10), 61 (64). 82 Sasse (Fn. 10), 61 (75). Vgl. hierzu später etwa BVerfGE 123, 267 (343 f., 347 ff., 356 ff.); BVerfG, NJW 2014, 1505 (1510): „Eine notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union trifft und dauerhaft ,Herr seiner Entschlüsse‘ bleibt […].“

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Von den Organen der Gemeinschaft bedachte Sasse nur den Gerichtshof mit Lob (insbesondere aufgrund seiner Judikatur in Vorlagesachen)83, während er ein negatives Bild von der Verfassungswirklichkeit im Hinblick auf Kommission84 und Rat85 zeichnete. Auf das Europäische Parlament ging er überraschenderweise in seiner Beschreibung des Ist-Zustands nicht ein, obwohl er sich in anderen Veröffentlichungen86 ausführlich mit diesem Organ auseinandersetzte. Er diagnostizierte – um die Metapher beizubehalten – zwei miteinander zusammenhängende Krankheiten, an denen die Gemeinschaft seiner Ansicht nach litt: das Fehlen einer politischen Führung, die weder Rat noch Kommission übernahm, und das Legitimationsdefizit im Rahmen des Handelns der Gemeinschaftsorgane.87 Als mögliches Heilmittel schlug er eine radikale Lösung vor: die Umgestaltung der Gemeinschaft zu einem Staat in Gestalt der Föderation.88 Diese lasse sich allerdings nur nach und nach erreichen, wobei konkret u. a. folgende Reformoptionen bestünden: ein Teilnahmerecht von Mitgliedern des Parlaments an allen Sitzungen des Rats, die Abhängigkeit der Ernennung der Kommissionsmitglieder von der Zustimmung des Parlaments (Investiturvotum), die Direktwahl zum Europäischen Parlament und ein gemeinsames Normsetzungsrecht von Parlament und Rat.89 Dies alles könne zum Ziel der „schrittweisen Umgestaltung der Gemeinschaft in eine politische Handlungseinheit“ beitragen.90

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Sasse (Fn. 10), 61 (67 f.). Sasse (Fn. 10), 61 (66 f., 69 f., 72). Vgl. auch dens., Verfassung (Fn. 50), 198, 214; dens. (Fn. 45), 87 (88) unter Verweis auf die bloße „Satellitenrolle“ der Kommission gegenüber dem „Rat als Gravitationszentrum“ und die Abhängigkeit der Kommission von den Mitgliedstaaten: „Geht es um außenpolitische Prärogativen der Mitgliedstaaten […] so hängt die Kommission am Gängelband zögernd erteilter und engherzig begrenzter Mandate oder wird überhaupt ausgespielt […].“ Anders dagegen später ders. (Fn. 48), S. 52: „La Commission, tout en étant nommée par les seuls gouvernements, n’est pas leur exécutant mais une institution dont l’indépendance ne peut pas être contesté.“ So auch a.a.O., S. 70. 85 Sasse (Fn. 10), 61 (67, 72 f.); vgl. auch dens. (Fn. 45), S. 87 (88, 96 f., 99); dens., Verfassung (Fn. 50), S. 198. 86 Vgl. Sasse (Fn. 45), 87 (99 f.): „das bisherige Bild einer erfreulichen, aber leider impotenten Eintracht“; dens., Verfassung (Fn. 51), S. 203, 214, und insbesondere dens. (Fn. 48), S. 21 ff. 87 Sasse (Fn. 10), 61 (71 ff.). 88 Sasse (Fn. 10), 61 (79); vgl. auch die Nachweise in Fn. 67. Dieser Idee hat das Bundesverfassungsgericht mittlerweile jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes eine Absage erteilt (BVerfGE 123, 267 [331 f.; vgl. auch 347 f., 364, 420]). 89 Sasse (Fn. 10), 61 (80 ff.). Vgl. zur Direktwahl der Repräsentanten durch die europäischen Bürger und zur Erweiterung des Aufgabenkatalogs auch dens., EA 1972, 87 (97 ff.); dens. (Fn. 48), S. 50; dens., Verfassung (Fn. 50), 200, 215; zum Investiturvotum a.a.O., S. 213 f. In „Le renforcement des pouvoirs du Parlement“ (Fn. 48), S. 23, betont Sasse: „un renforcement du Parlement européen est la bonne voie d’une réforme institutionnel de la Communauté“. 90 Sasse (Fn. 10), 61 (82). 84

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b) Kommunalwahlrecht für Gemeinschaftsangehörige Einem seinerzeit stark umstrittenen Problem widmete sich Sasse unter Mitarbeit seines Assistenten Kempen in der bereits erwähnten Publikation „Kommunalwahlrecht für Ausländer?“91 Sasse kam hier seine rechtshistorische Dissertation zugute, in der er sich mit der Erstreckung des Bürgerrechts auf alle sogenannten Peregrinen beschäftigt hatte.92 Die Autoren verwiesen zunächst auf ein rechtspolitisches Bedürfnis nach Ausweitung des Kommunalwahlrechts auf Staatsangehörige anderer EWG-Mitgliedstaaten: „Wo Staaten in ihrer inneren Verfassung und außenpolitischen Zielrichtung so wenig divergieren wie jene der Europäischen Gemeinschaft, gibt es keine Rechtfertigung mehr dafür, die überall geforderte ,Eingliederung‘ der EWG-Ausländer auf die karitativ-soziale Ebene zu beschränken und sie nicht – als Pendant des unbeschränkten Aufenthaltsrechts – durch eine politische Partizipationschance zu verbessern und zu vervollständigen. Dies gilt zumindest für die gemeindliche Entscheidungsebene […].“93

Über das Kommunalwahlrecht würden die EG-Angehörigen in das politische Leben der Bundesrepublik Deutschland integriert; sie erhielten auf diese Weise die Chance zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse.94 Diesem politisch wünschenswerten Ergebnis stehe auch deutsches Verfassungsrecht nicht entgegen. Insbesondere bestehe kein Widerspruch zur Beschränkung des Wahlrechts auf das deutsche Volk i. S. d. Art. 20 Abs. 2 GG, da „der Kommunalwähler nicht rechtsverbindlich bei der Staatswillensbildung mitwirkt“.95 Darüber hinaus zogen Sasse und Kempen eine Erstreckung des Kommunalwahlrechts auf in Deutschland lebende Griechen – damals noch keine Gemeinschaftsangehörigen – und Türken vorsichtig in Betracht.96 c) Europäisches Umweltrecht Für die damaligen Verhältnisse ebenfalls äußerst innovativ war die gemeinschaftliche Veröffentlichung von Eberhard Grabitz und Christoph Sasse „Umweltkompe91

Vgl. Fn. 37. Eine „äußerst komprimierte, dadurch notwendigerweise vergröbernde, geringfügig aktualisierte Zusammenfassung der wesentlichsten Gedanken“ dieser Veröffentlichung stellt Sasses Beitrag „Kommunalwahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland für Angehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften“ dar (in: Albrecht [Hrsg.], Das Düsseldorfer Reformprogramm zum Ausländerrecht, 1976, S. 209; Zitat auf S. 211, Fn. 1). 92 Auf diese Verknüpfung weist Börner (Fn. 1), S. 104, hin. 93 Sasse/Kempen (Fn. 37), S. 16. 94 Sasse/Kempen (Fn. 37), S. 12. 95 Sasse/Kempen (Fn. 37), S. 60. 96 Sasse/Kempen (Fn. 37), S. 70 f.

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tenzen der Europäischen Gemeinschaft“ aus dem Jahr 1977, die aufgrund ihrer gleichzeitigen Publikation in deutscher, englischer und französischer Sprache97 im selben Band ein breites Publikum erreichen konnte. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit zur Frage der Ergänzung des EWG-Vertrags um Vorschriften zu Umweltkompetenzen, angefertigt auf Wunsch des Fonds für Umweltstudien nach Anregung aus der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft.98 Anlass war die „zunehmende innergemeinschaftliche grenzüberschreitende Umweltverschmutzung“99 bei gleichzeitiger Lückenhaftigkeit des Umweltrechts, das sich aus einzelnen nationalen und völkerrechtlichen Vorschriften sowie punktuellen Gemeinschaftsregelungen zusammensetzte, wobei letztere hauptsächlich auf die Binnenmarktkompetenz und die Flexibilitätsklausel gestützt waren. Dieser Flickenteppich wurde als nicht genügend erachtet100 ; Kritik richtete sich insbesondere auch gegen die Tatsache, dass sich keine umweltbezogenen Regelungen im europäischen Primärrecht fanden101. Ziel sei es daher, eine „gemeinsame Umweltpolitik der Gemeinschaft zu entwickeln und die Umweltpolitiken der Mitgliedstaaten zu koordinieren“102 ; diese „Umweltpolitik im Rahmen eines Gesamtkonzeptes“103 dürfe allerdings nicht zu einer alleinigen Gemeinschaftskompetenz führen104. Grabitz und Sasse unterbreiteten mehrere konkrete Formulierungsvorschläge zur Umsetzung ihrer Ideen in das europäische Primärrecht. Sie empfahlen die Ergänzung des Aufgabenkatalogs des Art. 3 EWGVum einen neuen Buchstaben i) („die Einführung einer gemeinsamen Umweltpolitik und die Koordinierung der entsprechenden Politiken der Mitgliedstaaten“105), die Aufnahme umweltbezogener Beihilfen in Art. 92 Abs. 3 EWGV106 und insbesondere die Schaffung eines neuen Politikbereichs 97

Die Übersetzung nahmen nicht die Autoren selbst vor, sondern Externe. Vgl. Grabitz/ Sasse, Umweltkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1977, S. 4. 98 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 9. 99 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 87. 100 Vgl. zum Umweltvölkerrecht Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 77, 87, 98, 105; zum lückenhaften umweltbezogenen Gemeinschaftsrecht a.a.O., S. 92 ff., 96 f. sowie Denkschrift zur Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1986, BT-Drs. 10/6392, S. 19 (28). Zum unzureichenden Umweltschutz durch die Mitgliedstaaten vgl. auch Zuleeg, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, in: Drexl/Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 11 (21). 101 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 90. 102 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 77; vgl. auch S. 83. Ähnlich bereits Sasse, Verfassung (Fn. 50), S. 198: „Richtig und durch parallele Erfahrungen seit mehr als einem Jahrzehnt reichlich belegt ist ebenfalls die These, daß komplexe, innerstaatlich tiefgreifende Steuerungsfunktionen ([…] auch im Bereich von […] Umwelt […]) mit dem Mittel der intergouvernementalen Kooperation (Abstimmung, Konzertierung, gegenseitige Annäherung) auf die Dauer befriedigend nicht wahrgenommen werden können“. 103 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 97. 104 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 84. 105 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 79. 106 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 79.

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in Art. 116a ff. EWGV („Die Umweltpolitik“)107. Dabei sollte es den Mitgliedstaaten nach Art. 116b Abs. 3 des Entwurfs erlaubt sein, von Gemeinschaftsvorschriften abweichende nationale Regelungen zu treffen, was sowohl geringere als auch höhere nationale Umweltstandards ermöglichen sollte, allerdings nur für eine Übergangszeit und nur nach Zulassung durch die Kommission als neutrale Instanz.108 Die Autoren selbst äußerten sich im Vorwort jedoch pessimistisch zu den Umsetzungschancen ihrer Vorschläge und wollten diese lediglich als Impuls für die weitere Debatte verstanden wissen: „Nachdem der Auftrag für diesen Entwurf von Politikern aus allen Parteien – einige gehören dem Europäischen Parlament an – erteilt wurde, braucht hier auf das Problem der politischen Realisierbarkeit nicht eingegangen zu werden, obwohl sie nicht unmittelbar gesehen wird. Die Vorlage soll jedoch ermöglichen, die Diskussion einer endgültigen Regelung der Kompetenzen auf dem Umweltsektor nun vertieft fortzuführen.“109

IV. Rezeption und Gedenken Einige von Sasses Positionen wurden von Rechtsprechung und Literatur übernommen, die sich allerdings oft nicht ausdrücklich auf ihn beriefen.110 Die Einordnung der Verkehrszeichen als Allgemeinverfügungen, die Sasse bereits zu Beginn der 1960er Jahre mit ausführlicher Begründung darstellte, vertritt in mittlerweile ständiger Rechtsprechung u. a. das Bundesverwaltungsgericht.111 Teilweise wurden Sasses Forderungen sogar durch Gesetze bzw. im Gemeinschaftsrecht umgesetzt. Dies betrifft etwa die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger mittels Einfügung eines Satzes 3 in Art. 28 Abs. 1 GG durch verfassungsänderndes Gesetz112 sowie entsprechende landesrechtliche Regelungen und eine europäische Richtlinie113, erst etwa zwanzig Jahre nach Sasses Forderungen. Forderungen nach Erstreckung des Kommunalwahlrechts auch auf sonstige Ausländer, die nach wie vor zahlreiche Unterstützer finden114, konnten sich bisher nicht 107

Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 79 ff. Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 80, 86. 109 Grabitz/Sasse (Fn. 97), S. 9. 110 Vgl. aber z. B. Kundoch, Reformbestrebungen innerhalb des Europäischen Parlaments, JöR n. F. 25 (1976), 1 (11 m. Fn. 30), der ausdrücklich auf Sasses Wunsch nach Einführung des Kommunalwahlrechts für EG-Ausländer Bezug nimmt und ähnliche Überlegungen wie Sasse anstellt (a.a.O., S. 21 f.). 111 BVerwGE 27, 181 (183); BVerwG, NJW 1980, 1640 (1640); NJW 2011, 246 (246 f.). 112 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl. I, S. 2086. 113 Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, ABl. (EG) Nr. L 368/38 vom 31. Dezember 1994. 114 Vgl. etwa die Gesetzentwürfe der Fraktion der SPD vom 16. März 2010, BT-Drs. 17/ 1047, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 23. März 2010, BT-Drs. 17/1150. 108

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durchsetzen. Erwähnenswert ist noch, dass das Bundesverfassungsgericht sich in zwei Entscheidungen aus dem Jahr 1990 ebenfalls zur Bedeutung des Volksbegriffs für das Kommunalwahlrecht der Ausländer äußerte115, wie es bereits Sasse und Kempen getan hatten. Sasses Wunsch nach einem Investiturvotum des Europäischen Parlaments vor Ernennung der Kommissionsmitglieder ist mittlerweile durch Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV Wirklichkeit geworden: „Der Präsident, der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission stellen sich als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Auf der Grundlage dieser Zustimmung wird die Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt.“

Wie Sasse beschäftigte sich auch das Bundesverfassungsgericht mit dem Zusammenhang zwischen demokratischer Legitimation und Ausübung von Hoheitsgewalt auf europäischer Ebene. Es führte hierzu in seinem Lissabon-Urteil aus: „Vor dem Hintergrund des […] Demokratieprinzips kann es aber, wenn Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden, nicht ohne Bedeutung sein, ob die auf europäischer Ebene ausgeübte Hoheitsgewalt auch demokratisch legitimiert ist. Da die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nur an einer Europäischen Union mitwirken darf, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist, muss gerade auch ein legitimatorischer Zusammenhang zwischen den Wahlberechtigten und der europäischen Hoheitsgewalt bestehen […].“116

Ein Hinweis auf die frühe Arbeit von Sasse und Grabitz zum europäischen Umweltrecht findet sich noch heute in einem bedeutenden Kommentar.117 Wie die Autoren selbst bereits gemutmaßt hatten, dauerte es noch geraume Zeit, bis es zur Aufnahme von Umweltbelangen in das europäische Primärrecht kam. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) führte einige Jahre nach Sasses Tod in den neuen Art. 130r ff. den „Titel VII Umwelt“ ein.118 Manche von Grabitz und Sasse entwickelte Ideen Siehe ferner Strelen, in: Wolfgang Schreiber (Begr.), BWahlG-Kommentar, 9. Auflage 2013, Einführung, Rn. 27. 115 BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 83, 60 (71 ff.). In BVerfGE 83, 37 (59) betonte das Bundesverfassungsgericht, aus seinem Urteil folge nicht, „daß die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterte Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässigen Verfassungsänderung sein“ könne. 116 BVerfGE 123, 267 (331). Die „Verknüpfung von demokratischer Legitimation mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt“ betont auch der Richter Landau in seiner abweichenden Meinung zum Honeywell-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 126, 286 [320]). 117 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ders. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band I: EUV/AEUV, Art. 191 AEUV, Rn. 3 m. Fn. 13 (Stand: Mai 2011). Die Arbeit von Grabitz und Sasse wird außerdem zitiert von Grabitz/Zacker, NVwZ 1989, 297 (298, Fn. 20, 22). 118 Einheitliche Europäische Akte vom 17./28. Februar 1986, ABl. (EG) 1979 Nr. L 169/1 vom 29. Juni 1987. Parallelregelungen enthielten später die Art. 130r ff. EGV, dann die Art. 174 ff. EG. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon befassen sich die Art. 191 ff. AEUV mit der Umwelt.

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finden sich dort wieder; andere Vorschläge wurden nicht umgesetzt. Anders als von Grabitz und Sasse geplant waren und sind niedrigere nationale Umweltstandards nach dem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht nicht möglich. Art. 130 t EWGV in der Fassung der EEA ließ vielmehr nur „verstärkte Schutzmaßnahmen“ der einzelnen Mitgliedstaaten zu, und auch heute erlaubt Art. 193 AEUV nur solche. Über den Entwurf Grabitz/Sasse hinaus enthielt das europäische Primärrecht ursprünglich in Art. 130r Abs. 4 EWGV auch ein umweltrechtliches Subsidiariätsprinzip. Erst im Jahr 2002 erkannte Art. 2 EWGV in der Fassung des Vertrags von Nizza die Umweltpolitik als Aufgabe der Gemeinschaft an.119 Daneben erwähnte auch Art. 3 Buchst. l EWGV (Nizza) „eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt“. Beihilfen aus Umweltgründen kennt das Primärrecht (insbesondere Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV) bis heute nicht, jedoch existieren mittlerweile „Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Umweltschutzbeihilfen“, die gerade auch „Beihilfen für Standortverlagerungen“ zulassen120, was an die Vorschläge von Grabitz und Sasse erinnert. Sasses plötzlicher Tod löste unter seinen Kollegen tiefe Betroffenheit aus. Er wurde mitten aus einer produktiven Schaffensphase gerissen; der tödliche Verkehrsunfall, in den er verwickelt war, ereignete sich während der Drucklegung des Werks „Das Wahlrecht der Neun“.121 Dieses Buch wurde seinem Andenken gewidmet.122 Zudem findet sich eine Würdigung Sasses im Vorwort zu „The European Parliament: Towards a Uniform Procedure for Direct Elections“.123 Ein Teil der Einführung zu diesem Werk wurde von Roland Bieber statt wie ursprünglich vorgesehen von Sasse verfasst.124 Aus Anlass von Sasses 50. Geburtstag am 6. September 1980, den er nicht mehr erleben durfte, erschien im Jahr 1981 unter Redaktion von Roland Bieber und Dietmar Nickel die zweibändige Gedächtnisschrift „Das Europa der zweiten Generation“.125 Sie enthält u. a. Beiträge von Ulrich Everling, Manfred Zuleeg, Eberhard Grabitz, Dieter Blumenwitz, Roland Bieber, Hans Peter Ipsen, Christian Tomuschat, Jochen Abr. Frowein und Hans-Peter Bull.

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Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl. (EG) 2002 Nr. C 325/41 vom 24. Dezember 2002. 120 ABl. (EG) 2008 Nr. C 82/1 vom 1. April 2008; die Beihilfen für Standortverlagerungen sind erwähnt unter Rn. 54. Vgl. auch bereits den Gemeinschaftsrahmen für staatliche Umweltschutzbeihilfen (ABl. [EG] 2001 Nr. C 37/1 vom 3. Februar 2001), dort insbesondere Rn. 39 („Standortverlagerung von Unternehmen“). 121 Sasse/Georgel/Hand (Fn. 30), S. 7. 122 Widmung, in: Sasse/Georgel/Hand (Fn. 30), S. 6. 123 Sasse/Brew/Georgel/Hand/Huber/van den Berghe, The European Parliament: Towards a Uniform Procedure for Direct Elections, 1981, S. VII f. 124 A.a.O. (Fn. 123), S. VIII. 125 Vgl. Fn. 1.

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V. Die zu frühe Vollendung Christoph Sasse, mit 48 Jahren verstorben, lässt sich nicht nur als Frühvollendeter, sondern darüber hinaus als Zu-früh-Vollendeter bezeichnen, der seiner Zeit voraus war. Das in dieser Bezeichnung mitschwingende Gefühl des Bedauerns entsteht unweigerlich, wenn man sich vor Augen hält, dass Sasse gerade zum Fortschreiten der europäischen Integration mit Sicherheit noch viel zu sagen gehabt hätte. Er starb zu einer Zeit, als die Europäische Gemeinschaft lediglich aus neun Mitgliedstaaten bestand, eine europäische Grundrechtskodifikation noch nicht existierte und eine europäische Haftungsunion noch völlig undenkbar war. Es war ihm auch nicht mehr vergönnt, die ersten Wahlen zum Europäischen Parlament auf der Grundlage des Direktwahlakts im Juni 1979 oder die Verankerung des Kommunalwahlrechts für Gemeinschaftsangehörige in Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG im Jahr 1992 mitzuerleben. Was er von den Solange II-, Maastricht- und Lissabon-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, den Urteilen zur Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz oder ähnlichen bahnbrechenden Judikaten gehalten hätte, lässt sich nicht in seriöser Weise sagen. Dass er jedoch viel zu diesen Themen zu sagen gehabt hätte, steht außer Zweifel. Man kann wohl auch annehmen, dass Sasse erfreut gewesen wäre über die geschriebene Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, die ihr den gleichen rechtlichen Rang wie dem EUV und dem AEUV zuspricht, sowie über die Aufwertung des vormaligen Mitentscheidungsverfahrens und jetzigen ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens durch den Vertrag von Lissabon126. Gleiches gilt für die Regelung in Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV, wonach das Europäische Parlament gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig wird und die Haushaltsbefugnisse ausübt. Auch folgende Aussage des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2014 hätte Sasse mit Sicherheit Anlass zur Freude gegeben: „Im Zuge der europäischen Integration sind dem Europäischen Parlament bedeutsame Zuständigkeiten zugewiesen, seine Stellung im Institutionengefüge ist kontinuierlich gestärkt worden.“127 Andererseits wäre Sasse von Art. 6 Abs. 2 EUV, der den Beitritt der EU zur EMRK vorsieht, sicherlich überrascht gewesen128. Folgende Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2009 zur Rolle der Mitgliedstaaten und der Kommission in der Europäischen Union hätte ihn vermutlich unzufrieden gestimmt: „Die Arbeitsweise der Europäischen Union ist weiterhin durch den Einfluss der verhandelnden Regierungen sowie die fachliche Verwaltungs- und Gestaltungskompetenz der Kom126 Vgl. zur Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von Maastricht BVerfGE 123, 267 (275 f.), zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Art. 294 AEUV sowie BVerfGE 123, 267 (377) und zu dieser Thematik insgesamt Sasse, Verfassung (Fn. 50), S. 215: „Viel kommt deshalb darauf an, ob es dem Parlament gelingt, das sog. Konzertierungsverfahren auf Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung, unabhängig von ihren finanziellen Implikationen, auszudehnen“. 127 BVerfGE 135, 259 (265). 128 Vgl. zum Beitritt der EU zur EMRK Gutachten 2/13 des EuGH vom 18. Dezemer 2014, EuGRZ 2015, 56.

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Julia Faber mission geprägt, auch wenn die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments insgesamt gestärkt wurden.“129

Einige Forderungen Sasses haben sich nach seinem Tod erfüllt, was aber für sich genommen nicht den Schluss rechtfertigt, seine Schriften seien nicht mehr lesenswert. Zahlreiche seiner allgemeinen dogmatischen Erwägungen und Thesen haben nichts an Aktualität verloren. Dies betrifft etwa Sasses Ausführungen zur Funktion des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene, die die Bedeutung der Grundrechte für die demokratische Legitimation und für die Rechtfertigung des Anwendungsvorrangs des Gemeinschafts- bzw. heute Unionsrechts herausstellen. Gleiches gilt für seine Überlegungen zu den Zusammenhängen zwischen Partizipation, Legitimation und Effizienz auf europäischer Ebene. Sasses Wunsch nach mehr eigenständiger Legitimation der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft lässt sich nicht einfach mit dem Argument als überholt abtun, das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Maastricht-Urteil dem Legitimationsstrang über die nationalen Parlamente mehr Bedeutung beigemessen als der gemeinschaftseigenen Legitimation. Sasses Argumentation lässt sich nach wie vor hören. Der Vordenker Sasse, der weder vor „heißen Eisen“ noch vor klaren Worten zurückschreckte, hätte sicher noch viel in der Rechtswissenschaft bewirken können.

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BVerfGE 123, 267 (376 f.).

Dieter Suhr – „Repräsentation von Menschen in und durch Menschen“ Von Stefan Lorenzmeier I. Einleitung Die angemessene Würdigung der Person und des Werks von Dieter Suhr im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojekts erscheint als eine kaum zu bewältigende Aufgabe, da sich Suhr mit einer Vielzahl von Ideen, Forschungs- und Interessengebieten vertieft beschäftigte, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung – wenn überhaupt – nur ansatzweise erörtert werden können. Dieter Suhr stellte, wie sein im Anhang auszugsweise dargestelltes Oeuvre zeigt, einen (Universal-)Gelehrten im besten Wortsinne dar, welcher sich von unterschiedlichsten Forschungsgebieten, wie der Philosophie, der Informatik, der Volkswirtschaftslehre und dem (öffentlichen) Recht, für seine Forschung inspirieren ließ und ebenfalls andere inspirierte, wenn auch offensichtlich zu wenige, um einen größeren Bekanntheitsgrad zu erlangen. Wie Reiner Schmidt in seinem Nachruf auf Dieter Suhr überzeugend zur Natur der Herangehensweise Suhrs an Problemstellungen bemerkte: „Dieter Suhr wollte sich nicht mit Ornamentik begnügen, sondern stets Häuser von Grund auf neu bauen, womit er sich nicht nur Freunde schuf.“1 Seine kompromisslose Erkenntnissuche machte ihn häufig einsam, aber auch beeindruckend produktiv (mind. zwölf Monographien und über 60 Aufsätze).2 Dieter Suhr wollte, wie sich dem wissenschaftlichen Werk entnehmen lässt, im besten akademischen Sinne die Leser- und Zuhörerschaft „verwirren“, um neuen Erkenntnisgewinn zu erlangen. Eine Bereitschaft, wie sie sich in neuerer Zeit immer seltener an Hochschulen in Forschung und Lehre finden lässt. Das als Titel des Beitrags gewählte Zitat „Repräsentation von Menschen in und durch Menschen“ ist einer rechtsphilosophischen Abhandlung Dieter Suhrs3, welche auch verfassungsrechtliche Implikationen hat, da sich die repräsentative Demokratie 1

R. Schmidt, Dieter Suhr †, NJW 1990, 3136. Schmidt (Fn. 1), 3136 f.; eine vollständige Werkübersicht findet sich bei Schuppert/ Tzschaschel (Hrsg.), Angewandte Dialektik. Dieter Suhr zum Gedächtnis, 1992, S. 159 ff. 3 Suhr, Prolegomena zu einer Pragmatik des Rechts. Zugleich: Versuch einer allgemeineren pragmatischen Selbstvergewisserung im Vorfeld von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, in: Stachowiak (Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Band III: Allgemeine philosophische Pragmatik, 1989, S. 341 ff. 2

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vielleicht erst dann voll entfalten kann, wenn sich der Einzelne in und durch andere repräsentiert, entnommen. Die Freiheitsausübung des Einzelnen in einer Gesellschaft war eines der großen Forschungsthemen von Dieter Suhr. Das Zitat kann nur einen kleinen Vorgeschmack, oder eben ein Prolegomena, geben auf die Vielschichtigkeit und die Andersartigkeit der Person Dieter Suhr als dem Kern nach Rechtswissenschaftler und seinem wissenschaftlichen Werk, welches nachfolgend kurz erläutert und, soweit dies möglich ist, in seine aktuellen Bezüge gestellt werden soll. Zu beachten ist jedoch, dass die geschilderte akademische Vielschichtigkeit sich im vorliegenden Rahmen nur unvollständig und somit auch kaum hinreichend werten lässt. II. Biographie Dieter Suhr war von 1976 bis zu seinem plötzlichen Tod am 28. August 19904 mit 58 Jahren Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg. Bereits die Denomination der Professur zeigt deutlich auf, dass Dieter Suhrs Interessen nicht nur dem eigentlichen Öffentlichen Recht galten, sondern darüber weit hinausgingen. Insbesondere sein Interesse für die Rechtsinformatik, einem im Jahr 1976 noch nicht einmal in den berühmten Kinderschuhen steckendem Interessengebiet, sei hier zu nennen5. Er gehörte aufgrund der genannten Interessen zu den „Außenseitern“, allerdings war er, in den Worten von Wolfgang Hoffmann-Riem, ein „notwendiger Außenseiter in der Verfassungswissenschaft“6. Dieter Suhr blieb der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg trotz eines Rufs auf einen Lehrstuhl der Universität Hamburg treu. In Augsburg war er von 1985 bis 1986 Dekan, und er gehörte von 1983 bis 1987 als nichtberufsrichterliches Mitglied dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof an7. Der für die Bedeutung des wissenschaftlichen Werks erforderliche biographische Hintergrund von Dieter Suhr wurde von Reiner Schmidt in seinem Nachruf8 umfassend dargestellt und gewürdigt. Auf ihn soll hier vollumfänglich verwiesen werden. Der sonstige akademische Werdegang von Dieter Suhr und seine wissenschaftlichen Interessen können im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur überblicksartig wiedergegeben werden.

4 Dieter Suhr verunglückte während eines Badeurlaubs vor der kretischen Küste, Schmidt (Fn. 1), 3136, und Augsburger Allgemeine vom 10. September 1990: „Jura-Professor ertrank beim Baden vor Kreta“. 5 Siehe dazu unten Abschnitt V. 6 Hoffmann-Riem, Ganzheitliche Verfassungslehre und Grundrechtsdogmatik. Dieter Suhrs Kampf um ein neues Paradigma der Rechtswissenschaft, in: Schuppert/Tzschaschel (Fn. 2), S. 125. 7 Schmidt (Fn. 1), 3136. 8 Schmidt (Fn. 1), 3136 f.

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Promoviert wurde Suhr im Jahre 1966 in Hamburg bei Herbert Krüger mit einer Arbeit über „Eigentumsinstitut und Aktieneigentum“. Bereits in diesem Werk beschäftigte er sich mit einigen seiner späteren „Dauerthemen“, der Grundstruktur des Eigentums und der Konnexität von Freiheit und Verantwortung des Einzelnen9. In seiner an der Freien Universität Berlin entstandenen und 1976 erschienenen Schrift „Entfaltung der Menschen durch den Menschen“, veröffentlicht bei Duncker & Humblot in den „Schriften zur Rechtstheorie“, widmete sich Suhr wiederum einer Grundrechtsdogmatik der Persönlichkeitsfaltung, der Ausübungsgemeinschaften und des Eigentums10. Unter dem Begriff der „Ausübungsgemeinschaften“ verstand er die „gemeinschaftliche Grundrechtsausübung“, welche im Grundgesetz nicht sonderlich ausgeprägt ist, da die Grundrechte konstruktiv dem Individuum und nicht der Gemeinschaft zustehen sollen. Die grundrechtliche Ausübungsgemeinschaft findet jedoch eine Erwähnung in Art. 19 Abs. 3 GG11. Das Eigentumsrecht ist hier wiederum eine Besonderheit, da es neben der individuellen Rechtsgewährung kollektive Einschränkungen kennt, vgl. Art. 14 Abs. 2, 3 und 15 GG. Suhr analysiert in seiner Schrift jedoch ebenfalls vertieft Art. 2 Abs. 1 GG, welcher durch die „Rechte anderer“ eingeschränkt werde, und versucht, diese einschränkenden Rechte dergestalt zu bestimmen, dass er die „räumlich-statische Begrenzung des gewöhnlichen Verständnisses der Vorschrift überwinden möchte12. Das gewöhnliche Verständnis von Art. 2 Abs. 1 GG zieht die Grenze des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dort, wo die Rechtssphäre eines anderen beginnt. Suhr lehnt diese Sichtweise ab, da sie „die interaktive Dynamik des Entfaltungsprozesses“13 nicht widerspiegele. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei widerstreitenden Grundrechtssituationen gerade nicht um „Kollisionen“, sondern um Kommunikationen verschiedener Grundrechtsbereiche, wofür der von Konrad Hesse geprägte Begriff der „praktischen Konkordanz“ zielführender sei14. Nach Suhrs Verständnis müssen die Grundrechtsschranken erst einmal „hochgehen“, um eine Entfaltung des Einzelnen herstellen zu können, da sich der Einzelne in einem Netzwerk von Beziehungen bewege15. Zur Verständnisüberwindung verwendet Suhr Metaphern, welche seinen Zugang zur Dogmatik versinnbildlichen sollen, welche hier anhand von zwei Beispielen wiedergegeben werden sollen: „Nicht nur Räume sondern auch Straßen und Wege Nicht nur Grenzen sondern auch und vor allem grenzüberschreitender Verkehr“.16

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Schmidt (Fn. 1), 3136. Daneben aber auch vielen weiteren Ideen, wie der „Ästhetik des Rechts“, vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 29. 11 Suhr (Fn. 10), S. 168 12 Suhr (Fn. 10), S. 129. 13 Suhr (Fn. 10), S. 130. 14 Suhr (Fn. 10), S. 130. 15 Suhr (Fn. 10), S. 131. 16 Suhr (Fn. 10), S. 132. 10

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Habilitiert hatte sich Suhr mit einer Schrift zur Rechtsphilosophie, dem großen Werk17 „Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung“18, in dem er sich mit den Philosophieverständnissen von Hegel und Marx grundlegend auseinandersetzte19. Das Werk wurde ein wesentlicher Beitrag der Hegel-Forschung20. Dogmatisch gelang es Suhr darin, die unterschiedlichsten philosophischen Disziplinen miteinander zu verknüpfen21. Aus den wenigen, eher skizzenhaften Bemerkungen ergibt sich bereits, dass Dieter Suhr ständig die Grenzen seines Fachs, der Rechtswissenschaft und insbesondere das Öffentliche Recht, überschritt22. Sein Grundinteresse23 galt, soweit man dies als Außenstehender bei einer so vielschichtig interessierten Person überhaupt sagen kann, der Philosophie. III. Rechtsphilosophisches Werk Das rechtphilosophische Werk von Dieter Suhr ist ebenso vielfältig wie sein gesamtes Oeuvre und hauptsächlich von der Auseinandersetzung mit den Theorien und Gedanken von Hegel und Marx geprägt24. Seine tiefgehenden rechtsphilosophischen Überlegungen scheinen, soweit das heute noch nachvollzogen werden kann, auch seine späteren Werke zur Geldwerttheorie25 zumindest mitgeprägt zu haben, da er immer wieder auf philosophische Argumentationsstrukturen Bezug nahm26. Hervorzuheben ist, dass Suhr allein drei ausführliche monographische Abhandlungen in den „Schriften zur Rechtstheorie“ bei Duncker & Humblot in Berlin veröffentlichte. Neben der bereits erwähnten Habilitationsschrift und der „Entfaltung des Menschen durch den Menschen“, welche ebenfalls einen sehr rechtlichen Schwerpunkt hat, ist dies die Schrift „Die kognitiv-praktische Situation“27, in welcher er gemäß dem Untertitel „Fundamentierungsprobleme in praktischer Philosophie, Sozialtechnik und Jurisprudenz“ untersuchte. 17

Schmidt (Fn. 1), 3136. Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung. Über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie 1975. 19 Siehe dazu unten Abschnitt III. 20 Schmidt (Fn. 1), 3136. 21 Schmidt (Fn. 1), 3136. 22 Schmidt (Fn. 1), 3136. 23 Der Begriff „Hauptinteresse“ verbietet sich bei einer so umfassend interessierten Persönlichkeit. 24 Siehe hierzu insbesondere Suhr (Fn. 18). 25 Siehe unten Abschnitt VI. 26 Siehe z. B. Suhr, Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus, Monetäre Studien zur sozialen, ökonomischen und ökologischen Vernunft, 1986, S. 23 ff. 27 Suhr, Die kognitiv-praktische Situation. Fundamentierungsprobleme in praktischer Philosophie, Sozialtechnik und Jurisprudenz, 1977. 18

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Suhrs tiefgreifendes Interesse an philosophischen Fragestellungen zeigt sich ebenfalls daran, dass er, als Jurist, dem Institut für Philosophie der Universität Augsburg angehörte und häufig aktiv am „Internationalen Hegelkongreß“ teilnahm. Hegel wurde von Suhr als sein Lehrer verehrt, und er veröffentlichte viele Studien im weiteren denktheoretischen Bereich von Hegels „praktischer Brauchbarkeit der spekulativen Philosophie“28. Die Arbeiten überschritten mehrfach die vielleicht zu engen Grenzen der Rechtsphilosophie, insbesondere wurden auch sozialwissenschaftliche Aspekte in die Überlegungen eingewebt. Gerne verwandte Suhr den Begriff der „Angewandten Dialektik“ für seine an Hegel angelegten philosophischen Diskursschriften, wobei „Dialektik“ verstanden werden sollte als „Kreise, auf denen die Wirklichkeit verfährt, wenn sie etwas in sich geschehen lässt und das Geschehene ebenso in sich empfängt, wie sie es hervorbringt“29. Gerne hat Suhr auch das Stilmittel der Wiederholung in seinen Texten verwandt, um aufzuzeigen, „inwiefern die jeweiligen Gegenstände einander durchdringen und miteinander vernetzt sind“.30 In der oben bereits erwähnten Habilitationsschrift „Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung“ versuchte er, den Weg über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie zu gehen (so der Untertitel des Werks). Dialektik wurde dabei als „kritisch-rational disziplinierte Dialektik“31 verstanden. Aus der Dialektik sollte dabei bei Nutzung unterschiedlicher Erkenntniselemente das Konzept einer zusammenhängenden Verfassungstheorie entwickelt werden32. Dieser Versuch der Entwicklung einer zusammenhängenden Verfassungstheorie basiert auf Elementen aus der Soziologie, der Sozialpsychologie, der Anthropologie und der praktischen und Sprachphilosophie33. Daneben stand Suhr der philosophischen Stilrichtung der Kybernetik nahe, wie sich bereits aus einem bereits im Jahre 1968 erschienen Beitrag „Recht und Kybernetik“ ergibt34. Dieses in einer juristischen Ausbildungszeitschrift erschienene Werk versucht, den Wahrnehmungsraum des interessierten studentischen Lesers dahingehend zu erweitern, dass auch ein geisteswissenschaftlicher Weg zur Kybernetik beschritten und nachvollzogen werden kann. Bedeutsam ist der frühe Ausbildungsbeitrag vor allem, da sich eine Verknüpfung zwischen Suhrs Interesse an der Definition von Freiheitssphären des Einzelnen und den sich daraus ergebenden Rückschlüssen 28

Siehe zum Beispiel Suhr, Vom Selbstverständnis der Hegel’schen Philosophie und von ihren Wirkungen in der praktischen Politik, abgedruckt bei Schuppert/Tzschaschel (Fn. 2), S. 3 ff. 29 Nachweise bei Schuppert/Tzschaschel (Fn. 2), S. V. 30 Schuppert/Tzschaschel (Fn. 2), S. V. 31 Suhr (Fn. 18), S. 11 f. 32 Suhr (Fn. 18), S. 12. 33 Suhr (Fn. 18), S. 12; die einzelnen Elemente können hier nicht wiedergegeben werden, werden von Suhr a.a.O. jedoch genau benannt. 34 Suhr, Recht und Kybernetik, JuS 1968, 351. Auch in den Vorbemerkungen zu „Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung“ (Fn. 18) geht er von einem kybernetischen Ausgangspunkt an seine Untersuchung heran, S. 11.

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auf die Auslegung von Freiheitsgrundrechten und der Nutzung von Automation in der Rechtsanwendung, wodurch sich auch Suhrs Interesse an der Rechtsinformatik erklären ließe, zu ergeben scheint. Logik und methodisches Bewusstsein gehören dabei zu den Schlüsselbegriffen seiner Argumentation, was er in der „Einführung Recht und Kybernetik“ unter anderem anhand des Auseinanderfallens der strafrechtlichen Begriffe „Handlung“ und „Verhalten“ erläutert35. Die hier nur überblicksartig angerissenen und von Suhr behandelten Fragestellungen zeigen wieder eindeutig die Tiefe dieses großen Denkers auf, welcher sich für sein philosophisches Werk von verschiedenen Denkschulen inspirieren ließ. IV. Öffentlich-rechtliches Werk Als an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg tätigem Professor für Öffentliches Recht war Suhr in Forschung und Lehre auch auf diesem Gebiet tätig, wobei ein Schwerpunkt dem Verfassungsrecht zuzurechnen war. Eine große Betonung liegt in Dieter Suhrs öffentlich-rechtlichen Beiträgen in seiner Konstruktion der individuellen Freiheit des Individuums als Netzwerkfreiheit, was sich sehr auf sein Verständnis der Grundrechtsdogmatik ausgewirkt hat. Suhr hatte ein eigenes Verständnis von Freiheit, welches sich nicht nur auf die individuelle Freiheit beschränkte, sondern auch eine gesellschaftliche Freiheit war, ohne dabei sozialistische oder kommunistische Ideen zu vertreten. Dies wurde von seinen Zeitgenossen wohl häufig missverstanden, wobei die politische Situation in den 1960er bis 1980er-Jahren von den heutigen Verhältnissen sehr verschieden ist. Vorgehalten wurde ihm wohl auch, dass er in seinen Veranstaltungen an der Freien Universität Berlin Ende der 60er-Jahre als einer der wenigen Lehrer an der Juristischen Fakultät von den Studenten nicht „boykottiert“ wurde. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass seine Ernennung an die Universität Augsburg politisch durchaus umstritten war und seitens der Juristischen Fakultät einige Widerstände überwunden werden mussten, wobei positiv zu werten ist, dass die gegen die Ernennung von Dieter Suhr vorgebrachten Argumente die Ernennung im Ergebnis nicht verhindern konnten. Dieter Suhrs Werke hinsichtlich einer „Neudenkung“ der Grundrechtsdogmatik, „Neukonzeption“ wäre hier als Begriff nicht umfassend genug, wurden in der Fachwelt rezipiert, aber häufig nicht angenommen.36 Suhr wollte ein „geselliges Verständnis“ der Grundrechte und des Rechts- und Sozialstaats evozieren, damit Freiheitsrechte nicht primär als Vehikel zur Stärkung persönlicher Interessen und damit

35 36

Suhr (Fn. 33), 351 (356). Z. B. Brugger, JZ 1989, 332 f.

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zur Begrenzung der Freiheitsrechte anderer gebraucht werden können. Vielmehr sollen sie der Erhöhung der Freiheit des Menschen im kollektiven Miteinander dienen37. 1. Analyse von Art. 2 Abs. 1 GG Suhrs durchaus prägendes Grundrechtsverständnis soll kurz anhand seiner in der „Entfaltung der Menschen durch die Menschen“38 vorgenommenen Analyse von Art. 2 Abs. 1 GG verdeutlicht werden. Ausgehend von einem textlichen Verständnis der Norm, wird dort hinterfragt, was unter der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ zu verstehen sei. Suhr nimmt dabei an, dass den Grundrechten auch eine soziale Funktion innewohnt, da sie von der tatsächlichen Ausübung und Inanspruchnahme durch die Grundrechtsberechtigten leben, sie also „interindividuell“ und „kommunikativ“ (oder auch „interaktiv“) seien39. Ferner habe nach seiner Annahme das individualistische Paradigma der Freiheit (das Paradigma des Ich) deutlich an Überzeugungskraft eingebüßt und sei durch das interaktive Paradigma der Freiheit zu ersetzen, wodurch das liberale Denken und das soziale Denken miteinander verknüpft werden könnten40. Zugespitzt fragt Suhr, ob die Grundrechte auf Geselligkeit oder Ungeselligkeit angelegt seien41. Fungiert der Mensch im Kraftfeld der Grundrechte nur als des Menschen Schranke, oder sind die Grundrechte auch Garantien für den Transitverkehr zwischen Menschen?42 Zurückkommend auf den Begriff der „Entfaltung“ bedeutet dies, dass die Menschen es miteinander zu tun bekommen, so dass die Entfaltung nur durch-einander funktioniere43 und sie somit Interaktion sei44. Mithin sei der andere die Bedingung für die eigene Entfaltung45, was Suhr anhand des Beispiels der Vertragsfreiheit erläutert46. Das Ausmaß der Entfaltung hängt mit dem Spielraum zusammen, den er sich selbst gibt und mit dem Spielraum, der ihm von anderen gegeben wird47. Dabei erkennt er die heute vorherrschende Grundrechtslehre an, dass die besonderen

37 von Heynitz/Vogel, Leben und Werk von Dieter Suhr, Seminar für freiheitliche Ordnung, Fragen der Freiheit, Heft 206, September/Oktober 1990, S. 3 ff. 38 Die „Entfaltung“ kann als rechtsdogmatische Fortsetzung der Habilitationsschrift Suhrs angesehen werden, siehe Hoffmann-Riem (Fn. 6), S. 125 (129). 39 Suhr (Fn. 10), S. 80 f. 40 Suhr (Fn. 10), S. 83. 41 Suhr (Fn. 10), S. 83. 42 So Suhr (Fn. 10), S. 83. 43 Suhr (Fn. 10), S. 84. 44 Suhr (Fn. 10), S. 85. 45 Suhr (Fn. 10), S. 88 ff. 46 Suhr (Fn. 10), S. 90. 47 Suhr (Fn. 10), S. 91.

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Freiheitsrechte nur besondere Formen der Entfaltung sind und Art. 2 Abs. 1 GG das allgemeine Freiheitsgrundrecht darstellt48. Suhrs Grundrechtsverständnis hat weitreichende Auswirkungen auf die Auslegung der einzelnen grundrechtlichen Normen. „Jeder“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG bezieht sich danach nicht (nur) auf die möglichen Grundrechtsträger, sondern auch auf die gegenseitige Grundrechtsausübung49. Noch bedeutsamer ist sie für die „freie“ Entfaltung der Persönlichkeit, da dort schnell von einem falschen kollektiven Verständnis ausgegangen werden könnte. Suhrs Netzwerkverständnis der Grundrechte führte im Ergebnis zu einer Aufhebung der klassischen Prüfungstrias „Schutzbereich – Eingriff – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung.“ Danach liegt die Grenze des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dort, wo die Rechtssphäre eines anderen beginnt. Suhr lehnt diese Sichtweise ab, da sie „die interaktive Dynamik des Entfaltungsprozesses“50 nicht widerspiegele und, ausgehend von einem reinen Textverständnis, der Begriff der „Schranke“ in Art. 2 Abs. 1 auch nicht enthalten sei51. Seiner Ansicht nach handele es sich bei widerstreitenden Grundrechtssituationen gerade nicht um „Kollisionen“ sondern um „Kommunikationen“ verschiedener Grundrechtsbereiche, wofür der oben bereits erwähnte Begriff der „praktischen Konkordanz“ zielführender sei52. Nach Suhrs Verständnis müssen die Grundrechtsschranken erst einmal hochgehen, um eine Entfaltung des Einzelnen herstellen zu können, da sich der Einzelne in einem Netzwerk von Beziehungen bewege53. Zur Verdeutlichung soll hier exemplarisch an die erwähnte Metapher erinnert werden: „Nicht nur Räume sondern auch Straßen und Wege Nicht nur Grenzen sondern auch und vor allem grenzüberschreitender Verkehr“.54

Auch lehnte er die vorherrschende Sichtweise ab, dass die „verfassungsmäßige Ordnung“ die Tatbestände der „Rechte anderer“ und des „Sittengesetzes“ bereits mit-

48

Suhr (Fn. 10), S. 104. Suhr (Fn. 10), S. 106. 50 Suhr (Fn. 10), S. 130. 51 Suhr (Fn. 10), S. 129. 52 Vgl. oben Fn. 14. Dort heißt es wörtlich: „Unter Kollision stellt man sich einen Zusammenprall vor, etwa von zwei Zügen auf eingleisiger Strecke. Entfaltet sich aber einer durch den anderen, so dringt sein Verhalten in ihn ein; der Zug prallt also nicht auf halbem Wege mit einem anderen zusammen, sondern erreicht, wenn ihm „freie Einfahrt“ signalisiert wird, seinen Zielbahnhof. Es geht dann nicht um die Kollision, sondern um darum, die Züge aneinander vorbeizuführen. Dazu bedarf es nicht der Regeln für Kollisionen, sondern der Regeln für Kommunikationen und Interaktionen.“ 53 Suhr (Fn. 10), S. 131. 54 Suhr (Fn. 10), S. 132. Bei letzterem bezieht er sich ausdrücklich auf § 242 BGB, welcher versinnbildliche, dass die Bürger untereinander nicht Räume sondern Erwartungen („Verkehrssitte“) untereinander haben. 49

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umfasse. Die Regulative seien funktional unterschiedlich55. Die „Rechte anderer“ führen nach Suhrs Ansicht auf die Perspektive der Einrichtung von interaktiven Situationen56 hin und waren für sein Verständnis von Art. 2 Abs. 1 GG besonders relevant. Ferner betreffe das „Sittengesetz“ vor allem Fragen der individuellen Entfaltungsentwürfe und ihrer Konsistenz bei prinzipieller Offenheit sowie soziale Verantwortlichkeiten für Entfaltungsakte, während die „verfassungsmäßige Ordnung“ die Freiheit und Offenheit der Verfassung dadurch schütze, dass einzelne beliebige Handlungen, welche gegen die Ordnung nicht verstoßen, als Mittel zum Entfaltungszweck Grundrechtsschutz gegen ungesetzmäßige Behinderung genießen57. 2. Gleiche Freiheit, Art. 3 GG In seinem Werk „Gleiche Freiheit“58 nimmt Suhr im Jahre 1988 wiederum Bezug auf seine Konzeption der Entfaltung des Menschen durch die Menschen und wendet sie auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG an, indem er eine „Gleichheitsvermutung“ entwickelt59. Grundlegend ist die Idee, dass Gleichheit freimachen soll, ohne gleichzumachen, wodurch Asymmetrien der Gleichheit, Abhängigkeiten, vermieden werden sollten60. Als eine solche Asymmetrie hatte Suhr auch die Zinswirtschaft erkannt, was weiter unten noch vertieft werden soll. Winfried Brugger schreibt dazu in einer Rezension61, dass es „[…] Dieter Suhr gelungen (sei), die Prämissen der herrschenden Grundrechtsdogmatik zu Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG radikal in Frage zu stellen und die (damals ebenfalls hochaktuelle, Anm. des Verfassers) Sozialstaatsdiskussion auf eine vertiefte Problemschicht und vielleicht Lösungsstrategie aufmerksam zu machen. Mit der Losung Freiheit gegen Gleichheit (Hervorheb. v. Verf.) zu argumentieren, sei nach dem Buch zweifellos schwieriger geworden.“ In Anbetracht dieser Besprechung, welche zumindest eine gewisse Rezeption von Suhrs Netzwerkkonstrukt zu befürworten scheint, erscheint es umso bedauerlicher, dass es ihm verwehrt blieb, seine Sichtweise weiter aktiv vorzubringen und zu vertreten. Dies hätte der im Rahmen der Wiedervereinigung stattgefundenen Verfassungsdebatte vielleicht gut getan und die Verfassung um einige Aspekte wie vielleicht soziale Grundrechte erweitert.

55

Suhr (Fn. 10), S. 129. Suhr (Fn. 10), S. 129. 57 Suhr (Fn. 10), S. 129. 58 Suhr, Gleiche Freiheit. Allgemeine Grundlagen und Reziprozitätsdefizite in der Geldwirtschaft“ (unter Mitarbeit von Armin Trautmann), 1988. 59 Suhr (Fn. 58), S. 47. 60 Suhr (Fn. 58), S. 18; siehe auch Suhr (Fn. 10), S. 140. Zum Ganzen: Hoffmann-Riem (Fn. 6), S. 125 (131). 61 Brugger, JZ 1989, 332 f. 56

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3. Weitere rechtswissenschaftliche Studien Daneben veröffentlichte Suhr weitere, eher klassisch orientierte, rechtswissenschaftliche Studien, die jedoch von seinem Gedankenkonstrukt, insbesondere dem Netzwerkdenken, zumindest mitgeprägt waren. Hierzu gehören „Immissionsschäden vor Gericht“62, welches auf ein Gutachten für den Stadt Augsburg zum „Augsburger Waldschadensprozess“63 zurückging, und das Werk „Rechtsfragen der raumbeeinflussenden Bundesplanung“64. Rechtsdogmatisch weiterführend waren Suhrs Überlegungen gerade im Bereich des Umweltrechts, in dem sich langsam der enge Blickwinkel des subjektiven Rechts gerade unter europäischem Einfluss zu einem erweiterten Klage- und Betroffenheitssystematik öffnete, wie man nunmehr am Umweltrechtsbehelfsgesetz65 und dem Umweltinformationsgesetz66 sehen kann. Auch das Umwelthaftungsgesetz67 kam zu spät, um das Augsburger Verfahren noch zu beeinflussen, wurde aber von ihm wohl ein wenig mitangestoßen68. Der Augsburger Waldschadensprozess, in welchem von Suhr eine Neubestimmung der Verantwortlichkeit für Umweltschäden und eine Haftung für Gemeinschaftsschäden nach § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG begründet wurde, ist ein gutes Beispiel für die denktheoretische Enge des klassischen Verursachungssystems des Zivilrechts im Hinblick auf viele, in einem Netzwerkverhältnis zueinander stehende negativen Umwelteinflüssen. Suhrs Verständnis von gegenseitigen Beeinflus62 Suhr, Immissionsschäden vor Gericht. Dokumente zum Augsburger Waldschadensprozeß, 1986. 63 Der Augsburger Waldschadensprozeß war der erste Prozeß zur Problematik des Waldsterbens (BGH Urteil vom 10. Dezember 1987, Az. III ZR 191/86, BayVBl. 1988, 186, zur Vorinstanz: OLG München, NVwZ 1986, 691). Die Stadt Augsburg wurde von Dieter Suhr mitberaten, welcher in „Die Zeit“ wie folgt zitiert wird: „Viele Menschen, die heute mit anschauen müssen, wie ihre Lebenswelt gefährdet und zerstört wird, kommen sich vor, als würden sie vergewaltigt. Hilflos stehen sie als einzelne einem polit-ökonomischen Prozeß gegenüber […] Ihre Grundrechte sind stumpf geworden in der sterbenden Umwelt; auf sie können sich die Menschen in ihrer Rechtsnot gegenüber Lärm und Dreck, Staub und Gift je länger desto weniger verlassen […] Die Hauptmassen der Abgase, Stäube und sonstigen Belastungen von Luft, Wasser und Boden werden legal produziert und legal in die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden eingebracht“ (zitiert bei Kühnert, Wer trägt die Schäden des Waldsterbens?, in Die Zeit Nr. 43 vom 16. Oktober 1987, abrufbar unter: http://www.zeit.de/ 1987/43/wer-traegt-die-schaeden-des-waldsterbens [letzter Abruf: 30. November 2016]). Zu einem Parallelverfahren s. BGHZ 102, 350 = NJW 1988, 478. Die Problematik ist auch aktuell wieder Gegenstand eines Verfahrens vor dem LG Essen, in dem der peruanische Bergführer Saúl Luciano Lliuya den Konzern RWE auf Schadensersatz für die durch den Klimawandel verursachten Schäden verklagt hat. 64 Suhr (in Zusammenarbeit mit Angelika Anderl), Rechtsfragen der raumbeeinflussenden Bundesplanung. Dargestellt an der Planung und Einführung des Nahdienstes im Fernsprechverkehr, 1980. 65 BGBl. 2006 I, 2816 ff. 66 BGBl. 2004 I, 3704 ff. 67 BGBl. 1990 I, 2634 ff. 68 Hierzu siehe auch den Nachruf in der Augsburger Allgemeinen (Fn. 4).

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sungen und deren juristische Berücksichtigung hätten jedoch eine Revolution oder ein „neues Haus“ bedeutet, welches seitens der Gerichte nicht erbaut werden konnte und sollte. Suhrs Ideen sind auch auf diesem Feld intellektuell anregend. In seinen weiteren Veröffentlichungen zum Öffentlichen Recht behandelte Suhr auch verstärkt das Sozialrecht und insbesondere dem Verhältnis von demographischer Entwicklung und Sozialstaat69. Besondere Beachtung verdient das von ihm auf der Grundlage des Hegel’schen Notstandsrechts aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechtsinstitut der „Daseinsnachsorge“70, welches auch eine individualschützende Komponente aufwies. Der Begriff geht somit über das Forsthoff’sche Verständnis einer bloßen „Daseinsvorsorge“71 hinaus, da nicht nur die dem Staat obliegende Pflicht zur Schaffung eines Überlebensrahmens gemeint ist72. Aus der neueren Rechtsprechung wäre in dem Zusammenhang die Hartz IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts73 zu nennen. V. Rechtsinformatik Dieter Suhrs Eigenschaft als Grenzgänger beschränkte sich aber nicht auf sozialund gesellschaftswissenschaftliche Bereiche. Seine Nähe zur Mathematik und den Ideen der Kybernetik brach sich in einem frühen und ausgeprägten Interesse an der Rechtsinformatik Bahn. Beispielsweise wurde das von Dieter Suhr mitherausgegebene Arbeitspapier „Computer als juristischer Gesprächspartner“ als sehr gewichtiger Beitrag zum damals noch in den Kinderschuhen steckenden Bereich der Rechtsinformatik bezeichnet74. Angeregt wurde die Studie durch den am Deutschen Rechenzentrum in Darmstadt im Jahre 1970 stattgefundenen „Spezialprogrammierkurs für nichtnumerische Probleme unter besonderer Berücksichtigung der Rechtswissenschaften“. Suhr hat sich mit vier anderen Juristen75 der Aufgabe gestellt, Computerprogramme für einen juristischen Dialog zwischen einem Computer und juristisch mehr oder weniger vorgebildeten Benutzern zu entwickeln, wodurch eine Einschaltung von Datenverarbeitungsanlagen in den juristischen Entscheidungsprozess ermöglicht werden 69 Otto, Dieter Suhr, in Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Neue Deutsche Bibliographie, 25. Band, 2013, S. 690. 70 Suhr, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Der Staat 9 (1970), 67; daran anknüpfend Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Beziehungen, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 1975, S. 134 (143 f.). 71 Siehe Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938. 72 Meyer-Tasch, Politische Theorie des Verfassungsstaats. Eine Einführung, 2. Auflage 2009, S. 109. 73 BVerfGE 125, 175 (2010). 74 Bull, Juristerei aus dem Computer, Die Zeit Nr. 10 vom 5. März 1971 (abrufbar unter http://www.zeit.de/1971/10/juristerei-aus-dem-computer [letzter Abruf: 30. November 2016]). 75 Walter Popp, Bernhard Schlink, Hanswalter Schramm und Jan Th. M. Palstra.

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sollte76. Trotz der in juristischen Kreisen geäußerter großen Bedenken und der alles andere als ausgereiften technischen Möglichkeiten wurde die Arbeit in Fachkreisen hoch gelobt, da sich die beteiligten Forscher nicht von „Unmöglichkeitsmeinungen“ aufhalten ließen, sondern „nachhaltige Versuche“ anstellten77, welche weiterentwickelt werden konnten. Entwickelt wurden von der Forschergruppe zwei Programmkonzepte, „Judith“ für juristischer Dialog und „Disum“ für dialogische Subsumtion. Leider hat man sich damals dagegen entschieden, diesen Weg weiter zu gehen, stattdessen wurde die Forschung von juristischen Datenbanksystemen vorangetrieben. Im Bereich der Rechtsinformatik war Dieter Suhr seiner Zeit sicherlich weit voraus, und er hatte jedenfalls eine „Ahnung“ der weiteren möglichen Entwicklung; beispielsweise nahm er an, dass die Nichtnumerik Entwicklungssprünge hinter sich bringen würde, die auf einigen Gebieten über das damals praktisch vorstellbare hinausgehen würden und mithin im Rahmen der Forschung auf dem Gebiet der Rechtsinformatik Offenheit und Anpassungsfähigkeit jedem Versuch des Perfektionismus, welcher dem Juristen anheim steht, vorgehen sollte78. Dies kann auch als direkte Antwort auf die ihm gerade in juristischen Kreisen entgegengeschlagene deutliche Kritik verstanden werden. VI. Geldwertorientiertes Werk Vergleichsweise spät, dafür aber umso intensiver, hat sich Dieter Suhr auch volkswirtschaftlichen Problemen zugewandt. Vertieft hat er dabei den Bereich der Geldordnung einer kritischen Betrachtung unterzogen und sich weit von vorherrschenden Lehrmeinungen entfernt, was ihm bei Professoren der Volkswirtschaft ebenfalls einen Außenseiterstatus verschaffte79. Die volkswirtschaftlichen Arbeiten begannen wohl hauptsächlich mit einer Vortragseinladung zu einem gemeinsam vom Walther Eucken Institut in Freiburg und dem Seminar für freiheitliche Ordnung an der FU Berlin veranstalteten Symposion mit dem Titel „Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft“ im Jahre 1981. Sein Vortrag „Die Geldordnung aus verfassungsrechtlicher Sicht“80 wurde dort positiv aufgenommen. Erste Ansätze zu geldtheoretischen Studien finden sich jedoch bereits in seiner Studie „Die kognitiv-praktische Situation“ aus dem Jahr 1977, in welcher Suhr sein späteres Hauptbetätigungsfeld, die Geldwerttheorie, am Rande aufgriff. Suhrs 76

So Bull (Fn. 74). So Bull (Fn. 74). 78 Popp/Suhr, Computer als juristische Gesprächspartner. Ein Arbeitspapier zu programmierten dialogischen Denkhilfen für die Jurisprudenz, 1970, Vorwort, S. V. 79 Stremel, Gehversuche auf akademischem Neuland, Augsburger Allgemeine Zeitung vom 25. November 1986. 80 Abgedruckt in Starbatty (Hrsg.), Geldordnung und Geldpolitik in einer freiheitlichen Gesellschaft, 1982. Starbatty war in neuerer Zeit wieder als vehementer Kritiker der „EURORettungsschirme“ öffentlich hervorgetreten. 77

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Ausgangspunkt war wiederum philosophisch geprägt, worin man eine Manifestation der Einheitlichkeit seines Denkens erblicken kann. Grundlage seiner Herangehensweise war, dass Eigentum und Geld Medien seien, mit denen ein eigener Wille in fremde Entschlüsse umgesetzt werden könne. Dabei erkannte er jedoch Asymmetrien und Einseitigkeiten, welche der menschlichen Verwirklichung im Weg stünden. Diese wollte er, wie auch bereits in anderen Forschungsgebieten, durch einen radikal anderen Ansatz als die bestehenden lösen und eine neue Geldwertverfassung schaffen81. Suhrs Geldwerttheorie war von den Theorien von Marx, Proudhon, Keynes und Gesell beeinflusst. Im Anschluss an Hayek sah er Geld „als eins der großartigsten Werkzeuge zur Freiheit [an], die der Mensch je erfunden hat“.82 Suhr fügt dem hinzu, dass „Geld auch als das raffinierteste und undurchschaubarste Instrument zur Erzeugung von Ungerechtigkeit […] zwischen den Menschen erwiesen hat“83. Der Grund für Fluch und Segen sei im Mehrwert zu finden. Suhr wollte das freie Kapital mithilfe einer dem Menschen dienenden Geldordnung bändigen84. Er sah die zinsbasierte Geldordnung als „kapitalistisches Störpotential“ der Wirtschaftsordnung an, welche er davon befreien wollte. Hierdurch sollten die wirtschaftlichen Kräfte ungebremst durch unnötige Zinslasten ihre jeweilige Leistungsfähigkeit voll entfalten können85. Ein Nebeneffekt sollte die nichtstaatliche Finanzierung von Kultur und anderen sozialen Bereichen sein, welche sich bislang weitgehend durch verlorene staatliche Zuschüsse finanziert werden86. Generell kritisierte er, dass Volkswirte allgemein Opportunitätskosten, worunter entgangene Gewinnchancen wie sie z. B. bei einer unterlassenen Geldanlage entstehen, sehr wichtig nehmen, während diese die Zinsbelastung als reale Kosten der Geldanlage häufig übergehen, obwohl durch die Belastung der Kreditnehmer und Konsumenten mit Zinskosten hochgradig nachteilige Auswirkungen auf den volkswirtschaftlichen Gesamtprozess haben87. Die geldwertbezogenen Arbeiten von Dieter Suhr88 verdienen gerade in Zeiten einer nicht zu Ende gehen wollenden Finanzkrise, die gerade von nicht regulierten 81

Vgl. zum Ganzen Schmidt (Fn. 1), 3136. Suhr, Geld ohne Mehrwert. Entlastung der Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten, 1983, S. 116. 83 Suhr (Fn. 82). 84 von Heynitz/Vogel (Fn. 36), S. 3 ff. 85 von Heynitz/Vogel (Fn. 36), S. 3 ff. 86 von Heynitz/Vogel (Fn. 36), S. 3 ff. 87 von Heynitz/Vogel (Fn. 36), S. 3 ff. 88 Zu nennen sind hier nur „Geld ohne Mehrwert“ (Fn. 49), „Befreiung der Marktwirtschaft vom Kapitalismus. Monetäre Studien zur sozialen, ökonomischen und ökologischen Vernunft“ (1986), „Optimale Liquidität. Eine liquiditätstheoretische Analyse und ein kreditwirtschaftliches Wettbewerbskonzept“ (mit Hugo Godschalk, 1986), „Der Kapitalismus als monetäres Syndrom. Aufklärung eines Widerspruchs in der Marxschen politischen Ökonomie“ (1988), „Gleiche Freiheit. Allgemeine Grundlagen und Reziprozitätsdefizite in der Geldwirt82

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Finanzmärkten ausgelöst wurde, besondere Beachtung und werden deshalb auch in diesem Beitrag einer umfassenderen Würdigung unterzogen, jedenfalls soweit dies den begrenzten Kenntnissen des Verfassers möglich ist. Leider spielen Suhrs Ansätze in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion, soweit der Verfasser dies nachvollziehen kann, keine Rolle. Dies ist überaus bedauerlich und sie sind, gerade wegen ihres radikal anderen akademischen Ansatzes zu Unrecht akademisch „verschollen“. Suhrs Grundidee, welche die auch zur Zeit vorherrschenden keynesianischen Konfliktlösungsansätze weiterdenkt, würde weitaus größere Verbreitung und Beachtung verdienen, da die momentan vorherrschenden und angewandten Methoden scheinbar zur Bändigung der Marktkräfte ungeeignet oder zumindest falsch eingesetzt erscheinen, wie sich gerade in der nunmehr seit dem Jahr 2008 andauernden Krisensituation zeigt. VII. Schlussbemerkungen Das Werk von Dieter Suhr verdient aufgrund seiner Gedankentiefe und Grundlagenforschung weit stärkere Beachtung als dies momentan der Fall zu sein scheint. Allerdings ist die geistige Herausforderung im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem am Rande der „herrschenden Meinung“ stehenden Grenzgängers naturgemäß mühsam und herausfordernd, so dass das Ergebnis der Untersuchung insoweit nicht wirklich zu überraschen vermag. Von Heynitz/Vogel feiern Dieter Suhr in ihrem, auch im Internet89 und damit wohl dauerhaft zugänglichen Nachruf90 als einen großen und weithin, gerade in juristischen Kreisen, missverstandenen Denker. Dort wird insbesondere sein Unglücklichsein über die fehlende Wertschätzung in weiten Teilen der deutschen juristischen akademischen Welt zum Ausdruck gebracht, die sich unter anderem darin äußert, dass Suhr entweder gar nicht oder nur sehr kursorisch in Werken rezipiert wird, die sich eigentlich mit seinem Diskurs auseinandersetzen sollten (oder gar ohne Nachweis seine Gedanken übernehmen91). Diese Berührungsangst rührt wohl daher, dass er häufig als politisch extrem „linker“ Denker wahrgenommen wurde. Dies entspricht jedoch nach den Informationen des Verfassers nicht den Tatsachen, vielmehr sei Suhr ein sehr offener und liberaler Mensch gewesen, welcher jedoch schaft“ (unter Mitarbeit von Armin Trautmann, 1988) und „The Capitalistic Cost-Benefit Structure of Money. An Analysis of Money’s Structural Nonneutrality and Its Effects on the Economy“ (1989). 89 Vgl. http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/fragen-der-freiheit/heft206/suhr-leben.htm (letzter Abruf: 30. November 2016). 90 von Heynitz/Vogel (Fn. 36), S. 3 ff. 91 Es wird darauf hingewiesen, dass es Suhr tief getroffen habe, dass ein nicht genannter Professorenkollege in einem Buch viel aus Suhrs Habilitation übernommen habe ohne dies kenntlich zu machen. Vielmehr sei dort nur erwähnt worden, bei Suhr sei nichts Wesentliches über Hegel und seine Bedeutung für die Verfassungsordnung und das Recht zu finden gewesen.

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seine Thesen vehement vertrat. Sein Grenzgängertum machte ihn jedoch wahrscheinlich für seine juristischen Kollegen häufig nur sehr schwer anschlussfähig; auch erscheint sein Werk oftmals zu sehr grundlagendeterminiert gewesen zu sein, als dass es in der schnelllebigen juristischen Subsumtionsgesellschaft eine weitgehende Rezeption hätte erfahren können. Dies ist zu bedauern92.

92 Auch wenn sich immer wieder vereinzelt Suhrs Gedanken finden, siehe z. B. Fn. 104 bei Droege, Herrschaft auf Zeit. Wahltage und Übergangszeiten in der repräsentativen Demokratie, DÖV 2009, 649 (655). Auch im Großkommentar von Maunz/Dürig (Hrsg.) finden sich noch sechs Schrifttumsnachweise. Vgl. auch Tinnefeld, Meinungsfreiheit durch Datenschutz – Voraussetzung einer zivilen Rechtskultur, ZD 2015, 22 (Fn. 29); Lenze, Kindererziehung als generativer Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung – Zugleich eine Besprechung der Entscheidung des BSG vom 5. Juli 2006, NZS 2007, 407 (Fn. 16).

Dieter Blumenwitz – ein später Frühvollendeter Von Robert Klotz I. Einführung Dieter Blumenwitz1 war ein auch international angesehener und vernetzter Jurist, mit Arbeitsschwerpunkten im Staatsrecht, Völkerrecht, Internationalen Privatrecht und anglo-amerikanischen Recht. Er legte ein beeindruckendes wissenschaftliches Werk vor. Am 11. Juli 1939 in Regensburg geboren verstarb er mit 65 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit am 2. April 2005 in München. Insofern ist Dieter Blumenwitz ein später Frühvollendeter – ein später Frühvollendeter auch deswegen, weil er mit über 450 Schriften im Stande war, vor seinem Ableben ein geschlossenes Werk vorzulegen. Im Jahre 1972 wurde Blumenwitz an die neu gegründete Universität Augsburg berufen und hatte dort einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Europarecht inne. 1975 erhielt er sowohl einen Ruf an die Freie Universität Berlin als auch an die Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Blumenwitz entschied sich für die Nachfolge von Friedrich August Freiherr von der Heydte auf dem Lehrstuhl für Völkerrecht, Allgemeine Staatslehre, deutsches und bayerisches Staatsrecht und politische Wissenschaften an der Universität Würzburg, den er ab 1976 innehatte. In der NJW wurde ein Nachruf veröffentlicht2, eine stattliche – ursprünglich als Festschrift geplante – Gedächtnisschrift3 aufgelegt und eine akademische Gedenkfeier4 ausgerichtet, auf der zahlreiche mit dem Verstorbenen Vertraute aus Politik, Verwaltung, Justiz sowie seine drei habilitierten Schüler und viele seiner mehr als 130 Doktorandinnen und Doktoranden Abschied nahmen. 1 Promotion 1965 („Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland“) und Habilitation 1970 („Der Schutz innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge“) jeweils unter der Betreuung von Friedrich Berber an der LMU München. Nach der Promotion arbeite Blumenwitz am Münchner Institut für Rechtsvergleichung, das von Murad Ferid geleitet wurde. 2 Bausback, Dieter Blumenwitz †, NJW 2005, 1478 f. 3 Gornig/Schöbener/Bausback/Irmscher (Hrsg.), Iustitia et Pax – Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz, 2008. 4 Bausback/Irmscher (Hrsg.), Recht und Menschlichkeit – Reden und Festvortrag zur akademischen Gedächtnisfeier für Dieter Blumenwitz, 2006.

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II. Eine Tiefenbohrung Beim inhaltsbezogenen Blick auf das wissenschaftliche Gesamtwerk ließe sich an diverse Rezeptionsstränge anknüpfen. Nimmt man das beachtliche Publikationsverzeichnis zur Hand, fällt etwa Blumenwitz’ intensive Befassung mit menschenrechtlichen Problemstellungen, besonders dem Volksgruppen- und Minderheitenschutz, mithin einem kollektiv verstandenen Menschenrechtsschutz auf. Hier soll es hingegen um Blumenwitz’ Tätigkeit als Prozessvertreter der Bayerischen Staatsregierung im Verfahren um den Grundvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gehen. Nach Auskunft des Freiburger Juristen Dietrich Murswiek, der mit Dieter Blumenwitz wissenschaftlich und persönlich verbunden war, handelte es sich dabei mit um sein wirkungsvollstes Auftreten. Gleichzeitig kann eine solche Betrachtung nur einen mittelbaren Rezeptionsnachweis erbringen: Die Entscheidungen sprach das BVerfG. Gleichwohl war es Blumenwitz, der als damals gerade 33-jähriger Prozessvertreter – allerdings bereits als Inhaber des Lehrstuhls an der Universität Augsburg – maßgeblichen Einfluss auf die Grundvertrags-Entscheidungen genommen hat. Freilich wird dies dem wissenschaftlichen Œuvre in seiner Breite nicht im Ansatz gerecht. Das Gesamtwerk nachzuzeichnen kann indes auch nicht die Aufgabe eines bescheidenen, sich auf die mittelbare Rezeption eines Einzelaspekts konzentrierenden Beitrags sein. 1. Die Problematik der einstweiligen Anordnung in außenpolitischen Angelegenheiten Die einstweilige Anordnung („eA“) hat vor allem eine Sicherungsfunktion.5 Es geht darum, die Wirksamkeit und die Umsetzbarkeit der Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und die Schaffung vollendeter Tatsachen auszuschließen.6 Mit einer eA nach § 32 BVerfGG in außenpolitischen Angelegenheiten, konkreter im Bereich der politischen bzw. völkerrechtlichen Verträge, soll dementsprechend erreicht werden, dass eine möglicherweise verfassungswidrige Bindung an Völkervertragsrecht bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinausgeschoben wird. Geht es um den Erlass einer eA, legt das BVerfG bekanntlich „wegen der weittragenden Folgen […] regelmäßig ein[en] strenge[n] Maßstab [an]“.7 Dabei wird grundsätzlich eine sogenannte „Doppelhypothese“ bzw. eine „doppelte Folgenabwägung“ 5 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Auflage 2015, Rn. 462; Schoch/ Wahl, Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, in: E. Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit: Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, 1995, S. 265 (277 ff.), weisen darauf hin, dass der eA bis zur Endentscheidung auch eine „interimistische Befriedungsfunktion“ zukommt. 6 Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 462. 7 BVerfGE 132, 195 (232) – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA).

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vorgenommen.8 Abgewogen werden die vermuteten Konsequenzen des Nichterlasses einer eA bei späterem Obsiegen des Antragstellers mit denjenigen Folgen, die bei Erlass einer eA eintreten, obgleich der Antragsteller später unterliegt. Maßgeblich ist nach dem soeben Gesagten die Schwere des Nachteils, nicht aber die verfassungsrechtliche Beurteilung der Maßnahme.9 Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache spielen bei der Entscheidungsfindung infolgedessen gewöhnlich nur am Rande eine Rolle, nämlich dann, wenn der Hauptsacherechtsbehelf – insbesondere im Falle der Verfassungsbeschwerde – unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Stehen völkerrechtliche oder außenpolitische Gegenstände zur Entscheidung an, will das BVerfG die Anforderungen an die Doppelhypothese noch deutlich verschärfen. Hier sei eine besonders strenge Sachkontrolle anzustellen,10 was den Erlass einer eA in diesem Bereich praktisch regelmäßig ausschließt. 2. Prozessuale Besonderheit im Zuge der Grundvertrags-Entscheidung Im ersten Verfahren, gerichtet auf Erlass einer eA im Zuge des Streits um den Grundvertrag, modifizierte das BVerfG den verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang bei der Prüfung völkerrechtlicher Verträge jedoch mit Beschluss vom 4. Juni 1973 wie folgt: „Bei einem derart bedeutungsvollen Vertrag darf das Gericht sich nicht damit begnügen, bei der Abwägung des Für und Wider schon die abstrakte Möglichkeit einer Verfassungswidrigkeit des Vertragsgesetzes entscheidend zu berücksichtigen. Es muß vielmehr schon bei der Abwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG wenigstens summarisch [Hervorhebung durch den Verf.] geprüft werden, ob die bis jetzt erkennbaren Gründe gegen die Verfassungsmäßigkeit des Vertragsgesetzes wenigstens mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, daß das BVerfG das VertragsG ganz oder zum Teil für verfassungswidrig erklären wird.“11

Blumenwitz erreichte damit als Prozessvertreter der Bayerischen Staatsregierung zwar im Ergebnis nicht, dass der Vollzug des Notenaustauschs zwischen der Bundesregierung und der Führung der DDR, mit dem der Grundvertrag am 21. Juni 1973 in Kraft treten konnte, bis zur Verkündung der Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt wurde, obwohl das BVerfG im Zurückweisungsbeschluss vom 4. Juni 1973 die Erwartung zum Ausdruck gebracht hatte, dass eben dieser Notenaustausch einstweilen nicht geschieht.12 Denn der Termin zur Verkündung der Entscheidung in der 8 Schoch/Wahl, Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, FS Benda (Fn. 5), S. 265 (292 f.). 9 Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 466; vgl. BVerfGE 46, 160 (164) – Schleyer-Entführung. 10 BVerfGE 35, 193 (196) – Grundvertrag (eA); BVerfGE 126, 158 (167) = NJW 2010, 2418 (Rn. 27) – Euro-Rettungsschirm (eA). 11 BVerfGE 35, 193 (196 f.) – Grundvertrag (eA). 12 BVerfGE 35, 193 (201 f.) – Grundvertrag (eA). Die Verärgerung darüber bringt das BVerfG im Urteil in der Hauptsache deutlich zum Ausdruck, vgl. BVerfGE 36, 1 (Ls. 3) –

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Hauptsache war bereits am 29. Mai 1973 durch Mitteilung der Pressestelle des BVerfG – notabene bereits vor dem Zeitpunkt der Zurückweisung des Antrags auf Erlass einer eA durch den oben genannten Beschluss – auf den 31. Juli 1973 festgelegt worden und war somit allen Prozessbeteiligten bekannt.13 Die Bundesregierung sah sich also außerstande, das Inkrafttreten des Grundvertrags um fünf Wochen zu verschieben.14 Auch ein weiterer Antrag auf Erlass einer eA blieb erfolglos.15 Bemerkenswert war aber doch, dass das BVerfG von seinem davor und danach zumindest vorgeblich stets praktizierten Entscheidungsmodell abgewichen ist. 3. Anknüpfen hieran im Verfahren um den Europäischen Stabilitätsmechanismus Soweit ersichtlich, verwendete das BVerfG erst im Verfahren über den Europäischen Stabilitätsmechanismus („ESM“) wieder explizit das gleiche Entscheidungsmodell hinsichtlich eines Antrags auf Erlass einer eA.16 Dabei beruht diese Erkenntnis nicht auf akribischem Aktenstudium oder Insiderwissen. Es war vielmehr das BVerfG selbst, das bereits in der Gliederung der mündlichen Verhandlung über den Erlass einer eA im ESM-Verfahren ausdrücklich auf den entsprechenden Beschluss im Zuge der Auseinandersetzung um den Grundvertrag verwies.17 Die Entscheidung – der Antrag auf Erlass einer eA wurde mit bestimmten Maßgaben abgelehnt – steht im Zusammenhang mit einer längeren Rechtsprechungslinie, in der die Maßnahmen rund um die sog. „Euro-Rettung“ einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen wurden. 39 Jahre nach dem oben angeführten Beschluss heißt es im Urteil vom 12. September 2012: „Wird jedoch im Hauptsacheverfahren das Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag zur Prüfung gestellt, kann es angezeigt sein, sich nicht auf eine reine Folgenabwägung zu beschränken, sondern bereits im Verfahren nach § 32 Abs. 1 BVerfGG eine sumGrundvertrag: „Mit der Entscheidung des Grundgesetzes für eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit ist es unvereinbar, daß die Exekutive ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges Verfahren überspielt.“ 13 Hacker, in: Zieger (Hrsg.), Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, 1979, S. 7 (51, Aussprache/Erste Arbeitssitzung). 14 Zu diesem Vorgang auch Schoch/Wahl, Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, FS Benda (Fn. 5), S. 265 (282 ff.). 15 BVerfGE 35, 257 – Grundvertrag (eA II). 16 Bzw. auch in den Verfahren BVerfGE 46, 160 (164) – Schleyer-Entführung, BVerfGE 67, 149 (151 f.) – Wahlwerbung/WDR und BVerfGE 111, 147 (153) – Inhaltsbezogenes Versammlungsverbot, die jedoch keinen außenpolitischen Sachverhalt betrafen. Allerdings spricht das BVerfG explizit nur in BVerfGE 46, 160 (164) – Schleyer-Entführung, also in dem Verfahren, in dem eine eA nicht erlassen wurde, von einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. 17 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 50/2012 vom 5. Juli 2012, http:// www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg12 – 050.html (letzter Abruf: 30. November 2016).

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marische Prüfung [Hervorhebung durch den Verf.] anzustellen, ob die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Vertragsgesetzes vorgetragenen Gründe mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass das Bundesverfassungsgericht das Vertragsgesetz für verfassungswidrig erklären wird (vgl. BVerfGE 35, 193 [196 f.]).“18

Das Gericht zitiert hier den oben angeführten Beschluss vom 4. Juni 1973 und führt dann weiter aus, nur so könne einerseits sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland keine völkerrechtlichen Bindungen eingeht, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Andererseits könne auf diese Weise verhindert werden, dass eine mögliche Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme, wie dies nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zu einem völkerrechtlichen Vertrag der Fall ist. Insbesondere sei „[e]ine summarische Prüfung der Rechtslage […] in solchen Fällen […] geboten, wenn eine Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG in Rede steht. In einer derartigen Situation muss es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, die Identität der Verfassung zu schützen. Ergibt die summarische Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine behauptete Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben ist, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 [153]).“19

Sodann wurde nicht nur das Zustimmungsgesetz, sondern auch die Begleitgesetzgebung einer summarischen Prüfung unterzogen. 4. Zum Hintergrund beider Verfahren Macht man sich das politische Umfeld klar, in dem der Grundvertrag durchgesetzt wurde – der Kalte Krieg und die deutsche Teilung seien hier nur als Schlagworte genannt –, wird verständlich, dass Blumenwitz die Ehre, dieses Verfahren als Prozessvertreter führen zu dürfen, auch durchaus als schwere Last empfinden konnte. Wie man weiß, stellte der Grundvertrag, präziser der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, ein bedeutendes Teilergebnis der neuen, auf Entspannung gerichteten Ostpolitik durch die Regierung Brandt/Scheel dar („Wandel durch Annäherung“).20 Wer damals „gegen“ den Grundvertrag war, riskierte als Friedensfeind gebrandmarkt zu werden. Die Erfolgsaussichten eines Verfahrens vor dem BVerfG wurden dementsprechend zuvor äußerst skeptisch beurteilt. Ähnliche Skepsis wurde auch von Blumenwitz’ Weggefährten mit Blick auf den Preis zum Ausdruck gebracht, den der hier in den Blick genommene Jurist persönlich für einen möglichen Erfolg vor dem BVerfG werde bezahlen müssen. Sich damals zu (Gesamt-)Deutsch18

BVerfGE 132, 195 (233) – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA). BVerfGE 132, 195 (233) – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA). 20 Vgl. Koerfer, Den Anspruch wachhalten, FAZ v. 26. Juli 2013, S. 7. 19

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land zu bekennen, brachte einem leicht heftige Anfeindungen ein. Die Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung galt gar als „Hirngespinst“ und somit einer wissenschaftlichen Bearbeitung unwürdig.21 Auch im Zuge der sog. „Euro-Rettung“ wurde und wird die Rechtmäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen äußerst kontrovers diskutiert. Eine bedeutende derartige Maßnahme war die vertragliche Kreation des ESM, einer dem IWF vergleichbaren internationalen Finanzinstitution, die mittels Notkrediten und Bürgschaften sowie dem Aufkauf von Staatsanleihen einen wesentlichen Teil der „alternativlosen“ Rettung des Euros ausmacht. Allzu schnell sehen sich diejenigen, die den eingeschlagenen Weg für grundfalsch halten, dem Vorwurf der „Europaskepsis“ ausgesetzt. Mitunter werden Kritiker der „Euro-Rettung“ gar polemisch „Ewiggestrige“ genannt, die das europäische Friedensprojekt umzustürzen gedenken und einem Staatsmodell des 19. Jahrhunderts anhingen. 5. Juristische Gemeinsamkeiten beider Verfahren In beiden Verfahren ging es – das Urteil in der Hauptsache des ESM-Verfahrens wurde am 18. März 2014 verkündet22 – um für das staatliche Gemeinwesen wesentliche Grundsatzfragen mit außenpolitischen Bezügen. Überdies sind beide Sprüche nur als Glieder einer mehrere Entscheidungen umfassenden Kette verständlich. Stand bei der Entscheidung um den Grundvertrag das Völkerrechtssubjekt (Gesamt-)Deutschland auf dem Spiel, das sich durch eine rechtliche Anerkennung der damaligen, jedenfalls faktisch bestehenden Nachkriegslage vollständig in zwei Völkerrechtssubjekte aufzulösen drohte, ging es beim ESM-Urteil vom 12. September 2012 um den Kernbereich der Verfassung nach Art. 79 Abs. 3 GG, der hinsichtlich des Demokratieprinzips dadurch berührt sein konnte, dass Deutschland über seinen Anteil am genehmigten Stammkapital des ESM (Art. 8 ESM-Vertrag) Haftungsrisiken im Umfang von bis zu 190 Milliarden Euro übernimmt bzw. sogar eine Auslegung des ESM-Vertrags im Raum stand, nach der diese Haftungssumme ohne konstitutive Entscheidung des Deutschen Bundestags noch deutlich ausgeweitet werden könnte.23 Sowohl mit Blick auf die Fortexistenz (Gesamt-)Deutschlands als Völkerrechtssubjekt als auch gegenüber dem Verfassungskernbereich nach Art. 79 Abs. 3 GG konnte die Entscheidungsfindung schwerlich im Wege einer Abwägung herbei-

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Gornig, in: Bausback/Irmscher (Fn. 4), S. 19 (22). BVerfGE 135, 317 – Europäischer Stabilitätsmechanismus. 23 Zur Verdeutlichung des Umfangs: Nach dem Gesamtplan sind im Bundeshaushalt 2013 Ausgaben in Höhe von 302,0 Milliarden Euro vorgesehen. Dem stehen geplante Einnahmen in Höhe von 284,59 Milliarden Euro gegenüber. Vgl. Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2013 (Haushaltsgesetz 2013) vom 20. Dezember 2012 (BGBl. I S. 2757). 22

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geführt werden.24 Daher war dem Gericht der Weg über die „Doppelhypothese“ versperrt. a) Staatsrechtliche Grundsatzfragen – offengehalten Während (Gesamt-)Deutschland mit dem Grundvertrag nach Ansicht des Antragstellers, der Regierung des Freistaats Bayern, sein ungeteiltes Selbstbestimmungsrechts zu verlieren drohte, machten die Antragsteller im ESM-Verfahren eine mögliche verfassungswidrige Entäußerung der Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestags geltend. Im Verfahren um den Grundvertrag wurde vorgebracht, dass die „deutsche Frage“ für die Zukunft offengehalten werden – eine deutsche Wiedervereinigung also weiterhin auch de iure möglich bleiben – müsse. Das Wiedervereinigungsgebot dürfe als Rechtstitel nicht aufgegeben werden. In diesem Sinne hatte das BVerfG nach überwiegender Auffassung dann auch entschieden.25 Analog hierzu machten die Antragsteller im Zuge des ESM-Verfahrens geltend, durch den ESM-Vertrag würde ein Haftungs- und Leistungsautomatismus in Gang gesetzt werden, der die Haushaltsautonomie des gegenwärtigen wie auch künftiger Bundestage praktisch völlig leerlaufen lassen könne. Insofern gehe es, im Anschluss an eine frühere Entscheidung im Zusammenhang mit der sog. „Euro-Rettung“, nicht um „die inhaltliche […] Kontrolle demokratischer Prozesse“26, sondern um deren Ermöglichung, also darum, dass der Deutsche Bundestag auch in Zukunft überhaupt noch zur Gestaltung und Umsetzung demokratischer Entscheide in der Lage ist.27 Dem entsprach das BVerfG dann mit Urteil vom 12. September 2012, indem es einen verfahrensbezogenen, das Ergebnis offen haltenden Ansatz verfolgte bzw. bestätigte.28 Gleichzeitig erachtete das Gericht auch in Anknüpfung an die Maßstäbe des Lissabon-Urteils Entscheidungen über öffentliche Einnahmen und Ausgaben als dem „grundlegende[n] Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat“29 zugehörig. b) Modifizierung des Entscheidungsmodells Hinsichtlich völkerrechtlicher Verträge vermied das BVerfG in beiden Verfahren die drohende Rechtsschutzverkürzung durch eine summarische, also materielle Prüfung. Der angelegte Rechtsmaßstab ist zu begrüßen. Hierdurch wird die gerichtliche 24 Jedenfalls nicht, ohne selbst politisch zu entscheiden, vgl. Voßkuhle, NJW 2013, 1329 (1332). 25 E. Klein, Grundlagenvertragsurteil – Revisited, in: Gornig/Schöbener/Bausback/Irmscher (Fn. 3), S. 1219 (1234 f.). 26 BVerfGE 129, 124 (168) – Griechenlandhilfe/EFSF. 27 Voßkuhle, NJW 2013, 1329 (1332). 28 Lepsius, ESM-Vertrag, Fiskalpakt und das BVerfG, EuZW 2012, 761. 29 BVerfGE 132, 195 (239) – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA), in Anknüpfung an BVerfGE 123, 267 (360 f.) – Lissabon.

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Entscheidung auf eine rationalere Grundlage gestellt,als dies bei einer Folgenabwägung möglich wäre. Denn die sonst praktizierte „Abwägungsrabulistik“30 verleitet doch nur dazu, dass sich das BVerfG – so jedenfalls entsprechende Einschätzungen in der Literatur – die Argumentation der Bundesregierung bzw. des Deutschen Bundestages zu eigen macht, um dieser sodann ein gerichtliches Gütesiegel aufzudrücken.31 Anders war dies sowohl hinsichtlich des Grundvertrags als auch hinsichtlich des ESM. Hier übernahm das BVerfG die Argumentation der agierenden Bundesorgane ausdrücklich nicht als eigene, sondern übte sich in judicial self-restraint32 bzw. respektierte den weiten Einschätzungsspielraum33 des Haushaltsgesetzgebers. Damit beschränkt das BVerfG zwar nicht die eigene Entscheidungszuständigkeit, wohl aber die eigene Kontrolldichte. Im Sinne einer funktionsangemessenen Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Verfassungsgericht auf der einen sowie Exekutive und Legislative auf der anderen Seite verdient die praktizierte Reduzierung der Kontrolltiefe grundsätzlich Zustimmung. Zurückhalten kann sich das BVerfG aber dort nicht, wo ein Verfahrensgegenstand an äußerste Grenzen des Grundgesetzes stößt.34 Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache eine erhebliche Einschränkung der konkreten Prozesserfolgsaussichten aus Sicht des jeweils rechtsschutzsuchenden Antragstellers im Verfahren um den Erlass einer eA bedeuten kann. Denn unter Zugrundelegung des „Abwägungsmodells“ – seine Durchführbarkeit unterstellt35 – hätte in beiden Verfahren – Grundvertrag wie auch ESM – der Erlass einer eA nahe gelegen.36 Denkt man 30

Vgl. Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 465. Schoch/Wahl, Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in außenpolitischen Angelegenheiten, FS Benda 1995 (Fn. 5), S. 265 (267 ff., insbes. 271), verdeutlichen dies anhand der Entscheidungen zu einstweiligen Anordnungen in BVerfGE 88, 173 – Awacs und BVerfGE 89, 38 – UNOSOM II. 32 So das BVerfG ausdrücklich in BVerfGE 36, 1 (Ls. 2) – Grundvertrag; s.a. BVerfGE 35, 257 (262) – Grundvertrag (eA II). 33 BVerfGE 132, 195 (242) – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA): Das Gericht akzeptierte demgemäß die absolute Höhe der durch den Haushaltsgesetzgeber eingegangenen Verpflichtungen und damit auch dessen Einschätzung, die finanziellen Risiken durch die Beteiligung am ESM seien noch hinreichend überschau- und beherrschbar, vgl. Voßkuhle, NJW 2013, 1329 (1332). 34 Schweitzer/Dederer, Staatsrecht III, 11. Auflage 2016, Rn. 1264. 35 Schlaich/Korioth (Fn. 5), Rn. 464, etwa halten hinsichtlich des ESM eine Abwägung zwischen dem Demokratieprinzip und der Funktionsfähigkeit der Europäischen Währungsunion für nicht praktikabel. 36 In diesem Sinne äußerten sich die vier abweichenden Richter in BVerfGE 35, 193 (200 f.) – Grundvertrag (eA). In der Sache BVerfGE 132, 195 – Europäischer Stabilitätsmechanismus (eA) wird dies noch deutlicher: Denkbar wäre unter Zugrundelegung des herkömmlichen Abwägungsmodells der Nichterlass einer einstweiligen Anordnung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität im Hauptsacheverfahren – also verfassungsrechtlich der größte anzunehmende Unfall. Demgegenüber hätte der Erlass einer einstweiligen Anordnung das Verfahren zwar verzögert, aber auch bei Verneinung einer Verletzung der Verfassungsidentität in der Hauptsache verfassungsrechtlich (wohl) keinen vergleichbaren Schaden angerichtet, da zum Entscheidungs31

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also vom Ergebnis her, ist das Gericht hier durch Heranziehung des Maßstabs „Recht“ zugleich dem Erlass einer eA ausgewichen. Das ist gewiss nicht ohne Ironie, mag aber jeweils auch an dem erheblichen Druck gelegen haben, den die politisch Verantwortlichen auf das Gericht ausgeübt hatten.37 Freilich wird man dem BVerfG die Heranziehung rechtlicher Maßstäbe kaum vorhalten können, vielmehr ist Rechtsprechung, also die methodensaubere Rechtsauslegung und die hierauf aufbauende Entscheidung in der Sache, dessen Aufgabe. Die Umstellung des Entscheidungsmodells und der damit einhergehende Rückgriff auf das materielle Recht wiesen demnach gewissermaßen den „Ausweg“.38 6. Fazit: Durchdringung von Recht und Politik Nicht zuletzt werfen die Entscheidungen des BVerfG im Zuge der Auseinandersetzung um den Grundvertrag – wie auch diejenigen, die im Zuge der „Euro-Rettung“ ergingen – ein Schlaglicht auf die wechselseitige Durchdringung von Recht und Politik39, mithin einen der Hauptstränge im rechtswissenschaftlichen Gesamtwerk von Dieter Blumenwitz. Die soeben beschriebene Verzahnung von Recht und Politik darf dabei, so Blumenwitz, auch in hochpolitischen Angelegenheiten gerade nicht dazu verleiten, Rechtspositionen „als ,Formelkram‘ und ,Juristerei‘ ohne Blick auf die weiteren Konsequenzen abzutun“.40 Man kann den Entscheidungen des BVerfG im Zuge der Auseinandersetzung um den Grundvertrag somit die Bestätigung entnehmen, dass das deutsche Verfassungsrecht eine Political-question-Doktrin41 nicht enthält, die es dem BVerfG ermöglichte, nach eigenem Ermessen Fälle von fundamentaler (außen-)politischer Bedeutung entweder nicht zu entscheiden oder bestimmte Sachfragen aus der gerichtlichen Überprüfung per se auszusondern.42 Solange die zuständigkeitsbegründenden Normen keine entsprechende Beschränkung der richterlichen Kognition anordnen, ist es dem BVerfG auch im Bereich der auswärtigen Gewalt grundsätzlich verwehrt, seine Prüfungskompetenz zu beschränken.43 Mit zeitpunkt noch andere Instrumente der „Euro-Rettung“, nämlich Mittel aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität („EFSF“) und die zuvor angekündigten Outright Monetary Transactions („OMT“) seitens der EZB zur Verfügung standen. 37 E. Klein, Grundlagenvertragsurteil – Revisited, in: Gornig/Schöbener/Bausback/Irmscher (Fn. 3), S. 1219 (1221). 38 So Klement, Der Euro und seine Demokratie, ZG 2014, 169 (173). 39 Siehe dazu die Studie von Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 115 ff. und passim. 40 Blumenwitz, Erste Stellungnahme des Bevollmächtigten der Bayerischen Staatsregierung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. 7. 1973, in: Cieslar/Hampel/Zeitler (Hrsg.), Der Streit um den Grundvertrag. Eine Dokumentation, 1973, S. 309. 41 Vgl. dazu Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Auflage 2001, S. 21 ff.; Burchardt, Grenzen verfassungsgerichtlicher Erkenntnis, 2004, S. 32 ff.; s. auch BVerfGE 134, 366 (420) – Sondervotum Lübbe-Wolff. 42 Murswiek, DÖV 1982, 529 (533 f.). 43 Vgl. Murswiek, DÖV 1982, 529 (534).

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anderen Worten: In dem Umfang, in dem ein Sachverhalt verrechtlicht ist, handelt es sich in der Tat nicht mehr um eine politische Frage; das Gericht muss also durchentscheiden, wenn es zulässigerweise angerufen wird. Demgegenüber bedeutete die vollständige Verrechtlichung die Auflösung der Politik. Das Recht steckt den Rahmen, nimmt aber „die Politik nicht auf Schritt und Tritt an die Leine“.44 Diesen Bereich exakt und methodensauber auszuleuchten, ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Ob eine außenpolitische Streitfrage nach verfassungsrechtlicher Maßstäblichkeit zu beurteilen ist oder nicht – gewissermaßen also eine „Streitigkeit um das Recht“ –, ist dabei ebenfalls eine Frage des Rechts.45 Gleichzeitig steuert und begrenzt das Gericht die prozessuale Durchsetzbarkeit dieser Verrechtlichung durch eine weit zurück genommene Kontrolltiefe, der eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers entspricht.46 Im Bereich der Außenpolitik kommt noch hinzu, dass das BVerfG hier in besonderem Maße unter der strukturellen Schwäche leidet, von den politischen Organen überspielt werden zu können.47 Mit verfassungsprozessualen Mitteln lassen sich daher international geschaffene Fakten, die der nationalen Verfassungsrechtslage widersprechen, wohl hemmen, nicht aber vollständig reparieren.48 Insofern kann man von einer insgesamt zeitlosen, stets wiederkehrenden Problematik sprechen. Und dennoch: Es ist das Recht, genauer das Verfassungsrecht und seine Konkretisierung durch die Entscheidungen des BVerfG, wodurch das Handlungsfeld der Politik eingehegt wird. Waren sich Wehner und Honecker nach Ergehen des Grundvertragsurteils noch einig, dass sich „In zwei Jahren […] niemand mehr an das Geschreibsel der Juristen erinnern [wird], die noch im Mittelalter zu leben scheinen“49, so erwiesen sich die Entscheidungen des BVerfG im Zuge des Streits um den Grundvertrag im Gegenteil als beständiger und durchaus belastbarer Leitfaden für die weitere Deutschlandpolitik – die letztlich zur Wiedervereinigung führte.50

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Grimm, Recht und Politik, JuS 1969, 501 (505). Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 130 f. 46 Vgl. BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundvertrag: „Der Grundsatz des judical self-restraint [Hervorhebung durch den Verf.], den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner […] Kompetenz, sondern den Verzicht ,Politik zu treiben‘, d. h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgabe garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.“ Voßkuhle erläutert die Abgrenzung von Recht und Politik am Beispiel der ESM-Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 132, 195 – dergestalt, dass Probleme des Demokratieprinzips sowie des Budget- und des Wahlrechts rechtliche Fragen seien, wohingegen prognostische Elemente und etwa die beste wirtschaftliche Herangehensweise zur Lösung der „Euro-Krise“ Fragen seien, die der Politik anheimgestellt blieben, vgl. NJW 2013, 1329 (1332). 47 Vgl. BVerfGE 36, 1 (14 f.) – Grundvertrag. 48 Blumenwitz, in: Zieger (Fn. 13), S. 7 (15). 49 Vgl. Koerfer (Fn. 20), S. 7. 50 Koerfer (Fn. 20), S. 7. 45

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III. Methodisches Postludium Kann es richtig sein, den Versuch eines Rezeptionsnachweises hinsichtlich des Werkes und des Wirkens eines Rechtswissenschaftlers anhand von Verfassungsgerichtsentscheidungen zu unternehmen? Wenn die gern bemühte Aussage des USamerikanischen Richters Charles E. Hughes zutrifft, wonach „ […] the constitution is what the judges say it is“51, dann liegt die Antwort auf der Hand. Die Antwort lautet aber auch deswegen ja, weil „ein gut geführtes Rechtsargument“52 die Bewährungsprobe der gerichtlichen Praxis nicht zu fürchten braucht, sondern vielmehr durch den Richterspruch erst verbindliche Wirkung entfaltet. Unter Zuhilfenahme der Gerichte vermag es der constitutional lawyer, seiner Rechtsauffassung Geltung zu verschaffen sowie für sich selbst entsprechende Anerkennung zu erlangen – und er partizipiert damit zugleich an Macht und Ohnmacht des angerufenen Gerichts. Dem im anglo-amerikanischen Rechtskreis53 bewanderten Dieter Blumenwitz hätte dies gewiss ohne Weiteres eingeleuchtet, nicht zuletzt auch deswegen, um die Erinnerung der (Fach-)Öffentlichkeit an das „Geschreibsel der Juristen“ aus Karlsruhe gelegentlich aufzufrischen.

51 Zitiert nach Brugger (Fn. 41), S. 7; Einordnungen zur besagten Aussage bei Schlaich/ Korioth (Fn. 5), Rn. 475. 52 Vgl. Blumenwitz, in: Zieger (Fn. 13), S. 7 (11). 53 Siehe dazu das von Dieter Blumenwitz begründete und mittlerweile in 8. Auflage von Jörg Fedtke weitergeführte Lehrbuch „Einführung in das anglo-amerikanische Recht“, München 2018 (in Vorbereitung).

Henning von Olshausen – zeitlos, furchtlos, nicht fruchtlos Von Eike Michael Frenzel I. Einführung In seinem Nachruf für Henning von Olshausen schreibt der ehemalige Richter am Bundessozialgericht Rolf Naujoks, von Olshausen „[…] selbst hätte triumphierend noch sein eigenes Leben als Beweis für die Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens angeführt“1. Naujoks widerspricht dieser fingierten Aussage als „Freund am Kai“, die Möglichkeit des unwidersprochenen Widerspruchs in Anspruch nehmend. Von Olshausen ist nicht nur ein Nachruf gewidmet, und er und sein Werk werden nicht nur hier thematisiert. Es ist nicht Selbstzweck dieses Beitrags, von Olshausens Behauptung zu widerlegen, aber beiläufig wird diese Behauptung widerlegt werden, und zwar über das Moment hinaus, dass von Olshausen überhaupt ausgewählt wurde, seine Schriften erhalten sind und rekapituliert werden. Ergebnis dieser Befassung mit Werk und Person ist, dass viele seiner Themen – nicht ungewöhnlich, aber auch nicht die Regel – von dem geltenden Recht unabhängig und zeitlos sind und von Olshausen sich mit diesen Themen furchtlos und regelmäßig fruchtlos befasste. Die Kombination aus Zeit- und Fruchtlosigkeit ist ein Widerspruch, der auch im frühen Ausscheiden aus dem Dienst und seinem frühen Tod begründet sein mag, ohne dass ein Nachweis geführt werden könnte. Dafür werden hier inhaltliche Positionen skizziert und von Olshausen als Person und Mitglied der Mannheimer Fakultät vorgestellt. II. Zeitlose Themen – fruchtlose Befassung? Zeitlos sind die Themen, denen von Olshausen sich in seinen wenigen Schriften, insbesondere den monographischen Abhandlungen, gewidmet hat. Fruchtlos sind diese Befassungen – zumal nach Berufung als solche nicht Voraussetzung für die Alimentierung – nur, wenn sie nichts bewirken können: kein Nach- oder Überdenken, nicht als Orientierung, nicht als Widerlager. Für von Olshausens Dissertation und Habilitationsschrift ist die Wirkungslosigkeit, wenn man diese Werke denn zur Hand nimmt, ausgeschlossen.

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Naujoks, Henning v. Olshausen †, NJW 2002, 2846.

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Eike Michael Frenzel

1. Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts In seiner Dissertation behandelte von Olshausen die Anwendbarkeit von Grundrechten auf juristische Personen des öffentlichen Rechts2. Dort bringt er zunächst zum Ausdruck, dass undifferenzierte Deutungen fehl am Platz seien: Es erscheint ihm kurzschlüssig, den bloßen Wortlaut, der nicht nach juristischen Personen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts differenziert, als Argument heranzuziehen, dass im Grundsatz nicht zu unterscheiden sei und eine Unterscheidung nur anderweitig eingeführt werden könne. Ebenso lehnt von Olshausen eine Doktrin ab, die letztlich in ein „Es kann doch nicht sein, dass“ mündet: Es könne doch nicht sein, dass die durch die Grundrechte verpflichteten Personen durch diese zugleich berechtigt werden könnten. Von Olshausen nennt die bekannten Beispiele der Eigentumsfreiheit für die Gemeinden, die Berufsfreiheit für die öffentliche Hand als solche, die Meinungsfreiheit für die Studierendenschaft (sic!), für die Bundesregierung und für die Sparkassen, die Rundfunkfreiheit für die Rundfunkanstalten und die Vereinigungsfreiheit kommunaler Spitzenverbände (soweit öffentlich-rechtlich organisiert) sowie zuletzt die Kirchen. Von Olshausen streitet für eine Unanwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts, und dies bei aller Unsicherheit über die Begründung unter Berufung auf die Trennung von Staat und Gesellschaft. Funktion (staatlicher Organe und Entscheidungsträger) und Freiheit (der natürlichen Personen) seien voneinander zu trennen, die Funktion dürfe nicht als Freiheit verstanden werden. Von Olshausen macht geltend, dass die Charakterisierung der Grundrechte als Freiheitsrechte bisweilen einer Rhetorik entstamme, sie materiell aber nicht konsequent umgesetzt werde. Von Olshausen kritisiert, dass den Grundrechten eine Funktion zur Absicherung staatlicher Einrichtungen abgetrotzt werde, etwa zu Gunsten der Gemeinden. Die Verbindung von Freiheit und Pflicht, etwa zu pflichtgebundener Freiheit, lehnt von Olshausen entschieden ab, weil damit die Begründung der Grundrechte aufgehoben werde. So klar diese Ansagen sind: Rezipiert wurden sie nicht. Nicht in der kurzfristig nach der Veröffentlichung der Dissertation erschienenen Literatur: Ralf Dreier erwähnt die Arbeit in seinem 1973 in der Festschrift für Hans Ulrich Scupin erschienenen Beitrag über die Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des öffentlichen Rechts zwar, indem er in einer Fußnote „die lesenswerte Reihe von Dissertationen zum Thema“3 als Indiz dafür bezeichnet, dass das Problem des Art. 19 Abs. 3 GG „freilich erst verhältnismäßig spät bewußt gewor-

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Olshausen, Zur Anwendbarkeit von Grundrechten auf juristische Personen des öffentlichen Rechts, 1969 (180 Seiten); Erstberichterstatter: Hans-Heinrich Rupp, Zweitberichterstatter: Hartmut Maurer; vgl. bereits die Anlage bei Zeidler, Schranken nichthoheitlicher Verwaltung, VVDStRL 19 (1961), 208. 3 Beginnend mit H. Gassdorf 1958 über H. Dülp 1964, R. Feine 1964 zu T. Herzog 1969 und H. von Olshausen 1969.

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den“ sei4; der weitere Hinweis auf eine spezifische Stelle der Dissertation5 ist m. E. fehlerhaft platziert und stellt keine Rezeption der Arbeit dar, denn an jener Stelle (S. 99) eröffnet von Olshausen nur zwei Deutungsmöglichkeiten, ohne sich bereits zu entscheiden. In der Festschrift für Willi Geiger bezieht sich Gerhard Ulsamer6 im Wesentlichen auf einen Beitrag von Bettermann, der zeitnah zur Veröffentlichung der Dissertation 1969 in der NJW erschien7; von Olshausen findet bei ihm keine Erwähnung. Dies ist auch in Zeitschriftenbeiträgen, Handbuchbeiträgen und Kommentaren jüngeren Datums der Fall, obwohl es sich nicht um irgendeinen Beitrag, sondern eine der frühen Monographien zu diesem Thema handelt. Frenz nimmt stattdessen auf den erwähnten Beitrag von Bettermann und auf die beiden zitierten Festschriftenbeiträge Bezug8. 2. Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem Die Habilitationsschrift, im Sommersemester 1977 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz angenommen – erschien 1980 unter dem Titel „Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht“9. In dieser Arbeit widmet sich von Olshausen in zwei Abschnitten zum einen der Frage, wie Landesverfassungsgerichte mit Bundesrecht umgehen oder umzugehen haben, zum anderen mit dem Verhältnis von Landesgrundrechten und Bundesrecht. Er bemängelt „[…] das Verschwimmen und Verdämmern normativer, im Staatsgerichtshof letztverbindlich repräsentierter Eigenstaatlichkeit der Bundesländer“10, benennt verschiedene Gründe dafür und kann sehr pragmatische Ziele der Revitalisierung der Landesverfassungsgerichte anführen: wirksamer Rechtsschutz, wie er am Beispiel der Tätigkeit des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs verdeutlicht11, und die Entlastung des Bundesverfassungsgerichts12. 4 Dreier, Zur Grundrechtssubjektivität juristischer Personen des öffentlichen Rechts, in: Achterberg (Hrsg.), Öffentliches Recht und Politik. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 70. Geburtstag, 1973, S. 81 (82). 5 Dreier (Fn. 4), S. 81 (101 mit Fn. 83). 6 Ulsamer, Zur Geltung der Grundrechte für juristische Personen des öffentlichen Rechts, in: Leibholz/Faller/Mikat/Reis (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, 1974, S. 199 ff. 7 Bettermann, Juristische Personen des öffentlichen Rechts als Grundrechtsträger, NJW 1969, 1321 ff. 8 Frenz, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei grundrechtssichernden Tätigkeit, Verwaltungsarchiv 85 (1994), 22 (34). 9 von Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht. Zur Geltung und prozessualen Aktualisierung von Landesgrundrechten im Bundesstaat des Grundgesetzes, 1980 (174 Seiten); angenommen wurde die Habilitationsschrift vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Mainz im Sommersemester 1977, der Text wurde 1976 abgeschlossen. 10 von Olshausen (Fn. 9), S. 14. 11 von Olshausen (Fn. 9), S. 15 f., 19 ff.

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In einem ersten Schritt stellt von Olshausen die Individualbeschwerden nach bayerischem, hessischem und – nachkonstitutionell – saarländischem Recht vor. Hier gewinnt die allgemeine Rede von der Pluralität im Föderalismus konkret Gestalt, ohne dass es auf die Vorgaben des Grundgesetzes, insbesondere Art. 28 Abs. 1 GG, ankäme. Sodann wendet sich von Olshausen in einem zweiten Schritt der Kassationsbefugnis der Landesverfassungsgerichte gegenüber bundesrechtlich determinierten Entscheidungen zu13. Dafür vermisst er zunächst Bundes- und Landesstaatsgewalt im gerichtlichen Verfahren und zeigt, wie wenig die Kassationsbefugnis durch Bundesrecht beschränkt werden kann. Von Olshausen macht unter Hinweis auf den Staats- und den Bundesstaatsbegriff Ernst mit der Eigenstaatlichkeit der Länder; diese lebt nicht nur durch, von und in grundsätzlichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerrichts: „Kein Land muß eine Amputation von Staatsfundamentalnormen durch den Gesamtstaat hinnehmen mit der Folge, daß seine Verfassung in Wahrheit ein Verfassungstorso wird.“14

Vielmehr hat die Eigenstaatlichkeit konkrete Folgen für die Entscheidung von Rechtskonflikten15. Von Olshausen zeigt, dass die Verfassungsbeschwerde essentielles Element dieser Eigenstaatlichkeit ist16. Sodann bestimmt er den Umfang – und mittelbar, damit aber auch weniger, die Grenzen – landesverfassungsgerichtlicher Kassationsbefugnis17. Hier weitet von Olshausen die Perspektive, indem er – hoch aktuell – das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gemeinschaftsrecht berücksichtigt. Dies ist für von Olshausens Position nützlich, weil in der Solange I-Entscheidung der Bundesstaat als Kontrastfolie herangezogen wird: „Im übrigen gilt für die Verfassung einer Gemeinschaft von Staaten mit einer freiheitlichdemokratischen Verfassung im Zweifel grundsätzlich nichts anderes wie für einen freiheitlichdemokratisch verfaßten Bundesstaat: Es schadet der Gemeinschaft und ihrer freiheitlichen (und demokratischen) Verfassung nicht, wenn und soweit ihre Mitglieder in ihrer Verfassung die Freiheitsrechte ihrer Bürger stärker verbürgen als die Gemeinschaft es tut.“18

Es schließt sich eine kurze Auswahl internationalrechtlicher und rechtsgeschichtlicher Beispiele an, die diese Argumentation stützen sollen19. Diese Auswahl fordert zu einer weitergehenden Auswertung der Rechtslage in anderen Staaten mit Mehrebenensystem geradezu heraus. Die Argumentation kulminiert darin, dass von Olshausen begründet, dass Art. 142 GG „kein Unikum des Bundesstaates“ darstelle, sondern dass er „die Tradition ur12

von Olshausen (Fn. 9), S. 18. von Olshausen (Fn. 9), S. 39 ff. 14 BVerfGE 36, 342 (361) – Niedersächsisches Besoldungsgesetz (1974). 15 BVerfGE 36, 342 (364 f., 367 f.) – Niedersächsisches Besoldungsgesetz (1974). 16 von Olshausen (Fn. 9), S. 57 ff. 17 von Olshausen (Fn. 9), S. 74 ff. 18 BVerfGE 37, 271 (282 f.) – Solange I (1974). 19 von Olshausen (Fn. 9), S. 95 ff. 13

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sprünglicher, partikularistisch orientierter Rangdogmatik“ repräsentiere20. Weil Art. 31 GG Vorrang des gesetzten, nicht des – gerichtlich – gesprochenen Bundesrechts statuiere, stünden bundesgerichtliche Entscheidungen der landesverfassungsrechtlichen Beurteilung eines Sachverhalts nicht nur nicht entgegen, sondern sei die praktizierte Selbstrestriktion der Landesverfassungsgerichte „unhaltbar“ 21: Auch nach einer Sachentscheidung eines Bundesgerichts könne die Vorentscheidung eines Landesgerichts mit der Landesverfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn und soweit diese bereits die Grundrechtsverletzung enthielte. Diese Konstellation entwickelt von Olshausen weiter, mit dem Ergebnis, dass das Substrat der bundesgerichtlichen Entscheidung entfiele, wenn die Vorentscheidung durch das Ladesverfassungsgericht aufgehoben werde. Von Olshausen schließt daraus: „Das eigentliche Problem all dieser föderalen Konfliktsituationen liegt demnach nicht im Bereich prozessualer Kompetenzen, sondern in der Beantwortung der Frage, wie weit der materiell-rechtliche Geltungsumfang der Landesverfassungen gegenüber Akten ,fremder‘ Staatsgewalt reicht.“22

Im dritten Schritt fokussiert von Olshausen die Geltung von Landesgrundrechten neben Bundesrecht. Er beschreibt dafür die drei Problemkreise, dass Landesgrundrechte und Bundesgrundrechte deckungsgleich sind, dass Landesgrundrechte mehr gewährleisten als Bundesgrundrechte und dass Landesgrundrechte im Vergleich zu Bundesgrundrechten weniger gewährleisten23. Das „Mehr“ oder „Weniger“ könne sich auf die sachlichen und die persönlichen Schutzbereiche beziehen, sich aber auch aus verschiedenen Vorbehalten ergeben. Er verficht dabei die Ansicht der Pluralität der Grundrechte, die jeweils nicht Rechte schützten, sondern Rechte gewährten, und Grundrechtsbestimmungen verschiedener Rechtsquellen schützten eben nicht ein und dasselbe Grundrecht24. Die Eigenständigkeit auch und gerade der Landesgrundrechte sei für alle Situationen in Bezug auf Bundesgrundrechte – „deckungsgleich“, „mehr“ oder „weniger“ – zu respektieren und werde erst dann problematisch, wenn der Bundesgesetzgeber kompetenzgemäß einfachgesetzliche Regelungen treffe, die zwar den Bundesgrundrechten gemäß sind, nicht jedoch den (stärker) ausgeprägten Landesgrundrechten25. Von Olshausen lehnt eine einfache Lösung für dieses Problem ab, sowohl aus der Perspektive des Art. 31 GG als auch aus der des Art. 142 GG26. Die strikte Anwendung des Art. 31 GG gegenüber Landesverfassungsnormen reduziere die Länder „[…] auf den Status von Provinzen“, deren Autonomie „[…] letztlich nur im Rahmen des einfachen Bundesrechts bestünde“27. 20

von Olshausen (Fn. 9), S. 98. von Olshausen (Fn. 9), S. 101. 22 von Olshausen (Fn. 9), S. 104. 23 von Olshausen (Fn. 9), S. 107 f. 24 von Olshausen (Fn. 9), S. 114 f. 25 von Olshausen (Fn. 9), S. 124. 26 von Olshausen (Fn. 9), S. 126 f. 27 von Olshausen (Fn. 9), S. 137 ff.

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Landesverfassungsrecht werde daher nicht verdrängt, sondern im konkreten Fall überlagert, so dass zu seinen Lasten lediglich ein Anwendungsvorrang anzunehmen sei. Dies hat im Instanzenzug und in Verbindung mit der landesverfassungsgerichtlichen Entscheidung durchaus Konsequenzen – zu Gunsten der Durchsetzung des Geltungsanspruchs der Landesgrundrechte28. Die Lösung der Konflikte basiert daher auf einer reflektierten Anwendung der Art. 28, 142 GG einerseits und des Art. 31 GG andererseits29. Die Landesverfassungsgerichte dürften sich dieser Konstruktion zum Beispiel nicht dadurch verschließen, dass sie Verfassungsbeschwerden gegen einen Rechtsanwendungsakt in eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde umdeuteten, um dann auf den Vorrang des Bundesrechts zu verweisen30. Am Ende der Arbeit hebt von Olshausen die Rolle des Einzelnen hervor, in einer großen Tradition stehend31: „Die initiierende und freiheitliche Kraft des Föderalismus bewährt sich nicht in ihren Normen, sondern in deren Anwendung. Und subjektive Grunrechte bleiben bloßes Programm, wenn kein Grundrechtsberechtigter dieses subjektive Potential auch aktualisiert“32. 3. Zeitlosigkeit und Aktualität der Themen Dissertation wie Habilitationsschrift greifen aus heutiger Sicht vermeintlich „abgehangene“ Themen auf, zu denen sich bestimmte Wahrheiten verfestigt haben – das schließt nicht aus, den Anspruch zu formulieren, diese Wahrheiten zu rekonstruieren und bestätigen zu können, immer verbunden mit der Möglichkeit, diese Wahrheiten auch zu verwerfen. Darüber hinaus lassen sich aktuelle Bezüge herstellen: Die Grundrechtsberechtigung ist angesichts der Hybridisierung staatlicher und privater Strukturen relevant und nicht durch eine, zwei, drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts33 geklärt; das Thema dieser Arbeit von von Olshausen ist stoffgleich, wenngleich in der Zeit verschieden und unter anderen Vorzeichen eventuell anders zu beurteilen – spätere Arbeiten zu diesem Thema müssten sich auf von Olshausen beziehen. Anders liegt der Fall beim Verhältnis von Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht: Dieses verweist zwar auf nicht weniger als den Grund28

von Olshausen (Fn. 9), S. 130. Vgl. von Olshausen (Fn. 9), S. 134. 30 von Olshausen (Fn. 9), S. 140 f. 31 Vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, Rn. 41 (Erstauflage 1966): „Die Verfassung besteht aus Normen. In diesen liegen Anforderungen an menschliches Verhalten, noch nicht dieses Verhalten selbst; sie bleiben toter Buchstabe und bewirken nichts, wenn der Inhalt jener Anforderungen nicht in menschliches Verhalten eingeht. Verfassungsrecht läßt sich insoweit von menschlichem Handeln nicht ablösen. Erst indem es durch dieses und in diesem ,verwirklicht‘ wird, gewinnt es die Realität gelebter, geschichtliche Wirklichkeit formender und gestaltender Ordnung und vermag es seine Funktion im Leben des Gemeinwesens (…) zu erfüllen.“ 32 von Olshausen (Fn. 9), S. 160. 33 BVerfGE 128, 226 – Fraport/Kümmel (2011). 29

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rechtsschutz im Mehrebenensystem; es ist aber nicht stoffgleich, also identisch mit dem Verhältnis zwischen den Grundrechten des Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Gleichwohl sind die Überlegungen zum Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem durch unterschiedliche Gerichte und auf der Grundlage unterschiedlicher Rechtsquellen als Kontrastfolie hilfreich, wenn das noch junge Verhältnis zwischen Charta der Grundrechte und Grundrechten des Grundgesetzes zu vermessen ist, wenn nicht nur nach-, sondern auch vorgedacht werden muss34. Denn die Europäische Union ist nicht das erste Mehrebenensystem. Von Olshausen widmet sich dem Mehrebenensystem unter dem Grundgesetz und greift auch dafür auf die Verfassungsentwicklungen in Deutschland zurück. Auch in den Jahren 1848 und 1919 wurde jeweils eine Schicht von Grundrechten über eine in einigen Ländern zum Teil bereits bestehende Schicht von Rechten, wenn nicht Grundrechten gelegt35. Ziele waren jeweils die Bindung aller staatlichen Gewalt an diese neue Rechtsschicht und ein einheitlicher Grundrechtsschutz. Das Reichsgesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes vom Dezember 1848 sollte aktuell und unmittelbar wirken: Der Auftrag an die Landesgesetzgebung, die Grundrechte umzusetzen, kam im Einführungs-Gesetz (Abschnitt II. des Reichsgesetzes) eindeutig zum Ausdruck36; im Wortlaut des Einführungsgesetzes: „Alle Bestimmungen einzelner Landesrechte, welche hiermit in Widerspruch stehen, treten außer Kraft“37. Dazu gehörte auch die Überwachung des Tätigwerdens der Anpassungsgesetzgebung in den Ländern38. Ein Dualismus des Grundrechtsschutzes durch Reichsgrundrechte und Landesgrundrechte war damit ausgeschlossen. Um die Formulierung der einzelnen Grundrechtsartikel wurde auch daher hart gerungen39.

34 Vgl. Häberle, Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7, 2007, S. 159 (173). 35 Vgl. allerdings Scheuner, Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert, in: Der Staat 1980, Beiheft 4: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 2./3. April 1979, S. 105 (107 ff.). 36 Vgl. Vorspruch: „Die Grundrechte des deutschen Volks werden im ganzen Umfange des deutschen Reichs unter nachfolgenden Bestimmungen hiermit eingefügt.“ 37 Mommsen, Die Grundrechte des deutschen Volkes mit Belehrungen und Erläuterungen, Neudruck der anonymen Erstausgabe von 1849, 1969, S. 80: Alle in Artikel 1 des Einführungsgesetzes aufgezählten Vorschriften traten „in ganz Deutschland in volle Rechtskraft und muß jedes Gericht dieselben respektiren“. 38 Art. 5 des Einführungsgesetzes; vgl. auch Mommsen (Fn. 37), S. 81; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 12. 39 Vgl. Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Forsthoff/Weber/Wieacker (Hrsg.), Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973, 1973, S. 139 (152 f.).

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Die Rechtsschicht, über die die Reichsgrundrechte gelegt wurden, war allerdings selbst nicht sehr ausgeprägt: Die wenigen Landesverfassungen enthielten beschränkte Rechte, die nur zum Teil als individuelle Freiheitsrechte begriffen wurden40. Das Reichsgesetz zu den Grundrechten wurde im Widerspruch zu seiner unitarisierenden Stoßrichtung und angesichts dieser nicht überraschend sehr unterschiedlich angenommen41; in Württemberg und Baden wurde es rezipiert, in Preußen, Bayern und Hannover wurde Widerstand geleistet42. Auch wenn ihr mittelfristig kein Erfolg beschieden war: Der Wille der Frankfurter Nationalversammlung war – so Ulrich Scheuner – „(…) klar erkennbar dahin gerichtet, in den Grundrechten eine rechtlich verbindliche feste Grundlage der deutschen Einheit aufzurichten und eine vom Bunde gesetzte, auch für die Einzelstaaten maßgebende Rechtsbasis zu schaffen“43. Die Verfassung des Deutschen Reiches von 1919 knüpfte an der Paulskirchenverfassung an44. Dass die Grundrechte45 auch die Landesgewalten binden sollten, war zwar nicht mehr ausdrücklich geregelt; der vierte Entwurf hatte in Art. 107 noch eine Formulierung enthalten: „Die Grundrechte und Grundpflichten bilden Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege im Reich und in den Ländern“46. Die Hinweise in der Verfassung selbst, dass die Grundrechte auch die Landesgewalten binden, sind nicht ausgeprägt47. An einer Bindung wurde aber nicht gezweifelt. In den nachkonstitutionellen Landesverfassungen wurden keine Grundrechte geregelt; die Grundrechte der Verfassung des Deutschen

40 Vgl. Scheuner (Fn. 39), S. 139; ders. (Fn. 35), S. 105 (110); vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Auflage 1933, Vorbemerkung zum zweiten Hauptteil, S. 508: „So hat es denn auch der unter der Herrschaft der alten Reichsverfassung (von 1871) dem deutschen Volke nicht an reichsgesetzlich verbürgten Grundrechten gefehlt“ (). 41 Vgl. Beschluss der Bundesversammlung vom 23. August 1851: „die in Frankfurt unter dem 27. December 1848 erlassenen, in dem Entwurfe einer Verfassung des deutschen Reichs (…) wiederholten sogenannten Grundrechte des deutschen Volks können weder als Reichsgesetz, noch, so weit sie nur auf Grund des Einführungsgesetzes (…) oder als Theil der Reichsverfassung in den einzelnen Staaten für verbindlich erklärt sind, für rechtsgültig gehalten werden“ Sitzung vom 23. August 1851, Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Band 35, S. 272 ff. 42 Auf einen Vorrang der Verfassung kam es in diesem Kontext nicht an, vgl. Scheuner (Fn. 39), S. 139 (155). 43 Scheuner (Fn. 39), S. 139 (149 m. w. N.). 44 Vgl. Scheuner (Fn. 39), S. 139 (165). 45 Anschütz (Fn. 40), S. 510 (Anm. 5): Der zweite Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung – „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ – enthielte „weniger, mehr und anderes als die Überschrift besagt“; die Grundrechte seien nicht Ausfluss der Staatsangehörigkeit, sondern der Persönlichkeit (S. 513, Anm. 5). 46 Zitiert nach Anschütz (Fn. 40), S. 515 (Anm. 6). 47 Vgl. Art. 5, 13, 17, 110 Abs. 2 sowie 48 Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 2 der Verfassung.

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Reiches wurden als für die Landesgewalten geltend angesehen48. Eine spezifische Kollisionsregel existierte nicht, obwohl einzelne vorkonstitutionelle Landesverfassungen staatsbürgerliche Rechte oder auch ganze Grundrechtsabschnitte beinhalteten49. Der Befund eines einheitlichen Grundrechtsschutzes ist 1919 nicht so eindeutig wie 1848/49; Anzeichen für einen dualistischen Grundrechtsschutz in den wenigen Ländern, die Grundrechte in ihren Landesverfassungen geregelt hatten, sind allerdings nicht erkennbar. Nach der Konzeption der Verfassung von 1919 sollten Reichsund Landesgewalten unterschiedslos an die Grundrechte der Reichsverfassung gebunden sein. Auch das Grundgesetz traf mit seinen Grundrechten auf eine in einigen Bundesländern bereits vorhandene Rechtsschicht von Grundrechten, zeitlich zuerst die Bestimmungen des ersten Hauptteils der Verfassung für Württemberg-Baden (Art. 1 ff.), des ersten Hauptteils der Verfassung des Landes Hessen (Art. 1 ff.) und des zweiten Hauptteils der Verfassung des Freistaats Bayern (Art. 98 ff.) von 194650. Aus der Gesamtschau auf Art. 1 Abs. 3, 28 Abs. 1, Abs. 3, 31 und 142 GG ergibt sich, dass die Landesgewalten an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden sein sollen51. Zugleich werden die Länder an der Bundesgewalt beteiligt52. Die Rechtsschichten von Bundes- und Landesgrundrechten bestehen weiterhin. Erst knapp 20 Jahre nach von Olshausen reduzierte das Bundesverfassungsgericht die mögliche Pluralität in erheblicher Weise: Es stellte für die Geltung von Landesgrundrechten darauf ab, dass „(…) Bundes- und Landesgrundrecht einen bestimmten Gegenstand in gleichem Sinn und mit gleichem Inhalt regeln und in diesem Sinne in48 Bayern 14. August 1919: 2. bis 4. Abschnitt: Staatsbürgerschaft, Grundrechte, Gewissens-/Religionsfreiheit; Württemberg 9/1919; Braunschweig 1922: Grundrechte Art. 2 bis 6; Bremen 1920; Hamburg 1921; Hessen 1919; Lippe 1920; Preußen 1920, aber Art. 82 Abs. 3: „Die sonstigen bisher vom Könige gegenüber den Religionsgesellschaften ausgeübten Rechte werden im Sinne des Artikel 137 der Reichsverfassung neu geregelt“; Sachsen 1920; Schaumburg-Lippe 1922; Thüringen 1921; Mecklenburg-Strelitz inkorporierte 1923 den Grundrechtsabschnitt der Reichsverfassung ausdrücklich (§ 3): „Die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen bilden einen ergänzenden und unlösbaren Teil des Landesgrundgesetzes“. 49 Baden März 1919: II. Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener, §§ 9 ff.; Oldenburg Juni 1919: II. Abschnitt: von den Grundrechten, §§ 4 ff.; die vorläufige Verfassung von Württemberg vom 26. April 1919 hatte einen Grundrechtsabschnitt enthalten, der in der revidierten Verfassung vom 25. September 1919 entfiel. 50 Vgl. weiterhin den ersten Hauptabschnitt der Verfassung des Landes Baden vom 18. Mai 1947; reduziert Abschnitt III der Verfassung Württemberg-Hohenzollerns (Art. 6 ff.) vom 18. Mai 1947; erster Hauptteil der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Mai 1947; erster Hauptteil der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947; erster Hauptteil der Verfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947. 51 Vgl. Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte. Vorgaben für die Auslegung von Art. 51 Abs. 1 S. 1 EuGrCh, 2011, S. 87 f. 52 Hesse (Fn. 31), Rn. 221, sieht darin eine Kontinuität zur Weimarer Reichsverfassung, weil an die Stelle der den Ländern verlorengegangenen Landesgewalt das Moment ihrer Beteiligung an der Reichs- bzw. nunmehr Bundesgewalt getreten sei.

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haltsgleich sind“53. Zwar wird auf von Olshausen Bezug genommen54, aber seine zentralen Forderungen werden längst nicht umgesetzt. Die Entscheidung zum Tragen des Kopftuchs durch Lehrkräfte (2002) zeigt jedoch: Rechtstatsächlich erkennt das Bundesverfassungsgericht eine Vielfalt in der Einheit des Grundrechtsschutzes durch das Grundgesetz an55. Dies fällt umso leichter, als die Positionen nicht als gegenläufig begriffen werden. In den geschilderten Rechtslagen in Deutschland sollte die Geltung der Grundrechte gerade nicht davon abhängig sein, ob der Bund auch die Kompetenz für Regelungen hatte, die von den Ländern zu vollziehen waren. Die neu hinzutretenden Regelungen waren normativ – in unterschiedlichen Intensitäten – darauf angelegt, unitarisierend zu wirken, mit sehr unterschiedlichem und von zahlreichen Faktoren bedingtem Erfolg. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist anders angelegt: Sie soll nur beschränkt für die Fälle gelten, in denen die Mitgliedstaaten Recht der Union durchführen. Auch insoweit sie gelten, sehen sie keinen einheitlichen im Sinne eines einzigen, durch den EuGH festzulegenden Grundrechtsstandard vor. Der Begriff der Durchführung muss hier spezifisch verstanden werden. Die aktuellen Formulierungen nicht in Art. 51, sondern zu Art. 51 der Charta56 dürfen demgegenüber nicht für Strategien zur Umgehung politischer Entscheidungen eingesetzt werden; dadurch würden diese Formulierungen weiterreichende Konsequenzen haben als mitgliedstaatlich gewollt. Damit wird nicht in Frage gestellt, dass die Charta der Grundrechte einen Beitrag zu einer politischen Union Europas leistet. Das Bundesverfassungsgericht befindet sich angesichts der Charta in einer vergleichbaren, aber nicht ähnlichen Lage wie die Landesverfassungsgerichte Ende der 40er, 50er, 60er und auch noch 70er Jahre angesichts der Grundrechte des Grundgesetzes. Es geht darum, um den eigenen Maßstab, dessen und die eigene Bedeutung zu kämpfen und nicht ob des sich selbst bestärkenden EuGH, welche die Durchführungslage des Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Charta stark macht, zu resignieren. Der EuGH wird sich von Parallelwertungen zu verschiedenen Mehrebenensystemen in Deutschland kaum beeindrucken lassen – es liegt am Bundesverfassungsgericht, selbst etwas zu ändern. Dies gilt vor allem für den Fall, dass die Gewährleistungsgehalte nach Charta und Grundgesetz divergieren und dass multipolare Rechtsverhältnisse am Maßstab der verschiedenen Rechtsquellen von unterschiedlichen Akteuren (Gerichten) unterschiedlichen Lösungen zugeführt werden können.

53

BVerfGE 96, 345. BVerfGE 96, 345 (366) u. a. 55 BVerfGE 108, 282 (302 f.). 56 Vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Rs. C-617/10 – Åkerberg Fransson.

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III. Zeitlose Themen – furchtlose Befassung Henning von Olshausen hinterließ jedoch weitere Beiträge, die immer wieder in Bezug genommen werden und werden sollten. Einer dieser Beiträge trägt den Titel „Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?“57. Von Olshausen bespricht dieses Dauerthema anhand einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Genehmigungsfähigkeit einer „Peep Show“. Zu Gunsten der Rezeptionsfähigkeit ist der Beitrag kurz und deutlich formuliert. Von Olshausen ist in Bezug auf diese Entscheidung der „frühe Vogel“, der die Entscheidung scharf kritisiert: Sie sei Ausdruck eines „letztlich totalitären Werte-Absolutismus, der keinen Raum mehr läßt für divergierende Anschauungen und an Stelle der freien Entscheidung des einzelnen nur gelten läßt, was eine letztverbindlich entscheidende Instanz für die ,wahre‘ Verwirklichung der Menschenwürde hält“58. Gegenstand der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts war die Versagung der Erlaubnis zum Betrieb einer als sittenwidrig beurteilten „Peep-Show“59. Erstinstanzlich und berufungsgerichtlich war dem Klagebegehren des ursprünglichen Antragstellers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Erlaubnis entsprochen worden; der Antragsteller hatte zwischenzeitlich den Mietvertrag für die Lokalität gelöst, aber das Verfahren weiter betrieben. Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine anders lautende Entscheidung mit einer Verletzung der Menschenwürde durch das streitgegenständliche Angebot: „Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes schützt den personalen Eigenwert des Menschen. Die Menschenwürde ist verletzt, wenn die einzelne Person zum Objekt herabgewürdigt wird. Dabei kann der die Menschenwürde verletzende Angriff – wie hier – auch von privaten Personen ausgehen. Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht ist der Staat in einem solchen Falle gehalten, die mit der Rechtsanwendung gegebenen Möglichkeiten zur Abwehr eines derartigen Angriffs auszuschöpfen“60. Durch eine derartig „verfassungshohe“ Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts mit der Menschenwürde wird diese als Vehikel für eine rechtliche Entscheidung genutzt und damit schnell zur kleinen Münze61. Von Olshausen kritisiert bereits die Zusammenführung der Entwürdigung/Herabwürdigung einerseits und der Freiwilligkeit andererseits. Er kritisiert auch die § 31 Abs. 1 BVerfGG62 zuwiderlaufende Missachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die Objektformel, vor allem aber die Bindung des Staates durch Art. 1 Abs. 1 GG betont: „Dem Menschen kommt in der Gemeinschaft ein so57 von Olshausen, Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, NJW 1982, 2221. 58 von Olshausen (Fn. 57), 2221 (2224). 59 BVerwGE 64, 274 (1981). 60 BVerwGE 64, 274 (278). 61 Vgl. demgegenüber noch BVerwGE 1, 303 – Die Sünderin. 62 „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“

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zialer Wert- und Achtungsanspruch zu; deshalb widerspricht es der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen […] oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt“63 (Hervorhebungen EMF). Von Olshausen wirft dem Bundesverwaltungsgericht daher vor, den Menschen, den zu schützen es vorgibt, selbst zum bloßen Objekt des Staats zu machen, „nämlich zum Objekt der gerichtlichen Wertung, was dem Menschen ,würdig‘ sei“64. Zugleich hebt von Olshausen die Selektivität der Argumentation mit anderen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – mit dem Lüth-Urteil65 und der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe66 – hervor. Der Verweis auf BGHZ 67, 119 trage die Entscheidung ebenfalls nicht67. Nicht zuletzt sei die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit den in der Wissenschaft vertretenen Auffassungen nicht nur nicht vereinbar68; die Verweise des Bundesverwaltungsgerichts seien insoweit schlicht falsch. Ingo von Münch, auf dessen Kommentierung zu Art. 1 GG sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, bestätigt zwar an der zitierten Stelle die Unverzichtbarkeit der Menschenwürde, stellt aber zugleich fest, dass der Staat niemandem seine Vorstellung darüber aufdrängen dürfe, ob seine Menschenwürde durch ein bestimmtes Verhalten verletzt werde69; in derselben Kommentierung lehnt von Münch den Verstoß einer Peep-Show gegen Art. 1 Abs. 1 GG ab70. Von Olshausen kritisiert damit ungeachtet des Ergebnisses das methodische Vorgehen des Bundesverwaltungsgerichts, meines Erachtens überaus berechtigt. Dieser Beitrag von von Olshausen ist ein weiterer Beleg dafür, dass sein Wirken nicht vergeblich war und dass sein Werk über den Tag hinaus wirkt. Im Ergebnis muss man ihm nicht zustimmen – ein parlamentarischer Gesetzgeber kann und soll bestimmte Veranstaltungen verbieten, nicht jedoch ein Gericht unter dem Deckmantel verfassungsgerichtlicher, überhöhter Wertejudikatur. Peep-Show und Big Brother sind überkommene Beispiele für den Versuch, die Menschenwürde als Maßstab fruchtbar zu machen, und die Herausforderung, angemessene Antworten zu finden. Neue Probleme können sich stellen. Insoweit ist der Beitrag von von Olshausen innovativ, zeitlos und sinnvolle Referenz bei der Suche nach Antworten.

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Statt anderer BVerfGE 55, 160 (175) – Ausweisung (1979). von Olshausen (Fn. 57), 2221 (2222). 65 BVerfGE 7, 198 (215). 66 BVerfGE 45, 187 (227, 229). 67 von Olshausen (Fn. 57), 2221 (2223). 68 von Olshausen (Fn. 57), 2221 (2223). 69 von Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Auflage 1981, Art. 1 Rn. 39 (ebenso 3. Auflage 1985). 70 von Münch (Fn. 69), Art. 1 Rn. 32 (ebenso 3. Auflage 1985, dann unter Bezugnahme auf von Olshausen (Fn. 57). 64

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IV. Persönliches Von Olshausen wurde am 4. März 1941 in Naumburg geboren und starb im Alter von 61 Jahren am 21. Juni 2002 in Frankenthal – ein Frühvollendeter? Auf jeden Fall. Naujoks stellt von Olshausen in dem Nachruf als eine Person vor, die „[…] zauberhaft leicht die Grenzen zwischen Juris-Prudentia, Philosophie, Literatur und Medizin überschreitend mit sarkastischen Formulierungen und trockenem Witz über die Last des Lebens, die Sinnlosigkeit aller Wege, bis hin zum tiefen Pessimismus (räsonnierte)“. „(F)ast folgerichtig“ sei aus Lebenslauf Schicksal geworden. Von Olshausen habilitierte 1977 in Mainz bei Hans-Heinrich Rupp und erhielt 1981 einen Ruf an die Universität Bamberg, den er annahm. Von dort aus wechselte er 1982 an die Universität Mannheim. Dort lehrte er ab dem WS 1982/1983. Laut des Personenverzeichnisses des Sommersemesters 1983 wurde er zum 1. Oktober 1982 berufen71, und zwar auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Allgemeine Rechtslehre72. Er folgte auf Hans-Werner Laubinger, der im Oktober 1977 ernannt worden und zum Wintersemester 1981/82 an die Universität Mainz gewechselt war – an die Universität, von der von Olshausen kam; bei der Stelle handelte es sich um eine C3-Professur73, aber anders als an anderen Fakultäten wurde dies nicht auch anhand des Personenverzeichnisses deutlich gemacht; die Ausstattung war überschaubar: zwei Büros im Westflügel des Schlosses, eine Stelle für eine geprüfte Hilfskraft, die vom SoSe 1984 bis zum WS 1987/88 mit Andreas Menzel besetzt war. Dieser hatte als studentische Hilfskraft bereits für den Vorgänger von von Olshausen, Hans-Werner Laubinger, gearbeitet. Darauf ist zurückzuführen, dass Laubinger von Mainz aus die Dissertation von Andreas Menzel betreute, nicht von Olshausen74. Schreibkapazität wurde über das Sekretariat von Helmut Steinber-

71 Universität Mannheim, Personen- und Vorlesungsverzeichnis SoSe 1983, S. 17; so auch Universität Mannheim, Personen- und Vorlesungsverzeichnis WS 1983/84, S. 19. 72 Ab dem Sommersemester 1984 wird als Datum der Ernennung der 1. Februar 1981 genannt, also 20 Monate früher, vgl. Universität Mannheim, Personen- und Vorlesungsverzeichnis SoSe 1984, S. 17; so auch in allen folgenden Verzeichnissen. 73 Vorlage an den Verwaltungsrat vom 14. Juni 1982, Az. F 111 281 Schmidt/Al. 74 Menzels Arbeit wurde im Februar 1987 an der Universität Mainz als Dissertation angenommen; Betreuer der Arbeit und Erstgutachter war von Olshausens Vorgänger auf dem Mannheimer Lehrstuhl, der Mainzer Ordinarius Hans-Werner Laubinger, Zweitgutachter Walther Hadding. Vgl. Menzel, Grundfragen der Verwirkung. Dargestellt insbesondere anhand des Öffentlichen Rechts, 1987, S. 2 (Vorwort): „Auch wenn am Ende – wie üblich – eine Ergebnisübersicht steht, so sind die Ergebnisse doch letztlich von sekundärer Bedeutung; wichtig ist, wie sie gewonnen werden. Das Hauptanliegen der Arbeit besteht darin, exemplarisch zu zeigen, daß es in Rechtsprechung und Literatur bisweilen an offener und ehrlicher Argumentation mangelt, wie nachlässig und mißbräuchlich mit Begriffen und der Sprache insgesamt umgegangen wird und wie sehr sich das Recht von den Bedürfnissen derer, denen es dienen soll, mehr und mehr entfernen kann.“

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ger zur Verfügung gestellt75, der selbst Völker- und Europarechtler und von 1975 bis 1987 Richter des Bundesverfassungsgerichts war (zweiter Senat)76. Nach Angaben von Andreas Menzel77 war die Möglichkeit, auf einer vollen Stelle bei von Olshausen beschäftigt zu sein, jedenfalls zum Teil darauf zurückzuführen, dass im Zusammenhang mit Steinbergers Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht seitens des Bundes Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Zusätzlich wurden von Olshausen für einen Zeitraum von drei Jahren insgesamt 12.000 DM bewilligt, deren Erfordernis von Olshausen in einem Schreiben an den Rektor vom 18. Juni 1982 darlegte: Es ging um Mittel zur Beschaffung einer am Lehrstuhl nicht vorhandenen mechanischen Schreibmaschine, vor allem aber um die Beschaffung von Büchern zu einem Thema, das von Olshausen als einen Forschungsschwerpunkt bezeichnete, nämlich kollisionsrechtliche Prinzipien für den Bereich des Staats- und Verwaltungsrechts zu entwickeln. In seinem Schreiben an den Rektor zitiert von Olshausen aus einer Rezension von Kay Hailbronner, der auf die Gefahr der „Provinzialisierung der deutschen Juristenausbildung“ verweist, wenn man dem internationalen Recht nicht mehr stärkere Beachtung schenke78. Ausweislich der Vorlesungsverzeichnisse hielt von Olshausen in den ersten Semestern regelmäßig die Übung im Öffentlichen Recht für Fortgeschrittene ab79. Als wiederholte Veranstaltungen fallen das Beamtenrecht als zweistündige Vorlesung80, zweistündige Vertiefungsvorlesungen Öffentliches Recht81 bzw. Staatsrecht82 oder Verfassungsrecht83 und Verwaltungsrecht84 auf. Von Olshausen bot regelmäßig Seminare an, wobei leider – wie auch bei anderen üblich – nicht durchgehend deren Generalthemen im Vorlesungsverzeichnis dokumentiert sind: Im Sommersemester 1984 waren es sogar zwei, Theorie und Dogmatik der Rechtsquellen und Einwirkungen des Verfassungsrechts bei der Anwendung „fremden“ Rechts85, die jeweils im Zusammenhang mit zuvor veröffentlichten Aufsätzen stehen. Die Bezeichnung

75 Gabriele Wilberg WS 1982/83 bis WS 1983/84; Sibylle Schwertner-Platz WS 1984/85 bis WS 1987/88; Ursula Birkle WS 1989/90, ab WS 1990/91 Ursula Birkle und Helga Kissler (jeweils 0,5). Im SoSe 1984, 1988, 1989 und im WS 1988/89: N. N. 76 Vgl. PM des Bundesverfassungsgerichts Nr. 80/2011 vom 16. Dezember 2011: „Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Helmut Steinberger feiert seinen 80. Geburtstag“. 77 Telefongespräch am 13. März 2014. 78 Hailbronner, Das Internationale Recht in der Juristenausbildung, NJW 1982, 1200. 79 WS 1982/83, S. 88; SoSe 1983, S. 88; SoSe 1984, S. 86; WS 1984/85, S. 86; WS 1987/ 88, S. 97; SoSe 1988, S. 97. 80 SoSe 1983, S. 87; SoSe 1984, S. 86; SoSe 1985, S. 85; SoSe 1989, S. 97 (einstündig). 81 WS 1984/87, S. 85; SoSe 1985, S. 85; SoSe 1986, S. 94; SoSe 1987, S. 94. 82 WS 1988/89, S. 96; WS 1989/90, S. 100. 83 SoSe 1989, S. 98. 84 WS 1988/89, S. 96; WS 1990/91, S. 102. 85 SoSe 1984, S. 87.

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der späteren Seminare ist heterogen: staatsrechtlich86, staatskirchenrechtlich87 und verwaltungsrechtlich88 sowie öffentlich-rechtlich89. Im WS 1983/84 wurde von Olshausen ein Forschungsfreisemester bewilligt90. Laut Vorlesungsverzeichnis wurde von Olshausen zum Sommersemester 1991 pensioniert91. Der Lehrstuhl wurde dort im Sommersemester 1991 und im Wintersemester 1991/92 als vakant geführt92. Ab diesem Zeitpunkt hatte Karl-Hermann Kästner (Tübingen) den Lehrstuhl inne; er wurde zum 21. Oktober 1991 ernannt93. V. Schluss Selbstbezogene Relativierung scheint ein Charakterzug von von Olshausen gewesen zu sein. Regelmäßig nimmt er mögliche Kritikpunkte vorweg: „Allfälligen Vorwürfen einer gewissen Willkür in der Auswahl der Zitate habe ich daher nichts zu entgegnen.“94 Dass ein solches Verständnis Folgen hat, zeigt sich im Exemplar der Habilitationsschrift aus der Mannheimer Universitätsbibliothek. Ein der Arbeit vorangestelltes Zitat von Johann Wolfgang von Goethe – „Ihr müßt mich nicht durch Widerspruch verwirren! Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren“ – wurde dort handschriftlich um die Worte „sehr richtig, deshalb 3 Punkte“ ergänzt. Man könnte dies für Trollverhalten in einer internetlosen Zeit halten, oder aber für bezeichnend, für das Werk, für von Olshausens Wissenschaftsverständnis und für den Wissenschaftsbetrieb. Von Olshausen wies selbst mehrfach darauf hin, dass das Abhalten einer Lehrveranstaltung – so flüchtig das gesprochene Wort auch sei – mehr bewirken könne als das Schreiben eines Aufsatzes, weil dieser doch kaum gelesen werde. So hat sich die Vergeblichkeit menschlichen Strebens in der Rezeption seines Werks durchaus realisiert. Das ist jedoch keine Besonderheit des Wirkens frühverstorbener Wissenschaftler. Von Olshausen hätte sich auch lebend kaum gegen die Nicht-Rezeption zur Wehr setzen können. Aber das Werk ist ein guter Beleg dafür, dass wissenschaftliche Rezeption von einem Dreischritt abhängig ist: 86

WS 1984/85, S. 86; WS 1986/87, S. 93. SoSe 1986, S. 93. 88 SoSe 1985, S. 86. 89 SoSe 1987, S. 96; SoSe 1988, S. 97 (dreistündig); WS 1988/89, S. 97; SoSe 1989, S. 100 (dreistündig). 90 Schreiben des Rektors Roellecke vom 1. August 1983; Antrag vom 1. Juli 1983; Beschluss des Fakultätsrats vom 6. Juli 1983. 91 SoSe 1990, S. 20. 92 SoSe 1991, S. 23; WS 1991/92, S. 25. 93 SoSe 1992, S. 25; 1994 – 1997 ordentlicher Professor an der Universität Halle-Wittenberg, seit 1997 Universität Tübingen. 94 von Olshausen (Fn. 9), S. 11 (Vorwort). 87

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Haben, lesen, verstehen (wollen). Soweit die Werke verfügbar sind, sind die zweite und die dritte Stufe eher Hindernisse als nur Wegstrecke.

Jürgen Rödig – Gesetzgebungstheorie zwischen Logik und Praxis Von Dorothea Keiter I. Jürgen Rödig – Versuch eines Wissenschaftlerportraits Es ist nichts praktischer als eine gute Theorie.

Dieser Satz, nach Kurt Lewin formuliert,1 aber ebenfalls Immanuel Kant zugeschrieben, kann auch als Jürgen Rödigs wissenschaftliches Credo gelten.2 In keinem seiner Wirkbereiche manifestiert sich dies so deutlich wie in der Gesetzgebungstheorie. Dieser wandte sich Jürgen Rödig zwar erst relativ spät zu;3 dennoch gingen von ihm interessante – heute teils wieder vergessene – Impulse aus.4 Bevor sich dieser Beitrag der Disziplin „Gesetzgebungstheorie“ als solcher und hernach der Rödig’schen Konzeption einer Gesetzgebungstheorie widmet, soll zunächst Jürgen Rödig als Wissenschaftlerpersönlichkeit in den Blick rücken und ein erster biographischer Zugang gegeben werden. 1. Wissenschaftlicher Werdegang Jürgen Rödig, am 13. November 1975 in Gießen durch einen Verkehrsunfall im Alter von 33 Jahren zu Tode gekommen, war ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik an der als Reformfakultät5 bekannten juristischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität zu Gießen. Am 16. Oktober 1942 in Überlingen geboren, studierte Rödig Rechtswissenschaften und Philosophie in Freiburg sowie für ein Semester in München und legte 1966 sein erstes juristisches Staatsexamen in Freiburg ab. Danach studierte er in Köln noch für zwei 1

Lewin, Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften, in: Cartwright (Hrsg.), 1963, Kapitel VII „Forschungsprobleme der Sozialpsychologie“, S. 205. 2 Baden, Die gesetzgebungstheoretische Konzeption Jürgen Rödigs. Versuch einer Analyse, in: Gedächtnisschrift Rödig, 1978, S. 110 (122). 3 Baden (Fn. 2), S. 110; Klug, Die Bedeutung Jürgen Rödigs für die Entwicklung der Gesetzgebungstheorie, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung. Jürgen Rödig Gedächtnissymposion 28.–29. Oktober 1982, 1984, S. 25 (27). 4 Ihn in dieser Hinsicht würdigend Triffterer, Begrüßung, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 17 (20); Schäffer, Begrüßung, in: Schäffer/ Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 21 (22); Klug (Fn. 3), S. 27. 5 Vgl. Ramm, Die Reformfakultät und die 68er – Der Zeitzeuge und der Zeithistoriker nach vierzig Jahren, KritV 92 (2009), 115 – 139.

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weitere Semester Jura und Philosophie. Dieses etwas ungewöhnliche Detail erklärt Ulrich Klug, der sowohl die Promotion als auch die Habilitation Rödigs betreut hatte, folgendermaßen:6 Schon früh während seines Studiums hatte Rödig ein besonderes Interesse an der Logik und ihrer Anwendung auf das Recht entwickelt. Um sich diesen Themenbereichen intensiver widmen zu können, erfolgte der Wechsel nach Köln. Dort wurde Rödig wissenschaftlicher Assistent von Klug, einem der Pioniere der juristischen Logik.7 Rödigs Promotion erfolgte im Jahr 1969 an der juristischen Fakultät zu Köln, die Habilitation im Jahr 1972 ebenfalls dort. Im Jahr 1973 erhielt Rödig einen Ruf an die Universität Gießen, wo er bis zu seinem Tod einen Lehrstuhl innehatte. Heute würde man Jürgen Rödig vielleicht als „Senkrechtstarter“ bezeichnen oder von einer wissenschaftlichen „Blitzkarriere“ sprechen. Zweifelsohne stellen solche Attribute eine Auszeichnung für den solchermaßen Bezeichneten dar, allerdings fordern sie auch eine kritische Überprüfung geradezu heraus: Hält die glanzvolle Oberfläche einer intensiveren Untersuchung stand? Wie jedes kritische Hinterfragen von schnell gefällten Urteilen ist auch diese Hinterfragung wichtig und lehrreich für einen Zugang zum Werk des „Frühvollendeten“8 Rödig. Zunächst soll ein allgemeiner Blick auf das wissenschaftliche Werk Rödigs geworfen werden, bevor dessen Schaffen zur Gesetzgebungstheorie genauer untersucht wird. Dass Rödig nach Berichten von Wegbegleitern und Kollegen auch ein begnadeter Organist und Komponist war und als solcher Kanons für die Geburtstage von Kollegen komponierte sowie mehrstimmige Fugen improvisierte,9 kann hier nur angedeutet werden. 2. Methode und Werk Ulrich Klug bezeichnete das Werk Jürgen Rödigs anlässlich eines am 28. und 29. Oktober 1982 durchgeführten Gedächtnissymposions in Salzburg als „von ganz ungewöhnlichem Format“10. Vermutlich wird jeder, der sich mit dem Werk Rödigs auseinandersetzt, diesem Urteil beipflichten können, denn Rödigs methodischer Zugang zu rechtlichen Materien ist in der Tat ein ganz eigener: Er pflegte einen logisch-mathematischen Ansatz (in seinen eigenen Worten: eine „axiomatische Me-

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aus.

Klug (Fn. 3), S. 26. Als solchen weist ihn – neben Rödig – Weinberger, Rechtslogik, 2. Auflage 1989, S. 5

8 Als einen solchen bezeichnete ihn Alexander Hollerbach, bei dem Rödig im Sommersemester 1965 im Rahmen eines rechtphilosophischen Seminars ein Referat namens „Naturrecht oder Rechtspositivismus?“ hielt. Dieses Referat ist, zusammen mit einer Vorbemerkung Hollerbachs, abgedruckt in der Gedächtnisschrift Rödig, 1978, S. 369 – 394. 9 Raiser, Nachruf Jürgen Rödig, JZ 1976, 493; Klug (Fn. 3), S. 27. 10 Klug (Fn. 3), S. 27.

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thode“11), der die Methoden der modernen Aussagenlogik, wie sie z. B. durch Gottlob Frege und Bertrand Russell geprägt wurde und als Grundlagenwissenschaft der Mathematik fungiert, für die Rechtswissenschaften fruchtbar zu machen sucht.12 Von Rödigs versiertem Umgang mit der Logik legen zahlreiche Veröffentlichungen beredtes Zeugnis ab, insbesondere die in den posthum herausgegebenen „Schriften zur juristischen Logik“ enthaltenen Texte, aber auch die beiden großen Monographien „Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz“ (Dissertation) und „Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens“ (Habilitation). In der Dissertation bestehen die letzten knapp zwanzig Seiten fast durchweg aus Formeln und Ableitungen; diese nehmen auch sonst in seinen Texten einen beachtlichen Anteil ein. Weitere Werke Rödigs zur Gesetzgebungstheorie sind seine Beiträge in den Sammelbänden „Vorstudien“ bzw. „Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung“ sowie Passagen aus der posthum veröffentlichten „Einführung in eine analytische Rechtslehre“. II. Standortbestimmung Gesetzgebungstheorie 1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gesetzgebung in den 70er Jahren Wenden wir uns nun dem eigentlichen Thema dieses Beitrags zu, der Gesetzgebungstheorie. Diese war als Disziplin in den 70er Jahren erst im Entstehen begriffen.13 Im Vorwort der „Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung“ heißt es hierzu: „Die Gesetzgebungstheorie befindet sich noch am Anfang ihrer Entwicklung. Fertige Konzepte konnten während des Seminars nicht vorgetragen werden; es wurde vielmehr versucht, die Probleme heutiger Gesetzgebung bewusst zu machen.“14 Die eben zitierten „Vorstudien“ entstanden im Nachgang zu einer Tagung, die Jürgen Rödig gemeinsam mit dem Informatik-Kolleg der Gesellschaft für Mathe11 Z. B. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 52 f.; Rödig, Axiomatische Methode als formale Richtschnur des Kodifizierens, in: Rödig/Kindermann/ Baden (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 31 (32 f.). 12 Hierzu Baden (Fn. 2), S. 110; Kindermann, Plan und Methode der Gesetzgebungstheorie, in: Rechtstheorie 9 (1978), 229 (230). 13 Dazu z. B. Weinberger, Zur Theorie der Gesetzgebung, in: Mokre/Weinberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, Wien/New York 1976, S. 173; van der Velden, Die formale Allgemeinheit des materiellen Gesetzes, Rechtstheorie 22 (1991), 329; Wintgens, Legislation as an Object of Study of Legal Theory: Legisprudence, in: Wintgens (Hrsg.), Legisprudence: A New Theoretical Approach to Legislation, Proceedings from the Fourth Benelux-Scandinavian Symposium on Legal Theory, 2002, S. 9; Frenzel, Jenseits der Metaphorik von „Normenflut“ und „Gesetzeslawine“ – Für entideologisierte Wege zu besserer Gesetzgebung, Jurawelt 1/2005, Artikelnr. 9918, Teil II. Hierbei wird nicht verkannt, dass sich auch im 18. Jahrhundert bereits namhafte Persönlichkeiten mit Gesetzgebungstheorie befasst haben, allerdings unter anderen Vorzeichen als die Repräsentanten der Gesetzgebungstheorie im 20. Jahrhundert. Dazu s. u. II. 2. b). 14 Baden/Kindermann, Vorwort zu Rödig/Kindermann/Baden, Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 9.

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matik und Datenverarbeitung (im Folgenden: GMD) initiiert hatte. Diese Tagung fand im März 1974 statt. Der Sammelband „Vorstudien“ ist demnach ein relativ frühes Dokument der Gesetzgebungstheorie: Nur ein Jahr, nachdem Peter Nolls Pionierwerk „Gesetzgebungslehre“15 erschienen war, wurde er zur Veröffentlichung eingereicht. 2. Erwartungen an die Disziplin „Gesetzgebungstheorie“ Was ist von der Gesetzgebungstheorie als wissenschaftlicher Disziplin zu erwarten? Heute stellt sich diese Frage nicht mehr mit jener Dringlichkeit, mit der sie sich noch zu Anfang der 70er Jahre – gewissermaßen zur Geburtsstunde der modernen Gesetzgebungstheorie – gestellt hat.16 Denn können wir heute auf die in eben jener Zeit entstandenen Werke von Noll, Rödig und etwas später Hermann Hill17 und Hans Schneider18 zurückgreifen, war eine solche Basis in den siebziger Jahren noch nicht vorhanden. Im Gegenteil: Die Gesetzgebungstheorie musste sich nicht nur selbst (wieder-)erfinden, sondern auch den eigenen Standort im Koordinatensystem der (Rechts-)Wissenschaften definieren. Drei Leitfragen, die durchaus unterschiedlich beantwortet werden konnten und können, standen hierbei im Mittelpunkt: Warum braucht es eine Gesetzgebungstheorie (a)? Was soll diese Disziplin leisten (b)? Und daran anschließend: Was ist – methodisch betrachtet – Gesetzgebungstheorie (c)? a) Warum überhaupt Gesetzgebungstheorie? Zwar sind Klagen über viele und schlechte Gesetze nicht erst ab dem 20. Jahrhundert zu vernehmen, sondern sind so alt wie das positive Recht, d. h. die menschengemachte Gesetzgebung selbst. Hiervon zeugen z. B. Aussprüche von Tacitus und Thomas Morus, die Heinrich Honsell in seiner Begrüßungsrede zum schon erwähnten Rödig-Gedächtnissymposion zitiert: „corruptissima res publica plurimae leges“ (Tacitus) – zu übersetzen mit „im verderbtesten Staatswesen gibt es die meisten Gesetze“ – und „leges habent perquam paucas“ (Morus) – übersetzt „sie haben ganz wenige Gesetze“, was sich auf den Idealstaat Utopia bezieht.19 Die Kritik an der Gesetzgebung, wiewohl kein neuartiges Phänomen, verdichtet sich aber ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Kritik ist nicht primär inhaltlich, sondern bezieht sich vor allem auf die mangelnde Verständlichkeit, Eindeutigkeit und Klarheit oder schlicht auf die Quantität der Gesetze. Es werden demnach Eigenschaften von Gesetzen thematisiert, die – bei den drei erstgenannten Qualitäten – im Falle ihres Vor15

Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. Kindermann (Fn. 12), S. 233. 17 Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982. 18 H. Schneider, Gesetzgebung, 1982. 19 Honsell, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 15.

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liegens eigentlich die Akzeptanz bei den Bürgern fördern sollen, im Falle ihres NichtVorliegens aber diese Akzeptanz gefährden. Akzeptanzschmälernd kann sich auch eine zu große Fülle an Gesetzen auswirken, die für den Bürger, aber auch für den Juristen oft nicht mehr beherrschbar zu sein scheint.20 Dieses Phänomen findet seinen Ausdruck in der von Spiros Simitis geprägten, für die 70er Jahre prägenden Formulierung von der „Informationskrise des Rechts“, welche auch eine Herausforderung für die Gesetzgebung darstelle. Peter Noll spricht von einer „Gesetzeshypertrophie“21, der es durch das Schaffen einer Gesetzgebungslehre abzuhelfen gelte. b) Was soll Gesetzgebungstheorie leisten, und was soll sie nicht leisten? Die Antwort auf diese Frage wird teilweise durch die Problemfeststellung im vorhergehenden Abschnitt impliziert: Die Verwissenschaftlichung der Beschäftigung mit Gesetzgebung soll zu einer besseren Gesetzgebung führen, indem sie die angesprochenen Probleme benennt und ihnen methodisch begegnet.22 Hiermit grenzt sich die Gesetzgebungstheorie des 20. Jahrhunderts von der des 18. Jahrhunderts ab: Richteten deren bekannteste Vertreter, Jeremy Bentham und Gaetano Filangieri, ihr Augenmerk noch hauptsächlich auf die inhaltliche Dimension von Gesetzen, mithin auf die Frage, wie „gutes“ Recht auszusehen hat, so unterscheidet die Gesetzgebungstheorie des 20. Jahrhunderts, zurückgehend auf Robert von Mohl und Ernst Zitelmann, eine inhaltliche und eine technische Dimension an den Gesetzen und sieht ihr eigenes Betätigungsfeld in der Beschäftigung mit diesem formal-technischen Aspekt, nicht mit dem „guten“ oder „richtigen“ Inhalt von Gesetzen.23 Da Gesetzgebung „Verwirklichung der Selbstbestimmung des Menschen im demokratischen System“24 ist, erfolgt die inhaltliche Determinierung der Gesetze im demokratisch-parlamentarischen Prozess; wie aber das Recht als „geronnene Politik“, das sich im Laufe dieses Prozesses herausschält, am besten formuliert werden kann und wie die Gesetzgebungsorgane zum angestrebten Inhalt finden können, ist Aufgabe der Gesetzgebungstheorie. c) Was ist Gesetzgebungstheorie methodisch betrachtet? Ist nun das Materialobjekt dieser Disziplin in der formal-technischen Seite der Gesetzgebung gefunden, muss es im nächsten Schritt darum gehen, das Formalobjekt 20

Zu der Metaphorik um die vielbeschworene „Gesetzesflut“ Frenzel (Fn. 13). Noll (Fn. 15), S. 164; zu möglichen Gründen dort S. 164 – 166. 22 Baden (Fn. 2), S. 122; im Ergebnis ebenso Weinberger (Fn. 13), S. 173 f. 23 Hierzu instruktiv Heyen, Historische und philosophische Grundfragen der Gesetzgebungslehre, in: Schreckenberger/König/Zeh (Hrsg.), Gesetzgebungslehre. Grundlagen – Zugänge – Anwendung, 1986, S. 11 (13 ff.); Kindermann (Fn. 12), S. 233. 24 Maihofer, Nachwort zur Fragestellung: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 403 (409). 21

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zu bestimmen, konkreter: die Methode und die Perspektive, aus der die Gesetzgebung in den Blick genommen wird. Folgende Fragen können an die Gesetzgebungstheorie gestellt werden: Ist sie empirisch-deskriptiven Charakters, gewissermaßen die Praxis erklärend wie eine naturwissenschaftliche Theorie? Ist sie, mit Aristoteles gesprochen, praktische Vernunft im Sinne einer „phrónesis“, oder ist sie eine „téchne“, d. h. eine Kunst bzw. ein Handwerk?25 Hat sie sich vor allem mit der eventuellen Diskrepanz zwischen Rechtslage und Rechtsvollzug, also mit „law in the books“ versus „law in action“ zu befassen? Muss sie immer vor der Folie des geltenden positiven Verfassungsrechts betrieben werden, oder kann sie unabhängig davon für alle Rechtsordnungen, zumindest aber für alle demokratisch verfassten Rechtsordnungen konzipiert werden? Kann Gesetzgebungstheorie überhaupt eine geschlossene, systematische Theorie sein?26 Diese Fragen mögen zum besseren Verständnis der Rödig’schen Gesetzgebungstheorie dienen, die nun im Folgenden näher erläutert werden soll. III. Die Rödig’sche Konzeption der Gesetzgebungstheorie Jürgen Rödigs Gesetzgebungstheorie blieb fragmentarisch;27 es war ihm nicht mehr vergönnt, seine Einzelbeiträge zu diesem Thema zu einem repräsentativen Gesamtwerk zusammenzuführen. Die nun folgenden Abschnitte versuchen, die vorhandenen Mosaiksteine zusammenzufügen,28 indem zunächst Kritikpunkte an der modernen Gesetzgebung aufgezeigt werden und Rödigs Analyse dieser Probleme erläutert wird. Danach wird noch einmal vertieft auf Rödigs Methode einzugehen sein, welche den Ausgangspunkt seiner Gesetzgebungstheorie bildet. 1. Zunächst: Die Probleme der Gesetzgebung Rödig macht drei prinzipielle Defizite der Gesetzgebung seiner Zeit aus: (1) Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, genauer: Dogmatik, seien zu wenig aufeinander abgestimmt. Der Gesetzgeber erarbeite neue Normen meist, ohne sich über die künftige Auslegung durch Lehre und Praxis Gedanken zu machen. Hierbei nimmt Rödig aber auch die Dogmatik in die Pflicht: Diese befasse sich bislang nur mit dem fertigen Gesetz und nicht mit der Frage, was für Anforderungen an erst noch

25 Zur „Gesetzgebungskunst“ und ihrer wissenschaftlichen Einordnung Emmenegger, Gesetzgebungskunst, 2006, S. 229 – 238. 26 Dies vorsichtig bezweifelnd Weinberger (Fn. 13), S. 173. 27 Baden (Fn. 2), S. 110. 28 Auf das entsprechende Anliegen Badens sei verwiesen: Baden (Fn. 2), S. 110 – 125.

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zu schaffende Gesetze gestellt werden müssten und wie deren Entstehung wissenschaftlich durchdrungen und begleitet werden könnte.29 (2) Nach Rödig enthalten viele Gesetze Widersprüche in sich selbst. Er legt an Normensysteme strenge Maßstäbe an, nämlich die, welche auch für Axiomensysteme gelten: Vollständigkeit, Unabhängigkeit und Widerspruchsfreiheit.30 Was bedeutet das? Ein Rechtssatzsystem – so Rödig – soll keine Lücken lassen, andererseits aber auch nicht „zu viel sagen“: Es muss also vollständig sein, ohne abhängige Sätze zu enthalten, die sich auch problemlos aus anderen Sätzen des Systems ableiten lassen. Lücken dürfen dabei nicht mit im Gesetz enthaltenen Entscheidungsdelegationen (z. B. an die Rechtsprechung oder an die Verwaltung) gleichgesetzt werden, welche für Rödig durchaus ihre Berechtigung haben.31 Wiederholende oder deklaratorische Sätze betrachtet er als im Grunde genommen überflüssig. Sie könnten zwar als mnemotechnische Hilfssätze sinnvoll sein, aber auch schädliche Konsequenzen zeitigen, indem das Gesetz unübersichtlich oder unverständlich wird.32 Widersprüche innerhalb eines Gesetzes (wie auch in der gesamten Rechtsordnung) müssen für Rödig um jeden Preis vermieden werden: Ein Gesetz dürfe nicht einmal die Rechtsfolge p und ein anderes Mal die Rechtsfolge nicht-p anordnen, denn damit ordnet es letztlich gar nichts mehr oder auch alles an: in den Worten der Scholastiker „ex falso quodlibet sequitur“.33 (3) Weiter konstatiert Rödig, dass Gesetze oft unverständlich für den Bürger seien; dies sei oft schon aufgrund ihrer fachsprachlichen, bisweilen technokratischen Formulierung der Fall, spätestens aber aufgrund der Notwendigkeit, für das Verständnis eines Gesetzes schon die diesem zugrunde liegende Systematik und die Verquickung mit anderen Gesetzen und Rechtsgebieten durchdrungen zu haben. Dies führe, so Rödig, zu einer weitreichenden Rechtsunkenntnis der Bevölkerung – aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ein gravierender Missstand.34 2. Ursprung dieser Probleme Rödig geht die soeben aufgezählten Probleme nicht isoliert an, sondern analysiert sie in ihrem Zusammenhang und ihren Wechselwirkungen. Hiermit geriet er teilweise in scharfen Konflikt mit „herrschenden Meinungen“ und überkommenen Traditio29 Rödig, Gesetzgebungstheorie als praxisorientierte rechtswissenschaftliche Disziplin auf rechtstheoretischer Grundlage, in: Rödig/Kindermann/Baden (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 11. 30 Rödig, Axiomatische Methode (Fn. 11), S. 33. 31 Rödig, Logische Untersuchungen zur Makrostruktur rechtlicher Kodifikate, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 592 (593). 32 Rödig (Fn. 29), S. 12. 33 „Jedwedes Beliebige folgt aus dem Falschen“, Rödig (Fn. 29), S. 12; zum „ex falso“Satz Menne, Einführung in die Logik, 6. Auflage 2001, S. 55. 34 Rödig (Fn. 29), S. 13.

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nen – Ansichten, die teils heute auch noch die einschlägigen juristischen Debatten dominieren. a) Insbesondere die herrschende Methodenlehre Larenz’scher Prägung muss sich harsche Kritik von Rödig gefallen lassen. Gegenstand dieser Kritik ist vor allem die sog. „objektive Auslegungslehre“. Als paradigmatisch für diesen Ansatz juristischer Interpretation darf folgender Leitsatz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wohnungsbauförderung vom 21. Mai 1952 gelten: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“35 Prägend für die objektive Auslegung ist der schon fast zum juristischen Bonmot gewordene Ausspruch vom Gesetz, welches klüger sein müsse als der Gesetzgeber.36 Rödig wirft der objektiven Auslegungslehre vor, sie betrachte es „geradezu als Triumph juristischen Interpretierens […], daß neue rechtliche Gehalte mit Hilfe alter Paragraphen vorgetragen werden können“37. Dieser Interpretationsmethode sei der „fossile Charakter“ der Gesetzgebungstheorie zuzuschreiben, denn die Dogmatik habe mit der objektiven Auslegung ein bequemes und effektives Werkzeug bei der Hand, Veränderungen in der materiellen Rechtslage ohne Gesetzesänderung herbeizuführen. Sie sei folglich nicht gezwungen, den Dialog mit dem Gesetzgeber zu suchen und der Gesetzgebung selbst ein vertieftes wissenschaftliches Interesse entgegenzubringen. In Rödigs Worten: Die Dogmatik pflege lieber den „dornigen“ Umgang mit schon vorhandenen Gesetzen, statt sich mit der Entstehung neuer Normen zu beschäftigen.38 Die Forderung Rödigs an den Gesetzgeber, Normen stärker im Hinblick auf ihre spätere Auslegung zu formulieren, sie quasi „interpretationsfreundlicher“ zu konzipieren, muss also im Kontext dieser Kritik an der Dogmatik betrachtet werden. Denn der Gesetzgeber kann sich noch so sehr um interpretationsgerechtere Normen bemühen – seine Bemühungen werden fruchtlos sein, wenn Dogmatik und Praxis sich weiterhin einer Interpretation befleißigen, das Gesetz klüger als den Gesetzgeber zu machen. In dieser Kritik Rödigs fließen zwei Begründungsstränge zusammen, ein sprachlich-logischer und ein vom Demokratieprinzip herrührender. Sprache setzt sich, von 35

BVerfGE 1, 299 – 322, Leitsatz 2. Für das Privatrecht schon Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1851, S. 150; für die Rechtsphilosophie Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Auflage 1973, S. 207. 37 Rödig (Fn. 29), S. 11. 38 Zum Ganzen Rödig (Fn. 29), S. 11. 36

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der Warte eines Logikers aus betrachtet, aus zwei Systemen zusammen, einem Zeichen- und einem Regelsystem. Was ein sprachliches Zeichen bedeutet, ist durch Konvention gewohnheitsmäßig oder ausdrücklich bestimmt. Es handelt sich bei sprachlichen Zeichen somit um sog. „konventionelle Zeichen“. Diese werden in der Logik u. a. von „natürlichen“ und „ikonisierenden“ Zeichen abgegrenzt: Natürliche Zeichen sind Anzeichen für einen realen Gegenstand, wie der Rauch für das Feuer, zu den ikonisierenden Zeichen gehören z. B. Fotografien in Bezug auf die dort gezeigten Gegenstände.39 Wenn nun aber keine natürlichen Gegebenheiten oder ikonisierende Darstellungen ein festes Band zwischen den Sprachzeichen und den Gegenständen knüpfen, von denen „die Rede ist“, so sind die Sprachzeichen einer sich mehr oder minder schnell wandelnden Sprachkonvention unterworfen. Legt der Rechtsanwender nun die Sprachkonventionen seiner Zeit der Auslegung zugrunde, so ist für den Gesetzgeber bei der Erarbeitung der Normtexte gar nicht abzusehen, wie diese einmal in Zukunft ausgelegt werden. Aufgrund dieser Regelungsunsicherheit können gesetzgeberische Bemühungen vollkommen ins Leere laufen. An dieser Stelle greifen beide Begründungsstränge ineinander: Rödig kritisiert, dass Dogmatik und Methodenlehre, indem sie einen objektiven Auslegungsansatz verfolgen, sich zwar formell dem Gesetz unterwürfen, sich aber in Wirklichkeit nicht daran gebunden fühlten, denn das Gesetz dürfe und müsse schließlich klüger sein als der Gesetzgeber. Hierdurch werde der Gesetzesinhalt aber wegen des konventionsgeprägten Charakters von Sprache für den Rechtsanwender beinahe beliebig veränderbar, wohingegen derartige Bedeutungsänderungen für die Betroffenen (d. h. die Bürger) meist nicht voraussehbar, geschweige denn beeinflussbar seien. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle nur auf den Gewaltbegriff des § 240 StGB hingewiesen.40 Quintessenz eines demokratisch verfassten Staates ist jedoch, dass die Willensbildung von unten nach oben verläuft und die Bürger den Inhalt der Gesetze demokratisch beeinflussen können. Begreifen sich die Rechtsanwender als in ihrer Interpretation autonom gegenüber dem Gesetzgeber, so stellt dies für Rödig eine „Neutralisierung“ des Demokratieprinzips dar.41 b) Einige der weiteren Probleme moderner Gesetzgebung (Unverständlichkeit, mangelnde Rechtskenntnis der Bevölkerung) lassen sich für Rödig unter den folgenden gemeinsamen Nenner bringen: Sie stehen im Zusammenhang mit der Formulierung der Gesetze. Diese, so Rödig, sei oft zu kompliziert, um vom Bürger verstanden zu werden – sei es aufgrund der Verwendung von Fachausdrücken oder aufgrund des Aufbaus der Gesetze, z. B. wenn verschiedene Gesetze oder auch nur Allgemeiner und Besonderer Teil ineinandergreifen.42 Diese Situation werde durch die Quantität 39

Zum Ganzen Weinberger (Fn. 7), S. 40; Menne (Fn. 33), S. 12. Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 88 f. nennt außerdem das Beispiel der „Salzsäure als Waffe“: BGHSt 1, 3 ff. 41 Zum ganzen Abschnitt Rödig, Zum Stellenwert der Gesetzgebungstheorie in der herkömmlichen Dogmatik sowie in der traditionellen Methodenlehre, in: Rödig/Kindermann/ Baden (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 27 (29). 42 Rödig (Fn. 29), S. 13. 40

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der modernen Gesetzgebung noch verschärft – die erlassenen Normen seien zu zahlreich, um vom Bürger in ihrer Gänze und in ihrem Zusammenwirken zur Kenntnis genommen und verstanden zu werden.43 Damit stehen aber für Rödig die zwei Kardinalsqualitäten des Gesetzes auf dem Spiel, nämlich seine „optimale Promulgation“ und „erstrangige Legitimation“44. Diese seien es, die ein Gesetz gegenüber anderen Formen der Regelung (z. B. Richterrecht, Verwaltungsakt) auszeichnen. c) Widersprüche in Gesetzen ergeben sich für Rödig vor allem aus der Verwendung der Regel-Ausnahme-Technik. Diese erfreut sich in älteren wie neueren Gesetzen großer Beliebtheit, produziert aber, wenn sie in ein Prädikatenkalkül-System gebracht wird, Aussagen des Typs }p ^ :p}, ausgeschrieben „p und gleichzeitig nichtp“.45 Wie kommt dieser Widerspruch zustande? Anhand dieses Beispiels sei ein für Rödig paradigmatischer Gedankengang leicht vereinfacht erläutert und so seine „axiomatische Methode“ veranschaulicht.46 aa) Rödig geht zunächst von einer Rechtsordnung aus, die eine fiktive deliktsrechtliche Norm enthält, welche nach einer unerlaubten Handlung eine Schadensersatzpflicht des Schädigers statuiert. Diese Norm heißt MI, für „Modell I“.47 (1) 8p ð Uh1 p ! Sc1 pÞ

MI heißt übersetzt in die Umgangssprache: „Für alle Subjekte p gilt, dass p, wenn p eine unerlaubte Handlung begeht, Schadensersatz leisten muss.“ Im Sinne der traditionellen Regel-Ausnahme-Technik fügt Rödig MI nun eine Ausnahme hinzu, bei deren Vorliegen die Schadensersatzpflicht p’s entfallen soll: (2) 8p ð As1 p ! : Sc1 pÞ

Übersetzt: „Für alle Subjekte p gilt, dass p keinen Schadensersatz leisten muss, wenn die Ausnahme gegeben ist.“

43 Dieses quantitative Problem wird weithin gesehen: Noll (Fn. 15), S. 164 und 188 f.; s. a. Müller, Adressatengerechtheit und Allgemeinverständlichkeit – der Verständnishorizont des Adressaten als Kriterium der Gesetzessprache, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 35 (37); vgl. auch Beschlüsse des 65. DJT, Bonn 2004, Abteilung Gesetzgebung, S. 40, abrufbar unter http://www.djt.de/fileadmin/downloads/65/beschluesse. pdf (letzter Abruf: 30. November 2016). 44 Rödig (Fn. 29), S. 20. 45 Rödig/Thieler-Mevissen, Die Regel-Ausnahme-Technik des Gesetzgebers in logischer Sicht, in: Rödig/Kindermann/Baden (Hrsg.), Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1975, S. 88 (88 f.). 46 Alle im Folgenden verwendeten Formeln gehen zurück auf Rödig/Thieler-Mevissen (Fn. 45), S. 88 ff. 47 An dieser Stelle seien Symbolik und Syntax erläutert: Die Notation der Quantoren in diesem Beitrag unterscheidet sich von der von Rödig gebrauchten Schreibweise; es steht „8“ für den Generalisator, vgl. dazu Menne (Fn. 33), S. 59 f. Das Symbol „:“ stellt wie bei Rödig den Negator dar, „^“ bezeichnet den Konjunktor.

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Nun wird der Rechtsgenosse „pe“ eingeführt: Von „pe“ wird angenommen, dass er eine unerlaubte Handlung im Sinne der Norm begangen hat, den Ausnahmetatbestand aber erfüllt: (3) ð Uh1 pe ^ As1 peÞ

Im nächsten Schritt wird der Generalisator von Zeile (1) beseitigt, da es nun nicht mehr um alle Subjekte geht, die man für „p“ einsetzen könnte, sondern nur noch um die konkrete Person „pe“: (4) ð Uh1 pe ! Sc1 peÞ

Grundsätzlich muss also „pe“, da er die unerlaubte Handlung begangen hat, Schadensersatz leisten. Jedoch gilt gleichzeitig die nun folgende Aussage, da „pe“ einen Ausnahmetatbestand erfüllt: (5) ð As1 pe ! : Sc1 peÞ

Da (s. Zeile 3) Uh1 pe und As1 pe per Konjunktion verbunden sind, folgt (6) ð Sc1 pe ^ : Sc1 peÞ

Übersetzt in die Umgangssprache bedeutet dies, dass „pe“ gleichzeitig zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet wie davon befreit ist. Diese Folgerung ist in sich widersprüchlich, und somit auch das Gesetz, dem die Norm MI angehört. Aus einer falschen Voraussetzung kann man aber jede beliebige Aussage beweisen.48 Dies wäre für eine funktionierende Rechtsordnung ein nicht hinnehmbarer Zustand. bb) Zunächst zieht Rödig in Erwägung, das Nichtvorliegen der Ausnahme als „negatives Tatbestandsmerkmal“ in den Tatbestand von MI aufzunehmen. Dies mag zwar bei einer einzigen Ausnahme noch funktionieren, aber schon bei mehreren voneinander unabhängigen Tatbestands- und Ausnahmetatbestandsvarianten müssten sämtliche Varianten in eine einzige Norm aufgenommen werden. Diese wäre dann zwar logisch widerspruchsfrei, jedoch durch die unter Umständen sehr lange Aufzählung der Ausnahmen kaum mehr verständlich. cc) Daher schlägt Rödig eine „negative Bündelung“ der Ausnahmetatbestände durch eine neue atomare Aussage in der Norm vor. Diese nennt er Ng10 p.49 In seiner Herleitung geht Rödig von vier verschiedenen Ausnahmetatbeständen aus, die so zu einem „Bündel“ zusammengefasst werden. Die neue Norm MII (für Modell II ohne die übliche Regel-Ausnahme-Technik) lautet also: (7) 8p

48

@E

C > Uh1 p ^ : Ng1o p ! Sc1 p

Menne (Fn. 33), S. 55: „Ex falso sequitur quodlibet.“ Der Exponent 1 bedeutet, dass Ng ein einstelliges Prädikat ist, sich also auf das direkt rechts neben Ng stehende Subjekt, hier die Variable p, bezieht. Die 0 im Index bedeutet hier, dass Ng sämtliche Ausnahmetatbestände disjunktiv erfasst, dass also mindestens eine der Ausnahmen tatsächlich vorliegt, eventuell aber auch mehrere kumulativ. 49

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Wagte man eine Übersetzung,50 würde diese etwa lauten: „Für alle p gilt: Begeht p eine unerlaubte Handlung und greift keine Variante des Ausnahmenbündels ein, ist er zum Schadensersatz verpflichtet.“ Konkretisiert wiederum auf die Person „pe“ lautet die Formel folgendermaßen:51

E C (8) Uh1 pe ^ : As11 pe ^ : As12 pe ^ : As13 pe ^ : As14 pe ! Sc1 pe

Nun wird jedoch Ausnahme Nr. 3 von „pe“ erfüllt. Das Implikans von (8) heißt also: E C (9) Uh1 pe ^ : As11 pe ^ : As12 pe ^ As13 pe ^ : As14 pe

Damit, dass (9) mit dem nicht mehr negierten Ausdruck „As13 pe“ gegenüber (8) in den Prämissen verändert ist, kann auch in diesem System das Implikat „Sc1 pe“ nicht mehr dasselbe wie bei (8) sein. Dies bedeutet: Rein logisch lässt sich aus den Prämissen, dass „pe“ eine unerlaubte Handlung begangen hat und ein Ausnahmetatbestand eingreift, nicht ableiten, dass er Schadensersatz leisten muss. Es lässt sich aber in diesem logischen System ohne Hinzunahme weiterer Axiome auch nicht direkt das Ergebnis ableiten, dass ihn keine Schadensersatzpflicht trifft. Diese Aussage kann nicht mehr innerhalb desselben Systems getroffen werden. Für den Juristen mag es unbefriedigend sein, dass die Logik über diese für den Rechtsanwender so entscheidende Frage schweigt und nicht explizit zu dem Ergebnis kommt, dass eine Schadensersatzpflicht nicht besteht. Aber Rödig erreicht mit diesem Resultat das Ziel seiner Argumentation: Aus dem Ergebnis, dass aus derselben Prämissenmenge nicht einmal „Sc1 pe“ und ein anderes Mal „: Sc1 pe“ ableitbar ist, ergibt sich, dass das System nun logisch widerspruchsfrei ist – Eintritt und Nichteintritt der Rechtsfolge aus denselben Prämissen treffen nicht mehr zusammen.52 3. Rödigs gesetzgebungstheoretische Methode a) Mit dem vorhergehenden Beispiel ist ein wichtiges Werkzeug in Rödigs methodischem Instrumentenkasten vorgestellt worden: Rödig, der Leibniz‘ Idee einer wissenschaftlichen Kunstsprache („calculus ratiocinator“) mit universellem Begriffssystem („characteristica universalis“) bewunderte, misstraute der Umgangssprache und ihren Unschärfen. Vor allem hegte er Argwohn gegenüber dem alltagssprachlichen Folgern, wo oft stillschweigende Prämissen mitschwängen, die jedoch niemals explizit aufgedeckt würden. Durch solche verdeckten Prämissen ist für Rödig die Stringenz der Argumentation gefährdet.53 Da unhinterfragte Assoziationen in einer symbolischen Kalkülsprache nicht vorkommen, vertraute Rödig sich so oft 50

Was Rödig an dieser Stelle nicht tut. Die Konkretisierung auf „pe“ erfolgt durch Generalisierung, außerdem wird die Disjunktion mithilfe des De Morgan’schen Gesetzes aufgelöst. Dazu Menne (Fn. 33), S. 53. 52 Rödig/Thieler-Mevissen (Fn. 45), S. 90. 53 Zum Ganzen Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 129 f., sowie Rödig, Axiomatische Methode (Fn. 11), S. 36. 51

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wie möglich dieser Kunstsprache an. Sie zeichne sich dadurch aus, dass sie nur das sage, worauf es – hinsichtlich des Folgerns – ankomme, und dies so einfach wie möglich tue.54 Rödig ging von der Grundannahme aus, dass alle juristischen Begründungen sich mit den Mitteln der modernen Logik analysieren, abbilden und auf ihre Stringenz hin überprüfen lassen – eine durchaus kontrovers diskutierbare These.55 Mit der Verwendung einer formalen Sprache geht für Rödig über den Vorteil größerer Rationalität hinaus noch ein weiterer Vorteil einher: Die im Prädikatenkalkül verwendete Kunstsprache entstammt dem System der zweiwertigen Aussagenlogik. Dieses System mit seinen zwei Wahrheitswerten „wahr“ und „falsch“ bzw. „1“ und „0“, also mit binärem Code, liegt auch der elektronischen Datenverarbeitung zugrunde.56 Und so ist es nur folgerichtig, dass Rödig sich für den Einsatz von EDV in der Gesetzgebungstheorie interessierte.57 Raum für die EDV sah er vor allem in Hinblick auf Gesetzesprojekte, die sich noch im Entwurfsstadium befinden. Die Gesetzesentwürfe könnten mithilfe von logischen Operationen unter Einsatz von EDV auf ihre Widerspruchslosigkeit hin überprüft werden. Solches geschah übrigens Anfang der 70er Jahre mit einem BAföG-Gesetzesentwurf unter Beteiligung der GMD. In der Tat wurden dabei dem Gesetz immanente Widersprüche aufgedeckt.58 Die „axiomatische Methode“ bildet also sowohl Ausgangspunkt als auch Perspektive für technische Anwendungen in Rödigs Gesetzgebungstheorie. b) Rödig begreift seine Gesetzgebungstheorie als unselbstständigen Bestandteil einer allgemeinen juristischen Regelungstheorie.59 Er betrachtet das Gesetz als ein Regelungsinstrument unter mehreren und stützt diese These darauf, dass die Regelung menschlichen Verhaltens im Prinzip immer gleich funktioniere, gleichgültig, mit welcher Art von Rechtsnormen sie erfolge.60 Für Rödig resultiert die Sonderstellung, die dem Gesetz eingeräumt wird, nicht aus etwaigen besonderen Eigenschaften des Gesetzes, die eine solche Sonderstellung rechtfertigen, sondern ist historisch gewachsen und damit kontingent.61 aa) Nach Rödigs Ansatz fungiert ein Gesetz in erster Linie als Informationsträger (im Gegensatz zur Auffassung der Imperativentheorie), übermittelt dem handelnden

54

Rödig, Alternative (Fn. 11), S. 142. Klug (Fn. 3), S. 33. 56 Menne (Fn. 33), S. 42 ff. 57 Klug (Fn. 3), S. 33. 58 Zum Ganzen Rödig (Fn. 31), S. 595; Rödig, Axiomatische Methode (Fn. 11), S. 36; Rödig (Fn. 53), S. 262. In diese Richtung argumentierend auch Craemer, Formale Darstellungstechniken als Hilfsmittel zur Kontrolle von juristischen Regelungen, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 156 (167). 59 Rödig, Zum Begriff des Gesetzes in der Rechtswissenschaft, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 5 (8, 46). 60 Baden (Fn. 2), S. 110. 61 Rödig (Fn. 59), S. 13 ff.; Baden (Fn. 2), S. 110. 55

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Subjekt also Informationen über die Konsequenzen eines eventuellen Handelns.62 Dies tue das Gesetz, indem es den Verhaltensspielraum des Menschen in einerseits positiv und andererseits negativ bewertete Handlungen aufteilt.63 Der Regelungsspielraum (d. h. die Möglichkeit, Verhaltensweisen als rechtlich positiv bzw. negativ zu bewerten) nimmt dabei mit zunehmender Regelungsdichte ab, also mit Absteigen im Stufenbau der Rechtsordnung:64 Ist in einem demokratisch verfassten Staatswesen der Gesetzgeber nur an die Verfassung gebunden, so ist der der Exekutive angehörende Verordnungsgeber an die Verfassung und die gesetzliche Ermächtigung gebunden, und genauso bedarf ein Verwaltungsakt einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Auch Rechtsgeschäfte zwischen Privaten sind für Rödig eine „großangelegte Delegation von Regelungskompetenz“65; auch sie müssen sich innerhalb der Grenzen des rechtlichen Rahmens bewegen, der ihnen gesteckt ist. Ebenso trage die Judikative zur Reduktion des Regelungsspielraums bei, teilweise auch durch eigene Wertungen. Die Regelungskompetenz der Judikative ist zwar nach Rödig durch ihre Bindung an den konkreten Fall im Verhältnis zur Regelungskompetenz der Legislative subsidiär; abgesehen davon gebe es aber im rechtstechnischen Sinne keinen qualitativen Unterschied zwischen legislativer und judikativer Rechtsschöpfung.66 Einen Unterschied sieht Rödig „nur“ in der institutionellen Bedeutung, die der Legislative aufgrund ihrer demokratischen Legitimation zukommt.67 bb) Eine befriedigende Abgrenzung des allgemeinen (parlamentarischen) Gesetzes von anderen Regelungsformen wie Richterrecht, Verwaltungsakten oder Verordnungen, resümiert Rödig weiter, gebe es (bislang) nicht. Diese These untermauert er erneut mithilfe von logischen Operationen. Insbesondere kommt er zu dem Ergebnis, dass das Kriterium „Allgemeinheit“, für Juristen charakterisiert durch die Eigenschaft des Abstrakt-Generellen und die „unbestimmte Vielheit“ von Adressaten und erfassten Sachverhalten,68 zur Kennzeichnung einer Regel als „Gesetz“ nicht logisch gültig sei.69 Dabei spiele eine entscheidende Rolle, dass jede individuelle Regel sprachlich als generelle Regel formuliert werden kann.70 Rödig nennt dies den „Wolf des Einzelfallgesetzes […] im Schafspelz der Generalisierung“71. Streng logisch betrachtet gebe es also keine Möglichkeit, für eine Regel festzustellen, ob sie ein Gesetz ist oder nicht. Daher rührt Rödigs Interesse, das Gesetz als besonderes Regelungsinstrument in eine allgemeine Theorie der Regelungstechnik einzubinden. 62

Rödig, Alternative (Fn. 11), S. 82 ff. Rödig/Kindermann (Hrsg.), Einführung in eine analytische Rechtslehre, 1986, S. 35; Rödig, Alternative (Fn. 11), S. 56; auch Baden (Fn. 40), S. 33 f. 64 Rödig (Fn. 59), S. 42. 65 Rödig (Fn. 59), S. 45. 66 Rödig (Fn. 59), S. 44. 67 S. o. III. 2. b). 68 Rödig (Fn. 59), S. 21. 69 Rödig (Fn. 59), S. 34 f., 38. 70 Rödig (Fn. 59), S. 24. 71 Rödig (Fn. 59), S. 26. 63

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cc) Dieses Resultat, so fordert Rödig, müsse Konsequenzen für die Methodenlehre, insbesondere für die Rechtsinterpretation haben: Wenn es logisch bzw. rechtstechnisch keinen Unterschied zwischen einer Einzelanordnung wie einem Verwaltungsakt, einem Richterspruch, einem Vertrag zwischen Privaten einerseits und einem Gesetz andererseits gebe, so müsse man auch die Dualität in der Methode der Interpretation aufgeben. Es stellt für ihn einen Widerspruch dar, dass Gesetze objektiv ausgelegt werden, wohingegen bei den Willenserklärungen Privater, die deren Rechtsgeschäfte konstituieren, der „wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften“ ist (§ 133 BGB), relativiert durch Rücksicht auf die Verkehrssitte (§ 157 BGB). Auch von einem Richterspruch, der zweifelsohne genauso auslegungsbedürftig ist wie alle anderen Rechtssetzungsformen auch – je länger er zurückliegt, desto mehr – fordert niemand, dass das Urteil klüger sein müsse als der Richter. Dies erscheint Rödig umso weniger einleuchtend, je mehr das Richterrecht den Charakter eines „materiellen Gesetzes“ annimmt, z. B. bei Rechtsfortbildung durch die Obergerichte.72 dd) Da jedoch der Charakter eines „materiellen Gesetzes“ selbst – dieses zu zeigen war schließlich Rödigs Ziel – sich einer logischen Festlegung verweigert, konstatiert er lakonisch, der Gesetzesbegriff leide unter „unglaublicher Begriffsverwirrung“73. Denn auch einer materialen Bestimmung der Allgemeinheit des Gesetzes, z. B. durch Verwirklichung eines Mindestmaßes an Gerechtigkeit, steht er skeptisch gegenüber.74 Folglich kommt Rödig zu einer formell-organisatorischen Definition des Gesetzesbegriffs: Gesetze sind danach die Regelungen, die vom Parlament ausgehen, der in einem demokratisch verfassten Staatswesen dafür zuständigen Institution.75 Die Regelungslast jedoch, so fährt Rödig fort, vermöge kein noch so leistungsfähiges Parlament heute alleine zu tragen. Daher müsse das Parlament eine Auswahl treffen, welche Materien ihm so wichtig erscheinen, dass es sie selbst per Gesetz regeln will.76 Nachgeordnete Fragen dürfe und müsse das Parlament aber an die Rechtsanwender delegieren.77 Im Umkehrschluss fordert Rödig von der Judikative, dass sie sich von den Wertungen des Gesetzgebers (stärker) leiten lassen solle, weil ihre demokratische Legitimation geringer als die des Gesetzgebers ist.78 Im Ergebnis läuft dies (wieder) auf eine verstärkte Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens bei der Auslegung hinaus. 72

Zum Ganzen Rödig (Fn. 59), S. 7. Rödig (Fn. 59), S. 8. 74 Rödig (Fn. 59), S. 38. 75 Rödig (Fn. 59), S. 42, 48. 76 Rödig (Fn. 59), S. 43. Die eigenen Kriterien des Parlaments werden unter dem Grundgesetz durch die Technik des Gesetzesvorbehalts und die Wesentlichkeitslehre ergänzt, merkt schon Baden (Fn. 40), S. 260 an. 77 Rödig (Fn. 31), S. 593; Freischmidt, Aspekte des Lückenproblems in der Gesetzgebungstheorie, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 421 (425 f.); Baden (Fn. 40), S. 24, dort auch Fn. 71. 78 Rödig (Fn. 59), S. 44. 73

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ee) Hiermit schließt sich der Kreis: Eine Abgrenzung der Kompetenzen von Gesetzgeber und Gesetzesanwender ist nicht trennscharf möglich – zumindest wäre eine solche Grenze, versuchte man sie zu ziehen, nicht identisch mit der Grenze zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung.79 Hieraus folgt für Rödig, dass die verschiedenen Dualismen, die an den vermeintlichen Allgemeinheitscharakter des Gesetzes anknüpfen, neu überdacht und revidiert werden müssen: Er nennt außer dem Dualismus in der Interpretation auch noch den Dualismus des Rechtsschutzes, z. B. im Verwaltungsrecht zwischen dem Normenkontrollverfahren, wo ein Individuum den Anstoß zu einem objektiven Beanstandungsverfahren gegen ein (nur) materielles Gesetz gibt, und der Anfechtungsklage, wo der subjektive Rechtsschutz des einzelnen gegen Verwaltungsakte, nicht aber gegen materielle Gesetze verwirklicht wird.80 Dies sind für Rödig Inkonsistenzen, die durch eine Eingliederung der Regelungsform „Gesetz“ in eine allgemeine juristische Regelungstheorie behoben werden könnten. 4. Konsequenzen Aus dem soeben skizzierten Ansatz leitet Rödig folgende Konsequenzen und Ideen ab: a) Was die Interpretation angeht, plädiert er dafür, wieder verstärkt Motive in den Gesetzestext aufzunehmen, die für die Interpretation des Rechtsanwenders verbindlich sein sollen: Er nennt solche Normen „kausale Rechtssätze“81. Auf diese Weise könne sichergestellt werden, dass die teleologische Auslegung auch wirklich das „telos“ des Gesetzgebers widerspiegelt und nicht das des Anwenders. Damit einher geht eine zweite Forderung, nämlich Gesetzesmaterialien, z. B. Gesetzesbegründungen oder Ausschussprotokolle, dem Rechtsanwender leichter zugänglich zu machen und ihn auch in deren Auswertung zu schulen.82 Mit dieser Rückbesinnung auf die Entstehungsgeschichte der Norm und den Willen des subjektiv-historischen Gesetzgebers als Ausgangspunkt der Interpretation geht aber auch die Forderung einher, die Befugnis der Richter zur Rechtsfortbildung anzuerkennen, damit das Recht seine Flexibilität behält. Dieses Zusammenspiel von subjektiv-historischer Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung nötige den Richtern ab offenzulegen, wo die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung verläuft – eine Grenze, die durch die objektive Auslegung allzu oft verwischt wird.83

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Noll (Fn. 15), S. 48. Rödig (Fn. 59), S. 6. 81 Rödig (Fn. 29), S. 12 und S. 30. 82 Rödig (Fn. 29), S. 12; Rödig, Alternative (Fn. 11), S. 282. Die letztere Konsequenz zieht Baden (Fn. 40), S. 94 f. 83 Explizit macht dies Baden, Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, S. 369 (383 und 390), in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976; außerdem Baden (Fn. 40), S. 203. 80

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b) Das Problem der Rechtsunkenntnis der Bevölkerung geht Rödig pragmatisch an: So forderte er neben Rechtsunterricht in Schulen, wofür er auch mit der Arbeit an einem Rechtslesebuch84 begann, dass Gesetze neben ihrer juristisch-fachsprachlichen Fassung ggf. in weiteren, dem juristischen Laien leichter zugänglichen Fassungen erscheinen müssten. Rechtlich maßgeblich solle aber – dieses Zugeständnis zu machen ist Rödig gezwungen – die juristisch präzisere Fassung sein.85 c) Wie schon angesprochen, hegte Rödig große Erwartungen im Hinblick auf den Einsatz von EDV für die Gesetzgebung. Aus diesem Grunde arbeitete er über mehrere Jahre hinweg mit der GMD zusammen, insbesondere mit deren Institut für Datenverarbeitung im Rechtswesen und dem dort angesiedelten Informatikkolleg, wo er regelmäßig Sommerseminare abhielt. Aus dieser Zusammenarbeit heraus entstanden Ideen, wie Gesetze mithilfe von computergestützten Anwendungen nicht nur auf Widersprüche, sondern auch auf Lücken hin überprüft werden könnten.86 IV. Rezeption 1. Das erste Jahrzehnt nach Rödigs Tod Mit Rödigs Tod am 13. November 1975 fanden seine Arbeiten zur Gesetzgebungstheorie ein jähes Ende. Dieser frühe und tragische Tod scheint, wie kaum anders zu erwarten, ein Schock für die mit Rödig bekannte Rechtswissenschaftswelt gewesen zu sein: Es erschienen Nachrufe von Klaus Adomeit und Thomas Raiser,87 und im Jahr 1978 erschien eine von Ulrich Klug, Thilo Ramm, Fritz Rittner und Burkhard Schmiedel herausgegebene Gedächtnisschrift. In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeber, es sei ihnen bewusst, „daß es ungewöhnlich ist, durch eine Gedächtnisschrift einen Wissenschaftler zu ehren, der so jung gestorben ist. Wir hielten es gleichwohl nicht für unangemessen: Jürgen Rödig war trotz seiner Jugend ein so ungewöhnlicher Gelehrter, und sein wissenschaftliches Werk ist in seiner denkerischen Kraft und seiner umfassend von neuen Ansätzen geprägten Originalität so außerordentlich, daß wir meinten, eine Gedächtnisschrift käme diesem Manne zu.“88 Auch der andere – und wohl bekanntere – Pionier der Gesetzgebungstheorie in den 70er Jahren, Peter Noll, wirkte an dieser Gedächtnisschrift mit. Die Rezeption Rödigs scheint in der zweiten Hälfte der 70er und Anfang der 80er Jahre durch seinen plötzlichen Tod beinahe befördert worden zu sein. Denn außer der 84 Rödig, Analytische Rechtslehre (Fn. 63). Zu deren Entstehung und Konzeption s. dort das Vorwort von Kindermann. 85 Rödig (Fn. 29), S. 14. 86 Freischmidt (Fn. 77), S. 426. Zu dieser „kombinatorischen Methode“ als Hilfe für künftige Gesetzgebung Noll (Fn. 15), S. 113 ff. 87 Adomeit, Positivismus, Gesetzgebung und Methodenlehre. Zum Gedenken an Jürgen Rödig, JZ 1978, 1 – 3; Raiser (Fn. 9), S. 493 f. 88 Klug/Ramm/Rittner/Schmiedel, Vorwort in: Gedächtnisschrift Rödig, 1978.

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Gedächtnisschrift und den genannten Nachrufen erschienen posthum Rezensionen der „Vorstudien“,89 der „Studien“,90 der Gedächtnisschrift91 sowie der „Schriften zur Juristischen Logik“,92 des Weiteren im Jahre 1977 die Dissertation von Rödigs Assistenten Eberhard Baden („Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß“93), in welcher dieser zentrale Positionen Rödigs aufgreift und weiterentwickelt, insbesondere in Bezug auf die Frage der Auslegungsmethode von Gesetzen und der Bedeutung von Gesetzesmaterialien in diesem Kontext. Auch durch seinen ehemaligen Mitarbeiter Harald Kindermann lebten Rödigs Gedanken zur Gesetzgebungstheorie fort, z. B. in der Schrift „Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik“.94 Anfang der 80er Jahre war es das in Salzburg abgehaltene Gedächtnissymposion „Rationalisierung der Gesetzgebung“ und der 1984 dazu erschienene Sammelband, der der Rödig-Rezeption noch einmal Aufwind brachte.95 Im Jahr 1986 erfolgte die posthume Veröffentlichung der unvollendet gebliebenen „Analytischen Rechtslehre“ durch Kindermann.96 2. Inhaltliche Rezeption und deren Hindernisse Ungefähr anderthalb Jahrzehnte nach Rödigs Tod ist ein gewisses Abflauen der Rezeption seiner Gesetzgebungstheorie zu beobachten. Worauf dieses „Weniger“ an Rezeption ab dem Ende der 80er Jahre zurückzuführen ist, kann nicht ohne ein gewisses Quantum an Spekulation beantwortet werden. Einige Aspekte liegen allerdings nahe: a) Ironischerweise ist es Rödigs bedeutendstes Vermächtnis, nämlich sein logisch-mathematischer Ansatz, der einer breiten und länger anhaltenden Rezeption entgegengestanden zu haben scheint. Zwar fand seine Forderung nach computerunterstützten Planspielen und Simulationen von Gesetzesentwürfen Beifall unter nachfolgenden Wissenschaftlern.97 Jedoch konstatiert Carl-Eugen Eberle im Jahr 1986: 89

Gallwas, Rödig, Jürgen; Baden, Eberhard; Kindermann, Harald: Vorstudien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Besprechung, AöR 1977, 137 – 139. 90 Frohn, Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, ZRP 1977, 286 f.; Uhlig, Besprechung der Schrift: „Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung“, DVR 6 (1977), 192 – 194. 91 Adomeit, Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig, AcP 179 (1979), 394 – 398; Rüßmann, Besprechung der Schrift: „Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht, Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig“, NJW 1979, 971. 92 Schlink, Schriften zur juristischen Logik, NJW 1981, 161. 93 Baden (Fn. 40). 94 Kindermann, Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik, 1979, s. dort insb. Fn. 17. 95 Hiervon legen ebenfalls Rezensionen und Tagungsberichte Zeugnis ab: Stolzlechner, Rationalisierung der Gesetzgebung, DÖV 1983, 25 – 28; Kölble, Zum Stand der Gesetzgebungstheorie, Die Verwaltung 18 (1985), 389 – 396. 96 Rödig/Kindermann (Fn. 63). 97 Eberle, Gesetzgebung und ADV – Beiträge der Rechts- und Verwaltungsinformatik, in: Schreckenberger/König/Zeh (Hrsg.), Gesetzgebungslehre. Grundlagen – Zwänge – Anwen-

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„Aus Sicht der Gesetzgebungslehre könnten diese formalwissenschaftlichen Ansätze vor allem die Konsistenz und Vollständigkeit der gesetzlichen Regelungswerke erhöhen. Indessen blieb ihre praktische Relevanz, soweit ersichtlich, gering. Dies mag daran liegen, daß die Anwendung dieser Verfahren meist sehr aufwendig ist und darüber hinaus Spezialkenntnisse voraussetzt, die bei dem mit der Gesetzesplanung betrauten Personenkreis in der Regel fehlen.“98 Man möchte ergänzen: Die entsprechenden Informatik- und Logikkenntnisse fehlen wohl generell bei der überwiegenden Mehrzahl der Juristen. Paradigmatisch hierfür ist folgendes Eingeständnis Wolfgang Grunskys in seiner Rezension der „Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens“: „Eine Zeitschriftenredaktion, die Wert darauf legt, dass Bücher nur von wirklich kompetenten Rezensenten besprochen werden, sollte Rödigs Kölner Habilitationsschrift über die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens besser gar nicht erst zur Besprechung annehmen. Es dürfte viel Mühe erfordern, jemanden zu finden, der in allen vom Verfasser behandelten Themen so zu Hause ist, daß er sich ein Urteil zutrauen könnte.“99 So stellen sich hohe Hürden schon für die passive, aber umso mehr für die aktive Rezeption Rödig’scher Ideen. Dessen Werke kann nur mit Gewinn lesen, wer die entsprechenden Kenntnisse besitzt oder willens ist, sich wenigstens in Grundlagen der Logik einzuarbeiten. So kommt es, dass das Werk des „Frühvollendeten“ Rödig nicht einfach von anderen „vollendet“ oder sogar „perfektioniert“ werden konnte. b) Was Rödigs dezidiertes Eintreten für eine subjektiv-historische Auslegung und die damit verbundene Forderung nach kausalen Rechtssätzen angeht, die dem Rechtsanwender eine solche Auslegung erleichtern, so hat sich zwar auf den ersten Blick in den letzten vierzig Jahren wenig geändert. Dies zeigt ein Blick auf die Beschlüsse des 65. Deutschen Juristentages (2004): Dort wurde gefordert, der Gesetzgeber möge seine „Sprachgewalt“ ganz auf die eigentlichen Sachregelungen beschränken und, überspitzt formuliert, seine Energie nicht auf Motivbekundungen verschwenden.100 Eine Abstimmung von Gesetzgebung und Interpretation, wie sie Rödig vorschwebte, scheint auf diesem Wege nur schwer möglich. Jedoch hält die Debatte über die Art und Weise der Auslegung an, insbesondere angeregt durch Erkenntnisse der juristischen Hermeneutik. In diesem Zusammenhang findet die subjektiv-historische Auslegung weiterhin Unterstützer,101 auch wenn der große Bogen zur Gesetzgebungstheorie nicht mehr geschlagen wird. dung, 1986, S. 121 (123); Karpen, Gesetzgebungslehre – neu evaluiert, 2. Auflage 2008, S. 26 und 38. 98 Eberle (Fn. 97), S. 122. 99 Grunsky, Zur Bedeutung der Logik für das Verständnis des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, JZ 1974, 750. 100 Beschlüsse des 65. DJT (Fn. 43), S. 40. 101 Verwiesen sei nur auf Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 8. Auflage 2015, insb. § 22; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze: Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, 1988; auch Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: Depenheuer/ Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 505 – 534.

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c) Rödigs Bestrebungen, den Dualismus zwischen abstrakt-genereller und individueller Rechtssetzung aufzugeben und in eine umfassende juristische Regelungstheorie einmünden zu lassen, sind von nachfolgenden Juristengenerationen nicht mehr weiterverfolgt worden. Inhaltlich lässt sich nur im Ansatz eine Verbindungslinie zur „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ und deren Hinwendung zur Verwaltung als Akteur nicht nur der Rechtsanwendung, sondern auch der Rechtserzeugung ziehen.102 Die Spannung zwischen der unterschiedlichen Interpretation von Urteilen und Gesetzen harrt indes noch ihrer genaueren Analyse.103 d) Ist Rödigs Gesetzgebungstheorie eine gute Theorie? Im „Oxford Companion to Philosophy“ heißt es folgendermaßen: „A scientific theory is an attempt to bind together in a systematic fashion the knowledge one has of some particular aspect […]. The aim is to achieve some understanding, […] explanatory power and predictive fertility.“104 Eine Theorie sollte also systematische Geschlossenheit und Bündelung vorhandenen Wissens erreichen, Verständnis der jeweiligen Materie vermitteln und zudem Zukunftsvoraussagen ermöglichen, indem die Wirklichkeit erklärt wird. Das Merkmal „systematische Geschlossenheit“ erreicht Rödigs Gesetzgebungstheorie wohl aufgrund ihrer fragmentarischen Natur nicht. Das dritte Merkmal ist eines, welches wegen der unterschiedlichen Struktur von Natur- und Sollensgesetzen gar nicht auf letztere angewendet werden kann: Denn ein Sollenssatz ist nicht durch seine Befolgung verifizierbar oder durch seine Nichtbefolgung falsifizierbar.105 Nichtsdestoweniger strebte Rödig für seine Theorien an, dass sie sich an der Praxis messen lassen und, sollten sie sich nicht bewähren, als „falsifiziert“ gelten müssten.106 Es kam ihm auf eine enge Rückbindung mit der Praxis an, wovon auch der hohe Praktikeranteil auf den von ihm initiierten Tagungen zeugt – ein Phänomen, das sich auch beim Rödig-Gedächtnissymposion in Salzburg beobachten lässt. Rödig hegte zudem die Absicht, zu einem aktuellen rechtspolitischen Thema einen Gesetzesentwurf zu erstellen, der seiner Theorie entsprechen sollte, um damit deren praktischen Wert zu demonstrieren.107 Dieses Vorhaben konnte er nicht mehr in die Tat umsetzen.

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Vgl. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Auflage 2012, Bd. 1, § 1, Rn. 15. Dort wird i.Ü. in Fn. 106 auf Rödigs Beitrag zur Entwicklung des Faches „Gesetzgebungslehre“ verwiesen. 103 Dass die Relevanz dieser Frage auch vom positiven Recht herrührt, zeigt sich z. B. an § 31 Abs. 2 BVerfGG. 104 Ruse, Theory, in: Honderich (Hrsg.), The Oxford Companion to Philosophy, 1995, S. 870. 105 Rödig (Fn. 59), S. 12; Weinberger (Fn. 7), S. 77. 106 Rödig, Zur Problematik des Verbrechensaufbaus, in: FS Richard Lange, 1976, S. 39. 107 Rödig (Fn. 63), S. 9 f.

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V. „Konklusion“ Rödigs Gesetzgebungstheorie, wiewohl fragmentarisch geblieben, ist auch heute noch von Interesse; viele Aspekte werden immer noch kontrovers diskutiert oder sind noch gar nicht näher untersucht worden. Dass Rödigs Gedanken heute immer noch instruktiv sind, wenn auch inhaltlich wegen der erläuterten Verständnisbarrieren nicht leicht zugänglich, liegt sicherlich einmal daran, dass sein Ansatz tatsächlich eine Innovation auf dem Gebiet der Gesetzgebungstheorie darstellte. Allerdings – und dies hätte ihn sicher nicht gefreut – liegt es auch daran, dass es nach ungefähr anderthalb gedanklich sehr fruchtbaren Jahrzehnten in den 70er und 80er Jahren vielleicht nicht zu einem kompletten Stillstand, wohl aber zu einem retardierenden Moment in der Entwicklung der Gesetzgebungstheorie kam. In seiner Rezension einer aktuellen Dissertation über Gesetzgebung108 schreibt Helmuth Schulze-Fielitz, von Rödig seien in den 70er Jahren „wichtige Impulse zur Gesetzgebungslehre [ausgegangen], die aber heute wissenschaftlich weithin versandet sind“109. Dass der Verfasser der besprochenen Dissertation dennoch auf Rödigs Ansätze habe zurückgreifen müssen, spiegele das „Dilemma der Gesetzgebungslehre in Deutschland“ und deren nicht zufriedenstellenden Entwicklungsstand wider.110 Was bleibt also als Konklusion? Jürgen Rödig war einer der Pioniere der modernen Gesetzgebungswissenschaft und hat dieser einige innovative Anstöße beschert. Diese wurden in den 70er Jahren und zu Beginn der 80er Jahre positiv rezipiert. Dass dies in einer Blütezeit der Kybernetik111 geschah, dürfte der Rezeption Rödigs zugutegekommen sein. Zu hoffen ist, dass die Ansätze Rödigs von zukünftigen Wissenschaftlergenerationen mit kritisch-konstruktivem Interesse wiederaufgegriffen werden und sich schließlich eine akademische Kultur der Gesetzgebungstheorie entwickelt, die auch in einem produktiven Dialog mit der Praxis steht. Dann könnte man schließlich im Sinne Rödigs, Lewins und Kants mit Recht von ihr behaupten: Es ist nichts praktischer als eine gute Theorie.

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Schärdel, Die Bücherkodifikation. Untersuchung einer Gesetzgebungstechnik, 2012. Schulze-Fielitz, Vom Dilemma der Gesetzgebungslehre in Deutschland, RW 4/2012, 489 (493). 110 Schulze-Fielitz (Fn. 109), 492. 111 Hierzu vgl. in diesem Band Lorenzmeier, Dieter Suhr – „Repräsentation von Menschen in und durch Menschen“, S. 65 – 79. 109

Jochen Schröder – interessengerechte Lösungen im internationalen Recht Von Christoph A. Kern I. Einleitung „[Z]ur Zeit ist der Ertrag völkerrechtlicher Sätze über die internationale Zuständigkeit im Zivilprozeß wie in der freiwilligen Gerichtsbarkeit gleich Null.“1 Wer als Referent auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht zu diesem scharfen Schluss kommt, beweist – auch wenn er nicht dem engeren Kreis der Völkerrechtslehrer angehört, sondern als Lehrer des Internationalen Privatrechts eher Internationalrechtler im weiteren Sinne ist –, durchaus Mut, Meinungsstärke und gedankliche Unabhängigkeit. Ebendiese Eigenschaften sind es, die man immer wieder zu erkennen glaubt, wenn man heute, mehr als 25 Jahre nach seinem frühen Tod im Alter von 53 Jahren, die Schriften Jochen Schröders zur Hand nimmt. Anlass hierzu bot das Symposium „Frühvollendet – Unvergessen“. Dessen Untertitel „Frühvollendete der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts und die rechtswissenschaftliche Rezeption“ wirft allerdings die Frage auf, warum mit Jochen Schröder ein Privat- und Prozessrechtler überhaupt in diesen Kreis aufgenommen wurde und warum die Wahl gerade auf ihn fiel. Diese Frage ist umso berechtigter, als der Verfasser dieses Beitrags Jochen Schröder nicht persönlich kannte und über die gemeinsamen fachlichen Interessen hinaus Verbindungslinien nicht auf der Hand liegen. Die Antworten werden denn auch den kritischen Leser nicht voll befriedigen: Wichtigste Verbindung ist nicht eine besondere wissenschaftliche Nähe zwischen Jochen Schröder und den anderen frühvollendeten und unvergessenen Persönlichkeiten, die Gegenstand des Symposiums waren, auch nicht eine persönliche Verbindung zwischen Jochen Schröder und dem Verfasser, sondern in erster Linie die Verbindung zwischen dem Verfasser und den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Symposiums, die ihrerseits teilweise auf der gemeinsamen Zeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg beruht, teilweise aber auch nur mittelbar, nämlich über den Veranstalter und spiritus rector des ganzen Projekts, besteht. Dem wohlwollenden Leser mag aber vielleicht als sachliche Rechtfertigung für die Aufnahme dieses Texts genügen, dass er Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Leben und Wirken der behandelten Persönlichkeiten, aber auch in der Herangehensweise der Verfasser 1 Schröder, Die Frage der internationalen Zuständigkeit im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in: Verhandlungen der 11. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in Innsbruck vom 1. bis 4. Mai 1969, 1971, S. 133, 134.

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der verschiedenen Beiträge erkennen lässt, die vielleicht bis zu einem gewissen Grad exemplarisch für die in Deutschland wichtige Unterscheidung von Öffentlichem Recht und Privatrecht2 und ihren jeweiligen Wissenschaftstraditionen sind. Ohne den eigenen Beobachtungen des Lesers vorgreifen zu wollen, glaubt der Verfasser, dass die Vertreterinnen und Vertreter des Öffentlichen Rechts der einzelnen Persönlichkeit weit größere Bedeutung zumessen, als dies im Privatrecht üblich ist. „Akademische Stammbäume“3, wie man sie auf farbigen Postern an den Wänden staatsrechtlicher Lehrstühle findet, erstaunen den Privatrechtler, der natürlich eine gewisse Prägung durch den akademischen Lehrer nicht abstreitet, ihr aber doch allenfalls auf begrenzten Gebieten bestimmenden Einfluss zumessen würde. Dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihnen mehr oder weniger vertrauten „Frühvollendeten“ des Privatrechts befassen, wäre sehr ungewöhnlich; die von Stefan Grundmann und Karl Riesenhuber initiierte und in bislang zwei Bänden dokumentierte Ringvorlesung „Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in den Berichten ihrer Schüler“ lässt gereifte Persönlichkeiten zu Wort kommen und wird mit den Worten beworben, „[d]ie Ideengeschichte der deutschsprachigen Zivilrechtswissenschaften hat nicht wirklich Konjunktur“4. Wenn es aber zutrifft, dass Öffentliches Recht und Privatrecht in Deutschland einen anderen Umgang mit Namen und den dahinter stehenden Persönlichkeiten pflegen, lässt sich trefflich über die Ursachen und Hintergründe streiten. Erklärt sich der Unterschied daraus, dass das Öffentliche Recht die „wirklich wichtigen Grundfragen“ behandelt und dem Privatrecht nur innerhalb seiner Rahmung mehr technische Regelungen erlaubt, wie es einer der anderen Beiträge des Symposiums5 angedeutet? Erklärt sich der Unterschied aus der größeren Nähe des Öffentlichen Rechts zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, die – wie die allgemeine Philosophie – seit jeher einen ausgeprägteren Persönlichkeitskult pflegen? Ist eine Heraushebung einzelner Persönlichkeiten im Privatrecht schwerer, weil seine vertiefte wissenschaftliche Bearbeitung eine deutlich längere Tradition hat? Oder sind die Privatrechtler zurückhaltender, bescheidener, weil sie bereits erkannt haben, dass man trotz aller Veränderung der Lebenswirklichkeit kaum noch grundlegende rechtliche Gestaltungen entwickeln kann, die – sofern sie funktions- und konsensfähig sind – nicht schon irgendwann von anderen gedacht oder praktiziert wurden6? All dies kann hier nicht vertieft werden, soll dem Leser aber mitgegeben sein, falls er sich 2

Vgl. nur Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, passim; J.-P. Schneider, The Public-Private Law Divide in Germany, in: Ruffert (Hrsg.), The Public-Private Law Divide: Potential for Transformation?, 2009, S. 85 ff. 3 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S. 453 ff. 4 Grundmann/Riesenhuber, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in den Berichten ihrer Schüler. Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. 1, 2007, S. 3. 5 Hochhuth, Juristen und Geographen, Manuskript März 2014, Zweites Kapitel sub a. 6 Dazu etwa Jayme, Internationales Privatrecht und Völkerrecht. Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2003, S. V.

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aus Anlass des folgenden Texts allgemeine Gedanken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Beiträge und der verschiedenen Disziplinen machen möchte. II. Wissenschaftliches Werk Jochen Schröder, geboren 1933, war einer der fünf Schüler Gerhard Kegels, seines Zeichens eine der prägenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts7. Jochen Schröders Dissertation von 19588, mit der sich in jüngerer Zeit etwa Gerhard Dannemann in seiner Habilitationsschrift von 2002 näher auseinandergesetzt hat9, behandelt das international-privatrechtliche Institut der „Anpassung“, auch „Angleichung“ genannt. Dieses Institut kommt hauptsächlich dann zur Anwendung, wenn die abstrakten Verweisungsregeln des Internationalen Privatrechts einen einheitlichen Lebenssachverhalt mehr als einer Rechtsordnung unterwerfen, wegen unterschiedlicher Ansätze in den berufenen Rechtsordnungen das materiellrechtliche Ergebnis aber nicht zu überzeugen vermag, sondern einer Korrektur bedarf. Bekanntes Beispiel sind die vermögensrechtlichen Folgen des Todes eines Ehegatten10: Das deutsche Internationale Privatrecht verwies traditionellerweise für das Erbrecht auf das Heimatrecht des Erblassers11, für das Güterrecht bei Ehegatten verschiedener Staatsangehörigkeit auf das Recht des Staates, in dem die Ehegatten ihren letzten gemeinsamen Aufenthalt hatten, wenn der überlebende Ehegatte dort noch seinen Aufenthalt hat und keine Rechtswahl getroffen wurde12. War der verstorbene Ehegatte Deutscher, so erbt unter der traditionellen Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit der andere Teil nach deutschem Erbrecht gem. § 1931 BGB neben den Kindern ein Viertel. Ein weiteres Viertel würde er bei deutschem gesetzlichem Güterstand

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Zu Kegel statt aller Mansel, Gerhard Kegel †, NJW 2006, 1109, 1110. Schröder, Die Anpassung von Kollisions- und Sachnormen; 1961 im Druck erschienen bei Walter de Gruyter, Berlin. 9 Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung, 2004, S. 255 ff., 343 f. und öfter. 10 Statt aller von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Auflage 2007, § 6 Rn. 32 (S. 231). 11 Art. 25 Abs. 1 EGBGB a.F. Kritisch zur nunmehr geltenden Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Todeszeitpunkt gem. Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. EU Nr. L 201 vom 27. Juli 2012, S. 107 ff.; im Folgenden EuErbVO) Kern/Glücker, Das neue Europäische Erbstatut und seine Aufnahme in der deutschen Literatur, RabelsZ 78 (2014), 294 ff. 12 Art. 15 Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB. 8

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über den pauschalierten Zugewinnausgleich nach § 1371 Abs. 1 BGB erhalten13. Nehmen wir nun an, dass der andere Ehegatte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und die Ehegatten bei der Eheschließung ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Land hatten, das keinen güterrechtlichen Ausgleich bei Beendigung der Ehe vorsieht, so käme mangels deutschen Güterrechtsstatuts § 1371 Abs. 1 BGB nicht zur Anwendung; da das Aufenthaltsrecht keinen güterrechtlichen Ausgleich kennt, bliebe es an sich bei dem von § 1931 BGB gewährten Viertel. Das Aufenthaltsrecht möge nun aber seinerseits ebenfalls den Ehegatten besonders begünstigen, nur eben nicht im Wege des Güterrechts, sondern des Erbrechts, etwa durch ein Erbrecht des Ehegatten in Höhe von 1/3. Diese Begünstigung würde in unserem Fall ebenso wie diejenige des § 1371 Abs. 1 BGB unberücksichtigt bleiben, der Ehegatte also mit 1/4 weniger erhalten, als er nach jeder der beteiligten Rechtsordnungen erhalten würde, wären diese allein auf den gesamten Sachverhalt anwendbar. Dieses Ergebnis – ein durch die kollisionsrechtliche Aufspaltung bedingter „Normenmangel“ – erscheint korrekturbedürftig. Man kann daran denken, dem überlebenden Ehegatten mindestens das zukommen zu lassen, was er nach beiden Rechtsordnungen erhielte14, hier mithin 1/3; man kann ihn bestmöglich versorgen wollen15, sodass er im Beispiel zur Hälfte erben würde, oder gar ihm einen zwischen den Gesamtlösungen der beiden Rechte liegenden Anteil zusprechen16, was im Beispiel bei genauer Mittelung eine wertmäßige Beteiligung von 5/12 bedeutete. Jochen Schröder unterteilt in seiner Dissertation die Fälle der Anpassung in zwei Gruppen; für den hier vorliegenden Fall einer von ihm so genannten Konklusionsanpassung des Falltyps „Überkreuzfälle“ mit der Folge eines „Anspruchsschwunds“ würde er eine Lösung suchen, die „weder dem Berechtigten etwas nimmt, was ihm je eine Rechtsordnung für sich allein schon geben würde, noch ihm etwas zugesteht, was er auf Grund der Vorschriften nur einer Rechtsordnung nicht erhielte“17; der Ehegatte erbte also zu einem Drittel.

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§ 1371 BGB wird von der h.M. güterrechtlich qualifiziert; dazu aus der Rechtsprechung BGHZ 205, 290 Rn. 24 ff.; aus der Literatur etwa Siehr, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 10, 6. Auflage 2015, Art. 15 EGBGB Rn. 104 ff.; von Hippel, Ausgleich des Zugewinns (§ 1371 BGB) in Fällen mit Auslandsberührung, RabelsZ 32 (1968), 348 ff. 14 So z. B. Raape/Sturm, Internationales Privatrecht, Bd. I: Allgemeine Lehren, 1977, S. 261; Mankowski, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2011, Art. 15 EGBGB Rn. 378: s.a. LG Mosbach, ZEV 1998, 489, 490. 15 In diesem Sinne Siehr (Fn. 13), Art. 15 EGBGB Rn. 108. 16 So v. a. von Overbeck, Les règles de droit international privé matériel, Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht 9 (1962), 362, 368 f. (Mélanges Kollewijn/Offerhaus); zu den Schwierigkeiten Müller-Freienfels, Zur kollisionsrechtlichen Abgrenzung von Ehegüterrecht und Erbrecht, in: Deutscher Rat für Internationales Privatrecht, Erbrechtskommission (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen internationalen Erbrechts, 1969, S. 42, 47. 17 Schröder (Fn. 8), S. 115 f.

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Der kurze Beispielsfall darf nicht den Eindruck erwecken, diese Arbeit sei von Technizität geprägte18, reinste Begriffsjurisprudenz19. Ganz im Gegenteil verbindet die Arbeit klassische international-privatrechtliche Dogmatik mit Beispielsfällen aus verschiedensten Rechtsordnungen, anhand derer die Ergebnisse abgesichert werden sollen, und berücksichtigt auch die seinerzeit ganz aktuellen „revolutionären“ Strömungen im Internationalen Privatrecht der U.S.-amerikanischen Literatur20. Voll auf dieser Schiene liegt dann auch die Habilitationsschrift von 1966/67 mit dem Titel „Internationale Zuständigkeit: Entwurf eines Systems von Zuständigkeitsinteressen im zwischenstaatlichen Privatverfahrensrecht aufgrund rechtshistorischer, rechtsvergleichender und rechtspolitischer Betrachtungen“21. Wenn wir hier schon im Titel von rechtspolitischen Betrachtungen lesen, bestätigt sich unser Eindruck einer Persönlichkeit, die Freude an der wertenden Stellungnahme findet. Und in der Tat zeichnet sich diese Schrift ganz im Gefolge Gerhard Kegels22 durch die starke Betonung von Interessen aus, denen mehr Gewicht zuzumessen sei als stringenter Logik23. Bemerkenswert ist neben der für den Spezialisten spannenden Theorie von der zuständigkeitsrechtlichen Rückverweisung24 auch die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Staaten und ihrer Gerichte, die sich auch später immer wieder findet25, heute innerhalb der EU zu einem starren Dogma geworden ist26, seinerzeit aber durchaus Aufsehen erregte, notierte doch der kritische Rezensent Paul Hein18

Zur Technizität des Internationalen Privatrechts Ancel, Histoire du Droit international privé, 2008, S. 11 – 13 (Online-Ressource). 19 Vgl. Mummenhoff, in: In Memoriam Jochen Schröder. Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn 71, 1989, S. 17, 21. 20 Schröder (Fn. 8), S. 48 – 50. 21 Erschienen 1971 im Westdeutschen Verlag, Opladen, in der Reihe Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften als Bd. 47; unveränderter Nachdruck 1988. 22 Verwiesen sei nur auf § 2 des berühmten „Kurz-Lehrbuchs“ Internationales Privatrecht, in der letzten von Kegel allein besorgten 7. Auflage 1995, S. 104 – 124, nunmehr Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Auflage 2004, S. 131 – 161. 23 Das Werk gliedert sich in drei Teile, die alle bestimmte Interessen in der Überschrift tragen: Parteiinteressen (S. 112 ff.), Gerichtsinteressen (S. 487 ff.), Ordnungsinteressen (S. 616 ff.). 24 Schröder (Fn. 21), S. 789 ff., 817 ff.; weiter auch ders. (Fn. 1), S. 194 und Schlusswort, a.a.O., S. 275 f. 25 Z.B. Schröder (Fn. 1), S. 153 f. (Kritik an der Ablehnung jeder Bindung an ausländische Sorgerechtsentscheidungen durch Brainerd Currie: „Das heißt wahrlich, nationales Ressentiment preisen, wo rationale Disziplin angebracht wäre.“); ders., Einlassung vor ausländischen Gerichten als Anerkennungsgrund im deutschen Recht, NJW 1980, 473 (rechtspolitisches Motiv des Spiegelbildprinzips sei nicht „Wie Du mir, so ich Dir“, sondern „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“). 26 Vgl. die Kritik bei Hartley, The European Union and the Systematic Dismanteling of the Common Law of Conflict of Laws, 54 ICLQ 813, 820, 822 f., 827 (2005); Stürner, The Principles of Transnational Civil Procedure. An Introduction to Their Basic Conceptions, RabelsZ 69 (2005), 201, 218; anders die U.S.A., vgl. Stürner, Markt und Wettbewerb über alles?, 2007, S. 46 – 48.

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rich Neuhaus das „sympathische Bestreben, dem Ausland die gleichen Rechte einzuräumen wie den inländischen Interessen“27. Jochen Schröder, der noch im Jahr seiner Habilitation auf einen Lehrstuhl für bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, internationales und ausländisches Privat- und Privatverfahrensrecht in der westdeutschen Hochburg des Staats- und Völkerrechts Bonn berufen wurde und dort bei den Studierenden überaus beliebt war28, publizierte in der Folge auf den Gebieten des Internationalen Privat- und Prozessrechts29, der Privatrechtsvergleichung30, aber auch des allgemeinen Bürgerlichen Rechts31, des Zivilprozessrechts32 und des Arbeitsrechts33. Manche nationalrechtliche Publikation

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Neuhaus, RabelsZ 37 (1973), 814, 815. Peter/Kurth, NJW 1988, 612; Baron von Maydell, in: In Memoriam Jochen Schröder (Fn. 19), S. 7 f.; Hauberichs, ebd., S. 14 – 16. 29 Z.B. Schröder, Die Vorschläge des Deutschen Rats zur internationalen Zuständigkeit und zur Anerkennung ausländischer Entscheidungen (Überprüfung und Zusammenfassung nach dem Stande vom 1. 1. 1978), in: Günther Beitzke (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen internationalen Personen-, Familien- und Erbrechts, 1981, S. 226 ff.; ders. Internationales Privatrecht der Wirtschaftsbeziehungen, 1981; ders., Internationales Familien- und Erbrecht, 1984; ders., Internationales Vertragsrecht. Das Kollisionsrecht der internationalen Wirtschaftsverträge, 1. Auflage 1984 (fortgeführt von Christian Wenner, 2. Auflage 1998, 3. Auflage 2013); ders., Zur Anziehungskraft der Grundstücksbelegenheit im internationalen Privatrecht und Verfahrensrecht, IPRax 1985, 145 ff.; ders., Vom Sinn der Verweisung im internationalen Schuldvertragsrecht, IPRax 1987, 90 ff.; ders., Ein amerikanisches Horn mit deutschen Tönen – Missverständnis einer „direkten extraterritorialen Beweisaufnahme“, JZ 1987, 605 ff. mit recht aggressiver Kritik an Stürner, Anm. zu BGH, Urt. v. 9. 4. 1986 – IVb ZR 27/85, JZ 1987, 42, 44 – 46; dazu wiederum das Schlusswort von Stürner, Die prozessuale Untersuchungspflicht (§ 372a ZPO) der Partei im Ausland – Unnötige Missklänge um ein reizvolles Thema, JZ 1987, 607 – 611; Schröder, Nach Damaskus – kein Traumspiel, IPRax 1988, 144 ff. 30 Z.B. Schröder, Kauf und Übereignung im neuen Zivilgesetzbuch der DDR, in: Habscheid u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Bosch zum 65. Geburtstag, 1976, S. 875 ff. (mit bei Rechtsvergleichern häufig anzutreffender Ablehnung des Abstraktionsprinzips [S. 888 ff.], dazu kritisch Kern, Abschied vom dinglichen Vertrag?, in: Bruns u. a. [Hrsg.], Festschrift für Rolf Stürner zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, S. 161, 169 f.); ders., Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung beim Kunsthandel nach deutschem und Schweizer Recht, in: Lüderitz/ Schröder (Hrsg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung im Ausgang des 20. Jahrhunderts – Bewahrung oder Wandel?, Festschrift für Gerhard Kegel, 1977, S. 397 ff. 31 Schröder, Unredliche Prozessführung und Schadenersatz, JZ 1965, 310 f.; ders., Die wasserrechtliche Gefährdungshaftung nach § 22 WHG in ihren bürgerlichrechtlichen Bezügen, BB 1976, 63; ders., Wasserrechtliche Gefährdungshaftung für „independant [sic] contractors“, in: Flume u. a. (Hrsg.), Internationales Recht und Wirtschaftsordnung. Festschrift für F.A. Mann zum 70. Geburtstag, 1977, S. 87 ff.; ders., Gesamtschuldnerisch verpflichtende Ursachenzusammenhänge bei der Gefährdungshaftung nach § 22 WHG, ZfW 1984, 257 ff. 32 Schröder, Schiedsvertragskündigung und Zulässigkeitsrüge – Zur Auslegung der §§ 282, 296, 528, 529 ZPO –, ZZP 91 (1978), 302 ff.; ders., Widerklage gegen Dritte?, AcP 164 (1964), 517 ff. 33 Schröder, Mängel und Heilung der Wählbarkeit bei Aufsichtsrats- und Betriebsratswahlen, 1979. 28

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könnte von seiner Tätigkeit als Richter am OLG Köln34 inspiriert gewesen sein35; sein wissenschaftliches Interesse galt wohl aber primär dem internationalen und ausländischen Recht. So wandte er sich etwa – dieser Ausflug ins materielle Privatrecht sei erlaubt – in seinem Beitrag zur ersten Festschrift für Gerhard Kegel 1977 gegen die auch heute noch immer h.M. in Deutschland, nach der das Sachmangelgewährleistungsrecht die Irrtumsanfechtung ausschließe36, und stützte sich dabei auf einen eingehenden Vergleich mit dem Schweizer Recht37. Auch sonst zog er gerne das Recht der Schweiz heran, nicht zuletzt in seinem eingangs genannten Vortrag38. Es ist dieser – aus einem Kapitel der Habilitationsschrift hervorgegangene – Vortrag mit seiner skeptischen Haltung zum Völkerrecht, der für die nähere Betrachtung im Kreise von Wissenschaftlern des Öffentlichen Rechts besonders interessant scheint. III. Internationale Zuständigkeit und Völkerrecht im letzten halben Jahrhundert 1. Die Internationalität von Internationalem Privatrecht und Internationalem Prozessrecht Internationales Privatrecht und Internationales Zivilprozessrecht tragen die Internationalität nur dann zu Recht im Titel, wenn sie die Existenz anderer Staaten in irgendeiner Form rechtlich erheblich sein lassen, also die Existenz anderer Staaten rechtlich anerkennen39. Beim Internationalen Privatrecht besteht diese Anerkennung darin, nicht auf sämtliche Sachverhalte ungeachtet eines eventuellen Auslandsbezugs stets nur das eigene materielle Recht für anwendbar zu erklären. Die Internationalität liegt also darin, dass das Internationale Privatrecht auch auf fremdes Recht verweisen kann. Beim Internationalen Zivilprozessrecht ist es hingegen nicht der Verweis auf fremdes Recht, sondern sind es der Respekt für fremde Verfahren sowie der Respekt für fremde Staaten in inländischen Verfahren, in denen sich die Anerkennung der Existenz anderer Staaten zeigt. Respekt für fremde Verfahren beweist das Internationale Zivilprozessrecht etwa dadurch, dass es zum einen die eigene Zuständigkeit für bestimmte Sachverhalte mit Auslandsbezug versagt, zum anderen grundsätzlich bereit ist, Entscheidungen der Gerichte anderer Staaten anzuerkennen und zu vollstre34

Dazu Gerckens, in: In Memoriam Jochen Schröder (Fn. 19), S. 12 f. So etwa Schröder, ZZP 91 (Fn. 32); dazu Gerckens (Fn. 19), S. 13. 36 Dazu statt aller H. P. Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 3, 7. Auflage 2016, § 437 Rn. 53. 37 Schröder (Fn. 30), S. 409 ff. 38 Schröder (Fn. 1), S. 137 f., 145, 158 f., 167 f., 172, 179, 188 f. und öfter; auch ders., Abstammung und Ausforschung in der höchstrichterlichen Praxis der Schweiz und der Bundesrepublik, FamRZ 1965, 178 ff.; ders. (Fn. 25), S. 474 f. 39 Grundlegend Zitelmann, Der Name „internationales Privatrecht“, NiemeyersZ 27 (1918), 177 ff.; s.a. Jayme (Fn. 6), S. 3. 35

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cken. Respekt für fremde Staaten beweist das Internationale Zivilprozessrecht dadurch, dass es die Souveränität fremder Staaten achtet, indem es etwa den eigenen Gerichten und Behörden vorschreibt, Zustellungen und Beweisaufnahmen im Ausland nicht ohne Weiteres nach den inländischen Regeln selbst vorzunehmen, sondern den Weg der Rechtshilfe zu beschreiten40. In Ermangelung unilateraler Begünstigungen, bilateraler Abkommen oder multilateraler Übereinkommen bedeutet dies, dass ein betroffener fremder Staat in der Form um Hilfe gebeten werden muss, in der Staaten untereinander kommunizieren: auf dem diplomatischen Weg, also dadurch, dass der Botschafter oder sonstige diplomatische Vertreter des eigenen Staates im Ausland sich an das dortige Außenministerium wendet und um Zustellung oder Vornahme einer Beweisaufnahme bittet41. 2. Völkerrechtlicher Ausgangspunkt Ist die Anerkennung fremder Staaten in Form eines solchen „internationalen“ Internationalen Privatrechts, eines solchen „internationalen“ Internationalen Prozessrechts völkerrechtlich geboten? Die herrschende Ansicht im Völkerrecht, aber auch im Internationalen Privat- und Prozessrecht bejaht dies42. Mein Lausanner Vor-vorVorgänger Fritz Sturm formuliert 1977 in der sechsten Auflage des von Leo Raape begründeten Lehrbuchs zum Internationalen Privatrecht prägnant: „Das IPR beruht auf der gegenseitigen Anerkennung der Staaten und ihrer Rechtsordnungen. Diese Anerkennung ist völkerrechtliche Pflicht. Völkerrechtswidrig wäre also ein IPR, das aus dem einzigen Satz bestände: In Fällen mit Auslandsberührung gilt stets innerstaatliches Recht. Völkerrechtswidrig würde auch ein Staat handeln, der das Recht eines bestimmten anderen Staats, der ebenfalls Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft ist, von der Anwendung ausschlösse.“43 Auf dem Gebiet des Internationalen Prozessrechts hält es Peter Schlosser für eine Völkerrechtsverletzung, „wenn

40 Für Deutschland etwa § 183 ZPO; Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. EG Nr. L 324 vom 10. Dezember 2007, S. 79 ff.; Haager Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965, BGBl. 1977 II, S. 1452; Art. 1 – 7 Haager Übereinkommen über den Zivilprozess vom 1. März 1954, BGBl. 1958 II, S. 576. 41 § 183 Abs. 2 ZPO. 42 Statt aller Makarov, Völkerrecht und Internationales Privatrecht, in: Sepheriades u. a. (Hrsg.), Mélanges Georgios Streit, Bd. 1, 1939, S. 535, 551 f.; weiter z. B. Meessen, Kollisionsrecht als Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts: Völkerrechtliches Minimum und kollisionsrechtliches Optimum, in: Flume u. a. (Hrsg.), Internationales Recht und Wirtschaftsordnung. Festschrift für F.A. Mann, 1977, S. 227, 231 ff. 43 Raape/Sturm (Fn. 14), S. 44.

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es überhaupt an einem vernünftigen Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fehlt“.44 3. Praktische Bedeutungslosigkeit Fritz Sturm allerdings lässt seinen Überlegungen sogleich die ernüchternde Feststellung folgen: „Praktische Bedeutung haben diese Sätze freilich nicht.“45 Dies liegt ganz auf der Linie Jochen Schröders. Dessen Aussage, der Ertrag völkerrechtlicher Sätze sei auf dem Gebiet der internationalen Zuständigkeit „gleich Null“, relativiert sich sogleich ein wenig, wenn man sieht, dass er zuvor nach „kleingemünzte[n] Regeln zur Lösung internationalprivat- und internationalprivatverfahrensrechtlicher Konflikte“ gefragt hatte46. Er geht also nicht so weit wie diejenigen Autoren, die – in jener Zeit durchaus provokativ – dem Völkerrecht jede Bedeutung für die Ausgestaltung der Internationalen Zuständigkeit durch die einzelnen Staaten absprachen47. Dennoch bleibt er hart, wenn er nachlegt, die Grenzen des Völkerrechts verliefen „irgendwo im Nebel praktischer Unbrauchbarkeit“48. Auch die jüngere Entwicklung hat diesen Nebel letztlich nicht lichten können49. Die Erkenntnis, nach Völkerrecht dürfe ein Staat seine Gerichte nur dann für international zuständig erklären, wenn wenigstens ein „genuine link“ zum Sachverhalt, vielleicht gar ein „persönlicher genuine link“ zu einer der Parteien bestehe oder die Zuständigkeit „sinnvoll“ sei50, ist praktisch ohne Belang, da kaum ein Staat in Fällen ohne solchen „genuine link“ seine Zuständigkeit beanspruchen würde. 4. Hintergrund der Diskussion Wenn sich ein Völkerrechtler hiervon getroffen fühlt, so leidet er entweder unter der geringen Zahl operabler und zugleich praxisrelevanter Rechtssätze des Völker44

P. Schlosser, Das völkerrechtswidrige Urteil nach deutschem Prozeßrecht, ZZP 79 (1966), 164, 176. 45 Raape/Sturm (Fn. 14), S. 44; sehr zurückhaltend schon Makarov (Fn. 42), S. 551 f.; Meessen (Fn. 42), S. 233 ff. 46 Schröder (Fn. 1), S. 134. 47 Nachweise bei Schröder (Fn. 1), S. 134 Fn. 4. 48 Schröder (Fn. 1), S. 134. 49 Mansel, Staatlichkeit des Internationalen Privatrechts und Völkerrecht, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 1989, S. 89; Michaels, Public and Private International Law: German Views on Global Issues, 4 J. Private Int’l Law 121, 125 f. (2008). 50 Vgl. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, 1998, S. 183 ff.; Born, Reflections on Judicial Jurisdiction in International Cases, 17 Georgia J. Int’l & Comp. L. 1, 18 f. (1987); Mann, The Doctrine of Jurisdiction in International Law, Recueil des Cours 111 (1964 I), 9, 46 f.; Meessen (Fn. 42), S. 233 ff.; Wautelet, What has international private law achieved in meeting the challenges posed by globalisation?, in: Slot/Bulterman (Hrsg.), Globalisation and jurisdiction, Leiden: Kluwer Law International 2004, S. 71; s. allgemein auch BVerfG, NVwZ 2008, 878, 879.

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gewohnheitsrechts51, oder er sieht sich der Möglichkeit beraubt, unter Verweis auf das Völkerrecht als exorbitant empfundene Zuständigkeitsanmaßungen anderer Staaten anzuprangern. In der Tat scheint der Wunsch völkerrechtlich begründeter Zuständigkeitsabgrenzung ein wichtiger Grund gewesen zu sein, warum gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Bedeutung des Völkerrechts für die Internationale Zuständigkeit erneut stark diskutiert wurde. Denn in dieser Zeit trat der sogenannte Justizkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Europa zutage52: Erfolgreiche europäische Unternehmen, die in die U.S.A. exportierten oder dort gar eine Niederlassung hatten, sahen sich sehr zu ihrem Missfallen mit Zivilprozessen in den U.S.A. konfrontiert. Diese Prozesse wurden und werden sowohl wegen ihrer prozessualen Besonderheiten – zu nennen sind etwa pre-trial discovery, class actions, jury trial – als auch wegen bestimmter materiellrechtlicher Institute – insbesondere punitive oder treble damages – gefürchtet53. Es galt, dem „langen Arm“ der amerikanischen Gerichtsbarkeit zu entkommen. Die europäischen Unternehmen versuchten daher mit Rückendeckung ihrer Regierungen und der von Unternehmen, Unternehmensverbänden und Regierungen beauftragten Gutachter, die als zu weitgehend empfundenen U.S.-amerikanischen Regeln über die Internationale Zuständigkeit zu bekämpfen54. IV. Praktische Notwendigkeit einer Zuständigkeitseingrenzung Zweifelt man an der Fähigkeit des Völkerrechts, die Anmaßungen internationaler Zuständigkeit einzugrenzen, so ist damit noch lange nicht gesagt, dass eine Reduzierung internationaler Zuständigkeiten nicht doch wünschenswert sein kann. Jochen Schröder hat vielfach betont, dass zwar im Internationalen Privatrecht möglichst das anwendbare Recht von vornherein feststehen sollte, dies aber für konkurrierende internationale Zuständigkeiten nicht in gleichem Maße gelte. Zugleich hat er jedoch die Notwendigkeit einer Zuständigkeitsbegrenzung sehr wohl gesehen – was kaum anders sein könnte, ist es doch seit langem ein Anliegen von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft in vielen Teilen der Welt, das forum shopping, also die taktische Wahl eines von mehreren zuständigen Gerichtsständen mit dem Ziel, sich

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Pointiert Cheshire, Private International Law, 1935, S. 20 f.: „Public International Law is not law at all in the strict sense…“ (Hervorhebung im Original). 52 Dazu P. Schlosser, Der Justizkonflikt zwischen den USA und Europa, 1985, passim; Habscheid (Hrsg.), Der Justizkonflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika, 1986, mit Beiträgen von Rolf Stürner, Dieter G. Lange, Yasuhei Taniguchi und Heribert Golsong. 53 Stürner, Why are Europeans afraid to litigate in the United States, Centro di studi e ricerche di diritto comparato e straniero, 2001. Zu Hintergründen auch Kern, Private Law Enforcement versus Public Law Enforcement, ZZPInt 12 (2007), 351, 356 ff. 54 Kritik hieran z. B. bei Schröder, JZ 1987 (Fn. 29), S. 606.

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dank der dort geltenden Verfahrensregeln oder des nach dem dortigen Internationalen Privatrecht anzuwendenden Sachrechts Vorteile zu verschaffen, einzudämmen55. V. Der Ansatz Jochen Schröders Zur Eindämmung ausufernder internationaler Zuständigkeit will Jochen Schröder vor allem die Lehre vom forum non conveniens heranziehen56. Nach dieser aus Schottland stammenden Lehre57, die in den U.S.A. lange vor ihrer Anerkennung in England im Jahre 1984 übernommen wurde, können die Gerichte in Common Law-Staaten die Behandlung eines Falles trotz an sich gegebener Zuständigkeit ablehnen58, wenn die Verhandlung im eigenen Forum unpassend erscheint und sich ein anderes zuständiges Gericht als besser geeignet darstellt59. Die Lehre vom forum non conveniens zeichnet sich nicht nur durch ihre Flexibilität aus, sondern erlaubt auch, die Interessen anderer Staaten im Einzelfall besonders zu berücksichtigen und die mangelnde Eignung des eigenen Forums etwa auf den Gedanken der international comity zu stützen60. Ihr materiellrechtliches Pendant hat die Lehre vom forum non conveniens im „Right not to be sued abroad“, dem sich Jochen Schröder denn 55 Aufschlussreich Juenger, Forum Shopping, Domestic and International, 63 Tul. L. Rev. 553, 560 ff. (1989); ders., What’s Wrong with Forum Shopping?, 16 Sydney L. Rev. 5 (1994); weiter Cornut, Forum shopping et abus du choix de for en droit international privé, Journal du Droit International (Clunet) 134 (1/2007), 27 ff.; Ferrari, Forum shopping: A plea for a broad and value-neutral definition, in: Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Magnus, 2014, S. 385 ff.; Schwartze, Internationales Forum Shopping mit Blick auf das günstigste Sachrecht, in: Kronke/Thorn (Hrsg.), Grenzen überwinden – Prinzipien bewahren. Festschrift für Bernd von Hoffmann, 2011, S. 415 ff.; Kähr, Der Kampf um den Gerichtsstand – Forum Shopping im internationalen Verfahrensrecht der Schweiz, 2010, passim; aus der deutschen Rechtsprechung lesenswert LG Hamburg, RIW 1997, 65. 56 Schröder (Fn. 1), S. 146, 149, 194 und Schlusswort, a.a.O., S. 276 f.; ebenso ders. (Fn. 21), S. 824 f., 835 f., 838 ff., 850 ff.; s. auch ders., Rezension zu Franz Matscher, Zuständigkeitsvereinbarungen im österreichischen und im internationalen Zivilprozeßrecht, Wien/New York: Springer 1967, ZZP 84 (1971), 234 f. Zu dieser Position Jochen Schröders Mummenhoff (Fn. 19), S. 28: „flächendeckende Übernahme der forum non conveniens-Doktrin“. 57 Dazu Briggs, The Impact of Recent Judgments of the European Court on English Procedural Law and Practice, Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 124 (2005) II, 231, 242. 58 Meist keine Abweisung als unzulässig, aber Ruhen des Verfahrens mit Möglichkeit des Wiederaufgreifens, wenn das ausländische Gericht den Rechtsstreit nicht behandeln will. 59 Für England etwa House of Lords, Spiliada Maritime Corp. v. Cansulex Ltd., [1987] A.C. 460; für die U.S.A. Gulf Oil Corp. v. Gilbert, 330 U.S. 501 (1947); Piper Aircraft Co. v. Reyno, 454 U.S. 235 (1981); In re Union Carbide Corp. Gas Plant Disaster at Bhopal, India, 809 F.2d 195 (2nd Cir. 1987); aus der aktuellen U.S.-amerikanischen Diskussion Sidney K. Smith, Forum Non Conveniens and Foreign Policy: Time for Congressional Intervention?, 90 Tex. L. Rev. 743 (2012). 60 Dazu nur Carney, International Forum Non Conveniens: „Section 1404.5“ – A Proposal in the Interest of Sovereignty, Comity, and Individual Justice, 45 A. U. L. Rev. 415 (1995); Smith (Fn. 59), S. 460.

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auch 1987 in seinem Beitrag zur zweiten Festschrift für seinen Lehrer Gerhard Kegel widmete61. Den Rechtsordnungen kontinentaleuropäischer Tradition ist eine solche Herangehensweise fremd. Sie gehen davon aus, schon die einzelnen, strengen Zuständigkeitsgründe stellten sicher, dass das Forum „passend“ sei, wollen jede Rechtsunsicherheit über die Zuständigkeit vermeiden und gewähren dem Richter kein Ermessen, einen Fall nicht anzunehmen62. VI. Die Rechtsentwicklung in Europa Vor dem Hintergrund der kontinentaleuropäischen Tradition überrascht es nicht, dass die – vor dem Beitritt des Vereinigten Königreichs und Irlands 1973 alle auf dem Kontinent liegenden – europäischen Staaten Jochen Schröder und seinen gelegentlichen Mitstreitern63 nicht gefolgt sind64. Bereits 1968 hatten die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel als unabhängigen völkerrechtlichen Vertrag das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) abgeschlossen65. Das Übereinkommen schuf in seinem Titel II einheitliche Regeln über die internationale und teils auch die örtliche Zuständigkeit der Gerichte. Es wurde als Teil des acquis communautaire jeweils von den Beitrittsstaaten übernommen und 1988 durch ein in Lugano abgeschlossenes, inhaltlich nahezu identisches Übereinkommen (LugÜ) mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) ergänzt66. Die volle Tragweite des Brüsseler Übereinkommens, das 1973 in Kraft trat und 2001 in die sogenannte „Brüssel I“Verordnung überführt wurde67, wurde nicht sogleich erkannt68. Mit der Grundsatzentscheidung Owusu gegen Jackson stellte der Europäische Gerichtshof jedoch 2005 klar, dass die Anwendung der Verordnung nicht auf innergemeinschaftliche Sachverhalte beschränkt ist, sondern auch für alle Klagen von Drittstaatern gegen 61

Schröder, The Right not to be Sued Abroad, in: Musielak/Schurig (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Kegel zum 75. Geburtstag, 1987, S. 523 ff. 62 Statt aller Bucher/Bonomi, Droit international privé, 3. Auflage 2013, Rn. 179; Junker, Internationales Zivilprozessrecht, 3. Auflage 2016, § 5 Rn. 39. 63 Bemerkenswert etwa Erste Kommission des Deutschen Rats für internationales Privatrecht, in: Beitzke (Fn. 29), S. 65 (Begründung zu Vorschlag D.II § B). 64 Wissenschaftliche Kritik am Ansatz Jochen Schröders bei Dannemann (Fn. 9), S. 313. 65 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968. 66 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988. 67 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG Nr. L 12 vom 16. Januar 2001, S. 1. 68 Dazu Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, § 5 Rn. 10; Huber/Stieber, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-281/02, ZZPInt 10 (2005), 285, 286.

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einen Beklagten mit Wohnsitz in der Gemeinschaft gilt69. Die Brüssel I-Verordnung, deren Neufassung am 10. Januar 2015 in Kraft trat70, und das Luganer Übereinkommen, das 2007 eine Neufassung erhalten hat71, bilden heute ein europaweites System internationaler Zuständigkeiten. Sie werden innerhalb der EU – mit Ausnahme Dänemarks – ergänzt durch eine ganze Reihe weiterer Verordnungen, die ebenfalls Zuständigkeitsregeln enthalten72. Für den Geltungsbereich dieses kodifizierten, ausdifferenzierten Zuständigkeitssystems hat nun der Europäische Gerichtshof in seinem bereits genannten Urteil Owusu gegen Jackson73 der Lehre vom forum non conveniens eine deutliche Absage erteilt. Diese Entscheidung, die auch für das Luganer Übereinkommen maßgeblich ist74, wurde zwar vor allem aus englischer Sicht bedauert75, hat aber – insbesondere auf dem Kontinent – überwiegend Zustimmung gefunden76. Innerhalb Europas jedenfalls ist damit für Jochen Schröders Ansatz großzügiger Zuständigkeitsregeln, kombiniert mit einer flexiblen Anwendung der Lehre vom forum non conveniens, bis auf Weiteres kein Raum mehr. VII. Ausblick Bleibt somit nichts von diesem Ansatz, war also das Plädoyer Jochen Schröders für Flexibilität in der Internationalen Zuständigkeit vergebens? Eine Zeitlang mochte man dies glauben können. Denn es schien so, als gelinge auch über Europa hinaus eine völkervertragliche Einigung über die Verteilung der Internationalen Zuständigkeit. Wären einem solchen Instrument eine Vielzahl von Staaten, insbesondere die U.S.A., beigetreten, so hätte die Diskussion über die völ69 EuGH, Urteil vom 1. März 2005, Rs. C-281/02, Owusu/Jackson, Slg. 2005, I-1383, Tz. 24 – 35. 70 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. EU Nr. L 351 vom 20. Dezember 2012, S. 1. 71 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007. 72 Z.B. Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. EG Nr. L 338 vom 23. Dezember 2003, S. 1; Verordnung (EG) Nr. 4/ 2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. EG Nr. L 7 vom 10. Januar 2009, S. 1. 73 EuGH (Fn. 69), Tz. 37 – 46. 74 Vgl. Protokoll 2 zum LugÜ 2007 über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens und den Ständigen Ausschuss; für die Schweiz BGE 129 III 295, 300. 75 Etwa Fentiman, English Domicile and the Staying of Actions, 64 Cambridge L.J. 303 (2005); Briggs (Fn. 57), S. 244; Hartley (Fn. 26), S. 824 ff. 76 Etwa Bruns, Anmerkung zu EuGH, Rs. C-281/02, JZ 2005, 887; Huber/Stieber (Fn. 68), S. 289 f.; Rodger, Forum Non Conveniens Post-Owusu, 2 JPIL 71 (2006).

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kerrechtlichen Vorgaben für die Internationale Zuständigkeit ihre praktische Bedeutung weitgehend eingebüßt. Auch hätte in einem solchen System klar definierter Zuständigkeiten die Lehre vom forum non conveniens nur noch für einzelne Korrekturen, nicht mehr aber als grundsätzliches Instrument zur Zuständigkeitsabgrenzung gedient. Die Verhandlungen über ein weltweites Übereinkommen nach dem Vorbild der in Europa geltenden Regeln, die im Rahmen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht stattfanden, sind jedoch vorerst gescheitert, woran das Auftreten der europäischen Seite eine nicht unerhebliche Mitschuld trägt77. Selbst bei einer Verständigung zwischen Europa und den U.S.A. ist zudem in der aktuellen weltpolitischen Lage mehr denn je offen, ob dies Signalwirkung auch für andere wichtige Länder hätte und zu einem wirklich weltweiten Übereinkommen führen könnte. Es zeugt daher von großer Weitsicht, dass die von Unidroit und dem American Law Institute verabschiedeten Principles of Transnational Civil Procedure ausdrücklich die Lehre vom forum non conveniens aufgenommen haben78. Damit ist Jochen Schröders Ansatz wieder aktueller denn je79. Die europäische Seite sollte es sich gut überlegen, ob sie angesichts anhaltenden forum shoppings wirklich das Institut des forum non conveniens ganz verbannen will80. Sie begibt sich damit nicht nur eines Korrekturinstruments im Inneren, sondern wird sich auch schwertun, zu Gunsten ihrer eigenen Angehörigen und Unternehmen ein außereuropäisches Gericht von der Anwendung dieser Lehre zu überzeugen. Der gänzliche Verzicht auf das Institut des forum non conveniens erscheint umso leichtsinniger, als die Erfolgsaussichten eines Rekurses auf das Völkerrecht, um mit den Worten Jochen Schröders zu sprechen, „gleich Null“ sind.

77

Vgl. Wagner, Das Haager Übereinkommen vom 30. 6. 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen, RabelsZ 73 (2009), 100, 104 – 109; ders., Die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht zehn Jahre nach der Vergemeinschaftung der Gesetzgebungskompetenz in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen – mit einem Rückblick auf die Verhandlungen zum Haager Gerichtsstandsübereinkommen –, RabelsZ 73 (2009), 215, 218 ff.; Hess (Fn. 68), § 5 Rn. 43; s. schon von Mehren, La rédaction d’une convention universellement acceptable sur la compétence judiciaire internationale et les effets des jugements étrangers: Le projet de la Conférence de La Haye: peut-il aboutir?, Rev. crit. dr. int. pr. 90 (2001), 85. 78 Principle 2.5: „Jurisdiction may be declined or the proceeding suspended when the court is manifestly inappropriate relative to another more appropriate court that could exercise jurisdiction.“ Dazu Comment P-2F: „The concept recognized in Principle 2.5 is comparable to the common-law rule of forum non conveniens. …“; Stürner (Fn. 26), S. 217 ff. 79 Vgl. auch Gordon, Forum Non Conveniens Misconstrued: A Response to Henry Saint Dahl, 38 U. Miami Inter-Am. L. Rev. 141 (2006). 80 Vgl. nur Dorward, The forum non conveniens Doctrine and the Judicial Protection of Multinational Corporations from forum shopping Plaintiffs, 19 U. Pa. J. Int’l Econ. L. 141 (1998). Bemerkenswert nun aber Art. 6 lit. a EuErbVO; dazu Wilke, Das internationale Erbrecht nach der neuen EU-Erbrechtsverordnung, RIW 2012, 601, 603; Junker (Fn. 62), § 20 Rn. 31.

Wilhelm Mößle – erinnern und lesen Von Arnd-Christian Kulow I. Das Parlament, die Regierung, die Selektoren … und das Wissenschaftssystem Was sich langsam abzeichnete, ist mittlerweile längst staatsrechtliche Realität. Das Internet, erwachsen werdend mit Tim Berners Lees Erfolgsprojekt eines „World Wide Webs“, bestimmt nun auch zunehmend die Agenda von Regierung und Parlament. Dies nicht nur wegen der umfassenden gesellschaftlichen Relevanz des Mediums, sondern auch wegen einer unmittelbaren Selbstbetroffenheit beider Verfassungsorgane. So wurde die Bundesregierung bekanntermaßen vom amerikanischen Nachrichtendienst NSA massiv abgehört, dem Parlament via World Wide Web bzw. Internet vermutlich 16 Gigabyte (!)1 vertrauliche Daten entwendet. In diesen Zusammenhang ist der Streit zwischen beiden Organen um die Bekanntgabe der sogenannten „Selektoren“ zu stellen. Im Kern geht es darum, ob die Bundesregierung verpflichtet ist, Listen mit Suchmerkmalen, die vom amerikanischen Geheimdienst NSA unter Umständen auch zur Ausforschung deutscher Bürger und Unternehmen eingesetzt wurde, dem Parlament offen zu legen. Der Deutsche Bundestag setzte am 20. März 2014 hierzu und zu weiteren Fragen der Ausforschung und Erfassung von deutschen Kommunikationsdaten durch ausländische Geheimdienste der sogenannten „Five Eyes“ (also den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Vereinigten Königreich, Kanada, Australiens und Neuseeland) einen Untersuchungsausschuss ein2. Die öffentliche Debatte, namentlich die Medien, tat und tut sich schwer mit dem Thema. Leicht fällt es hier voller Empörung, ein Einsichtsrecht zu fordern. Leicht fällt es auch, auf die Prärogativen und die Geheimhaltungspflicht der Regierung zu verweisen. Deutlich wird sofort: Die scharf abgegrenzte und damit schablonenartige Zuordnung der Gesetzgebung zum Parlament und des Gesetzesvollzugs zur Regierung „passt“ hier nicht. Das Verhältnis von Parlament und Regierung ist vielschichtiger, weniger scharf abgrenzbar, verwoben. In einer solchen Lage ist es Aufgabe der Wissenschaft, namentlich der Staatsrechtslehre die Akteure, aber auch die öffentliche Debatte zu unterstützen. 1 Unterstellt eine E-Mailseite habe etwa 2000 Byte – also 2 Kilobyte (2 Kb) –, dann wären 2 Megabyte (2 MB) ca. 1000 Mailseiten. 2 Gigabyte (2 GB) demnach 1 Mio. E-Mailseiten und damit 16 Gigabyte 8 Millionen E-Mailseiten. 2 Der 1. Untersuchungsausschuss der 18. Wahlperiode. Auf Antrag aller Fraktionen, BTDrucksache 18/843.

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Wilhelm Mößle hat schon 1986 eindringlich nach dem Verhältnis von Regierung und Parlament gefragt. Ihn interessierte dabei weniger der bekannte Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, als der Frage der anteiligen Machtverteilung im Gemeinwesen. Es ging ihm vielmehr um die Frage, nach welchen Prinzipien ein Gemeinwesen geleitet und gesteuert wird „und ob das Parlament an der Führung des Systems verfassungsrechtlich und politisch beteiligt ist.“3 Wilhelm Mößle starb völlig überraschend im Jahr 2002. Er kann daher selbst nicht eingreifen in den Streit, nicht selbst seine schon in den 80er Jahren erarbeiteten Einsichten zum Verhältnis von Parlament und Regierung einbringen. Damit ergibt sich der aktuelle und konkrete Bezug zum Thema. Die Beiträge dieses Bandes verstehen sich als (Unter-)Aspekte einer Theorie der rechtswissenschaftlichen Rezeption. Die Leitfrage lautet hierbei, ob und inwieweit der (zu) frühe Tod eines Rechtswissenschaftlers Einfluss auf Art und Umfang der Rezeption hat. Dabei impliziert der Ausdruck „zu früh“ eine wissenschaftliche „Normalbiographie“, die sich in Phasen einteilen lässt und unter Umständen sogar ein frühere Einsichten reflektierendes „Spätwerk“ bietet. Ein solches kann allerdings auch ganz bewusst nicht mehr in Angriff genommen oder durch Krankheit verhindert werden. Gleichwohl spricht prima facie einiges dafür, zu Vergleichszwecken auch ohne umfangreiche empirische Studien einmal einen solchen Normalverlauf eines Gelehrtenlebens zu unterstellen. Im Folgenden soll daher zunächst eine kleine Werkgeschichte und Wirkgeschichte Mößles vorgelegt werden. Ganz im Mittelpunkt soll dabei seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1986 „Regierungsfunktionen des Parlaments“ stehen. Sodann werden – unter Rückgriff auf Luhmannn – systemtheoretisch begründete Hypothesen zu einer Theorie der Rezeption erarbeitet. Hierbei wird der Begriff der „Reputation“ eine zentrale Rolle spielen. Zuletzt ist dieser theoretische Zugriff in Hinblick auf die zu Mößle erarbeiteten empirischen Befunde zu überprüfen. II. Kurze Werkgeschichte Mößles Wilhelm Mößle publizierte von 19754 bis zu seinem Tod im Jahr 2002. Sein letzter Aufsatz über das Zitiergebot5 erschien post mortem in den Bayerischen Verwaltungsblättern (BayVBl.), die sein bevorzugtes Publikationsorgan6 waren. Das Werk Mößles umfasst verschiedene Themenbereiche vom Staats- und Verfassungsrecht über Themen des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts bis hin zu Spezialthemen wie etwa dem Museumsrecht. 3

Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 2. Google Books weist ein „Gutachten über die Forschungslage im Bereich der rechtlichnormativen Grundordnung der westdeutschen Gesellschaft (Grundgesetz, Länderverfassungen und sonstige konstitutive Gesetzgebungsakte)“ von 1975 nach. 5 Mößle, Das Zitiergebot, BayVBl. 2003, S. 577. 6 Von 15 dem Verfasser bekannten Aufsätzen Mößles erschienen sieben in den BayVBl. 4

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1. Staats- und Verfassungsrecht a) Habilitation Auf Anregung von Peter Badura7 ging Mößle in seiner 1979 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsarbeit angenommenen und 1986 veröffentlichten Schrift „Regierungsfunktionen des Parlaments“ „den durch Demokratie und Wohlfahrtsstaat bedingten Veränderungen unter dem Blickwinkel parlamentarischer Regierungsfunktionen“ nach8. Schon der Titel läuft quer zu dem herkömmlichen Verständnis der klassischen Staatsrechtslehre, nach dem das Parlament gerade nicht Regierungsfunktionen ausübt.9 Die Arbeit ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel geht es um die Frage der politischen Herrschaft in der parlamentarischen Demokratie. Es wird eine Bestandsaufnahme der Rahmenbedingungen von staatlicher Herrschaft in einer parlamentarischen Demokratie vorgenommen. Im zweiten Kapitel folgt ein Blick zurück in die Zeit der konstitutionellen Monarchie. Hier wird gezeigt, wie sich staatsleitende Funktionen in der konstitutionellen Staatsorganisation „parlamentarisieren“. Im dritten und umfangreichsten Kapitel wird nun die Zusammenschau der ersten beiden Kapitel vorgenommen. Dabei geht es dem Verfasser jedoch nicht darum, diese „rekonstruierte Entwicklung“ zur Grundlage der heutigen politischen Entscheidungsmacht des Parlaments zu machen. Alte Zuständigkeiten sind „im Lichte seiner zentralen Stellung in der Demokratie“ und „… auch im Hinblick auf die neuen Staatsaufgaben zu interpretieren und den veränderten Verhältnissen des demokratischen Sozialstaats anzupassen.“10 Das vierte und letzte Kapitel weist dem Gesetz die Funktion einer Planungs- und Leitungsentscheidung zu. Im Mittelpunkt stehen hier nicht „ideologischtheoretische“11 Aspekte, sondern der Blick auf pragmatische Zusammenhänge „zwischen den jeweiligen Staatsaufgaben und der strukturellen Eigenart der Gesetzgebung …“12. Der Versuch einer Typologie der staatsleitenden Gesetzgebung schließt Kapitel und Werk ab. b) „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ (1990) Die zweite Monographie Mößles beschäftigt sich mit der Verfassungsgeschichte der Verordnungsermächtigung. Wie schon bei der Habilitationsschrift wird deutlich, dass sich Mößle seinen Themen immer stark mit Blick auf die historischen Zusammenhänge nähert. 7

Mößle (Fn. 3), S. V. Zweitberichterstatter war Peter Lerche; Mößle (Fn. 3), S. V. 9 Mößle (Fn. 3), S. 1. 10 Mößle (Fn. 3), S. 3. 11 Mößle (Fn. 3), S. 4. 12 Mößle (Fn. 3), S. 4. 8

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c) „Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht“ (1996) Gemeinsam mit Hans-Ullrich Gallwas schreibt Mößle ein bis heute im Richard Boorberg Verlag erscheinendes Lehrbuch zum bayerischen Polizeirecht. d) „Arrondierende“ Schriften 1985 bespricht er eine Schrift von Hans Pagenkopf zum Finanzausgleich im Bundesstaat.13 In der Zeitschrift „Der Staat“ erscheinen im Jahr 1987 gleich drei Besprechungen staatsrechtlicher Arbeiten, die allesamt einen starken rechtshistorischen Bezug aufweisen und daher für Mößle von Interesse waren. So eine Besprechung einer Schrift von Walter Demel über den bayerischen Staatsabsolutismus von 1806/7 bis 1817.14 Eine weitere Besprechung einer Arbeit von Peter Jakob Kock über den Weg Bayerns in die Bundesrepublik.15 Zuletzt eine Rezension einer Gemeinschaftsarbeit von Johannes Kunisch und Helmut Neuhaus. Rein rechtshistorisch angelegt ist Mößles Aufsatz aus dem Jahr 1994 über „Die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes nach der Wiener Schlußakte“.16 Ein Jahr später befasst er sich mit dem Bayerischen Senat und spürt dessen geistesgeschichtlichen Grundlagen nach.17 1995 geben Meinhard Heinze und Jochem Schmitt für ihren Lehrer und Mößles Fakultätskollegen Wolfgang Gitter eine Festschrift heraus. Mößle beteiligt sich mit einem Beitrag zum Thema „Rechtsvereinheitlichung als Gegenstand der Verfassungspolitik im Deutschen Bund.“18 Der ebenfalls in den BayVBl. erschienene Aufsatz über das Zitiergebot schließt 200319 die Publikationen Mößles ab. 2. Verwaltungsrecht 1976 erscheint in den BayVBl. ein Aufsatz über „Die Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO“.20 Im selben Jahr geht Mößle den gewerbe13

Mößle, Die Verwaltung 18 (1985), 257 ff. Mößle, Der Staat 26 (1987), 466 ff. 15 Mößle (Fn. 14), 305 ff. 16 Mößle, Der Staat 33 (1994), S. 373 ff. 17 Mößle, Der Bayerische Senat und seine geistesgeschichtlichen Grundlagen, BayVBl. 1995, S. 1 ff. 18 Mößle, in: Heinze/Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter, S. 669 ff. 19 Mößle (Fn. 5), S. 577 ff. 20 Mößle, BayVBl. 1976, 609 ff. 14

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rechtlichen Beschränkungen des Pressewesens nach.21 Er wird acht Jahre später das Thema Gewerberecht wieder aufgreifen und 1984 nunmehr die Bezüge zum Sicherheitsrecht untersuchen.22 Im Jahre 1986 findet sich in den BayVBl. eine Rezension des Lehrbuchs von Ludwig Knemeyer zum Allgemeinen Verwaltungsrecht.23 Ein Kongressvortrag bietet die Basis für den 1988 in den „Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern“ erschienenen Aufsatz über die „Verfassungsmäßigkeit von Vorkaufsrecht und Umlegung als Instrumente kommunaler Bodenpolitik“.24 In den Jahren 1991 und 1993 beschäftigt sich Mößle mit Baurecht, so mit dem Thema von „Sportanlagen im Außenbereich“25 und dem seinerzeit hochaktuellen Thema der Hauptstadtplanung26. 1999 sodann bildet die örtliche Polizei nach Art. 83 Abs. 1 BVeinen Themenschwerpunkt, den er in zwei Aufsätzen27 in den BayVBl. vertieft. III. Wirkungen der Habilitationsschrift von Wilhelm Mößle – exemplarisch untersucht am Handbuch des Staatsrechts von Isensee/Kirchhof 1. Vorbemerkungen Die Rezeption der Werke eines Rechtswissenschaftlers nachzuzeichnen, ist anspruchsvoll und verlangt weit mehr Raum, als hier zur Verfügung steht. Daher soll im Folgenden die Rezeption des Werkes Mößles exemplarisch am Beispiel des Handbuchs des Staatsrechts dargestellt und diskutiert werden. Was zunächst nach Beschränkung klingt, hat einige Vorteile: Der textliche Rahmen in Form der Textgattung Handbuch bleibt stabil. Insofern muss nicht nach Textgattungen kategorisiert werden und diese nun wiederum auf ihre „Rezeptionswertigkeit“ überprüft werden. Aus Kontrollzwecken wurde die Suchfunktion des Webdienstes „Google Books“ mit dem Suchmerkmal „Wilhelm Mößle“ parametrisiert.28 Der Dienst lieferte 240 „Treffer“. Darunter waren viele Werke von Mößle selbst, aber auch Werke, in 21

Mößle, Gewerberechtliche Beschränkungen des Pressewesens, AöR 101, S. 202 ff. Mößle, Gewerberecht und allgemeines Sicherheitsrecht, GewArch 1984, 8 ff. 23 Mößle, BayVBl. 1986, S. 255. 24 Mößle, MittBayNot 1988, S. 213 ff. 25 Mößle, BayVBl. 1991, S. 609 ff. 26 Mößle, Die Hauptstadtplanung – Zur Konzeption des neuen § 247 BauGB, ThürVBl. 1993, S. 193 ff. 27 Mößle, Die örtliche Polizei in Art. 83 Abs. 1 BV als Gegenstand der Nachkriegsgesetzgebung, BayVBl. 1999, S. 289 ff.; ders., Die örtliche Polizei im vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild der Selbstverwaltung nach Art. 83 Abs. 1 BV, BayVBl. 1999, S. 747 ff. 28 Abfrage am 9. August 2015. Der Dienst durchsucht digitalisierte Bücher und Zeitschriften nach der als Suchmerkmal eingegebenen Buchstabenkombination. Der Dienst hat dabei sowohl nach „Mößle“ als auch nach „Mössle“ gesucht. 22

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denen er im Text oder in den Fußnoten auftaucht. Die Durchsicht der Treffer zeigte eine breite Rezeption seiner rechtshistorischen Schriften. Bei den, im engeren Sinne, juristischen Rezipienten wurde überwiegend das Werk „Regierungsfunktionen des Parlaments“ besprochen29. Ein Befund, der sich auch beim Handbuch des Staatsrechts zeigen wird. 2. Die Fundstellen im Einzelnen Die Verweise auf die Habilitationsschrift Mößles ziehen sich durch das gesamte Handbuch. Es finden sich Verweise in den §§ 9, 19, 25, 38, 44, 47, 50, 64, 106, 116 und 265. Diese seien im Folgenden kurz dargestellt. Zu den historischen Grundlagen30 : Hasso Hofmann § 9 („Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990“) setzt sich in Rn. 97 mit den Grundzügen der Entwicklung der repräsentativen Demokratie auseinander. Dabei hält er „zweierlei für charakteristisch: einmal die Konsolidierung des parlamentarischen Regierungssystems bei Stärkung des Bundesrats und vielfältigen Machtverschiebungen vom Bundestag zur Regierung mit ihrer Bürokratie (dies aus mehreren Gründen offenbar ein schicksalhafter Prozess), zum anderen die Intensivierung und Verfestigung der dieses System tragenden Parteienstaatlichkeit.“31 Hier verweist Hofmann zu Recht in Fn. 406 auch auf Mößles Werk.32 Zum Verfassungsstaat33 : Bei den „Staatssymbolen“ (§ 19) zitiert Eckart Klein Mößles Beitrag zur Hauptstadtplanung: „Die Hauptstadtplanung – Zur Konzeption des neuen § 247 BauGB“34 – als Vertiefungshinweis zur Tatsache, dass bereits 1993 zur Erleichterung des Ausbaus des Berliner Regierungsviertels der § 247 BauBG neu gefasst wurde.35 Zum Parlamentarismus (§ 25) zieht Peter Badura die gesamte Arbeit zum Beleg dafür heran: „Das Volk, der Volkswille und die politische Willensbildung des Volkes sind existent, wirksam und verbindlich nur in den verfassungsmäßigen Institutionen und Verfahren der parlamentarischen Repräsentation, deren ausschlaggebende Rechtseinrichtungen die Wahlen und die parlamentarische Volksvertretung 29 So etwa: Kraske, Pflicht und Verantwortung: Festschrift zum 75. Geburtstag von Claus Arndt, 2002, S. 247; Morsey/Bracher, Staat und Parteien: Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, 1992, S. 165 f. 30 HStR I3, 2003: Historische Grundlagen. 31 Hofmann (Fn. 30), § 9 Rn. 97. 32 Hofmann (Fn. 30), § 9 Rn. 97, Fn. 406. 33 HStR II3, 2004: Verfassungsstaat. 34 Mößle (Fn. 26), 193 ff. 35 Klein (Fn. 33), § 19 Rn. 19, Fn. 71.

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sind.“36 Diese für die Konzeption des Beitrags von Badura grundlegende Fußnote 1 als Bekenntnis zur parlamentarischen repräsentativen Demokratie teilt Mößle mit vielen anderen Autoren, deren staatsrechtlicher Ausgangspunkt ebenfalls die repräsentative Demokratie ist. Zur Demokratie und den Bundesorganen37: Walter Schmitt Glaeser setzt sich ab Rn. 33 in seinem Beitrag § 38 („Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung“) mit der Unterscheidung von „Volkswillensbildungsprozeß“ und „Staatswillensbildungsprozeß“ auseinander. In Rn. 36 kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass beide Prozesse aufeinander ausgerichtet sind und sich gegenseitig beeinflussen. In Fn. 118 zitiert er als Beleg der Relativierung der Trennung bei Willensbildungsprozess in toto Mößles Schrift.38 Michael Brenner bezieht sich in § 44 („Das Prinzip Parlamentarismus“) ebenfalls auf das gesamte Werk, um seine Ansicht zu untermauern, dass alle grundlegenden und wesentlichen – insbesondere grundrechtsrelevanten – Fragen des Gemeinwesens dem Parlamentsvorbehalt unterstehen müssen.39 Zur Frage des Dualismus von Regierung und Parlament verweist Peter Michael Huber in § 47 („Regierung und Oppostion“) in toto auf das Werk.40 Er belegt die Teilhabe des Parlaments an der Staatsleitung durch Vertrauen und nennt dies den „alten Dualismus“41. In Rn. 9 erläutert Huber, dass die institutionelle Trennung von Regierung und Parlament bei Weisungsunabhängigkeit der Regierung den Unterschied zwischen einem parlamentarischen Regierungssystem und einer Parlamentsregierung ausmacht. Hierzu wird Mößles Arbeit S. 117 in Fn. 17 zitiert. Eckart Klein zieht in § 50 („Stellung und Aufgaben des Bundestages“) das Werk unterstützend („Ferner Wilhelm Mößle, …“) heran, um die Staatsleitung zur gesamten Hand von Parlament und Regierung zu begründen.42 Meinhard Schröder verweist in § 64 („Aufgaben der Bundesregierung“) einmal nicht auf das Werk, sondern auf das Lexikon des Rechts, um die Integrationsaufgabe und -funktion der Bundesregierung für Staat und Gesellschaft zu belegen.43 Zu Rechtsquellen, Organisation und Finanzen44 : 36

Badura (Fn. 33), § 25 Rn. 2, Fn. 1. HStR III3, 2005: Demokratie – Bundesorgane. 38 Schmitt Glaeser (Fn. 37), § 38 Rn. 36, Fn. 118. 39 Brenner (Fn. 37), § 44 Rn. 27, Fn. 78. 40 Huber (Fn. 37), § 47 Rn. 6, Fn. 8. 41 Huber (Fn. 37), § 47 Rn. 6. 42 Klein (Fn. 37), § 50 Rn. 9 Fn. 37. 43 Schröder (Fn. 37), § 64 Rn. 6 Fn. 13: Lexikon des Rechts 5/630 C I 1984 Bundesregierung als Integration von Staat und Gesellschaft. 44 HStR V3, 2007: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen. 37

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Mit explizitem Bezug auf die Seiten 93 ff. und 105 ff. belegt Meinhard Schröder in § 106 („Die Bereiche der Regierung und der Verwaltung“) die These, dass auch der demokratisch verfasste Staat ohne das „Regieren“ nicht auskommt, vielmehr einer „einheits- und konsensstiftenden Führung und Leitung …“ bedarf.45 In § 116 („Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes“) nutzt Christian Waldhoff Mößles Ausführungen zum Budgetrecht als Parlamentarisierung einer Staatsfunktion des konstitutionellen Staates und zitiert insoweit die Seiten 60 ff. und 126 ff.46 Zu Normativität und Schutz der Verfassung47: Peter Badura verweist in § 265 („Die Verfassung im Ganzen der Rechtsordnung und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz“) auf die Seiten 137 ff.48, weil Mößle hier kritisch mit der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden umgeht. Des Weiteren zitiert er Mößle mit den Seiten 193 ff. zur Zulässigkeit zukunftsbelastender Gesetze, die weit in die Zukunft reichende Entscheidungen, auch irreversible Entscheidungen treffen dürfen.49 IV. „Frühvollendung“ und rechtswissenschaftlicher Reputationsmechanismus: Das Staatsverständnis von Wilhelm Mößle im Spiegel der zeitgenössischen Rezeption Der unter III. 1. dieses Beitrages dargestellte formale Befund bestätigt sich nach näherer Durchsicht der Fundstellen auch inhaltlich. Die Habilitationsarbeit von Mößle taucht an allen wesentlichen Stellen auf. Das Werk unterstützt die Modellbildung und ist damit ein wesentlicher Bestandteil der rechtswissenschaftlichen Kommunikation. Auffallend dabei ist, dass etwa ab 2005 nicht mehr nur auf das Werk im Ganzen verwiesen wird, sondern seitengenau zitiert wird. Dies könnte allerdings auch eine allgemeine Vorgabe der Herausgeber sein. Die seitengenaue Zitierung ist hilfreicher als der Gesamtverweis. Sie erschließt das sehr konzentriert geschriebene Werk und erleichtert die weitere Rezeption. Mößle hat sich in seiner vielzitierten Arbeit nicht gescheut, Position zu beziehen. „Die institutionelle Distanz zwischen Staat und Gesellschaft ist Prämisse und Bedingung für die verantwortliche Wahrnehmung politischer Herrschaft. Politisch und rechtlich kontrollierbare Herrschaft wird sie jedoch erst durch die Festlegung der Grenzen, Bedingungen

45

Schröder (Fn. 44), § 106 Rn. 1, Fn. 4. Waldhoff (Fn. 44), § 116 Rn. 123, Fn. 622. 47 HStR XII3, 2014: Normativität und Schutz der Verfassung. 48 Badura (Fn. 47), § 265 Rn. 37, Fn. 79. 49 Badura (Fn. 47), § 265 Rn. 53, Fn. 116. 46

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und Verfahrensweisen, unter denen staatliche Herrschaft in legitimer Weise ausgeübt werden darf.“50

Die Frage nach der politischen Herrschaft wirft ja auch immer die Frage auf, wer eigentlich wen wie beherrscht. Damit verbunden ist immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Aus systemtheoretischer Sicht stellt sich der Staat als „gesellschaftsinterne Differenzierung“51 dar. Dieses Konzept hängt stark an dem verwendeten Gesellschaftsbegriff.52 „Staat“ ist dabei als Selbstbeschreibung des Funktionssystems Politik zu konzeptualisieren.53 Das von Luhmann weiterhin beschriebene „wechselseitig-parasitäre“54 Verhältnis von Recht und Politik erscheint allerdings als Konzept zur Sicherung politisch und rechtlich kontrollierbarer Herrschaft nicht wesentlich schwächer, aber auch nicht stärker als die von Mößle vorgegebene schlichte Prämisse einer konzeptuellen Trennung von Staat und Gesellschaft. Gleichwohl spielen die Parteien bei Mößle richtigerweise eine wesentliche Rolle: „Die in der Massendemokratie unentbehrliche Rolle der politischen Parteien und die sozialstaatliche Zielsetzung der modernen Wohlfahrtsstaaten sind politisch und verfassungsrechtlich vorgegebene Prämissen, die untereinander in notwendiger Verbindung stehen und die den politischen Prozeß in bestimmter Weise vorstrukturieren.“55

Gleichwohl betont der Verfasser, „daß die Parteien weder das Volk noch dessen Repräsentanten sind.“56. Mößle beschreibt den Staat als „Apparat und als Integrationsprozeß“. Allen statischen und formalen bzw. formalistischen Beschreibungen der Staatstätigkeit erteilt Mößle eine Absage. Mit Rudolf Smend und Hermann Heller kennzeichnet er den Staat als dynamisch und prozesshaft. Dabei wird er von Integrationsprozessen begründet, aufrechterhalten und fortgebildet.57 Diese Prozesse sind nicht wertneutral, sondern setzen politische Ziele um.58 Die nachfolgenden Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft beschäftigen sich mit dem seinerzeit höchst aktuellen Thema der sogenannten „konzertierten Aktion“. Mößles Grundkonzepte des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zur repräsentativen Demokratie und der Dynamik sind immer noch aktuell und anschlussfähig. Völlig zu Recht seziert er gründlich und kleinteilig Struktur und Einfluss der Parteien, nebst Fraktionen im Verhältnis zum „Volk“. Hier ergeben sich weitere Fragen. Wie wäre in diese Bestandsaufnahme der wachsende Einfluss der „Bürgerreporter“, 50

Mößle (Fn. 3), S. 9. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, 1998, S 1065. 52 Luhmann (Fn. 51), S 1065. 53 Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 626. 54 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 426. 55 Mößle (Fn. 3), S. 16. 56 Mößle (Fn. 3), S. 23. 57 Mößle (Fn. 3), S. 28. 58 Mößle (Fn. 3), S. 30. 51

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der Blogger also, einzuordnen? Das World Wide Web mit seinen Social Media Diensten schafft neben den Parteien und den von Mößle nicht gewürdigten Medien eine weitere „Öffentlichkeit“, die mittelbar bedeutenden Einfluss auf parlamentarische und Regierungsentscheidungen ausübt. Der von ihm schon in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erarbeitete grundsätzliche Ansatz bei der Bestimmung des Verhältnisses von Parlament und Regierung hat sich, angesichts der umfassenden Rezeption seines Buches, bewährt. Damit böte, gerade zur oben aufgeworfenen konkreten staatsrechtlichen Frage nach der Herausgabe der Selektorenliste, Mößles differenzierte und historisch ausgreifende Sicht mit Sicherheit hilfreiche Konzepte. Hier zeigt sich allerdings auch, dass die Anwendung eigener Ansätze auf neue gesellschaftliche Fragestellungen in der Staatsrechtslehre eine höchst persönliche Aufgabe ist.59 Anders als in den Naturund Strukturwissenschaften, sind staatsrechtlichen Konzeptionen – bei aller intersubjektiven Anschlussfähigkeit, subtile persönliche Wertungselemente imanent, die nur durch die konkrete Person aktualisiert werden können. Hier nähert sich die Staatsrechtswissenschaft der Kunst an. Wie in der Kunst würde eine nur werkgetreue Fortführung als „epigonal“ empfunden und wäre im Übrigen auch der Fortentwicklung des Faches nicht sonderlich dienlich. Es bleibt aber sehr wohl, in der Staatsrechtslehre wie in der Kunst, die Frage nach den Nachwirkungen, nach dem Nachhall der wissenschaftlichen Arbeit. V. Erinnern und lesen – Hypothesen zur Rezeption und Reputation Die Generalfrage nach der Rezeption der Werke „Frühvollenderter“ ist eine metatheoretische Frage, die sich damit „über“ den üblichen rechtswissenschaftlichen Fragestellungen ansiedelt. Soll sie wissenschaftlich beantwortet werden, bietet die Rechtswissenschaft selbst allein keine geeigneten Werkzeuge. Die Frage betrifft im Kern eher die Wissenschaftstheorie, muss doch zunächst ein tragfähiges Konzept des Themas „wissenschaftliche Rezeption“ erarbeitet werden. Als Frage nach den Variations- und Selektionsmechanismen von Wissenschaft betrifft sie sehr konkret das Vorverständnis von Wissenschaft schlechthin. Auf einer ganz hohen Abstrakti59 Vgl. nur den von Peter Häberle entwickelten Topos der Verfassungslehre als „Wissenschaft und Literatur“, z. B. in: Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Auflage 1998, S. 521 ff., insbesondere S. 522 Fn. 898: „Trotz aller Kulturstaatlichkeit dürfte die Staatsrechtslehre auf die Künstler zu wenig zugegangen sein. […] Dieses Defizit ist um so bedauerlicher, als auch Staatsrechtslehre ein Stück ,Literatur‘ sein kann und, wo sie es ist, sich zusätzliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet. Große Stilisten wie Otto Mayer, Georg Jellinek oder Carl Schmitt [Anm. ACK: kursiv i. Orig.] haben darum wohl immer gewußt.“; dazu auch Schmitt Glaeser, Akademische Gedenkfeier für Wilhelm Mößle am 9. Mai 2003: „Für einen Professor, der seine ganze Person in ihrer Eigen- und Einzigartigkeit mit der Wissenschaft, speziell mit der wissenschaftlichen Lehre verbunden, der sein Leben daraus gemacht hat, gibt es keine Nachfolge.“

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onsebene stoßen wir, phänomenologisch vorgehend, auf eine Trennung zwischen „humanities“ und „science“, also den Kulturwissenschaften, Lebenswissenschaften60 (einschließlich der Geisteswissenschaften im weitesten Sinne) und den Natur- und Strukturwissenschaften. Nach hier vertretener Auffassung ist diese Trennung, nachdem die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht bei den „humanities“ einzuordnen wäre, überkommen, aber unplausibel. Es ist vielmehr von einem einheitlichen Wissenschaftsbegriff auszugehen.61 Von den sogenannten Naturwissenschaften gewonnene empirische Daten werden und müssen immer interpretiert und in Modelle integriert werden. Diese lassen wiederum Vorhersagen zu, die die weitere Empirie steuern. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft daher zyklisch.62 Die „formal sciences“, die „natural sciences“, die „social sciences“ und die „arts and humanities“ beteiligen sich mit ihren fachspezifischen Beiträgen.63 Diese Einheit der Wissenschaften fordert allerdings ihren Preis auch von den Rechtswissenschaften64: „Wissenschaftliches Vorgehen besteht in dem Aufstellen von klar definierten und empirisch überprüfbaren Aussagen von Sachverhalten und der Prüfung auf logische Konsistenz und Kohärenz.“65 Konsequenterweise fordern einzelne Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur mittlerweile diese Öffnung der Rechtswissenschaften zu den Natur- und Strukturwissenschaften hin66. Aus dieser Perspektive her60 Janich/Oerter, Der Mensch zwischen Natur und Kultur, 2012, S. 9; Roth, Aus Sicht des Gehirns, 2. Auflage 2009, S. 228: „Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – zwei Welten oder eine vielschichtige Einheit?“ 61 Vgl. z. B. Tetens, Wissenschaftstheorie, 2013, S. 77 f.; dazu näher: Janich/Oerter (Fn. 60), S. 18: „Beide [ACK: Natur- und Geisteswissenschaften] verfahren bezüglich ihrer Gegenstände und Methoden im Wesentlichen naturwüchsig: Sie haben kaum eine Rechtfertigung außer der, dass sie sich im Sinne einer ausreichenden Schar von Anhängern faktisch durchgesetzt haben.“; Roth (Fn. 60), S. 228: „In meinen Augen gibt es keinen fundamentalen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, und damit keine Definition dieser Wissenschaften über einen spezifischen Gegenstandsbereich“, S. 229: „All dies macht eine scharfe Trennung zwischen Natur auf der einen Seite und Geist, Kultur und Gesellschaft auf den anderen Seite im Hinblick auf den Menschen völlig unsinnig“; leicht relativierend: Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 330: „Auch die Unterscheidung von Geisteswissenschaft (die voraussetzen muß, daß der Geist woanders sei) und empirischer Wissenschaft (die voraussetzen muß, daß die Wirklichkeit woanders sei) wird dadurch obsolet – was nicht ausschließt, daß man über Disziplindifferenzierung ähnliche Unterscheidungen wiedergewinnt.“ 62 Tretter/Grünhut, Ist das Gehirn der Geist? – Grundfragen der Neurophilosophie, 2010, S. 40 f. 63 Als Hauptgruppen von Wissenschaften schlägt Hoyningen-Huene, in: ders. (Hrsg.), Systematicity – The Nature of Science, 2013, S. 30, diese vier Gruppen vor. 64 Adrian, Grundzüge einer allgemeinen Wissenschaftstheorie auch für Juristen, 2014, S. 111: „Rechtswissenschaft im Wettbewerb mit den Natur- und Strukturwissenschaften“. 65 Roth (Fn. 60), S. 229. 66 Adrian (Fn. 64), S. 115 ff. insbesondere S. 122 ff. Adrian stellt angesichts einer immer stärkeren Mathematisierung der Gesellschaft die berechtigte Forderung nach einer viel stärkeren Öffnung der Rechtswissenschaften zu den empirischen Wissenschaften und den Strukturwissenschaften hin.

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aus kann – auf der konzeptuellen Metaebene in diesem Sinne anschlussfähig67 – „Rechtswissenschaft“ als Teil des „Wissenschaftssystems“ und damit als gesellschaftliches Subsystem im Sinne Niklas Luhmanns vorgestellt werden. 1. Der systemtheoretische Deutungsrahmen: Wissenschaft als Funktionssystem der Gesellschaft a) Konzeptionelle Trennung von Bewusstseinssystemen und sozialen Systemen Wissenschaft, auch Rechtswissenschaft, wird hierbei als autonome68 und autopoietische69 „Fortsetzung der Kommunikation über Wahrheit und Unwahrheit, also die Fortsetzung in diesem symbolisch generalisierten Medium“70 verstanden. Wissenschaft besteht damit aus fortgesetzten Kommunikationen im Medium Wahrheit. Sie ist nicht als aus realen (Rechts-)Wissenschaftlern zusammengesetzt zu denken. Dies widerspricht eklatant der intuitiven Alltagserfahrung. Wissenschaft wird hier regelmäßig personal erfahren und damit auch emotional erlebt. Die überkommene Anknüpfung an Subjekte im klassischen Sinn wird jedoch problematisch, wenn die hier in Rede stehenden wissenschaftlichen Rezeptionsprozesse untersucht werden sollen. „Kein individuell bewußtes Wissen läßt sich isolieren, wie immer überzeugend dem Einzelnen ,sein‘ Wissen erscheinen mag.“71 Daher ist die Zurechnung von Wissen nicht mehr zum einzelnen subjektiven Bewusstsein vorzunehmen, sondern Kommunikationen zuzurechnen. Mit den Worten Luhmanns also von „psychischer auf soziale Systemreferenz“ umzustellen.72 Kommunikation im sozialen System Wissenschaft setzt allerdings psychische Systeme voraus. Diese bilden als psychische Systeme freilich lediglich eine Umwelt für die Rechtswissenschaft.73 Dabei operieren die psychischen Systeme und die sozialen Systeme selbstreferentiell geschlossen und sind damit füreinander unzugänglich, gleichwohl „gekoppelt“. Diese Kopplung geschieht durch das Konzept der „Person“. Diese Struktur eines sozialen Systems ermöglicht den Bezug auf bestimmte psychische Systeme, ermöglicht Zurechnung von Kommunikationen. Dies macht die Kommunikation im Wissenschaftssystem bedeutungsvoll und verleiht ihr Eigenständigkeit als „operativ selbstständiges System“74. Dabei ist die Frage, wer oder was als Person zählt, jeweils

67 Gerade die hohe Abstraktheitsvariabilität der Systemtheorie Luhmannscher Prägung lässt sie als Super- bzw. Rahmentheorie sehr geeignet erscheinen. 68 Luhmann (Fn. 61), S. 289 f. 69 Luhmann (Fn. 61), S. 285 f. 70 Luhmann (Fn. 61), S. 285. 71 Luhmann (Fn. 61), S. 22. 72 Luhmann (Fn. 61), S. 23. 73 Luhmann (Fn. 61), 1992, S. 23. 74 Luhmann (Fn. 61), S. 24.

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vom sozialen System abhängig.75 Diese Unterscheidung zeigt sehr deutlich, dass die Operationen des Bewusstseinssystems eines Wissenschaftlers strikt von den Wissenschaftskommunikationen zu trennen sind. Dies ist gerade im Hinblick auf die „Frühvollendung“ sehr bedeutsam. Dadurch, dass der Subjektsbegriff aufgegeben wurde, ist aus systemtheoretischer Sicht schon zu Lebzeiten von Rechtswissenschaftlern von einer völligen Trennung von persönlicher Sphäre und Kommunikation im Wissenschaftssystem auszugehen. Das lenkt den Blick auf die Fragestellung, wie überhaupt Rezeptionsprozesse im Wissenschaftssystem beschrieben werden können und ob und welchen Einfluss der persönliche Tod des Wissenschaftlers auf diese Prozesse hat. b) Reputation als Positivauslese und „zweite Codierung“ des Wissenschaftssystems „Als Subjekt hat jeder Anspruch, mit seinem Zweifel gehört zu werden. Im Kontext der Intersubjektivität werden Zweifel gewichtet und in Grenzfällen aus der Kommunikation ausgeschlossen.“76 Das Kommunikationsmedium des Wissenschaftssystems – Wahrheit – rechnet Kommunikationen einzelnen Personen zu und „führt auf diese Weise Kausalität in ein prinzipiell zirkuläres Geschehen ein.“77 Gleichwohl sind Beobachter des Wissenschaftssystems grundsätzlich überfordert, weil ständig neue Kommunikationen anfallen und zu beurteilen sind. Hier ist „Reputation“78 ein symbolisches Orientierungsmittel. Sie bezeichnet nach Luhmann die „Erstkommunikation neuen Wissens“79. Nach Luhmann ist sie ein Analogcode, da man von mehr oder weniger Reputation sprechen kann, ist aber insofern binär strukturiert, als das Fehlen von Reputation eine negative Bewertung der wissenschaftlichen Leistung bedeutet. Sie hilft dem Beobachter das auszuwählen, das „mehr Beachtung verdient als anderes.“80 Insbesondere was gelesen und zitiert, kurz rezipiert werden soll, wird maßgeblich durch Reputation gesteuert. Die Reputation ist namensabhängig, nach Luhmann soll dies allerdings „…( solange sie [Anm. ACK: die Namen] nicht komisch sind oder unaussprechbar)“81 keine eigene wissenschaftliche Bedeutung haben. Reputation wird vom Wissenschaftssystem autonom und dezentral verteilt, eine institutionalisierte Zuteilung von Reputation würde, so Luhmann auf „Politik“ hinauslaufen.82 Dem Einwand, dass es ja schließlich sehr viele reputationsstiftende Preise in der Wissenschaft gibt und somit Reputation doch schon maßgeblich institutionalisiert ist, entgegnet Luhmann, dass diese jeweils als Anerkennung schon 75

Luhmann (Fn. 61), S. 34. Luhmann (Fn. 61), S. 351. 77 Luhmann (Fn. 61), S. 245. 78 Luhmann (Fn. 61), S. 245. 79 Luhmann (Fn. 61), S. 247. 80 Luhmann (Fn. 61), S. 246. 81 Luhmann (Fn. 61), S. 246 82 Luhmann (Fn. 61), S. 246. 76

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vorhandener Reputation stilisiert werden.83 Er sieht die Effektivität des „Reputationsmechanismus“ auf Nachfrage nach Reputation beruhend – insofern spricht Luhmann auch konsequenterweise von einem Reputationsmarkt84 – und vermutet die Kritik an dem Reputationskonzept eher bei den hierdurch Benachteiligten.85 Gleichwohl konzediert auch Luhmann die Möglichkeit der Störung des Reputationsmechanismus durch „reziprokes Bindungsverhalten“86, eine schöne Umschreibung für die berüchtigten „Zitierkartelle“. Ebenfalls zugestanden wird der selbstverstärkende Charakter von Reputation. Gleichwohl betont Luhmann, dass Reputationszuschreibung durchaus Verbindung zum Wahrheitsmedium hat, da jene „verhältnismäßig sachgerecht, oder jedenfalls kohärent und konsensfähig“87 zuerkannt wird. Daher und aufgrund der damit verbundenen Orientierungsfunktion weist Luhmann der Reputation die Bedeutung eines „Nebencodes des Wahrheitsmediums und damit des Wissenschaftssystems“88 zu. In Abgrenzung zum „Programm“ strukturiert der Reputationsmechanismus – mit seiner Differenz von mehr oder weniger Reputation – das ganze Medium ohne eine Bedingung der Richtigkeit anzugeben. Zuspruch oder Versagung von Reputation richtet sich nach den „wissenschaftlichen Leistungen“.89 Das Fehlen von Reputation begünstigt „Übersehen und Vergessen“90. Damit erweist sich Reputation als wissenschaftsspezifisch. In den deutschen Rechtsfakultäten sind ja Wissenschaftssystem und Erziehungssystem (im Luhmannschen Sinne) institutionell gekoppelt91, gleichwohl wirkt sich ein rechtsdidaktisches Engagement immer noch nicht so reputationsförderlich aus, wie eines auf der Fachebene.92 Luhmann zählt auch die konzeptionellen Nachteile des Reputationsmechanismus auf: rein reputationsabhängige Themenwahl, Publikationsdruck, stärkere Bedeutung von Namen als von Sachinhalten, Widerspruch gegen die „Norm kollegialer Gleichheit“93, Empfindlichkeit gegenüber Außeneingriffen – wie etwa der Konflikt von Wissenschaftssystem und Politiksystem angesichts der „Politikerdissertationen“ gezeigt hat, und konzeptionell das Angewiesensein auf „Vertrauen in eine erheblich verkürzte Kommunikation“.94 83

Luhmann (Fn. 61), S. 246. Luhmann (Fn. 61), S. 680. 85 Luhmann (Fn. 61), S. 246. 86 Luhmann (Fn. 61), S. 351. 87 Luhmann (Fn. 61), S. 353 88 Luhmann (Fn. 61), S. 247. 89 Luhmann (Fn. 61), S. 247. 90 Luhmann (Fn. 61), S. 352. 91 Luhmann (Fn. 61), S. 353. 92 Vgl. z. B. Bergmans, Grundlagen der Rechtsdidaktik an Hochschulen, 2014, S. 21 ff. m.w.N.; umfassend dazu: Karger, Rekonstruktion des Rechtsunterrichts am Beispiel des materiellen Strafrechts, 2010, S. 13 ff. 93 Luhmann (Fn. 61), S. 354. 94 Luhmann (Fn. 61), S. 354. 84

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c) Der frühe Tod eines Wissenschaftlers als „Reputationsschub“? Der hier zu untersuchende Bereich der Rezeptionsforschung muss vor dem Hintergrund von zwei Systemreferenzen gesehen werden. Zum einen aus der Perspektive des Bewusstseinssystems, zum anderen aus der Perspektive des Wissenschaftssystems. Nur das Bewusstsein des jeweiligen Wissenschaftlers kann überhaupt verlässlich feststellen, ob „schon alles gesagt ist“. Damit ist die Frühvollendung in einer Weise ein Bewusstseinskonstrukt, das nicht unmittelbar kommunizierbar ist. Mittelbar wird es in Form von resümierenden Texten im Wissenschaftssystem kommuniziert. Ein sehr krasses Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte ist das kurze Leben von Evariste Galois (1811 – 1832). Der junge Mathematiker sah sich, auch angesichts einer Duellforderung, genötigt, seine bisherigen mathematischen Untersuchungen (etwa 60 Manuskriptseiten zur Lösung von höhergradigen Polynomen) niederzuschreiben und für die Veröffentlichung vorzubereiten. Am Vorabend des Duells fasste er in einem Brief an seinen Freund Auguste Chevalier seine Ergebnisse in einer Art wissenschaftlichem Testament zusammen95. Am 31. Mai 1832 erlag Galois zwanzigjährig den bei dem Duell am Vortag durch einen Bauchschuss erlittenen Verletzungen. Nur auf Umwegen wurde sein Werk veröffentlicht. Es löste nicht nur ein seit über 300 Jahren bestehendes mathematisches Problem, sondern zeigte sich zudem grundlegend für die moderne Algebra, nämlich die Gruppentheorie und die Galoistheorie96. Gleichwohl: Die Bedeutung des – aus heutiger Sicht zu frühen Todes von Galois – wurde von seinen Zeitgenossen nicht erkannt. Seine Papiere gelangten zu J. Liouville, der die wichtigsten Papiere 1846 veröffentlichte. Größere Bekanntheit erlangte Galois allerdings erst knapp 40 Jahre nach seinem Tod. 1870 veröffentlichte der französische Mathematiker C. Jordan ein mathematisches Lehrbuch, in dem Galois im Vorwort besonders gewürdigt wird und das seine Ergebnisse ausführlich darstellt und weiterführt.97 Erst durch die sehr späte posthume Bedeutsamkeit seiner Arbeit entstand hier Reputation, die rückwirkend den frühen Tod von Galois als großen Verlust für die Wissenschaft erscheinen ließ. Im Wissenschaftssystem ist damit der Tod eines Wissenschaftlers auch ein Element des Reputationsmechanismus’. Dies wird umso deutlicher, wenn man mit Luhmann eine historische Perspektive einnimmt. Luhmann vertritt nämlich hier die These, dass erst mit der Verbreitung des Buchdrucks der Reputationsmechanismus heutiger Prägung zu arbeiten begann98: „Erst die massenhafte Produktion größerer 95

Wußling/Arnold, Biographien bedeutender Mathematiker, 1975, S. 396. Einführend: Oswald/Steuding, Elementare Zahlentheorie, 2015, S. 278 f.; vertiefend: Pinter, A Book of Abstract Algebra, 2nd ed., 1990, S. 311 ff. 97 Wußling/Arnold (Fn. 95), S. 397. 98 Luhmann (Fn. 61), S. 248. 96

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Textmengen hat es erforderlich (und zugleich realistisch) werden lassen, Texte auf identifizierbare Personen zu beziehen“99. Dabei seien auch vor dem Buchdruck „die Heroen natürlich verehrt [worden]“100, aber eher im Sinne einer „quasi-allegorischen Benennung der Schriften“101. „Lebende hatten dann kaum eine Chance mitzuhalten.“102 Die historische Perspektive macht es zumindest plausibel, dass vor der Verbreitung des Buchdrucks der persönliche Tod fast eine Art notwendige Voraussetzung für „Reputation“ war, weil das Reputationssystem eben eher ein allegorisch-mythisches war. Als solches war es intensiv verwoben mit einem durch Projektionen aufgeladenen Subjekt. Das heutige Reputationssystem benötigt zwar immer noch den Namen des Wissenschaftlers als Zurechnungspunkt, verteilt aber ansonsten weitgehend autonom und autopoietisch Reputation und damit gesteigerte Rezeptionswahrscheinlichkeit. Mit dem Tod des Wissenschaftlers endet die Möglichkeit, selbst am Wettbewerb um Reputation teilzunehmen. Im Sinne des „reziproken Bindungsverhaltens“ könnten hier natürlich kurzfristig auf den Reputationsmechanismus einmalig oder wiederkehrend einwirkende Kommunikationen wie „Trauerkolloquien“103, Gedächtnistagungen, Gedenkschriften u. Ä. wirksam werden. Inwieweit das die langfristige Reputation stärkt oder schwächt, kann wohl kaum auf dieser Abstraktionshöhe entschieden werden. Das Luhmannsche Konzept ist nämlich für die Rechtswissenschaft zu erweitern. Anders als vielleicht bei den empirischen Wissenschaften wird hier Reputation eher selten durch die Erstmitteilung empirischer oder strukturwissenschaftlicher Sachverhalte, sondern durch ganz unterschiedliche wissenschaftliche Leistungen erzeugt. Die Kategorisierung und Strukturierung spezifisch rechtswissenschaftlicher Leistungen und deren Bezug zum rechtswissenschaftlichen Reputationssystem ist im vorliegenden Rahmen nicht zu leisten. Mögliche Eckpunkte seien daher nur kurz angedeutet. Der Reputationsbegriff ist zeitlich zu erweitern: Er ist in eine prä- und postmortale Phase zu aufzuteilen. Des Weiteren ist die Abhängigkeit der Reputation vom Internet, namentlich vom World Wide Web zu untersuchen. Die auch in dieser Untersuchung verwendete Google Suche genügt zwar kaum strengen wissenschaftlichen Anforderungen etwa in wissenschaftstheoretischer Hinsicht104. Den Reputationsmechanis99

Luhmann (Fn. 61), S. 248. Luhmann (Fn. 61), S. 248. 101 Luhmann (Fn. 61), S. 248. 102 Luhmann (Fn. 61), S. 248. 103 Für Wilhelm Mößle fand in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth am 9. Mai 2003 eine akademische Gedenkfeier statt. 104 Der von Brin und Page entwickelte und 2001 patentierte „PageRank Mechanismus“ ist lediglich ein Maß für den Vernetzungsgrad einer Website, vgl. Fischer, Lineare Algebra, 18. Auflage 2014, S. XVI. 100

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mus beeinflusst allerdings eine hohe Trefferzahl oder gar die zitierfähige Verfügbarkeit von Texten online. Hier drohen oder realisieren sich Reputationsverwerfungen, die Luhmann zwar allgemein angedeutet hat, die aber seinerzeit kaum so konkret vorhersehbar waren. Andererseits zeigt sich hier die Stärke des Luhmannschen Reputationskonzeptes. Es ist in besonderem Maß anschlussfähig an mathematische Reputationsmodelle, die zunehmend, etwa durch den Einsatz graphenbasierter Datenbanken, auch wissenschaftliche Produktions- und Rezeptionsprozesse als „Big Data“ begreifen und entsprechend mit mathematischen Methoden105 auswerten. Nachdem Luhmann die besondere Themen- und auch Modeabhängigkeit der Reputation dargelegt hat, ist er nach Themenbereichen106 aufzuteilen. So gibt es sehr praxisnahe und daher zeitbedingte Themen, die typischerweise für Reputation sorgen, solange sie aktiv vom Autor oder der Autorin bearbeitet werden. Verstummt der Bearbeiter, verblasst in der Regel auch die Reputation. Solche Konzepte bleiben, wenn sie auch terminologisch „auf den Begriff“ gebracht wurden, langfristige auch postmortale Reputation. So ist es für die Rechtswissenschaft sehr wertvoll, bestimmte gesetzliche oder dogmatische Sachverhalte „auf den Begriff“ zu bringen. Solche Leistungen können langfristige, wiederholte Rezeption und damit auch Reputationsgewinn bewirken. Sie lösen sich allerdings zuweilen vom Autor und werden Allgemeingut, etwa der von Carl Schmitt in anderem Zusammenhang geprägte Begriff vom „Großraum“107, der sogar aus dem Wissenschaftssystem über das Politiksystem ins allgemeine Gesellschaftssystem ausgewandert ist und nunmehr auschließlich in Verkehrsmeldungen Verwendung findet. Als Paradebeispiel sei hier auch Georg Jellinek mit seiner Drei-Elemente-Lehre genannt. Obschon sie im Europa unserer Zeit kaum noch etwas erklären kann, ist sie wohl auch deshalb so erfolgreich, weil man den Sachinhalt an drei Fingern abzählen kann. Sie kann überdies durch ihre Einfachheit die Grenzen der Fachwissenschaft überwinden und sich in Nachbarwissenschaften wie etwa den Politikwissenschaften ansiedeln. Eine vergleichbare Lehre gibt es in den Neurowissenschaften: McLeans Konzept des „Triune Brain“, das unser Gehirn als aus einem stammesgeschichtlich alten Reptilien- und einem Alt- und Neusäugergehirn beschreibt, ist zwar wissenschaftlich überholt, aber auf-

105 Vgl. neue Querschnittsstrukturwissenschaften wie z. B. die Netzwerktheorie. Diese abstrahiert Sachverhalte zu Knoten und Kanten und gewinnt so eine nahezu universale Einsetzbarkeit; Estrada/Knight, A First Course in Network Theory, 2015, S. 2: „the abstract concept of a network represents a wide variety of structures in which the entities of the complex system are represented by the nodes of the network, and the relations or interactions between these entities are captured by means of the edges of the network.“; eine kleine Kostprobe dieser „mathematisch exakten Reputation“ zeigt sich z. B. beim Social Medium „Twitter“ am Verhältnis von „Followern“ zu „Following“. Der Dalai Lama z. B. hat – bei nur etwas über 1.100 Tweets – über 11.700.000 Mio. Follower, folgt aber selbst niemandem. 106 Luhmann (Fn. 61), S. 445, deutet die Spezialisierungsmöglichkeit an. 107 Wie er etwa im Titel einer Publikation von 1939 anklingt („Völkerrechtliche Großraumordnung und Interventionsverbot für raumfremde Mächte“).

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grund seiner Einfachheit immer noch – vor allem bei Nicht-Neurobiologen – sehr beliebt.108 Es zeigt sich deutlich, dass der Topos der „Frühvollendung“ oder des „zu frühen Todes“ zunächst und originär nur ein Topos des Bewusstseinssystems des jeweiligen Wissenschaftlers sein kann. Nur dieser weiß letztlich, ob „alles gesagt“ ist. Als Kommunikationstopos des Wissenschaftssystems funktioniert er völlig anders: Er ist Ausdruck von bestehender „Reputation“. 2. Zusammenfassende Thesen a) Die Frage nach dem Zusammenhang von Reputation und Tod eines Wissenschaftlers ist eine – bezogen auf die Staatsrechtslehre – metatheoretische Frage. Diese ist zu wesentlichen Teilen von der Wissenschaftstheorie zu beantworten. b) Die überkommene Trennung von „humanities“ und „science“ ist scheinbar plausibel, aber letztlich nicht befriedigend begründbar. Die Geisteswissenschaften, und mit diesen auch die Staatsrechtslehre, sind allerdings aufgefordert, sich nicht nur „verwandten Fächern“109, sondern auch den Struktur- und Naturwissenschaften zu öffnen. c) Die Systemtheorie Luhmannscher Prägung kann hierbei als „Super-“ bzw. Rahmentheorie für eine kontrollierte Integration der verschiedenen Wissenschaften sorgen. - Bezogen auf das Thema „Reputation“ hilft sie, zwischen den Bewusstseinssystemen der Rechtswissenschaftler und dem Wissenschaftssystem zu unterscheiden. - Das staatsrechtswissenschaftliche Subsystem kommuniziert seine Inhalte autonom und autopoietisch. Es relativiert damit die Frage, ob die Schöpfer der zugrundeliegenden Konzepte noch leben. - Die Frage der Bedeutsamkeit der kommunizierten Konzepte oder Konzeptteile ist mit der Frage der Reputation ihrer Urheber verbunden. Das Fehlen von Reputation begünstigt dabei ein „Übersehen und Vergessen“.110 d) Der Topos der „Frühvollendung“ oder des zu frühen Todes ist im Wissenschaftssystem ein Ausdruck von bereits bestehender Reputation. Er wird daher auch verwendet, wenn der betreffende Wissenschaftler selbst der Überzeugung war, eigentlich alles gesagt zu haben. 108 Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 1997, S. 197: „Das Konzept […] ist aber falsch, und zwar aus folgenden Gründen: (1) Alle wesentlichen Teile des Wirbeltiergehirns sind in der Evolution gleichzeitig entstanden. […]. (2) Neuere neuroanatomische und physiologische Untersuchungen zeigen, daß Hirnstamm, limbisches System und Neocortex anatomisch und funktional aufs engste miteinander verbunden sind […].“ 109 Wie etwa der Soziologie, der Philosophie oder der Politologie. 110 Luhmann (Fn. 61), S. 352.

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VI. Schlussbemerkungen Nicht nur die Selektorenfrage, auch die dramatische Zuspitzung der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 zwingt dazu, eine Neubestimmung des Verhältnisses von Parlament und Regierung vorzunehmen. Dabei werden bei der Flüchtlingskrise augenscheinlich – anders als bei der Behandlung der Selektoren – die Grenzen des Nationalstaates überschritten.111 Dies kann als „Krise des neuzeitlichen Konstitutionalismus“ beschrieben werden112. Einer solchen „Krise“ korrespondieren neue Politikverständnisse, wie etwa das von Dirk Baecker: „Politik wird zur Steuerung und Kontrolle von Inklusions- und Exklusionsmechanismen im Medium einer universellen Konnektivität, die zwischen digitalen Anschlüssen und analogen Problemstellungen mehr oder minder transparent oszilliert. Fragen der Gemeinschaft (Politik 1.0), der Repräsentation (Politik 2.0) und der Demokratie (Politik 3.0) werden nicht obsolet, aber überformt von Fragen der Kontrolle von Projekten im Netzwerk (Politik 4.0). Die klassischen Universalitätsansprüche der Politik werden zu Ansprüchen, Zugänge zur jeweils eigenen Nische regeln (Kontrolle) und vertreten (Legitimität) zu können.“113

Mößles differenzierte Wahrnehmung und normative Beschreibung des Verhältnisses von Parlament und Regierung ist anschlussfähig auch für verfassungssoziologische Impulse. Jenseits von „Re-Nationalisierung“ und „Repolitisierung“114 kann diese – ganz im Sinne Mößles – auch „historisch-empirische Analysen des Verfassungsphänomens mit normativen Perspektiven verknüpfen“115. Zwischen Recht und Politik verortet Mößle das Gesetz116 : „Als auf die Formung des Gemeinwesens gerichtete Zielsetzung und Willensäußerung ist ,Politik‘ kein Gegensatz zum ,Recht‘. Die politische Natur einer Entscheidung schließt ihre rechtliche Formung nicht aus, das Gesetz versieht sie vielmehr mit normativer Geltung und ist unter diesem Blickwinkel Werkzeug und Ausdruck der Politik, rechtliche Gestaltung der politischen Entscheidung. […] Der instrumentale Einsatz des Rechts bedeutet nicht seine beliebige Verfügbarkeit zur Durchsetzung politischer Zielsetzung. Das Recht verliert seine Identität, wenn politische Richtigkeit und Nützlichkeit, Staats- und Parteiräson, Gruppeninteressen oder bürokratische Effizienz zu seinem ausschließlichen Maßstab werden. Die Umsetzung der politischen Entscheidungen in die Form des Rechts unterwirft sie 111

Vgl. zur Frage Nationalstaatsverfassung versus Globalverfassung Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, S. 12 ff. 112 Nachweise dazu bei Teubner (Fn. 111), S. 12 Fn. 3. 113 Baecker, Thesen zum Vortrag „Politik 4.0: Hegemonie im Netzwerk“ auf der Tagung der Bundespressekonferenz, der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschlandradios, „Formate des Politischen: Medien und Politik im Wandel: Eine Konferenz für Journalisten, Politiker, Bürger“, Haus der Bundespressekonferenz, Berlin, 26.–27. November 2015. 114 Teubner (Fn. 111), S. 13. 115 Teubner (Fn. 111), S. 14. 116 Mößle (Fn. 3), S. 193 ff.

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auch seinen speziellen Standards: der Bestimmtheit und Berechenbarkeit, Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit, der Geeignetheit und der Folgerichtigkeit, aber auch der grundlegenden Prinzipien der Verfassung, die die politischen Zielsetzungen und Zweckmäßigkeitserwägungen disziplinieren und begrenzen.“117

Dies gilt es heute – deutlicher denn je – zu erinnern.

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Mößle (Fn. 3), S. 203 f.

Niklas Luhmann – ein Phantom der Postmoderne Von Thomas Huber I. Einleitung In der Wirtschaft spricht man von sogenannten „hidden champions“1. Das sind Weltmarktführer, die auf einem recht spezialisierten Gebiet und auch nur für einen begrenzten Kundenkreis arbeiten, deren Arbeit aber oft wiederum die Basis darstellt für an die Leistung der hidden champions anknüpfende weitere Tätigkeiten der dann wiederum populären Unternehmen. Ein aktuelles Beispiel bietet die Alpentransversale NEAT, die „Neue Eisenbahn-Alpentransversale“2, ein Mammut- und Jahrhundertprojekt, bei dem insbesondere dem Gotthard-Basistunnel3 eine zentrale Funktion zukommt. Ohne diesen wären die weiteren Bahnstrecken und geplanten großen europäischen Verkehrsadern nicht möglich – es handelt sich also auch um ein durchaus politisches Projekt, welches die Einigung Europas durch die Verbesserung der Infrastruktur weiterbringen soll4. Welchem Unternehmen nun gelang maßgeblich die technische Pionierleistung des Baus des Gotthard-Basistunnels durch den Tunnelvortrieb? Einem großen Konzern? Einer börsennotierten Aktiengesellschaft? Einem internationalen Konsortium verschiedener Unternehmen? Nein, weder noch; diese technische Meister- und Pionierleistung erbrachte ein weithin unbekanntes kleines Unternehmen aus dem Südwesten Deutschlands, der badischen Ortenau, die Firma Herrenknecht AG5, ein Unternehmen im Familienbesitz mit ca. 5.000 Mitarbeitern, spezialisiert auf Tunnelvortriebsmaschinen, eben ein sogenannter „hidden champion“. 1 H. Simon, „Hidden Champions“. Speerspitze der deutschen Wirtschaft. Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 1990, S. 875 – 890. 2 Kritisch Rutschmann, Neue Eisenbahn-Alpentransversale Gotthard-Basislinie: Von der ersten Studien zum Bauprojekt 1974 – Opfer der Politik und des Kleinmutes, 2004. 3 Dazu ausführlich Jeker, Gotthard-Basistunnel. Der längste Tunnel der Welt, 2. Auflage 2013. 4 Die NEAT geht zurück auf das „Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über den Güterverkehr auf Strasse und Schiene“ vom 21. Oktober 1991 bzw. 2. Mai 1992. 5 s. u.a. die Unternehmenswebsite: www.herrenknecht.com sowie Buchenau, Herrenknecht, Mit Köpfchen durch die Wand in: Handelsblatt vom 15. Januar 2009, und Interview mit Martin Herrenknecht im Handelsblatt vom 14. März 2016: „Die Sanktionen gegen Russland müssen weg“.

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Ist Niklas Luhmann, der Pionier der Systemtheorie, der Tausendsassa zwischen Rechtswissenschaft und Systemtheorie, der Meister des Zettelkastens6, der unverständlichste7 und erratischste8 aller Theoretiker der jüngsten Zeit, noch dazu früh verstorben, auch ein solcher „hidden champion“? Oder ist Niklas Luhmann, der sein Forschungsprojekt „Theorie der Gesellschaft“ auf 30 Jahre von 1969 bis 1999 anlegt9 und dann aber 1998 stirbt, ein Frühvollendeter?10 II. Biographie als (unwahrscheinlicher) Ausgangspunkt Niklas Luhmann und seine Systemtheorie haben eine erstaunliche Karriere vollzogen: Obwohl Biographisches recht irrelevant ist11, werfen wir hier einen kurzen Blick auf Niklas Luhmanns Karriere12; auch, um diese und die damit einhergehende Theorieproduktion in einer gewissen gesellschaftlichen Zeitperiode, nämlich der westdeutschen Nachkriegszeit in der alten Bundesrepublik Deutschland, zu verorten: Niklas Luhmann begann nach dem Studium der Rechtswissenschaften 1954 seine berufliche Tätigkeit als Verwaltungsbeamter, als Oberregierungsrat und Landtagsreferent, im niedersächsischen Kultusministerium. Dort war er systembedingt (sic!) chronisch unterfordert, so dass er die üppigen Ressourcen, insbesondere in zeitlicher Hinsicht, die ihm sein nur wenig fordernder Job zur Verfügung stellte, nutzte, um erste Reflexionen anzustellen über seine Tätigkeit in der Verwaltung. In dieser Zeit entstanden Aufsätze wie „Der neue Chef“13. Hier verdichtete Luhmann auch „Erfahrungen, die er von 1954 an acht Jahre lang als niedersächsischer Ministerialbeamter gemacht hatte und die aufzuschließen ihn zur soziologischen Theorie drängte“14 : „Die bürokratische Verwaltung fordert im Prinzip einen unpersönlichen Ar6 Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in: ders., Universität als Milieu, 1992, S. 53 – 61. 7 „Soll man alles, was gesagt wird, gleichermaßen unter die Knute der Verständlichkeit zwingen?“, Luhmann, Unverständliche Wissenschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 4. Auflage 2005, S. 170 (193) und weiter: „Man möchte sich Sprachformen wünschen, die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern“, ebd. S. 176. 8 Dazu Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: ders./Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, 1987, S. 127: „Der Stil ist miserabel, und die Aussage ist dunkel.“ 9 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 11. 10 s. dazu unten unter III. 2. 11 Wenn jemand Biographisches „braucht, um zu verstehen, was ich geschrieben habe, dann habe ich schlecht geschrieben“, Luhmann, Archimedes und wir, 1987, S. 19. 12 s. dazu u. a. Horster, Niklas Luhmann, 1997, S. 25 – 47. 13 1962 erschienen in der Zeitschrift Verwaltungsarchiv, 53. Jahrgang im Umkreis Luhmanns großen Werks Funktionen und Folgen formaler Organisation; vgl. Kaube, Nachwort, in: Luhmann, Der neue Chef, 2016, S. 61; über 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen wurde der Beitrag 2016 wieder erfolgreich veröffentlicht. 14 Kaube (Fn. 13), S. 62.

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beitsstil. Die Voraussetzung dafür schafft sie durch Garantie einer Verhaltensordnung, in der hohe Erwartungssicherheit herrscht. Der Alltag ist für den Beamten geregelt. Er kann seine Gefühle für sich behalten.“15 Aus Beobachtungen in dieser Zeit entstanden weitere Aufsätze, die auch Themen erfassen, die uns heute mehr beschäftigen denn je, zum Beispiel „Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten“16. Schon hier wird auch in diesem Kontext der Ausblick auf den Tod sichtbar, der die Zeitspanne für die Vollendung eines Lebenswerks, früh- oder spätvollendet, begrenzt. Die Lebenszeit ist die Makroperspektive, die tägliche Hatz gegen die Uhr die Mikroperspektive: „In allen herausgehobenen, kontaktreichen Stellen öffentlicher oder privater Verwaltung ist der Arbeitsalltag in hohem Maße durch Termine und Fristen (…) bestimmt.“17 Es fehlte jedoch in jener Zeit ein theoretischer Ansatz für die weitere wissenschaftliche Arbeit Niklas Luhmanns. Die dröge Tätigkeit in der Verwaltung sowie die ebenso wenig inspirierende Verwaltungswissenschaft18 boten nur wenige Möglichkeiten für die Entwicklung einer umfassenden Theorie auf Basis dieser ersten Beobachtungen19. So nutzte Niklas Luhmann die Möglichkeiten seines Postens, um dem Bewerber für ein Stipendium an der Harvard Universität, Cambridge, MA, bei Talcott Parsons20 dieses auch adäquat zu ermöglichen: nämlich ihm selbst!21 Bei diesem Studienaufenthalt (1960 – 1961) wurde die Basis für die weitere theoretische Fundierung des Werks gelegt, die sog. Autopoetische Wende, also die Fundierung von Niklas Luhmanns Theorie auf den Prinzipien der Autopoiesis, die mit Erscheinen von Soziale Systeme 1984 vollzogen wurde. Autopoiesis bedeutet dabei – vereinfacht gesagt –, dass ein System selbst die Komponenten erzeugen kann, aus denen es besteht22. Die Systemtheorie selbst entwickelte sich dabei im Laufe ihrer Darstellung ständig weiter23. 15

Luhmann (Fn. 13), S. 6. In: Politische Planung, 1971, S. 143 – 164. 17 Luhmann, Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten in: Politische Planung, 1996, S. 143 (146 m.w.N. in Fn. 11). 18 Auch heute kämpft noch das Öffentliche Recht mit seiner Vermittlung, s. dazu nur Frenzel, Zugänge zum Verfassungsrecht. Ein Studienbuch, 2009, S. 1: Es bestehe die Notwendigkeit, das „(…) Verfassungsrecht zu veranschaulichen und verschiedene Wege zur eröffnen, sich diese als abstrakt geltende Materie zu erschließen“, und weiter: „Wenngleich Sentiment in der Wissenschaft eher verpönt ist, soll“ das Gefühl erzeugt werden: Man soll sich „(…) gerne weiter mit dem Öffentlichen Recht auseinandersetzen“, Frenzel, ebd. 19 Beobachtung wird zu einem der Zentralbegriffe von Luhmanns Systemtheorie, s. dazu nur Huber, Systemtheorie des Rechts. Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns, 2007, S. 48 ff. 20 s. hierzu Parsons, Toward a General Theory of Action, 1951. 21 „Ich fand die Ausschreibung auf meinem Schreibtisch im Ministerium. Ich hatte die Aufgabe, solche Ausschreibungen an interessierte Stellen zu verteilen, aber das schloß nicht aus, mich selber zu bewerben“, Horster (Fn. 12), S. 33. 22 Huber (Fn. 19), S. 45. 16

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III. Niklas Luhmanns Systemtheorie und die Zeit ihrer Entstehung In der Rückschau betrachtet muss die Zeit, in der die Systemtheorie Niklas Luhmanns entstand, die späten sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts über die siebziger Jahre bis hin zu den frühen achtziger Jahren, eine Zeit gewesen sein, in denen in Europa die Fesseln der Nachkriegszeit abgelegt wurden und die Möglichkeiten schier endlos erschienen. 1. Die Universität Bielefeld war, ähnlich wie die Universität Konstanz24 oder die Ruhr-Universität Bochum,25 als sog. Reformuniversität, die u. a. eine Zusammenführung von Geistes- und Naturwissenschaften auf einem Campus projektierte, eine ambitionierte Neugründung26, die ihre neuen Strukturen auch architektonisch widerspiegelte, um so sozusagen eine Wechselwirkung zwischen Form und Inhalt zu gewährleisten.27 Es entstanden in dieser Zeit nicht nur Reformuniversitäten, sondern in ähnlichem Stil und mit ähnlich revolutionärer Aussage Wohn- und Bürosiedlungen, alle im Geiste der Planungseuphorie28 der damaligen Zeit29 : „Zu Beginn der 1960er Jahre bestand kein Zweifel daran, dass die Experten wissen, wie die Menschen zu ihrem eigenen Vorteil richtig wohnen sollten.“30 23

Die „sich ständige weiterentwickelnde Theorie gleicht dem Kölner Dom in seiner Unfertigkeit“, Di Fabio, Luhmann im Recht – Die juristische Rezeption soziologischer Betrachtung, in: Gripp-Hagelstange (Hrsg.), Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen, 2000, S. 142. 24 s. dazu Dahrendorf, Gründungsideen und Entwicklungserfolge der Universität. Zum 40. Jahrestag der Universität Konstanz, 2007. 25 s. dazu Stallmann, Euphorische Jahre. Gründung und Aufbau der Ruhr-Universität Bochum, 2004. 26 Maßgeblich beteiligt an der Neugründung war der Soziologe (sic!) Helmut Schelsky (1912 – 1984). 27 Wie der Ruhr-Universität Bochum 1969: „Der visionäre Charakter der Ruhr-Universität war Ausdruck eines zeitgenössisch schier unbegrenzten Vertrauens in die technische Lösbarkeit von Problemen. In den 1960er Jahren fand dieses Bewusstsein auch international in zahlreichen Konzepten großmaßstäblicher, maschinenhaft aufgefasster Architektur seinen Ausdruck (…)“, Hoppe-Sailer et al. (Hrsg.), Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, 2015. 28 Kritisch hingegen zur Planungstheorie Luhmann (Fn. 9), S. 430; kritisch auch G. Ulrich, Politische Steuerung. Staatliche Intervention aus systemtheoretischer Sicht, 1994, S. 17 – 21. Oft wurde auch bei all der Planung die Bedeutung Infrastruktur unterschätzt: s. dazu kritisch zur Stadtautobahn um Paris, der „Périphérique“: Schediwy, Städtebilder. Reflexionen zum Wandel in Architektur und Urbanistik, 2004, S. 187. 29 So z. B. auch die Bürostadt La Defénse in Paris, s. dazu Schediwy (Fn. 28), S. 169 ff. 30 Hopfner u. a. (Hrsg.), größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart, 2012, S. 29. Auch in der Folgezeit, in den 1970er Jahren, entstanden z. B. durch die berühmten Terrassenhäuser Harry Glücks in Alt-Erlaa, Wien, bis heute vorbildliche Großsiedlungen, s. dazu Seiss (Hrsg.), Harry Glück. Wohnbauten, 2014.

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2. Niklas Luhmann, ausgebildeter Jurist mit zwei Staatsexamina, begründete sodann den ersten Lehrstuhl für Soziologie an der neugegründeten Universität Bielefeld im Jahre 1969. Er benannte sein Forschungsprojekt wie folgt: „Forschungsprojekt: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine. Die Schwierigkeiten des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch eingeschätzt worden.“31 Den Geisteswissenschaften, also auch der Soziologie, kam in dieser Zeit zusammen mit der Kunst sozusagen die Rolle der Deutung des lange dominierenden technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts zu32. Sowohl in Geisteswissenschaften als auch in der Kunst ist nunmehr „die Technik, nicht mehr die Natur, das Bezugsfeld, zu dem sich die Kunst zu verhalten hat“33. Die Realität einer von den rasanten Fortschritten der Technik faszinierten Gesellschaft eröffnet Möglichkeiten „einer neuen, rationalen Ästhetik“34. Dies spiegelt sich eben nicht nur in den Geisteswissenschaften wider, sondern auch in der Kunst: Künstler dieser Zeit sind Günter Fruhtrunk, Victor Vasarely, Francois Morellet oder auch Günther Uecker35. Die Abstraktion wird zur Konkretion36. Serialiät wird dabei zu einem Schlüsselbegriff: „Serielle Ordnungen lassen sich als Methode, nicht als Stil begreifen“37, nicht nur in Kunst und Architektur, sondern auch in der Musik.38 IV. Niklas Luhmanns Œuvre Niklas Luhmann entwickelte in der Folgezeit in der Tat eine Theorie der Gesellschaft, allerdings mit einer ungewöhnlichen Schreib- und Denktechnik, die das heu-

Und heute sozusagen eine Renaissance, s. dazu Harnack, Rückkehr der Wohnmaschinen. Sozialer Wohnungsbau und Gentrifzierung in London, 2012, S. 14: Gibt es eine Renaissance? 31 Luhmann (Fn. 9), S. 11. 32 Die Gesellschaft bringt „eine Klasse von Wissenschaften hervor …, die im Verhältnis zur geschichtlichen und geistigen Welt des Menschen die Aufgabe der ,Theorie‘ übernehmen und so zur Basis einer Bildung werden, die nicht auf die Praxis abzielt und so auch nicht aus ihren Zweckanforderungen begründet werden kann“, J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, 1974, S. 105 (125). 33 A. Urban, Serielle Ästhetik in Kunst und Architektur. Die Ruhr-Universität in: HoppeSailer u. a. (Fn. 27), S. 203 (224). 34 Urban (Fn. 33), S. 203 (224). 35 Vgl. Urban (Fn. 33), S. 203. S. dazu jüngst auch die kleinen Männchen, die immer neue Ordnungen bilden, von Juan Genovés, Marlborough Fine Art, 4.–28. Juni 2014, London. 36 s. dazu auch Guderian u. a., Konkrete Kunst in Europa nach 1945, 2002. 37 Urban (Fn. 33), S. 203 m.w.N. 38 Z. B. Karl-Heinz-Stockhausen, 1928 – 2007, s. dazu z. B. M. Kurtz, Stockhausen – eine Biographie, 1988. Interessant in diesem Zusammenhang auch der Komponist John Cage, 1912 – 1992 oder später Name June Paik, 1932 – 2006.

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tige Denken in Hyperlinks39 antizipierte: dem Zettelkasten. Dieses Hilfsmittel benutzten unter anderen auch der Schriftsteller Arno Schmidt40 (vor Niklas Luhmann) oder auch der Medientheoretiker Friedrich Kittler41 (nach Niklas Luhmann). Dabei werden Gedanken, Exzerpte aus anderen Werken etc. in zahlreichen Karteikästen zusammengeführt und bei der Entstehung eines Textes sodann die Inhalte der Karteikarten in den Karteikästen im Wesentlichen reproduziert. Diese Arbeitsweise ermöglicht Luhmann eine immense Zahl an Veröffentlichungen, bringt aber auch viele Wiederholungen mit sich42. Die Theorie Niklas Luhmanns hat sich dann sozusagen auch durch ständiges Verweisen auf sich selbst reproduziert und weiterentwickelt: Es entstanden die Aufsatzbände Soziologische Aufklärung, Bd. 1 – 6 in den Jahren 1970 – 1995, deren Titel schon das Programm erläutern: „Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme“ (Band 1), „Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft“ (Band 2), „Soziales System, Gesellschaft, Organisation“ (Band 3), „Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft“ (Band 4), „Konstruktivistische Perspektiven“ (Band 5) und „Die Soziologie und der Mensch“ (Band 6). In eben diesem, letzten, sechsten Band dieser Buchreihe wird die Verortung des Menschen in der Umwelt von sozialen Systemen, eine zentrale Aussage von Niklas Luhmanns Systemtheorie, thematisiert: Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen43, denn „(…) die sozialen Systeme bestehen nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikationen“44. Menschen können demnach nicht kommunizieren45, „(…) nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren“46, mit anderen Worten: Kommunikation kommuniziert. Es entstanden weiter in rascher Folge die einzelnen Monographien zu den Funktionssystemen der Gesellschaft47: Die Wirt39 Einem Begriff aus der Computersprache, der ähnlich dem Verweis in Lexika auf die jeweiligen Lemmata, die Verbindung verschiedene Dokumente durch Verweis auf ein anderes ermöglicht. 40 1914 – 1979, der Verfasser des Monumentalwerks „Zettels Traum“, einer Art Übersetzung wiederum von Finnegans Wake von James Joyce, aber mit zwei parallel laufenden Nebentexten in entsprechender typographischer Darstellung; dreispaltig! 41 Auch ein Frühvollendeter: 1943 – 2011. 42 Huber (Fn. 19), S. 19. Man könnte aber auch sagen, dieses Denken und Schreiben in Schleifen ergibt ein „endloses geflochtenes Band“, Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, 1985. 43 Luhmann (Fn. 9), S. 744, dort in Fn. 292: „Daß man diese nur schweren Herzens akzeptieren konnte, ist bekannt“. 44 Luhmann, Soziologie der Moral, in: ders. u. a. (Hrsg.), Theorietechnik und Moral, 1978, S. 8 (31). 45 Huber (Fn. 19), S. 51. 46 Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders., Soziologische Aufklärung 6, 1995, S. 37. 47 s. dazu S. Roth/Schütz, Ten Systems: Toward a Canon of Function Systems, in: Cybernetics an Human Knowing, Vol. 22 (2015), No. 4 sprechen hier von einem hardcore von

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schaft der Gesellschaft, 1988, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, Das Recht der Gesellschaft, 1993, Die Kunst der Gesellschaft, 1997, und dann posthum: Die Politik der Gesellschaft, 2000, sowie Die Religion der Gesellschaft, 2000. Eingeleitet wurde der Parforceritt durch die Rekonstruktion der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme jedoch durch den „Grundriß einer allgemeinen Theorie“, die „Sozialen Systeme“ 1984. Programmatisch im Vorwort: „Der Flug muß über den Wolken stattfinden und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – ein Blick auf Gelände mit Wegen, Siedlungen, Flüssen oder Küstenstreifen, die an Vertrautes erinnern; oder auch ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, daß diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern“48. Die Theorieanlage gleicht also „(…) eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende“49. Neben den bereits erwähnten Sammelbänden „Soziologische Aufklärung“ entstanden auch Sammelbände mit Aufsätzen zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft“, vier Bände von 1993 bis 1999, Forschungen zur Organisationssoziologie: „Funktionen und Folgen formaler Organisation“, 1964, „Zweckbegriff und Systemrationalität“, 1968, und „Organisation und Entscheidung“, posthum 2000, sowie noch zahlreiche Aufsätze sowie kleinere Monographien wie „Legitimation durch Verfahren“, 1969, „Macht“, 1975, „Ökologische Kommunikation“, 1986, „Die Realität der Massenmedien“, 1996, oder auch „Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität“, 1994, sowie „Vertrauen“, 1968: „Ohne jegliches Vertrauen aber könnte der Mensch morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn. Nicht einmal ein bestimmtes Misstrauen könnte er formulieren und zur Grundlage defensiver Vorkehrungen machen, denn das würde voraussetzen, dass er in anderen Hinsichten vertraut. Alles wäre möglich. Solch eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität hält kein Mensch aus“50.

V. Die Rezeption der Systemtheorie von Niklas Luhmann Niklas Luhmann konnte sein Œuvre nicht abschließen, so dass einige seiner (von ihm geplanten, angelegten) Werke, u. a. Die Politik der Gesellschaft, 2000, sowie Die Religion der Gesellschaft, 2000, erst posthum erschienen. Das heißt, er verstarb mitten in seinem Schaffensprozess. Ist er aber deswegen ein Frühvollendeter? Funktionssystemen wie der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Recht, Erziehung und Massenmedien gegenüber den peripheren wie Familie, Liebe, Moral, Kultur oder Sport. 48 Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 12 f. 49 Luhmann (Fn. 49), S. 14. 50 Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, 1968, S. 1.

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1. Das entscheidet u. a. auch die Rezeption, die sozusagen auf zwei Ebenen stattfindet: Primär stellt die Systemtheorie „fast unerfüllbare Anforderungen an ihre eigene Rezeption. Sie bleibt, selbst nach langem Einlesen, oft noch unergiebig. Selbst eifrig Bemühte und Eingeweihte sind sich nicht sicher, die Abstraktionen richtig erfaßt zu haben, mit welchen die Theorie unausgesetzt hantiert. Man hat den Eindruck, in einem benebelten Raum zu kreisen, in dem aber immer wieder Funken aufleuchten, die ihn blitzartig aufhellen“.51 Sicherlich liegt dies auch daran, dass Niklas Luhmanns Systemtheorie durch ihre ständigen Wiederholungen und Redundanzen, durch ihr hohes Abstraktionsniveau, durch ihre weitgehend fehlende Systematik und schließlich durch ihren Ansatz, ständig neue Beobachtungen und Probleme aufzuzeigen, den Beobachter ihrer selbst, und das ist zuallererst der Leser, ziemlich alleine lässt mit ihr. Einsamkeit und Verzweiflung greift um sich. Dieser ist nur zu begegnen bei der Rezeption Niklas Luhmanns Systemtheorie, wenn man vorgeht wie er selbst und die Basis verbreitet durch einen entsprechenden Hintergrund und Fußnotenapparat bzw. eine weitere Ausschau nach von Niklas Luhmanns gesetzten Zeichen. Und hier tun sich überraschende Welten auf: 2. So kann man Jahrzehnte nach Niklas Luhmanns Tod feststellen, dass technische Entwicklungen, die (sic!), s. o., Grundlage seiner Theorie waren, nunmehr seiner Theorie nachfolgen: Kommunikation ist das Paradigma der Dienstleistungsgesellschaft52; vor allem auch durch technische Entwicklungen wie das Internet53, E-Mail oder das Smartphone und die damit verbundenen neuen Kommunikationsmöglichkeiten54, unidirektional und bidirektional, oder zahlreiche Formen von Gruppenkommunikationen in Wort und Bild – weitere Entwicklungen werden folgen: Spracherkennung, künstliche Intelligenz und noch vieles mehr spricht dafür, dass wir direkt auf eine dritte industrielle Revolution zusteuern, ohne es so recht zu bemerken.55 3. All das, kann man sagen, fußt u. a. auf Beobachtungen und Beschreibungen von Niklas Luhmanns Systemtheorie: Wenn man beispielsweise sieht, dass weitgehend nur noch mittels elektronischen Geräten kommuniziert wird statt beispielsweise 51 Clam, Kontingenz, Paradox, Nur-Vollzug, Grundprobleme einer Theorie der Gesellschaft, 2004, S. 8. 52 Noch pointierter Touraine, Un nouveau paradigme, 2005, S. 167 ff.: „L’Entrée dans le monde post-social“. 53 s. dazu für das Recht Vesting, Die Medien des Rechts: Computernetzwerke, 2015, mit zahlreichen Rekursen auf Luhmann, u. a. auf S. 57: Netzwerke fungieren demnach „(…) als Form der Vertrauensbildung, soweit diese selbst klare Grenzen und eine gewisse Kontinuität ausbilden (…)“, Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 385, 408. 54 s. dazu K. Merten, Konzeption von Kommunikation. Theorie und Praxis des strategischen Kommunikationsmanagements, 2013, S. 116, unter Verweis auf reflexive Mechanismen Niklas Luhmanns, s. dazu Luhmann, Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 1970, S. 92 – 112. 55 s. dazu u. a. Malik, Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten, 2015.

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durch direkte Rede, erkennt man unmittelbar, dass sich eben die Kommunikation selbständig gemacht und sich vom jeweiligen Medium und Form verselbständigt hat. Kommunikation durch künstliche Intelligenz wird folgen. Die Theorie, insbesondere die Rechtstheorie, hinkt hinterher. Schon die Schwierigkeiten im elektronischen Rechtsverkehr56, also der elektronischen Kommunikation, zeigen, wie schwer sich das Recht in seinem Kernbereich tut, gesellschaftlichen Entwicklungen zu folgen. Das Rechtssystem koppelt sich so von gesellschaftlichen Entwicklungen ab. Andere Wissenschaftsbereiche, so die Wirtschaft, sind hier weiter, nicht nur in der Verwendung von modernen Kommunikationstechniken, sondern auch in der theoretischen Fundierung: So sind hier verwandte theoretische Grundlagen, so derzeit systemtheoretische und insbesondere kybernetische Ansätze in der Theorie der Fraktale oder neuronaler Netze57 dem St. Galler Management-Modell58, bereits eingeflossen in Management-Lehrbücher mit Formulierungen wie „Regelkreise bestimmen den Führungsalltag“59 : Ein Unternehmen wird als „(…) komplexes und dynamisches soziales System betrachtet, das aus Elementen besteht, die in ihrem wechselseitigen Zusammenwirken dieses System schaffen und bestimmen“60. 4. Das Rechtssystem hingegen ist weiterhin auf der Suche nach sich selbst und dem Anschluss an eine sich ändernde Gesellschaft, nicht nur im internationalen Recht61 wie dem CISG62, sondern auch im nationalen Öffentlichen Recht, exemplarisch hier nur das Steuerrecht, das sich wie kaum ein anderes Teilgebiet des Öffentlichen Rechts einem steten Wechselspiel von Gesetzgebung und Gerichtsentscheidungen ausgesetzt sieht: „In Anbetracht der außerordentlichen Komplexität, die die Steuerrechtsordnung zu absorbieren hat, ist das Steuerrecht in besonderer Weise auf eine leistungsfähige Dogmatik angewiesen.“63 Und hier bieten die Beobachtungsmechanismen von Niklas Luhmanns Systemtheorie zahlreiche Möglichkeiten, insbesondere zur Reduktion der Komplexität:

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s. dazu Bacher, Der elektronische Rechtsverkehr im Zivilprozess, NJW 2015, 2753. s. dazu Rey/Wender, Neuronale Netze. Eine Einführung in die Grundlagen, Anwendungen und Datenauswertung, 2. Auflage 2011. 58 s. dazu Malik, Systemisches Management, Evolution, Selbstorganisation, 2. Auflage 2000. 59 Venohr, Wachsen wie Würth. Das Geheimnis des Welterfolgs, 2006, S. 64. 60 Venohr (Fn. 59), S. 31 m.w.N.; Malik, Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-Kybernetik komplexer Systeme, 8. Auflage, 2003, S. 22 – 25. 61 Grundsätzlich Jemielniak/Miklaszewicz, Interpretation of Law in the Global World: From Particularism to a Universal Approach, 2010. 62 „The United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods“, vgl. Ferrari/Torsello, International Sales Law – CISG In a Nutshell, 2014, Preface. 63 R. P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 277. 57

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So wird Komplexität64 reduziert, „um auf Basis der Restriktion höhere Komplexität organisieren zu können: So reduziert ein Straßennetz die Bewegungsmöglichkeiten, um leichtere und schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man konkret auswählen kann“.65 VI. Niklas Luhmann – ein Frühvollendeter? Niklas Luhmann ist der hidden champion der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts; aber ist er auch ein Frühvollendeter? Einige Werke wie „Die Politik der Gesellschaft“ im Jahre 2000 sowie „Die Religion der Gesellschaft“ ebenfalls im Jahre 2000 sind posthum erschienen; sein opus magnum, „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ konnte Niklas Luhmann jedoch 1997 noch vor seinem Tod im Jahre 1998 vollenden und veröffentlichen. Mithin ist er seinem Projekt bei Antritt seines Lehrstuhls an der Universität Bielefeld 1968 gefolgt, der dreißigjährigen Entwicklung der Theorie der Gesellschaft66 von 1968 bis 1998. Leider fielen Beendigung des dreißigjährigen Forschungsprojekts und des Lebens zusammen. Ein Zufall? Der Tod ist in der Rechtswissenschaft ein Lehrbeispiel für den Unterscheid zwischen Bedingung und Befristung: Wenn ein zukünftiges Ereignis ungewiss ist, dann Bedingung, wenn das Ereignis gewiss ist, nur der Zeitpunkt, ungewiss, dann Befristung67: mors certa hora incerta.68 VII. Niklas Luhmann – ein Phantom der Postmoderne 1. Ein kurzer Blick auf die Evolution der Gesellschaft stellt sich wie folgt dar: Die ursprünglichen archaischen Gesellschaften kann man beschreiben als segmentär differenzierte Gesellschaften. Die verschiedenen Segmente der Gesellschaft zeichnen sich durch die Gleichheit ihrer Binnenstruktur aus.69 Familien, Clans oder Dörfer sind hier gängige Einheiten. Im Mittelalter entwickelte sich eine stratifizierte Gesellschaftsstruktur, die auf Hierarchieunterschieden aufbaut.70 Die funktionale Differen64

s. zum Begriff auch Waldrop, Complexity. The Emerging Science at the edge of order and chaos, 1992. 65 Luhmann (Fn. 9), S. 506 f. 66 Luhmann (Fn. 9), S. 11. 67 Obwohl auch hier manipuliert werden kann, z. B. durch Mord, s. dazu Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch, 16. Auflage 2015, § 164 Rn. 1. 68 s. dazu auch Matthäus 25, 13: „Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.“ Ähnlich Pane, In Fesseln, 2016, S. 81, wo der Protagonist am Kinderbett eines Neugeborenen steht mit den Worten: „,Auch dieses gesunde Kind wird sterben‘. Und immer kehrte die Frage wieder: ,Müssen denn alle sterben?‘“. 69 Luhmann (Fn. 9), S. 613. 70 Luhmann (Fn. 9), S. 678 ff.

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zierung schließlich ist die Differenzierungsform der Neuzeit und der modernen Gesellschaft.71 Die Gesellschaft ist differenziert nach verschiedenen Funktionssystemen wie dem Religionssystem, dem Wirtschaftssystem oder eben auch dem Rechtssystem.72 2. Was zeichnet aber dann nunmehr die postmoderne Gesellschaft aus? Der Begriff kam auf, als man am Ende des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise eine Frustration feststellen konnte hinsichtlich des Scheiterns der großen philosophischen Entwürfe der Aufklärung73 oder auch technischer Errungenschaften, die sich plötzlich gegen ihre Schöpfer wandten: Der Abwurf der Atombombe in Hiroshima war eines der ersten Signale74, das Aufkommen der ökologischen Bewegung75 ein deutlicher Hinweis. 1992 sah sich Francis Fukuyama am Ende der Geschichte.76 Niklas Luhmanns Systemtheorie sah sich stets als Überwinder des hergebrachten Wissens der Moderne, des Denkens „Alteuropas“77, ohne sich aber eben als Theorie der Postmoderne zu verstehen78. Vielmehr führt der Begriff der Postmoderne auf einen Irrweg79. Genauso wenig kann man aber behaupten, die Moderne sei lediglich ein „unvollendetes Projekt“80. 3. Vielmehr sieht man sich heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, neuen gesellschaftlichen Problemen und Phänomenen gegenüber, Terror, Flüchtlingen, dem Auseinanderbrechen der Europäischen Gemeinschaft, den Wirtschaftskrisen81, auf die die althergebrachten Theorien „Alteuropas“ keine Antwort wissen. Ratlosigkeit und Unsicherheit macht sich breit. Hier hilft ein Rekurs auf Niklas Luhmanns Systemtheorie, die mit ihrer Konzentration auf die Kommunikation viele Entwicklungen vorhergesehen hat, eben, indem 71

Luhmann (Fn. 9), S. 613. Luhmann (Fn. 9), S. 711 ff. 73 Hier vor allem: Lyotard, Das postmoderne Wissen, 2012. 74 Die Atombombe lies aber auch gleichzeitig und unvermeidlich eine Weltgesellschaft entstehen, weil trotz aller politischen Grenzen aufgrund universeller Kommunikation die Gemeinsamkeit der Welt und die Gleichzeitigkeit des Erlebens sowie ein gemeinsamer Tod durch die Atomwaffen allen bewußt ist, Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1981, S. 32. 75 s. dazu Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, 3. Auflage 1990. 76 Fukuyama, End of History, 1992. 77 Luhmann, Gesellschaftsstrukturelle Bedingungen und Folgeprobleme des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, 1987, S. 44. 78 Luhmann (Fn. 9), S. 1143. 79 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 539. 80 So Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt in: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, 1990, S. 32 – 54. 81 Piketty, postuliert ein radikales Umdenken auch in der Wirtschaft: „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, 2015. 72

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sie die Gesellschaft als funktional differenzierte Weltgesellschaft82 beobachtend beschrieben hat und somit offen und anschlussfähig bleibt für weitere Entwicklungen, die wir eben gerade beobachten. 4. Das staatliche Recht, insbesondere das öffentliche, muss sich nun den Herausforderungen stellen, will es weiter Errungenschaften des modernen Staates wie das Gewaltmonopol83 kontrollieren. Isolierte, subkulturelle konkurrierende Rechtsproduktionen wie die Eigenrechtsproduktion der Favela oder die Ehrenkodizes blühen allerorten.84 5. So bleibt Niklas Luhmanns Systemtheorie ständig präsent und entwickelt sich beinahe unbemerkt weiter fort: Niklas Luhmann hat mit seiner eigenen und einzigartigen Systemtheorie als Jurist und Soziologe den Grundstein (Soziale Systeme) und gleichzeitig auch den Schlussstein (Die Gesellschaft der Gesellschaft) gesetzt für eine Theorie, die heute, weitgehend unbemerkt, die Gesellschaft durch ihre Beschreibung determiniert, und hier insbesondere eines ihrer zentralen Funktionssysteme: das Recht. Niklas Luhmanns früher Tod hat einzig die Rezeption der Systemtheorie erschwert; die abgeschlossene Theorieproduktion selbst wurde nicht tangiert. Daher bleibt Niklas Luhmann, ein schon früh Frühvollendeter, der, der er schon zu Lebzeiten war, ein hidden champion, ein Phantom der Postmoderne, das in der Gegenwart in den verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft irrlichtert – und wieder verschwindet, wenn man es genauer zu fassen versucht.

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Luhmann (Fn. 9), S. 806 ff. s. dazu auch Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Zweiter Band, 1976, S. 320 ff. 84 Huber (Fn. 19), S. 79.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Julia Faber ist Regierungsrätin im Bayerischen Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, München. Dr. Eike Michael Frenzel, Karlsruhe, ist Privatdozent am Institut für Öffentliches Recht, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dr. Thomas Huber ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht in Freiburg i. Br. Dorothea Keiter ist Rechtsreferendarin in Berlin. Prof. Dr. Christoph A. Kern, LL.M. (Harvard), ist Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Prozessrecht der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Robert Klotz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Rechtsanwalt in Freiburg i. Br. Dr. Arnd-Christian Kulow, ist Rechtsanwalt im Bereich IT-Recht und Syndikusrechtsanwalt in einem Stuttgarter Medienunternehmen. Dr. Stefan Lorenzmeier, LL.M. (Lugd.), ist akademischer Rat an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg. Johannes Meskouris, Karlsruhe, ist Richter und Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht (Dezernat Prof. Dr. Johannes Masing). Nils Wegner, LL.M. (Stockholm), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Umweltenergierecht, Würzburg, und Doktorand an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg.