Judaica 6 : Die Wissenschaft vom Judentum 3518222694

Herausgegeben, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Peter Schäfer in Zusammenarbeit mit Ger

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Judaica 6 : Die Wissenschaft vom Judentum
 3518222694

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Gershom Scholem

Judaica 6 Die Wissenschaft vom Judentum

Bibliothek Suhrkamp

SV

Band 1269 der Bibliothek Suhrkamp

Gershom Schölern Judaica 6 Die Wissenschaft vom Judentum Herausgegeben, aus dem

Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Peter Schäfer in Zusammenarbeit mit Gerold Necker und Ulrike Hirschfelder

Suhrkamp Verlag

Erste Auflage 1997 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany

Inhalt Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum

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Brief an Ch. N. Bialik .........................................

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Nachwort..............................................................

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...........................................................

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Nachweise

Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum (Vorwort für eine Jubiläumsrede, die nicht gehalten wird)1

i Der Untertitel und die Kennzeichnung des ersten Abschnittes findet sich nur in der Erstveröffentlichung in Luach ha-'Aretz, 1944, S.94.

I

Über zwanzig Jahre sind vergangen, seit Bialik2 in sei­ nem Brief an die Redakteure des Verlages »Dvir«34 Töne anschlug, die wie der Schall des Schofar* klangen. Lauthals verkündete er die Erneuerung der Wissen­ schaft vom Judentum,5 die aus dem Exil der westlichen Sprachen wieder zu ihrer eigenen Sprache gefunden habe.6 Zwanzig Jahre sind vergangen, seit im Sommer 1924 das Institut für die Wissenschaften vom Juden­ tum7 auf dem Skopusberg errichtet wurde, als erster Kern der Hebräischen Universität, Zeichen und Sym­ bol für das neue Gesicht der Wissenschaft vom Juden­ tum, die in ihr Land zurückgefunden hat. Visionäre Pa­ rolen, die sich sehr erhaben8 anhörten, waren damals in aller Munde. Auf jedem Berg und Hügel kommentierte man das Ereignis, dessen Erklärung so einfach, klar und tiefgreifend zu sein schien. Begann denn jetzt etwa nicht das Goldene Zeitalter jener Wissenschaft vom Ju­ dentum, die im Exil und in der Feme war,9 einge2 Chajjim Nachman Bialik (1873-1934), geb. in Rady (Wolhynien), seit 1924 in Palästina; Klassiker der neuhebräischen Literatur. 3 Das hebräische Verlagshaus »Dvir« wurde 1922 durch Bialik und andere in Berlin gegründet und begann 1924 mit der Publikation seiner Bücher in Tel Aviv. 4 Vgl.Jeremia 4,19.21; 42,14 u.ö. 5 Scholem verwendet den hebräischen Begriff chokhmat Jisra'el (»Weisheit Is­ raels«), der in der Übersetzung durchgängig mit »Wissenschaft vom Judentum« wiedergegeben wird (der von ihm selbst in seinen deutschen Veröffentlichun­ gen neben »Wissenschaft des Judentums«, »jüdischer Wissenschaft« und »Ju­ daistik« am häufigsten gebrauchte Begriff). 6 Scholem bezieht sich auf Bialiks Briefessay »M/ chokhmat Jisrael*, in: Kol kitve Ch. N. Bialik, Tel Aviv 1938, 2. Aufl. 1962, S. 237-240. 7 makhon le-madda'e ha~jahadut, 8 ramim we-nisgavim (wörtlich: »hoch und erhaben«), ein der Hekhalot-Literatur verwandter Sprachgebrauch. 9 Jesaja 43,21.

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schrumpft und auf die vier Ellen - nicht der Halacha,10 sondern des Grabes - beschränkt, wie Bialik so scharf formulierte? War es etwa keine neue Vision, die aus der Verbundenheit mit dem »festen Boden«11 der Nation erstand, die von den ewigen Quellen genährt wurde und die sich im Aufbau der Gegenwart mittels der Be­ schwörung der Vergangenheit als lebenspendender Kraft vollzog? Wer hätte nicht einen Vogel auf Traumesflügeln hochsteigen lassen, als unsere Alten Träume träumten, und wir, die Jungen, Visionen sahen?12 Die Schekhina unseres Volkes würde die Kleider ihrer Wit­ wenschaft ablegen,'* von Zion wird Tora ausgehen'* und wir waren das endlose Geschwätz leid.15 Wer also stutzte dem Traum die Flügel? Eine Genera­ tion ist vorübergegangen, und wir staunen und müssen uns wundern: War es das, worauf wir gewartet haben?'6 Sieht so das Erbe und so der Auftrag aus? Wo ist das Gebäude, das wir zu errichten versprachen, jenes Gebäude, das auf den Grund unserer Wirklichkeit und unserer Existenz hinabreicht und von der Tiefe sei­ ner Fundamente den Himmel stürmt? Und wenn das Gebäude nicht gebaut wurde - wo ist jener ganze Stein,'7 mit dem wir das Haus der Wissenschaft vom 10 Vgl. babylonischer Talmud Berakhot 8a. 11 Vgl. Bialik, ‘Al chokhmat Jisrael, S. 258. 12 Anspielung auf Joel 3,1: Eure Alten werden Träume träumen, und eure Jun­ gen werden Visionen sehen. i) Vgl. Genesis 38,14.19. Zur Vorstellung von der Schekhina als Witwe vgl. Scholem, »Schechina; das passiv-weibliche Moment in der Gottheit«, in: ders., Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Zürich 1962, S. 187 mit Anmerkung 95 (S. 296). 14 Jesaja 2,3; Micha 4,2. 15 Anspielung auf Hiob 7,4 (dort statt »Geschwätz«: rastloses Herumwerfen auf dem Lager). 16 Die Hervorhebung folgt dem hebräischen Original (dort Fettdruck). 17 Vgl. i Könige 6,7: Und zum Bau des Tempels verwendete man ganzen Stein, der fertig aus dem Bruche kam.

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Judentum bauen wollten? Um welche Arbeit geht es und wie wird sie eingeteilt? Sind die Baumeister müde geworden? Ist denn mit dem Haus der Weisheit und Wissenschaft etwas nicht in Ordnung, und muß man über eine Instandsetzung'9 nachdenken? Oder viel­ leicht taumelten wir bei der Vision'9 und haben den Schofar zur Unzeit geblasen, wie es schon immer die Art der Narren in Jerusalem gewesen ist, vielleicht ist das geistige Klima noch immer verdorben und es gibt keine Erneuerung, vielleicht stellt sich heraus, daß wir etwas verkünden, das nie gekommen ist, die Erlösung der Wissenschaft vom Judentum, die nie stattgefunden hat? Vielleicht gab es ja gar nichts, das man hätte beju­ beln können, und folglich gibt es auch nichts, das man freudig hinausposaunen könnte? Viele von uns stellen sich solche Fragen, ob sie nun zum inneren Kreis derer gehören, die selbst an der wissen­ schaftlichen Arbeit beteiligt sind, oder zu denen, die die Dinge von außen betrachten, die aus unserem Munde Weisung20 erbitten und dann enttäuscht sind, wenn der Quell nicht sprudelt. Gerade die Kundigsten unserer Leser verbreiten in aller Öffentlichkeit, daß sie bei den Vertretern jener Wissenschaft nicht das Gewünschte gefunden haben, auch nicht bei den Weisen auf dem Skopusberg. Sie führen viele Argumente an: Wir hätten ihnen für ihre Arbeit weder Rüstzeug noch Hilfsmittel bereitgestellt,21 wir hätten die große Vision vom wah­ ren und soliden Gebäude, vom Antritt des Erbes und 5

nach Lehre um ihrer selbst willen. Dieser politische Zweck desavouierte von Anfang die angemessene Be­ handlung3“ einiger großer Themen. Einige Gelehrte haben in der Tat ihr ganzes Leben lang ihre Aufgabe nicht verstanden und in ihrer Naivität versucht, ihre Arbeit so zu tun, wie sie es proklamiert hatten. Es gibt auch viele, die sehr, wohl begriffen, wo­ hin ihr Weg sie führte, doch all ihr Reden über die Wis­ senschaft, die außerhalb ihrer Grenzen keinen Zweck verfolgt und keinerlei anderen Interessen dient - alle diese Reden waren unaufrichtig. Eine solche Objektivi­ tät gab es nicht und konnte es auch nicht geben; die von Raschi3' verfaßte Selicha anläßlich der Pogrome von 1096 ist nicht das einzige Dokument, dessen Veröffent­ lichung um des lieben Friedens willen zurückgehalten wurde. Andere waren sich dieses Widerspruchs bewußt und bemühten sich, ihn zu vertuschen. Sie trösteten sich damit, daß die Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit um ihrer selbst willen aufgrund irgendeiner schicksalhaften Übereinstimmung auch den Dienst für die gute Sache der gesellschaftlichen Stellung der Ju­ den mit sich brächte. In ihrer Einfalt dachten sie, daß ihre Lehre Bestand hätte und ihr Schaffen gesegnet sei. Sie bemerkten ihre sonderbaren Verzerrungen nicht, die uns heute, wenn wir auf ihre Worte stoßen, vor Ent­ setzen schaudern lassen. 2. Größer als dieser Widerspruch ist der zweite, denn er trifft bereits den Kern der Sache und ist völlig unabhän­ gig vom Wissen und Wollen der Wissenschaftler. Ge30 Wörtl.: »genaues Recht und Besprechung«. Das »genaue Recht« (schurat ha-äin) ist ein Terminus aus der Rechtsprechung. 31 Akronym für Rabbi Schlomo Jitzchaqt (1040-1105); einer der bedeutend­ sten Bibel- und Talmudkommentatoren, verfaßte ein Bußgebet, das die Ver­ nichtung der jüdischen Gemeinden des Rheinlandes während des ersten Kreuz­ zuges thematisiert.

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meint ist der Widerspruch zwischen der geistigen Statur der meisten Koryphäen in dieser Wissenschaft und zwischen den Idealen, die sie auf ihre Fahnen schrieben. Sie waren Aufklärer, und ihr humanisti­ sches Pathos stammte aus dem Lehrhaus der rationa­ listischen Aufklärung, deren verstandesbetonte An­ schauungen und Wertmaßstäbe sie ihrer Natur (als Aufklärer) nach niemals verleugnen konnten. Hatte doch ganz Israel in jener Generation seine Hoffnung auf die Durchsetzung dieser Ziele gesetzt, ließ sich doch das ganze Haus Israel in Westeuropa von ihrem Licht leiten. Die romantische Wissenschaft war ihrer Funktion nach antijüdisch, und die Juden hatten gute Gründe, sie zu fürchten. Das Programm jedoch, mit dem die Gründer der Wissenschaft vom Judentum an die Öffentlichkeit traten, war eben ein romantisches, wenn auch in einer etwas gemäßigten und verwässerten Fassung. Dennoch ist es ein explizit romantisches Programm. Ein neues Verhältnis zur Vergangenheit, die Entdeckung des strahlenden Glanzes, der sich über die Vergangenheit ausbreitet, nur weil sie Vergangenheit ist, die Würdi­ gung der Quellen in einem besonderen Licht und unter Berücksichtigung volkstümlicher Kräfte, alles in allem: die Hinwendung zur Erforschung des Volkes und der Nation (die in Zunz’ erstem Programm,32 das nicht von ungefähr niemals in die Tat umgesetzt wurde, noch so sehr ins Auge sticht) - überall zeigen sich hier Grund­ linien einer romantischen Einstellung zu wissenschaft­ lichen Problemen. Ein solches Programm wäre gut 32 Gemeint ist die 1818 erschienene programmatische Schrift »Etwas über die rabbinische Litteratur«, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Curatorium der »Zunz-Stiftung«, Bd. I, Berlin 1875 (unveränderter Nachdruck Hildesheim/ New York 1976), S. 1-31.

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gewesen, wenn es dem Aufbau der jüdischen Nation gegolten hätte. Kein Wunder, daß hier ein zweifacher Konflikt ent­ stand: der Konflikt innerhalb der Ziele der Wissen­ schaftler selbst, der es in ihrer Methode an Stabilität fehlen ließ, der zu Unsicherheiten und Entstellungen führte, weil sie überhaupt nicht wußten, wo sie standen, ob sie nämlich mit ihrer Arbeit zum Aufbau der jüdi­ schen Nation und des jüdischen Volkes oder aber im Gegenteil zu deren Auflösung beitragen wollten; und ebenso der Konflikt mit denjenigen Kräften, die die jü­ dische Gesellschaft im Westen bestimmten. Sie begeg­ neten nämlich diesem ganzen Plan, der ihrem Geist völ­ lig fremd war, ipit tiefem Mißtrauen, und die dauernde Klage der Großen unter den Gelehrten über die völlige Gleichgültigkeit der gesellschaftlichen Führer der Ju­ den und der Gemeindevorsteher ihren Programmen ge­ genüber verlangt eine Erklärung. Sie bezeugt das ge­ ringe Vertrauen von Seiten der wichtigen öffentlichen Protagonisten, denen etwas am politischen Kampf der Juden lag, in die romantische Wissenschaft vom Juden­ tum und in den Nutzen, den sie aus ihr für die Verwirk­ lichung dieser ihrer Pläne ziehen konnten. Die Wissen­ schaftler präsentierten sich selbst als Kämpfer und auch als Vorreiter im politischen Kampf, aber ihre Doppelgesichtigkeit ließ sie den Helden der Liquidation33 des Judentums als Nation, die ihre völlige Freiheit als deistische Sekte in einer deistischen Gesellschaft zu er­ langen hofften, verdächtig erscheinen. Womöglich be­ absichtigten jene jungen Doktoren, die sich mit Midra­ schim, Pijjutim, mittelalterlichen Philosophen und mit 33 chissnl\ Schölern verwendet diesen Begriff in seinem deutschen Aufsatz »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt« (Jttdaica i, Frankfurt a.M. 1963, S. 147-164) in einem ähnlichen Kontext (S. 152 f.).

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tausend in Vergessenheit geratenen Gebieten beschäfti­ gen wollten, womöglich beabsichtigten sie, Licht in etwas zu bringen, was besser schleunigst vergessen werden sollte? Womöglich widmeten sie sich gar nicht ausschließlich der Liquidation? 3. Freilich - der grundsätzliche und tiefe Widerspruch bei diesem ganzen großen Abenteuer der Wissenschaft vom Judentum bricht an diesem Punkte wirklich auf: die Konstruktions- und Destruktions-Tendenzen34 in dieser Wissenschaft sind eng miteinander verbunden. Es entspricht dem Wesen der historischen Kritik als wissenschaftlicher Methode, daß sie sich dieser Dialek­ tik ohnehin nicht entziehen kann. Ihre destruktive Auf­ gabe - und zweifellos ist ihre natürliche und ins Auge stechende Aufgabe destruktiv - kann sich auf der Stelle ins Gegenteil verkehren: in die Freilegung einer Masse von Fakten oder von Werten, die mit einem Mal die ge­ samte Perspektive verändern, eine Freilegung, die, ohne es zu wollen, Trümmer der Vergangenheit35 zu Symbo­ len eines verzauberten Lebens36 erhebt. Der kritisch ar­ beitende Historiker muß jeden Augenblick mit der Möglichkeit rechnen, bei der nächsten Wendung seiner Vorgehensweise auch als Restaurator in Erscheinung zu 34 Vgl. Scholem, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, S. 152: »Diese Destmktions- und Konstruktionstendenzen stehen in seltsamen Spannungs­ verhältnissen zueinander.« 35 Zu diesem Ausdruck vgl. die Übersetzung des Vorwortes von Scholems Major Trends in Jewish Mysticism in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S.IX: »Wo andere es entweder verschmäht hatten, sich eingehender mit den Quellen einer Bewegung zu befassen, für die sie nur Ab­ lehnung oder Verurteilung übrig hatten, oder aber darangegangen waren, luf­ tige Gebäude freischwebender Spekulation zu errichten, fand ich mich ... ge­ zwungen, ... zunächst einmal das Trümmerfeld aufzuräumen und damit die Umrisse eines großartigen und bedeutungsvollen Kapitels in der Geschichte der jüdischen Religion freizulegen.« 36 chajjim mufla'im; zur Übersetzung vgl. Scholem, »Lyrik der Kabbala?«, in: Der Jude 6, 1921/22, S. 5$.

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treten. Dies ist es, was gerade den Großen der romanti­ schen Wissenschaft ihre Größe verlieh: die tiefe Einsicht in diese Doppelheit ihres Weges. »Der Weg, der weiser ist als die, die ihn gehen«, wie der Dichter sagt; und was diese Großen betrifft, so war diese Doppelgesichtigkeit gewiß nicht von Nachteil: fühlten sie, die auf den Aufbau der Nation bedacht waren, sich doch keineswegs als To­ tengräber. Sie saßen inmitten ihres Volkes, und die histo­ rische Kritik diente ihnen als dialektische Methode jedes echten Aufbaus. Wie anders aber ist, was diese Dialektik angeht, die Stellung der Wissenschaft vom Judentum, wie furchtbar ist das Paradox: ihr historisches Bewußt­ sein gestattete diesen Gelehrten nicht den positiven Ge­ brauch der Dialektik, der ja durchaus in ihrer Methode latent vorhanden war, und die romantische Wissenschaft und ihre Methoden erscheinen bei ihnen als erschrekkende Beerdigungszeremonie. Eine lehrreiche Ausnahme ist Rabbi Nachman Krochmal.37 Wie irreführend ist das, was heute über ihn ge­ schrieben wird! Als ob Rabbi Nachman Krochmal tat­ sächlich einen konkreten Einfluß auf den weiteren Ver­ lauf der Wissenschaft vom Judentum gehabt hätte. In Wirklichkeit hatte er nämlich überhaupt keinen Ein­ fluß auf den Fortgang der Forschung in den nachfol­ genden Generationen, und vergeblich wird man einen Hinweis auf ihn bei Wissenschaftlern suchen - wer glaubte heutzutage, daß die größte Abhandlung über Rabbi Abraham ibn Esra Krochmals Kapitel »Die Weisheit des Armen«38 überhaupt nicht erwähnt, und 37 Nachman Krochmal (1783-1840), Geschichtsphilosoph und Historiker; ei­ ner der Führer der jüdischen Aufklärung in Osteuropa. Hauptwerk: More Nevukhe ha-Zeman (»Führer der Verwirrten der Zeit«); der Titel spielt auf das Hauptwerk des Maimonides, More Nevukhim (»Führer der Verwirrten«), an. 38 Kapitel 17 in More Nevukhe ha-Zeman.

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dies sicher nicht in böser Absicht.39 Von den Aufklä­ rern in Osteuropa, die Vergnügen an seinem Buch fan­ den, trugen die allerwenigsten zur eigentlichen Arbeit bei, die geleistet wurde. Am Entwicklungsprozeß der Wissenschaft vom Judentum während des 19. Jahrhun­ derts hätte sich absolut nichts geändert, wenn der »Führer der Verwirrten der Zeit« in einer Geniza4” ge­ blieben wäre. Dies ist eine Tatsache, die man heute nicht mehr wahr­ haben will, denn die Macht4' der sentimentalen Verne­ belung ist groß. Es mag jedoch gestattet sein, einmal auch diese schlichte Wahrheit festzuhalten. Rabbi Nachman Krochmal hatte keinen Einfluß, weil sein ge­ niales Buch, zumindest in einigen Grundzügen, den In­ teressen der Wissenschaft vom Judentum in jenen Ge­ nerationen gänzlich zuwider lief. Erst mit dem Wandel des geistigen Klimas blitzte auch der Glanz dieses ver­ borgenen Schatzes auf. In der letzten Zeit neigen wir gelegentlich dazu, die Tendenzen zum historischen Selbstmord, zur Liquida­ tion und Auflösung, die in der jüdischen Aufklärung wirksam waren, allzu sehr zu vertuschen. Der böse Geist, der über diese Liquidation in den Ländern West­ europas eingesetzt war, trug - sichtbar, aber auch im Verborgenen - zehn Kleider.4142 Allzu oft vergessen wir, daß die Wissenschaft vom Judentum ebenfalls großen Anteil an den Liquidationsbestrebungen hatte und daß 39 Anspielung auf G. Orschanskys Arbeit, Abraham Ibn Esra als Philosoph, Breslau 1900. 40 »Bestattungsort« unbrauchbar gewordener Kultobjekte und heiliger Schäf­ ten. 41 rav koach; vgl. Psalm 147,3. 42 Vgl. dazu die zehn Kleider, die Gott zur Heimsuchung der 70 Völker anzie­ hen wird: Otzar Midraschim, Bd. I, hrsg. v. J.D. Eisenstein, New York 1915, S. 202.

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ihre Vertreter hauptsächlich in dieser Funktion von den in der Öffentlichkeit maßgeblichen Kräften akzeptiert wurden. Es trifft schon zu: die Fronten verlaufen dies­ bezüglich nicht immer klar. Die Romantik rächt sich an den Aufklärern, die sich ihr verschreiben und läßt sie irre werden. Hier ergeben sich allerlei Komplikationen. Einigen Gelehrten, wie zum Beispiel Steinschneider,43 war klar, was sie taten: Sie arbeiteten auf die Liquida­ tion hin und zelebrierten in Gedanken, Worten und Werken die Beerdigungszeremonie. Andere hingegen, wie Zunz, verinnerlichten den Widerspruch und zer­ brachen an dieser Spannung. All die großen Parolen zeigen hier ein doppeltes Gesicht, dem Leben wie dem Tod zugewandt. Es gibt kein herausragenderes Beispiel dafür als die Spiritualisierung der Geschichte Israels (die die Geschichte der Juden in die Geschichte des Ju­ dentums verkehrt), deren Doppelgesichtigkeit sich so schön bei Rabbi Nachman Krochmal auf der einen und bei Geiger44 auf der anderen Seite offenbart. Die Gei­ ster, die sich ihres Körpers entblößt hatten,45 verlang­ ten nach Spiritualisierung, um sich selbst zu rechtferti­ gen. Aber nicht immer verlangten sie nach Rechtferti­ gung. Körperlose Geister pflegen ihre Ruhe entweder in einem fremden Körper oder im Grab zu suchen. Viele stimmten damals, dem Tod zugewandt, ihrer Selbstaufgabe zu. Der berühmte Optimismus in ihren Ansichten ist Lüge und Maske - etwas, das von der sitra 43 Moritz Steinschneider (1816-1907), einer der herausragenden Begründer der modernen jüdischen Wissenschaft. 44 Abraham Geiger (1810-1874), maßgebender Vertreter der jüdischen Re­ formbewegung und eine der führenden Persönlichkeiten der »Wissenschaft des Judentums«. 45 Wörtl.: »Körperlose Geister« (in der Kabbala: ruhelose Seelen der Sün­ der).

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achra*6 kommt, von einer ganz anderen Seite, offenbart sich in ihren Taten. Man kann sagen: die methaphysische Bühne der Wis­ senschaft vom Judentum hat etwas Furchterregendes. Geister irren, von ihrem Körper getrennt und entblößt, in der Wüste umher. Sie hausen in der Nähe von den Gefilden der Lebenden und blicken sehnsuchtsvoll auf ihre vergangene Welt. Wie sehr sehnen sie sich danach, dort ebenfalls zu wandeln, wie müde sind sie von den Wanderungen über Generationen hinweg und verlan­ gen danach auszuruhen. Viele sind des Spottes über­ drüssig und trachten, von den Pforten des Lebens und den Toren des Todes gleichermaßen zurückgestoßen, nach beiden, wenn sie nur aus dem Zwischenstadium befreit würden, aus jener besonderen Hölle, in der sich der von Heinrich Heine beschriebene Jude befindet. Doch wohin sie sich auch wenden, ein Fluch lastet seit Generationen auf ihnen, wie eine Art Bann oder Zau­ ber, den es zu lösen gilt, um zugleich zu sterben und zu leben: Bruchstücke einer drückenden und gefährlichen Vergangenheit haften ihnen an. Trümmer der Vergan­ genheit liegen verstreut umher, und selbst jene Unge­ heuer besitzen eine ihnen eigene beschwörende Spra­ che. Der Jude will sich von sich selbst befreien, und die Wissenschaft des Judentums47 ist die Beerdigungsze­ remonie für ihn, so etwas wie eine Befreiung von dem Joch, das auf ihm lastet. Kommende Generationen sol­ len davon verschont werden, das schreckliche Spiel soll ein Ende nehmen, jene bösen Gewalten,48 die sie vom 46 Word.: »Die andere Seite«; in der Kabbala (seit dem Zohar) Bezeichnung Für das Böse, die »linke Emanation« Gottes. 47 Hier: ha-madda' schel ha-jahadut (statt chokhmat Jisra'et). 48 qelrppot-, zu diesem Begriff aus der lurianischen Kabbala vgl. Schölern, Hauptströmungen, S.325 ff.: Scherben der kosmischen Lichtgefäße, die in den Urabgrund fielen, wo sie eine Gegenwelt des Bösen konstituieren.

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Leben abschneiden, sollen beschworen und die Vergan­ genheit einbalsamiert und beerdigt werden. Und du stehst wie ein Verzauberter vor dieser Geschäftigkeit, die die Phänomene anhäuft, die Fakten aus dem Dikkicht ihrer gegenseitigen Verflechtung hervorzerrt und die Vergangenheit vom Staub der Generationen klärt, reinigt und säubert, vom Schmutz der Lügen und von der schönen Lüge der Aggadot - und das alles für ihre endgültige Beerdigung.

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Diese »chthonische« Seite im Wirken der Großen der Wissenschaft vom Judentum sticht mit erschreckender Macht bei den drei Repräsentanten hervor, deren dai­ monion4950 meiner Meinung nach nicht ausreichend ge­ würdigt wurde: bei Zunz, Steinschneider und Geiger. Der unterschwellige Haß zwischen ihnen und Graetz,5° dem romantisierenden Aufklärer, der den Grundlagen der romantischen Wissenschaft treu blieb und aus ihr auch im Hinblick auf ihre konstruktive Seite die natürliche Konsequenz zog, ist nicht weiter verwunderlich. 49 daimonion; Schölern gebraucht hier im Unterschied zum hebraisierten Ad­ jektiv demoni (»dämonisch«) den griechischen Begriff to daimonion (»die gött­ liche Macht» das Göttliche«); vgl. P. Schäfer» »Gershom Schölern und die »Wis­ senschaft des Judentums«« in: Gershom Schölern. Zwischen den Disziplinen, hrsg. von P. Schäfer und G. Smith, Frankfurt a.M. 199$, S. 136 f.; ferner D. Biale, Gershom Schölern. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/Mass. - Lon­ don 1979» S. 6. 50 Heinrich Graetz (1817-1891); Historiker und Dozent für jüdische Ge­ schichte und Bibel am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau. Verfaßte in 11 Bänden die am breitesten rezipierte (und gerade wieder nachgedruckte) Ge­ samtdarstellung der jüdischen Geschichte: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 18 5 3 ff.

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Ich gebe zu, daß mich die Gestalten von Zunz und Steinschneider seit jeher angezogen haben. Es ist zwar noch kein einziges ernst zu nehmendes Wort über sie geschrieben worden - nur Kleingeister haben bisher über sie geschrieben, und des Geschwätzes ist kein Ende51 - aber ich habe die Hoffnung, daß sich eines Ta­ ges jemand mit klarem Blick dazu aufraffen wird, uns ein echtes Porträt dieser Fürsten der Weisheit zu zeich­ nen: die Geschichtspsychologie der Seelen, deren Glanz von einer Schale umhüllt wird.52 Ich glaube nicht, daß sie in der Wissenschaft vom Ju­ dentum ihresgleichen haben. Nicht aufgrund des Aus­ maßes ihrer umfassenden Kenntnisse - vielleicht hin­ derte sie dieses Ausmaß manchmal an einer tiefergehen­ den Sicht der Dinge - und ganz gewiß nicht aufgrund der Klarheit ihrer Darlegungen - über diese Gabe ver­ fügten sie nun wirklich nicht. Die Spaßvögel unter den Zeitgenossen Steinschneiders behaupteten von ihm, daß er keinen einzigen Satz zustande gebracht habe, in dem Subjekt, Prädikat und Satzbau stimmig waren. In der Tat hatte er eine Vorliebe dafür, über fünfhundert Seiten eine Anmerkung an die nächste zu reihen, und das Ganze nannte er dann ein Buch. Der barocke Stil, den Zunz in der zweiten Hälfte seines Lebens pflegte, ist unter Kennern berüchtigt, doch der Respekt vor den Gelehrten verbietet jedes weitere Wort!55 Aber diese 51 Ironische Umdeutung von Kohelet 12,12: Es nimmt kein Ende mit dem vie­ len Bücherschreiben, und viel Studieren ermüdet den Leib. 52 qelippat ha-noga\ kabbalistische Terminologie: Gemeint sind göttliche Lichtfunken, die mit den Scherben der sie umschließenden Gefäße in den Ab* gründ der Materie gefallen sind und der Erlösung harren. $3 kevod chakhamim basier davar, ironische Umdeutung von Sprüche 25,2: kevod elohim basier davar (wörtl.: die Ebre Gottes ist es, eine Sache zu verhül­ len), was in der esoterischen Literatur so interpretiert wird, daß man um der Ehre Gottes willen sich nicht mit esoterischen Spekulationen (vor allem den Geheimnissen der Schöpfung) beschäftigen darf.

beiden Wissenschaftler haben etwas an sich, was sich weder bei anderen zeitgenössischen Gelehrten findet noch bei den nachfolgenden: sie sind wahrhaft dämoni­ sche Gestalten. In ihrer Nüchternheit waren sie die ein­ zigen in ihrer Generation, deren Zugang zur Vergan­ genheit nicht die geringste Sentimentalität aufwies. Sie gießen nicht die Soße leerer oder nur sehr mittelmäßi­ ger Gefühle und bedeutungsloser Begeisterung über all ihre Entdeckungen;54 sie sprechen zur Sache, und zwar nur zur Sache, und ihre fanatische »Sachlichkeit« ist in unseren Augen stupend, manchmal ärgerlich und be­ klagenswert, manchmal erfrischend und anspornend. Sie haben tatsächlich die neun Maße55 jener geistigen Askese, die vom idealen Gelehrten gefordert wird und deren Mangel in den Wortergüssen der ihnen nachfol­ genden Generation so spürbar ist. Wieviel Kälte schlägt uns in jenen heiligen Hallen der Wissenschaft entgegen. Aber sie haben auch eine starke sitra achra. Ganz plötz­ lich, beim Lesen ihrer Worte, blickst du sozusagen in das Antlitz der Medusa, und etwas völlig Unmenschli­ ches schaut dich an und versteinert dein Herz, aus Halbsätzen oder aus einer Randbemerkung. Welch ein Haß, der nicht von dieser Welt ist, welch ein grandioser Zynismus. Die Szene wandelt sich, und du siehst Rie­ sen vor dir, die aus nur ihnen bekannten Gründen sich selbst zu Totengräbern, Einbalsamierern und sogar Lei­ chenrednern gemacht haben, die sich als Zwerge ver­ kleiden, die Gräser auf den Feldern der Vergangenheit sammeln und sie trocknen, auf daß keine Lebensessenz in ihnen bleibe, und die sie in etwas legen, von dem zweifelhaft ist, ob es ein Buch oder ein Grab ist. Zeile 54 chidduschim; wörtl.: »Neuerungen«; ein terminus technicus, der sich ur­ sprünglich auf halakhische Neuerungen bezieht. 5 5 Anspielung auf babylonischer Talmud Bava Metzia 38a.

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um Zeile erstrecken sich die Gräber der einbalsamierten Tatsachen, versehen mit einer Friedhofsnummer, als ob sie nichts anderes als bloß Anmerkungen wären. Die Grabsteine auf den Gräbern, der Text, als ob auch sie schon in die Erde eingesunken wären, die Buchstaben verdunkelt und die Inschrift verblaßt - bis dir hier und da der Zorn jener furchterregenden Menschen entge­ genspringt, die dieses Werk vollbracht haben, und dich erkennen läßt, daß ihre Naivität unaufrichtig war und daß sie von ihrer Passion beherrscht waren, daß sie sehr wohl lieben und hassen konnten. Ihre Bücher, die klas­ sischen Bücher der Wissenschaft vom Judentum für Generationen, sind so etwas wie Leichenprozessio­ nen.56 Aber manchmal scheint es, als seien die Verfas­ ser selbst die Schadensgeister von Großväterchen Is­ rael, die zwischen den Gräbern tanzen und ihre Erlö­ sung57 suchen ... Funken überaus großer Seelen, deren Glänz von einer Schale umhüllt wird, von einer Welt, in der Leben und Tod vermischt sind. Aus gröberem Holz ist Abraham Geiger geschnitzt ohne Zweifel der begabteste unter all den gelehrten Li­ quidatoren, und zwar so sehr, daß seine Begabung Maßstäbe setzt. Er ist derjenige, der es verstand, in ei­ ner Welt des Wandels ein mächtiges Gebäude der Ver­ wirrung5® zu errichten und die Demontage zu einer wissenschaftlichen Konstruktion zu machen, der die Lüge der »reinen Geistigkeit« wie eine Art Widerschein $6 haqqafot la-metinr, ironische Verwendung des Terminus haqqafa, der ei* gentlich den festlichen Rundgang mit der Torarolle in der Synagoge am Laub­ hüttenfest bezeichnet. 57 tiqqun, wörtl. »Verbesserung, Wiederherstellung«; kabbalistischer Termi­ nus zur Bezeichnung des Erlösungsprozesses, in dem die in der Materie gefan­ genen Seelenfunken eingesammelt und wieder zu ihrem göttlichen Ursprung zurückgebracht werden. 58 tohx; vgl. Genesis 1,2.

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der Wirklichkeit entspricht. Aber hier spielt sich alles zehn Stufen unterhalb von Zunz und Steinschneider ab, trotz des herausragenden Erfolges und trotz der von großen Worten triefenden Sprache. Diese beiden haben die liquidatorische Tendenz ganz verinner­ licht,59 ihr verborgener Nihilismus hat etwas Vorneh­ mes, und sie wirkt bei ihnen in Form einer kreativen Verzweiflung - wer vermag die Briefe von Zunz und die wie Vermächtnisse gehaltenen Vorreden des grei­ sen Steinschneider ohne Schaudern zu lesen? Eine wunderbare innere Freiheit ist darin enthalten, und nichts lag ihrem Geist ferner als eine Anpassung an die Bourgeoisie. Sie haben die Hartnäckigkeit eines 1848er Demokraten. Auf welch anderem Niveau be­ findet sich Geiger! Hier tanzen Geister, die aus einem ganz anderen Bereich der Finsternis kommen. Von sei­ nen Worten geht der Geruch pfäffischer Heuchelei und pfäffischen Dünkels aus, der Ehrgeiz eines Kir­ chenfürsten. Seine Begabung, zu kompilieren und zu filtern, ist glänzend, und es steckt in ihr jene souveräne Kraft, die den großen Historiker ausmacht, im Namen der Konstruktion die Tatsachen zu vergewaltigen und die Zusammenhänge aus einer historischen Intuition heraus zu erklären, eine gefährliche und schöpferische Kraft, die auch Graetz besaß - und die Zunz und Steinschneider völlig abging, von denen keiner je seine Seele um den Preis einer historischen These verkaufte, die weder Hand noch Fuß hat. Doch von welch nied­ riger, der Materie verhafteten Sphäre kommt diese In­ tuition, wie vulgär ist dieser Liberalismus, der über­ haupt nicht liberal ist, sondern eine Art deistische 59 Itfnai we-lifnim, bezeichnet in der rabbinischen Literatur das Allerheiligste im Tempel; vgl. z.B. babylonischer Talmud Joma 61a.

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Päpstlichkeit,60 und wehe der Geschichte Israels vor der Beleidigung dieser pfäffisch-liberalen Historiosophie. Sehr oft steht die Abrechnung mit den Nationen6' hin­ ter ihren mächtigen Werken. Diese drei hatten für das Christentum überhaupt nichts übrig, und es galt nicht ihm, wenn sie vom Einreißen der trennenden Mauern und von der Hervorhebung des den Menschen Ge­ meinsamen reden. Die Utopie von Graetz und Geiger, mit all den grundsätzlichen Unterschieden zwischen Liquidation und Bewahrung, ist zwar liberal, aber anti­ christlich. Allen dreien jedoch wäre es nie in den Sinn gekommen, daß ihr Werk zum Samenkorn für die Begeisterung über jüdisch-nationale Werte werden könnte, die durch sie, ohne daß sie es wußten, entdeckt wurden, und niemand wäre mehr erstaunt gewesen als Zunz oder Steinschneider, wenn sie gehört hätten, daß jene Toten ihre Gräber verlassen und zum Leben aufer­ stehen würden. Einer der letzten Schüler Steinschnei­ ders erzählte, daß ihn, den jungen Zionisten, der An­ blick seiner Bibliothek beeindruckte und er begann, sich vor seinem Lehrer über die nationale Wiederge­ burt, die verborgenen Werte und ähnliches mehr auszu­ lassen. Der neunzigjährige Greis antwortete ihm: Nicht doch, mein Herr; uns bleibt nur noch die Aufgabe, all diesem ein »ehrenvolles Begräbnis« zu bereiten.61* 60 So in der Erstveröffentlichung in Luach ha- ’Aretz, S. 9; im Neudruck in Devarim be-Go, S. 393, Druckfehler: apifiorit (»Päpstin«) statt apifioriut (»Päpst­ lichkeit«). 61 Scholem meint hier die »Völker der Welt«, d. h. alle nichtjüdischen Völker. 6z Vgl. Scholem, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, S. 152 f.: »Wir haben nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten.« Die Quelle dieses vielzitierten Diktums ist Gotthold Weil in seinem Nachruf auf Steinschneider, in Jüdische Rundschau XII/6 (8. Fe­ bruar 1907), S. $4.

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Damit will ich also sagen, daß das Kapitel Wissenschaft vom Judentum nicht ganz einfach ist. Es gibt darin Ver­ strickungen, die von den Umständen ihrer Entstehung geprägt worden sind, Verstrickungen, die die Wider­ sprüche der jüdischen Realität selbst in jener Generation widerspiegeln. Manches spielte sich hinter verschlosse­ nen Türen ab.6j Diese Wissenschaft hat eine verborgene Geschichte, und das berühmte »Buch Zunz«63 64 - welches verschlossen und versiegelt in der hintersten Ecke eines Magazins inj erusalem liegt - ist nicht das einzige in einer Geniza »verborgene Buch«. Viele glänzende und lebens­ volle Schöpfungen unserer Literatur sind, unter der Per­ spektive der Wissenschaft vom Judentum, ebenfalls zu verborgenen Büchern geworden. Die romantische Phi­ lologie und Philosophie - einen Zauberstab hielten sie in ihrer Hand, der die Themen ihrer Forschungen er­ weckte und mit Leben erfüllte. Auf sehr vielen Gebieten verwandelte sich dieser Zauberstab in den Händen der Wissenschaft vom Judentum in einen Stab der Zerstö­ rung.6566 Die alten Bücher, die in ihre Nähe kamen, verlo­ ren ihren Glanz, und was durchsichtig und erhellend war, wurde undurchsichtig und finster.6 63 Word.: »Nicht alles ereignete sich im Bereich des Offenkundigen«. 64 Ucko, »Geistesgeschichtliche Grundlagen«, S. 317: »eigenartiges Erinnerungsbuch«. Das Tagebuch von Zunz ist zusammen mit anderen handschriftli­ chen Zeugnissen in der Zunz-Stiftung, Universitäts- und National-Bibliothek Jerusalem, erhalten. 65 Vgl. dazu »Lyrik der Kabbala?«, S. $ $ f., wo Scholem von der gefährlichen Verzauberung der jüdischen Geschichte durch die Wissenschaft vom Judentum spricht. 66 Ebd.: »Die alten Bücher, von wenigen Generationen verraten, sind un­ durchsichtig geworden und schicken ihre Strahlen mehr nach innen, in ein ver­ zaubertes Leben, das unsichtbar geworden, der Entzauberung und Erlösung harrt.«

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Die gefährliche Spannung, die den erwähnten Tenden­ zen innewohnt, entlud sich in einer, wie man es viel­ leicht bei allem Respekt gegenüber den Gelehrten nen­ nen darf, Orgie der Mittelmäßigkeit. Eine Mittelmäßig­ keit des Maßes, nicht des Standpunktes - obwohl auch letzterer mit der Zeit eine Stellung nach der anderen er­ oberte und der »Mittelweg« (wie er von der Breslauer Schule und ihren Anhängern vertreten wurde) feste Formen annahm. Viele preisen auch heute noch die Verdienste dieser wissenschaftlichen Schule - waren sie denn nicht tatsächlich wegweisend für die letzte Gene­ ration, mit ihrem reichen Erbe an Fakten und Erläute­ rungen, Forschungen und Untersuchungen, ein Erbe, das auch nach dem Einsturz des gesamten Hauses in unseren Schatzkammern bewahrt werden wird. Doch die Liste ihrer Schuld und ihrer Vergehen - wer wird daran erinnern? Dieser Mittelweg erschien als die si­ cherste Rückzugslinie der »historischen und positivi­ stischen Wissenschaft« vor dem Angriff jener wider­ streitenden Tendenzen, die sie zerrissen, als Rückzugs­ linie der Wissenschaft vom Judentum, die sich der dia­ lektischen Bewegung in ihren Adern durch deren Ver­ gessen und Vertuschen zu entziehen suchte. Es gilt fest­ zuhalten, daß mit dem vollständigen Sieg des »juste milieu«67 in der westlichen jüdischen Gesellschaft zwangsläufig die wissenschaftlichen Bevollmächtigten der offenen Reform von diesem Mittelweg angezogen wurden; ihre geistige Statur nimmt ab und schwindet, bis es schließlich zwischen den Radikalen und den »Ge­ mäßigten unter den Reformern« keinerlei Unterschied mehr hinsichtlich ihres wissenschaftlichen Ansatzes gibt. 67 Scholem verwendet hier den französischen Begriff.

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Die Widersprüche, von denen ich gesprochen habe, be­ stimmten den Stellenwert der Wissenschaft vom Juden­ tum als eigenständige Kraft, die ihrerseits den Lauf der Dinge in unserem Volk beeinflussen sollte. Diese Wi­ dersprüche erklären auch die Tatsache - ich sage Tatsa­ che, obwohl sie von den Historikern keineswegs als solche anerkannt wird -, daß die historische Kraft in ihr, die zwischen den Zielen des Aufbaus des Hauses Is­ rael und seiner Liquidation von innen her zerrissen wurde, viel geringer war, als man gemeinhin annimmt, geringer auch, als Graetz und seine Nachfolger uns glauben machen wollten. Sofern es ihr überhaupt ge­ lang, solchen Einfluß zu nehmen, geschah es aufgrund ihres ideologischen Rückzugs auf den Mittelweg, weil sie sich zum Sprachrohr der Kleinbürgerlichkeit ge­ macht hatte, einer Kleinbürgerlichkeit, die die eindeuti­ gen Parolen der Liquidation und des Aufbaus gleicher­ maßen verärgern, weil sie schlafen will (zumindest dort, wo sie im jüdischem Bereich wirkt). Dieser Schlaf wird gemäßigter Fortschritt genannt, Bewahrung durch Er­ neuerung und ähnliches mehr. Die Hohlheit des ro­ mantischen Pathos, das heißt: die Sentimentalität und die Vernebelung, stifteten Unheil in den Gemütern, und diese Generation fand daran genauso viel Gefallen wie an der Hohlheit des humanistischen und rationalen Pathos, das heißt: ein hoffnungsvoller Glaube, der sich an etwas Göttliches knüpfte (es ist äußerst schwierig, dieses »etwas« genauer zu bestimmen) und dabei von seinen irdischen Grundlagen (deren Erklärung sehr verschieden sein konnte) abgeschnitten war. Daher un­ terstützten die Gelehrten hier beide Bestrebungen in der Wissenschaft, und es war für sie nicht schwer, die 32

beiden miteinander zu verbinden, wie man von ihnen verlangte. Die Spiritualisierung und die Sentimentalisierung feierten ihren Triumph. Das bedeutet freilich, daß die Wissenschaft vom Judentum ihren Platz in der westlich-jüdischen Öffentlichkeit und ihren (sehr be­ scheidenen) Einfluß auf diese nur behaupten konnte, solange sie in bürgerlichem Gewände68 auftrat, und in dem Maße, in dem sie den (uns heute sehr befremdli­ chen) Zielen dieser Öffentlichkeit diente. Das Wissen um die Märtyrer, die umgebracht worden waren, und um die großen Tora-Gelehrten, die das Licht der Auf­ klärung verbreitet hatten, ließ eine Generation Stolz empfinden, die nicht daran dachte, ihren Spuren zu fol­ gen, sondern den liberalen Messias erwartete. Die Macht dieser Wissenschaft vom Judentum, etwas zu verändern, war gleich Null. Trotz der prahleri­ schen Worte Graetzens über ihre Aufgabe wurde sie ih­ rer Kraft zu durchdringender historischer Erkennt­ nis beraubt, weil die liberale, allen Strömungen ge­ meinsame Historiosophie in den Zwangsrahmen unter­ schiedlicher Vorurteile eingespannt war. Das Bild von der jüdischen Geschichte, wie es durch diese Wissen­ schaft entworfen und als Erbe an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurde, weist alle Kenn­ zeichen dieser Generation auf - um wieviel mehr gilt dies für das Bild jüdischen Denkens, so wie es hier ge­ zeichnet wurde; viele dieser eifrigen Arbeiter gleichen in unseren Augen Riesen an Wissen und Zwergen an Einsicht. Anscheinend war es das, was die Generation verlangte. Für diese Errungenschaften mußte jedoch ein hoher Preis bezahlt werden. Es kam zu einer Entladung der 68 Wörth »in bürgerlicher Ausgabe«.

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Spannung zwischen dem destruktiven und dem kon­ struktiven Trieb, zwischen der Auflehnung gegen die zur Liquidation verurteilte nationale Vergangenheit und der romantischen Forderung, dieselbe Vergangen­ heit rein und geläutert zu erhöhen, und sogar der Span­ nung zwischen der Geringschätzung uns selbst gegen­ über und der Geringschätzung gegenüber der Welt der Völker.6’ »Wer größer ist als sein Nächster, dessen Trieb ist (auch) größer (als der Trieb seines Näch­ sten)«69 70 - doch auch die Spannung zwischen den Trie­ ben verringerte sich und wurde mittelmäßig und kraft­ los, als sie auf die neue Grundlage des Mittelweges gestellt wurde. Wie schwach und fruchtlos ist doch die Spannung zwischen diesen neuen Tendenzen der Senti­ mentalität und der Spiritualisierung. Auf der einen Seite wurde Auflehnung erstickt, auf der anderen Größe eine Dialektik der Indifferenz gibt es nicht. Dies ist das überkommene, allseits bekannte Antlitz der Wissenschaft vom Judentum (obwohl es nicht alle zur Kenntnis nehmen wollen!), wie es bis vor einer Genera­ tion aussah. Man kann nicht sagen, daß der Glanz der Schekhina, die der Nation eigen ist, ihre Gesichtszüge erleuchtete. Es ist sehr zweifelhaft, ob Bialik mit seinem Ausspruch recht hatte, daß der Sündenfall der Wissen­ schaft vom Judentum die Entfremdung von der hebräi­ schen Sprache war und daß diese Entfremdung aus den Wissenschaftlern »Geistapostaten«71 und aus der Tora Israels eine »zehnfältige Lehre«72 gemacht hat. War doch Israels Tora niemals so monoton und in ein und 69 Bezeichnung für alle Völker mit Ausnahme Israels (vgl. z. B. babylonischer Talmud Berakhot 3 a). 70 babylonischer Talmud Sukka j 2a 71 Vgl. Bialik, 'Alchokhmat Jisrael, S.238. 72 Die Degeneration der einen Tora in viele Torot. Vgl. Bialik, ebd., S. 237.

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demselben Stil radebrechend wie damals, als sie in den Siebzig Sprachen73 redete. All die negativen Züge, die uns heute augenfällig sind, wenn wir diese Wissenschaft vom Judentum unserer Vorfahren näher betrachten, sie alle stechen in gleichem Maße auch in der hebräisch ge­ schriebenen wissenschaftlichen Literatur hervor - und wen wundert’s, angesichts der Denkweise der Aufklä­ rer, der Liebhaber des Hebräischen.74 Diese unterschei­ den sich im Prinzip nicht im geringsten von ihren Ge­ nossen im Westen. Allein die Tatsache, daß sie in He­ bräisch schreiben, macht die Sache auch nicht besser, es sei denn, man wollte vielleicht sagen, daß die Stimme der Auflehnung bei einigen der hebräisch Schreibenden immer noch mit größerer Klarheit zu hören ist, wie das Beispiel von Jehoschua Heschel Schorr, dem Herausge­ ber des He-Chalutz,7i zeigt. Was also halte ich dieser Wissenschaft vom Judentum in der Epoche ihrer kleinbürgerlichen76 Anpassung vor? Ganz besonders ärgerlich ist ihr Sündenregister, wie ich bereits sagte, bei den Anhängern der »Mitte«, den Libe­ ralen, die Konservative genannt werden, und den Kon­ servativen, die Liberale heißen. Gerade sie stellen ja die große Mehrheit der Wissenschaftler. Folgende Stich­ worte kann man benennen:

7) Die 70 Sprachen entsprechen den 70 Völkern auf der Welt; vgl. die bei L. Ginzberg, The Legends of the Jewsy Philadelphia 1968, Bd. V, S. 194 f. Anm. 72, angeführten rabbinischen Quellen. 74 Die Wiederbelebung und Pflege des Hebräischen auch für profane Literatur hatte besonders in der osteuropäischen Haskala und zionistischen Bewegung einen hohen Stellenwert. 7$ Hebräische Zeitschrift, erschien 1852-1889 in Lemberg, Breslau, Prag, Frankfurt a.M. und Wien. Sie wurde von Schorr aus eigenen Mitteln finanziert. Schorrs Beiträge zeichnen sich u.a. durch eine scharfe Auseinandersetzung mit der Orthodoxie aus. 76 Wort!.: »baalbattischen«.

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Die Entfernung des irrationalen Stachels und die Aus­ treibung der dämonischen Glut aus der jüdischen Ge­ schichte durch übertriebene Theologisierung und Spiritualisierung. Darin besteht eigentlich der Sündenfall, der den alles entscheidenden Ausschlag gibt. Jener dräuende Riese: unsere Geschichte, sie wird in den Zeugenstand und zur Lehre aufgerufen, sie ist zum Zeugnis bestimmt - und jenes gewaltige Geschöpf vol­ ler Sprengkraft, aus Vitalität, Bosheit und Vollkom­ menheit zusammengesetzt, macht sich klein, schrumpft in sich zusammen und behauptet von sich selbst, daß es rein gar nichts sei.77 Der dämonische Riese ist nur noch ein harmloser Idiot, der die Gewohnheiten des fort­ schrittshörigen Bürgers pflegt, und jeder brave jüdische Hausvater78 darf ihn auf den Straßen des Städtchens grüßen, des sauberen Städtchens des 19. Jahrhunderts; er muß sich nicht schämen, daß man in der Öffentlich­ keit über seine Zugehörigkeit zu ihm spricht. Idylle - die Verfälschung der Vergangenheit durch Ver­ tuschen der erschütternden, aufrührerischen und sprengenden Elemente in der Geschichte und im Den­ ken. Von dieser Plage wurden freilich fast alle Verfasser von Biographien bedeutender Persönlichkeiten oder von Familien- und Gemeindechroniken heimgesucht. Was für ein wunderbarer Stoff, der nun für immer ver­ schwunden ist, stand jenen Forschern noch tausend­ fach zur Verfügung! Welche Verwüstung richtete der Dilettantismus an, als er sich dieses Stoffes bemächtigte, wie verbargen sie das, was uns wichtig ist, und stellten 77 Vgl. »Lyrik der Kabbala?«, S. j 5: »Der dräuende Riese, unsere Geschichte, ein unbürgerliches sprengendes Ding, aus Bosheit, Lastern und Vollendung, er­ klärt sich, »zur Lehre und zum Zeugnis aufgerufen«, für einen harmlosen Idio­ ten.« 78 D.h. »Bourgeois«.

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das Nebensächliche in den Vordergrund, und wenn sie es nicht gänzlich verbargen - welch Mangel an verstän­ digem Urteilsvermögen in seiner Einschätzung und beim Umgang mit ihm! Weinerliche und triefende Sentimentalität (die von de­ nen aufgebracht wurde, die in den dreißiger und vierzi­ ger Jahren Deutsch schrieben, doch diejenigen, die He­ bräisch schrieben, übertrafen sie durch die der Phrase79 innewohnenden zerstörerischen Möglichkeiten noch um einiges). Das Verständis von Geschichte als Martyriologie, und die Abtrennung der Geschichte von ihren realen Grundlagen. Die Einübung von Apologetik und Rechtfertigung von der Art »ihre Furcht (vor den Nichtjuden ...) hat Vorrang vor ihrer Weisheit«.80 Wer erinnerte sich hier nicht an die Verlegenheit und den Schrecken, die die Li­ teratur über das jüdische Räuberwesen zur Zeit der Französischen Revolution umgaben, und an die Ver­ heimlichung jedes Problems, das damit verbunden war, von Seiten der Wissenschaftler, die es vorzogen, ihre Augen vor den Tatsachen zu verschließen oder sie als antijüdische Volksmärchen auszugeben.81 Die Bei­ spiele sind endlos. Wie groß ist hier die Parteilichkeit für die Reichen und Privilegierten ihres Volkes, und 79 melitza; Bezeichnung einer an Bildern und Zitaten reichen Ausdrucksweise, die oft die Klarheit der Darstellung durch gekünstelte Rhetorik beeinträchtigte. In der ersten Phase der neuhebräischen Literatur erfreute sich dieser Stil großer Beliebtheit. 80 Eine ironische Umdeutung von Mischna Avot 3,11: Wessen Sündenfurcht seiner Weisheit vorangeht, dessen Weisheit hat Bestand; und wessen Weisheit sei­ ner Sündenfurcht vorangeht, dessen Weisheit hat keinen Bestand; vgl. auch Psalm 111,10. 81 Zur Auseinandersetzung mit dem »jüdischen Gaunerwesen« äußerte sich Schölern ausführlicher in »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, S. 156 f.

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welche Angst haben sie vor einer Klärung grausamer Aufrechnungen. Das Herunterspielen bis zur Verheimlichung von Phä­ nomenen, die nicht dem Fortschrittsglauben entspra­ chen, wie er im vergangenen Jahrhundert verbreitet war. So entstand die Illusion einer großen historischen Linie, die anhand der Geschichte Israels die Lehre vom Fortschritt an sich illustrierte. Dies sind die Tendenzen, die der jüdischen Wissen­ schaft das hervorstechende Charakteristikum einer eif­ rigen, aber kastrierten Wissenschaft82 verliehen. Hier und dort findet man noch wahre Juden,83 Beherzte, die dem Heil fern sind,** die etwas hassen und das auch sa­ gen, Menschen, die aus ihrer allgemeinen Orientierung noch kämpferische Schlußfolgerungen ziehen. Wie sympathisch und rein erscheinen uns solch große Hasser (wie Graetz oder Jehoschua Heschel Schorr), die ihre Kraft zu gebrauchen wissen - im Gegensatz zu jener schwächlichen Liebe, die sich allen Richtungen in die Arme wirft, die ein Band der Zuneigung8’ über alle Gemeinden und Familien spannt und die keine Grenze kennt in ihrem Entzücken über rein gar nichts, jene frömmelnde Sentimentalität eines David Kaufmann.86 War David Kaufmann etwa ein Binsenschneider87 oder bloß ein bedeutender wissenschaftlicher Feuilletonist im Gegenteil, er war eine glänzende Begabung, und in 82 Ein schönes Wortspiel im Hebräischen: rnadda' zariz aval saris. 83 Anspielung auf Daniel 3,12: guvrin jehuda’in (jüdische Männer)., im Unter­ schied zu den Chaldäern (Daniel 3*8). 84 Jesaja 46,12. 85 Anspielung auf babylonischer Talmud Megilla 13a (ein Band der Anmut war über Esther ausgebreitet). 86 David Kaufmann (1852-1899), Dozent am Rabbinerseminar in Budapest; sein Hauptarbeitsgebiet war die jüdische Philosophie des Mittelalters. 87 Der Binsenschneider ist der Prototyp des Illiteraten und Dummkopfes; vgl. babylonischer Talmud Schabbat 95a und Sanhedrin 33a.

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der Forschung hat er kaum seinesgleichen, weder in sei­ ner noch in unserer Generation! Und doch - gerade in seine Arbeiten sind all jene Tendenzen eingebunden, die die Hohlheit der romantischen Wissenschaft aus­ machen. Diese Wissenschaft tritt bei ihm in ihrer vol­ len, bewahrenden Kraft zu Tage (aber, Gott behüte, nicht als konstruktive Kraft), als ob sie schon das Lieb­ äugeln mit der Liquidation abgeschüttelt hätte; doch es läßt sich nicht leugnen, daß er auch das andere Extrem erreichte, die pseudo-romantische Karikatur. Über die theologische Nichtigkeit dieser Wissenschaft vom Judentum, über ihre Unfruchtbarkeit in religiöser Hinsicht braucht man keine Worte zu verlieren. (Die Analyse in Max Wieners ausgezeichnetem Buch über die jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation88 hat dies deutlich zum Vorschein gebracht.) Es versteht sich von selbst: die historische Kritik, die lebendige Seele der Wissenschaft vom Judentum, konnte ihre Mission nur aus einer säkularen, eigentlich antitheolo­ gischen Geisteshaltung heraus erfüllen. Die großen Ketzer unter jenen, die beim Aufbau der jüdischen Wissenschaft führend waren, dienten der Glaubens­ sache mit großer Hingabe: nur ein Glaube, der bis zur Krise kommt, kann zeigen, ob in ihm noch Keime von Lebenskraft stecken. Ich glaube kaum, daß ich über­ treibe, wenn ich sage, daß ungefähr 50 Jahre lang (18501900) aus diesem Kreis der Vertreter der Wissenschaft vom Judentum kein einziges originäres, lebendiges und unversteinertes Wort über die jüdische Religion kam, ein Wort, in dessen Knochen nicht die Fäulnis der Leere aufgestiegen wäre und an dem nicht der Wurm der Apologetik genagt hätte. 88 Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1933.

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Ganze Problemblöcke liegen da wie Steine, und es gibt niemanden, der sie umwälzt.89 Die Halakha, nicht un­ ter literaturgeschichtlichem Aspekt, sondern unter dem Aspekt der Problemgeschichte, blieb größtenteils völlig ausgeklammert. Als religiöses Problem kam sie über­ haupt nicht vor. Man versuche nur, etwas über das We­ sen der Halakha aus den Schriften Zacharias Frankels90 oder Itzig Hirsch Weiss’91 zu lernen! Als religiöses Problem ist sie genauso aus ihrem Blickfeld geraten wie die Kabbala. Bekanntermaßen gibt es keinen prinzipi­ ellen Unterschied zwischen der Einstellung der For­ scher zum Problem des jüdischen Gaunerwesens und ihrer Einstellung zu »vornehmeren« Problemen wie beispielsweise jenen der Halakha oder der Kabbala: jene Probleme und Fakten standen ihrer ganzen Sub­ stanz nach in besonders scharfem Gegensatz zur idylli­ schen und sentimentalen Auflösung, und man kann unmöglich großen apologetischen Nutzen aus ihnen ziehen. Was über solche Probleme gesagt wurde, wurde aus einem verzerrten Blickwinkel heraus gesagt, denn der tatsächliche Ort dieser Probleme hätte nur durch eine grundlegende Änderung der historischen und ideo­ 89 Vgl. babylonischer Talmud Sanhedrin 14a, und Schölern, »Lyrik der Kab­ bala?«, S. 55: »Es (sc. das Erbe unserer Väter) liegt, wo es historische Gewalt ge­ wonnen hat, den Stürmischen und den Besonnenen im Wege, wie jener »Stein, den keiner fortwälzen kann,« seine Bewegung ist erstarrt und noch nicht wieder ausgelöst, und noch im besten Falle schlagen die Tätigsten ihr Feuer aus ihm«. 90 Zacharias Frankel (1801-187$), seit ^54 erster Direktor des Jüdisch-Theo­ logischen Seminars in Breslau. Hauptwerke: Darkhe ha-Mischna (»Wege der Mischna« = Einleitung in die Mischna, 1859) und Mevo’ ha-Jeruschalrm (»Ein­ leitung in den Jerusalemer Talmud«, 1870). 91 Isaak Hirsch Weiss (1815-1905), Dozent am Rabbinerseminar in Wien. Sein 1871-91 in fünf Bänden veröffentlichtes Hauptwerk Dor Dor we-Dorschaw (»Von Generation zu Generation«), auf das Schölern hier anspielt, beschreibt die Entwicklung der Halakha von den Anfängen bis nach der Vertreibung der Juden aus Spanien.

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logischen Perspektive zum Vorschein kommen können. Es gibt viele nichtige Probleme in dieser Wissenschaft vom Judentum und viele andere, die schlicht ignoriert wurden. Jener Prediger, der das deutsche Heft verfaßte, das unter allen scharfsinnigen Exegeten berühmt ge­ worden ist - »Unser Erzvater Jacob das Vorbild eines Stadtverordneten«92 -, brachte das Geheimnis der Wis­ senschaft vom Judentum in dieser Epoche genau auf den Punkt: der Engelfürst des Volkes Israel als Ab­ klatsch des Kleinbürgertums, Israel und seine Pro­ bleme im unpolierten Spiegel93 der Schwankenden. 94

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Und wirklich: jener grundlegende Perspektivenwechsel ist eingetreten. Er kam zusammen mit der nationalen Bewegung. Wir haben einen festen Standort gefunden, ein neues Zentrum, von dem aus ganz andere, völlig neue Horizonte wahrgenommen werden konnten. Wir sollten unsere Probleme nicht mehr von außen sehen, nicht unter dem Aspekt der Liquidation oder der Halb­ liquidation, nicht unter dem Aspekt der kleinmütigen, frömmelnden Bewahrung, nicht unter dem Aspekt der apologetischen Kleingeisterei, deren Abrechnungen mit der Vergangenheit nicht »glatt gehen«. Die neue Pa­ role hieß: die Dinge von innen sehen, vom Zentrum zur Peripherie gehen, ohne Zurückweichen und ohne 92 In Deutsch zitiert. 93 In Wajjiqra Rabba 1,14 wird die Prophetie des Moses und der übrigen Pro­ pheten dem Blick in einen glänzenden bzw. schmutzigen Spiegel verglichen. 94 Übersetzt in Analogie zur deutschen Übersetzung von Achad Ha’ams 1910 hebräisch verfaßtem Aufsatz über die Assimilationsbestrebungen englischer Juden: »Die Schwankenden«» in: Achad-Ha’am, Am Scheidewege, Bd. II, aus dem Hebräischen von H. Torczyncr, Berlin 1916, S. 228-25$.

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Schielen! Das ganze Gebäude der Wissenschaft neu er­ bauen im Lichte der historischen Erfahrung des Juden, der inmitten seines Volkes sitzt und nur noch einem Rechnung trägt, nämlich die Probleme, Ereignisse und Ideen als das anzusehen, was sie wirklich sind, im Rah­ men ihrer historischen Funktion in der Nation. Wenn wir uns selbst in die Generationenkette einglie­ dern, ohne zur Seite zu schielen, wenn wir unser Schicksal mit dem historischen Schicksal der Nation in jeglicher Hinsicht verknüpfen, sei es mit der »Säkularität«, sei es mit der »Heiligkeit«, so wird dies zwangsläu­ fig einen gewaltigen Wertewechsel mit sich bringen, in vielen Bereichen sogar einen richtigen Umsturz. Man wird den lebendigen Strom, der den verschlossenen Herzen unsichtbar geworden war, zu den Quellen zu­ rückführen; der gewaltige, lebensvolle Fluß wird her­ vortreten, die sprudelnde Dynamik des Geschichtslau­ fes, mit all seinen Licht- und Schattenseiten, der Kampf, wie er in seiner ganzen Heftigkeit zwischen den er’elim und den metzuqim,9i zwischen den Engeln und den Dämonen, um die Seele der Nation tobt, wird nicht mehr verborgen sein. Gefordert wird von uns die Auf­ deckung des Geheimnisses unserer wahren Gestalt. Faktoren, die aufgrund der assimilatorischen und bi­ gotten Weitsicht besonders hervorgehoben und positiv bewertet wurden, erfordern eine erneute, gründliche Untersuchung um festzustellen, welche Funktion sie tatsächlich in der Entwicklung der Nation hatten. Fak­ toren, deren Wert verkannt wurde, werden aus dieser Perspektive in einem anderen, positiven Licht erschei­ nen. Faktoren, die nicht würdig schienen, daß ernstzu­ nehmende Wissenschaftler sich mit ihnen befaßten, 9$ Zu den beiden Engelgruppen, die das Gute und das Böse repräsentieren, vgl. babylonischer Talmud Ketubbot 104a.

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werden aus dem Abgrund der Geniza heraufgehoben. Und es ist durchaus wahrscheinlich, daß das, was jene Entartung nannten, von uns für die Erscheinung eines Lichtes gehalten wird, und was jenen wie kraftlose Phantastereien vorkam, sich uns als lebendiger, mächti­ ger Mythos offenbaren wird. Zusammenfassend kann man sagen: Die Steine, die die Bauleute verworfen haben, sind zu Ecksteinen gewor­ den?6 Die kastrierte Idylle, die aufgeklärte Engstirnig­ keit und die Zauberkunststücke der Illusion sind nun überflüssig. Fragen, die die Bibel und der Talmud auf­ werfen, die Probleme der lebendigen jüdischen Gesell­ schaft und ihre materielle und geistige Welt, rundum al­ les - ihre Lösung hängt von einer grundlegenden Revi­ sion ab, von einer Überprüfung unseres Erbes im Lichte unseres neuen Verständnisses. Wir dürfen uns nicht mit einem allgemeinen Orientierungswechsel zu­ friedengeben, der Blick muß in jede einzelne Einzelheit eindringen - sie von neuem im Lichte der Quellen prü­ fen, in jedes Problem für sich - es neu denken und in seine tiefste Tiefe hinabsteigen.96 97 Kurz: Die Errichtung eines neuen kritischen Gebäudes und das Erstellen ei­ nes völlig neuen Bildes unserer Geschichte im weitesten Sinne des Wortes - das ist die Aufgabe, die der Wissen­ schaft vom Judentum in der »Generation der Wiederge­ burt« auferlegt ist. Neue Begriffe und neue Kategorien sind gefragt, neue Intuition und neuer Mut: »Destruktion der Destruk­ 96 Anspielung auf Psalm 118,22; vgl. auch J. Dan, »Gershom Scholem - Mysti­ ker oder Geschichtsschreiber des Mystischen?«, in: Gershom Scholem. Zwi­ schen den Disziplinen, S.44 Anm.28. 97 Vgl. dazu Scholem, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, S. 164: »Wir haben die Möglichkeit, durch echte Versenkung in wissenschaftliche Sachverhalte und Tatbestände das Ganze aus dem Kleinsten zu reorganisieren und zu rekonstruieren.«

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tion«, Liquidation der Liquidation98 und furchtloser Gebrauch der historischen Kritik entsprechend ihren zwei Seiten. Von jetzt an hat die schöpferische Zerstö­ rung99 der wissenschaftlichen Kritik, die die Zeugnisse der Vergangenheit auf Herz und Nieren prüft, eine an­ dere Funktion: nicht das Waschen des Toten und seine Einbalsamierung, sondern die Aufdeckung des verbor­ genen Lebens durch die Entfernung der verhüllenden Vorhänge und Kulissen und der irreführenden Etiket­ ten. Durch ihre fruchtbare Dialektik, durch einen radi­ kalen Durchbruch zum Wendepunkt auf ihrem Weg, durch diese fundamentalen Ausgangspunkte für den Bau100 dient die historische Kritik von jetzt an auch als produktive Entschlüsselung der Geheimschrift der Vergangenheit, der großen Symbole unseres Lebens in der Geschichte. Die Befreiung unseres religiösen Denkens aus dem Ge­ fängnis entstellender Ideologie, die die himmlischen und irdischen Ursprünge ihrer Vision verleugnet - sie ist es, die uns zum Einreißen dieser Gefängnismauer verpflichtet, die im Verlauf von Generationen errichtet wurde. Eine Wissenschaft, welche die Verlogenheit der reinen Geistigkeit begreift, weiß sich auch von neuem dem Problem des wechselseitigen Einflusses von Kör­ per und Seele der Nation zu stellen und wird uns leh­ ren, in unbestechlicher Nüchternheit das gewaltige 98 Happalat ha-happala, chissul ha-chissub, R.J. Zwi Werblowsky wies darauf hin, daß Schölern hier möglicherweise auf den Titel von al-Ghazzalis Tahafut al-Falasifah (»Zerstörung der Philosophie«) und Ibn Rushds Erwiderung Tahafxt al-Tahafut (»Zerstörung der Zerstörung«) anspielt. David Biale, Gershom Schölern. Kabbalah and Counter-History, S. 10, sieht eine Ähnlichkeit mit He­ gels Konzeption der »Negation der Negation«. 99 Vgl. M. Bakunin: »Die Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust«; das Zitat findet sich in Scholems Brief vom 3.10.1917 an W. Kraft: G. Schölern, Briefe 1:1914-1947, S. 112 (Brief 39). 100 Wortspiel: nequdat ha-mifne und nequdot ha-mivne.

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Problem des Verhältnisses zwischen Israel und den Völkern zu sehen, ohne Weinerlichkeit und ohne Prah­ lerei. Diese Wissenschaft wird sich mit gebührendem Ernst den originär jüdischen Ausdrucks-Formen widmen: dem Kommentar, der Halakha und dem Mi­ drasch, und den latenten, tief dialektischen Problemen jener Formen in ihrer Eigenschaft als antisystematische Kategorien religiösen Denkens. Sie wird deren Meta­ physik aufdecken - aber auch den Boden, der sie gedei­ hen ließ. Doch was soll ich mich lange bei der Aufzäh­ lung der Probleme aufhalten, die jedem Betrachter in den Sinn kommen und derer kein Ende ist; sie alle sind voll von gewaltiger historischer Vitalität und von tiefer Bedeutung für uns, und sie werden hier als legitime Pro­ bleme an ihrem rechtmäßigen Ort gelöst werden, wenn wir uns selbst am richtigen Ort befinden: am Ausgangs­ punkt zur Erneuerung der Nation aus ihrer stürmischen und tragischen Geschichte heraus.

7 Ich habe den Perspektivenwechsel und seine Bedeu­ tung für die Neuformulierung der Probleme der Wis­ senschaft vom Judentum beschrieben. Es ging um eine spannungsgeladene Atmosphäre, eine Atmosphäre, die ganz elektrisiert war von der Großartigkeit der Vision einer sich erneuernden Wissenschaft, die ihre Kraft aus den Wurzeln der nationalen Wiedergeburt, aus dem zionistischen Erwachen und aus der permanenten Be­ rührung mit dem geistigen Klima des nationalen Auf­ baus zog. Wie viele Programme wurden damals erstellt, als uns grenzenlose Sehnsucht ergriff, mit dem Geist der Vergangenheit und dem Engelfürst des Volkes zu

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ringen;101 so wurden wir in unserer Jugend zur Wissen­ schaft vom Judentum hingezogen. Als wir damals be­ schlossen, uns einen Weg zu den »Quellen der Weis­ heit«102 zu bahnen, die sich uns in der Vision offenbar­ ten, war etwas von Stolz und von Demut in uns: vom Stolz des Königssohnes, der gefangen ist, der aus sei­ nem Exil erwacht und der weiß, »von woher er ins Exil gelangte und woher er erlöst werden wird«,103 und von der Demut eines Menschen, der in Liebe jede auch noch so beschwerliche Arbeit auf sich nimmt. Wir begeister­ ten uns für das Licht der großen Idee, wir haßten die, die sie verfälschten, und wir waren bereit, sie in ihrer ganzen Strenge auf uns zu nehmen. Im Gegenteil, wir sehnten uns sogar nach dieser Strenge der Gesetze der Wissenschaft. Haben wir uns doch umgesehen und nur eine ganz geringe Anzahl von Forschern mit einem wa­ chen und entwickelten wissenschaftlichen Gewissen erblickt, die nach dem Maß des strengen Rechtes104 handelten, während sich neben ihnen auf den Feldern der Forschung eine große Fraktion von Dilettanten mit guten Absichten und konfusen Methoden austobte, nur zur Hälfte oder zum Drittel für die Tätigkeit, der sie toi Jakobs Kampf mit Gott (Genesis 32,25 f.) wird in der rabbinischen Litera­ tur auch als Kampf mit dem Engelfürsten des Volkes Israel, Michael, gedeutet (vgl. Ginzberg, The Legends of the Jews, Bd. I, S. 3 84 ff. und Bd. v, S. 305 Anm.248). 102 Anspielung auf die zahlreichen Schriften mit dem Titel Ma'jan haChokhma (»Quelle der Weisheit«). 103 Anspielung auf den Königssohn im sog. »Perlenlied« der gnostischen Thomasakten. Das Lied erzählt von dem Königssohn, der von der östlichen Licht­ welt in das Land der Finsternis, Ägypten, gesandt wird und dort in Schlaf fällt, bis ein Ruf aus der Heimat ihn an seine Herkunft und an seinen Auftrag erin­ nert. Erste Ausgaben des Perlenliedes finden sich in E. Preusch, Zwei gnostische Hymnen, Gießen 1904, sowie bei G. Bornkamm, Mythos und Legende in den apokryphen Thomas-Akten, Göttingen 1933. 104 middat ha-din, eine der innergöttlichen Potenzen (ihr Gegenpol ist middat ha-rachamim, das »Maß der Barmherzigkeit«).

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angeblich nachgingen, ausgebildet und wirr in ihren Meinungen. Deshalb sehnten wir uns nach der Wissen­ schaft, die ihre Vertreter grausam behandelt, in der es keinen Platz gibt für die Milde, »Gnade vor Recht« er­ gehen zu lassen,105 deren man sich bei uns so sehr be­ diente, um alle Unzulänglichkeiten, den Mangel an Können und Begabung, den Mangel an Tiefe und Ge­ nauigkeit zu bemänteln. Wir wollten zur Wissenschaft in ihrer ganzen Strenge und ohne Kompromißbereitschaft zurückkehren, wie wir sie in den Worten von Zunz oder Steinschneider ge­ funden haben, doch wollten wir sie ausrichten auf den Aufbau und die Bejahung. Wir wollten uns versenken in die Erforschung der Einzelheit und der Einzelheit der Einzelheit. Ein Heißhunger ergriff uns nach den trockenen Einzelheiten, nach dem »Kleinen im Gro­ ßen«, um durch sie die verstopfte Quelle der sprudeln­ den Lebenskraft zu öffnen. Denn wir wußten: dort ist ihr Platz und dort ist sie verborgen, von dort wird ihr Wasser aufsteigen, und dort werden wir unseren Durst löschen. Wir suchten das Licht der großen wissen­ schaftlichen Idee, die auf den Einzelheiten leuchtet wie Sonnenstrahlen, die auf der Wasseroberfläche tanzen, und wir wußten - ob es wohl einen ernstzunehmenden Wissenschaftler ohne diesen ewigen Kampf in seinem Innern gibt? -, daß sie nur in den Einzelheiten selbst wohnt. Wir kannten die Kraft des »Faktums« - und wir wußten, »daß es nichts Irreführenderes gibt als das Fak­ tum«, wie es in einem französischen Sprichwort heißt, io$ Wort!.: »innerhalb der Rechtslinie handeln«; bezeichnet den wichtigen halakhischen Grundsatz des Verzichts auf ein eigentlich zustehendes Recht. Vgl. etwa babylonischer Talmud Berakhot 7a, in Verbindung mit dem Maß der Barmherzigkeit: mit der Eigenschaft der Barmherzigkeit verfahren und... in­ nerhalb der Rechtslinie handeln.

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und deswegen zogen wir aus, um die spannungsreiche Wechselbeziehung zwischen Ideen und Fakten zu ent­ decken. Also wurden wir »Spezialisten«, die ein Hand­ werk beherrschen. Und wenn wir auch nicht mit dem Heiligen, er sei gepriesen, gekämpft haben, wie es in der Aggada heißt, so kämpften wir doch mit dem Satan, der unter uns tanzt, dem Satan des verantwortungslosen Dilettantismus, welcher das Geheimnis des Aufbaus nicht kennt, weil er das Geheimnis der Zerstörung nicht kennt. Dies ist ein großer, aber notwendiger Ein­ griff, die Liquidation der Liquidation, die Entfernung des Krebsgeschwürs im lebendigen Körper der Wissen­ schaft vom Judentum; sie kann nicht nebenbei ausge­ führt werden, geistesabwesend und ohne genaue Kenntnis der befallenen Stellen, das heißt: der Eingriff erfordert eine antidilettantische Geisteshaltung. Wir haben gekämpft. Aber haben wir gesiegt? Wir ha­ ben die Perspektive verändert - doch haben wir die de­ taillierten Schlußfolgerungen aus dieser Veränderung mit aller Strenge des Gesetzes, mit aller Grausamkeit gezogen? Ist die kritische Ausrichtung wirklich in jedes i-Tüpfelchen unserer Arbeit eingedrungen? Wir sind ins Detail gegangen - aber haben wir die Einzelheiten wirklich erschlossen und erklärt, haben wir sie neu kombiniert, haben wir ihre verborgene Sprache entzif­ fert? Haben wir uns absolut, in aller konkreten wissen­ schaftlichen Klarheit, von den (Irr)wegen und Sünden distanziert, die wir der Wissenschaft der Assimilatoren und ihren Epigonen aufrechneten? Es ist schwierig, diese Fragen mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Dieses Vorhaben ist groß, es gibt viel Bewegung und ein großes Durcheinander. Wir ha­ ben uns aus dem Erstarrungszustand, in dem wir uns vor dreißig, vierzig Jahren befanden, gelöst und sind zu

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einer neuen Ordnung aufgebrochen. Doch warum ha­ ben wir keine großen Siege errungen? Es gibt ja keinen Zweifel, daß sich das geistige Klima der Wissenschaft in unserer Generation völlig verändert hat, unsere Sicht­ weise hat einen Richtungswechsel bewirkt, und wir haben die Strenge des geistigen Standortes auf uns ge­ nommen, an dem wir bleiben und auf dem wir bauen wollten. Zweifellos ist sehr viel getan worden. Die Auf­ bruchsstimmung war nicht inhaltsleer. Aber man muß eingestehen, daß wir auf dem Weg von der Vision zur Verwirklichung steckengeblieben sind. Wir haben das Skalpell der Kritik nicht überall dort an­ gesetzt, wo das Erbe der Wissenschaft vom Judentum, deren Antlitz wir erneuern wollten, entstellt, grotesk und beleidigend war. Wir haben Programme verkündet, aber wir haben uns mit Allgemeinplätzen zufriedenge­ geben. In Wirklichkeit haben wir in zahllosen Einzel­ heiten genau dieselbe Sichtweise übernommen, die wir in unseren Deklarationen schmähten. Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder.106 Man kann unmöglich behaupten, daß wir jenen tiefge­ henden Eingriff, der diesen in allen Schattierungen wu­ chernden Aussatz aus unserem Fleisch herausschnei­ den sollte, bereits in die Tat umgesetzt hätten. Wir ha­ ben den Schnitt nicht tief genug geführt. Haben wir denn die Sentimentalität zerstört? Sie wan­ delt ja noch immer unter uns, in neuen Gewändern, in einem neuen Stil, nicht weniger ärgerlich als die frühe­ ren. Haben wir denn die verlogene Idylle zerstört? Sie blüht ja in dieser Generation unter uns im Gewand der 106 Scholem zitiert diesen Satz in seinem Brief an Shalom Spiegel vom 8.5.1945» in: G. Scholem» Briefe ¡¡1914-1947^ S. 297 (Brief 126)» und das hebräi­ sche Original, S. 442 f., mit Übersetzung dieses Zitates, S. 44) Anm.6.

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orthodoxen Wissenschaft, die um uns herum wächst und gedeiht. Haben wir denn die aufklärerische Ideolo­ gie in der Bewertung religiöser Phänomene zerstört und sind wir zu deren tiefen Verständnis vorgedrun­ gen? Man schaue sich doch nur an, was Dubnow in sei­ ner »Geschichte des Chassidismus«107108 machen wollte. Haben wir den Dilettantismus und seine wilden Phan­ tastereien in Geschichte, Philologie und Philosophie zerstört? Ist er uns nicht in zehn neuen Gewändern ent­ schlüpft? Sind nicht doch ein paar Seelen(funken) aus jener Welt des tohu eingedrungen und haben Verwir­ rung in der Welt des tiqqun gesät, an dem wir arbei­ ten?'08 Alle diese Plagen haben jetzt ein nationales Gewand an­ gezogen. Vom Regen in die Traufe: Nach der Leere der Assimilation kommt eine andere, die der großspreche­ rischen nationalen Phrase. Statt des religiösen Predigt­ stils und der religiösen Rhetorik haben wir einen natio­ nalen Predigtstil und eine nationale Rhetorik in der Wissenschaft kultiviert. In beiden Fällen bleiben die wirklichen Kräfte, die in unserer Welt wirksam sind, das wahrhaft »Dämonische«,109 außerhalb des Bildes, das wir geschaffen haben.110 Wir haben mit der Arbeit begonnen, wir hatten uns 107 Geschichte des Chassidismus, 1 Bde., Berlin 1931; Simon Dubnow (18601941) war ein osteuropäischer jüdischer Historiker, dessen zehnbändige Welt­ geschichte des jüdischen Volkes (1925-29) nach Graetz zum Standardwerk wurde. 108 Schölern beschreibt hier in der Terminologie der lurianischen Kabbala den Erlösungsprozeß, in dem die Welt der ungeordneten Sefirotlichter {‘olam hatohu), die aus dem ersten Urmenschen, der Heimat aller Seelen, hervorgebro­ chen sind, in eine neue, erlöste Welt (‘olam ha-tiqqun) umgewandelt wird. 109 Schölern verwendet hier wieder den griechischen Begriff. 110 Diese Stelle wird auch übersetzt und kommentiert von D. Biale, »Schölern und der moderne Nationalismus«, in: Gershom Schölern. Zwischen den Diszi­ plinen, S.268.

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vorgenommen, sie gewissenhaft zu tun, die Augen gin­ gen uns auf, und wir ernüchterten. Zur Rechten und zur Linken häufen sich die Probleme, die der Lö­ sung111 bedürfen, und eine Zusammenfassung ist noch in weiter Ferne. Und wenn wir eine grundlegende Revi­ sion unseres Erbes beabsichtigen, werden wir ein gro­ ßes Maß an Beherztheit benötigen und den Wage­ mut,111 in viele abgeriegelte Gebiete vorzudringen. In sehr vielen Disziplinen hat die historische Kritik noch einen weiten Weg vor sich, bis sie an die Grundfesten gelangt, auf denen ein Gebäude errichtet werden kann. Vielleicht ist es ja kein Zufall, daß wir bis heute noch keine wissenschaftliche Einführung in den Talmud ha­ ben? Wehe der Wissenschaft, die auf die Zusammenfas­ sung ihrer Resultate verzichtet, aber ein siebenfaches Wehe der Wissenschaft, die die Zusammenfassung der Analyse, der Klärung und dem Auspressen der Einzel­ heiten vorangehen läßt. Zu unserem Bedauern gibt die Wissenschaft vom Judentum, die sich in ihrem Volk er­ neuert, Anlaß, diese beiden Gefahren gleichzeitig zu fürchten. Fremde, die wir als Ignoranten verlachten, haben Gesamtdarstellungen geschrieben, die uns be­ schämen, denn wir haben nicht die Kraft dazu gefun­ den; andererseits gibt es Gesamtdarstellungen, die von unseren Gelehrten verfaßt wurden, die besser nicht hät­ ten geschrieben werden sollen. Es ist noch zu früh, ein Loblied anzustimmen. Die Wis­ senschaft vom Judentum braucht eine Reform1'3 an Haupt und Gliedern. Wer weiß, ob es uns noch gelin­ gen wird, das, was uns auferlegt ist, zu vollenden. Denn tu tiqqun. in ha'apaia; das zugrundeliegende Verb hat auch die Bedeutung »illegal ein* wandern (nach Palästina während der britischen Mandatszeit)«. 113 tiqqun.

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wir haben auf Heilung gehofft, doch statt dessen Grauen. Durch die völlige Vernichtung unseres Volkes in Europa ist auch die Mehrheit der frischen Kräfte, auf die wir unsere Hoffnung zur Weiterführung des Wer­ kes setzten, vernichtet.”4 Vielleicht wissen wir gar nicht, wie verwaist und einsam wir bei unserer Aufgabe sind. Werden wir den Bau mit den verbliebenen Kräften der Überlebenden11 f bewältigen? Manchmal scheint es, daß wir vor der großen Vision einer sich erneuernden Wissenschaft vom Judentum genauso dastehen wie jene Engel, die gerufen wurden, vor Gott ihr Loblied zu sin­ gen, es aber nicht zum Abschluß bringen konnten, »denn ihre Kraft, vor ihrem Schöpfer zu stehen, läßt nach und hört auf, wie das Verlöschen des Funkens auf der Kohle«."6

114 Vgl. dazu Scholem, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, S. 1 59 f.: »Das größte Kräftereservoir, der Nachwuchs, die Hoffnung auf eine enthusia* stische Jugend, die von der Idee eines neu zu sehenden jüdischen Gesamtbildes, einer neuen jüdischen Geschichtsschreibung angezogen, sich diesen Aufgaben zuwenden würde, ist in Auschwitz und anderswo geblieben.« iij Anspielung auf sche’erit ha-pleta - Rest der Bevölkerung (1 Chronik 4.43)116 Scholem, »Walter Benjamin und sein Engel«, in: Walter Benjamin und sein Engeln Frankfurt a.M. 1992, S.48, übersetzt »sie [die Engel] schwinden hin wie der Funke auf der Kohle«, und verweist auf die Quelle seines Zitates: Todros Abulafia, Otzar ha-Kavod, Druck Warschau 1879 (Nachdruck Jerusalem 1970), S. 46.

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Brief an Ch. N. Bialik

Jerusalem, 20. Tamus 568512

Sehr geehrter Herr Bialik! Ich lege Ihnen hier in gebotener Kürze den Stand der Dinge in der Kabbala-Forschung dar und was ich mit meinen schwachen Kräften darin leisten kann. Es ist wahr, daß diese Arbeit nicht von einem einzelnen voll­ bracht werden kann, und alle unsere Nachfolger wer­ den mehr als genug Gebiete finden, sich darin auszu­ zeichnen. Doch die Zeit ist gekommen, die Arbeit auf­ zunehmen, und ich habe nicht die Freiheit, mich ihr zu entziehen.1 Für die wissenschaftliche Erforschung der Kabbala wurde bis heute nichts getan. Das erhoffte und erstre­ benswerte Ziel solcher Forschung ist doch: die Kennt­ nis und Niederschrift der Entwicklungsgeschichte der Kabbala von ihrem ersten Aufblühen an, der Ge­ stalt, in der sie sich zuerst präsentierte, über ihre zahl­ reichen Weiterentwicklungen bis in die jüngste Zeit hinein. Natürlich ist der erste Abschnitt dieser Arbeit am wichtigsten und am dringlichsten: die Entwicklung der Kabbala bis zur Zeit des ARI, des R. Isaak Luria,3 denn mit ihm begann eine völlig neue Epoche. Obwohl es unmöglich ist, diese ohne Einsicht in die vorausge­ hende Epoche zu verstehen, so erfordert sie doch eine 1 Entspricht dem Datum 12. Juli 1925. 2 Mischnajot 2,16: Dm wirst die Arbeit nicht vollenden, aber es steht dir auch nicht frei, dich ihr zu entziehen. 3 Isaak bcn Salomo Luria Aschkenazi (1334-1572), genannt ha-ARI (»der Löwe«, Akronym für ha-’elohi Rabbi Jitzchaq - »der göttliche R. Isaak«), war das Haupt der kabbalistischen Schule von Safed. Er entwickelte das letzte große System der Kabbala und hielt sich selbst wahrscheinlich für den Messias ben Josef.

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vollständige und genaue eigene Erforschung. Das gilt in gleichem Maße für alle von ihr ausgehenden Verzwei­ gungen, also die messianischen Bewegungen, die sich auf der kabbalistischen Lehre4 und auf dem Chassidis­ mus gründen. Ich werde meine Ausführungen auf die Arbeit am ersten Abschnitt konzentrieren, die aus­ reicht, um jemanden zehn Jahre und länger zu beschäf­ tigen. Die Gefahr bei dieser Forschung besteht vor­ aussichtlich in der berechtigten Forderung der Öffent­ lichkeit nach einer Erklärung dieser Themen, eine Forderung, die schon viele und Bessere als mich schei­ tern ließ; eine weitere Gefahr besteht darin, daß die Grenzen einer Forschung, die in bezug auf die Epo­ chen des Hellenismus und des Mittelalters auf fast alle Zweige der Religions- und Wissenschaftsgeschichte eingehen muß, weit gezogen sind. Sicherlich ist es für einen einzelnen schwer, diesen Vorgaben in seiner For­ schung gerecht zu werden. Zwei Probleme können nur aufgrund der Beschäfti­ gung mit den Quellen gelöst werden: a) Die Frage nach dem Ursprung der Kabbala, das heißt: wie ist diese Bewegung und ihre Lehre entstan­ den, auf welche Weise bildete sie sich heraus, und wann ist sie entstanden? Im Schoße5 des Judentums oder durch Übernahme von Fremdem'}6 b) Die Frage nach der inneren Entwicklung all ihrer Strömungen und Verzweigungen, eine bedeutende und vielschichtige Entwicklung, von der wir bis heute keine klare Vorstellung haben. Waren die Kabbalisten Er4 Schölern benutzt hier eine Abkürzung für Kabbala, die zum ersten Mal von den spanischen Kabbalisten in Gerona verwendet wurde: torat ha-chen (chokhma nistara) - »die Lehre von der verborgenen Weisheit«. $ Biblischer Ausdruck für die Legalisierung von Nachkommen; vgl. Genesis 5SoharEtwas< nichts anderes war als der Geist der Romantik, der mich bestimmte und den ich in meine Haltung hineinnahm, und man mag sagen, daß diese Erklärung kindisch ist und beeinflußt von dem, was heute an derartigen Erklärungen in Mode ist« (Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, S. i3of.). Am meisten aber war es wohl das geheimnis­ volle, in der Kabbala verborgene »irgend etwas«, das er intuitiv spürte und das ihn anzog. In seinem berühmten Brief an Salman Schocken vom 29. Oktober 1937 nennt er es das »geheime Leben des Judentums, dem ich in meinen Meditationen nachhing«, »ein Reich von Zu­ sammenhängen ..., die auch unsere menschlichsten Er78

fahrungen betreffen müßten« (der Brief trägt die Über­ schrift »Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbalastudiums« und wurde u. a. in G. Schö­ lern, Briefe I: 1914-1947, hrsg. v. I. Shedletzky, Mün­ chen 1994, S.471 f., abgedruckt). In dem Brief an Schocken bezeichnet er die Jahre 19161918 als die drei sein ganzes weiteres Leben bestimmen­ den Jahre; in Von Berlin nach Jerusalem spricht er von zahlreichen Heften, die er zwischen 191$ und 1918 mit Exzerpten, Übersetzungen und Betrachtungen zur Kabbala vollschrieb (S. 132; in der von K. Gründer und F. Niewöhner besorgten Edition der Tagebücher, Auf­ sätze und Entwürfe 1913-1917 ist davon allerdings nicht viel zu finden). Auf jeden Fall war Anfang 1919 endgültig der Entschluß gefaßt, die wissenschaftliche Erforschung der Kabbala zum Hauptgegenstand des Studiums zu machen und in München zu promovieren. Das Thema der im Januar 1922 eingereichten Disserta­ tion, eine Edition, Übersetzung und Kommentierung des Buchs Bahir, des ältesten erhaltenen kabbalistischen Textes, war kühn gewählt, wollte Schölern doch damit die Grundlagen für das Verständnis der Entstehung der Kabbala überhaupt schaffen. Es entstand in ungefähr zwei Jahren eine bis heute nicht übertroffene kommen­ tierte Übersetzung des Bahir, die Erhellung der damit zusammenhängenden weiterführenden und viel grund­ sätzlicheren Fragen, die er »damals in jugendlicher Ver­ messenheit in Aussicht stellte«, sollte noch lange auf sich warten lassen und ihre endgültige Form erst 40 Jahre später finden, in der auf deutsch publizierten Mo­ nographie Ursprung und Anfänge der Kabbala.

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Kurz nach seiner Ernennung zum Dozenten, am i. No­ vember 1925, hielt Schölern zusammen mit anderen neuernannten Professoren des neuen Instituts für Ju­ daistik seine Antrittsvorlesung über die Frage der Ent­ stehung des Zohar. »Hat R. Mose de Leon das Buch Zo­ har verfaßt?« (veröffentlicht in Madda'e ha-Jahadut 1, 1925/26, S. 16-29, hebr.). In einem Brief an Ernst Simon vom 22.12.1925 nimmt er über dieses Ereignis kein Blatt vor den Mund {Briefe 1:1914-1947, S.229f.): »Uber das makhon le-madda'e ha-jahadut [Institut für die Wissenschaften vom Judentum] habe ich so manche ernste Privatmeinung, und ich will Ihnen nicht ver­ schweigen, daß ich die Berufung von Klausner auf ei­ nen selbst angeblich so »ungefährlichem Posten wie toledot ha-sifrut [Literaturgeschichte] für einen sehr be­ denklichen Mißgriff aus purer Feigheit (man hatte wohl auf die Dauer Angst) halte. Ich habe ihn gehört, z.B. heute erst wieder in seiner Vorlesung, und Sie können mir glauben, es ist eine Schweinerei, so einen Mädchen­ schultertialehrer an die Universität Jerusalem zu setzen. Anbetracht dieser Umstände muß man schon froh sein, wenn einem wenigstens keiner in die Suppe hineinre­ det. Unsere Antrittsvorlesungen in der kleineren Unsterb­ lichkeit werden Sie gedruckt zu lesen kriegen. Ich hatte die sehr peinliche Aufgabe, nach einer unglaublich dummen und eitlen Vorlesung von Klausner aufzutre­ ten. Also kurz und gut, Gott läßt seine Sonne strahlen über vielerlei Getier allhier.« Joseph Klausner, der Lehrstuhlinhaber für moderne Hebräische Literatur, einer der einflußreichsten Profes­ soren an der neuen Universität, war der Anführer der 80

revisionistisch-nationalistischen Opposition gegen die liberale Mehrheit der Professorenschaft; er sollte bis zu seiner Emeritierung einer der politischen und wissen­ schaftlichen Hauptgegner Scholems bleiben. 1927 be­ klagte Scholem sich beim Kanzler Magnes darüber, daß Klausner die Studenten aufhetzte, aus chauvinistischen Gründen gegen einen geplanten Jiddisch-Lehrstuhl zu agitieren (Klausner und seine nationalistischen Ge­ folgsleute betrachteten die Einrichtung einer JiddischProfessur an der Hebräischen Universität als Verrat an den Idealen der Erneuerung der hebräischen Sprache als Vehikel der nationalen Identität). Diesen Macht­ kampf gewann Klausner: der Lehrstuhl wurde nicht er­ richtet; erst 1947 kam es zu einer Dozentur für Jid­ disch. Die Antrittsvorlesung Scholems über den Verfasser des Zohar war der großangelegte Versuch, seinen Antipo­ den Graetz zu widerlegen. Hatte jener den Zohar als Fälschung bezeichnet und Mose de Leon als Betrüger und Scharlatan entlarvt, der seine Autorschaft ge­ schickt verschleierte, um dem von ihm verfaßten Mach­ werk größere Authentizität zu geben, wollte Scholem nachweisen, daß Mose de Leon den Zohar nicht ver­ faßte, sondern nur kopierte und in seinen eigenen Wer­ ken zitierte, daß es also sehr viel ältere, bis in die klassi­ sche Antike zurückreichende Schichten des Zohar gebe. Die Motive für diesen Anti-Graetz sind rück­ blickend klar ersichtlich: Der aufgeklärte Rationalist und kritische Wissenschaftler Graetz hatte die Kabbala verabscheut und verachtet, also mußten auch seine von diesen Vorurteilen geprägten wissenschaftlichen »Er­ kenntnisse« falsch sein. Die Revision dieser Position gehört zu den aufregendsten Abschnitten der Ge­ schichte der Kabbalaforschung und den eindrucksvoll­ 81

sten Dokumenten für die wissenschaftliche Integrität Scholems. Sie begann Anfang der 30er Jahre und fand ihren Höhepunkt in dem 1938 konzipierten Kapitel über das Buch Zohar und seinen Verfasser, das 1941 in Major Trends veröffentlicht wurde. Schölern weist hier schlüssig (und bis heute weitgehend unangefochten) nach, daß der Zohar gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfaßt wurde und daß in der Tat Mose de Leon der alleinige Autor des größten und zentralen Teiles dieses Werkes war. Damit akzeptierte er Graetzens Schluß­ folgerungen nicht nur hinsichtlich der späten Datie­ rung dieses Hauptwerkes der Kabbala, sondern auch hinsichtlich der Mose de Leon leitenden Motive: »Mose de Leon hat den Sohar verfaßt, um im Kampf gegen die unter den Gebildeten seiner Zeit weit verbreitete radikal-rationalistische Strömung... ein Gegengewicht zu schaffen« {Die jüdische Mystik in ihren Hauptströ­ mungen, Frankfurt a.M. 1967, S. 222). In einem ganz entscheidenden Punkt allerdings gab Schölern seinem Gegner Graetz keineswegs recht. Mose de Leon war zwar der Verfasser des Zohar, aber deswegen noch lange nicht sein Fälscher. Pseudepigraphie ist eine völlig andere Kategorie als Fälschung. Und er war auch alles andere als ein irregeleiteter Scharlatan, der die eigentlichen Werte des Judentums verdrehte hier ist dem Mystikfeind Graetz der eigene Rationalis­ mus zum Verhängnis geworden. Im Gegenteil: »Die Fi­ gur des Mannes [Mose de Leon] steht nach alledem deutlich vor uns. Er selbst kam aus jener Welt der philo­ sophischen Aufklärung, die er dann so nachdrücklich bekämpft hat.... Zugleich aber fühlt er sich mehr und mehr von der jüdischen Mystik, die ihm das echte Herz des Judentums zu bilden scheint, angezogen und ver­ senkt sich ganz in das Geheimnis der Gottheit, wie es

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die Theosophie der Kabbalisten seiner Zeit verstand. Er modelt diese Ideen um, entwickelt sie weiter, wählt aus, fügt hinzu und verbindet sie mit seiner Neigung zu mystischer Ethik, die im Sohar ebenso wie in allen sei­ nen hebräischen Büchern hervortritt. Aber der Theo­ soph und Moralist hat in dem Maße, in dem der Genius in ihm erwacht, auch jenes Element von Abenteurer­ tum, das in seinem Wesen gesteckt haben muß, entwikkelt« (Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 222 f.). Dies liest sich wie eine Beschreibung der Lebensge­ schichte Scholems und der Triebkräfte seines eigenen Handelns: Auch er hat Graetzens Welt der philoso­ phischen Aufklärung hinter sich gelassen und in der Mystik das »echte Herz des Judentums« entdeckt. Um dieses wieder zum Schlagen zu bringen, konnte der mo­ derne Wissenschaftler Schölern keinen neuen Zohar schreiben; er mußte sich mit der wissenschaftlichen Er­ forschung der Kabbala begnügen. Aber das Ziel ist das­ selbe, die Revitalisierung des Judentums nach einer Epoche aufklärerischer Verflachung und Degeneration. Und auch er, der Nachfahre des Kabbalisten »im Schaf­ pelz des Philologen«, mußte »jenes Element von Aben­ teurertum, das in seinem Wesen gesteckt haben muß« entwickeln, um sich nicht nur in der Wissenschaft, son­ dern auch in der Welt des Judentums Gehör zu ver­ schaffen.

4 Das Programm, das Schölern in seinem Brief entwirft, ist wahrhaft gigantisch. Er beginnt mit dem Desiderat der Entwicklungsgeschichte der Kabbala von ihren er­

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sten Anfängen bis zu Isaak Luria, d. h. immerhin vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Auf diesen ersten Ab­ schnitt möchte er sich konzentrieren und veranschlagt dafür »zehn Jahre und länger«. Die genauere Ausfüh­ rung wird dann allerdings konkreter und bescheidener. Es geht um die beiden miteinander verbundenen Grundfragen nach dem Ursprung der Kabbala und ihrer inneren Entwicklung, und um diese zu klären, bedarf es erst einmal umfassender Vorarbeiten: der Un­ tersuchung und Veröffentlichung aller wichtigen Hand­ schriften. Erst dann kann die Untersuchung des Gegen­ standes folgen, eine Reihe von Monographien, aus denen am Ende eine Geschichte der Kabbala hervorge­ hen könnte. Für diese konkreten Arbeiten rechnet er mit zwanzig Jahren. Wie wir heute wissen, hat Schölern die­ ses ehrgeizige Programm nur zu einem geringen Teil ver­ wirklicht und sich später auch Themen zugewandt, die hier überhaupt nicht angesprochen sind (so vor allem die durch den 1937 veröffentlichten Essay Mitzwa ha-ba’a ba-‘avera [Erlösung durch Sünde] eingeleitete Beschäf­ tigung mit Sabbatai Zvi und dem Sabbatianismus). Den­ noch sind die zwanzig Jahre keineswegs willkürlich: Die große zusammenfassende Darstellung nicht der Ge­ schichte der Kabbala, aber doch der Entwicklung der jü­ dischen Mystik (allerdings ohne die Anfänge der Kab­ bala) erschien unter dem sicher nicht zufälligen Titel Major Trends in Jewish Mysticism 1941 (deutsch: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen), und die Anfänge der Kabbala nahmen in Hebräisch bereits 1945 konkrete Gestalt an (publiziert unter dem Titel Reschit ha-Qabbala erstmals 1947). Das Programm zeigt sehr deutlich, daß Scholem, wie schon bei der Frage nach der Entstehung und Datie­ rung des Zohar, vor allem an dem hohen Alter der Kab­

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bala interessiert war, d. h. ihrem Ursprung wenigstens in gaonäischer, wenn nicht schon in amoräischer Zeit. Das Vehikel, mit dessen Hilfe er das Alter der Kabbala zu beweisen hoffte, war die Gnosis, und wie bei der Be­ urteilung des 'Zohar war der Antipode, gegen den er seine eigenen Ideen entwickelte, Heinrich Graetz. Die­ ser hatte sich in seiner 1846 erschienenen Monographie Gnosticismus und Judenthum mit der Gnosis auseinan­ dergesetzt. Für ihn, der die Gnosis ausschließlich durch die Augen der Kirchenväter sah, war diese eine häre­ tische und verwerfliche Bewegung. Schölern dagegen sah sich mit einer seit dem Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts völlig veränderten Situation in der Gnosisforschung konfrontiert, wonach die Gnosis als eigenständiges Phänomen neben der katholischen Rechtgläubigkeit Geltung beanspruchen konnte (Reit­ zenstein, Bultmann). Für ihn war sie daher ganz im Un­ terschied zu Graetz eine positive und dynamische Kraft, der es gelang, die Grenzen traditioneller Religio­ sität zu sprengen - genau die Eigenschaften, die ihn auch an der Kabbala faszinierten. Wenn es also möglich wäre, einen Zusammenhang zwischen Gnosis und Kab­ bala herzustellen, hätte man nicht nur einen Wesenszug der Kabbala historisch erklärt, sondern wäre auch einen entscheidenden Schritt in der Frage der Entstehung und des Alters der Kabbala weitergekommen. Sehr viel spä­ ter, im zweiten Kapitel von Major Trends und in seinen Vorlesungen am Jewish Theological Seminary of Ame­ rica in New York, die 1965 als Jewish Gnosticism, Merkabah Mysticism, and Talmudic Tradition veröffent­ licht wurden, ist er dieser Frage genauer nachgegangen. Die heutige Forschung ist in der Beurteilung gnosti­ scher Einflüsse auf die frühe jüdische Mystik und die Kabbala sehr viel zurückhaltender geworden; anders

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als bei der Entstehung des Zohar war es hier nicht Scholem selbst, der diesen Paradigmenwechsel herbei­ führte. Der Hauptteil des Briefes ist ein leidenschaftliches Plä­ doyer für die Untersuchung der Quellen zur jüdischen Mystik: Erst die Bereitstellung und Analyse aller ein­ schlägigen Quellen, sprich Handschriften, ermöglicht einen wirklichen Neubeginn in der Erforschung der Kabbala und begründete Fortschritte in ihrer histori­ schen und geistesgeschichtlichen Einordnung. In chro­ nologischer Reihenfolge werden die wichtigsten Desi­ derata benannt: 1. Die Veröffentlichung der Hekhalot-Literatur, d.h. aller Schriften zur sog. Merkava-Mystik und frühen jü­ dischen Esoterik. Scholem hat dazu nur wenige Einzel­ stücke vorgelegt: die Ma'ase Merkava genannte Hekhalot-Schrift als Anhang zu seinem Jewish Gnosticism, ein Fragment zur Physiognomik und Chiromantik (»Hak­ karat panim we-sidre sirtutin«, in Sefer Assaf Fest­ schrift S. Assaf, Jerusalem 1952/53, S.459-495; über­ arbeitete deutsche Fassung unter dem Titel »Ein Fragment zur Physiognomik und Chiromantik aus der Tradition der spätantiken jüdischen Esoterik«, in Liber Amicorum. Stadies in Honour of Professor Dr. C.J. Bleeker, Leiden 1969, S. 175-193) und den magisch­ mystischen Text Havdala de-Rabbi ‘Aqiva (Tarbiz 50, 1980/81, S. 243-281). Die systematische Erschließung des gesamten Textcorpus der Hekhalot-Literatur - Edi­ tion der Handschriften und der Geniza-Fragmente, Konkordanz, Übersetzung - wurde erst kurz vor dem Tode Scholems in Deutschland in Angriff genommen und erschien in den Jahren 1982-1996 in Tübingen (hrsg. v. P. Schäfer et al.). 2. Das »Buch des Lebens« ist bisher noch nicht ediert.

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Eine Edition mit Übersetzung und Kommentar wird von G. Necker als Dissertation in Berlin vorbereitet. 3. Schölern veröffentlichte den Text des Jetzira-Kommentars von Isaak dem Blinden als Anhang seiner Vor­ lesung Ha-Qabbala ba-Provence (»Die Kabbala in der Provence«), hrsg. v. R. Schatz, Jerusalem 1963; Vorar­ beiten für eine kritische Edition leistete C. Wirszubski, »Aqdamot le-biqqoret ha-nusach schel perusch Sefer Jetzira le-R. Jitzchaq Saggi Nehor«, Tarbiz 27, 1958, S. 2 5 7-264. In Kiryat Sefer 6,1929/30, S. 3 8 5 -419, veröf­ fentlichte Schölern den »echten« Jetzira-Kommentar von Nachmanides (der unter seinem Namen abge­ druckte Kommentar in der von Ch. Chavel besorgten Ausgabe seiner Schriften, Jerusalem 1964, stammt von Azriel ben Menachem aus Gerona). G. Vajda edierte ei­ nen Kommentar von Elchanan ben Jaqar von London in Kobez al Yad 6(16), Teil 1, 1966, S. 14 5 -197; ein wei­ terer Kommentar desselben Autors wurde von J. Dan veröffentlicht (Jerusalem 1977). 4. Von den Schriften Azriels von Gerona veröffent­ lichte Schölern nur einige kleinere Traktate zur Gebets­ mystik (in Studi.es in Memory ofA. Gulak and S. Klein, Jerusalem 1942, S. 201-222); der fälschlicherweise sei­ nem etwas älteren Zeitgenossen Ezra ben Salomon von Gerona zugeschriebene große Gebet-Kommentar wurde von G. Sed-Rajna übersetzt und kommentiert (Commentaire sur la Liturgie Quotidienne, Leiden 1974) und in einer unveröffentlichten Magisterarbeit von M. Gavarin, Jerusalem 1984, kritisch ediert. Den Kommentar zu den Aggadot edierte Y. Tishby, Perusch ha-Aggadot le-Rav Azri’el, Jerusalem 1945. Der Kom­ mentar zum Hohenlied stammt ebenfalls von Ezra ben Salomon (G. Vajda, Le Commentaire d’Ezra b. Salo­ mon sur le Cantique des Cantiques, Paris 1969).

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5- Die »Erleuchtung der Augen« von Isaak ben Samuel von Akko wurde erst von A. Goldreich, Sefer Me’irat ‘Enajim, Jerusalem 1981, kritisch ediert. Das »Buch der Tage« ist, wie Schölern richtig vermutete, weitgehend in der Handschrift Moskau 77$ erhalten; eine Edition liegt jedoch noch nicht vor. 6. Von den genannten Werken Abraham Abulafias gibt es noch keine kritische Edition. M. Idel plant eine um­ fassende Edition der Schriften Abulafias. 7. Das Vorhaben Scholems, alle Schriften von Mose de Leon zu edieren, blieb unvollendet. Er veröffentlichte in der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums nur einen Aufsatz über »Eine unbe­ kannte mystische Schrift des Mose de Leon«, MGW] 71, 1927, S. 109-123; und in Kobez al Yad 8 (18) edierte er 1975 »Sehne Quntresim le-R. Mosche de-Leon« (ein Fragment aus Schoschan ‘Edut [»Die Lilie des Zeugnis­ ses«], sein erstes Werk, sowie Sod ‘Eser Sefirot Belima [»Das Geheimnis der zehn Sefirot Belima«]). Von den zahlreichen anderen Werken Mose de Leons liegen bis­ her folgende weitere Editionen vor: Sefer Or Zarua“ (»Das Buch des ausgestreuten Lichtes«), hrsg. von A. Altmann, in Kobez al Yad 9 (19), 1980, S. 219-293; Sefer Maskijjot Kesef (»Das Buch der Silberornamente«), un­ veröffentlichte Magisterarbeit von J.H.A. Wijnhoven, Brandeis University 1961, und als Dissertation vom sel­ ben Herausgeber Sefer ha-Mischqal (»Buch des Ge­ wichtes«), Brandeis University 1964, Ann Arbor, Mich., 1975; Sefer Ha-Rimmon (»Das Buch des Granat­ apfels«), hrsg. von E. Wolfson, Atlanta 1988; Sche’elot u-Teschuvot R. Mosche de Leon be-’Injene Qabbala (»Responsen von Rabbi Mose de Leon zur Kabbala«), hrsg. von Y. Tishby, in Kobez al Yad 5, 1951, S. 11-38; Sefer Scheqel ha-Qodesch (»Schekel des Heiligtums«),

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hrsg. von Charles Mopsik, Los Angeles 1996; Sod ha’Etzba'ot (»Geheimnis der Finger«) edierte D. Abrams in seiner Dissertation The Book of Illumination of R. Jacob ben Jacob Ha-Kohen: A Synoptic Edition From Various Manuscripts, New York 1993. Zweifelhaft ist die Zuschreibung des Seder Gan ‘Eden (»Die Ordnung des Paradieses«), hrsg. von A. Jellinek, in Bet ha-Midrasch, Bd. 3, Leipzig 1855 (Jerusalem 1967), S. 131140, 194-198. 8. »Die Stangen des Schreins« von Sehern Tov ben Abraham ibn Gaon wurde von S.D. Levinger ediert: Badde ha-’Aron u-Migdal Chananel, Jerusalem 1977. 9. Schölern befaßte sich mit den Schriften des David ben Jehuda in Kiryat Sefer 4, 1927/28, S. 302-327; dort S. 326 stellte er auch die durch einige Kabbalisten vor­ genommene falsche Zuschreibung des Sefer Livnat haSappir an David ben Jehuda richtig und wies als Verfas­ ser Joseph Angelino nach (traditionelle Ausgabe: Sefer Livnat ha-Sappir, Jerusalem 1971). Der Sefer ha-Gevul wurde von A. Gottlieb in seiner unveröffentlichten Magisterarbeit ediert: Sefer ha-Gevul le-R. David ben Jehuda he-Chassid, Tel Aviv 1972. 10. Auf die noch ausstehende Edition der Schrift »Tor der Geheimnisse« von Todros Abulafia weist Schölern auch in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen hin (Anm. 88 des 5. Kapitels); hier nennt er als wichtig­ ste Handschrift Ms. München, cod. heb. 209 (dieselbe Handschrift, die ihm als Grundlage seiner Dissertation über Das Buch Bahir diente). Diese Handschrift liegt auch den Editionen von Ch. A. Erlanger, Bne Brak 1986, und M. Oron, Jerusalem 1989, zugrunde. 11. Der Gebetkommentar von Jehuda ben Jaqar wurde auszugsweise von S. Schechter, »Notes on Hebrew Mss. in the University Library at Cambridge«, JQR

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(O.S.) 4, 1892, S.245-254, und komplett von S. Yerushalmi,/eZwdEntwicklung< Wahrheit hervorbre­ chen läßt« (Briefe 1:1914-1947, S. 472).

5 Zwanzig Jahre nach der Gründung des »Instituts für die Wissenschaften vom Judentum« an der Hebräischen Universität, sehr wahrscheinlich im Sommer 1944, schrieb Schölern seine »Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum«. Eröffnete seine Antrittsvorlesung über den Verfasser des Zohar zusammen mit den An­ trittsvorlesungen seiner Kollegen zugleich auch das neue Institut, ist seine Bilanz nach zwanzig Jahren eine ironische Jubiläumsrede, die nicht wirklich gehalten, sondern nur im literarischen Almanach der Zeitung Haaretz veröffentlicht wurde. Sie wird von seinen Jeru­ salemer Kollegen auch kaum sonderlich begeistert auf­ genommen worden sein, rechnet sie doch nicht nur mit bestimmten historischen Tendenzen der Wissenschaft vom Judentum ab, sondern richtet sich in erster Linie gegen eben diese Kollegen, die »Narren in Jerusalem«, die sich auf ihren vermeintlichen Lorbeeren ausruhen. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wen im einzelnen er meint (sein früher Intimfeind Klausner war gewiß darunter) - es geht ihm mit Sicherheit um die ganze Zunft. Dies bestätigt auch der Brief vom 8. Mai 1945 (!) an Shalom Spiegel (Briefe 1:1914-1947, S. 297), in dem er den Essay erwähnt und von einer »bittere(n) Rech­ nung« spricht, die er »mit unseren Zeitgenossen zu be­ gleichen« hat. Er wollte sich ganz offensichtlich etwas vom Herzen schreiben (»ich habe gesprochen, und es ist mir leichter geworden«, vertraut er Spiegel an), und entsprechend ist auch der Stil des Essays: Geschrieben 92

»dans un moment de rage linguistique ... en partie, intraduisible« (so Scholem selbst in einem Interview aus dem Jahre 1978: Actes de la recherche en sciences sociales 35, 1980, S.4), ahmt er die kunstvolle (und pathetische) Sprache seiner Gegner nach, teilweise bis an die Grenze des Erträglichen und, in der Tat, Übersetzbaren. Die Anfänge von Scholems Überlegungen über die Wissenschaft vom Judentum gehen allerdings, wie viele der Ideen und Pläne, die er erst später ausgeführt hat, in die prägende Zeit seines Lebens vor der Auswanderung nach Palästina zurück. In seiner Münchener Zeit, also während der Arbeit an seiner Dissertation, traf er Gu­ stav Steinschneider, den Enkel Moritz Steinschneiders, des einen der beiden großen Heroen der Wissenschaft vom Judentum des 19. Jahrhunderts (der andere war Zunz). Anläßlich dieser Begegnung schreibt er über den Großvater (Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Fassung, S. 147!.): »Ich war schon lange ein erfahrener Leser seiner Schrif­ ten, die aristokratischen Geist atmeten und nichts als Verachtung für die Versuche wissenschaftlicher Popu­ larisierung kannten, deren Hauptvertreter in Stein­ schneiders Augen Graetz war. Seine herausragende Persönlichkeit, die sich hinter seiner pedantischen Prosa gewissermaßen verborgen hielt, verschaffte sich doch in den ironischen, stechenden und spöttischen Be­ merkungen Ausdruck, die er in seine gelehrten Anmer­ kungen einfließen ließ. Ich habe damals schon nicht we­ nig über diese Gruppe der gelehrten Liquidatoren nachgedacht und plante 1921, in Benjamins nicht zu­ stande gekommener Zeitschrift Angelus Novus einen Aufsatz über den Selbstmord des Judentums in der so­ genannten Wissenschaft vom Judentum zu schrei­ ben.« 93

Dieser geplante Aufsatz muß die Keimzelle des späte­ ren hebräischen Essays gewesen sein. Daß er mögli­ cherweise nicht nur in Gedanken entworfen, sondern zumindest teilweise auch niedergeschrieben wurde, er­ gibt sich daraus, daß sich in einer genau um diese Zeit veröffentlichten Rezension Scholems (»Lyrik der Kab­ bala?«, in: Der Jude 6, 1921/22, S. 55-69) Überlegungen finden, die teilweise bis in die Formulierung hinein mit denen des hebräischen Essays identisch sind.

6 Schölern rekonstruiert in seinem Essay drei Entwick­ lungsstufen der Wissenschaft vom Judentum: die frühe Phase, für die herausragend die Namen Zunz und Steinschneider stehen, eine degenerierte Spätphase, in der die negativen Ansätze der Frühzeit ihren Triumph feiern, und die Erneuerung der Wissenschaft vom Ju­ dentum im Zionismus. Diese Dreiteilung und deutlich unterschiedliche Gewichtung vor allem der ersten und zweiten Phase wurde von den modernen Kritikern Scholems, die ihm eine verzerrte Darstellung des histo­ rischen Bildes der Wissenschaft vom Judentum vorwer­ fen, nicht immer genügend berücksichtigt. Die Wissenschaft vom Judentum, so beginnt Schölern seine Überlegungen, war seit ihrer Geburt durch den »Verein für Wissenschaft und Cultur der Juden« zu Be­ ginn des 19. Jahrhunderts von drei ihr inhärenten Wi­ dersprüchen geprägt, die in einer dialektischen Span­ nung zueinander standen: dem Widerspruch zwischen dem Postulat der reinen und objektiven Wissenschaft und dem auf die Emanzipation der Juden gerichteten, also politischen Zweck dieser Wissenschaft, dem Wi­

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derspruch zwischen dem ererbten aufklärerischen Ra­ tionalismus ihrer Vertreter und den neuen Idealen der Romantik sowie schließlich dem Widerspruch zwi­ schen konstruktiven und destruktiven Tendenzen. Die echten Romantiker gebrauchten die Destruktion (d. h. die destruktive wissenschaftliche Methode) zum Zwecke der Konstruktion, nämlich zum »Bau« ihres (des deutschen) Volkes. Dieser positive Gebrauch der wissenschaftlichen Methode war den Vertretern der Wissenschaft vom Judentum aufgrund der historischen Umstände ihrer Zeit verwehrt. Sie konnten sich die Wiedergeburt des jüdischen Volkes nicht vorstellen und sahen, wie Steinschneider, ihre Aufgabe darin, der Tradition des Judentums als einem »bedeutenden, aber untergehenden Phänomen« wenigstens noch »ein eh­ renvolles Begräbnis zu bereiten«, oder zerbrachen, wie Zunz, an der Spannung zwischen Destruktion und Konstruktion. Und dennoch sind beide, Zunz und Steinschneider, in Wirklichkeit »dämonische Gestalten«, als Zwerge ver­ kleidete Riesen, die »sehr wohl lieben und hassen konn­ ten«. Sie haben eine »starke sitra achra*, und aus ihren Werken schlägt dem Leser, dem Blick in das Antlitz der Medusa gleich, ein »Haß, der nicht von dieser Welt ist«, und ein »grandioser Zynismus« entgegen. Schölern ge­ braucht hier Begriffe und Metaphern, die er keineswegs negativ verstanden wissen will, sondern nur als negative Pole des Spannungsbogens von Destruktion und Kon­ struktion. So wie Liebe nicht ohne Haß und Haß nicht ohne Liebe möglich ist, kann es auch keine Konstruk­ tion ohne Destruktion geben. Zunz und Steinschneider besaßen beide das daimonion (Schölern verwendet aus­ drücklich den griechischen Begriff), die »göttliche Macht«, die Kraft der »Zerstörung«, die, richtig ange95

wandt, zum »Aufbau« führt - doch konnten sie die ihr innewohnende Kraft zum Leben nicht aushalten und sind damit zu Totengräbern des Judentums gewor­ den. Genau dies meint auch die Verwendung des kabbalisti­ schen Begriffs sitra achra, die »andere Seite«. Sitra achra ist im kabbalistischen System des Zohar die Ge­ genwelt des Bösen, die aus der einseitigen Verabsolutie­ rung der »bösen« Kräfte im System der innergöttlichen Potenzen (der zehn Sefirot) entsteht. Erst wenn das sorgfältig ausbalancierte Gleichgewicht der zehn Sefi­ rot durcheinandergerät, wenn das »Böse« übermächtig wird, kann sich die sitra achra als komplette Gegenwelt zur göttlichen Welt etablieren und ihre allein auf De­ struktion gerichteten Kräfte entfalten. Indem Zunz und Steinschneider das dialektische Gleichgewicht von De­ struktion und Konstruktion nicht wahren konnten, in­ dem sie ihren Trieb zum »Bösen« übermächtig werden ließen, bauten sie nicht das Judentum wieder auf, son­ dern zerstörten es. Ganz anders die Wissenschaft des Judentums in ihrer zweiten Phase gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Entlud sich die gefährliche Spannung zwischen destruktiven und konstruktiven Tendenzen bei Zunz und Steinschneider in der reinen Destruktion, so verpuffte sie bei den Vertretern der Spätphase in einer »Orgie der Mittelmäßigkeit«. Die Riesen ver­ wandeln sich endgültig in Zwerge und harmlose Dummköpfe. Der irrationale Stachel ist gezogen, die dämonische Glut ausgetrieben, und was bleibt, sind Theologisierung und Spiritualisierung, idyllische Ver­ fälschung der Vergangenheit, weinerliche Sentimentali­ tät, Gleichsetzung von Geschichte mit Martyrologie, Apologetik und Fortschrittsglauben. Lebendige jüdi96

sehe Religion erstickt in pseudoreligiöser Frömmigkeit, »unser Erzvater Jacob« pervertiert zum »Vorbild eines Stadtverordneten«. Als wichtigste Repräsentantin des unfruchtbaren »Mit­ telweges« zwischen Destruktion und Konstruktion be­ nennt Schölern die »Breslauer Schule«, die er zwar nicht genauer beschreibt, mit der er aber zweifellos die vom Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar mit seinen Jahresberichten und die von der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums vertretene Richtung meint (zu den prominentesten Professoren des Seminars gehörte Graetz). Ihre Ausläufer spielten am judaistischen Institut der Hebräischen Universität eine nicht unbeträchtliche Rolle, und mit den vielen, die »auch heute noch die Verdienste dieser wissenschaftli­ chen Schule (preisen)«, meint er offenkundig Kollegen an der Hebräischen Universität. Es ist sicher auch kein Zufall, daß der aus der Breslauer Schule stammende Talmudist E.E. Urbach (der 1938 nach Palästina kam und 1953 an die Hebräische Universität berufen wurde) Schölern später vorwirft, die Geringschätzung der zweiten Generation der Wissenschaft vom Judentum übertrieben zu haben. Entsprechend Scholems dialektischem Verständnis von Geschichte müßte auf die Stufen der Destruktion und Mittelmäßigkeit als Höhepunkt und Vollendung schließlich die Phase der Konstruktion folgen, und ge­ nau dies ist die Voraussetzung, unter der er und seine Generation angetreten sind. Die nationale Bewegung des Zionismus hat einen grundlegenden Wertewandel mit sich gebracht. Jetzt ist es möglich geworden, die Dinge »von innen« zu sehen und die Probleme »im Rahmen ihrer historischen Funktion in der Nation« zu betrachten. Indem der nationalen Bewegung endlich 97

der ihr gebührende Platz - für Scholem nicht irgendein, sondern der ganz zentrale Platz - im Wertekanon des Judentums zuerkannt wird, ist erst die Bedingung der Möglichkeit für eine Wissenschaft vom Judentum ge­ schaffen, die ihrer eigentlichen Aufgabe der Konstruk­ tion gerecht werden kann. Hier erfüllt sich die in seiner frühen Jugend angelegte Vision des jungen Zionisten Scholem, des aus dem Exil erwachten »Königssohnes, der weiß, von woher er ins Exil gelangte und woher er erlöst wird«. Das Ziel der neuen Konstruktion ist die Entdeckung und Aneignung des lebendigen Judentums in seiner ganzen Wirklichkeit und Fülle, die »Aufdeckung des verborgenen Lebens«, die »Entzifferung der Geheim­ schrift der Vergangenheit, der großen Symbole unseres Lebens in der Geschichte«. Nicht mehr die eilfertige Ausscheidung mißliebiger Phänomene und Strömun­ gen gemäß dem Diktat des jeweils vorherrschenden Zeitgeistes ist Aufgabe der Wissenschaft, sondern die Erfassung des ganzen Judentums als eines lebendigen und mächtigen Mythos - dies ist die Wahrheit, die das göttliche daimonion vermittelt und die der Blick auf das Gesicht der Medusa sichtbar macht. Das Mittel schließ­ lich, das die neue Konstruktion ermöglicht, ist die kon­ sequent und furchtlos angewandte historische Kritik: die Erforschung der Einzelheiten und Fakten, die allein die »verstopfte Quelle der sprudelnden Lebenskraft« zu öffnen vermögen. Nur die Vertiefung in jede Einzel­ heit bewahrt vor dem »Satan des Dilettantismus«; nur der Spezialist, der mit seinen Einzelheiten und Fakten die falschen und voreiligen Konstruktionen der Dilet­ tanten zerstört, kann zum wirklichen und fruchtbaren Aufbau beitragen. Nur durch die sorgfältige Aufdekkung der Einzelheiten und Fakten hindurch erschließt 98

sich die Lebenskraft der Idee, der wissenschaftlichen Gesamtschau. Anders als Bialik glaubt Schölern nicht daran, daß die Erneuerung der hebräischen Sprache das Allheilmittel für die Erneuerung der Wissenschaft vom Judentum sein könne. Weder war die Entfremdung von der he­ bräischen Sprache der »Sündenfall« der Generation der Mittelmäßigkeit (ganz im Gegenteil, waren doch auch die Aufklärer Liebhaber des Hebräischen), noch garan­ tiert die Rückkehr zum Hebräischen in der Generation der Wiedergeburt automatisch die »Erneuerung des Antlitzes« dieser Wissenschaft. Hier rückt er deutlich von seinem früheren Mentor Bialik ab, der voreilig die Wiedergeburt der Wissenschaft mit der Wiedergeburt der Sprache gleichsetzte und somit den Schofar zur Un­ zeit blies. Die Generation der Wiedergeburt hat die richtigen Mittel und das richtige Ziel - und muß doch erkennen, daß sie weit entfernt von der erträumten radikalen Er­ neuerung der Wissenschaft ist: »Wir traten als Rebellen an, als Nachfolger finden wir uns wieder.« Daß dieses »wir« nicht bloß rhetorisch gemeint ist, sondern daß Schölern sich auch selbst hier einschließt, zeigt das Be­ kenntnis in dem Brief an Shalom Spiegel: »Und ich bin wirklich zerrieben zwischen den zwei Möglichkeiten: das Joch >der Rebellen, die sich als Nachfolger wieder­ finden«, auf mich zu nehmen oder mich dagegen aufzu­ lehnen.« Sein Hauptzorn aber richtet sich gegen seine Kollegen in Jerusalem, denen er unverantwortlichen Dilettantismus vorwirft und den feigen Rückzug auf ei­ nen neuen »Mittelweg«. Indem sie ihre Wissenschaft einzig und allein auf die Glorifizierung des Volkes rich­ ten, fliehen sie wie die Vertreter der Emanzipation und Assimilation vor ihrer eigentlichen Aufgabe, das Juden­

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tum als Ganzes zu erfassen. Wie bei ihren fehlgeleiteten und verachteten Vorgängern bleibt bei diesem nationa­ listischen Auftrumpfen des Zionismus das daimonion draußen und kann seine aus der Destruktion geborene konstruktive Kraft nicht entfalten.

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Ob Schölern alle Züge und Entwicklungen der Wissen­ schaft vom Judentum historisch zutreffend dargestellt hat und ob er ihren Vertretern immer gerecht geworden ist, vor allem denen, die so offenkundig seine Abnei­ gung auf sich ziehen, ist eine Frage, über die trefflich gestritten werden kann (und wird). Dies ist sicher wich­ tig, geht aber an der eigentlichen Zielsetzung des Essays vorbei. Entscheidend ist, daß Schölern die Wissenschaft vom Judentum nicht pauschal ablehnt und sich selbst als den großen Antipoden stilisiert, sondern daß er sich und seine Generation ganz im Gegenteil offensichtlich als ihren Vollender sieht, als Vollender der in ihrem Ur­ sprung angelegten Möglichkeiten. Anders ist die be­ wundernde Affinität zu Zunz und Steinschneider, den Erzvätern der Wissenschaft vom Judentum, nicht zu verstehen, und auch nicht der gemeinsame Wissen­ schaftsbegriff, das ungebrochene Zutrauen zur hi­ storisch-kritischen Methode. Der entscheidende Un­ terschied liegt in den grundsätzlich verschiedenen Zeitumständen: Während Zunz aufgrund seiner spezi­ fischen historischen Situation durch seine Wissenschaft die Emanzipation wollte, das Aufgehen des Judentums in die europäische Völkerfamilie, kann Schölern, nach der Wiedergeburt des jüdischen Volkes, die destrukti­ ven Kräfte der historischen Kritik zur Konstruktion

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nutzen, zum Bau einer Wissenschaft, die auf das Leben­ dige im Judentum ausgerichtet ist. In dem einen Falle dient Wissenschaft der Emanzipation, in dem anderen Falle dem Judentum. Anders gewendet, bedeutet dies, daß die Wissenschaft vom Judentum für Schölern das Mittel ist, mit dem sich das Judentum in seiner Lebendigkeit und Fülle erfassen läßt. Es geht ihm keineswegs nur um die überfällige Er­ gänzung des von seinen Vorgängern entstellten histori­ schen Bildes, etwa durch die bis dahin unterdrückten esoterischen und mystischen Traditionen (von der Kab­ bala ist in seinem Essay nur am Rande die Rede), sondern um etwas viel Grundsätzlicheres: In ihrem dia­ lektischen Wechselspiel von Destruktion und Kon­ struktion richtig angewandte Wissenschaft erschließt das Judentum, und zwar das ganze Judentum. Und noch entscheidender: Diese Wissenschaft ist eine säku­ lare Wissenschaft. Schölern redet nicht von der Ergän­ zung der Wissenschaft durch Religion oder von einer religiösen Wissenschaft - Religion im positiven Sinne kommt kaum vor. Die Generation der Mittelmäßigkeit war theologisch nichtig und religiös unfruchtbar, und in der eigenen Generation blüht die »verlogene Idylle im Gewand der orthodoxen Wissenschaft«. Histori­ sche Kritik, »die lebendige Seele der Wissenschaft vom Judentum«, vollzieht sich »nur aus einer säkularen, ei­ gentlich antitheologischen Geisteshaltung heraus«. Dies bedeutet nicht, daß die Wissenschaft für Schölern der einzige Weg zur Wiedergewinnung des Judentums ist. Schölern wäre der letzte, der die Möglichkeit der re­ ligiösen Erfahrung bestreiten wollte, aber er hat immer vor der Vermengung von Religion (oder besser Pseudo­ religion) mit Wissenschaft gewarnt - das »Erlebnis« Bubers und die Erlebnishudelei seiner Anhänger sind ioi

das beste Beispiel. Sicher ist nur, daß er den Weg der Wissenschaft gewählt und den »Schafpelz des Philolo­ gen« anbehalten hat, freilich immer in der Hoffnung, »aus dem Berge« angesprochen zu werden.

8 Am 7. September 1959, d. h. ungefähr 15 Jahre nach der Abfassung des hebräischen Essays, hielt Schölern wirk­ lich einen Vortrag über die Wissenschaft vom Juden­ tum, doch sind die Umstände diesmal völlig andere. Die Adressaten sind nicht die Kollegen von der Hebräi­ schen Universität, sondern die Mitglieder der Leo Baeck-Gesellschaft, und die Sprache ist nicht Hebrä­ isch, sondern Deutsch. Der Vortrag erschien bereits 1960 im Bulletin des Leo Baeck Instituts (9, 1960, S.212) und wurde in Judaica 1 nachgedruckt. Es lohnt sich, die beiden Aufsätze kurz zu vergleichen. Abgesehen davon, daß der deutsche Vortrag sehr viel kürzer ist, fällt zunächst der unterschiedliche Titel auf: Im Gegensatz zum betont bescheidenen und zurück­ haltenden hebräischen Titel (wörtlich: »Aus einigen Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum her­ aus«) gibt sich der deutsche Titel deutlich selbstsicherer und definitiver: »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt.« Bei der Lektüre zeigt sich dann sehr schnell, daß dies gerade für den Inhalt nicht gilt, daß also Titel und Inhalte der beiden Aufsätze in einem merkwürdig rezi­ proken Verhältnis zueinander stehen: Die deutsche Fassung liest sich wie ein überaus blasser und modera­ ter Aufguß der »rage linguistique« des hebräischen Vorgängers. Inhaltlich seien folgende Unterschiede hervorgehoben:

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Der deutsche Vortrag sieht die Wissenschaft vom Ju­ dentum insgesamt als Einheit und unterscheidet kaum zwischen den im hebräischen Essay betont hervorge­ hobenen Epochen. Vor allem ist von einer Epoche der Degeneration und der Entladung der dialektischen Spannung in einer »Orgie der Mittelmäßigkeit« nicht mehr die Rede. Die Apologetik, die in der hebräischen Fassung so scharf gegeißelt wird, kommt jetzt sehr viel besser weg: »Apologetik hatte in ihr (der Wissenschaft vom Judentum) lange eine ungeheure Rolle gespielt, eine unerhört positive Rolle, die wir nicht vergessen sollen. Sie hat die Juden gezwungen, im Kampf um die Gleichberechtigung, der für die Wissenschaft vom Ju­ dentum von entscheidender Bedeutung war, vor allem eine Auswahl der Themen zu treffen. In der Zensur dessen, was berücksichtigt wurde und was als nicht be­ rücksichtigenswert erschien, lag schon eine große Lei­ stung, so fragwürdig uns heute die Prinzipien dieser Auswahl oft erscheinen mögen« {Judaica I, S. ij4f.). Diesem Tenor entsprechend wird jetzt auch die politi­ sche Funktion der Wissenschaft vom Judentum sehr viel positiver bewertet als in dem hebräischen Essay. Umgekehrt fällt nun die Darstellung von Zunz und Steinschneider, der einsamen Heroen der Wissenschaft vom Judentum, blasser aus. Von ihrem daimonion, das sich, fehlgeleitet, allein auf die Zerstörung richtet, ist nicht mehr die Rede. Es fehlt nicht nur die »rage linguistique«, sondern auch die gedankliche Schärfe, der Zorn der Abrechnung mit den bewunderten Gegnern und der Anspruch der Vollendung ihres Werkes. »Et­ was von dem Hauch des Begräbnisartigen haftet in der Tat der Atmosphäre dieser Wissenschaft hundert Jahre lang an. Es ist schon manchmal etwas Unheimliches an diesem Schrifttum« (S. 153)- darauf reduziert sich die 103

matte Kritik. Der furchterregende Riese scheint sich in einen Gartenzwerg verwandelt zu haben. Der wichtigste Unterschied zum hebräischen Essay findet sich im zweiten Teil, der Beschreibung der ge­ genwärtigen Situation, für die drei Faktoren bestim­ mend sind: der Zionismus, die »Katastrophe« (d.i. die genaue deutsche Entsprechung des hebräischen schoa) und die Staatsgründung Israels. Die durch den Zionis­ mus und dann verstärkt durch die Staatsgründung ge­ gebenen Möglichkeiten werden gewürdigt, und auch auf die damit verbundenen Gefahren wird hingewiesen, aber wieder in einem sehr viel moderateren Ton: »Die Gefahr, daß jüdische Geschichte etwa nun einseitig als ein immer und stets unter zionistischen Gesichtspunk­ ten ausgerichteter Prozeß betrachtet wird, ist in keiner Weise von der Hand zu weisen. Die Erbschaft einer umgekehrten Apologetik, einer Apologetik, die nun sozusagen alles und jedes zionistisch revidiert, ist nicht ohne ernste Beispiele in unserer wissenschaftlichen Ar­ beit« (S. 161). Von der rigorosen Kritik an den Jerusale­ mer Kollegen ist nichts mehr zu spüren, im Gegenteil. »Wir brauchen uns in dieser Generation nicht zu bekla­ gen«, heißt es jetzt, »ein Fritz Baer in Jerusalem ist nicht weniger als Graetz, Baron ist nicht weniger als Dubnow, Saul Lieberman nicht weniger als Zacharias Fran­ kel, Julius Guttmann und Harry A. Wolfson nicht we­ niger als David Neumark und David Kaufmann waren« (S. 163). Man vergleiche dies mit seinen Bemerkungen zu Graetz, Dubnow, der Breslauer Schule und David Kaufmann in der hebräischen Fassung (wenigstens ist er nicht so weit gegangen, jemanden durch den Ver­ gleich mit Geiger zu ehren). Die Katastrophe der Vernichtung des europäischen Ju­ dentums kommt ausführlicher zur Sprache als in der 104

hebräischen Version. Scholem verweist auf den wissen­ schaftlichen Nachwuchs, der »in Auschwitz und an­ derswo« geblieben ist: »Wir haben einen Blutverlust er­ litten, dessen Auswirkung im Geistigen, im wissen­ schaftlich Produktiven gar nicht absehbar ist« (S. 160). Ähnlich wie bei der großen Katastrophe der Vertrei­ bung der Juden aus Spanien 1492 werde es mindestens zwei Generationen dauern, bis eine Bewältigung des Geschehenen möglich sei: »Ich glaube nicht, daß wir, die Generation derer, die dieses Erlebnis in uns selber oder in unseren Nächsten, in allem, was uns nahe war, erfahren haben -, daß wir imstande sind, schon heute die Konsequenzen zu ziehen; aber der Einfluß all des­ sen, was passiert ist, das Bild der Katastrophe, muß für die Problematik der jüdischen Wissenschaft überwälti­ gend sein und kann für mein Gefühl gar nicht hoch ge­ nug veranschlagt werden« (ebd.). Und schließlich: Die wissenschaftliche Methode der hi­ storischen Kritik mit ihrer geradezu exzessiven Versen­ kung ins Detail, die in dem hebräischen Essay eine so herausragende Rolle spielt, schrumpft in der deutschen Fassung zu dem dort ganz unmotivierten und gefälligen Schlußwort: »Wir haben die Möglichkeit, durch echte Versenkung in wissenschaftliche Sachverhalte und Tat­ bestände das Ganze aus dem Kleinsten zu reorganisie­ ren und zu rekonstruieren. Und solche Versenkung darf sich die Einsicht nicht verdrießen lassen, die aus dem großartigen Worte spricht, das im Namen von Aby Warburg überliefert wird: Gott wohnt im Detail« (S.164).

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9 Der Leser dieses deutschen Vortrags, vor allem wenn er vorher den hebräischen Essay gelesen hat, steht etwas ratlos vor den moderaten und geglätteten Worten. Wie sind diese zu erklären? Man hat vermutet, daß der älter und reifer gewordene Schölern das Ungestüm der Ju­ gend endlich abgelegt und die Verzerrungen seines frü­ heren Artikels korrigiert habe (E.E. Urbach) oder auch daß hier - zusammen mit dem anderen Umfeld des Dia­ sporajudentums - der mäßigende Einfluß seiner Frau Fania am Werke war (A. Shapira). Von diesen Spekula­ tionen erweist sich das Bild des gemäßigten und altersweisen Schölern als Wunschvorstellung, und auch der mäßigende Einfluß von Fania Schölern ist wenig wahrscheinlich. Dagegen hat in der Tat der andere zeit­ liche und geographische Kontext eine wichtige Rolle gespielt. Schon 1975 schrieb Schölern in Walter Benja­ min - die Geschichte einer Freundschaff. Der hebräische Aufsatz »war so stürmisch formuliert, daß ich mich nie entschließen konnte, ihn in der ursprünglichen Fassung Lesern, die mit dem Jüdischen nicht vertraut sind, vor­ zulegen und nur eine stark verwässerte, allzu kompro­ mißlerische deutsche Rede über dies Thema veröffent­ licht habe, über die ich mich jetzt noch ärgere« (S. 140). Genau diesen Ausdruck »verwässerter Aufsatz« ver­ wendet Schölern auch in einem Gespräch mit A. Sha­ pira, dem er mit dieser Begründung die Bitte abschlägt, den deutschen Vortrag in hebräischer Übersetzung zu­ sammen mit den »Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum« in Devarim be-Go aufnehmen zu dürfen. Sehr viel deutlicher wird er dann 1978 (also vier Jahre vor seinem Tode) in dem Interview mit Jean Bollack und Pierre Bourdieu, das auszugsweise in den Actes de 106

la recherche en sciences sociales (35,1980, S. 3-19) veröf­ fentlicht wurde. Dort erwähnt er zunächst die hebräi­ sche Fassung und erläutert dann die Gründe, warum er in London eine neue Version vorgetragen hat: »Aber ich habe es für unangebracht gehalten, deren (sc. der hebräischen Fassung) Inhalt vorzulegen, d. h. die sehr ernste Kritik an den großen Gelehrten des 19. Jahr­ hunderts (sie wird mir heute von den Verteidigern einer neokonservativen Richtung wieder vorgeworfen; es gibt jetzt Leute, die sich deshalb von mir distanzieren wollen); ich sagte mir, daß ich vor einem Publikum wie dem der deutschen jüdischen Bourgeoisie in London nicht so über Zunz, Steinschneider und Geiger, die drei großen Säulen der Wissenschaft vom Judentum, reden könnte; das waren Gründerfiguren. So habe ich eine an­ dere Rede verfaßt, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt« (1959), die in mehreren Sprachen veröffent­ licht wurde, eine weit ausholende Abhandlung, der ich einige optimistische Anstriche gab, die ich der hebräi­ schen Version entnommen habe. Dumme Leute sagen: »Man kann jetzt den berühmten Aufsatz Scholems auf deutsch oder auf französisch lesen«. Nun, ich bedaure zutiefst, daß ich derart vor den Philistern des (Leo) Baeck-Instituts in London sprechen mußte ... Ich habe mich ungefähr so verhalten wie jene, die, ohne Nazis zu sein, bereit waren, in Das Reich zu schreiben. Der erste, hebräische Artikel war an ein Publikum gerichtet, das anders zu denken imstande war.« Also keine Altersmilde, sondern im Gegenteil nahezu ein Widerruf der deutschen Fassung, die für ein Publi­ kum geschrieben wurde, dem er seine eigentlichen Ge­ danken nicht mitteilen konnte und mit dem sich gemein gemacht zu haben, er ausdrücklich bedauert. Mehr noch: Indem er sein Londoner Publikum, für das die

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gereinigte deutsche Fassung gerade gut genug war, als deutsch-jüdische Bourgeoisie und Philister bezeichnet, macht er es zu direkten Nachkommen der fortschritts­ gläubigen und rationalistischen Bürger des 19. Jahrhun­ derts, die den dämonischen Riesen der Wissenschaft vom Judentum als harmlosen Dummkopf auf den Stra­ ßen ihres sauberen und wohlgeordneten Städtchens grüßen dürfen. Damit schließt sich der Kreis. Für den radikalen und kompromißlosen Zionisten Schölern hat die Schoa bei den Vertretern der modernen Wissenschaft vom Juden­ tum nicht zu einer völligen Neubewertung ihres Wis­ senschaftsverständnisses im Sinne seines hebräischen Essays geführt, sondern zu einem erneuten Rückzug auf den bequemen, falschen und in die Irre führenden Mittelweg. Er sieht und kommentiert mit Bitterkeit die Gefahr, daß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach der »Katastrophe«, derselbe Versuch einer Instru­ mentalisierung der Wissenschaft vom Judentum zum Zweck der Beruhigung und Anpassung unternommen werden könnte, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts so gründlich fehlgeschlagen war und gerade­ wegs in die Katastrophe geführt hatte. Ob er »recht« oder »unrecht« hatte, ist nicht die Frage und läßt sich gewiß nicht mit einem einfachen Aufrechnen der Ver­ dienste der Wissenschaft vom Judentum in allen ihren Perioden beantworten; Schölern wäre der letzte, der diese Verdienste in Vergangenheit und Gegenwart be­ stritten hätte. Er wäre aber auch der letzte, der sich da­ mit zufriedengegeben hätte. Der kämpferische Ton des Interviews zeigt, daß er bis zum Ende seines Lebens zu den »stürmischen« Gedanken seines Essays stand und auch nicht bereit war zu resignieren. 108

Nachweise Der Brief an Ch. N. Bialik erschien am 12. Dezember 1967 in Ha-Po‘el ha-Tza'ir - Schevu'on Mifleget Po'ale 'Eretz-Jisra'el [Der junge Arbeiter - Wochenschrift der israelischen Arbeiterpartei], 39 (11), S. 18-19, für den Druck aufbereitet von M. Ungerfeld. Wiederabge­ druckt in Devarim be-Go. Pirqe Morascha u-Techijja [Explications and Implications. Writings on Jewish Heritage and Renaissance], hrsg. v. Abraham Shapira, Bd. i, Tel Aviv 1975, S. 39-63. Der Essay Mitokh Hirhurim 'al Chokhmat Jisra’el [»Überlegungen zur Wissenschaft vom Judentum«] er­ schien in Laach ha- 'Aretz, Tel Aviv 1944, S. 94-112 und wurde wiederabgedruckt in der Anthologie Peraqim ba-Jahadut, hrsg. v. Ezra Spicehandler und Jakob Petuchowski, Jerusalem 1963, S. 312-327. Neu herausgege­ ben von Abraham Shapira in Devarim be-Go, Bd. 2, Tel Aviv 1975, S.385-403. Neuausgabe des ersten Wieder­ abdrucks in Chokhmat Jisra'el. Hebetim Historijim uFilosofijim [Die Wissenschaft vom Judentum. Histori­ sche und philosophische Aspekte], hrsg. v. P. MendesFlohr, Jerusalem 1979, S. 153-168.

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Wissenschaft vom Judentum war für Gershom Schölern (1897-1982) Programm. Sein Name steht für die Begründung der jüdischen Mystik als eigenständiger Disziplin an der Jerusalemer Universität. 1944 schreibt er eine Rede zum 20. Jahrestag der Einrichtung des Fachbereichs Judaistik. Seine polemische Abrechnung mit den Gründungsvätern der Wissen­ schaft vom Judentum ist in Duk­ tus, Stil und Inhalt einzigartig. Die eigene Zielsetzung artikulierte Schölern bereits 1925 in einem Brief an den hebräischen Dichter Bialik. Das oft zitierte Manifest zur Erforschung der Kabbala wird mit dem vorliegenden Band eben­ falls zugänglich gemacht. Damit vereinigt Judaica 6 Scholems wichtigste programmatische Schriften und vermittelt dem Leser eine Vorstellung von der konsequenten Radikalität, mit der sich Gershom Schölern der Wissenschaft vom Judentum verpflichtet sah.

Gershom Scholcm in der Bibliothek Suhrkamp

Judaica i Band 106 Judaica 2 Band 263 Judaica 3 Band 333 Judaica 4 Band 831 Judaica 5 Erlösung durch Sünde Band 1111

Walter Benjamin die Geschichte einer Freundschaft Band 467 Von Berlin nach Jerusalem Band 555 Alchemie und Kabbala Band 1148

(ISBN 3-518-22269-4)

Umschlag: Willy Fleckhaus Umschlag geschützt: DBGM I 827 Ü26

Sehr geehrter Herr Bialik! Ich lege Ihnen hier in gebotener Kürze den Stand der Dinge in der Kabbala-Forschung dar und was ich mit meinen schwachen Kräften darin leisten kann.