Vom Arbeiterkind zur Professur: Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen 9783839447789

Noch immer gibt es große Hürden für einen Bildungsaufstieg - nach wie vor stammt nur eine Minderheit der Professor*innen

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Vom Arbeiterkind zur Professur: Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen
 9783839447789

Table of contents :
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Inhalt
Vom Arbeiterkind zur Professur
I. Sozialwissenschaftliche Rahmung
Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma
Bildungsaufstieg – Realität, Utopie und/oder Ideologie?
Literarische Selbstzeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen zwischen Autobiographie und Sozioanalyse
II. Autobiographische Notizen
Gleich und doch verschieden. Erinnerungsbruchstücke
»Wo gehöre ich hin?«. Gedanken eines Arbeiterkindes
Solidarität als Bedingung von sozialer Mobilität
Autobiographische Notizen eines ›Aufsteigers‹ – ›Wege einer anderen Bildung‹
Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit und Diversität
Das Professorenkostüm
Von wo ich herkomme
»Hintertreppen zum Elfenbeinturm«
Vom Bauernsohn zum Prorektor
»Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?«
Die Entdeckung am Sonnentor von Tiahuanaco
Statuspassagen im Lebensverlauf
»Mach was aus dir, aber bleibʼ der Alte!« – Von Auswärtsspielen am Rande erfolgreicher Wege
Putzfrau oder Professorin: Hat man die Wahl?
Herkunft versus Zukunft
Von der Hauptschule an die Hochschule
Keine Rückkehr nach Wattenscheid
Das UNTEN spürst du immer
Dem weißen Kaninchen gefolgt …
III. Soziobiographische Kommentierung
Vom ›Arbeiterkind‹ zur Professur – Merkmale eines erfolgreichen Aufstiegs
Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld
IV. Im Dialog
»Auch der Homo academicus hat eine Herkunft!«
Autor*innenverzeichnis

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Julia Reuter, Markus Gamper, Christina Möller, Frerk Blome (Hg.) Vom Arbeiterkind zur Professur

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 54

Julia Reuter (Dr. phil.), geb. 1975, ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Allgemeinen Kultursoziologie, der Migrations- und Wissenschaftssoziologie. Sie hat u.a. zur wissenschaftlichen Karriere als Hasard publiziert. Markus Gamper (PD Dr. phil.), geb. 1975, ist Akademischer Rat für Erziehungsund Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kultursoziologie, der Migrations- und Religionssoziologie sowie der Netzwerkforschung. Christina Möller (Dr. phil.), geb. 1970, ist Vertretungsprofessorin für Soziologie an der Fachhochschule Dortmund. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten zählen soziale Ungleichheit und soziale Mobilität, Bildungssoziologie, Hochschulforschung. Sie hat u.a. die soziale Herkunft von Universitätsprofessor*innen untersucht. Frerk Blome, geb. 1989, promoviert am Leibniz Institut für Wissenschaft und Gesellschaft. Seine Forschungsinteressen umfassen die Biographieforschung, die Ungleichheitssoziologie und die Vergleichssoziologie. In seiner Dissertation vergleicht er die Auswirkungen sozialer Hintergründe auf die Karrierewege von Professoren verschiedener Fachrichtungen.

Julia Reuter, Markus Gamper, Christina Möller, Frerk Blome (Hg.)

Vom Arbeiterkind zur Professur Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Rosa Aue, Bielefeld Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4778-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4778-9 EPUB-ISBN 978-3-7328-4778-5 https://doi.org/10.14361/9783839447789 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt Vom Arbeiterkind zur Professur Gesellschaftliche Relevanz, empirische Befunde und die Bedeutung biographischer Reflexionen Christina Möller / Markus Gamper / Julia Reuter / Frerk Blome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Sozialwissenschaftliche Rahmung Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität Aladin El-Mafaalani. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Bildungsaufstieg — Realität, Utopie und/oder Ideologie? Christoph Butterwegge.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Literarische Zeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen zwischen Autobiographie und Sozioanalyse Julia Reuter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

II. Autobiographische Notizen Gleich und doch verschieden. Erinnerungsbruchstücke Klaus-Michael Bogdal.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

»Wo gehöre ich hin?« Gedanken eines Arbeiterkindes Manfred Brill.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Solidarität als Bedingung von sozialer Mobilität Zoe Clark.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Autobiographische Notizen eines ›Aufsteigers‹ — ›Wege einer anderen Bildung‹ Reinhard Damm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit und Diversität Martin Eisend.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Das Professorenkostüm Christine M. Graebsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Von wo ich herkomme Sabine Hark. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

»Hintertreppen zum Elfenbeinturm« Ein Beitrag zur Enttabuisierung der sozialen Herkunft von Bildungsaufsteiger*innen Elke Kleinau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Vom Bauernsohn zum Prorektor Rückblick und Ausblick eines Mathematikers Aloys Krieg.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

»Was soll aus dem Mädchen denn werden — alte Tante auf dem Hof?« Oder: Der lange Weg von der ländlichen Hauswirtschaftsgehilfin zur Universitätsprofessorin Doris Lemmermöhle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Die Entdeckung am Sonnentor von Tiahuanaco Martin Lörsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Statuspassagen im Lebensverlauf Eine autobiographische Annäherung Rainer Müller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

»Mach was aus dir, aber bleibʼ der Alte!« — Von Auswärtsspielen am Rande erfolgreicher Wege Jürgen Prott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Putzfrau oder Professorin: Hat man die Wahl? Rosa Maria Puca. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Herkunft versus Zukunft Pakize Schuchert-Güler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Von der Hauptschule an die Hochschule Ahmet Toprak. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Keine Rückkehr nach Wattenscheid Jürgen Vogt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Das UNTEN spürst Du immer Klaus Weber-Teuber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Dem weißen Kaninchen gefolgt… Andreas Wrede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

III. Soziobiographische Kommentierung Vom ›Arbeiterkind‹ zur Professur — Merkmale eines erfolgreichen Aufstiegs Michael Hartmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld Andrea Lange-Vester. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

IV. Im Dialog »Auch der Homo academicus hat eine Herkunft!« Im Dialog mit Initiativen von und für Arbeiterkinder in der Wissenschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft über herkunftssensible Nachwuchsförderung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Autor*innenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Vom Arbeiterkind zur Professur Gesellschaftliche Relevanz, empirische Befunde und die Bedeutung biographischer Reflexionen Christina Möller / Markus Gamper / Julia Reuter / Frerk Blome »Heute bin ich Professor. Als ich meiner Mutter erklärte, dass man mir eine Stelle angeboten hatte, fragte sie ganz gerührt: ›Und was für ein Professor wirst du, Philosophie?‹ ›Eher Soziologie‹. ›Soziologie?‹ erwiderte sie, ›hat das was mit der Gesellschaft zu tun?‹« (Didier Eribon in Rückkehr nach Reims 2016: 238) Der zitierte Gesprächsausschnitt bildet den Abschluss von Rückkehr nach Reims, einem Buch, das vom sozialen und Bildungsaufstieg des französischen Soziologen Didier Eribon handelt. Ihm gelingt es, als Kind eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau, trotz fehlender Vorbilder und zahlreicher Widerstände im familiären und schulischen Umfeld ein Studium aufzunehmen; später arbeitet er als erfolgreicher Journalist und wird schließlich im fortgeschrittenen Alter auf eine Professur für Soziologie an der Universität Amiens berufen. Aber den Weg dorthin beschreibt Eribon als außerordentlich mühsam und kräftezehrend – insbesondere, weil sein Aufstieg aus seiner Sicht nur durch die Verleugnung seiner Herkunft und mit dem Abbruch der familiären Kontakte möglich war. 30 Jahre lang kehrt Eribon seiner Herkunftsfamilie den Rücken, erst nach dem Tod des Vaters sucht er seine Mutter in Reims auf. Dies ist Ausgangspunkt einer umfassenden Ref lexion

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Christina Möller / Markus Gamper / Julia Reuter / Frerk Blome

über die sozialpolitischen Zustände in seiner Heimat Frankreich als Klassenanalyse und gleichzeitig eine soziobiographische Rekonstruktion seines Werdeganges. Der Erfolg des Buches verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass hier eine Person des öffentlichen Lebens über die Mühen des Aufstiegs als Arbeiterkind erzählt. Durch die Mischung aus ref lektierter Analyse und affektgeladener Erinnerung ermöglicht es entlang autobiographischer Szenen einen sehr persönlichen Einblick in das Leben und Leiden eines homosexuellen Professors aus dem proletarischen Milieu. Eribon offenbart sich als verletzliche, unsichere Person, deren Herkunftsscham bis ins hohe Alter ihre Spuren im Selbstbewusstsein und -empfinden hinterlassen hat. Selbst als erfolgreicher Wissenschaftler und Schriftsteller wird er in bestimmten Situationen und Kontexten nach wie vor von Gefühlen der Unzulänglichkeit und Scham geplagt. Wenngleich Herkunftserzählungen Gelehrter vor allem in Frankreich eine gewisse Tradition haben (u.a. Camus 1994; Sartre 1975; Bourdieu 2002), bewegt Eribons Selbsterkundung durch ihre Offenheit, nicht zuletzt, weil durch das Einräumen von persönlichen Schwächen der Mythos vom souveränen ›Homo academicus‹ entzaubert wird. Obwohl ihm der soziale Aufstieg aus einer proletarischen Familie zum Universitätsprofessor letztlich gelingt, ist Rückkehr nach Reims weniger Erfolgsstory, als vielmehr Lehrstück über soziale Klassenunterschiede und ihre Reproduktion durch das Bildungssystem. Und auch wenn Eribons Aufstieg in die Zeit der großen Bildungsreformen der 1960er und 1970er Jahre fällt, bleibt er eine Ausnahme. Insbesondere in Frankreich hat der Anspruch auf Chancengleichheit nicht die Idee der elitären Auslese im Bildungssystem verdrängt. Spitzenpositionen – wie es die Professur für die Wissenschaft ist – werden nach wie vor aus den Nachfahren der französischen Elite rekrutiert, für die das System exklusive Bildungseinrichtungen vorhält.1 Auch in Deutschland sind Arbeiterkinder, die Hochschulprofessor*innen werden, die Ausnahme. Hiesige Bildungsinstitutionen sind dafür bekannt, gesellschaftliche Ungleichheiten nicht zwangsläufig zu kompensieren, sondern eher zu reproduzieren und daher besonders sozial selektiv zu sein. Was bereits in den 1960er Jahren von öffentlichen Intellektuellen wie Ralf Dahrendorf angemahnt wurde, war spätestens mit den internationalen Schulleistungsvergleichen und dem sogenannten PISA-Schock 2001 nicht mehr zu übersehen: Deutschland gehörte und gehört zu denjenigen Ländern, die einen sehr hohen Zusammen-

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hang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungserfolgen aufweisen (Klemm 2016). Daher vermag es kaum verwundern, dass einer aktuellen Erhebung zufolge lediglich etwa jede*r zehnte Professor*in an deutschen Universitäten ein Arbeiterkind2 ist (Möller 2015). Auch die insgesamt geringen Anteile von Personen aus Angestelltenfamilien mit ausführenden Tätigkeiten oder Beamt*innenfamilien des einfachen und mittleren Dienstes unter Professor*innen (ebd.) zeigen, dass das verlautbarte gesellschaftliche Versprechen ›Aufstieg durch Bildung‹ zumindest für die Nachkommen dieser aufgeführten Personengruppen nicht gleichermaßen oder nur eingeschränkt galt. Vielmehr ist zu konstatieren, dass diese ›weiten‹ sozialen Aufstiege durch Bildung, die aufgrund ihrer sozialstrukturellen Distanz als soziale Langstreckenmobilität (Geißler 2014: 315) oder auch Extremaufstiege (El-Mafaalani 2012) gedeutet werden, nicht nur äußerst selten sind, sondern soziale Aufwärtsmobilität insgesamt zunehmend unwahrscheinlicher wird (Pollak 2010).

1. Von der ›Illusion der Chancengleichheit‹ in den Bildungsinstitutionen Die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre hat zunächst den Möglichkeitskorridor für soziale Aufstiege nicht nur für Bildungsbenachteiligte, sondern für alle Herkunftsgruppen deutlich erweitert. Die Bildungsexpansion war u.a. ein Resultat aus dem sogenannten ›Sputnik-Schock‹ Ende der 1950er Jahre, der dem Westen seine technologische Unterlegenheit im Spannungsverhältnis zum damaligen ›Ost-Block‹ offenbarte. Angestoßen durch die 1964 von Georg Picht ausgerufene »Bildungskatastrophe« (Picht 1964), in der das Fehlen hochqualifizierter Fachkräfte als ökonomische Wohlstandsgefährdung der (west-)deutschen Gesellschaft problematisiert wurde, und einer sich parallel formierenden gesellschaftlich-liberalen Forderung nach »Bildung als Bürgerrecht« (Dahrendorf 1966) wurden Reformen zum langfristigen und f lächendeckenden Ausbau des Bildungswesens eingeläutet.3 So wurden nicht nur weitaus mehr Gymnasien und Universitäten gebaut und Gemeinschaftsschulen (wie in einigen Bundesländern die Gesamtschulen) konzipiert, sondern auch neue Institutionen zum nachholenden Erwerb der Hochschulreife und Fachhochschulen geschaffen. Diese sorgten sowohl für eine Höherqualifizierung der

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Gesellschaft und neue akademische Berufsgruppen als auch für einen erleichterten Zugang für vormals ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen zu höheren Bildungsabschlüssen (Miethe et al. 2015). Das Honnefer Modell bzw. das heutige BAföG sollte ab den 1970er Jahren zudem der ökonomischen Kompensation dienen, indem mittels staatlicher Förderung das Studieren für finanziell schlechter gestellte Gruppen erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht wurde. Das langfristige Ausmaß dieser Reform und des enormen Ausbaus des Bildungswesens lässt sich an der Bildungsbeteiligung ablesen: Vormals Hort einer privilegierten Minderheit besuchten im Schuljahr 2016/17 knapp 34 Prozent der Schüler*innen eines Jahrgangs ein Gymnasium (Statistisches Bundesamt 2018c: 13), während die Hauptschule (Anfang der 1950er Jahre noch namentlich als ›Volksschule‹ von mehr als Dreiviertel der Schüler*innen besucht, Geißler 2014: 335) als Schulform ein Auslaufmodell ist und in einigen Bundesländern bereits abgeschafft wurde. Noch 1960 begannen lediglich 6 Prozent einer Jahrgangskohorte ein Universitätsstudium in (West-)Deutschland (Geißler 2011: 275), bis zum Jahr 2018 ist die Studienanfängerquote (bundesweit) auf 56 Prozent angestiegen (Statistisches Bundesamt 2019). Trotz dieser enormen Expansion des Bildungswesens zeigen sich nach wie vor Disparitäten zwischen den sozialen Gruppen, wenn auch in unterschiedlicher Merkmalskonstellation: Die historische Figur der »katholischen Arbeitertochter vom Lande« (Dahrendorf 1965; Peisert 1967), die noch in den 1960er Jahren von höherer Bildung ausgeschlossen war, ist heute weitgehend obsolet; man spricht vielmehr vom »Migrantensohn aus bildungsschwachen Familien« (Geißler 2008: 95), der als tragische Polarisierungsfigur für Bildungsbenachteiligung gilt. Während sich also Bildungschancen im Laufe der Zeit zwischen den verschiedenen Ungleichheit generierenden Strukturkategorien verschoben haben – vor allem Mädchen bzw. Frauen gelten als Bildungsgewinnerinnen der letzten großen Bildungsexpansion (ebd.) –, bleibt die soziale Herkunft ein wirkmächtiges Differenzmerkmal.

1.1 Bildungsbeteiligungsquoten und Bildungschancen gestern und heute Seit nunmehr über 50 Jahren wird in Deutschland über eine bessere Bildungsteilhabe von Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status4 diskutiert. Ungleichheitsforscher*innen in der Tradition von Pierre

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Bourdieu und Jean-Claude Passeron, die in ihrem Schlüsselwerk noch während der Zeit der großen Bildungsreformen Chancengleichheit als Illusion (1971) entzaubert haben, werden nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Bildungsexpansion nicht zu einem Abbau von sozialen Barrieren im Bildungssystem geführt habe, sondern vielmehr zu einer selektiven Verbesserung von Bildungschancen. So haben die höheren Klassen am meisten und die untersten Klassen am wenigsten von der Bildungsexpansion profitiert (Vester 2005), sodass sich der Abstand zwischen diesen Gruppen eher vergrößert hat (Krais 1996). Angesichts der Expansion insbesondere höherer Bildungsgänge und der weit verbreiteten ›Illusion der Chancengleichheit‹ war das Ungleichheitsparadigma insbesondere in den 1990er Jahren (u.a. angeregt durch die Individualisierungstheorien, die davon ausgingen, dass sich Klassen und entsprechend auch Klassenungleichheiten immer mehr auf lösen, Beck 1983) auch in den soziologischen Diskursen aus dem Blick geraten. Erst im Gefolge der Diskussion um die Befunde internationaler Schulvergleichsstudien (vor allem seit PISA 2000, Baumert 2001) wurde die Diskussion um den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg, der sich in Deutschland als besonders eng herausstellte (Hartmann 2018), Anfang der 2000er Jahre erneut aufgegriffen. Seitdem sind hinsichtlich der auf soziale Faktoren zurückzuführenden Bildungsungleichheiten graduelle Verbesserungen eingetreten (PISA 2018), jedoch ist Chancengleichheit eine nach wie vor weitgehend unrealisierte Forderung. Die herkunftsbezogenen Pfadabhängigkeiten im Bildungsverlauf zeigen sich bereits an den Beteiligungsquoten in vorschulischen Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung, der Einschulung, Rückstufungen sowie Schulerfolgen in der Grundschule und besonders in den Schulformentscheidungen und -empfehlungen beim Übergang zu den weiterführenden Schulen; sie verstetigen sich aber auch auf höheren Bildungsstufen. Daher gilt nach wie vor: »Je weiter man in der Bildungshierarchie nach oben klettert, desto mehr dominieren die mittleren und oberen Schichten der Sozialstruktur.« (Schwinn 2007: 33) Aktuell besuchen über Zweidrittel der Schüler*innen mit hohem sozialen Status das Gymnasium und nur 3 Prozent die Hauptschule, während Schüler*innen mit niedrigem Sozialstatus sich vornehmlich auf Hauptschulen und integrierten Schulformen wiederfinden und nur 14  Prozent auf einem Gymnasium (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 174). Auch wenn sich im Zeitverlauf der Anteil von Schü-

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ler*innen mit niedrigem Sozialstatus auf dem Gymnasium erhöht hat, ist von gleichen Chancen noch lange nicht auszugehen. Ähnliche Tendenzen zeigen sich beim Weg zur Hochschule: Zwar ist die Studierwahrscheinlichkeit vor allem in mittleren, aber auch in unteren Sozialgruppen angestiegen, dennoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine Studienaufnahme für Nachkommen akademischer Gruppen am höchsten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Studierende an deutschen Hochschulen stammen zwar mittlerweile knapp zur Hälfte aus nicht-akademischen Elternhäusern (Middendorff et al. 2017: 28), aber in Relation zur Akademiker*innenrate der deutschen Erwerbsbevölkerung, die 2017 22 Prozent beträgt (Bundesagentur für Arbeit 2019: 8), zeigt sich, dass deren Nachkommen an den Hochschulen mit 52 Prozent deutlich überrepräsentiert sind. Der sogenannte Bildungstrichter veranschaulicht, wie die Wahrscheinlichkeiten für die hohen und höchsten Bildungsabschlüsse von der Grund- bis zur Hochschule in Deutschland verteilt sind: Von 100 Akademikerkindern beginnen 74 ein Hochschulstudium, 63 schließen den Bachelor ab, 45 einen Master und zehn erwerben einen Doktortitel. Ausgehend von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker*innenfamilien sind es lediglich 21, die ein Studium beginnen, 15 schließen einen Bachelor, acht einen Master ab und lediglich eine Person gelangt bis zum Doktortitel (Krempkow 2017). Trotz der relativ groben Kategorien der ›Akademiker*innen-‹ und ›Nicht-Akademiker*innenfamilien‹, die jeweils heterogene Subgruppen versammeln 5, werden die Dimensionen der objektiven ungleichen Wahrscheinlichkeiten dadurch sehr deutlich vor Augen geführt.

1.2 Ursachen, theoretische Erklärungsansätze und empirische Befunde Das deutsche Bildungssystem zeichnet sich im internationalen Vergleich durch eine hohe Differenzierung an Schulformen und einer vertikalen, selektiven Struktur aus. Insbesondere an den sogenannten Gelenkstellen, den Übergängen zwischen Institutionen, lassen sich teils enorme soziale Selektionen nachzeichnen, die zu den bereits skizzierten Bildungsbeteiligungsquoten an den verschiedenen Schulformen führen. Hierzu zählen besonders die Übergänge zwischen Kindergarten und Einschulung, zwischen Grundschule und weiterführen-

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der Schule sowie zwischen dieser und dem Hochschulbereich oder dem (Ausbildungs-)Beruf. Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I gilt als wesentliche Gelenkstelle für weitere Bildungschancen, da sich erstens für den Besuch unterschiedlicher Schulformen ein Schereneffekt in der Kompetenzentwicklung nachweisen lässt.6 Zweitens gelten Wechsel auf eine höhere Schulform innerhalb der Sekundarstufe I als relativ selten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018: 95) und werden drittens eher von sozioökonomisch privilegierten Kindern vollzogen, während Kinder aus ›bildungsarmen‹ Familien umgekehrt mit höherer Wahrscheinlichkeit schulisch absteigen (Kurz/Böhner-Taute 2016). Die Ursachen ungleicher Bildungsverläufe und damit auch Bildungserfolge nach sozialer Herkunft – so ist an dieser Stelle bereits vorwegzunehmen – lassen sich nicht auf wenige eindeutige Faktoren zurückführen. Es muss vielmehr von einem komplexen Bündel und zusammenhängenden Ursachen ausgegangen werden, die gleichzeitig eng mit der gegliederten Struktur des deutschen Bildungssystems verbunden sind (Leemann et al. 2016; Berger/Kahlert 2013). Dies ist deshalb zu betonen, da ungleiche Bildungschancen nach wie vor bildungspolitisch weitgehend individualisiert und meritokratisch legitimiert werden, wobei der in Deutschland herrschende »Strukturkonservatismus […] angesichts der Erfolge anderer Länder« (Solga/Powell 2006: 180), die einhergehend mit Einheitsschulkonzepten auch deutlich höhere Kompetenzen in der Breite und mehr Chancengleichheit vorweisen können (Beispiel Finnland oder Kanada), dabei verwundern mag (vgl. auch Geißler 2012). Es liegt eine Vielzahl an wissenschaftlichen Befunden vor, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln, theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen generiert werden. Im Folgenden wird daher versucht, die wesentlichen Forschungsstränge zu Ungleichheiten im Bildungswesen zu bündeln und zentrale Befunde zu dokumentieren, die angesichts der Vielzahl an vorliegenden Studien nur exemplarisch zu verstehen sind. Aus der Forschungslage lassen sich mit den Theorien rationaler Bildungswahl, institutioneller Diskriminierung und kultureller Reproduktion drei dominante Erklärungsansätze destillieren.7

1.2.1 Rationale Bildungswahl In quantitativen Forschungssträngen wird häufig auf die Überlegungen von Raymond Boudon (1974) zurückgegriffen, der – angelehnt an ökonomische Humankapitaltheorien – ungleiche Bildungsverläufe

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vorrangig als Resultate individueller Bildungsentscheidungen und rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen in Familien begreift. Diese Bildungsentscheidungen fallen je nach sozialer Herkunftslage unterschiedlich aus. Zentral sind dabei primäre und sekundäre Herkunftseffekte: Als primäre Herkunftseffekte werden die Entwicklung klassenspezifischer Kompetenz- und Leistungsunterschiede begriffen. So führten ungleiche familiäre Ressourcenausstattungen zu ungleichen Entwicklungsbedingungen und Schulleistungen. Kinder, die in Armut aufwachsen, sind dabei auf unterschiedliche Weise benachteiligt. Negative Auswirkungen habe die Armutslage auf ihre gesundheitliche Entwicklung (vgl. Bradley et al. 1994; Seccombe 2000), die schulischen Erfolge, ihre Sozialbeziehungen und Sozialkompetenzen sowie ihr Selbstwertgefühl (vgl. Schiek et al. 2019). Es sei im Wesentlichen die mit Armut einhergehende finanzielle Belastung, die in diesen Familien zur Beeinträchtigung sozialer Beziehungen und Interaktionen führe (Walper et al. 2001; Lutz/Frey 2012). Die Auswirkungen der erfahrenen Benachteiligung stiegen, je länger sie andauern, während die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Resilienz abnehme (vgl. Schiek et al. 2019). Grundschüler*innen aus Arbeiter*innenfamilien weisen im Verhältnis zu jenen aus oberen Dienstklassen einen Leistungsunterschied bei den Lesekompetenzen von durchschnittlich einem Lernjahr auf (Hußmann et al. 2017: 214), bei den mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen sogar von ein bis zwei Lernjahren (ebd.: 310). Bezogen auf weiterführende Schulen verweisen die aktuellen PISA-Studien zwar auf einen positiven Trend, dennoch erbringen sozial bessergestellte Schüler*innen im Durchschnitt höhere Leistungen als sozial Benachteiligte (PISA 2018). Doch auch bei gleichen oder ähnlichen Leistungen lassen sich ungleiche Bildungsverläufe nachweisen, die im Sinne Boudons als sekundäre Herkunftseffekte wirken: So nehmen nachweislich weniger Abiturient*innen aus unteren Sozialgruppen mit der Hochschulreife ein Studium auf und beginnen häufiger eine Berufsausbildung, während für jene aus oberen Sozialgruppen ein Hochschulstudium eher der selbstverständliche Bildungsweg ist (Becker/Hecken 2008; Schindler/ Reimer 2010). Sekundäre Herkunftseffekte umfassen daher soziale Unterschiede bei der Bildungsentscheidung, die auf den jeweiligen Bildungsaspirationen und dem konkreten Entscheidungsverhalten basieren. Je nach sozioökonomischer Ausstattung gelten in der Regel

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unterschiedliche Bemessungsgrundlagen für die Kosten-Nutzen-Kalkulationen: »Die Familie eines Rechtsanwalts wird andere Kosten- und Nutzenbewertungen vornehmen als die Familie eines Industriearbeiters, und zwar auch dann, wenn sich die Kinder in ihrer schulischen Performanz nicht voneinander unterscheiden.« (Maaz 2006: 53) Demgegenüber steht der Nutzen durch den höheren Bildungsweg (ggf. höheres Einkommen nach dem Bildungsabschluss), aber auch das Risiko eines Studienabbruchs, die Kosten des Besuchs höherer Bildungsinstitutionen (z.B. Schulmaterialien, Studiengebühren, Miete usw.) sowie versäumte frühe Einkommen, die aus einer Berufsausbildung resultieren würden. Doch ausschließlich Kompetenzunterschiede (als Resultat unterschiedlicher Ressourcen im Elternhaus) sowie unterschiedliche individuelle Entscheidungen als Erklärung für ungleiche Bildungserfolge zu deuten, verstellt den Blick auf Mechanismen und Benachteiligungsprozesse, die in der Gesellschaft und in ihren Institutionen selbst verortet sind. Problematisch erscheint insbesondere, dass Bildungsungleichheiten aus Sicht der ›Theorien rationaler Bildungswahl‹ auf individuelle Entscheidungen reduziert werden, sodass die Verantwortung für ungleiche Chancen eher an die benachteiligten Familien selbst delegiert wird.

1.2.2 Institutionelle Diskriminierung Ein zweites Erklärungsmodell fokussiert daher auf Formen institutioneller Diskriminierungen (Gomolla/Radtke 2009). Hierbei wird davon ausgegangen, dass durch »überindividuelle Sachverhalte wie Normen, Regeln und Routinen sowie […] kollektiv verfügbare Begründungen« (Hasse/Schmidt 2012: 883) bestimmte soziale Gruppen überproportional negativ betroffen und daher benachteiligt werden (Gomolla 2013). In einem anderen Vokabular könnte man auch von einem »institutionellen Habitus« (Reay et al. 2009: 3) sprechen, um damit einerseits deutlich zu machen, dass es umfassende pädagogische Handlungs-, Wahrnehmungs- und Bewertungsprogramme sind, die im Hintergrund von Bildungseinrichtungen wirksam sind, und um andererseits den Blick weg von einzelnen Personen und Institutionen auf die in der Regel miteinander vernetzten Institutionen zu richten. Denn in der Perspektive der institutionellen Diskriminierung ist es nicht die einzelne Bildungseinrichtung, die diskriminiert, sondern das Ergebnis des Zusammenwirkens von vielen miteinander verkoppelten Einrich-

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tungen (Kindergärten, Schulen, Behörden, Jugendämter, Schulärzte, Beratungseinrichtungen, Hochschulen u.Ä.). Mit einem solchen Zugriff lässt sich untersuchen, wie die Mitglieder von Bildungseinrichtungen interagieren, unterschiedliche Erfolgswahrscheinlichkeiten mitbringen und schließlich realisieren, aber auch wie im Zusammenwirken verschiedener Bildungsinstitutionen eine überproportionale Überweisung von Schüler*innen aus Arbeiter*innenfamilien – und Migrationsfamilien – an Förderschulen, Hauptschulen oder Gesamtschulen im Licht meritokratischer Prinzipien und Förderkonzepte als ebenso notwendige wie gerechtfertigte Maßnahme erscheint (vgl. Reuter/Berli 2017: 12). Exemplarische Belege finden sich beispielsweise in den alle drei Jahre erscheinenden IGLU-Studien, die u.a. die Übergangsempfehlungen von Lehrkräften an Grundschulen untersuchen: So haben Schüler*innen aus un- und angelernten Arbeiter*innenfamilien auch bei gleichen Kompetenzen eine dreifach geringere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als Schüler*innen aus oberen Dienstklassen (Stubbe et al. 2017: 244f.). Zudem müssen Schüler*innen aus un- und angelernten Arbeiter*innenfamilien für eine Gymnasialempfehlung im Durchschnitt höhere Kompetenzwerte beim Lesen erbringen (ebd.), sodass »die Auslese nach Leistung bei Kindern aus unteren Schichten erheblich schärfer greift als bei anderen« (Geißler 2014: 371). Häufig werden Kinder bereits aufgrund ihrer Vornamen von Grundschullehrer*innen als verhaltensauffällig und leistungsschwach bewertet (Kaiser 2010). Es zeigt sich also auch mit dieser Mesoperspektive, dass soziale Selektionen im Bildungssystem nicht mit einer reinen Leistungsauslese gleichgesetzt werden dürfen. Vielmehr sorgen auch leistungsfremde Filterkriterien wie die soziale Herkunft sowie damit verknüpfte Vorurteile und negative Leistungszuschreibungen von Akteur*innen im Bildungswesen für Ermutigungs- und Entmutigungsphänomene und somit für ungleiche Bildungsverläufe. Zudem gilt angesichts der in Deutschland stark gegliederten Struktur des Bildungssystems: Je mehr Übergangsstellen ein Bildungssystem aufweist und je früher die selektive Trennung, desto eher reproduzieren sich soziale Ungleichheiten (Hofstetter 2017; Becker/Lauterbach 2010; Geißler 2014).

1.2.3 Kulturelle Reproduktion Der dritte Erklärungsansatz wird als soziale und kulturelle Reproduktionstheorie bezeichnet und geht auf Pierre Bourdieu zurück, in dessen Tradition auch der eingangs zitierte Didier Eribon steht. Bourdieu ver-

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weist bei der Auf klärung dauerhafter Bildungsungleichheiten sowohl auf die Bedeutung klassenspezifischer Herrschaftsverhältnisse (Makroebene), auf das Bildungssystem mit seinen expliziten und impliziten gesellschaftlichen Überformungen (Mesoebene) als auch auf die familialen Reproduktionsstrategien unterschiedlicher Milieus (Mikroebene) (Bourdieu/Passeron 1971). Die Bildungsexpansion schaffe keine Chancengleichheit, sondern konstruiere eher die Illusion derselbigen, da Bildungsinstitutionen keine neutralen Akteur*innen seien und selbst Einf luss auf Bildungshierarchien nähmen. Die Herausforderungen von Nachkommen aus nicht-akademischen und statusniedrigen Herkunftsmilieus im Bildungssystem ergeben sich vor allem aus den relativen Abständen zu jenen, die bereits in oberen und akademischen Milieus sozialisiert worden sind. So strich Bourdieu den kaum einholbaren Wettbewerbsvorteil einer bildungs- und erfolgsaffinen familiären Primärsozialisation heraus, des damit verfügbaren kulturellen Kapitals und eines Habitus, der eher den oberen Gruppen eigen ist. Mit dem (klassenspezifischen) Habitus-Begriff werden jene Dispositionen und mentale Muster angesprochen, die sich insbesondere auf sozialisationsbedingte Prägungen zurückführen lassen (vgl. auch Lenger et al. 2013). So bringen Kinder aus akademisch geprägten Elternhäusern eher Eigenschaften, Verhaltensweisen, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten – kurzum habituelle Dispositionen – mit, die für höhere Bildungsgänge und für den Erfolg an Hochschulen gewinnbringend eingesetzt werden können bzw. die implizit erwartet werden. Daher erweist sich diese Transmission von Kulturtechniken als ein »Privileg der gebildeten Klassen« (Bourdieu/Passeron 1971: 39). Hinzu kommt die Selbstexklusion unterer Klassen, für die ein Hochschulabschluss häufig kein primäres Ziel darstellt und die aus Mangel an Ressourcen und Unwissenheit über die Bedeutung verschiedener Bildungsgänge andere – niedrigere – Bildungsziele wählen. Herkunftsspezifische Einstellungen und Erwartungen gepaart mit Chancenungleichheit durch das Bildungssystem selbst sorgen dafür, dass Akteur*innen aus niedrigen Klassen sich letztlich häufig selbst ausschließen (Bourdieu/Passeron 1971: 35) und auf untere Bildungslauf bahnen abgedrängt werden, während obere Klassen innerhalb des Bildungssystems auf ein familiäres Erbe zurückgreifen können, das sie privilegiert. Das Bildungssystem biete demnach die beste Lösung zur Stabilisierung von Macht und Privilegien, »indem es dazu beiträgt, die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es

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hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt, daß es diese Funktion erfüllt« (Bourdieu 1973: 93): Es konserviert Ungleichheiten und legitimiert durch das Ignorieren der kulturellen Privilegien bestimmter sozialer Gruppen die Wirksamkeit der konservativen Effekte. Empirische Studien, die auf Bourdieus Theorien rekurrieren, arbeiten beispielsweise den herkunftsmilieuspezifischen Habitus von Schüler*innen, Studierenden und Lehrenden (Brändle 2019; de Moll 2018; Hild 2019; Helsper et al. 2014; Lange-Vester/Sander 2016; Schmitt 2010 u.v.m.) oder symbolische Ordnungen und ungleichheitsgenerierende Strukturen und Mechanismen im hochschulischen bzw. wissenschaftlichen Feld heraus (Engler 2001; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013; Möller 2015; Reuter et al. 2016; Zimmer 2018 u.v.m.). Entsprechende Perspektiven und daraus resultierende Erkenntnisse werden in den nächsten Kapiteln vorgestellt.

2. ›Arbeiterkinder‹ an den Hochschulen und die Herausforderungen eines sozialen Aufstiegs zur Professur Im idealtypischen Sinne haben Hochschulen nicht nur einen Bildungsauftrag, sondern verkörpern als Wissenschaftsorganisationen auch ein Funktionssystem, das sich stets auf der Suche nach abgesichertem Wissen befindet und sich dabei an spezifischen Methoden und an einem spezifischen wissenschaftlichen Ethos orientiert (Merton 1985). In der Wissenschafts- und Karriereforschung werden jedoch auch die Entstehungs- und Herstellungsbedingungen von Erkenntnissen sowie ihre soziale Bedingtheit untersucht und damit auch die Akteur*innen, die Wissen generieren und die in diesem Funktionssystem wissenschaftliche Karrieren machen. Somit kommen spezifische »Ungleichheitsregime« (Acker 2006) in den Blick, die nicht nur mit tief eingelagerten Diskriminierungspraktiken zum Erhalt von Macht und Kontrolle von Zielen, Ressourcen und Ergebnissen einhergehen, sondern auch mit der Konstruktion von bestimmten Idealen bzw. Idealtypen – z.B. der »wissenschaftlichen Persönlichkeit« (Engler 2001; Beaufaÿs 2003) oder des »perfekten Lebenslaufs« (Metz-Göckel 2016). Diese besitzen aus Sicht der Organisation Selektionsfunktionen, aus Sicht der Subjekte dienen sie aber auch der Identifikation. Wissenschaftssoziologische Arbeiten betonen die Relationalität von Struktur und Subjekt und lenken den Blick weg von den einzelnen Akteur*innen hin zur Funk-

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tionsweise des wissenschaftlichen Feldes und ihrer Verkörperung in der sozialen Praxis. Folgt man der Einsicht, dass Wissenschaft kein feststehendes Gebilde, sondern eine sich alltäglich vollziehende praktische Auseinandersetzung mit Forschungsgegenständen, Kolleg*innen, sozialen Organisationsstrukturen, Prüfungsverfahren und Anerkennungssystemen einer Scientific Community ist (Beaufaÿs 2003: 18), rückt man an ein Verständnis von Wissenschaft heran, das Pierre Bourdieu mit dem Begriff des sozialen Feldes gefasst hat. Ein Feld ist ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen (Bourdieu/Wacquant 1996: 127), die durch die aktuelle und potenzielle Verfügbarkeit und Distribution von unterschiedlichen Kapitalien bestimmt werden. Felder sind also immer auch Machtfelder, weil in ihnen hierarchische Kämpfe um Anerkennung und Positionen stattfinden (Bourdieu 1998); im Fall des wissenschaftlichen Feldes konkurrieren die Akteur*innen beispielsweise um Dauerstellen, Drittmittel, wissenschaftliche Preise und damit um Reputation, d.h. um sogenanntes wissenschaftliches Kapital. Die soziale Herkunft spielt dabei weiterhin eine Rolle: Denn auch die spezifische Feldsozialisation ist je nach sozialer Herkunft unterschiedlich erfolgreich, weil die Anschlussfähigkeit an ein erfolgreiches Studium und an Karrierepfade in der Wissenschaft sowie die Anerkennung von Leistungen – so die Annahme – von herkunftsbedingten, daher ›mitgebrachten‹ Kapitalien und Habitus beeinf lusst werden. Durch die Öffnung des Hochschulsystems im Zuge der Bildungsexpansion begannen zwar auch Arbeiterkinder und andere vormals ausgeschlossene untere Sozialgruppen, die die Selektionsprozesse auf den vorherigen Bildungsstufen überwunden haben, ein Studium und – wenn auch nur wenige von ihnen – machten im Hochschulsystem Karriere. Nach wie vor aber sind diese Sozialgruppen nicht nur angesichts ihres Bevölkerungsanteils an den Hochschulen (vor allem an den Universitäten, etwas weniger an Fachhochschulen, Middendorff et al. 2017: 28, und vgl. Kap. 2.2) unterrepräsentiert. Es zeigen sich bereits in den frühen Phasen, die einer möglichen Wissenschaftskarriere vorausgehen, herkunftsbedingt ungleiche Ausgangsbedingungen, die im weiteren Verlauf zu (Selbst- und Fremd-)Selektionen führen können. Bereits im Studium existieren Unterschiede wie beispielsweise im Hinblick auf die Anzahl von Auslandsaufenthalten oder Studienabbruchquoten; bemerkenswert ist auch die ungleiche Rekrutierung für studentische Hilfskraftstellen. Oder anders ausgedrückt: Soziale Aufsteiger*innen machen seltener

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Auslandserfahrungen im Studium, die in der wissenschaftlichen Karriere eine immer wichtigere Rolle spielen (Lörz et al. 2016), sie werden auch seltener auf Hilfskraftstellen rekrutiert, die gleichsam als wichtige Sozialisationsinstanz ins wissenschaftliche Feld und daher als ›Sprungbrett für eine wissenschaftliche Karriere‹ betrachtet werden (Schneickert 2013; Jaksztat/Lörz 2018), und brechen insgesamt häufiger ihr Studium ab (Heublein et al. 2017). Trotz der aus den Befunden recht eindeutig hervorgehenden Schlechterstellung von niedrigeren Sozialgruppen auf allen Stufen einer wissenschaftlichen Laufbahn wäre es zu kurz gegriffen, von einem linearen Zusammenhang zwischen sozialstruktureller Ferne der Herkunft und dem Inklusionsgrad ins Wissenschaftssystem auszugehen. Vielmehr existieren verschiedene »Habitus-Struktur-Konflikt-Konstellationen« (Schmitt 2010: 269), die sich für soziale Aufsteiger*innen im Studium ergeben und mit denen die Betroffenen auf unterschiedliche Art und Weise umgehen. Neben Exklusion, Anpassung oder (Über-)Kompensation kann sich aus der Differenz zwischen Feld und Habitus der Studierenden aus unteren Klassen ebenso die Notwendigkeit einer Neupositionierung im Feld der Hochschule ergeben (Reay et al. 2009). Beispielsweise greifen Akteur*innen auf ihre vorher erworbenen habituellen Strukturen zurück, indem sie einen akademischen Erfolg vor allem durch harte Arbeit, die der Arbeiter*innenklasse zugeschrieben wird, zu erreichen suchen (und damit auch ihre Identität aufwerten, vgl. hierzu auch Lehmann 2009: 639f.). Diese Studierenden »have developed almost superhuman levels of motivation, resilience and determination, sometimes at the cost of peer group approval. They have managed to achieve considerable success as learners and acquire the self-confidence and self-regulation that accompanies academic success against the odds.« (Reay et al. 2009: 1115) Erst durch die Verbindung von ›außerordentlichen‹ akademischen Dispositionen und einem sehr ref lexiven Habitus werden die Chancen auf einen akademischen Erfolg erhöht. Während die Studierenden für die Möglichkeiten, die ihnen geboten werden, dankbar sind, positionieren sie sich dennoch kritisch gegenüber der Universität und bemängeln beispielsweise die Homogenität der (anderen) Studierenden. Die befragten Studierenden sind damit zwar Fremde an der Universität, aber

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vertraute Fremde, da sie das Selbstbild der hegemonialen Norm zugleich nachahmen und spiegeln (ebd.). Auch Milieustudien über Studierende an deutschen Universitäten zeigen, dass soziale Aufsteiger*innen an der Hochschule keineswegs eine homogene Gruppe darstellen oder sich gleichsam grundsätzlich »fehl am Platz [fühlen] und entsprechend beurteilt werden« (Bourdieu/ Passeron 1971: 31), sondern durchaus verschiedene Passungskonstellationen zu den Anforderungen eines Hochschulstudiums mitbringen (Brändle 2019; Hild 2019; Lange-Vester 2015). So zeigen sich beispielsweise neben arrivierten Bildungsaufsteiger*innen, die viel mehr mit Studierenden aus Oberklassenmilieus gemein haben und »keine nennenswerten Akkulturationsprobleme« (Lange-Vester 2015: 118) äußern, ebenso »Bildungsunsichere« aus unterprivilegierten Milieus, die im Hochschulalltag eher unsichtbar bleiben (möchten) und deren Schwierigkeiten im Studium kaum wahrgenommen werden (ebd.: 119). Neben dieser grundsätzlichen Heterogenität innerhalb der Gruppe der sozialen Aufsteiger*innen sind es ebenso die Fachkulturen und Hochschultypen, die zu ungleichen Zugangschancen und Distributionen führen.

2.1 Die Offen- und Geschlossenheit von Fachkulturen Soziale Aufsteiger*innen und Studierende aus akademischen Herkunftsgruppen sind in den jeweiligen Fächern sehr ungleich repräsentiert. Wissenschaftliche Fachkulturen lassen sich in diesem Zusammenhang als verschiedene soziale Subfelder deuten, als kleine »relativ autonome Mikrokosmen« (Bourdieu 1998: 16), die von unterschiedlichen Logiken und Fachhabitus geprägt sein können (Huber 1991). Auch innerhalb und zwischen den Fächern existiert eine dynamische hierarchisch-angeordnete Beziehungsmatrix (Alheit 2014), die Ausdruck unterschiedlicher symbolischer Kapitalien der einzelnen Fächer ist (Bourdieu 1998). Zum Fachhabitus zählt Friebertshäuser eine »Synthese aus biographisch erworbenen Dispositionen der Studierenden, studentischem Lebensstil, akademischem Selbstverständnis und zukunftsweisendem Professionsverständnis, in dem gesellschaftliche Positionierungen und Zustände präsent sind« (Friebertshäuser 2013: 262). Ebenso wird auf die Distinktionspraktiken des professoralen Fachhabitus verwiesen (Alheit 2014; Knuth 2019) sowie auf epistemologische Logiken (wie die Vier-Felder-Tafel »rein« vs. »angewandt«,

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»hart« vs. »weich«, Becher 1987). Studierende und besonders Nachwuchswissenschaftler*innen müssen sich in diesen Feldern mit ihren unterschiedlichen Ausgangskapitalien und habituellen Prägungen positionieren und sind daher unterschiedlich an die jeweiligen disziplinären Anforderungen anschlussfähig. Nach Leemann sind (in Anlehnung an Bourdieu) »in Fachbereichen, die näher beim gesellschaftlich dominierenden Pol verortet sind und die über ein großes Gesamtvolumen an Kapital verfügen, […] natürliche Vertrautheit mit der legitimen Kultur, Sprachgewandtheit, intellektuelle Orientierung und ein gesundes Selbstbewusstsein, kurz gesagt, soziale Kompetenzen wichtig, um sich zu integrieren. Der Besitz von ererbtem kulturellem und ökonomischen Kapital ist bedeutungsvoll, weil die damit verknüpften grundlegenden Einstellungen, die notwendigen Verhaltensweisen und Interessen auf die Erfahrungen einer zeitlich nur langwierig und persönlich anzueignenden Kunst zurückzuführen sind und nicht in objektivierter Form als Lernstoff innerhalb von Bildungsinstitutionen bereit stehen.« (Leemann 2002: 108) So ziehen prestigeträchtige (und mit hohem Numerus Clausus versehene) Studiengänge wie Medizin eher Kinder aus privilegierten Elternhäusern an. Kinder aus nicht-akademischen Herkunftsfamilien finden sich eher in den angewandten Wissenschaften (wie beispielsweise Lehramtsstudiengänge) und in risikoärmeren, kürzeren Studiengängen wider, weil sie beispielsweise Bildungsfehlinvestitionen vermeiden wollen (Günther 2018) und ihnen die Vertrautheit mit höheren Bildungsinstitutionen und den symbolischen Werten von Bildungsabschlüssen fehlt (Bourdieu et al. 1981: 169). Zudem zeigt sich, dass in prestigeträchtigen Studienfächern wie der Rechtswissenschaft insgesamt hohe Studienabbruchquoten herrschen, wobei auch hier soziale Aufsteiger*innen häufiger als Studierende akademischer Herkunft ihr Studium abbrechen (Heublein et al. 2017). Die Rechtswissenschaften sind auch in der Professur von einer hohen akademischen Reproduktion geprägt: 79  Prozent stammen aus der gehobenen und hohen sozialen Herkunftsgruppe und lediglich 21 Prozent aus der niedrigen und mittleren8 (Möller 2015). Ähnlich sozial geschlossen erscheint die Medizin mit 72 Prozent aus den beiden oberen Gruppen, gefolgt von Sport (68 Prozent) und Kunst/Musik (66 Prozent). Die These einer

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relativen Geschlossenheit von Fächern und Professionen, die nahe am gesellschaftlich dominierenden Pol (»old established professions«, Bourdieu 1992) verortet sind, kann daher auch und vor allem anhand der dominanten höheren sozialen Herkunftsgruppen in Jura und Medizin bestätigt werden, während die relative Geschlossenheit im Fach Sport ebenso mit einer gewissen Exklusivität und geringer Promotionsquote und Kunst/ Musik eher mit der sozialstrukturellen Nähe zur bürgerlich exklusiven Kultur zu erklären ist. Danach folgen die Ingenieurwissenschaften (62 Prozent), Sprach- und Kulturwissenschaften (61 Prozent), Mathematik und Naturwissenschaften (59  Prozent), Wirtschaftswissenschaften (57  Prozent), Sozial- und Politikwissenschaften (56  Prozent), Psychologie/Erziehungswissenschaft/Sonderpädagogik (54  Prozent) und Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften (40  Prozent). Bessere Möglichkeitsstrukturen für soziale Aufsteiger*innen existieren nach Bourdieu, »je weniger die erforderlichen Fertigkeiten und Dispositionen bei der Produktion und Reproduktion des Wissens (insbesondere beim Erwerb der produktiven Fertigkeiten) Erfahrung gleich welcher Art und intuitive, auf einen längeren Prozess der Vertrautheit beruhende Erkenntnis voraussetzen und je stärker sie formalisiert sind, das heißt, je rationeller – also universeller – sie vermittelt und erworben werden können.« (Bourdieu 1992: 117) Daher gelte beispielsweise in der Mathematik: »Wenn Sie einen Mathematiker ausstechen wollen, muss es mathematisch gemacht werden, durch einen Beweis oder eine Widerlegung« (Bourdieu 1998: 28). In vielen anderen – vor allem geisteswissenschaftlichen – Fächern ist es »vor allem die persönliche Glaubwürdigkeit des Forschers und die narrative Konsistenz seiner Darstellung, die für die Verlässlichkeit der Resultate bürgen« (Heintz 2000: 224), sodass sozialen Zuschreibungsprozessen und dem Habitus einer Person in sozialen Anerkennungsprozessen der Scientific Community mehr Gewicht zukommt (Krais 2000: 41). Höhere Repräsentanzen von sozialen Aufsteiger*innen in den sozial- und erziehungswissenschaftlichen Disziplinen, die zu den sozial offensten gehören, erscheinen vor diesem Hintergrund hingegen vor allem als Resultat früher Kanalisierungseffekte. In die mit wenig prestigereichen Professionen versehenen Domänen können Aufsteiger*innen leichter vordringen, wobei Pädagogik und weitere sozialwissenschaftliche Fächer seit jeher als Aufstiegsfächer gelten (Schlüter 1992).

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2.2 Soziale Differenzierung nach Hochschultypen Von den etwa 2.850.000 Studierenden an deutschen Hochschulen im Wintersemester 2017/18 entfielen etwa 1.750.000 auf Universitäten und fast eine Million auf Fachhochschulen (Statistisches Bundessamt 2018b: 103). Obwohl also die Fachhochschulen ebenso einen großen Anteil der Studierenden ausbilden und sich Universitäten und Fachhochschulen in den letzten Jahren zunehmend annähern9, bezieht sich die Forschung zu herkunftsspezifischen Ungleichheiten an Hochschulen vornehmlich auf Universitäten. Dabei haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahren verändert. So hat etwa die Bologna-Reform teilweise zu einer Konvergenz der Bildungsabschlüsse zwischen den Hochschulformen geführt (Enders 2016), indem die formale Unterscheidung zwischen Universitäts- und Fachhochschuldiplom abgeschafft wurde. Zugleich zeigt sich eine Annäherung des Sozialprofils von Studierenden der Fachhochschulen und Universitäten. Auch wenn Universitätsstudierende gegenüber den Fachhochschulstudierenden ein privilegiertes Sozialprofil aufweisen (vgl. Tabelle 1), nehmen diese Unterschiede im Vergleich zu früheren Sozialerhebungen leicht ab. Tabelle 1: Das Sozialprofil von Studierenden an Universitäten und Fachhochschulen 2016 in Prozent Bildungsherkunft*

Universitäten

Fachhochschulen

niedrig

11

14

mittel

31

44

gehoben

30

26

hoch

28

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Quelle: in Anlehnung an Middendorf et al. 2017: 28. *Bildungsherkunf t: Das Konzept der Bildungsherkunf t ist ein neueres Konzept und verwendet lediglich die Bildungsabschlüsse der Eltern (nicht deren Berufspositionen wie bei den ›sozialen Herkunf tsgruppen‹). So finden sich in der Bildungsherkunf t ›niedrig‹ Familien, in denen zumindest ein Elternteil eine Berufsausbildung erworben hat, in der Gruppe ›mittel‹ haben beide einen (nicht-akademischen) Beruf erlernt. In der Gruppe ›gehoben‹ hat ein Elternteil ein Hochschulstudium absolviert, in der Gruppe ›hoch‹ beide Elternteile (Glossar zur 21. Sozialerhebung: 9f.).

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Diese herkunftsspezifischen Differenzen der Hochschulwahl werden vor allem mit Bezug auf Theorien rationaler Wahlentscheidungen erklärt. Noch in früheren Forschungen wurde unter dem Stichwort des »Ablenkungseffektes« auf die kürzeren Ausbildungszeiten an Fachhochschulen und die damit verbundenen geringeren Kosten und Risiken als ein Grund für die Präferenz der Fachhochschule für Arbeiterkinder verwiesen (Müller/Pollak 2016: 353f.). Kosten-Nutzen-Überlegungen werden zwar weiterhin angeführt, beziehen sich hinsichtlich der höheren Fachhochschul-Präferenzen von Arbeiterkindern aber eher auf Argumente einer antizipierten höheren Studienerfolgswahrscheinlichkeit (Reimer/Schindler 2010: 257) sowie einer höheren beruf lichen Sicherheit (ebd.: 269). So würde die Wahl der Hochschulform zwar durchaus von schulischen Leistungsdifferenzen, welche herkunftsspezifisch variierten, beeinf lusst, indem bessere Noten im Abitur die Wahrscheinlichkeit eines Universitätsstudiums erhöhten. Unabhängig davon aber zeigten sich klassenspezifische Präferenzen hinsichtlich der Hochschulform, sodass mit höherer Klassenzugehörigkeit die Wahrscheinlichkeit eines Universitätsstudium steigen würde (Maaz 2006; Reimer/Schindler 2010: 266). Andere Argumente für die ausgeprägte Neigung zur Fachhochschulwahl von Angehörigen unterprivilegierter Familien beziehen sich auf die Praxisnähe der dort vermittelten Inhalte, die Nähe zur Herkunftsfamilie durch eine breite Standortpräsenz von Fachhochschulen sowie ein habituell vermitteltes persönliches Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Institution (Merkel 2015: 39). Dass sich das Masterstudium als neue herkunftsspezifische Selektionsinstanz begreifen lässt, wird als von der Hochschulform unabhängiger Mechanismus angeführt (Auspurg/Hinz 2011). Dennoch würden »Nicht-Akademikerkinder« nach Abschluss des Bachelors auf Fachhochschulen seltener an Universitäten wechseln (Lörz/Neugebauer 2019). Auch nehmen Fachhochschulstudierende im Vergleich zu Universitätsstudierenden seltener ein Masterstudium auf, was mit niedrigeren formalen Bildungsabschlüssen der Eltern von Fachhochschulstudierenden zusammenhänge (Roloff 2019). In qualitativen Studien zu Bildungsaufsteiger*innen finden Fachhochschulstudierende selten Berücksichtigung (Ausnahmen etwa Miethe et al. 2014; Merkel 2015). Evertz und Schmitt (2016) formulieren nach einer explorativen Auswertung von Interviews mit »Studienpionieren« an Fachhochschulen die Hypothese, dass der für die Forschung über Bildungsaufsteiger*innen an Universitäten gängige Befund habi-

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tueller Passungsprobleme an Fachhochschulen nicht zu finden sei und dies mit kleineren Seminargrößen, Abholangeboten durch Lehrende und persönliche Foren begründet werden könne. Nicht zurückzuführen sei dieser Befund auf eine quantitative Dominanz von Studienpionier*innen an Fachhochschulen (vgl. ebd.: 176). Die hier erwähnten Angleichungsdynamiken zwischen den Hochschulformen sollen aber nicht über die weiterhin bestehenden Unterschiede – insbesondere auf Ebene der Hochschullehrenden – hinwegtäuschen. Fachhochschulprofessor*innen haben mit 18 Semesterwochenstunden gegenüber Universitätsprofessor*innen ein deutlich höheres Lehrdeputat bei zudem häufig längeren Vorlesungszeiten (Schiller/Mahmud/Kenkel 2015: 12; Enders 2016: 507) und werden nur selten in höhere Besoldungsgruppen eingestuft (Statistisches Bundesamt 2018a: 36). Zudem weisen Fachhochschulen eine niedrigere finanzielle Ausstattung auf und verfügen kaum über einen akademischen Mittelbau (Enders 2016: 507; Hüther/Krücken 2016: 91). Konterkariert wird die Losung »andersartig, aber gleichwertig« (Enders 2016: 5) von Fachhochschulen und Universitäten nicht nur durch diese objektiven Ungleichheiten. Auch in der Wahrnehmung der Hochschulakteur*innen zeigen sich erhebliche Differenzen des Prestiges zwischen den Hochschulformen, die mit einer symbolischen Abwertung der Fachhochschulprofessur einhergehen (Blome 2017). Die Karrierewege an Fachhochschulen und Universitäten unterscheiden sich auch hinsichtlich der Einstellungsvoraussetzungen. So sind die rechtlichen Anforderungen für die Berufung auf eine Fachhochschulprofessur zum einen bestimmt über die besondere Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten – die wie an Universitäten auch in der Regel über die Promotion nachzuweisen ist. Zum anderen wird eine mehrjährige Berufspraxis vorausgesetzt, welche in den meisten Bundesländern fünf Jahre beträgt und von denen drei Jahre außerhalb des Hochschulbereichs erbracht werden müssen (In der Smitten et al. 2017: 6). In Einzelfällen wird anstatt dessen auch eine Habilitation anerkannt. Während universitäre Wissenschaftskarrieren verhältnismäßig stark beforscht und prekäre Beschäftigungsverhältnisse hinsichtlich geringer beruf licher Sicherheiten und langen Qualifizierungswegen auch medial thematisiert werden, gilt dies nicht für Fachhochschulkarrieren (ebd.: 3). Auch werden herkunftsspezifische Ungleichheiten an Fachhochschulen auf Ebene der Studierenden seltener und auf Ebene

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der Professor*innen fast gar nicht erforscht. Sozialstrukturelle Einblicke in die Fachhochschulprofessur gibt Monika Schlegel (2006) in ihrer Dissertation, einer Vollerhebung der Professor*innen von damals sechs staatlichen Fachhochschulen in Niedersachsen. Sie weist, jedoch kaum differenziert nach Kohorten oder Disziplinen, die höchsten Bildungsabschlüsse der Väter und Mütter dieser Professor*innen aus. In ihrem Sample dominieren dabei nicht-akademische Bildungsabschlüsse, wobei nicht der jeweils höchste Bildungsabschluss der Eltern angegeben wird, sondern diese voneinander unabhängig ausgewiesen werden. Bei etwa einem Drittel der Väter und 45 Prozent der Mütter ist dies der Hauptschulabschluss. Fasst man die von Schlegel jeweils angeführten akademischen Abschlüsse zusammen (Hochschulabschlüsse, Promotion, Habilitation), so verfügen etwa 30  Prozent der Väter und 6  Prozent der Mütter der Fachhochschulprofessor*innen über einen akademischen Abschluss (vgl. Schlegel 2006: 64f.).

2.3 Zur sozialen Exklusivität der Qualifizierungspassagen und der Professur Bezogen auf wissenschaftliche Qualifizierungsphasen gilt die Promotion als die erste und wesentliche Zugangspassage in die wissenschaftliche Karriere zur Universitäts- und Fachhochprofessur. Häufig ist die Promotion mit einer Beschäftigung an einer Hochschule verbunden. Sie gilt als besonders selektiv (Lenger 2008). Der Übergang in die Promotionsphase hängt nicht nur mit der unter den Sozialgruppen ungleichen Teilhabe an Hilfskraftstellen zusammen, sondern wird auch von anderen Einf lussfaktoren, wie beispielsweise den Promotionsquoten des jeweiligen Studienfachs oder den Noten, beeinf lusst (de Vogel 2017; Jaksztat 2014; Jaksztat/Lörz 2018). Kahlert (2016) geht davon aus, dass sich die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren darin zeigt, dass Gatekeeper in der Rekrutierung von Promovierenden implizit bestimmte Kapitalien wie eine ausgeprägte internationale Orientierung, ideengeschichtliche Bildung und/oder Sprachästhetik bei den Nachwuchswissenschaftler*innen voraussetzen. Die Promotion hat sich über alle Fächer hinweg – trotz ansteigender Promotionsquoten – in den letzten Jahrzehnten zunehmend sozial geschlossen (Jaksztat/Lörz 2018). Diese Geschlossenheit hat sich bis in die Professur verstetigt (Möller 2015).

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Hinsichtlich weiterer Qualifikationsstufen, die einer Berufung auf eine Universitätsprofessur vorgelagert sind10, liegen bislang nur wenige Daten hinsichtlich der sozialen Herkunft der Nachwuchswissenschaftler*innen vor (vgl. zusammengefasst in Möller 2015: 49f.). Eine aktuelle retrospektive Langzeitanalyse zeigt, dass Studierende aus akademischen Haushalten erstens häufiger eine Promotion beginnen, zweitens diese auch häufiger abschließen (24  zu 7  Prozent) und drittens dreimal so häufig eine Post-Doc-Position antreten (3  zu 1 Prozent, Lörz/Schindler 2016: 23). Zwar wird einerseits vermutet, dass vornehmlich auf den vorgelagerten Bildungsstufen nach sozialer Herkunft selektiert wird (ebd., Enders/Bornmann 2001). Andererseits wird anhand aktueller Langzeitanalysen eine zunehmende soziale Schließung beim Übergang zu Post-Doc-Positionen ausgemacht, so dass die Frage aufgeworfen wird, ob sich die Schließungseffekte nicht zunehmend auf spätere Karrierepassagen verlagern (Lörz/Schindler 2016). Inwieweit auch die langjährig unsicheren Karrierewege zur Professur – die nicht erst heute (Berli/Hammann/Reuter 2019), sondern auch bereits zu Max Webers Zeiten aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen und unzureichenden Karriereaussichten als Glücksspiel problematisiert wurden (Weber 1919) – zu dieser sozialen Schließung beitragen, wird zunehmend diskutiert (Laufenberg 2016; Möller 2018; Keil 2019). Auch innerhalb der Professor*innenschaft zeigen sich die Schließungstendenzen: An den NRW-Universitäten stammen die Professor*innen generationenübergreifend mit 34  Prozent am häufigsten aus der hohen sozialen Herkunftsgruppe, während nur 11 Prozent der niedrigen und je rund 27  Prozent den mittleren und gehobenen Herkunftsgruppen angehören (Möller 2015: 192). Der Anteil der Arbeiterkinder unter Professor*innen stieg zwar in Folge der Bildungsexpansionen zunächst an, sank in den jüngeren Geburtskohorten aber erneut ab (ebd.: 213). Bei den so genannten Wissenschaftseliten – verstanden als mit den höchsten wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnete Wissenschaftler*innen (Prestigeelite) sowie als Inhaber*innen exponierter Spitzenpositionen in der Wissenschaft (Positionselite) – zeichnet sich ein noch exklusiveres Szenario ab: »Zwei von drei Inhabern wissenschaftlicher Elitepositionen in Deutschland sind in Familien aufgewachsen, die den obersten 3,5 Prozent der Gesellschaft angehören, jeder Vierte stammt sogar aus großbürgerli-

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chen Verhältnissen, den obersten 0,5 Prozent der gesamtgesellschaftlichen Hierarchie.« (Graf 2017: 131) Hingegen sind gerade einmal 2,7  Prozent aller untersuchten Wissenschaftler*innen in einer Arbeiter*innenfamilie aufgewachsen. Darüber hinaus entstammt über die Hälfte einer Akademiker*innenfamilie, hat also familiär schon eine enge Verbindung zur Wissenschaft (ebd.). Die zunehmenden Berufungen von Professor*innen der hohen Herkunftsgruppe (Anstieg von 30  Prozent auf 38  Prozent in den letzten zwei Jahrzehnten) und der Rückgang von sozialen Aufsteiger*innen aus der niedrigen Gruppe (Rückgang von zwischenzeitlich 13 Prozent in den 1980er Jahren auf 10 Prozent in den 2000er Jahren, Möller 2015: 206) erhöht die Relevanz der Klassenfrage bezüglich der Teilhabe an hoher Bildung und Wissenschaftskarrieren. Auch andere Studien zeichnen für verschiedene Fächer den Trend einer sozialen Schließung in Wissenschaftskarrieren nach (Hartmann 2002; Nagl/Hill 2010). Zudem wird konstatiert, dass soziale Öffnungen auf der Ebene der Studierenden nicht gleichsam automatisiert zu einer Öffnung auf höheren Statuspassagen führt, sondern dort vielmehr Schließungseffekte zeitigen können (Möller/Böning 2018; Blome et al. 2019). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass soziale Aufsteiger*innen – auch wenn sie eine wissenschaftliche Karriere bewältigt haben – ungleich häufiger eine außerplanmäßige (APL-)Professur11 besetzen als beispielsweise eine C4/W3- oder C3/W2-Professur. So haben insgesamt 17  Prozent aus der niedrigen sozialen Herkunftsgruppe eine APL-Professur, aber nur 11 bzw. 10  Prozent eine C4-/W3bzw. C3/W2-Professur (Möller 2015: 238). Ebenso sind die Anteile der Professor*innen mit weniger geradlinigen Bildungswegen (z.B. mit Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nach einer Berufsausbildung) nach einem zwischenzeitlichen Anstieg von rund 4  Prozent auf rund 7  Prozent erneut auf rund 4  Prozent zurückgegangen. Ungerade Bildungswege kommen ungleich häufiger bei Personen der unteren Herkunftsgruppen vor. Diese beginnen im Durchschnitt mit höherem Lebensalter ein Studium und werden mitunter mit einem teils rigiden impliziten Altersbegrenzungsregime (z.B. bei Stipendien, bei der Besetzung von Juniorprofessuren oder bei Verbeamtungen im Falle einer Berufung) konfrontiert (ebd.: 280). Ihre Langstreckenmobilität wird hierdurch zusätzlich erschwert und vorherige Berufsausbildungen

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(und Erfahrungen außerhalb des sog. Elfenbeinturms) eher abgewertet anstatt anerkannt. Dem Faktor Zeit wird auch in anderen Studien eine hohe Bedeutung beigemessen: So müssten wissenschaftliche Mitarbeiter*innen aus unteren Statusgruppen häufig mehr Einsatz und Zeit aufwenden, um Karrierestrategien auszubilden, die sie aufgrund ihrer sozialstrukturellen Ferne zu hohen Positionen erst erwerben müssen, wo Personen privilegierter Herkunft gewisse Spielarten für schnellere Reputationsgewinne und für die Akkumulation wissenschaftlichen Kapitals bereits mitbrächten (Hasenjürgen 1996; vgl. auch Grimes/Morris 1997). Aufgrund fehlender Karrierestrategien in der konkurrenzbasierten, hochselektiven Wissenschaftskarriere arrangieren sich soziale Aufsteiger*innen zudem häufiger mit unteren und zuarbeitenden Positionen (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013). Der Faktor Zeit wird auch als wichtiges Vorteilsmerkmal in der Juniorprofessur angeführt, die enorm sozial geschlossen ist: Nach dem sozialen Herkunftsgruppenmodell, in denen die Berufspositionen verglichen werden, stammen lediglich je 7  Prozent aus der niedrigen und mittleren Herkunftsgruppe, 24  Prozent aus der gehobenen und 62 Prozent aus der hohen Herkunftsgruppe (Möller 2015: 238; ähnliche Geschlossenheit auch nach Bildungsherkunft bei Zimmer 2018, Burkhardt/Nickel 2015). Zimmer (2018) macht für die soziale Geschlossenheit die hohe Selbständigkeit in einer relativ frühen Karrierephase aus, die sich als begünstigend für Nachkommen der oberen Klassen erweist. Juniorprofessor*innen müssten nicht nur früh nach der Promotion ein Berufungsverfahren erfolgreich durchstehen, sondern auch »eigenständig einen Lehrstuhl aufbauen und leiten. […]. Die beschriebenen Erfordernisse bedürfen bestimmter Denk- und Handlungsdispositionen, die sich im inkorporierten Habitus manifestieren, klassenspezifisch gebrochen und damit an die (Herkunfts-)Position im sozialen Raum rückgebunden sind. Die Regeln und Wertigkeiten des Bildungssystems im Allgemeinen und des wissenschaftlichen Feldes im Besonderen sind in ihrem Grundtenor abgestimmt auf den Habitus der herrschenden Klassen.« (Ebd.: 126f.) Zudem profitieren Aufsteiger*innen im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Lauf bahn seltener von institutionellen (finanziellen und immateriellen) Förderungen (z.B. in Form von Stipendien) (vgl. hierzu auch

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Middendorff et al. 2009). Auch unter den Professor*innen an den nordrhein-westfälischen Universitäten gaben mehr Professor*innen aus den oberen Herkunftsgruppen an, bei ihrer Promotion und Habilitation eine institutionelle Förderung erhalten zu haben als jene aus unteren (Möller 2015: 291). Die sozialen und ökonomischen Kompensationen liegen zwar bei sozialen Aufsteiger*innen etwas höher als bei Personen aus der hohen Herkunftsgruppe (23 zu 21 Prozent), dagegen erhalten sie mit 22 zu 27 Prozent seltener eine Promotions- und mit 14 zu 18 Prozent auch seltener eine Habilitationsförderung (ebd.). Diese hier dargestellten (und bisher kaum beachteten) Benachteiligungen für Personen unterer Sozialgruppen lassen sich als Effekte indirekter institutioneller Diskriminierung (Gomolla 2013) fassen, d.h. als jene institutionellen absichtlichen oder auch unabsichtlichen Verfahrensweisen, die Mitglieder bestimmter Gruppen überproportional negativ treffen. Diese Effekte werden zwar in der erziehungswissenschaftlichen Bildungs- und Schulforschung häufiger, im Kontext der Hochschulforschung bislang aber nur recht zögerlich diskutiert. Wenn überhaupt, dann vor allem im Kontext einer intersektionalen Rassismuskritik (Ha 2016; Heitzmann 2019; Mecheril/Klinger 2010), die sich unter der Frage der demokratischen Legitimierung von Wissenschaft und Wissensproduktionen mit der systematischen Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen und Wissensformen beschäftigt. Überlegungen zur institutionellen Diskriminierung im Kontext Hochschule finden sich aber auch in einer stärker arbeitswissenschaftlich geprägten Personal- und Diversityforschung, die angesichts der in Studienbedingungen, Beschäftigungsverhältnissen, Personalauswahlverfahren und Karrieremodellen an Hochschulen eingeschriebenen impliziten Persönlichkeits- und Lebenslaufnormen ebenfalls auf die unterschiedlich dimensionierte Benachteiligung von Personen eingeht (exemplarisch Vedder 2006). Implizite und daher verdeckte Benachteiligungen durch eine benachteiligende soziale Herkunft hängen auch mit dominanten Diversitätsdiskursen an Hochschulen zusammen. Diese werden bei der Gruppe der Studierenden (Gerhards/Sawert 2018) als auch in wissenschaftlichen Karrieren hauptsächlich auf das Merkmal ›Geschlecht‹ begrenzt (Möller 2017). Andere Faktoren wie soziale Herkunft, Alter, Ethnie, Religionszugehörigkeit oder Behinderung sind eher randständig.

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2.4 Angekommen an der Spitze und das Leben in zwei Welten Soziale Aufstiege zur Professur lassen sich häufig als sogenannte »Treppenstufenaufstiege« (Schmeiser 1996) verstehen: Von vornherein wird nicht das große Ziel ›Professur‹, sondern immer nur die nächste Stufe bzw. die nächste Statuspassage anvisiert, weil die Professur als Position zu unrealistisch und als »fern der Vorstellungskraft« (Böning/ Möller 2019: 74) erscheint. Hierbei wirken habituelle Selbstbegrenzungen aufgrund der Statusdistanz zwischen der Herkunft und einer Führungsposition in der Wissenschaft (ebd.).12 Retrospektive Analysen bringen zudem zutage, dass sich bei den Aufsteiger*innen nicht primär intendierte Aufstiegsmotive im Sinne eines Strebens nach Macht und ökonomischem Reichtum finden. Vielmehr machten sie sich aus einem starken Veränderungs- und Autonomiebedürfnis heraus auf den Weg ›nach oben‹, ohne langfristige Ziele im Blick zu haben. »Die persönliche Weiterentwicklung, die Ausweitung von Denk- und Handlungsspielräumen, das Streben nach Wissen, ästhetischen Erlebnissen oder moralischen Ansprüchen usw. bilden in den Aufstiegsbiographien zentrale Ankerpunkte« (El-Mafaalani 2012: 325), sodass sich zwar hoher Fleiß und Anstrengung, aber kaum Aufstiegspläne und -strategien rekonstruieren lassen, was angesichts des fehlenden familiären Wissens über einen realistischen Aufstieg durch die Institutionen nicht verwundern mag (ebd.: 325f.). Korrespondierend damit kommen ermutigenden Unterstützungspersonen und sozialen Netzen eine enorme Bedeutung zu: So können wissenschaftliche Mentor*innen und Betreuer*innen als »soziale Paten« (ebd.) fungieren und »in freiwilliger Verpf lichtung in loco parentis jene Funktionen wahrnehmen, (vgl. auch Alheit/Schömer) die die leiblichen Eltern […] nicht wahrnehmen können« (Schmeiser 1996: 140; Alheit/Schömer 2003: 420). Auch unter den nordrhein-westfälischen Professor*innen messen jene aus unteren Sozialgruppen rückblickend ihrem jeweiligen Doktorvater bzw. ihrer jeweiligen Doktormutter eine höhere Bedeutung im Prozess der Wissenschaftskarriere zu als Professor*innen aus oberen Sozialgruppen (Möller 2015: 295).13 In den letzten Jahren mehren sich Autobiographien von Bildungsaufsteiger*innen mit einem gewissen Bekanntheitsgrad, die sich in hohen Positionen befinden und sich mit Klassenübergängen sowie deren Bedingungen wie Folgen befassen. Verbreitung fanden vor allem literarische Sozioanalysen wie die bereits angeführte von Didier Eribon

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(2016) und weitere wie von Annie Ernaux (2018) und Édouard Louis (2016) im französischen Raum oder die im deutschsprachigen Raum erschienenen biographischen Darstellungen von Oskar Negt (2016), Ahmet Toprak (2017) oder Jürgen Prott (2018). Sie thematisieren nicht nur strukturelle Hindernisse beim sozialen Aufstieg, sondern auch die damit verbundenen Emotionen und Konf liktlagen. Soziologische Arbeiten verwiesen bereits auf zwischen den sozialen Klassen vorhandene Distinktionsgefühle (Burkhart 2007), auf soziale Scham (Neckel 1991) und die hidden injuries unterer Klassen (Sennett/ Cobb 1973). Sie knüpfen häufig an die klassentheoretischen Konzepte Bourdieus an und erweitern sie um emotionssoziologische Erkenntnisse, die als Affekte und stabile Ressentiments bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisieren. Sie machen deutlich, dass Herrschaftsverhältnisse auf eine »emotionale Fundierung durch Distinktionsgefühle angewiesen [sind] und damit auch wirkungsvoller legitimiert« (Burkhart 2007: 159) werden. Hierbei sind vor allem Bindungsgefühle innerhalb von Klassen, Gefühle der Unter- und Überlegenheit (z.B. Stolz und Scham, Verachtung und Neid) und Abgrenzungsgefühle als Ausdruck von Klassendistanzen gemeint, die gerade in modernen Konkurrenzgesellschaften auftreten, in denen das meritokratische Ideal stark ausgeprägt ist (ebd.). »Distinktionsgefühle sind Gefühle, die soziale Abgrenzungen als ›natürlich‹ legitimieren helfen, weil sie den Eindruck vermitteln, man stünde auf ganz selbstverständliche Weise an seinem jeweiligen Platz im Statusgefüge der Gesellschaft.« (Ebd.: 164) Neckel verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die gesellschaftliche Wirksamkeit von sozialer Scham und gesellschaftlichen Bewertungssystemen, die stigmatisierende Effekte erzeugen, da sie z.B. »Unterlegenheitsgefühle bei denjenigen [verursachen], deren soziale Lage, Lebensform oder Kompetenz vor dem Hintergrund geltender Normen als persönlich minderwertig charakterisiert wird« (2008: 24). Untere Klassen sind daher permanent mit einer symbolischen Gewalt bzw. Herrschaft (Bourdieu/Passeron 1973; Schmidt/Woltersdorf 2008) konfrontiert, die sich auf eine »inkorporierte Wertehierarchie« (Rehbein et al. 2015: 15) stützt, welche mal mehr oder weniger explizit erfahrbar wird. »Jede Macht zu symbolischer Gewalt, d.h. jede Macht, der es gelingt, Bedeutungen durchzusetzen und sie als legitim durchzusetzen, indem sie die Kräfteverhältnisse verschleiert, die ihrer Kraft zugrunde liegen,

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fügt diesen Kräfteverhältnissen ihre eigene, d.h. eigentlich symbolische Kraft hinzu.« (Bourdieu/Passeron 1973: 12) Als hidden injuries of class deuteten Sennett und Cobb (1972) das Dilemma US-amerikanischer Arbeiter*innen in den 1970er Jahren, die ihre eigene Herkunft und damit verbundene Werte und Zugehörigkeiten verleugnen mussten, um sozial aufsteigen zu können (vgl. auch Wakeling 2010). Ähnliche Erfahrungen mit sozialer Scham thematisiert auch Eribon, wenn er als heutiges Mitglied der akademischen Intelligenz über die eigene Herkunft als Arbeiterkind aus Reims nachdenkt: »›Warum bin ich, der ich so große soziale Scham empfunden habe, Herkunftsscham, wenn ich in Paris Leute aus ganz anderen sozialen Milieus kennenlernte und sie über meine Klassenherkunft entweder belog oder mich zu dieser nur in größter Verlegenheit bekannte, warum also bin ich nie auf die Idee gekommen, dieses Problem in einem Buch oder Aufsatz anzugehen?‹ Sagen wir es so: Es war mir leichter gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale.« (2016: 19) Die Ambivalenz zwischen Zugehörigkeitsgefühlen zum Herkunftsmilieu sowie (mitunter reziproken) Abstoßungseffekten und Entfremdungsprozessen vom Herkunftsmilieu, aus dem man sich mehr oder weniger entfernt (Jaquet 2018: 78), erweist sich häufig bereits während des Studiums als strukturelle und emotionale Herausforderung (Spiegler 2015; Schmitt 2010; King 2008; Truschkat 2002), insbesondere dann, wenn Haltepunkte und Beziehungen im neuen Milieu, in das man aufstrebt, fragil bleiben (El-Mafaalani 2012). Studien über Habitustransformationen, d.h. langfristige Veränderungen der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungshorizonte, die für einen sozialen Aufstieg nötig werden, zeigen, dass die damit verbundenen Persönlichkeitsveränderungen mitunter Konf likte mit Eltern und anderen Familienmitgliedern bedeuten und zu unterschiedlichen Graden von Verwerfungen führen können (ebd.).14 El-Mafaalani zeichnet hierzu zwei Modi der Habitustransformationen im Aufstiegsprozess nach. Beim Modus empraktischer Synthesen werden alte und neue Praxismuster »in Beziehung gesetzt […] und Differenzen durch Ausbalancieren bewältigt« (El-Mafaalani 2015: 80). Hierbei werden »kreative Mittelwege« (ebd.) gesucht, um die Konf likthaftigkeit abzumildern. Beim Modus der ref lexiven Opposition dominiert ein selbstbewusstes »In-Opposition-Treten«

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(ebd.) gegen das Herkunftsmilieu. Beide Modi werden gewöhnlich in drei Phasen modelliert: Während in der Phase der Irritation »habituelle Grenzerfahrungen« (ebd.: 79), z.B. bei akuten biographischen Krisen oder bei biographisch relevanten Entscheidungen, gesammelt werden, sodass bisherige Praxismuster verändert und neu angepasst werden müssen, erfolgt in der Phase der Distanzierung die Ausbildung neuer Praxisformen und neuer sozialer Bezüge, die gewöhnlich mit einer mehr oder minder großen Distanzierung zum Herkunftsmilieu einhergehen. Aber erst in der Phase der Stabilisierung, d.h. beim weit fortgeschrittenen oder bereits gesicherten Aufstieg, werden »spezifische Formen im Umgang mit der eigenen Herkunft« entwickelt (ebd.: 82; vgl. auch El-Mafaalani in diesem Band).15 In explorativen Interviews mit Professor*innen der Rechts-, Sozial- und Erziehungswissenschaften zeigte sich, dass vor allem Frauen zum Teil noch größeren Vorbehalten ausgesetzt sind, wenn sie die von der Familie eher begrenzten Selbstverwirklichungsvorstellungen durch den Erwerb des Doktortitels und durch die Berufung auf eine Professur übersteigen. Das Durchbrechen dieser Klassengrenzen »führte zu Sanktionen in Form von fehlender Unterstützung und Ermutigung bis hin zu Ignoranz, Verleugnung der Bildungstitel und offener Feindseligkeit« (Böning/Möller 2019: 77f.). Neben der beschriebenen zum Teil schmerzlichen Loslösung aus dem gewohnten Milieu und den damit einhergehenden Verlusten von Freundschaften wie Familienbeziehungen sowie auf keimenden Fremdheitsgefühlen im Feld der Bildung zeigt eine Analyse von autobiographischen Essays von Akademiker*innen aus der Arbeiter*innenklasse, die über einen Zeitraum von 32 Jahren veröffentlicht wurden, dauerhafte Herausforderungen beim sozialen (Langstrecken-)Aufstieg (Warnock 2016). Diese erstrecken sich beispielsweise von der Erfahrung des ungleichen kulturellen Kapitalbesitzes gegenüber anderen Akademiker*innen (beispielsweise Sprache, Kommunikationsverhalten, Dresscodes und Wissen um herrschende Stereotype) und damit verbundenen Mikroaggressionen, über ein starkes Bewusstsein gegenüber Ausbeutungsverhältnissen und Schuldkomplexen gegenüber Nicht-Aufgestiegenen bis hin zum sogenannten Hochstapler- oder Impostor-Syndrom. Bei diesem zweifeln die betroffenen Personen trotz Leistungserfolgen an ihren Fähigkeiten und leben mit der Angst, dass andere ihre, ihnen vermeintlich nicht zustehenden, Erfolge und Positionen ›entlarven‹ und ihnen Anerkennung entzogen wird. Für diese soziokulturellen Akkulturationsleistungen und Balanceakte zwischen

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den Klassen und eine damit möglicherweise verbundene langfristige ›habituelle Heimatlosigkeit‹ werden mitunter ausgeprägte Ambiguitäts- und Trennungskompetenzen benötigt (El-Mafaalani 2012). Aus dem von Spannungen und Widersprüchen beherrschten »gespaltenen Habitus« (Bourdieu 2002: 116) kann auch der Anspruch entstehen, »gleichzeitig anspruchsvoll und ›bescheiden‹ Wissenschaft zu betreiben« (ebd.), wie es Bourdieu in seinem soziologischen Selbstversuch beschreibt. »Vielleicht ist in diesem Fall gerade die Tatsache, aus jenen Klassen zu kommen, deren Lebensverhältnisse man gerne ›bescheiden‹ nennt, für bestimmte Fähigkeiten verantwortlich, die in Handbüchern der Methodologie nicht gelehrt werden: das Fehlen einer jeden Geringschätzung für empirische Genauigkeit, eine Aufmerksamkeit für die scheinbar nebensächlichsten und ›minderwertigsten‹ Untersuchungsgegenstände, […] ein Aristokratismus der Zurückhaltung, der in eine Mißachtung aller Erwartungen an jene intellektuelle Brillanz mündet, wie sie von an akademischen Institutionen und heute in den Medien belohnt werden.« (Ebd.: 116f.) Es entstehen womöglich besondere Kompetenzen, Interessen, Feinfühligkeiten, Motivationen und Möglichkeiten des Verstehens, die anderen, die diese ›beiden Welten‹ nicht kennen, nicht oder zumindest weniger gegeben sind (vgl. Grabau 2020). Soziale Aufsteiger*innen stellen dann in dieser Perspektive – ähnlich wie Personen unterschiedlicher Geschlechter, Ethnien, Altersgruppen o.ä. – eine Bereicherung für die Erkenntniswelt der Wissenschaft dar. Entgegen dem allgemeinen Ethos einer Neutralität und Objektivität verpf lichteten Wissenschaft zeigt sich vielmehr, dass Forschende und Lehrende unterschiedliche Perspektiven, Standpunkte und Motive einnehmen und diese von »Faktoren wie Alter, Geschlecht, soziale Lage [und] biographische Erfahrungen der Forschenden« durchaus beeinf lusst sein können (Friebertshäuser 2013: 272). Bei ihrem Vergleich von Akademiker- und Arbeiterkindern an der Universität stellte Haas beispielsweise heraus, dass Arbeiterkinder »die vorrangig krisenreicheren und verunsichernden Werdegänge« bei entsprechenden Ref lexionsleistungen zu einem Vorteil ausbauen können, indem sie in der Lage seien, »mehr Flexibilität und schnellere Umstellungsleistungen gerade in Krisensituationen zu erbringen« (1999: 234). Ferner zeigen Arbeiterkinder, wie zuvor be-

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reits erwähnt wurde, zum Teil eine starke Ref lexionskraft hinsichtlich ihrer eigenen Rolle im Bildungssystem (Reay et al. 2009). Auch Bourdieu stellt einen Zusammenhang her zwischen seiner Herkunft aus der französischen Provinz im Südwesten Frankreichs und der sozialstrukturellen Ferne zu den Pariser Intellektuellen, seiner kritischen Positionierung zum wissenschaftlichen Feld und seiner Verteidigungshaltung für »die Autonomie der Forschung gegen die gesellschaftlichen Moden« (Bourdieu 2001: 176f.), indem er dies auf eine »Neigung« zurückführt, »immer auf der Gegenspur, immer gegenläufig zu sein. […] Dieser Widerspruchsgeist hängt wahrscheinlich mit meinem sozialen Werdegang zusammen, mit meinen sozialen Wurzeln, sogar meiner regionalen Herkunft. […] Die Tatsache, Provinzler zu sein, einerseits freiwillig und andererseits erzwungenermaßen schlecht in die Pariser Welt integriert zu sein, all das ist sicherlich sehr wichtig.« (Ebd.) Hier zeigt sich zum Teil etwas, was in der Forschungsliteratur häufig unter dem Stichwort des ›erkenntnistheoretischen Bruchs‹ gefordert wird: eine Distanz zum Feld aufzubauen, um die eigene Position im akademischen Raum zu hinterfragen und damit zusammenhängend über die sozialen Bedingungen der eigenen Klassifikationskriterien und Werturteile nachzudenken. So ref lektiert Bourdieu in einem Interview aus dem Jahr 1992: »Ich versuche wie viele Intellektuelle der ersten Generation, die zwei Seiten meines Lebens zusammenzubringen. Andere versuchen es mit anderen Mitteln – sie finden die Lösung z.B. im politischen Handeln, einer Art sozialer Rationalisierung. Mein Hauptproblem ist zu verstehen, was mit mir passiert ist. Meine Laufbahn erscheint mir wie ein Wunder – ein Aufstieg zu einem Platz, wo ich nicht hingehöre. Und dazu, wie es mir möglich ist, in einer Welt zu leben, die nicht meine ist, muss ich beides verstehen: was es heißt, einen akademischen Verstand zu haben – wie so etwas erzeugt wird –, und zugleich, was bei dessen Erwerb verloren ging. Und obgleich mein Werk – mein gesamtes Werk – eine Art Autobiographie ist, so ist es aus diesem Grunde doch auch ein Werk für Menschen mit einem ähnlichen Werdegang und einem ähnlichen Bedürfnis zu verstehen.« (Bourdieu [1992] 2012: 59)

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Die soziale Mobilität von Aufsteiger*innen kann also eine psychologische Beweglichkeit mit sich bringen, wie es Georg Simmel ([1908] 1958) und Robert Ezra Park (1937) in ihren Soziologien des Fremden hervorgehoben haben.16 Inwiefern solche Tugenden im wissenschaftlichen Feld auf Anerkennung stoßen, bleibt in den Studien jedoch zumeist offen.

3. Kontingenzgeschichten und soziale Reproduktion – Zum Aufbau des Buches Hier setzt unser Buch an, das gezielt die Aufsteiger*innen in der Wissenschaft zu Wort kommen lässt, die mit eigenen Worten ihren Weg an die Hochschule und die damit verbundenen persönlichen Herausforderungen schildern. Der im Titel des Buches plakativ benutzte Begriff des ›Arbeiterkindes‹ wird von einigen der Biograph*innen als Selbstbezeichnung relativ selbstverständlich aufgegriffen, andere grenzen sich bewusst von ihm ab, weil er ihnen für die Charakterisierung des nicht-akademischen Herkunftsmilieus, das nicht allein aus Berufsgruppen auf dem Niveau gering bezahlter Lohnarbeit besteht, zu undifferenziert erscheint. Manche empfinden den Begriff sogar als Stigma, weil er abwertend, disqualifizierend wirkt. Der Begriff zwingt zum Hinschauen, er irritiert und regt zum Nachdenken an und genau in dieser ›befremdenden‹ Hinsicht haben wir ihn für das vorliegende Buch eingesetzt. Er fungiert daher weniger als deskriptiver noch analytischer Begriff, sondern eher als Sammelbegriff für soziale Aufsteiger*innen aus unterschiedlichen Herkunftsmilieus, deren (kleinster) gemeinsamer Nenner ist, dass keine*r der Elternteile einen Hochschulabschluss aufweist. Die Geschichten, die sie für unser Buch erstmals in dieser Form erzählen, zeigen, wie der Bildungsaufstieg zugleich auch Klassenübertritt bedeutet und wie unterschiedlich dieser erlebt wird: Für manche ist der Schritt aus dem Herkunftsmilieu hinaus in die akademische Welt gefühlt weniger groß, für andere ein regelrechter Wechsel des Universums, das sich im Gefühl der Fremdheit niederschlägt, dessen Abbau zur Lebensaufgabe wird. Nicht allein deshalb, sondern auch aufgrund der zum Teil recht unterschiedlichen Herkunftskontexte und Erfahrungen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass das ›Arbeiterkind‹ keine eindeutige Kategorie, sondern eine Konstruktion ist, die in Diskursen unterschiedlich Verwendung findet (Boger 2015). Es wäre daher fahrlässig, ›Arbeiterkindern‹ aufgrund ihrer ähnlichen sozialen

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Eingruppierung eine geteilte ›Heimat‹ oder Gruppenidentität zu attestieren, ebenso wie es in der neuen akademischen Heimat keine geteilte Identität von Professor*innen mit Arbeiter*innenhintergrund gibt. Entsprechend schwer fiel es unseren Autor*innen, sich durch unser Anschreiben dieser vermeintlichen Professor*innengruppe zuordnen zu lassen, da es bislang weder eine politisch initiierte noch gefühlte Solidarität von Professor*innen als Arbeiterkinder an Universitäten gibt. Ferner sind Professor*innen aus statusniedrigen Klassen per se keine ›besseren‹ Forscher*innen, Dozierende oder Wissenschaftler*innen. Es bedeutet auch nicht, dass sie nach dem Aufstieg Studierende aus unteren Klassen grundsätzlich besser verstehen können. Dennoch: »[T]he success of first-generation college students who enter the professoriate can contribute to the success of accessibility initiatives for successive generations of students.« (Kniffin 2007: 50) Ein Buch über Aufsteiger*innen gerät trotz allem schnell in den Verdacht, durch seinen Fokus auf die ›geglückten‹ Verläufe den Blick von einer weitgehend stabilen sozialen Immobilität und damit von der auffällig hohen sozialen Geschlossenheit in höheren Statuspositionen abzulenken. »Die Individuen aus den unteren Schichten, die einen sozialen Aufstieg erlebt haben, werden als Maskottchen oder Symbole benutzt, die die soziale Ordnung stärken und die Ideologie des Selfmademan [bzw. -woman] nähren«, problematisiert die französische Philosophin Chantal Jaquet (2018: 17). Diese fungierten häufig als Alibifiguren, »um kollektive Forderungen zurückzuweisen und das Gefühl der Ungerechtigkeit zu unterdrücken« (ebd.). So erfreulich sich also individuelle Erfolgsgeschichten zum Teil lesen: Die bloße Darstellung von Aufstiegsbiographien, ohne diese in einen gesellschaftlichen Rahmen zu stellen, wäre gerade in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheiten (Kaelble 2017) in unserer Gesellschaft ein problematisches Signal. Denn die meritokratische Illusion, die sich in der einfachen Formel des ›Wer will, der kann‹ ausdrückt, wird nicht dadurch wahr, dass einzelne die sozialen (Klassen-)Grenzen überschreiten. Vielmehr gilt es, neue und alte Ungleichheiten auch in Zeiten expandierender Bildungseinrichtungen und eines erhöhten Zustroms zum Hochschulsystem kritisch zu verfolgen. Seit der Bildungsexpansion fungiert das Bildungssystem nicht nur als ein Ort möglicher sozialer Mobilitätsprozesse, sondern auch als ein Ort der sozialen Exklusion. Die Bildungsinstitutionen fungieren somit als Sortierungs- und Steuerungsinstanz und »legitimieren den Ausschluss derer vom Aufstieg, die nicht aufgestiegen sind

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und mit empirisch bestimmbarer Wahrscheinlichkeit auch nicht aufsteigen werden« (Heid 2009: 7). Resultierten vor der Bildungsexpansion hohe Statuspositionen vorrangig aus (materieller) Vererbung, werden sie in postindustriellen Gesellschaften über hohe Bildungstitel – über kulturelles Kapital – legitimiert. Das Aufstiegsversprechen einer Gesellschaft kann somit zur unrühmlichen Ausleseinstanz werden, die sozioökonomische Ungleichheiten über Bildungsdefizite und daher als ›selbstverschuldet‹ legitimiert und sich somit aus der Verantwortlichkeit für (verpassten) sozialen Ausgleich stiehlt. Ein ›gutes Leben‹ oder zumindest ein auskömmliches Leben jenseits von Armut hängt nach der meritokratischen Lesart vorrangig von der Bildungsbereitschaft einer Generation und ihrer Nachkommen ab und verkennt bzw. verschleiert hierbei soziale Reproduktionsmuster und klassenspezifische Distinktionspraktiken, Diskriminierung(serfahrung)en sowie die Verkettungen und Zusammenhänge von ökonomischer Armut und Bildungsarmut. Bildung ist damit zugleich Lösung und Problem: Mit ihr lässt sich soziale Ungleichheit überwinden, aber eben auch legitimieren und verschleiern (vgl. Butterwegge in diesem Buch). Die im Buch zu Wort kommenden Professor*innen, die trotz zum Teil schwieriger Startbedingungen Karriere in der Wissenschaft gemacht haben, lenken zwar unweigerlich den Blick auf Bildung als individuelle Aufstiegsressource; ihre Erfolgsgeschichten sollen aber nicht von den herrschenden sozialen Ordnungen ablenken, sondern bestenfalls neben dem Interesse für individuelle Aufstiegsprozesse zum besseren Verständnis von strukturellen Aufstiegsbarrieren beitragen, die nicht selten Bildungsbarrieren sind. Angeregt durch die selbstref lexiven Beiträge Bourdieus und Eribons, in denen sie sich bewusst mit ihrer Herkunft aus der Arbeiter*innenklasse und den damit zusammenhängenden Herausforderungen in ihrer Schullauf bahn und späteren wissenschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen, geht es uns darum, durch die Kombination aus autobiographischen Skizzen und soziobiographischen Analysen eine dichte Beschreibung von der Vielfalt der Erfahrung sozialer Mobilität und deren Ref lexion im Spiegel sozialwissenschaftlicher Forschungen zur sozialen Ungleichheit zu gewähren. Es sollen ferner verschiedene Formen von Gelegenheitsstrukturen sowie Förderungen, aber ebenso Schattenseiten und strukturelle Barrieren aufgezeigt werden. Hierzu gehören beispielsweise temporäre oder dauerhafte soziale und kulturelle Spannungsverhältnisse bei Aufstiegs- und Eingliederungsprozessen in höhere Klassen, die als

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Ausdruck oder als Folge von sozioökonomischen Ungleichheiten sowie klassistisch-distinktiven Strukturen, Einstellungen und Praktiken in der Gesellschaft (Kemper/Weinbach 2009; Wellgraf 2012) gedeutet werden können. Ebenso werden geschlechts- und generationsspezifische Unterschiede beleuchtet, die den sozialen Aufstieg erschweren (können). Die Auswahl der Biograph*innen vollzog sich durch persönliche Bekanntschaften der vier Herausgeber*innen oder durch Empfehlungen Dritter17, wobei darauf geachtet wurde, dass möglichst viele wissenschaftliche Fachdisziplinen abgebildet werden. Dies konnte angesichts der heutigen Fächervielfalt an Hochschulen nur eingeschränkt realisiert werden; auch sind manche Disziplinen (z.B. die Naturwissenschaften) unterrepräsentiert, andere (z.B. die Sozial- und Erziehungswissenschaften) überrepräsentiert. Letzteres resultiert nicht nur aus der persönlichen Nähe der Herausgeber*innen zu diesen Fächern, sondern v.a. aus dem Umstand, dass diese wie eingangs erwähnt für Aufsteiger*innen offener sind und die Herkunftsfrage entsprechend nicht die Brisanz besitzt wie in sozial exklusiven Fächern, in denen sie beinahe einem ›Tabubruch‹ gleichkommt (dies galt vor allem in der juristischen Disziplin). Entsprechend schwer fiel es einigen unserer Autor*innen, einen Selbstbericht zu verfassen, entweder, weil sie in das Sprechen über die eigene Herkunft wenig eingeübt waren, die Textgattung der Autobiographie bzw. des Erfahrungsberichtes in der eigenen Disziplin keine Rolle spielt oder aber die eigene Scham und/oder Sorge um die eigene »Fassade« (Goffman 1983) sie beim Schreiben begleitete. Neben aus unterschiedlichen Fächern und zu unterschiedlichen Zeitpunkten berufenen Professor*innen wurden bewusst Personen aus Universitäten und Fachhochschulen für eine autobiographische Ref lexion gewonnen, weil die ungleichen Zugangsvoraussetzungen eine größere soziale Offenheit der Fachhochschulen gegenüber Aufsteiger*innen (im Übrigen auch gegenüber Frauen) erwarten lassen. Viele Hochschulen, an denen die hier portraitierten Personen tätig sind bzw. waren, liegen in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit den meisten Hochschulen; es konnten aber ebenso Personen gewonnen werden, die an Hochschulen in Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz lehren und forschen. Das Biograph*innensample umfasst sieben Professorinnen und zwölf Professoren, die sich auch hinsichtlich ihres Alters unterscheiden,

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sodass diverse geschlechtsspezifische und generationale Erfahrungen eingebracht werden. Drei Personen haben zudem eine Zuwanderungsgeschichte (aus der Türkei und aus Italien). Auch wenn das Sample dadurch gewiss keine Repräsentanz der sozialen Aufsteiger*innen in der Professor*innenschaft in Anspruch nehmen kann, wird eine weitgehende Vielfalt an Disziplinen, Hochschulen und persönlichen Merkmalen offenkundig. Gerahmt werden die autobiographischen Notizen durch Beiträge zur sozialpolitischen, habitustheoretischen wie biographieanalytischen Perspektivierung von Chancengleichheit und Bildungsaufstiegen, Klassenunterschieden wie -übergängen sowie Selbstzeugnissen und autoethnographischen Ref lexionen. Neben den eher allgemeinen fachwissenschaftlichen Einordnungen findet zusätzlich eine Kommentierung der autobiographischen Skizzen vor dem Hintergrund der Expertisen von Andrea Lange-Vester und Michael Hartmann statt. Das Buch schließt mit Stellungnahmen von Initiativen von und für Arbeiterkinder an Hochschulen sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Fragen nach Verhinderungs- und Unterstützungsstrukturen für eine herkunftssensible Nachwuchsförderung. Der Band versteht sich nicht nur als Sammlung autobiographischer Aufstiegserfahrungen von Personen des öffentlichen Lebens, die ein seltenes Dokument gelebter Bildungsgeschichte darstellen und zu weiteren Analysen zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg anregen sollen. Er zeichnet auch einen Gegenentwurf zu sozial bereinigten Karriereratgebern, Universitätsleitbildern oder hochgezüchteten Lebensläufen von Wissenschaftler*innen, in denen für persönliche Empfindungen und Empfindlichkeiten in der Regel kein Platz ist. Die Aufstiegsgeschichten sind geradezu abweichend vom herkömmlichen Curriculum Vitae komponiert: Sie sind durchtränkt von Provinzabenteuern, familiären Possen wie persönlichen Krisen, besonderen Vorfällen in Schule und Ausbildung, studentischen Abenteuern und Idiosynkrasien in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit, für die zudem eine eigene Sprache und Form in den autobiographischen Notizen gefunden wurde. Manche pf legen längst vergessene Worte und Begriffe im Herkunftsdialekt ein und verleihen damit den Erzählungen nicht nur einen besonderen persönlichen Anstrich, sondern auch dem Homo academicus eine menschliche Note. Es sind Aufstiegserzählungen, die weniger vom geplanten Aufstieg und der erfolgreichen Karriere von anerkannten Wissenschaftler*innen, als vielmehr

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vom Lebensweg von Menschen erzählen, die häufig über Umwege in die Wissenschaft gefunden haben. Der Ausdruck ›der Weg ist das Ziel‹ scheint hier mehr als treffend zu sein. Wir danken den Hochschullehrer*innen, die ihren Lebensweg für dieses Buch ref lektiert und damit in der Regel erstmals mit der Öffentlichkeit geteilt haben, sowie den Autor*innen, die durch ihre Beiträge und Kommentierungen zur Einordnung und Fruchtbarmachung der Selbstzeugnisse für die soziologische Forschung beigetragen haben. Dank gilt auch dem transcript Verlag, der von der Idee zum Buch von Anfang an begeistert war und das Projekt umsichtig begleitet hat. Ebenso danken wir Amin und Sara Niazy für ihre wertvolle Hilfe bei der Erstellung der Druckfahne. Die Herausgeber*innen, Dortmund, Köln und Bielefeld im Februar 2020

Anmerkungen 1 Einer dieser exklusiven Eliteeinrichtungen, die École Nationale d’Administration (ENA) in Straßburg, steht zurzeit aufgrund zunehmender Kritik zur Disposition. 2 Der Begriff ›Arbeiterkind‹, den wir in unserem Buch aufgrund seines Bekanntheitsgrades und des einschlägigen Buchtitels un-gegendert verwenden, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte unterschiedliche Konnotationen erfahren. Während er im ursprünglichen (marxistischen) Sinne als Kategorie für Kinder von ausschließlich niedrig qualifizierten und bezahlten Lohnarbeiter*innen verwendet wurde, hat er sich mittlerweile – vor allem auch in medialen Zusammenhängen – als Sammelbegriff für Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern etabliert, der sehr unterschiedlich qualifizierte wie sozioökonomisch divers situierte Berufsgruppen umfasst. Im englischsprachigen Raum hat sich hierfür der Begriff der ›first generation students‹ durchgesetzt, der im deutschsprachigen Raum z.T. auch mit ›Studienpioniere‹ übersetzt wird. Der Begriff ›Arbeiterkind‹ wird zudem ganz gezielt von politischen Initiativen und Selbstorganisationen entgegen seiner defizitorientierten Lesart als Selbstbezeichnung benutzt und selbstbewusst umgedeutet. Wir gebrauchen ihn an dieser Stelle – die auf die empirischen Befunde der Studie von Möller (2015) rekurriert – in seiner ursprünglichen Bedeutung als Berufsgruppenkategorie, die insbesondere un-/angelernte, ausgebildete Arbeiter*innen und/oder Polierer*innen/ Vorarbeiter*innen umfasst. 3 Zu bedenken ist, dass die Bildungspolitik in Ostdeutschland (DDR) bereits direkt in der Nachkriegszeit reformiert wurde, um soziale Ungleichheiten abzubauen (vgl. hierzu beispielsweise Miethe et al. 2015: 46f.). 4 In der deutschsprachigen Forschungsliteratur gibt es keine einheitlichen Konzepte zur Benennung und Operationalisierung der sozialen Herkunft bzw. der Klassen-

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Christina Möller / Markus Gamper / Julia Reuter / Frerk Blome zugehörigkeit, vielmehr existiert eine Vielzahl an Begriffen, die auf unterschiedlichen Konzepten beruhen (z.B. akademisch/nicht-akademisch, soziale Herkunftsgruppen, Bildungsherkunftsgruppen, Klassen, Milieus und Schicht oder relationale Positionen wie statusniedrig, untere oder obere soziale Gruppen). Da eine Systematisierung der Begriffe und Konzepte den Rahmen dieser Einleitung sprengen würde, können wir den Forschungsstand auch nur in dieser Vielfalt abbilden und nur jene Konzepte näher vorstellen, die häufig benutzt werden (z.B. soziale Herkunftsgruppen, Bildungsherkunftsgruppen). 5 Geht man über die bipolare Differenzierung der Herkunftsgruppen hinaus (Akademiker*innen versus Nicht-Akademiker*innen als Eltern), dann zeigt sich, dass die Bildungsbeteiligung innerhalb der Gruppe der Kinder von Nicht-Akademiker*innen nochmals deutlich nach Herkunft variiert. Bei denjenigen Kindern, bei denen ein Elternteil mindestens das Abitur sowie einen Berufsabschluss erworben hat, liegt die Studienanfänger*innenquote bei 48 Prozent, sofern mindestens ein Elternteil einen beruflichen Abschluss erworben hat, noch bei 24 Prozent und in den Fällen, in denen keiner der Elternteile einen beruflichen Abschluss erworben hat, nur noch bei 12 Prozent (Kracke et al. 2018: 5). 6 Der Schereneffekt meint einen ausgeprägteren Kompetenzzuwachs von Schüler*innen, die höhere Schulformen besuchen. Zumindest für mathematische Kompetenzen wird dies einhellig gezeigt, deutlich heterogener sind die Forschungsergebnisse zu den Lesekompetenzen (Nagy et al. 2017). 7 Die hier skizzierten drei theoretischen Erklärungsansätze werden in der aktuellen Bildungs- und Ungleichheitsforschung nicht ausschließlich isoliert verwendet, sondern immer häufiger in eklektizistischer Form (z.B. wird die Rational Choice-Theorie mit den Kapitalkonzepten Bourdieus verbunden, vgl. beispielsweise Merkel 2015; Hartmann 2018). Auch finden sich Modifikationen und Erweiterungen der vorliegenden Konzepte, die zu aktuelleren und differenzierteren Befunden der gegenwärtigen Ungleichheitslagen führen (beispielsweise Habitustransformationen, erweiterte Kapitalformen und die Erweiterung der Kostenformen der RC-Theorie). 8 Die Herkunftsgruppe ›niedrig‹ versammelt vor allem Personen, deren Eltern z.B. Arbeiter*innen oder gering qualifizierte Angestellte und Beamt*innen ohne Hochschulabschluss sind; in der Herkunftsgruppe ›mittel‹ sind die Eltern Meister*innen und Polier*innen sowie mittlere Angestellte und Beamt*innen ohne Hochschulschulabschluss; ›gehoben‹ umfasst u.a. Angestellte und Beamt*innen in gehobener Position, Freiberufler*innen und ähnliche Positionen mit und ohne Hochschulabschluss und die Herkunftsgruppe ›hoch‹ vor allem Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben, Beamt*innen des höheren Dienstes, Großunternehmer*innen und ähnliche hohe Berufspositionen mit und (selten) ohne Hochschulabschluss (für eine genaue Systematik der sozialen Herkunftsgruppen vgl. Möller 2015: 321). 9 Die mit der Gründung der Fachhochschulen einhergehenden Differenzierungen zwischen anwendungsbezogener Ausbildung an Fachhochschulen und forschungsorientieren Universitäten beginnt sich jedoch bereits mit den Hochschulrahmengesetzen von 1985, bei denen die anwendungsbezogene Forschung als Aufgabe der Fachhochschulen verankert wurde, zu entdifferenzieren (Enders 2016). Ein weiterer Schritt dieser Angleichung manifestiert sich in der Relativierung des Promotionsmonopols von Universitäten. Bisher konnten Fachhochschulen ihren Nachwuchs

Vom Arbeiterkind zur Professur lediglich über Kooperationen mit Universitäten promovieren, nach Änderungen in ihren Landeshochschulgesetzen haben Hessen und Baden-Württemberg Fachhochschulen zumindest partiell das Promotionsrecht zugesprochen (Pautsch 2019). In anderen Bundesländern werden aktuell ähnliche Reformen diskutiert. 10 Neben der Juniorprofessur oder Habilitation umfasst dies weitere Post-Doc-Positionen, wie etwa die Nachwuchsgruppenleitung. 11 Außerplanmäßige Professuren werden in der Statistik nicht zur Professor*innenschaft gezählt, weil sie sowohl von der Vergütung als auch von der Stellenkonstellation (einschl. der Ausstattung) nicht mit einer prestigereichen ›ordentlichen‹ Professur vergleichbar sind. 12 Bedacht werden muss hierbei, dass das Herrschen, das in Führungspositionen mehr oder weniger immanent ist, in unteren sozialen Klassen naturgemäß nicht eingeübt werden kann, da diese vielmehr von den Herrschenden beherrscht werden. In den unteren sozialen Gruppen ist man daher wenig bis gar nicht vertraut mit Instrumenten der Macht, sodass sich eine Identifikation mit solch einer Position häufig nicht reibungslos einstellt. 13 Grundsätzlich kann von einer hohen Relevanz von Promotionsbetreuenden als Gatekeeper wie Vertrauensgenerator*innen für wissenschaftliche Karrieren ausgegangen werden, da sie im besten Fall nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch Selbstvertrauen und Zuversicht generieren (vgl. Berli/Reuter/Hammann 2018: 44; Tischler 2019). 14 Haney (2015) verweist auf ähnliche Befunde für jene kanadischen Professor*innen aus der Arbeiter*innenklasse, die aufgrund geringeren Kulturkapitals und dem Besuch schlechterer Schulen häufig größere Opfer für ihre Erfolge bringen mussten, wie beispielsweise den Verlust der engen Beziehung zum Elternhaus und zu engen Freunden. 15 Vgl. hierzu auch Spiegler (2015), der anhand von studierenden Stipendiat*innen der Studienstiftung des deutschen Volkes ebenfalls Habitusmodifikationen beim Aufstiegsprozess nachzeichnet. 16 Überhaupt lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen der Phänomenologie des Aufstiegs und der Phänomenologie des Fremden ziehen. Auch wenn dem ›Aufsteiger‹ wie dem ›Fremden‹ ein gewisser Loyalitätskonflikt durch seine doppelte Mitgliedschaft (in der Herkunfts- und Ankunftsgruppe) unterstellt wird, erlaubt ihm sein besonderer Status als Neuankömmling ohne organische Verbindungen zur neuen Bezugsgruppe auch eine besondere Distanz und Objektivität in seinen Urteilen. 17 Über mindestens vier Biograph*innen lagen bereits dokumentierte Lebensgeschichten vor, aus denen hervorging, dass sie einen Arbeiter*innenhintergrund besaßen: vgl. die bereits erwähnten Lebensgeschichten von Ahmet Toprak (2017) und Jürgen Prott (2018). Auf Rosa Maria Puca wurden wir über den Bericht in der Frauenzeitschrift BRIGITTE aufmerksam (https://www.brigitte.de/aktuell/stimmen/ bildungskarriere---was-willst-du-denn-auf-dem-gymnasium---mein-weg-vomarbeiterkind-zur-professorin-10173180.html, 10.12.2014). Außerdem liegt bereits eine autobiographische Skizze von Elke Kleinau in dem Sammelband von Anne Schlüter (2008) zur ersten Generation Frauen- und Geschlechterforscherinnen an deutschen Hochschulen vor.

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I. Sozialwissenschaftliche Rahmung

Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma 1 Migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität Aladin El-Mafaalani

1. Einleitung Bildungsungleichheit ist ein weit ausdifferenziertes, interdisziplinäres Forschungsfeld. In der quantitativen Bildungsforschung werden dabei Unterschiede sowohl im Kompetenzerwerb in verschiedenen Domänen (insb. PISA, IGLU, TIMSS) als auch in der Bildungsbeteiligung auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems (u.a. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018) betrachtet. Daneben liegen umfangreiche Erhebungen zu den sozial benachteiligten Gruppen vor, etwa nach Schichtzugehörigkeit (Maaz u.a. 2010), Migrationshintergrund (Diefenbach 2007; Diehl/Fick 2016), Staatsangehörigkeit insgesamt (Kemper 2015) und mit speziellem Fokus auf Gef lüchtete (El-Mafaalani/Kemper 2017) sowie nach Geschlechtszugehörigkeit (Blossfeld u.a. 2009). In umfassender Weise konnte mehrfach gezeigt werden, dass ein Herkunftseffekt über alle Stufen des Bildungssystems ermittelt werden kann und selbst nach Abschluss eines Studiums die beruf lichen Karrierechancen wesentlich von der sozialen Herkunft abhängen (u.a. Hartmann 2002). Über die gesamte Biographie korrespondieren also ungleiche Chancen systematisch mit verschiedenen ›Merkmalen‹ einer Person bzw. Personengruppe. Dieser empirisch gesicherte Befund lässt die – bildlich gesprochene – Schlussfolgerung zu, dass Menschen ihre Herkunft dauerhaft mit sich führen. Vor diesem Hintergrund erscheinen qualitative und hier insbesondere biographische Studien besonders gewinnbringend. Da auf jeder Sprosse der sozialstrukturellen Leiter

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Aladin El-Mafaalani

ein sozialer Filter wirksam zu sein scheint, ermöglicht die Betrachtung von Aufstiegsbiographien, also von Personen, die im Laufe ihres Lebens alle Barrieren überwunden haben, eine Rekonstruktion der Barrieren durch die Analyse ihrer Durchlässigkeit. Ein solcher Perspektivwechsel verschiebt den Fokus auf die Rahmenbedingungen und Herausforderungen bei der Überwindung sozialer Benachteiligung. Studien mit einer solchen Perspektive liegen vermehrt auch mit einem Schwerpunkt auf Menschen mit Migrationshintergrund vor. Allerdings wird in solchen Studien häufig nicht deutlich, was genau das Migrationsspezifische bei Bildungs- und sozialen Aufstiegen ist. In den meisten Studien zu Aufsteiger*innen mit Migrationshintergrund wurde nicht methodisch kontrolliert zwischen aufstiegsspezifischen Herausforderungen, die entsprechend auch für Aufsteiger*innen ohne internationale Geschichte gelten, und migrationsspezifischen Besonderheiten unterschieden. Etwa überschneiden sich die Befunde weitgehend zwischen Studien zu Aufsteigerinnen aus Arbeiterfamilien (Bublitz 1980; Metz-Göckel 1992; Schlüter 1999) und solchen zu Aufstiegsbiographien von Männern und Frauen mit Migratonshintergrund (Pott 2002; Hummrich 2002; Tepecik 2011), was nicht zuletzt auch daran liegen kann, dass in der Regel keine Vergleichsgruppen untersucht wurden, die es ermöglichen systematische Unterschiede herauszuarbeiten (ausführlich hierzu El-Mafaalani u.a. 2016). Zudem betonen viele Studien das migrationsspezifische Kapital (u.a. Raiser 2007), wodurch die Potenziale betont werden, aber gleichzeitig aus dem Blick gerät, dass der Aufstieg für Menschen mit Migrationshintergrund aus unteren Schichten unwahrscheinlich ist. Gleichzeitig ist der Einwand berechtigt, ob es überhaupt Migrationsspezifika beim Aufstieg gibt, da statistische Analysen nahelegen, dass mit der Schichtzugehörigkeit und dem Bildungsniveau der Eltern der benachteiligende Effekt für die Schullauf bahn von Kindern weitgehend erklärt sei (u.a. Becker/Lauterbach 2016). Andererseits lässt sich durchaus plausibel begründen, dass Menschen mit Migrationshintergrund aus einer benachteiligten Familie erfolgreicher sein müssten als Menschen ohne Migrationshintergrund unter gleichen sozialen Rahmenbedingungen. Denn in vielen der Herkunftsländer der Zugewanderten hat eine Bildungsexpansion wie in den westlichen Industriestaaten nicht stattgefunden. Dies führt zu dem Schluss, dass die Migrant*innen bei gleichem formalen Bildungsniveau tendenziell intelligenter, talentierter und entsprechend auch bildungserfolgreicher

Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma

sein müssten als die Vergleichsgruppe der Personen ohne Migrationshintergrund (Diehl/Fick 2012). Demgegenüber kann der Bildungserfolg von Migrant*innenkindern durch fehlende Sprachkenntnisse, mangelhafte Förderangebote oder ethnische Diskriminierung gehemmt werden. Aus den Befunden quantitativer Bildungsforschung lässt sich ableiten, (1) dass die Wahrscheinlichkeit des Bildungserfolgs maßgeblich durch die soziale Herkunft beeinf lusst wird und die Bildungschancen für Kinder aus benachteiligten Milieus unabhängig von einem Migrationshintergrund relativ gering sind; (2) dass aber gleich(schlecht)e Wahrscheinlichkeiten nicht unmittelbar auf die gleichen benachteiligenden Mechanismen, Problemstellungen und Effekte zurückgeführt werden können. Diese Thesen werden im Folgenden zum Anlass genommen, um nach den typischen Besonderheiten beim Bildungsaufstieg für Menschen mit türkischem Migrationshintergrund zu fragen. Zunächst wird dargestellt, wie durch die theoretischen und methodologischen Anlagen der Analyse der Fokus methodisch kontrolliert auf diese Fragestellung gerichtet wurde. Darauf hin werden die Aufstiegsspezifika, die für Aufsteiger*innen mit und ohne Migrationshintergrund in gleicher Weise gelten, skizziert. Anschließend werden Typen von Aufsteiger*innen mit Migrationshintergrund den Typen ohne Migrationshintergrund gegenübergestellt. Abschließend werden der migrationsspezifische Erfahrungsraum und seine Genese rekonstruiert, theoretisch ref lektiert und modelliert.

2. Theoretische und methodische Vorüberlegungen Für die Analyse von Bildungsaufstiegen trotz schwieriger Kontextbedingungen und statistischer Unwahrscheinlichkeiten wird im Folgenden eine empirische Studie mit einem biographischen Forschungsansatz skizziert, in der die Lebensgeschichten von Aufsteiger*innen aus bildungsfernen Milieus rekonstruiert werden (ausführlich El-Mafaalani 2012, 2014). Da sich das Forschungsinteresse auf die gesamte Biographie richtet, wurden biographisch-narrative Interviews nach Fritz Schütze (1983) durchgeführt. Als Auswertungsverfahren wurde die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack (2009) und Arndt-Michael Nohl (2008) gewählt, da mit der komparativen Analyse gewährleistet wird, dass die Heterogenität des hier vorliegenden Untersuchungsfel-

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des erfasst wird und gleichzeitig einem bestimmten Orientierungsrahmen ein spezifischer Erfahrungsraum zugeordnet werden kann. Dadurch werden Aussagen darüber ermöglicht, inwiefern ein bestimmter (in diesen Fällen erfolgreicher) Umgang mit der ungünstigen Ausgangslage ›typisch‹ (im Sinne einer Idealtypenbildung) für einen bestimmten sozialen Erfahrungsraum ist. Als Bildungsaufsteiger*innen gelten im Allgemeinen all diejenigen, die ein höheres Bildungsniveau erreicht haben als die Elterngeneration. Da aber die soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf lange wirkt, wurden in das Sample ausschließlich solche Personen aufgenommen, die einen akademischen Abschluss erlangt haben, sich beruf lich qualifikationsadäquat etabliert haben und aus einer Familie stammen, in der die Familienmitglieder lediglich über einen einfachen oder keinen Bildungsabschluss verfügen. Durch diese enge definitorische Eingrenzung kann zum einen kontrolliert werden, dass Bildungsniveau- und Berufsstatusanstieg deutlich über dem mittleren Anstieg in der Gesamtbevölkerung liegen, und zum anderen werden durch diese extreme Kontrastierung zwischen sozialer Herkunft und aktuellem Status konturierte Analysen der Problemstellungen, die sich für sozial Mobile ergeben, ermöglicht. Gleichzeitig wurde beim Sampling systematisch der Aspekt der Migration berücksichtigt. So wurde von Beginn an zwischen Aufsteiger*innen mit türkischem Migrationshintergrund (der zweiten Generation) und solchen ohne Migrationshintergrund unterschieden.2 Ausgehend von Pierre Bourdieus Habitustheorie werden die Herausforderungen des Bildungsaufstiegs aus der Perspektive der sozial Mobilen vergleichend analysiert und modelliert. Der Habitus eines Menschen wird nach Bourdieu (1987a und b) als dauerhaftes, kaum noch veränderbares Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster konzipiert, von dem aus die soziale Welt erlebt wird. Anders als viele andere klassische Soziolog*innen entwickelt Bourdieu den Habitusbegriff als das Zusammenwirken schichtspezifischer Routinen und Muster, deren Entstehensbedingungen historisch gewachsene Herrschaftsverhältnisse bilden. Der Habitus gilt als Vermittler zwischen sozialer Struktur und sozialer Praxis. Dies bedeutet aus einer Mikroperspektive, dass die Fähigkeit, ein »Gefühl innerer Geschlossenheit« in der Begegnung mit der Welt zu entwickeln, eine der wichtigsten Funktionen des Habitus ist (Bourdieu 2001: 207). Der Habitus ist also funktional auf jene sozialen Konstellationen angepasst, die den Entstehungsbedingungen

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des Habitus entsprechen oder zumindest eine gewisse Verwandtschaft zu diesen aufweisen. Entsprechend werden soziale Kontexte ›gesucht‹, die diesen Bedingungen ähneln, oder solche vermieden, die sich durch eine hohe soziale Distanz zum Herkunftsmilieu auszeichnen. Während mit dem Habitusbegriff widerspruchsfrei erklärt werden kann, wie die Reproduktion sozialer Verhältnisse vonstattengeht, bleibt auch bei Bourdieu die Frage weitgehend offen, wie es zu Aufstiegsprozessen kommt. Die Tatsache, dass für sozial Mobile genau diese (theoretisch unterstellte) Regelmäßigkeit nicht gilt, wirft die Frage auf, wie sich diese intergenerationalen und biographischen Veränderungen habitustheoretisch beschreiben lassen und inwieweit der Migrationskontext mit typischen Variationen einhergeht.

3. Aufstiegstypisch: Habitustransformation als Distanzierung vom Herkunftsmilieu Bei der detaillierten Analyse von Aufstiegsbiographien lässt sich ein zentraler Befund herausstellen: Der Aufstieg kann als Distanzierung vom Herkunftsmilieu beschrieben werden. Diese Erkenntnis ist zunächst hochgradig trivial. Wer aufsteigt, entfernt sich vom Startpunkt. In der empirischen Analyse konnte allerdings gezeigt werden, dass die ›äußere‹ (sozialstrukturelle) Distanzierung mit einer ›inneren‹ (habituellen) Distanzierung, mit einer Transformation des Habitus, korrespondiert. Die Transformation der Lebensverhältnisse (sozialer Aufstieg) geht einher mit einer Transformation der sozialen Praxis und des Habitus. Die Habitustransformation lässt sich in drei Bereichen fassen: Es verändern sich der biographische Entwurf, die schichtspezifische Handlungslogik sowie die Selbst-Welt-Verhältnisse (ausführlich El-Mafaalani 2012; ähnlich auch Marotzki 1990; Koller 1999; Rosenberg 2011). Die Darstellung der idealtypischen Verläufe der Habitustransformation (Irritation, Distanzierung, Stabilisierung) kann in diesem Rahmen nicht erfolgen (vgl. El-Mafaalani u.a. 2016). Wesentlich ist die Unterscheidung zweier Transformationstypen, die im Folgenden knapp skizziert werden. Beim Typus der empraktischen Synthesen wird die Habitustransformation unbewusst und nicht-intendiert vollzogen. Die im Laufe der Biographie erlebten habituellen Dissonanzen werden entsprechend funktional bewältigt; Ref lexionsprozesse bleiben entscheidungs- bzw.

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situationsgebunden. Man könnte hier von einem situativen Selbstmanagement sprechen, durch das der Habitus »in neuen sozialen Situationen neue Mittel zur Wahrnehmung alter Funktionen erfinden« kann (Bourdieu 1987b, S. 102). Über längere Zeiträume vollziehen sich hierbei viele selektive habituelle Veränderungen als sukzessiver Prozess, bei dem ein synthetisierendes und damit risikovermeidendes Muster im Umgang mit Differenzerfahrungen wirksam ist. Erst in der Gesamtbetrachtung der Biographie lässt sich eine grundlegende Transformation des Habitus rekonstruieren. Dieser Typus trägt der ausgeprägten »Dialektik von sozialer Lage und Habitus« (Bourdieu 1987a:  281) Rechnung. Anders ist es beim Typus der ref lexiven Opposition, bei dem gewissermaßen die (idealisierte) Antithese den Referenzrahmen bildet. Hier werden Veränderungen bewusst und intendiert angestrebt. Eine bestimmte Differenzerfahrung wird als Kränkung erlebt, die zu einer umfassenden, situationsübergreifenden Ref lexion der sozialen Textur der habituellen Dissonanz führt. Den neuen Referenzrahmen für weitere Entwicklungen bildet ein normativ-kritisches In-Opposition-Treten zum Herkunftskontext. Dabei wird nach dem Prinzip des größtmöglichen Kontrasts zum Herkunftsmilieu mit diametralen (und zunächst diffusen) Handlungsmustern experimentiert. Dieser Typus kann als intentionales Arbeiten an sich selbst und damit am eigenen Habitus charakterisiert werden. Im Sinne eines »Bewusstwerdungsprozeß[es], der es dem einzelnen erlaubt, seine Dispositionen unter Kontrolle zu bringen« (Bourdieu/Wacquant 2006:   167f.), werden die Gesetzmäßigkeiten und restriktiven Elemente der familial geprägten Herkunft erkannt und aus der Orientierung gegen das ›Alte‹ heraus riskante Entscheidungen getroffen, um den wahrgenommenen Restriktionen gegenüber eine gewisse Freiheit ›zurückzugewinnen‹ (vgl. auch Rieger-Ladich 2005). Dieser Transformationstypus hat den Charakter eines biographischen Bruchs bzw. Sprungs. Beide Typen zeichnen sich dadurch aus, dass es zu einer Veränderung des Musters selbst kommt (und nicht lediglich zu Veränderungen im Muster) und dadurch zu einer Distanzierung vom Herkunftsmilieu. Dabei werden soziale Nebenwirkungen erfahren, die als Verlust von sozialem Kapital und von ›Selbstverständlichkeiten‹ in sozialen Kontexten beschreibbar sind. Beim Typus der ref lexiven Opposition ist diese Distanzierung intendiertes Ziel und damit zentraler Bestandteil der biographischen Erzählung. Die soziale Herkunft wird entmaterialisiert, also nicht auf die prekären ökonomischen Rahmenbedin-

Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma

gungen bezogen, sondern vielmehr auf die habituellen Praktiken, die auch offen abgewertet werden. Beim Typus der empraktischen Synthesen bleibt die Distanzierung vom Herkunftsmilieu implizit. Die Herkunft wird als materielle (ökonomische) Knappheit erlebt und nicht darüber hinaus kritisiert. Die habituelle Distanzierung spielt in diesen biographischen Erzählungen keine tragende Säule. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind die Differenzen zwischen beiden Typen in den Handlungspraxen sowie im Verhältnis zu Herkunftsmilieu und -familie wirksam und können nicht lediglich auf Formen des Erzählens zurückgeführt werden. Ausgehend von dieser Basistypik, die die für den Aufstieg zentralen Prozesse und damit den gemeinsamen Erfahrungsraum von Aufsteiger*innen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen erfasst, werden erst migrationsspezifische Variationen beschreibbar. Zunächst werden die migrationstypischen Spezifizierungen der beiden Transformationstypen in Abgrenzung zu den Fällen ohne Migrationshintergrund dargestellt, um abschließend das Migrationsspezifische und seine Genese zu modellieren. Tabelle 1: Mehrdimensionale Typenbildung

Basis

Transformation im Modus Empraktischer Synthesen

Transformation im Modus Reflexiver Opposition

Migrationshintergrund Sphärendifferenz (Innen-Außen)

Inklusive Verkehrung

Ambivalente Entfremdung

ohne Migrationshintergrund Milieudifferenz (Unten-Oben)

Pragmatische Entwicklung

Exklusive Distanzierung

Spezifizierung

Quelle: eigene Darstellung

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4. Aufstiegstypen: Umgangsformen mit der Distanzierung vom Herkunftsmilieu Im Folgenden werden die vier rekonstruierten Bewältigungsformen dargestellt (Tabelle 1). Während sich der Aufstieg als mehrdimensionale Distanzierung vom Herkunftsmilieu auf einem hohen Abstraktionsniveau einheitlich beschreiben lässt, können in der konkreten Umgangsform mit diesem Prozess die zentralen Differenzlinien zwischen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund und solchen ohne Migrationshintergrund herausgearbeitet werden.

4.1 Inklusive Verkehrung: Empraktische Synthesen bei Aufsteigern aus Migrant*innenfamilien Der Typus der inklusiven Verkehrung zeichnet sich in besonderer Weise dadurch aus, dass es auf verschiedenen Ebenen zu ›Fusionen‹ kommt, die nicht selten auch den Charakter einer Diffusion haben. In der biographischen Erzählung sind die Ablösungsprozesse sowohl vom Herkunftsmilieu als auch von der Herkunftsfamilie derart ineinander verwoben, dass sie sich kaum differenzieren lassen. Zugleich lässt sich eine starke innere Norm rekonstruieren, die Eltern an dem Aufstieg teilhaben zu lassen. Dieses inklusive Verhältnis zu der Herkunftsfamilie lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres umsetzen. Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sich während des Aufstiegs dieses Verhältnis zu den Eltern verkehrt. Die Aufsteiger*innen nehmen etwa Einf luss auf den Lebensstil (etwa im Hinblick auf Ernährung und Wohnungseinrichtung) und auf das Geschlechterrollenverständnis der Eltern, unterstützen sie bei Bildungsprozessen (u.a. Alphabetisierung), informieren sie stetig über die persönlichen Entwicklungen und nehmen die Eltern förmlich im Aufstiegsprozess mit, etwa indem sie ihnen während des Studiums die Universität und später ihren Arbeitsplatz zeigen. Das Erziehungs- und Platzierungsverhalten für jüngere Geschwister übernehmen sie weitestgehend. Aufsteiger*innen und Eltern wechseln gewissermaßen die Rollen. Die Aufsteigenden erfüllen für ihre Eltern Vorbild- und Orientierungsfunktionen, die die Eltern den Kindern gegenüber nicht in vergleichbarer Form wahrnehmen konnten. Gleichzeitig werden die Eltern – auch dann, wenn ihr Verhalten für den Aufstieg ungünstig war – in den Erzählungen in Schutz genommen (ähnlich z.B. Tepecik 2011:  289).

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Das Aufstiegsprojekt wird hier also als familiales Gemeinschaftsprojekt verstanden und umgesetzt. Dabei ist es wichtig, dass die Eltern diesen enormen Wandel innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung, der für sie innerhalb der Familie einem Statusverlust und außerhalb der Familie einem Statusgewinn gleichkommt, auch zulassen. Die Aufsteigenden müssen hingegen – neben den vielen weiteren Herausforderungen während des Aufstiegs – in Form kommunikativer Brücken zwei weit entfernte Lebenswelten zusammenhalten, was durchaus auch als Belastung wahrgenommen wird.

4.2 Ambivalente Entfremdung: Reflexive Opposition bei Aufsteiger*innen mit Migrationshintergrund Im Gegensatz dazu kommt es beim Typus der ambivalenten Entfremdung zu einem deutlichen Bruch mit Herkunftsfamilie und -milieu, der in der biographischen Erzählung eine zentrale Rolle einnimmt. Entsprechend lässt sich eine innere Norm rekonstruieren, die die Begriffe Heimat, Herkunft und Identität erklärungsbedürftig macht. Dies erscheint notwendig, da die vollzogene Distanz zu Familie und Milieu über längere Zeit nicht in eine neue Zugehörigkeit überführt werden kann. Der Aufstieg geht einher mit einem intensiven Erfolgs- und Verlusterleben. Sowohl eine Abwertung des Herkunftsmilieus als auch eine anhaltende Nostalgie, in der die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und ›Natürlichkeit‹ ihren Ausdruck findet, machen den ambivalenten Charakter dieses Typus aus. Der eigene Erfolg stellt eine weitreichende Entfremdung von der Herkunft dar, die sich ref lexiv-bilanzierend in der biographischen Erzählung dokumentiert. Der Aufstieg selbst stellt ein vergleichsweise geringes Problem dar, dieser hat allerdings auch nicht den Charakter eines familiären Gemeinschaftsprojekts, sondern wird gegen die Herkunft vollzogen. Die Distanzierung lässt sich gleichermaßen als Flucht, da selbst die eigene Familie als Gefahr für den Aufstieg erlebt wird, und als Fluch, da ein intensives Verlusterleben über weite Zeiträume der Biographie prägend ist, beschreiben.

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4.3 Vergleichshorizont: Aufsteiger*innen ohne Migrationshintergrund Der Typus der pragmatischen Entwicklung unterscheidet sich von seinem Pendant mit Migrationshintergrund (inklusive Verkehrung) insbesondere darin, dass der inklusive Charakter weitgehend fehlt. Die soziale Herkunft spielt in der biographischen Erzählung kaum eine Rolle. Der Umgang mit den Eltern ist eher pragmatisch und der Aufstieg hat den Charakter einer kontinuierlichen individuellen Entwicklung. Beim Typus der exklusiven Distanzierung zeichnet sich auch durch einen Bruch mit der Herkunftsfamilie aus, der auch konf liktreich und reibungsvoll sein kann. Allerdings gelingt es, diesen Bruch ›produktiv‹ zu verarbeiten und als persönlichen Gewinn einzuordnen. Weder die Suche nach neuen Zugehörigkeiten noch das verloren gegangene soziale Kapital erscheinen hier als dauerhaft problematisch. Die Ambivalenz wird u.a. dadurch aufgelöst, dass der Prozess der Distanzierung nicht als Fremdwerden bzw. eine Entfremdung, sondern vielmehr als Überlegenheit gedeutet wird. Die Herkunftsfamilie spielt bei den Aufsteiger*innen ohne Migrationshintergrund entweder eine geringe Rolle oder sie wird lediglich als Kontrastfolie präsentiert, vor deren Hintergrund der eigene Werdegang konturiert werden kann.

5. Modellierungen des migrationsspezifischen Erfahrungsraums Während die Distanzierung vom Herkunftsmilieu als Begleiterscheinung der Habitustransformation für alle Aufsteiger*innen rekonstruiert werden konnte, bildet den zentralen Unterschied zwischen jenen mit und ohne Migrationshintergrund die Frage danach, wovon man sich distanziert, also: Ausgangsbedingungen, Herkunftsmilieu und -familie. Migrationsspezifisch ist dabei, dass die Distanzierung von der Herkunftsfamilie als dringlicheres Problem in den Biographien erscheint. Dies lässt sich mit dem migrationstypischen Erfahrungsraum der Sphärendifferenz erklären (vgl. Bohnsack/Nohl 2001), wobei insbesondere familiale Erwartungen eine zentrale Rolle spielen.

Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma

5.1 Sphärendifferenz und Erwartungsdilemma In verschiedenen Studien wurde wiederholt auf eine spezifische Form der erlebten Innen-Außen-Differenz bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland hingewiesen (u.a. Badawia 2002; Bohnsack/Nohl 2001; El-Mafaalani/Toprak 2011; Nohl 2001), gleichzeitig liegen auch in anderen Einwanderungsländern vergleichbare Befunde vor, etwa in Kanada (vgl. Agnew 2005; Anisef/Kilbride 2003; Kobayashi/Preston 2014).3 Dabei sehen sich die Jugendlichen mit zwei unterschiedlichen Formen der Sozialität konfrontiert, die sich auf unterschiedliche Referenzeinheiten beziehen: Die innere Sphäre, in der sich Familie, Verwandtschaft und ethnische Community repräsentieren, und die äußere Sphäre, die die ›Mehrheitsgesellschaft‹, welche als abstrakte Einheit wahrgenommen wird, umfasst und insbesondere durch die pädagogischen Institutionen erfahrbar wird. Die innere Sphäre ist durch einen aus dem Herkunftsland tradierten Sozialitätsmodus gekennzeichnet, bei dem Autorität und Respekt eine zentrale Rolle spielen. Dabei stellen enge Bindungen und soziale Kontrolle sowie klare Rollenfestlegungen und explizierbare Regeln zentrale Charakteristika dar. Die äußere Sphäre ist geprägt durch abstraktere soziale Beziehungsformen und Anerkennungsmodi, in der Unbestimmtheit, Ethnisierung und Anpassungsaufforderungen erfahren werden. Kennzeichnend ist hierbei, dass die äußere Sphäre als Einheit wahrgenommen wird, also nicht zwischen verschiedenen Schichten oder Milieus der Gesellschaft unterschieden wird. Die Innen-Außen-Differenz wird also derart intensiv erlebt, dass sie ›die feinen Unterschiede‹ – etwa die Unten-Oben-Differenz, die für den Erfahrungsraum der Vergleichsgruppe maßgeblich ist – vollends überlagert. Nur selten gibt es Berührungspunkte zwischen den Sphären, etwa wenn die Kinder für die Eltern bei Behördengängen oder Elternsprechtagen übersetzen sollen. In diesen beiden Bezugssystemen werden sehr unterschiedliche Anforderungen an die Heranwachsenden gestellt, die über weite Strecken konstruktiv – zum Teil spielerisch – bewältigt werden. Im Laufe des Bildungsaufstiegs wandelt sich die Sphärendifferenz zu einer Sphärendiskrepanz, die zu einem biographischen Problem werden kann. Dies liegt insbesondere darin begründet, dass sich die familialen Erwartungen auf beide Sphären beziehen und als unvereinbar erlebt werden. Denn die Eltern erwarten in hohem Maße Loyalität gegenüber dem tradierten Habitus des Elternhauses (innere Sphäre)

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und gleichzeitig in ausgeprägter Weise Erfolg in Bildung und Beruf (äußere Sphäre). Es handelt sich also nicht mehr lediglich um unterschiedliche Sozialitätsformen, die man sich aneignen und denen man in differenzierter Weise entsprechen kann, sondern um Reproduktionserwartungen gegenüber dem tradierten Habitus und der Identität auf der einen Seite (Loyalitätserwartungen) und zugleich Transformationserwartungen im Hinblick auf die sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse auf der anderen Seite (Aufstiegserwartungen). Da der Aufstieg für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund mit einer grundlegenden Transformation des Habitus einhergeht, kann diese doppelte Erwartung in Migrant*innenfamilien aus der Perspektive Heranwachsender als Dilemma beschrieben werden: Die Erfüllung der Erfolgserwartungen führt zu einer Habitustransformation; die Orientierung an den Loyalitätserwartungen verhindert den Aufstieg. Es handelt sich aus der Perspektive der Aufsteigenden also um sich widersprechende Erwartungen der Eltern, deren Widersprüchlichkeit kaum kommunizierbar ist, da sie – wenn überhaupt – erst in der Rückschau explizierbar sind.4 Diese paradoxe Situation bildet den Kern des Migrationsspezifischen. Aufsteiger*innen zeichnen sich nun durch die Besonderheit aus, dass den Aufstiegserwartungen in umfassender Weise entsprochen wurde. Die beiden oben beschriebenen Typen unterscheiden sich lediglich im Umgang mit der Loyalitätserwartung. Die Herkunftsfamilie und der Umgang mit den familialen Erwartungen stellen entsprechend die tragenden Säulen in der biographischen Konstruktion dar. Die Loyalitätserwartungen und die Formen des sozialen Zusammenlebens in der inneren Sphäre üben gewissermaßen implizite Haltekräfte aus, die dem explizieten Wunsch nach Bildungserfolg in gewisser Hinsicht entgegenarbeiten. Dieses Band lässt den Aufstieg zu einer Kraftaufgabe werden, weil nicht nur schichtspezifische Milieu-, sondern auch migrationsspezifische Sphärengrenzen überwunden werden müssen. Dabei wird das Band derart überdehnt, dass es gerade die Spannung auf baut, die es nicht zum Reißen bringt, um ausreichend Energie zu entwickeln, dass es die Familie mitreißt. Aus den Haltekräften werden dann Zugkräfte in die entgegengesetzte Richtung frei (Typus der inklusiven Verkehrung). Oder aber das Band reißt oder wird durchtrennt und aus den Haltekräften werden Fliehkräfte, wodurch ein Sprung ermöglicht wird. Mit dem Herkunftsmilieu wird gebrochen und entsprechend werden die Loyalitätserwartungen ent-

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täuscht (Typus der ambivalenten Entfremdung).5 Zudem erscheint die adäquate Substitution des verlorenen sozialen Kapitals dauerhaft prekär. Dies kann zum einen mit Ausschlusserfahrungen erklärt werden, zum anderen liegt es auch darin begründet, dass es für die intensiven Solidaritätsformen und engen Bindungen der inneren Sphäre in der äußeren Sphäre keine Entsprechung gibt. Als migrationstypischer Erfahrungsraum im Aufstiegsprozess kann also die Sphärendifferenz in Kombination mit sich widersprechenden Doppelerwartungen verstanden werden. Dieses erlebte Dilemma lässt sich bei den Aufgestiegenen ohne Migrationshintergrund nicht rekonstruieren. Sowohl das soziale Band als auch die Loyalitätsund Aufstiegserwartungen sind bei den Familien ohne Migrationshintergrund ganz erheblich schwächer ausgeprägt. Während bereits theoretische Modelle zur Soziogenese der Sphärendifferenz vorliegen (u.a. Bohnsack 2007), ist die Frage nach der Genese dieser widersprüchlichen Erwartungen bisher noch unbeantwortet.

5.2 Genese der widersprüchlichen Erwartungen Um die Genese der widersprüchlichen Erwartungen zu rekonstruieren, gilt es, die sozialen und psychischen Rahmenbedingungen der Familien und hier insbesondere der migrierten Eltern zu spezifizieren. Bei diesen Rahmenbedingungen handelt es sich nicht um kulturspezifische, sondern um migrationsspezifische Kontexte, die überhaupt erst durch die Migration selbst, also den Wechsel nationaler und gesellschaftlicher Bezugssystemen, entsteht. Der Prozess der Migration kommt für die Migrant*innen einer mehr oder weniger stark erlebten sozialen Entwurzelung gleich, die wiederum zu psychischem Stress führt. Entsprechend ließen sich zwei zentrale Eigenschaften für Migrant*innen ableiten, die als psychosoziale Folgen der Migration zu verstehen sind: Erstens werden Migrant*innen als risikobereit und dadurch hochmotiviert (a), zweitens als zunehmend konservativ (b) beschrieben. Diese beiden Eigenschaften stehen in einem spannungsreichen Interdependenzverhältnis, aus dem heraus die elterlichen Erwartungen rekonstruiert werden können: a. Die Bereitschaft, die Heimat zu verlassen, setzt voraus, dass die Risiken, die mit der Migration verbunden sind, in Kauf genommen

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werden. Diese Risikobereitschaft wird mit dem Ziel verbunden, das eigene Leben zu verbessern. Dabei sind insbesondere die Motive soziale Mobilität und Statusverbesserung bereits in der Migrationsentscheidung angelegt (vgl. ausführlich das Entscheidungsmodell von De Jong/Fawcett 1981:  50ff.). Dieser riskante Neubeginn in der Fremde geht also mit hohen Aspirationen einher. Migrant*innen, die diese Ziele selbst in der Regel nicht realisieren können, übertragen diese unerfüllten Aufstiegswünsche auf ihre Kinder (vgl. auch Pott 2002; Tepecik 2011; Raiser 2007), wodurch die hohen Bildungsund Berufsaspirationen, die seit den 1970ern (Schrader u.a. 1979) bis in die Gegenwart (u.a. Becker 2010; Relikowski u.a. 2012) immer wieder dokumentiert werden, nachvollziehbar werden. b. Während es den Migrant*innen der ersten Generation häufig nicht gelingt, die erhoffte Statusverbesserung zu verwirklichen, erleben sie die Risiken der Migration in der Regel umfassend. Der Verlust von Sinnzusammenhängen, das Verlassen der Sprachgemeinschaft, Nicht-Anerkennung eigener Fähigkeiten und Qualifikationen, der Verlust des sozialen Netzwerks und der Rollenbeziehungen in demselbigen führen (zumindest zeitweise) zu existenzieller Unsicherheit und vielschichtiger Orientierungslosigkeit (Han 2010:  205ff.). Der soziale Kontext der Migration bedeutet für einen Menschen extreme Veränderungen und psychosozialen Stress, insbesondere auch deshalb, weil weite Teile dessen, was als identitätsstiftend gilt, aufgegeben wurden oder verloren gingen.6 Eine funktionale Strategie ist es nun, all das, was nicht aufgegeben werden musste, u.a. Denk- und Handlungsmuster, Routinen, Symbole und Erinnerungen, zu konservieren bzw. in die neue Heimat zu transferieren. Ein ausgeprägter Konservatismus ist entsprechend noch kein kulturspezifisches Merkmal, sondern typisch für die Migration (vgl. Brettel 2003; Veer 2001). Dieser Konservatismus wird auch im Kontext der Diaspora diskutiert. Es gehe dabei darum, »das Wesentliche des Eigenen in der Fremde zu bewahren« (Mayer 2005:  47; ähnlich auch Han 2010:  226). Die Bedeutung der Herkunftskultur kann während des Lebens im Aufnahmeland wachsen, etwa im Hinblick auf moralische und traditionelle Vorstellungen, nationale Zugehörigkeit, religiöse Praktiken usw. (hierzu bereits Eisenstadt 1954). Dadurch, dass der soziale Bezugsrahmen in der Migration über weite Strecken auf die Familie und die ethnische Community begrenzt bleibt, entwickeln sich neben dem Konservatismus spezi-

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fische Solidaritäts- und Loyalitätsverhältnisse, die in vergleichbarer Weise wie die Aufstiegsaspirationen auf die Kinder übertragen werden (El-Mafaalani/Toprak 2011). Während die Risikobereitschaft und die Motivation bereits bei der Migrationsentscheidung vorliegen, entwickelt sich der Konservatismus erst nach der Migration. Diese Prozesse können unabhängig davon, ob die Migration gewollt oder erzwungen ist, festgestellt werden (Han 2010:  206). Die Intensität hängt hingegen insbesondere davon ab, wie sich die Lebensverhältnisse der migrierten Personen (hier der Eltern) entwickeln. Da in der vorliegenden Untersuchung die Gruppe der sozial benachteiligten Familien betrachtet wurde, erscheinen Konservatismus und Loyalitätserwartungen besonders ausgeprägt.

Schlussbetrachtungen Die markante Innen-Außen-Differenz, die widersprüchlichen elterlichen Erwartungen sowie die Reproduktion des Habitus und der Identität auf der einen Seite und eine umfassende Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lebensverhältnisse auf der anderen Seite können als typische Besonderheiten innerhalb von Migrant*innenfamilien herausgestellt werden. Dieser Erwartungskonf likt ist in den Biographien der Aufsteiger*innen aus türkischstämmigen Familien nachhaltig wirksam. Gleichzeitig kann die These begründet werden, dass dieser Befund weder auf Türkeistämmige noch auf die Situation in Deutschland beschränkt sein muss. Zahlreiche internationale Studien deuten darauf hin, dass es sich hierbei um ein spezifisches Phänomen der Migration handelt, das zunächst unabhängig sowohl vom Herkunftsland als auch vom Ankunftsland rekonstruiert werden kann. Die Intensität kann hingegen deutlich variieren – und erst hier spielen neben den sozialen Rahmenbedingungen auch kulturelle Faktoren eine Rolle. Wie zu Beginn erläutert, wirken soziale Kontexte handlungshemmend, insofern diese von den Entstehensbedingungen des Habitus deutlich abweichen. Im Hinblick auf die Herausforderungen der Habitustransformation (und der zu überwindenden sozialen Distanz) sowie auf die Intensität der erlebten Sphärendifferenz und der sich widersprechenden Erwartungen gilt es, unterschiedliche Ausprägungen zwischen verschiedenen Migrant*innengruppen zu untersuchen. Aus einer pra-

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xeologischen Perspektive stellt dieser hier hervorgehobene Aspekt exemplarisch eine Schnittstelle zwischen sozialer Ungleichheits-, Mobilitäts- und Migrationsforschung dar, an die es mit weiteren Forschungen anzuknüpfen gilt.

Anmerkungen 1 Dieser Aufsatz ist ein gekürzter Wiederabdruck und wurde erstmalig in der Zeitschrift für Pädagogik 6/2017 publiziert. 2 Es konnten keine generationentypischen Analysen unter Kontrolle des Migrationshintergrunds verfolgt werden, da keine Bildungsaufsteiger*innen mit türkischem Migrationshintergrund im Alter von ca. 60 Jahren ausfindig gemacht werden konnten. Daher liegen dem Sample für die migrationsspezifische Analyse, die in diesem Beitrag verfolgt wird, 14 Interviews mit Extremaufsteiger*innen zugrunde. Die Interviewten sind in verschiedenen ›Branchen‹ (Künstler*innen, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Manager*innen) tätig und bekleiden jeweils Führungspositionen. 2 Diese sehr ähnlichen Befunde aus Kanada wurden im Übrigen im Rahmen von Studien zu Migrant*innen aus Afrika, Asien und Südamerika festgestellt. Dieses Phänomen scheint unabhängig sowohl vom Herkunfts- als auch vom Ankunftsland zu sein, weshalb hier von einem Migrationsspezifikum (in Abgrenzung zu Kulturspezifika) gesprochen werden kann. Am Ende dieses Beitrags wird die Reichweite dieses Phänomens wieder aufgegriffen und diskutiert. 4 In den meisten untersuchten Biographien wurde der Befund, Erwartungen enttäuscht zu haben, eher als eigene oder elterliche Inkompetenz gedeutet. 5 Beide idealtypischen Formen haben aus einer aufstiegsspezifischen Perspektive Vor- und Nachteile: Die permanente Solidarität mit den Eltern ermöglicht zum einen, während des Aufstiegsprozesses von der Familie (finanziell) unterstützt zu werden und einen Teil der Belastungen des Aufstiegs abzufedern, und zum anderen, einen intensiven Zusammenhalt zu bewahren. Allerdings ist dies auch mit anderen Belastungen verbunden, weil man nicht nur vorwärts bzw. nach oben, sondern auch rückwärts bzw. nach unten schauen muss, um das Band zu erhalten, was zusätzliche Energie beansprucht. Die andere Form erleichtert durch die Fliehkräfte den Aufstieg durch den Sprung. Bei diesem Sprung reißt das Band und man kann sich ohne Ballast bewegen. Dieses Band kann zwar noch ›künstlich‹ wiederhergestellt werden, jedoch kann diese ›erzeugte‹ sekundäre Bindung nicht mehr dieselbe Form annehmen wie die primäre, was dann durchaus als Verlust wahrgenommen werden kann. 6 Das Gefühl einer stabilen Identität ist ein zentrales Bedürfnis von Menschen. Identitätstheorien konstruieren personale Identität als Relation und Integration der drei Dimensionen (zeitliche) Kontinuität, (soziale) Kohärenz und (sachliche) Konsistenz. Es geht also um ein Sich-Wiedererkennen in den zeitlichen, sozialen und inhaltlichen Veränderungen in der Biographie. Entsprechend könne die Identität als Einheit aller Differenzen in einer Person begriffen werden, wobei diese Integrationsleistung zu-

Sphärendiskrepanz und Erwartungsdilemma nehmend aktiv vollzogen werden muss (ausführlich Straub 2000). Dass im Kontext der Migration, zumal unter prekären sozioökonomischen Rahmenbedingungen, eine stabile Identität eine besondere Herausforderung darstellt und der Schutz der Identität von besonderer Relevanz ist, liegt auf der Hand. Die im Folgenden dargestellten Mechanismen können im Sinne des Konzepts der »adaptiven Rigidität« verstanden werden (Straub 2015: 142ff.).

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Unter dem Motto ›Aufstieg durch Bildung‹ stellten die Regierungschefs von Bund und Ländern ihre am 22. Oktober 2008 auf dem sog. Bildungsgipfel in Dresden beschlossene ›Qualifizierungsinitiative für Deutschland‹ vor, die den wachsenden Fachkräftebedarf der einheimischen Wirtschaft decken helfen sollte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Deutschland bei dieser Gelegenheit zur ›Bildungsrepublik‹ und diese zum ›besten Sozialstaat‹ erklärt. Das vom damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (1957) ausgegebene Leitbild ›Wohlstand für alle‹ wandelte sie in ›Bildung für alle‹ um, was auf eine Beschränkung des für die ›alte‹ Bundesrepublik geltenden Ziels der Verteilungsgerechtigkeit auf bloße ›Teilhabegerechtigkeit‹ hinauslief. Für die Bundesregierung war und ist Bildung der ›Schlüssel für Teilhabe und Integration‹, weshalb es im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht hieß: »Schulische Bildung und beruf liche Qualifikation sind die Grundlage für Teilhabe am Arbeitsmarkt und der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut.« (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008: 187) Mittlerweile gibt es kaum ein Wahlprogramm, kaum eine Politikerrede und kaum ein Diskussionspapier der etablierten Parteien, von öffentlichen Verlautbarungen der Unternehmerverbände ganz zu schweigen, die sozial Deklassierten nicht den ›Aufstieg durch Bildung‹ verheißen und in Letzterer den Schlüssel für beruf lichen Erfolg, privaten Wohlstand und (volks)wirtschaftliches Wachstum sehen. Unbestritten ist, dass man hierzulande aufgrund der erfolgreichen Bewältigung von (Aus-)Bildungsprozessen unter günstigen Umständen einer prekären Lebenslage entkommen, beruf lich Karriere machen sowie durch Anstrengung und Fleiß zu Wohlstand gelangen kann.1

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Individuelle Bildungsaufstiege der geschilderten Art sind nichts Neues, waren vielmehr selbst in früheren Jahrhunderten möglich, wenn junge Männer – Frauen blieben davon weitgehend ausgeschlossen – zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren (vgl. Lundgreen 1988, 2000). Nur bieten Bildungserfolge einzelner Personen keine gesamtgesellschaftliche Lösung für das Problem der sozialen Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung größerer Bevölkerungsgruppen. Trotzdem wird häufig so getan, als könnten alle Menschen durch eigene Bildungsanstrengungen reüssieren. Folglich drängt sich die Frage auf, wem der Mythos einer Bildungsmeritokratie nützt und welchen Bevölkerungsgruppen damit Sand in die Augen gestreut werden soll. Ideologiekritisch betrachtet handelt es sich um eine reine Aufsteigerideologie: Arme werden angehalten, ihre (Bildungs-)Karriere durch Selbstoptimierung eigenständig und eigenverantwortlich zu organisieren, statt auf kollektive Lösungen im Rahmen einer Umverteilung des vorhandenen Reichtums von Oben nach Unten zu setzen. Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, Machtstrukturen und Privilegien müssten demnach angetastet, sondern nur das Verhalten der einzelnen Individuen angepasst werden. Die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich ist durch Bildung nicht zu schließen; dazu bedarf es der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen (vgl. hierzu: Butterwegge 2016: 269ff.; Butterwegge 2018: 385ff.; Butterwegge 2019: 111ff.; Butterwegge 2020: 401ff.).

1. Legitimation der sozialen Ungleichheit: Aufstieg durch Bildung? In der Bundesrepublik galt jahrzehntelang das soziale Aufstiegsversprechen, dem sie auch ihren wirtschaftlichen Erfolg verdankte: »Wer sich anstrengt, f leißig ist und etwas leistet, wird mit lebenslangem Wohlstand belohnt.« Aufgrund der globalen Finanzkrise 2008/09 ist es der Angst vieler Mittelschichtsangehöriger gewichen, trotz guter beruf licher Qualifikation und harter Arbeit sozial abzusteigen. Die soziale Aufstiegsmobilität hat spürbar nachgelassen (vgl. Groh-Samberg/ Hertel 2015); der von Oliver Nachtwey eingeführte Begriff ›Abstiegsgesellschaft‹ trifft allerdings nicht den Kern des Problems. Bei der sozialen Polarisierung im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus handelt es sich nämlich weder um einen ›Fahrstuhleffekt‹, den Ulrich Beck

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(1986: 122) zu erkennen wähnte, weil alle Bevölkerungsschichten gemeinsam nach oben und anschließend wieder nach unten führen, noch um einen ›Rolltreppeneffekt‹, den Oliver Nachtwey (2016: 127) beobachten zu können glaubt, weil Auf- und Abstiege eine kollektive und eine individuelle Dimension hätten, sondern eher um einen Paternostereffekt: Während die einen nach oben fahren, fahren andere nach unten, weil Armut und Reichtum strukturell miteinander verzahnt sind. Die sozialen Polarisierungstendenzen lassen sich auf die öffentliche Meinungsführerschaft des Neoliberalismus und von ihm durchgesetzte oder beeinf lusste Reformen zurückführen (vgl. hierzu: Butterwegge u.a. 2017). Andreas Klocke und Klaus Hurrelmann (1998: 13) wiesen früh auf die zunehmende soziale Ungleichheit und die damit verbundene »Auseinanderentwicklung der Lebensbedingungen« innerhalb der nachwachsenden Generation hin: »Neben einer wachsenden Minderheit der Kinder und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen aufwachsen, lebt auf der anderen Seite des sozialen Spektrums eine ebenfalls wachsende Zahl in sehr wohlhabenden Familien.« Zahlreiche Untersuchungen gelangten seinerzeit zu dem Ergebnis, dass arme Kinder als Opfer der Individualisierung, des Sozialstaatsumbaus, der Erosion des traditionellen Familienmodells sowie der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen im Zeichen des neoliberalen Modernisierungsprozesses zu betrachten seien (vgl. z.B. Butterwegge 2000; Beisenherz 2002; Chassé u.a. 2003). Extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverhältnisse bilden das Haupthindernis für die Herstellung von mehr Gerechtigkeit im Hinblick auf beruf liche Aufstiegsmöglichkeiten. So bestätigt eine Untersuchung des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann (2013: 45), wie massiv die soziale Herkunft die Chancen auf Spitzenkarrieren in der Ökonomie beeinf lusst: »Auch nach Überwindung aller Hürden im deutschen Bildungssystem haben Kinder aus der Arbeiterschaft oder den Mittelschichten erheblich geringere Chancen auf den Zugang zu Spitzenpositionen in der Wirtschaft als ihre fachlich gleich guten und gleich alten Kommilitonen aus dem Bürger- und vor allem Großbürgertum.« Bildungsstand und beruf liches Qualifikationsniveau hängen gerade hierzulande stark von der sozialen Herkunft ab. Man könnte in Abwandlung eines deutschen Sprichwortes sagen: Wo eine Villa ist, ist

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auch ein Weg (zum Abitur, zum Studium und/oder zur akademischen Karriere). Geld regiert die Welt, nicht der Geist oder der Intellekt. Anders formuliert: Die soziale Ungleichheit im Hinblick auf Einkommen und Vermögen bedingt Bildungsungleichheit – nicht umgekehrt. Geradezu paradox erscheint, dass die überragende Bedeutung des Geldes sowie seiner halbwegs gleichmäßigen und gerechten Verteilung auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen ausgerechnet zu einer Zeit immer häufiger angezweifelt wird, in der es aufgrund einer fortschreitenden Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung in fast allen Lebensbereichen ständig an Relevanz für die Versorgung und den Status von Individuen gewinnt. Zwischen dem Bildungsstand und dem sozioökonomischen Status einer Person besteht kein unmittelbarer Zusammenhang: Diese kann geistreich und doch bettelarm, aber ebenso gut strohdumm und steinreich sein. Bildung ist also weder ein Patentrezept gegen Armut noch eine Grundvoraussetzung zur Vermögensbildung in großem Stil, denn gerade Firmenerben benötigen nicht einmal höhere Bildungsabschlüsse für die Mehrung ihres Reichtums. Oliver Nachtwey (2016: 154) relativiert die Rolle der Bildung für den sozialen Aufstieg ebenfalls stark, wenn er auf die Entwertung von Qualifikationstiteln im Rahmen der Bildungsexpansion abhebt und sich folgender Metapher bedient: »Eine höhere Bildung garantiert nicht mehr automatisch einen gehobenen Status. Wenn alle sich auf die Zehenspitzen stellen, sieht niemand besser.« Noch pointierter formuliert: Wären alle Kinder und Jugendlichen, nicht bloß die mit einem familiären Migrationshintergrund, besser gebildet, was ihnen sehr zu wünschen ist, würden sie womöglich nur auf einem höheren Bildungsniveau um die wenigen Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze konkurrieren. Es gäbe zwar am Ende mehr Taxifahrer mit Hochschulabschluss und mehr Putzhilfen mit Abitur, aber weiterhin Armut. Kurz nach der Jahrtausendwende erlitt Deutschland seinen ›PISASchock‹, ausgelöst nicht etwa durch den empirischen Beleg für die soziale Selektivität der Bildung, sondern durch das schlechte Abschneiden der hiesigen Schüler*innen bei dem größten internationalen Schulleistungsvergleich (vgl. Rabe-Kleberg 2005: 81; Solga 2013: 30). Armut wurde in der (Medien-)Öffentlichkeit fortan überwiegend auf die ›Bildungsferne‹ oder die Bildungsbenachteiligung der von ihr Betroffenen zurückgeführt. Entweder stellt man Armut als durch einen fehlenden oder niedrigen Schulabschluss verursacht dar, oder dieser gilt

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als deren Hauptfolge (vgl. ausführlicher: Butterwegge 2010). Mit derselben Berechtigung wie von ›Bildungsarmut‹ könnte man dann auch von ›Wohnungsarmut‹, ›Ernährungsarmut‹, ›Gesundheitsarmut‹, ›Freizeitarmut‹ oder ›Sportarmut‹ sprechen, was aber niemand tut, obwohl jeder weiß, dass Armut in den betreffenden Lebenslagedimensionen ebenfalls negative Folgen zeitigt. Statt von ›Bildungsarmut‹ sollte von ›Armutsbildung‹ die Rede sein, zumindest dann, wenn der individuelle Bildungsprozess unter Rahmenbedingungen stattfindet, die nur als Familien-, Kinder- oder Jugendarmut zu bezeichnen sind. Aus sozialen Disparitäten erwachsende Bildungsunterschiede nimmt die breite Öffentlichkeit jedoch überwiegend als ›Begabungsunterschiede‹ wahr, womit man sie gewissermaßen wegdefiniert (vgl. Solga 2013: 24). Wer im Bildungssystem auf ›Chancengleichheit‹ oder ›-gerechtigkeit‹ hofft, hängt allerdings einer Illusion an (vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Auch unterteilt er die Schüler*innenschaft automatisch in Gewinner*innen und Verlierer*innen, nämlich solche, die ihre Aufstiegschance nutzen (können), und in solche, denen der Aufstieg – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt. »Damit werden dann aber die strukturellen Komponenten von Bildungsunterschieden ausgeblendet, d.h. die institutionellen Barrieren [Hervorh. im Original, Ch.B.] im Bildungssystem (wie Altersgrenzen, Anwesenheitszeiten und standardisierte Zeiträume der Leistungserbringung, z.B. in Form der Definition von Klassenstufen, Semestern, Ausbildungsjahren), die eine erfolgreiche Teilnahme an organisierten (Aus-)Bildungsprozessen behindern (z.B. bei längerer Krankheit, der Geburt eines Kindes oder der Notwendigkeit einer gleichzeitigen Erwerbstätigkeit).« (Solga 2013: 25f.) Weil die (Schul-)Bildung in der neoliberalen Standortlogik bloß noch als Erzeugung von Humankapital gilt, dessen Existenz über die Konkurrenzfähigkeit des ›eigenen‹ Wirtschaftsstandortes auf den Weltmärkten entscheidet, ignoriert man gef lissentlich strukturelle Barrieren, die Klassenschranken für Arbeiterkinder und den Nachwuchs aus Familien mit Migrationshintergrund gleichen. »Das Modell der ›Meritokratie‹ übersieht, dass nach der Senkung materieller und institutioneller Zugangsschranken immer noch

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mächtige Mechanismen wirksam sind, die die Kinder nach ihrer Herkunft in das dreistufige Bildungs- und Berufssystem lenken.« (Vester 2013: 40) Vereinzelte Bildungsaufsteiger*innen aus unteren Schichten stellen die soziale Selektivität des Schulwesens nicht in Frage, sondern legitimieren es durch ihren Erfolg, den sie überwiegend der eigenen Leistung oder herausragenden individuellen Fähigkeiten zuschreiben (vgl. El-Mafaalani 2012: 313ff.).

2. Schuldzuweisung an die Betroffenen: Armut durch Bildungsdefizite? Jutta Allmendinger (1999) führte mit »Bildungsarmut« einen mehrdeutigen und missverständlichen Begriff in die Fachdebatte ein, der schnell Karriere machte. Durch die Verbindung mit dem Armutsproblem werden Bildungsdefizite zwar als »gesellschaftlich inakzeptabel« gebrandmarkt, wie Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann (2019: 4) bemerken, aber in folgenschwerer Weise auch Ursache und Wirkung vertauscht. Armut verhindert Bildung, wie Gerda Holz (2008) betont. Umgekehrt gilt diese Feststellung keineswegs uneingeschränkt: Selbst ein Hochschulabschluss schützt längst nicht mehr vor Armut. Das beweist die Existenz obdachloser Akademiker*innen auf den Straßen, öffentlichen Plätzen und Parkf lächen der Bundeshauptstadt, über die Ulrich Gineiger (2007) berichtet, ebenso wie die relativ hohe Anzahl erwerbsloser, prekär beschäftigter und mittelloser Wissenschaftler*innen. ›Bildungsarmut‹ reduziert das Armutsproblem auf die mangelnde bzw. mangelhafte Schul- und/oder Ausbildung, d.h. eine wichtige, aber eben nicht ausschlaggebende Lebenslagendimension, und suggeriert darüber hinaus, dass materielle Unterversorgung in Bildungsdefiziten der einzelnen Person begründet liegt. Kinder aus sozial benachteiligten Familien gehören zwar zu den größten Bildungsverlierern (vgl. dazu: Quenzel/Hurrelmann 2019), ihre Armut basiert jedoch selten auf falschen oder fehlenden Schulabschlüssen, denn die Letzteren sind höchstens Auslöser und Verstärker, aber nicht Verursacher materieller Not. Bildungsdefizite führen allerdings oft zu einer Verfestigung der Armut, weil die Chancen eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt und Berufskarrieren heute immer

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stärker an Kompetenzen gebunden sind, die man an (Hoch-)Schulen erwirbt. Armut, d.h. in einer kapitalistischen Wohlstands- und Konsumgesellschaft wie der unseren primär: Mangel an Geld, (sicherem) Einkommen und Vermögen, zieht neben finanziellen Schwierigkeiten (Überschuldung) fast zwangsläufig Unterversorgungsprobleme in fast allen Lebensbereichen der davon Betroffenen nach sich, etwa im Wohnen und Wohnumfeld, im Gesundheitsbereich, im Kultur- und Freizeitbereich sowie auch und gerade im Bildungsbereich. Zwar ist es skandalös, dass die Kinder aus sozial benachteiligten Familien erheblich geringere Bildungschancen haben als die Zöglinge der besonders Gutsituierten und auf diesem für ihren ganzen Lebens- und Berufsweg zentralen Feld hierzulande stärker diskriminiert werden als in fast allen übrigen entwickelten Industriestaaten, wie der internationale Schulleistungsvergleich PISA 2000 (Baumert u.a. 2001; Baumert u.a. 2006) bestätigte. Wenn man so tut, als führten ausschließlich oder hauptsächlich mangelnde Bildungsanstrengungen zu materieller Armut, fällt jedoch ausgerechnet den Betroffenen im Sinne eines individuellen Versagens (der Eltern) die Verantwortung dafür zu, während ihre gesellschaftlich bedingten Handlungsrestriktionen und die politischen Strukturzusammenhänge aus dem Blick geraten. Bildungsbeteiligung für die einen und Bildungsbenachteiligung für die anderen Kinder ergeben sich aus der Tendenz zur sozialen Polarisierung. Markus Fels kommentierte die ersten Ergebnisse einer UNICEF-Studie, die unter dem Titel »Zur Lage der Kinder in Deutschland« (Bertram 2008) veröffentlicht wurde, als er im Rheinischen Merkur (v. 27.3.2008) schrieb: »Geld allein garantiert nicht, dass die Lebenslage von Kindern zufrieden stellend ist.« Dies ist mehr als banal, und das Gegenteil hat meines Wissens noch nie jemand behauptet. Vielmehr weiß jede*r Beobachter*in, dass es auch manche Fehlentwicklung, Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern gibt, die in gutsituierten Elternhäusern aufwachsen. Allerdings ist das Risiko, unter Bildungsdefiziten, der mangelnden Zuwendung von Erwachsenen bzw. Gleichaltrigen und/oder gesundheitlichen Einschränkungen zu leiden, für ein armes Kind signifikant höher als für ein Kind aus gehobenen Schichten. Eben diesen strukturellen bzw. Kausalzusammenhang verschleiern Statements wie das von Fels. Natürlich ist Armut mehr als ein Mangel an Geld, der durch finanzielle Zuwendungen behoben werden könnte. Politiker*innen heben

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dies immer wieder hervor, womöglich deshalb, um es nicht für ihre Bekämpfung verwenden zu müssen. Armut schlägt sich auch nicht bloß als chronisches Minus auf dem Bankkonto oder als gähnende Leere im Portemonnaie nieder. Denn sie führt zu vielfältigen Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und Belastungen, etwa im Bildungs-, Kultur- und Freizeit- wie auch im Wohn- und im Gesundheitsbereich. Dieser Umstand hat es materiell besser gestellten Schichten immer schon erleichtert, die Armen nach dem Motto ›Geld macht ohnehin nicht glücklich‹ regelrecht zu verhöhnen, verleitet darüber hinaus jedoch heute noch manche Kommentatoren dazu, Armut zu subjektivieren, zu individualisieren bzw. zu biographisieren und sie auf Sozialisations- bzw. Kulturdefizite oder die ›Bildungsferne‹ der Betroffenen zurückzuführen. Arme werden häufig auf ihre (angeblichen) Bildungs- und Kulturdefizite reduziert, die sie vermeintlich daran hindern sozial aufzusteigen. Der frühere Handelsblatt-Chefredakteur und Bestseller-Autor Gabor Steingart (2006: 257) charakterisiert den heutigen Unterschichtangehörigen folgendermaßen: »Er besitzt keine Bildung, aber er strebt ihr auch nicht entgegen. Anders als der Prolet des beginnenden Industriezeitalters, der sich in Arbeitervereinen organisierte, die zugleich oft Arbeiterbildungsvereine waren, scheint es, als habe das neuzeitliche Mitglied der Unterschicht sich selbst abgeschrieben. Selbst für seine Kinder unternimmt es keine allzu großen Anstrengungen, die Tür in Richtung Zukunft aufzustoßen.« Dieser historische Vergleich hinkt allerdings gewaltig, denn der frühe Industriekapitalismus bot dem aufstrebenden Proletariat ganz andere Möglichkeiten, sich als kollektiver Machtfaktor zu entfalten, als der Finanzmarktkapitalismus, in dem sich etwa das ›neue Prekariat‹ mehr oder weniger überf lüssig vorkommt. Kulturelle und Bildungsdefizite begründen entgegen solcher Halbwahrheiten, wie sie die oben zitierten Autoren verkünden, keine Armutskultur, sondern sind primär Folge materieller Entbehrungen. Die ideologische Entsorgung des Armutsproblems erfolgt im Feuilleton gewöhnlich mittels seiner Kulturalisierung, Psychologisierung und Pädagogisierung. Vor einer ›Therapeutisierung‹ der Problematik, die im öffentlichen bzw. Mediendiskurs über eine ›neue Unterschicht‹ angelegt ist, warnt denn auch Hans Weiß (2005: 183):

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»Darin werden Armut und Unterschichtszugehörigkeit und ihre Auswirkungen auf Kinder, abstrahiert von den sozioökonomischen Bedingungen, z.B. vom Zusammenhang mit Dauerarbeitslosigkeit, primär als Folge der Verhaltensweisen der betroffenen Menschen, ihrer ›Unterschichtskultur‹ betrachtet und damit letztlich ihnen die ›Schuld‹ für ihre Situation zugeordnet.« Michael Hartmann (2006: 207) bringt den genannten Diskurs mit der herrschenden Leistungsideologie in Verbindung und weist auf seine Funktion zur Rechtfertigung der bestehenden polarisierten Sozialstruktur hin: »Wenn die Unterschichten an ihrem Los letztlich selbst schuld sind, weil sie sich keine Bildung aneignen und einen undisziplinierten Lebenswandel führen, und die Eliten ihre Position ausschließlich ihrer individuellen Leistung verdanken, dann sind die Macht- und Einkommensverhältnisse in der Gesellschaft nur eine zwingende Folge der jeweils unterschiedlichen Anstrengungen der einzelnen Bürger und damit legitim.« Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik (2007: 82) schließlich weist darauf hin, dass diese Form der Analyse auch die Therapie determiniert: »Dort, wo es nicht um weitere Umverteilung von Geld, sondern um die mittel- und langfristige Änderung einer Kultur, also von Haltungen, Einstellungen und symbolisch artikulierten Lebensentwürfen geht, hat die Politik ihr Recht verloren und die Pädagogik als Praxis der Veränderung von Bildungs- und Aneignungsprozessen an Boden gewonnen.« Durch eine Blickverengung auf (gescheiterte) Bildungsbiographien sozial Benachteiligter und Abgehängter wird von den eigentlichen Wurzeln der Kluft zwischen Arm und Reich abgelenkt sowie einer Pädagogisierung, Subjektivierung bzw. Psychologisierung dieses Kardinalproblems der Gesellschaftsentwicklung bewusst oder ungewollt Vorschub geleistet. Durch eine Überschätzung der (immer noch wenigen) Bildungsaufstiege wird verkannt, dass sich im Schulwesen und im Hochschulsektor die Ungleichheiten der Gesellschaft reproduzieren (vgl. dazu: Jürgens/Miller 2013). Hieraus folgt allerdings nicht, dass es

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keine Handlungsspielräume für bildungs- und hochschulpolitische Akteur*innen gibt, Partei für sozial Benachteiligte zu ergreifen, das Ziel der Emanzipation zu verfolgen und nach mehr Gerechtigkeit zu streben.

Anmerkung 1 Ebenso wie die portraitierten Wissenschaftler*innen bin ich ein lebendes Beispiel dafür: Sohn einer alleinerziehenden Mutter, nichtehelich geboren und in einem Sauerland-Dorf aufgewachsen, wurde ich nach einem Umzug meiner stark durch eine Großtante (Beruf: Lehrerin) unterstützten Familie in Dortmund zum Gymnasium geschickt, machte Abitur und studierte anschließend Sozialwissenschaft (Diplom), Philosophie (M.A.), Psychologie und Rechtswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium war ich jahrelang erwerbslos und lebte von Arbeitslosenhilfe – Hartz IV gab es damals zum Glück noch nicht –, las in dieser Zeit viele Bücher und schrieb auch selbst welche. Akademisch gebildet, promovierte und habilitierte ich an der Universität Bremen, um erst mit 47 Jahren auf eine C4-Professur für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln berufen zu werden, wo ich bis zum Übergang in den (Un-)Ruhestand lehrte.

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Literarische Selbstzeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen zwischen Autobiographie und Sozioanalyse Julia Reuter Literarische (Selbst-)Zeugnisse – sei es in Form von Autobiographien, Tagebüchern oder Reiseberichten – haben in Disziplinen wie etwa in der Geschichte und Kulturanthropologie eine lange Tradition (vgl. Ploder/Stadlbauer 2013: 379). In der Soziologie ist diese Gattung vergleichsweise spät und recht zögerlich aufgenommen worden, wenngleich journalistische Reportagen, realistische Romane oder Selbstzeugnisse für die Entstehung der Soziologie durchaus von zentraler Bedeutung gewesen sind (Alkemeyer 2007: 10ff.) und spätestens seit Bourdieus Soziologischem Selbstversuch (2002) auch der Erkenntniswert autoanalytischer Selbstref lexionen unstrittig ist. Mit Didier Eribons Herkunftserzählung Rückkehr nach Reims (2016) scheint es zu einem neu erwachten Interesse an literarischen Selbstzeugnissen in der und für die Soziologie zu kommen. Das stark autobiographisch gefärbte Buch avancierte bereits kurz nach Erscheinen zum internationalen Bestseller und erfreut sich seitdem einer ungebrochenen Rezeption. Ein Grund hierfür liegt in der Verknüpfung von literarischer und wissenschaftlicher Selbst- und Gesellschaftsanalyse, vor allem im Hinblick auf die unheilvolle Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungschancen, aber auch von gesellschaftlichem Status, sexueller Orientierung und sozialer Scham, weshalb es insbesondere auch für eine intersektionale Ungleichheitssoziologie von analytischem Wert ist.1 Es steht zudem im Zentrum einer Erzählkultur, in der Personen des öffentlichen Lebens, die klassischerweise als ›Bildungsaufsteiger*innen‹ gelten, ihre Herkunftsgeschichte vor dem Hintergrund soziologischer Klassenanalysen ref lektieren und sich damit explizit wie implizit in der Tradition Pierre Bourdieus Programm

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einer ref lexiven Soziologie verorten. Neben Eribons Buch trifft dies etwa auch für die autobiographischen Romane der französischen Autor*innen und öffentlichen Intellektuellen Édouard Louis und Annie Ernaux zu, die die eigenen lebensgeschichtlichen Erinnerungen als ›Arbeiterkinder‹ zum Ausgangspunkt ihrer Romane nehmen.2 Immer geht es in den Lebensgeschichten um die Entlarvung des gesellschaftlichen Aufstiegsversprechens aus der Perspektive der Deklassierten und ihrem Insiderblick auf die Lebenswelt eines abgehängten (Arbeiter*innen-)Milieus. Auch wenn die Bücher von Eribon, Louis und Ernaux größtenteils als Familienprosa angelegt sind, können sie zugleich als Sachbücher gelesen werden, in denen genuin soziologische Themen behandelt werden, wie etwa die Analyse der Mechanismen und Strukturen symbolischer Klassengewalt, des politischen Mentalitätswandels der Arbeiter*innen im Postfordismus oder der Reproduktion sozialer Ungleichheiten durch das Bildungssystem. Zugleich offenbaren sie in ihrer autobiographischen Erzählweise eine andere Form soziologischer Auf klärung, da durch die vermeintliche Unmittelbarkeit der subjektiv geschilderten Lebenseinstellungen und -gefühle ein scheinbar ›authentischeres‹ Bild gesellschaftlicher Verhältnisses aus dem Innenleben eines Milieus gezeichnet wird, das selten selbst Zeugnis ablegt. Ausgehend von einer Skizzierung der prominenten Herkunftserzählungen von Eribon, Louis und Ernaux in der Nachfolge von Bourdieus berühmten Soziologischen Selbstversuch diskutiere ich, welchen Beitrag diese Selbstzeugnisse zur Soziologie sozialer Ungleichheiten leisten. Dabei geht es neben der Frage, welche (neuen) Perspektiven und Inhalte die Milieuschilderungen von Insidern transportieren, vor allem um die Frage, inwiefern sie durch ihre literarisierte Form in epistemischer Hinsicht neue Möglichkeiten eröffnen, eine Soziologie sozialer Ungleichheiten zu betreiben.

1. Literarische Schamoffensiven: Bildungsaufstieg und Herkunftsscham als Motiv Eribons Rückkehr nach Reims erregt bereits kurz nach Erscheinen 2009 große öffentliche Aufmerksamkeit, die mit den Übersetzungen in den Folgejahren nicht abebbt. Insbesondere die autobiographischen Passagen wecken ein besonderes Interesse, wenngleich Eribon selbst sein Buch als »Soziologische Autoanalyse« und gerade nicht als klassische

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»Autobiographie« verstanden wissen will (vgl. hierzu auch Prager 2018: 1). Eribon will damit deutlich machen, dass Rückkehr nach Reims nicht nur (s)eine biographisch gefärbte Coming of Age-Geschichte als homosexuelles Arbeiterkind ist, sondern auch ein ›Lehrstück‹ für die Systematik der sozialen Reproduktion französischer Klassenverhältnisse. Es geht ihm nicht so sehr um die extensive Entfaltung einer persönlichen Lebensgeschichte, sondern um das Nachvollziehen sozialer (Klassen-) Gesetzmäßigkeiten als Voraussetzung seiner Lebensgeschichte und Erinnerung derselben. Eribon beschreibt in seinem Buch u.a., wie er als Kind eines Fabrikarbeiters und einer Putzfrau in der Schule immer wieder die Erfahrung macht, dass er trotz sehr guter Leistungen durch sein »unbürgerliches« Auftreten und seine Ausdrucksweise mit dem Schulsystem in Konf likt gerät. Er ist frech und respektlos den Lehrer*innen gegenüber und entgeht durch sein widerspenstiges Verhalten im Unterricht nur knapp einem Schulverweis. Nicht unbedingt die fachlichen, sondern die sozialen Anforderungen des Schulbetriebs und im Fortgang der akademischen Welt bereiten ihm Schwierigkeiten und geben ihm das Gefühl, aufgrund seines herkunftsbedingten Habitus »irgendwie fehl am Platz« zu sein (Eribon 2016: 160).3 Eribon muss einen langen, schmerzhaften Transformationsprozess in Kauf nehmen, um den Bildungsaufstieg, der auch ein sozialer Aufstieg ist, zu meistern. Denn die Entscheidung für die Welt der Bildungsbürger*innen bedeutet gleichzeitig die Entfremdung von und Scham gegenüber der Welt seiner eigenen Familie. Die Entwicklung zum Intellektuellen ist für Eribon nur dadurch möglich, dass er vollständig verlernen musste, was er ursprünglich gewesen war (ebd.: 158f.) und seine Familie verleugnet (vgl. hierzu auch Reuter/Berli 2017). Es ist eine Transformation, die Eribon in seinem Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil (2017) gleich zu Beginn als Motiv aufgreift und am Beispiel des von ihm ausgesuchten Bildes seines Buchcovers zu Rückkehr nach Reims noch einmal ref lektiert: Es handelt sich um eine Schwarz-weiß-Fotographie, die Eribon als Jungen zeigt, und aus der der Vater von ihm herausgeschnitten wurde. Eribon wollte damit ausschließen, dass sein Transformationsprozess als Person durch die Entdeckung potenzieller Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinen Vater annulliert würde: »dass man, indem man meinen Vater betrachtete, sehen konnte, woher ich kam und wie meine Familie vor meiner Flucht und Verwandlung ausgesehen hatte; dass die gesamte soziale und also physische Distanz,

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die ich zwischen ihm und mir hergestellt hatte, gelöscht würde; dass die Jahre der Arbeit an mir selbst, in denen ich diesen Abstand, diese Kluft überhaupt erst hatte herstellen können, dass das Verwischen aller Spuren des Gestern auf meinem Weg zu meinem Heute ruiniert werden würde« (Eribon 2017: 35). Eribon überschreibt das Kapitel mit dem Begriff »Hontoanalyse« und deutet damit an, dass es ihm um die Analyse der ›inneren Wahrheit‹ geht. Unter Hontoanalyse versteht er eine Form der Selbstanalyse, die versucht, auch darüber nachzudenken, welche Dinge beim Erzählen über das eigene Leben ausgewählt und welche – aus Scham – ausgelassen wurden. Es ist eine Art Beobachtung zweiter Ordnung und unterscheidet sich auch darin von einer klassischen Autobiographie. Eine wichtig literarische wie intellektuelle Weggefährtin Eribons ist die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Ihre autobiographische Romantrilogie, zu der neben dem jüngst neu erschienenen Roman Erinnerungen eines Mädchens von 1974 (2018) auch das 1983 erstmals erschienene Buch Der Platz (2019) und Die Jahre (2017) zählt, behandelt ausgewählte, v.a. schambesetzte Erinnerungen und Erlebnisse aus ihrem Leben als Kind einfacher Krämerladenbesitzer*innen im Küstenort Yvetot. Ernaux, mittlerweile die Grande Dame des französischen Literaturbetriebs, begreift ihre Arbeiten als ein Erinnerungsprojekt, in dem die Bücher Anlass und Medium sind, um sich ihrer eigenen Scham – die sie etwa als ›Mädchen‹ angesichts der ersten sexuellen Begegnungen mit Männern, aber auch als Kind proletarischer Eltern empfunden und die sich als Scham in ihren Körper eingebrannt hat – zu stellen. Wie Eribon braucht sie für deren Überwindung Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, denn es ist keine individuelle Scham, gegen die sie ankämpfen muss, sondern eine historische Scham – die Scham einer ganzen Generation. Anhand einzelner von ihr beschriebener privater Familienfotographien, die die einzelnen Kapitel des Buches rahmen, unternimmt sie etwa in Die Jahre eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit, die immer mit der gesellschaftlichen Epoche – ihren politischen Ereignissen, Bildungsreformen, Protestbewegungen, Sprichwörtern und Redensarten, popkulturellen Phänomenen usw. – verbunden wird. Aufgrund dieser materialiendurchtränkten Arbeitsweise wird Ernaux nicht selten als Ethnographin ihrer Selbst bezeichnet (vgl. Sojitrawalla 2019). Im Buch erzählt sie ihre eigene (Aufstiegs-) Geschichte, vom Arbeiterkind zur Mittelschichtsjugendlichen zur Ab-

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iturientin, zum Au-Pair in England, zur Studentin, Ehefrau und berufstätigen Mutter im Schuldienst, zur geschiedenen Exfrau, die einen Geliebten hat, und allein mit ihren beiden Söhnen vor den Toren Paris lebt, zur Oberstudienrätin mit höchster Besoldungsstufe, zur Pariser Intellektuellen, im Spiegel raumzeitlich situierter gesellschaftlicher Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Eine Besonderheit des Romans ist, dass Ernaux anders als Eribon konsequent auf eine Ich-Erzählerin verzichtet und stattdessen im schnörkellosen Berichtston (Radisch 2018) aus der Perspektive einer (Frauen-)Generation schreibt, in dem sie von ›uns‹ und ›wir‹ spricht, manchmal auch ›man‹ verwendet (Schwartz 2017). Das unterscheidet ihr Schreiben von Eribon, dessen ›Ich-Erzähler‹ zwar in die Ursprungswelt(en) eintaucht, aber ohne die Zeitumstände und die historisch gesellschaftlichen Kontexte explizit zu fokussieren (Wagner-Egelhaaf 2005: 6f.). Hier arbeitet Ernaux konsequent kollektivbiographisch, wenngleich sie nicht an einer ›quantifizierbaren‹ bzw. vergleichenden Analyse von Gruppenbiographien interessiert ist, wie es eine stärker sozialwissenschaftliche Methodologie von Kollektivbiographie nahelegen würde (vgl. Schröder 2011: 8). Ihr Ausgangspunkt bildet das Subjekt – nicht das Kollektiv –, von dem aus sie assoziative Verknüpfungen zum gesellschaftlichen Zeitgeschehen macht, wie sie immer wieder verdeutlicht, wenn sie z.B. auf die »Merkmale einer Epoche« hinweist, auf das »[w]as die Leute gesagt, wie sie Ereignisse und Dinge kommentiert haben«, »das Hintergrundrauschen, das pausenlos formuliert, wie wir sein sollen, was wir denken, glauben, fürchten« (Ernaux 2017: 252). Das Gefühl der Scham taucht immer dann auf, wenn sich die Erzählerin darüber bewusst wird, dass bestimmte Gefühle, Einstellungen, Ideale außer Gebrauch kommen – weil die Jahre und damit auch die Moden gewechselt haben, aber natürlich auch, weil sich mit jeder Stufe des sozialen Aufstiegs nicht nur die Position, sondern auch die Perspektive verändert hat: »Plötzlich lebte man in einer anderen Zeit« (ebd.: 203) und schämt sich für das Denken und Handeln der Vergangenheit, weil es in der Rückschau »wertlos« oder »naiv« und »lächerlich« erscheint. So lassen sich Herkunftsscham und Bildungsaufstieg als Bedingungsverhältnis charakterisieren. Soziale Scham und Klassengegensätze sind auch die Themen, die im literarischen Debütroman von Édouard Louis eine zentrale Rolle spielen. Louis, der Eribon 2010 als Student auf einer Lesung kennenlernt und seitdem ein enger Freund und Vertrauter von ihm ist, schreibt inspiriert von Rückkehr nach Reims seine eigene Aufstiegsgeschichte.

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Das Ende von Eddy erscheint 2014 und erzählt von der Kindheit und Jugend des homosexuellen Arbeiterkindes »Eddy Bellegueule« (so lautet Louisʼ Geburtsname, den er später ablegt) in der nordfranzösischen Provinzgemeinde Hallencourt. Eddys Leben gleicht einem ›Spießrutenlauf‹, denn das Leben im Dorf in der Picardie an der belgischen Grenze ist für den schmächtigen und weder an Mädchen noch am körperlichen Kräftemessen und Alkohol interessierten Jungen, der lieber Theater spielt und liest, ein Ort der ewigen Demütigung und Schande, aus dem ihm nur die Flucht als Ausweg bleibt. Nachdem erste Fluchtversuche scheitern, gelingt es ihm schließlich mit Hilfe der Schulleiterin, die sein schauspielerisches und literarisches Talent entdeckt und fördert, das Dorf zu verlassen, um Abitur in der nächstgelegenen Departmenthauptstadt auf einem Internat zu machen. Von da an geht es für Louis steil bergauf: Nach seinem Schulabschluss in Amiens studiert er Soziologie an der Pariser Elitehochschule École Normale Superieur, verfasst eine Biographie über Bourdieu und seinen ersten Roman, der prompt ein Bestseller wird. Louis, der bei Erscheinen von Das Ende von Eddy gerade einmal 22 Jahre alt ist, liefert zunächst also keine ›soziologische Analyse‹, sondern schreibt einen autobiographischen Roman, der aufgrund seiner sprachgewaltigen Bilder von der Gewalttätigkeit, Ungebildetheit, Schwulenfeindlichkeit und den Rassismus des prekären Arbeitermilieus einer Gesellschaftsbeobachtung gleicht. Nicht umsonst wird auch sein Buch nicht nur in der Literatur- und Medienwelt, sondern auch in der Soziologie längst zitiert (vgl. Farzin 2017: 375) und Louis mit akademischen Weihen bedacht: So war er u.a. Fellow am Dartmouth College in den USA und Gastprofessor an der FU Berlin. Mittlerweile hat er zwei weitere Romane verfasst, davon einen, der sich wieder explizit mit der Geschichte seiner Herkunft beschäftigt: Anders als noch in seinem Debütroman versucht Louis in seinem jüngsten Buch Wer hat meinen Vater umgebracht (2019), die Gewaltausbrüche seines Vaters, denen er wie auch die gesamte Familie ausgesetzt war, durch die gesellschaftlichen Umstände zu erklären. Es ist – womöglich auch dem zeitlichen Abstand des Autors zu den Erlebnissen geschuldet – verzeihlicher als der Erstroman, der noch die ganze Wut und Scham über die verbale, körperliche wie emotionale Gewalt des Herkunftsmilieus widerspiegelt.

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2. Literarische Selbstzeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen in der Tradition Pierre Bourdieus Die Beschäftigung mit sozialen Ungleichheiten zählt bis heute zum ›Kerngeschäft‹ der Soziologie. Pierre Bourdieu, einer der bekanntesten Soziologen weltweit, hat die Strukturen einer klassenförmig verfassten Gesellschaft interessanterweise immer wieder am Beispiel der Bildung aufgezeigt – zum einen, weil seiner Ansicht nach sich die Kämpfe um Kapitalien, Anerkennung und gesellschaftliche Partizipation in Schulen und Hochschulen wie in einem ›Brennglas‹ besonders anschaulich studieren lassen, zum anderen, weil er als Arbeiterkind in den Bildungseinrichtungen selbst Ausgrenzungen und Demütigungen erfahren hat, die ihn als ›Außenseiter‹ besonders wachsam und sensibel für unterschiedliche Varianten eines herkunftsbezogenen ›Bildungsrassismus‹ machen. Es sind die schmerzhaften und konf likthaften Erfahrungen, die Bourdieu später als Soziologe als epistemologische Chance nutzt (Rieger-Ladich 2018: 387f.), um seinen Wirklichkeitssinn zu schulen und die Welt des Sozialen auf eine bestimmte Art und Weise zu betrachten (Bourdieu 2001: 103). In seinem Buch Ein soziologischer Selbstversuch, das zugleich eine Zusammenfassung seiner letzten Vorlesungsreihe am Collège de France ist (Schultheis 2002: 133), gibt Bourdieu zwar persönliche Erfahrungen mit dem französischen Bildungssystem preis, allerdings bettet er sie in eine ausführliche Skizze der Struktur des wissenschaftlichen Feldes, in dem er als (Nachwuchs-)Wissenschaftler sozialisiert wurde, ein. Bourdieu geht es weniger um eine Auf-, geschweige denn Verarbeitung der eigenen Schulkarriere und Herkunftsgeschichte, als vielmehr um Ref lexion der Situiertheit des eigenen Wissens und seine Verstrickung in die soziale Welt, die er als erkennendes Subjekt beforscht. Sein Selbstversuch ist folglich weniger autobiographische Herkunftsgeschichte denn Mentalitäts- und Wissenschaftsgeschichte (Rieger-Ladich 2018: 389). Entsprechend ist das Buch trotz Rekurs auf biographische Daten deutlich ›anti-autobiographischer‹ als etwa Eribons angelegt, was sich nicht zuletzt auch im Sprachduktus ausdrückt, der weithin einem wissenschaftlichen Stil verpf lichtet bleibt. Bourdieus Zielsetzung ist es, das Programm einer »teilnehmender Objektivierung« (Bourdieu 2004) auf sich selbst anzuwenden. Darunter versteht Bourdieu eine methodologische Strategie, die den/die Beobachter*in nicht als außenstehende/n Fremde/n ausweist, sondern

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als Feldteilnehmer*in – als endoskopische Beobachter*in, dessen/deren Beobachtung immer seiner/ihren im Feld sozialisierten Beobachtungsweise entspringt. Zwar erfahren die Leser*innen auch etwas über Bourdieus Heimatdorf Béarn nahe der französischen Pyrenäen, das durch Landwirtschaft geprägte einfache Dorf leben, seine proletarischen Eltern und ihre alltäglichen Verrichtungen, Bourdieus ›Karriere‹ im örtlichen Schulsystem und entfernteren Internat, seinen Zwist mit den Mitschülern und Lehrer*innen und seine Vorliebe für Rugby und andere ›männliche Sportarten‹, die in der Arbeiter*innenklasse besonders beliebt waren/sind. Aber diese Passagen, die zudem recht spät in seinem Buch angesiedelt sind, nehmen einen verhältnismäßig kleinen Raum ein. Bedeutungsvoller als die familiäre Sozialisation, seine soziale und religiöse Zugehörigkeit und Affinität erscheint ihm seine spätere Sozialisation im professionellen Feld, im Feld der Soziolog*innen, Philosoph*innen oder Anthropolog*innen, die ihn als erkennendes Subjekt hervorbringt. Insofern nimmt die Rekonstruktion des »akademischen Unbewussten« (ebd.: 177) in seinem Selbstversuch den weitaus größeren Raum ein als die Rekonstruktion der Denktraditionen und Klassifikationsschemata der Herkunftsfamilie.4 Bourdieus Selbstthematisierung als Bildungssubjekt und erkennendes Subjekt erscheint für einen Soziologen, der als einer der herausragendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts gilt (Schultheis 2019: 9), auf den ersten Blick ungewöhnlich. Allerdings sind Herkunftserzählungen von Gelehrten in Frankreich ein Genre mit Tradition (Cammann 2017), das mit Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Paul Nizan prominente Vorbilder hat. Es sind im Übrigen jene Autoren, die Eribon in seiner Rückkehr nach Reims zitiert, wenngleich er durch den weithin eingehaltenen Verzicht von Fachsprache, Anmerkungsapparat und Quellenverzeichnis darauf bedacht ist, gerade kein im strengen Sinne ›wissenschaftliches‹ Werk vorzulegen, da es genau das ist, was er selbst an Bourdieus Selbstversuch kritisiert: Die gesamte Form, die Bourdieus Werk angenommen habe, blieb für Eribon zu sehr einem wissenschaftlich-soziologischem Habitus verhaftet, der durchgängig durch die Opposition von Maskulinem und Femininem sowie der Opposition von ästhetischer und soziologischer Analyse strukturiert sei (vgl. Eribon 2016: 156f.). Rückkehr nach Reims ist schon deshalb nicht als soziologische Studie zu verstehen, weil Begriffe nicht systematisch hergeleitet und erklärt werden und die autobiographischen Elemente im Vordergrund stehen bzw. die wichtigste Quelle für seine analyti-

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schen Schlussfolgerungen bleiben. Auch geht Eribon selbst immer wieder bewusst auf Distanz zur Soziologie als Profession bzw. zum soziologischen Sprechen und Schreiben, vermutlich auch deshalb, weil seine eigene professionelle Sozialisation vor allem in der Philosophie stattfand und später durch seine jahrelange Tätigkeit als Journalist und Biograph bestimmt wurde. Als ›Spätberufener‹ könnte man ihn durchaus als unkonventionellen Soziologen bezeichnen, der den maskulinistischen und klassenbedingten Kategorien, mit denen sich die Soziologie von anderen Disziplinen absetzt (Eribon 2016: 157), zeitlebens kritisch gegenüberstand und sich – angelehnt am Programm einer »Ref lexiven Anthropologie« (Bourdieu/Wacquant 2006) – immer auch als Soziologen der Soziologie verstand. Im Unterschied zu Bourdieu betont er aber, dass auch wissenschaftliche Disziplinen ein Geschlecht haben und folglich auch professionelle Autoanalysen einer bestimmten sexuellen Matrix verpf lichtet sind.

3. Aufsteiger*innenbiographien als Denk- und Mahnmal sozialer Ungleichheit Der anhaltende und z.T. internationale Erfolg der Aufsteiger*innenbiographien zeigt, dass die Thematik herkunftsbedingter Chancenungleichheiten auch 40 Jahre nach Bourdieus Analyse der »feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982) einen wunden Punkt berühren. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und nach Klassenunterschieden, die über kulturelle Ausschlussmechanismen wirken, spielen immer noch eine zentrale Rolle im öffentlichen Bewusstsein. Die Autor*innen sind ja selbst das beste Beispiel dafür, dass Klassengrenzen trotz Alter oder erreichter Position weiterhin bestehen, – wenn auch ›nur‹ im Empfinden der Betroffenen: Die Herkunftsscham wirkt wie ein lebenslanger Stachel, der selbst jene, die den Aufstieg geschafft haben und möglicherweise stolz und selbstbewusst auf ihre Lebensleistung blicken könnten, über ihren Aufstieg eher schweigen denn reden lässt.5 Dieses Schweigen wirkt bis in die Literatur hinein, denn autobiographische Selbstzeugnisse von Aufsteiger*innen sind – trotz der angeführten Bucherfolge – nach wie vor selten: Eribon, Ernaux und Louis sind Ausnahmen im Literaturbetrieb. So kommt ihren Texten auch im materiellen Sinne eine besondere Funktion zu; sie repräsentieren ein seltenes Dokument gelebter Klassengeschichte, quasi als eine Art Denk- oder Mahnmal. In

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diesem Sinne werfen Aufsteiger*innenbiographien die Frage auf, wer überhaupt berechtigt ist, biographisch Zeugnis abzulegen bzw. wer die Möglichkeiten und Mittel dazu hat, sein Leben und/oder seine Erinnerungen daran zu dokumentieren.6 Denn »[i]n Arbeiterfamilien gibt es kein Familiengedächtnis« u.a. weil hier »eine große Abwesenheit von Dokumenten und Spuren« (Eribon 2017: 154f.) herrscht. Arbeiter*innenfamilien, so bemerkt Eribon, besäßen in der Regel keine Bücher, Orte, Gegenstände oder gar »ehrwürdige Namen«, die mit fundamentalen sozialen und politischen Institutionen verbunden seien, mit denen sich der Stammbaum der Familie, ihre Geschichte weit zurückverfolgen ließe. Erst Memoiren, Biographien, Tagebücher, Selbstzeugnisse, Archivalien o.ä. würden eine bestimmte Beziehung zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – oder anders formuliert: die Möglichkeit der Erinnerung und einer bestimmten Art des Selbstbezugs – ermöglichen (Eribon 207: 182). All dies sei, wie Eribon am Ende seiner Spurensuche in den wenigen Hinterlassenschaften seiner eigenen Familie feststellen muss, ein Privileg der herrschenden (bürgerlichen) Klassen.7 Eribon bringt dieses Wechselspiel von Enteignung und ungleicher Geschichtsschreibung auf den Begriff der Gedächtnispolitik, den er nicht zufällig am Ende seines Nachfolgebuches Gesellschaft als Urteil entwickelt. Er knüpft damit eine von Zeit zu Zeit auf keimende Diskussion über die ›Macht der Geschichte‹ an, die zu gern aus der Perspektive bedeutender historischer Einzelpersönlichkeiten erzählt wird und subalterne Gruppen und ihre Erfahrungen – zu denen neben Frauen und Indigenen auch (Klein)Bäuer*innen und Arbeiter*innen gehören – marginalisiert (vgl. für eine Kritik an hegemonialer Geschichtsschreibung: exempl. Kaltmeier 2012). Möchte man die Bedeutung der Selbstzeugnisse Eribons und seiner Weggefährten positiv umschreiben, ließe sich dies anhand dreier wesentlicher Merkmale ihrer Arbeiten verdeutlichen: Erstens geht es sowohl Eribon als auch Louis und Ernaux darum, ›unterdrückte‹ Kollektive, die in der Gesellschaft durch bestimmte Positionierungen festgelegt sind, selbst zu Wort kommen zu lassen. Zweitens zeigen ihre Werke, dass sie entgegen einseitiger Fixierung auf bestimmte biographische Merkmale und einzelner Lebensphasen den Lebenslauf von Personen als Ganzes – in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und sozialen Einbindung – thematisieren (vgl. hierzu auch Schröder 1985: 8). Drittens geht es ihnen darum, die Erinnerungen als Arbeiterkind, die häufig unter »Scham begraben« sind, zu würdigen – gewissermaßen

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ein »entschämtes Gedächtnis« zu ermöglichen (Eribon 2016: 233). Eine solche Perspektive ließe sich durchaus an postkoloniale Überlegungen zur zum Schweigen verurteilter Subalterner anschließen, die Spivak in ihrem berühmte Essay Can the Subaltern speak? (1988) auch als Schwierigkeiten der Übersetzung und Repräsentation anspricht. Denn selbstverständlich sprechen hier nicht Arbeiterkinder im eigentlichen Sinne, sondern Autor*innen, die bereits massiv vom intellektuellen Leben des Pariser Kulturbetriebs transformiert wurden – es sind Autor*innen, die aufgrund ihrer heutigen gesellschaftlichen Position zumindest theoretisch auf ›maximale Distanz‹ zu den eigenen Erfahrungen als Arbeiterkind gehen können. Es ist die Sprecherposition des Fremden, der durch die Distanz, sowohl zum Herkunftsmilieu als auch zur neuen Ankunftswelt, einen gespaltenen Habitus besitzt, der ihm einen fundamentalen Ref lexivitätsgewinn gegenüber allen anderen ermöglicht (Spoerhase 2017: 28).8 Nichtsdestotrotz ist Eribons Anliegen – und auch das seiner Mitstreiter*innen – nicht nur für sich allein, sondern für ein Kollektiv zu sprechen. Denn in ihren öffentlichen Solovorstellungen wie gemeinsam inszenierten Auftritten geht es längst nicht nur um die eigenen Bücher, sondern um sämtliche Themen des öffentlichen Lebens, die sich um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, insbesondere um die Deklassierung der Arbeiter*innenklasse drehen. So ist ihre öffentliche (Dauer-)Präsenz möglicherweise auch der Überlegung geschuldet, die Deutung bzw. Rezeption der eigenen autobiographischen Zeugnisse nicht allein den ›anderen‹ – etwa den bürgerlichen Eliten aus dem Wissenschafts- und Kulturbetrieb – zu überlassen.8

4. Die Macht der Repräsentation sozialer Ungleichheit Eribon, Louis und Ernaux erheben mit ihren Selbstzeugnissen den Anspruch, über die persönliche Schilderung ihrer Erlebnisse hinaus eine möglichst genaue Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse zu liefern. Und diese Beschreibung ist insofern informativ, da sie viele Elemente der widerfahrenen Gewalt darzustellen vermag, die mit Hilfe soziologischer Strukturmodelle sozialer Ungleichheit nur schwerlich abgebildet werden können: Verbale Vergewaltigungen, emotionale wie körperliche Unterwerfung, psychische Armut, oder sexuelle wie soziale Scham sind in den Klassen- und Schichtmodellen der soziologischen Ungleichheitsforschung nicht wirklich darstellbar. Insbesondere Er-

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naux sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, die eigene Herkunftsscham so in Worte zu fassen, dass sie neben der Historizität auch die Position und Perspektive der Betroffenen mittransportiert. Schließlich geht es ja gerade auch darum, dass die Opfer nicht nur unter der tatsächlich erlebten Gewalt, sondern auch unter den Kategorien und Klassifikationen der offiziellen Statistiken und Sozialberichterstattungen leiden: Ernauxs Erinnerungen an ihre Jugendjahre werden ja genau dadurch so unerträglich, weil sie die sexuellen Erlebnisse in der Ferienkolonie erst im Nachhinein als Vergewaltigung bzw. Unterwerfung und eigene Unmündigkeit deutet. Es sind aber nicht zwangsläufige eigene, sondern gesellschaftliche Urteile, die sie fällt bzw. die über sie gefällt werden. Dies weist auf zwei grundsätzliche Aspekte der hier besprochenen Selbstzeugnisse hin: Einerseits auf die Frage, inwiefern die Arbeiter*innenklasse bzw. unterprivilegierte Schichten überhaupt Einf luss auf die Regeln des Repräsentierens haben, diese verstehen, sich durch diese selbst diskriminiert fühlen und/oder Einf luss auf die weitere Nutzung dieser Darstellungen besitzen (Barlösius 2005, insb. 171). Und zum anderen, inwiefern literarische Modellierungen der Wirklichkeit – weil sie nicht im gleichen Maße wie soziologische Modellierungen formalen Zwängen unterworfen sind – die Möglichkeit eröffnen, über eine sinnlichere Sprache ein körperlich-praktisches Erkennen eben jener oftmals sehr körperlich-praktischen Machttechniken und Über-/ Unterlegenheitsgefälle zu befördern (Alkemeyer 2007: 24).10 Aber warum sollte man Literatur und Soziologie überhaupt gegeneinander ausspielen bzw. nur ihre Konkurrenzen betonen? Möglicherweise ergibt es mehr Sinn, die Selbstzeugnisse als Versuche einer ›narrativen bzw. performativen Soziologie‹ zu betrachten, ganz im Sinne Bourdieus berühmter Kollektivstudie Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997). Auch in diesem Werk stehen persönliche Lebens- und Leidenserfahrungen von Menschen im Fokus, die unter der strukturellen (Staats-)Gewalt leiden: Konkurrenzdruck in Schule und am Arbeitsplatz, Rassismus und Gewalt in der Nachbarschaft, finanzielle wie soziale Notlagen, Sozialabbau u.ä. lassen die Menschen an und in ihrem Alltag leiden. Die in der Studie gemachten Gesellschaftsbeobachtungen bleiben einer erzählenden Darstellung insofern verpf lichtet, als sie größtenteils die ungekürzten und wenig veränderten Narrationen der Betroffenen widergeben. Bourdieu et al. wählen für die Dokumentation des Elends der Welt ein interessantes Format, weil es geradezu untypisch für eine soziologische Studie ist: Das Buch ist eine

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Art Interviewreader, ein Dokument erlebter Alltagsgeschichte in Form von Narrationen. Es verzichtet weitgehend auf soziologische Fachsprache, ist mit mehr als 20 beteiligten Forscher*innen und 1000 Seiten ein echtes Kollektivprojekt; durch den Überhang an Interviewtranskripten (über 40), die lediglich von kurzen Einführungstexten und einem knappen Methodenteil im Anhang gerahmt werden, wirkt die Studie schon fast ›unwissenschaftlich‹. Und noch etwas ist anders als in herkömmlichen qualitativen Studien empirischer Sozialforschung: Die Interviewer*innen solidarisieren sich mit den Interviewten, sie sind z.T. auch befreundet oder verwandt, sie haben keine Scheu davor, sie zu bestärken. Es ist diese besondere Haltung, »nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen!« (Bourdieu et al. 1997: 13), die die Besonderheit dieser Forschung ausmacht.11 Doch diese Haltung stellt eine besondere Herausforderung dar, insbesondere dann, wenn die Lebensverhältnisse, über die geforscht und geschrieben wird, wenig bis keine Schnittmengen mit der eigenen Lebenswelt haben und die Handlungen ihrer Bewohner*innen eher Unverständnis, wenn nicht sogar Abneigung erzeugen. Man denke nur an Louisʼ Schilderung seines Elternhauses, das einer Ruine gleichkommt, in der im schimmelbefallenen Kinderzimmer der Putz von der Decke fällt. Sein Vater ist bereits mit 35 Jahren wegen eines Arbeitsunfalls Frührentner, Alkoholiker und verprügelt regelmäßig Frau und Kinder. Der Onkel, der zeitweise obdachlos ist, wird mehrfach betrunken auf der Straße aufgegriffen. Und auch die Jugendlichen des Ortes erleben bereits in jungen Jahren ihren ersten eigenen Vollrausch, schauen Pornos und haben mit elf Jahren sexuelle Kontakte – Louis sogar mit seinem eigenen Cousin. Louisʼ Schilderungen seines Herkunftsmilieus, das allein durch seine Gegenwärtigkeit (zur Erinnerung: Louis ist 1992 geboren) eine andere Präsenz hat als die Arbeiter*innenfamilien, aus denen Eribon und Ernaux stammen, weicht durch seine beinahe schon ›anomischen Zustände‹ von den meisten der in den sozialwissenschaftlichen Forschungen über Prekarisierung und Armut gezeigten Lebensverhältnissen ab. Es ist das Elend der Menschen, das eher selten in offiziell geförderten Forschungsprojekten seriös beforscht12 denn in medialen Formaten zur Belustigung ausgestellt wird. Schaut man etwa in die deutsche Fernsehlandschaft, wird man schnell fündig: Die Palette reicht von ausschließlich reißerischen Formaten, wie Hartz und Herzlich, Das Messie-Team, Raus aus den Schulden, Unterwegs zwischen Mut und Armut, Tee-

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nie-Mütter – Wenn Kinder Kinder kriegen, bis hin zu Langzeitfernsehdokumentationen, die zumindest den Anspruch verfolgen, den Betroffenen Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Dokumentation Asternweg – Straße ohne Ausweg, in dem die Bewohner*innen eines Straßenzugs aus Wohnblöcken mit Schlichtwohnungen13 aus den 1950er Jahren in Kaiserslautern porträtiert werden. Die Dokumentation, die 2015 auf VOX lief, wurde immerhin mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, wohl auch, weil durch die Hilfe des Fernsehteams vor Ort ein Stadtteil-Verein mit den Bewohner*innen gegründet wurde, der gemeinsam mit der Stadt Kaiserlautern die Lebensund Wohnsituation verbessert hat.14 Ein solches Format, möglicherweise könnte man vom ›engagierten Fernsehen‹ sprechen, wirft gleichermaßen wie eine ›engagierte Literatur‹ die Frage auf: Wo ist die Soziologie, die sich mit diesen prekären Milieus beschäftigt? Schließlich ist »Prekarität überall« (Bourdieu 1998b) und die Themen einer Soziologie sozialer Ungleichheit liegen damit im wahrsten Sinne des Wortes »auf der Straße«.15 Armut, Arbeitslosigkeit, soziale und psychische Isolation – es sind die Probleme, die ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft – und nicht nur die Französische – seit vielen Jahren betrifft. Dörfer und Gemeinden wie Hallencourt, Reims oder Yvetot, die Geburtsorte von Louis, Eribon und Ernaux, aber auch Stadtviertel wie der Asternweg mitten in Kaiserslautern gibt es überall. Einzig eine Soziologie sozialer Ungleichheit, so drängt sich der Eindruck auf, ist nicht überall.16 Das wirft heikle Fragen auf, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden können: Gibt es Berührungsängste, Verhaltensunsicherheiten oder Scham seitens der Professionellen gegenüber solchen Milieus? Trauen sie sich nicht, diese zu beforschen? Oder ist die Beforschung solcher Milieus für eine Soziologiekarriere heutzutage wenig reputierlich, befürchten sie gar, dass sie in gesellschaftlich exkludierten Milieus ›verschluckt‹ oder von ihnen intellektuell ›verwundet‹ werden (Schiek 2018: 52)?

5. Autobiographische Zeugnisse als engagierte Literatur, engagierte Literatur als öffentliche Soziologie Eribon, Louis, Ernaux äußern sich nicht nur als Literat*innen und/oder Soziolog*innen. Ihr Anliegen ist weitgefasster, denn sie treten als Personen in Erscheinung, die zu tagesaktuellen, gesellschaftlichen ›Gewalt-

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verhältnissen‹ in der Öffentlichkeit sprechen. Allen dreien geht es um ›engagierte Literatur‹, die sich in die Gesellschaft einmischt und durch ihre Anschaulichkeit, Sensibilität und ihre Konkretion eine andere Art des Erkennens und Begreifens gestatten. Das politische Engagement schließt Fachgespräche mit Wissenschaftler*innen, Podiumsdiskussionen in Talkshows oder Auftritte auf Kulturveranstaltungen ebenso ein wie Reden auf Demonstrationen. Durch ihr zum Teil untrennbar gemeinsames intellektuelles Schaffen und politisches Engagement – zum engsten Freundeskreis zählt auch der Philosoph de Lagasnerie – dekonstruieren sie das Klischee vom einsamen egozentrischen Intellektuellen und wirken dabei durch ihr zum Teil unprätentiöses Auftreten mit Jeans und T-Shirt zugänglicher als das Klischee vom graubärtigen Professor mit altmodischem Gelehrten-Habitus.17 Einige feiern das ›Trio‹ Eribon, Louis und Ernaux bereits als Wiedergeburt eines radikalen französischen linksintellektuellen Milieus, das man nach Sartre, Beauvoir und Foucault schon totgesagt hatte (Cammann 2017). Gleichzeitig transportieren sie mit ihren Analysen zur sozialen und strukturellen Gewalt der Klassengesellschaft ein anderes Soziologie-Verständnis: Soziologie, vor allem eine Soziologie sozialer Ungleichheit, muss keinesfalls so selbstbezüglich, ›neutral‹ oder bisweilen kompliziert daherkommen. Schließlich präsentieren ihre Werke soziologische Themen so, dass sie auch von einem ›nicht-soziologischen‹ Publikum gelesen, verstanden und debattiert werden können.18 Und was die von Ihnen gewählte Textgattung besonders hergibt: Sie geben durch den autobiographischen Charakter Themen wie Arbeitslosigkeit, Elend, Gewalt, Homophobie, Rassismus buchstäblich ein Gesicht; man könnte auch sagen eine Leibhaftigkeit, wenn sie betonen, dass dies zuallererst Themen sind, die nicht allein in Meinungen und Worten aufgehen, sondern in biographischen Erfahrungen, die man am eigenen Leibe spürt. Und dennoch greift die gattungstheoretische Einordnung ihrer Texte als Autobiographie zu kurz, denn ihre literarischen Zeugnisse enthalten, auch wenn sie aus einer bestimmten Position und Perspektive in der Gesellschaft verfasst wurden, soziologische Zeitdiagnosen.19 Eribon, Louis und Ernaux wissen, dass sie sich mit ihren Büchern und ihren Auftritten selbst exponieren. Sie scheuen sich nicht davor, als Privatperson – als Mann, als Frau, als Homosexueller, als Arbeiterkind, als Opfer u.a. – in die Öffentlichkeit zu treten und damit die professionelle Maske des berühmten Wissenschaftlers oder der Schriftstellerin aufzugeben und/oder damit auch von anderen (zivilgesellschaftlichen,

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politischen) Akteur*innen vereinnahmt zu werden. Sie befeuern damit eine in den vergangenen Jahren neu entfachte Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen einer »Public Sociology«20 (vgl. Aulenbacher et al. 2017). Angestoßen durch den amerikanischen Soziologen und ehemaligen Präsidenten der ISA, Michal Buroway, lässt sich anhand der Selbstzeugnisse darüber diskutieren, ob die Soziologie ihre Kernfunktion als Zeitdiagnose und Krisenwissenschaft eingebüßt hat, denn Soziolog*innen – so Buroway – seien heutzutage immer seltener Krisendeuter*innen, die in und für die Gesellschaft schreiben, als vielmehr Gelehrt*innen, die in und für die Wissenschaft schreiben. Buroway macht hierfür auch die Professionalisierung des Fachs verantwortlich: Innerhalb der wissenschaftlichen Community der akademischen Soziologie seien »Öffentlichkeitswirksamkeit« oder »Nähe zu zivilgesellschaftlichen Überzeugungen« keine Reputationskriterien mehr – auch sei nicht mehr die Frage relevant, ob das Wissen, das Soziolog*innen herstellen, »sozial gerecht« wäre oder sich zur »gesellschaftlichen Revolution« oder für »persönliche Emanzipation« eigne (Buroway 2005, insb.:  360).21 Hier zählen vielmehr – wie in anderen Disziplinen auch – andere Wertmaßstäbe: Ist das Wissen anschlussfähig, d.h. wird es von Kolleg*innen zitiert, funktioniert es als peer-reviewed Fachartikel, erfüllt es Exzellenzkriterien? Buroway (2015) kritisiert, dass sich die Soziologie quasi von einer links orientierten Soziologie zu einer neoliberal zugerichteten Soziologie entwickelt habe: Themen-, Frage- und Problemstellungen hätten nun immer weniger mit zivilgesellschaftlichen Befindlichkeiten und Herausforderungen zu tun, als vielmehr mit Karriereplanung, Drittmitteleinwerbung oder akademischen Meriten.22 So transportieren die ›engagierten Literaturen‹ von Eribon, Ernaux und Louis auch die Vision einer neuen alten Gesellschaftskritik. Insbesondere Louis nutzt die Literatur, um der Welt ihren hässlichen Spiegel vorzuhalten. Er zeigt die ›hässliche‹ Sprachgewalt eines abgehängten Milieus ohne Rücksicht auf eigene und fremde Schamgrenzen; er will die Leser*innen zum Hinschauen zwingen – er will sie beschämen. Zudem bietet Literatur für ihn die Möglichkeit, in einer Welt voller Fiktion, nicht-fiktionale Wahrheiten auszudrücken. Literatur erscheint so als letztes »Bollwerk des Widerstands« (vgl. von Schenck 2017), um die Fiktionalität der Wirklichkeit zu durchbrechen. Dies schließt auch professionelle Konstruktionen von Wirklichkeit mit ein, wie sie etwa auch die Soziologie vornimmt. Gleichzeitig schreibt er das Buch als Soziologe, der sich mit den Theorien und Modellen zur sozialen Ungleichheit

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sehr gut auskennt. Vielleicht braucht es genau solche Soziolog*innen, für die nicht allein die Reputation in der eigenen Disziplin zählt, und die ihre eigenen Erinnerungen und körperlichen Erfahrungen für die Problematisierung von Phänomenen nutzen. Schließlich ist es häufig ein intimes praktisches Wissen von sozialer Ungleichheit – eigene Schamgefühle, Unterwerfungserfahrungen und Empfindungsstörungen –, das ihr Schreiben über soziale Ungleichheiten anstachelt.24

6. Fazit Inwiefern Eribon, Louis und Ernaux als öffentliche Soziolog*innen im Buroawayschen Sinne zu verstehen sind, kann hier nicht abschließend geklärt werden; zumindest lassen sie sich als Teil eines »Mikrokosmos« von Büchern und Schriftsteller*innen mit »soziologischem Blick« charakterisieren (Vormweg 2018). Als Arbeiterkinder und Bildungsaufsteiger*innen gelingt ihnen mit ihren durch eigene Erfahrungen angestoßenen und durchtränkten Arbeiten und ihren gemeinsamen öffentlichen Auftritten das, was vielen Fachleuten und -texten in dieser Intensität versagt bleibt: Eine durch lebendige Einblicke in Denkweisen und Gefühlswelten von ›Außenseiter*innen‹ ebenso drastische wie ›hemmungslose‹ Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse als Gewaltverhältnisse und damit verbunden ein klares Votum für eine öffentlich engagierte Literatur. Gleichzeitig ist es der soziologische Blick auf die Figuren, die das Persönliche mit dem Politischen in Beziehung setzt (Weirauch 2017). Die öffentliche Aufmerksamkeit für Aufsteiger*innenbiographien, gerade auch in Deutschland, macht deutlich, dass die Zeit reif ist für eine neuerliche Diskussion um soziale Ungleichheiten und Klassenverhältnisse, obwohl oder gerade weil die deutschsprachige soziologische Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose sich früh vom Begriff der »Klassengesellschaft« verabschiedet hat.25 Klassismus ist weder ein ›französisches‹ Problem noch gehört es der Vergangenheit an. Und: Auch wenn die Aufsteiger*innengeschichten vor allem die Provinz außerhalb der Metropolen und ihre abgehängten Bewohner*innen mit ihrem ›kruden Wertekosmos‹ in den Blick rücken, darf doch nicht vergessen werden, dass Diskriminierung ein klassenübergreifendes Phänomen ist, das auch in den Orten der Bildung – selbst den elitären – stattfindet. Die Werdegänge der Autor*innen zeigen ja geradewegs, dass auch in den Metropolen, an den Universi-

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täten, im Kulturbetrieb und den Intellektuellenzirkeln ein ausgeprägter Klassismus herrscht, der sie als Aufsteiger*innen selbst nach ihrem (gelungenen) Aufstieg nicht zur Ruhe kommen lässt. Eribon, Louis, Ernaux, allesamt Etablierte des Wissenschafts- und/oder Literaturbetriebs, betonen in ihren Büchern wie öffentlichen Auftritten, dass Herkunftseffekte ein Leben lang wirken – weder das Abitur noch der Studienabschluss noch der beruf liche Erfolg können die soziale Scham gänzlich verschwinden lassen. Eribon räumt ein, dass es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bedurfte, um sich seiner Herkunftsscham zu stellen und sich als ›Klassenf lüchtling‹ zu outen. Heute lehrt er als Professor für Soziologie an der Universität Amiens, ohne dass ihn der Titel und Status letztlich davor geschützt habe, sich nicht noch immer als ›Eindringling‹ zu fühlen. Eribon selbst ref lektiert darüber in seinem Epilog am Ende von Rückkehr nach Reims: Er habe sich eine wissenschaftliche Karriere erst zugetraut, als er sich durch seine journalistischen Erfolge einen gewissen Status und Legitimität erworben hatte. Er selbst sei es gewesen, der seinen Möglichkeitsraum durch seine Verachtung gegenüber Universitätsritualen, seine ›heruntergeschraubte‹ Erwartungshaltung, seine Zweifel und sein Zögern begrenzt habe. Es bleibt zu hoffen, dass Eribon und seine Mitstreiter*innen durch ihre literarischen Selbstzeugnisse andere – bewusst auch Aufsteiger*innen in der Wissenschaft – ermutigen, ihre Scham und Ohnmacht zu überwinden und hier nicht nur für die Analyse sozialer Ungleichheiten neue Perspektiven eröffnen, sondern auch das Bild von Wissenschaft und der/ des Wissenschaftlers/Wissenschaftlerin emanzipieren.

Anmerkungen 1 Der Text enthält Passagen aus einem Beitrag, den ich gemeinsam mit Christian Lömke unter dem Titel Hontoanalyse, teilnehmende Objektivierung, unpersönliche Biographie – Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen literarischer Selbstzeugnisse im Anschluss an Eribon verfasst habe. Er erscheint in dem von Susanne Völker, Elke Kleinau und Karolin Kalmbach herausgegebenen Band Eribon revisited, der für 2020 im VS Verlag angekündigt ist. 2 Auch im angloamerikanischen Raum sorgen autobiographische Herkunftsgeschichten von Aufsteiger*innen aus prekären Verhältnissen, wie etwa die Hillbilly-Elegie von J.D. Vance (2017), über die Grenzen des Literaturbetriebs hinaus für Aufsehen, da sie nicht nur ein Psychogramm einer deklassierten (weißen) Arbeiter*innenklasse dokumentieren, sondern auch als ›erzählendes Sachbuch‹ Antworten auf ge-

Literarische Selbstzeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen sellschaftspolitische Fragen, etwa zum Wahlerfolg Trumps oder Kriminalitäts- und Drogenprobleme einer verlorenen Generation liefern. 3 Man könnte den jungen Eribon im soziologischen Sinne als klassischen Fremden bezeichnen (vgl. Schütz 1944), der sich aufgrund der fehlenden gelebten Geschichte und des anderen Wissensvorrats in der (bürgerlichen) Ingroup des Gymnasiums – auch im körperlichen Sinne – nicht wohl fühlt und von dieser als ›Eindringling‹ wahrgenommen wird. Zur diskriminierenden Wirkung der sozialen wie kulturellen Anforderungen des Schulsystems vgl. auch die mittlerweile klassische Studie von Gomolla und Radtke (1990). 4 Eribon sieht genau hierin eine Schwäche von Bourdieus Selbstanalyse, der aus seiner Sicht aus Angst vor dem Anerkennungsverlust von Seiten seiner Kolleg*innen die »Wissenschaftlichkeit« seines Selbstversuchs überbetont habe, um sich vor Schlussfolgerungen von seiner sozialen Herkunft auf sein Werk zu »schützen« (Eribon 2017: 75). Aus Scham habe er so viele seiner Arbeiten bewusst wie unbewusst zensiert, was mitunter auch in der konkreten empirischen Forschung zu Missverständnissen bzw. Schieflagen geführt habe. Nichtsdestotrotz sieht Eribon Bourdieus Bücher als »autobiographische Fragmente«, denn das in ihnen entfaltete Begriffsgebäude stützt sich auf die Erfahrung der Gewalt der Ungleichheit zwischen den Klassen, die er in seinem Leben persönlich und direkt empfunden und beobachtet hatte (ebd.: 93). Ungeachtet dessen, wie man die Frage nach der Qualität des Bourdieuschen Selbstversuchs beurteilen will, darf nicht aus dem Blick geraten, dass Eribons eigene Soziobiographie ohne Bourdieu nicht denkbar gewesen wäre. 5 Beim Blick in die autobiographischen Skizzen in diesem Band drängt sich der Eindruck auf, dass es aber auch eine gewisse ›Bodenständigkeit‹ und ›Schüchternheit‹ von Aufsteiger*innen aus der Arbeiter*innenklasse sein könnte, die sie nicht unbedingt über ihre Erfolge ›prahlen‹ lässt. 6 Hierzu passt auch das Zitat des Journalisten Marco Maurers: »Ich-Geschichten dürfen nur von [literarischen] Ausnahme-Athleten geschrieben werden«. (Maurer 2015: 21) Maurer, Sohn eines Kaminkehres und einer Frisörin, hatte 2013 unter dem Titel Ich Arbeiterkind die selbst erlebten Bildungsungerechtigkeiten in der ZEIT erstmals öffentlich gemacht. Die große Aufmerksamkeit und Resonanz, die er auf seinen Artikel erfuhr, überraschten ihn derart, dass er ein Buch darüber schrieb. 7 Die Biographieforschung hat früh mit dem Rekurs auf Bourdieus Begriff der »biographischen Illusion« (Bourdieu 1998a) darauf verweisen, dass Biographien – gerade auch Autobiographien – immer schon durch und durch vergesellschaftete Erzählungen über das eigene Leben darstellen und damit sowohl auf ihre sozio-kulturelle Situiertheit als auch auf die soziale Konstruktion von Erinnerung (Jureit 1997) hingewiesen. So verwundert es womöglich nicht, dass es die Aufsteiger*innen unter den Arbeiterkindern sind, die literarisch Zeugnis ablegen. 8 Kritisch einwenden ließe sich hingegen, dass der Versuch der ›Vertretung‹ bzw. Repräsentation nicht selten selbst mit der Gegenüberstellung von unerschrockener, kritischer Intelligenz und hilflosem Mandatsträger arbeitet, die Rieger-Ladich (2017: 347) als ideologische Konstellation dekonstruiert. 9 Eribons Nachfolgebuch Gesellschaft als Urteil lässt sich zumindest genauso lesen: Als Versuch, die Rezeption des Vorgängerbuches Rückkehr nach Reims selbst zu steuern.

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Julia Reuter Die Art und Weise, wie er es macht, wird zum Teil jedoch stark als Unsouveränität kritisiert (vgl. Scheu 2017). 10 Klar ist aber auch, dass literarische Modellierungen ebenfalls Fabrikationen der Wirklichkeit sind, die auf der Grundlage von bestimmten Konventionen und Machtverhältnissen entstanden sind (Alkemeyer 2007: 12). 11 Franz Schultheis und Kristina Schulz haben 2005 das Wagnis unternommen, diese große Studie über Leben und Leiden für Deutschland mit rund 30 Wissenschaftler*innen zu replizieren – herausgekommen ist ebenfalls ein über 500-seitiges Werk, das den Titel trägt: Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. 12 Ein Blick in die Datenbank der von der DFG geförderten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte (https://www.dfg.de/gefoerderte_projekte/index.html) im Themenfeld Ungleichheit, Armut und Prekarisierung offenbart, dass der Großteil der Projekte entweder international vergleichende Studien zu strukturellen Rahmenbedingungen von Arbeitslosigkeit und Armut oder durch quantitativ-empirische Berechnungen getriebene Modellierungen bestimmter Effekte und Prozessierungen von Soziallagen sind; vereinzelt finden sich auch qualitative Fallanalysen zu ausgewählten, jedoch meist qualifizierten prekären Beschäftigtengruppen. 13 Unter Schlichtwohnungen versteht man ein Wohnbaukonzept der Nachkriegszeit, bei dem geltende Ausstattungs- und Flächenstandards bewusst unterschritten wurden, um z.B. die kriegsbedingte Wohnungsnot und Obdachlosigkeit zu bewältigen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schlichthaus). Im Fall des Asternwegs bedeutet dies beispielsweise, dass viele Wohnung nicht über ein eigenes WC oder Heizung verfügen. 14 Der Verein Asternweg e.V. wurde unmittelbar nach Ausstrahlung gegründet: https://www.betterplace.org/de/organisations/24077-asternweg-e-v 15 Dies ist auch die Annahme des Fotografen Vincent Jarousseau, ebenfalls ein Freund Louisʼ und Eribons, der seit etwa zehn Jahren die persönlichen Schicksale der ›abgehängten‹ Bewohner*innen der französischen Kleinstadt Denain an der belgischen Grenze porträtiert: www.vincentjarousseau.com/fr/portfolio-23916-0-40-voyagea-denain.html 16 Dabei ist unstrittig, dass ein wichtiger Teil der Soziologie mit der Untersuchung von sozialer Ausgrenzung und unterprivilegierten Milieus ihren Anfang nahm, wie Daniela Schiek zurecht mit Blick auf die stadt- und migrationssoziologischen Studien der Chicagoer Schule sowie die berühmte Marienthal-Studie bemerkt (Schiek 2018: 39). 17 Am 21.9.2018 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung auf einer ganzen Seite die persönlichen Fotographien von Louis und seinen Freunden Eribon und de Lagasnerie, die sie gemeinsam sowohl in privaten wie in öffentlichen Settings zeigt, unter dem Titel Fest der Freundschaft: https://www.sueddeutsche.de/kultur/grossformat-fest-der-freundschaft-1.4139425 18 Thomas Lemke erwähnt in seiner Rezension zu Bourdieus 1993 erschienener Studie Das Elend der Welt, die sich trotz immensen Umfangs innerhalb eines Jahres mehr als 100.000 Mal verkaufte, dass ihr Erfolg wohl auch darin liegt, dass es ein Inter-

Literarische Selbstzeugnisse von Bildungsaufsteiger*innen viewband sei, der weitestgehend auf soziologische Fachsprache verzichtet (Lemke 1998). 19 Auch das vor über zehn Jahren erschienene – und preisgekrönt verfilmte – Buch Die Klasse von François Bégaudeau, einem ehemaligen Lehrer, behandelt die schwierigen Verhältnisse in einer Schulklasse eines Pariser Problembezirks. Ähnlich auch das Buch Mein Vater ist Putzfrau (2015) der französischen Soziologin Saphia Azzeddine, das aus Sicht des Einwanderer*innenkindes Paul das Leben in Armut in der Cité beschreibt. 20 Die DGS, die deutsche Fachgesellschaft für Soziologie, diskutiert unter dem Begriff ›Public Sociology‹ seit einigen Jahren über den öffentlichen Ort der Soziologie und ihren gesellschaftlichen Auftrag. So wurden etwa neue Diskussions- und Publikationsformate entwickelt, wie den seit 2011 bestehenden Soziologieblog (blog.soziologie.de), neue Vortragsformate (https://www.soziologie.de/aktuell/ public-sociology/) und wissenschaftliche Auszeichnungen, wie etwa der Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für Öffentliche Wirksamkeit. 21 Soziolog*innen, die außerhalb der akademischen Soziologie arbeiten, quasi Berufspraktiker*innen (immerhin 30 Prozent der promovierten Soziolog*innen), werden folglich von der Scientific Community (70 Prozent der promovierten Soziolog*innen), die an Universitäten lehren, auch nicht mehr unbedingt als Soziolog*innen betrachtet. 22 Buroways Aufruf zu einer Wiederbelebung der öffentlichen Soziologie hat ein breites Echo in der Scientific Community gefunden. Auch im deutschsprachigen Bereich haben sich viele Autor*innen, wie z.B. Heinz Bude (2005), mit der Idee einer öffentlichen Soziologie beschäftigt, die aber auch Folgefragen aufwirft: Wieviel Moralintervention ist zulässig? Wieviel Distanz und Zurückhaltung sind geboten? Was ist mit Parteinahme, oder muss der Grundsatz der ›Unparteilichkeit‹ über allem stehen? 23 Vor allem Louis zeigt die Sprache des eigenen Milieus unzensiert. In Das Ende von Eddy werden Redewendungen und Ausdrücke zwar kursiv gesetzt, aber weder korrigiert noch kommentiert, was u.a. auch an der Übernahme von grammatikalischen oder (bei geschriebenen Begriffen) Rechtschreibfehlern deutlich wird: »Fick di Bullen«, »Schwule vergahsen«, »schlag ihr die Fresse kaputt« (Louis 2017: 98f.). 24 Die Soziologie ist – empirisch gesehen – eines der Fächer, das für Aufsteiger*innen besonders offen bzw. weniger sozial exklusiv ist (wie etwa die Rechtswissenschaften oder Medizin) (vgl. Möller 2015). Auch dies könnte ein Grund dafür sein, warum das Thema soziale Mobilität und Bildungsaufstieg vor allem in der Soziologie so große Aufmerksamkeit erfährt, denn möglicherweise bekleiden hier aktuell besonders viele Aufsteiger*innen exponierte Positionen und bringen durch ihre eigenen biographischen Erfahrungen eine Sensibilität für dieses Thema mit. 25 Es mag daher kein Zufall sein, dass es vor allem französische Autor*innen sind, die die Diskussion um Herkunftsscham und Klassismus neu anstoßen, zumal in Frankreich die Grenze zwischen den Disziplinen Soziologie und Literatur unschärfer verläuft (vgl. Gephart 2008: 159). Wobei auch in Deutschland auf Eribons Spuren gewandelt wird, wie etwa der Versuch des Feuilletonredakteurs der Tageszeitung Neues Deutschland Christian Baron (2016) zeigt, oder jüngst der Roman Zeige Deine Klasse der Berliner Literatin Daniela Dröscher (2018) sowie Jürgen Protts (2018)

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Julia Reuter zweibändige mit soziologischer Reflexion aufgeladenen Lebenserinnerungen als Aufsteiger in der Wissenschaft. Erwähnung sollte auch die preisgekrönte deutsche Schriftstellerin Ulla Hahn finden, die ihre Kindheit und Jugend als Arbeiterkind und ihren sozialen Aufstieg als Autorin aus dem Rheinland bereits seit den 1980er Jahren in einem autobiographischen Romanzyklus verarbeitet hat.

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Julia Reuter

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II. Autobiographische Notizen

Gleich und doch verschieden. Erinnerungsbruchstücke Klaus-Michael Bogdal

Klaus-Michael Bogdal (rechts im Bild)

Klaus-Michael Bogdal wurde 1948 in Gelsenkirchen geboren. Sein Vater war zunächst Bergarbeiter, später Journalist. Seine Mutter war Chemielaborantin, dann Hausfrau und später Putzhilfe. Eine jüngere Schwester ist Sozialpädagogin. Bogdal ist verheiratet und hat eine Tochter. Er ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld, seit 2017 als Senior Research Professor. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie und Wissen-

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schaftsgeschichte, Alteritätsforschung und die europäischen Dimensionen kulturhistorischer Entwicklungen. Falls es einen Ursprungsort, eine Heimat gibt, so ist es das große Grundstück meiner polenstämmigen Großmutter, einer Bergmannswitwe. Dort lebte sie seit Anfang der 1930er in einem Eisenbahnwaggon ohne Wasser- und Stromanschluss (ich halte bis heute ihre Petroleumleuchte in Ehren) und ohne Kanalisation und Müllabfuhr im Übergang vom Ruhrgebiet zum Münsterland am Rande einer kleinen Bergbaustadt. Zusammen mit ihren neun Kindern hatte sie einen verwilderten Erlengrund urbar gemacht. Ihr gab der Status einer Selbstversorgerin, die Obst und Gemüse anbaute und Schafe, Hühner, Kaninchen, Puten, eine Ziege und ein bis zwei Schweine hielt, Sicherheit und Unabhängigkeit in Zeiten der Kriege und sozialer Not. Sie trat damit auch ganz praktisch dem Trauma ihres Lebens entgegen, zwei weitere Kinder durch mangelnde Ernährung und fehlende medizinische Hilfe verloren zu haben. Über diese beiden Söhne und ihr Sterben an »Auszehrung«, wie sie es nannte, sprach sie mit mir immer wieder. Mein Vater, noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren, wurde wie sein Vater mit 14 Jahren nach Abschluss der Volksschule Bergmann, aber in der Weimarer Republik schon mit einer Ausbildung. Mit 20 Jahren avancierte er über seine Aktivitäten in der Gewerkschaft und KPD durch ein Volontariat bei einer Ruhrgebietszeitung zum ›Bildungseinsteiger‹ und zu einem Autodidakten mit breitem kulturellen Interesse, vor allem an Geschichte und Literatur. Während der Naziherrschaft wurde er wegen aktiver Beteiligung an einer Widerstandsgruppe in Duisburg zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er in einem KZ (Moorlager) abbüßte. Die gesundheitlichen Haftschäden waren erheblich. Aber er erlernte dort von Häftlingen mit akademischem Hintergrund die französische Sprache. Nach dem Krieg geriet er wohl in die internen Auseinandersetzungen der KPD um die Linie der Gruppe Ulbricht, war zunächst Journalist und dann für viele Jahre Mitarbeiter einer Kulturorganisation, der Deutschen Gesellschaft für Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit Polen.

Gleich und doch verschieden. Erinnerungsbruchstücke

1. Leben in der Siedlung Aufgewachsen bin ich (zusammen mit meiner sechs Jahre jüngeren Schwester) mit meiner Großmutter auf ihrem Grundstück, auf dem meine Eltern zwei Jahre nach meiner Geburt mit Hilfe der Haftentschädigung meines Vaters ein kleines Haus erbauten, in das auch noch die Eltern meiner Mutter einzogen. Die sozialen Kontakte meiner Kindheit waren zu einem Gutteil durch die umfangreiche Verwandtschaft geprägt. Die meisten Geschwister oder Cousins waren Bergarbeiter oder auf Zechen beschäftigt wie auch mein Großvater mütterlicherseits, der als Maurer auf der Zeche Bismarck in Gelsenkirchen arbeitete und in seiner Freizeit Tauben züchtete. Das Einkommen meines Vaters war lange gering, so dass die Statussymbole des Wohlstands wie Waschmaschine, Kühlschrank und Fernseher bei uns nicht zu finden waren. Die Versorgung war dagegen geradezu üppig: Tiere, die selbst geschlachtet wurden, Obstbäume und Beeren aller Art (auch Pfirsiche), Haselnüsse, Eier, Gemüse von Kartoffeln bis zu Salaten und schließlich Blumen aller Art. Meine Großmutter ließ sich nicht davon abbringen, den landwirtschaftlichen Kleinstbetrieb intensiv und aufwändig zu betreiben und die Kinder an den Arbeiten zu beteiligen oder den Dünger auf den benachbarten Pferdekoppeln und Rinderweiden aufsammeln zu lassen. Er wurde erst deutlich zurückgefahren, als ich schon studierte. In der rasch durch den Zuzug von Vertriebenen wachsenden Siedlung war diese Form des Doppelerwerbs durch Lohnarbeit im Bergbau oder in der benachbarten chemischen Industrie und durch eine kleine Landwirtschaft üblich, ja selbstverständlich, ebenso wie das Erbauen der Häuser in Eigenarbeit und durch Nachbarschaftshilfe und die Leidenschaft für das planlose ›Anbauen‹. Der kulturelle Horizont war auf Brauchtumsvereine (westfälischer Karneval, Schützenverein), Kegeln und Fußball begrenzt. Diese Aktivitäten bestimmten auch neben der Arbeit, der Selbstversorgung und den Bau- und Renovierungsplänen die Gespräche in der Siedlung. Die Stadtbibliothek, für die mir mein Vater einen Ausweis besorgte, sobald ich lesen konnte, befand sich in der benachbarten Großstadt. Dort und in weiter entfernten Nachbarstädten gab es neben dem imposanten Ruhrfestspielhaus Kinos, Theater und Konzertsäle. Auf das ausgezeichnete Programmkino machte mich mein Vater aufmerksam, vor allem wenn es polnische Filme von Polanski oder Wajda oder mit

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Zbigniew Cybulski zeigte, für deren Aufführung er in Deutschland zu sorgen hatte. Kinder aus der Siedlung gingen dorthin nicht mit, allein schon deshalb, weil die Filme in Schwarzweiß gedreht waren, was als wenig unterhaltsam und altmodisch galt. Mit ihnen zusammen schaute ich mir ebenso gerne die Karl-May-Verfilmungen an. Für Freddy-Quinn-Filme bekam ich kein Geld. Der größte Berufswunsch der Jungen der Siedlung war es, nicht mehr wie ihre Väter oder Großväter ›auf Zeche‹ arbeiten zu müssen. Dennoch fanden sich viele von ihnen genau dort wieder. Als gelungener Aufstieg galten die Berufe gelernter Handwerker wie Heizungsmonteur, Elektriker und Fliesenleger. Die Bundeswehr war wichtig, um für kurze Zeit herauszukommen, aber auch um den Waffengebrauch zu erlernen und danach zu heiraten. Die Wehrdienstverweigerung galt als unmännlich und ein Zeichen von Feigheit. Nicht beim ›Bund‹ gewesen zu sein, wie es bei mir der Fall war, minderte das Ansehen erheblich. Bei früher Heirat wurde die Ausbildung (Lehre) nicht selten abgebrochen. Die Teilhabe am Wohlstand sicherte man durch Akkord- und Schichtarbeit, Arbeit ›auf Montage‹ und Schwarzarbeit am Wochenende. Die gesundheitlichen Folgen sehe ich, wenn ich heute in die Siedlung fahre und mir dort Gleichaltrige oder Jüngere begegnen.

2. Die ›richtige‹ Schule Die Schulbildung begann für alle Kinder in einem überschaubaren Rahmen: in einer dreiklassigen katholischen Dorfschule (1.-2. 3.-4. und 5.-8. Klasse) mit drei Klassenlehrern. Die Lernatmosphäre wurde stark geprägt, besser negativ belastet, von den Kindern der wohlhabenden, einf lussreichen Bauern und denen der ›Kötter‹ (Landarbeiter*innen), die erst in der Schule Standarddeutsch lernten (Grundsprache: Westfälisches Niederdeutsch). Die uneingeschränkte Förderung durch meine Eltern und Großmutter, die darunter litt, dass sie den Hochbegabten unter ihren Kindern keine höhere Schulbildung hatte finanzieren können, führte zwangsläufig zu einer inneren Entfremdung vom unmittelbaren Umfeld, die es nach außen auszutarieren galt, um nicht zum Außenseiter zu werden. Die Folge war ein frühes ›Doppelleben‹ zwischen den Bücher- und Wissenswelten, dem Erlernen eines Instruments und dem proletarisch-ländlichen Kinderalltag mit Tierschlachtungen, Vorrats-

Gleich und doch verschieden. Erinnerungsbruchstücke

haltung, Tierquälereien, Revierkämpfen gegen die Nachbardörfer, dem Mobbing der ›Evangelischen‹ usw. Der Sprung zum Gymnasium nach bestandener Aufnahmeprüfung erleichterte das ›Doppelleben‹, weil nun die schulischen Verpf lichtungen in einer auf Konkurrenz beruhenden Schulform Vorrang hatten. Hinzu kam ein Schulweg von fast einer Stunde mit dem Fahrrad und dann weiter mit der Straßenbahn. Ich habe lange nicht verstanden, warum meine Eltern nicht das altsprachliche Gymnasium ausgesucht hatten, das leichter und schneller zu erreichen gewesen wäre, sondern eine neue, im Bauhausstil errichtete Schule, in deren Innenhof eine Giacometti-Skulptur stand, mit einem neusprachlichen und einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig, geleitet von einem Schulleiter aus der Bekennenden Kirche und nach dem ›Urwaldarzt‹ und Theologen Albert Schweitzer benannt. Ihn habe ich als Sextaner anlässlich der Namensgebung in der Aula persönlich erlebt. Von seiner Rede über eine humane Welt nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts habe ich nichts verstanden, beeindruckt hat er uns alle aber tief. Nach der Begegnung mit Schweitzer und der Lektüre einer Biographie über ihn wollte ich zur Zufriedenheit meiner Mutter, die damit in der Siedlung an Ansehen gewinnen konnte, Arzt werden. Ein Aufsteigerberuf, der dort akzeptiert wurde, weniger allerdings als der Beruf des Steigers. Heute weiß ich, dass meine Eltern die richtige Schulwahl getroffen hatten, denn auf dem altsprachlichen Gymnasium hätte mich irgendwann einmal unweigerlich der soziale Dünkel der Söhne der Stadthonoratioren getroffen und mein Bildungsweg wäre womöglich anders verlaufen. Der Sprung zum Gymnasium hatte für mich als Zehnjährigen, gefördert durch das Elternhaus, versehen mit den erforderlichen Noten und voller Motivation, etwas Selbstverständliches, das mir später nicht mehr genommen werden konnte. In der Siedlung jedoch durfte ich nicht durch Gymnasiastenverhalten (Besserwisserei und Sprachkenntnisse) auffallen, waren doch einige der Nachbarskinder und Spielgefährten inzwischen auf einer ›Hilfsschule‹ gelandet. Was das Verhalten einiger Lehrer betraf, war die ihre Modernität ausstellende Schule mit dem Phönix als Eingangsrelief nicht sehr verschieden von dem von meinem Vater gemiedenen altsprachlichen Gymnasium. Rücksichtslos und offen vor der ganzen Klasse verkündeten sie den Kindern aus den bekannten Zechensiedlungen oder von Vätern mit Arbeiterberufen, dass sie auch an dieser Schule fehl am

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Platz seien und sie nicht lange besuchen würden. Das war mehr als eine Drohung, es war ein Programm, denn von ca. 45 Sextanern machten am Ende elf das Abitur. Ich war für diese ›Pädagogen‹, die die soziale Selektion zu ihren Aufgaben zählten, nicht klar zu verorten. Wir wohnten in einer anderen Gemeinde, besaßen im Unterschied zu einigen der Lehrer ein Haus und mein Vater verstand es, sich zu artikulieren, war durchsetzungsfähig in Konf likten und unterstütze die reformerischen Ideen einiger junger Lehrer, die in der Abwendung der ›Bildungskatastrophe‹, von der zunehmend die Rede war, ihr Berufsethos fanden. Dazu zählten zum Beispiel jene Lehrer, die ihre Schüler zu sich nach Hause einluden, um die Distanz abzubauen. Eine dieser Einladungen zu einem jungen Klassenlehrer, bei dem wir im Unterricht Kaf ka, Brecht, Celan und sogar Peter Weissʼ Ausschwitzstück Die Ermittlung gelesen hatten, wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis. Nicht ohne begründeten Stolz zeigte er uns seinen mächtigen Bücherschrank, den meine Klassenkameraden entweder ehrfurchtsvoll oder gelangweilt durchmusterten. Ich weiß nicht mehr, was mich damals antrieb, aber ich musste mich mit der Bemerkung bei ihm unbeliebt machen, dass wir zu Hause ungefähr das Vierfache an Büchern besäßen. Dass sie auf selbst gezimmerten Regalen standen, verschwieg ich, ihn um den Schrank mit den Glastüren beneidend. Der gesellschaftliche Wandel in den 1960ern (das Abitur bestand ich 1967 mit 18 Jahren) trug dazu bei, dass die sozialen Unterschiede, die auch an meinem Gymnasium enorm waren (die Berufe der Väter reichten vom Bergwerkdirektor oder Direktionsmitgliedern des örtlichen Chemiekonzerns über den Möbelhausbesitzer und Rechtsanwälte, Pfarrer, Lehrer und Ärzte bis zu Chemiearbeitern und Bergleuten), durch die gemeinsamen Interessen der Schüler an Musik, Kultur und dann auch Politik überdeckt wurden. Auch bei Freundschaften oder Liebschaften mit Mädchen aus dem benachbarten Mädchengymnasium spielten sie keine Rolle. Eine Ausnahme bildeten jene, die sich vor Mesalliancen fürchteten und bewusst einen (groß-)bürgerlichen Lebensstil pf legten und den Rock- oder Jazzkonzerten, den Kinos und Diskotheken und den Tramp-Reisen in den Sommerferien die Welt der Tennis- und Reitvereine vorzogen. Vom bürgerlichen Lebensstil konnte man sich in Reichweite von 1968 gefahrlos abgrenzen und dabei noch an Prestige in der eigenen Alterskohorte gewinnen. Deshalb war die herabsetzend gemeinte Be-

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zeichnung, mit der mich ein noch vom Antisemitismus geprägter Deutschlehrer kurz vor dem Abitur bedachte: »Sie sind ein zersetzender Intellektueller« – von ihm unbemerkt bei den Camus und Sartre lesenden Gymnasiasten längst zu einer Ehrenbezeichnung geworden. Ob in dieser wichtigen Phase des Erwachsenwerdens irgendwelche Schamgefühle über meine Herkunft aufgekommen sind, frage ich mich nachträglich. Bewusst waren sie mir auf keinen Fall und ich kann auch heute keine Schlüsselsituation erinnern. Die Gefahr, von der Herkunft eingeholt zu werden, drohte von anderer Seite durch einen unausgesprochenen Konf likt, der mitten durch die Familie ging. Mir wurde immer bewusster, dass ich den sozialen Aufstieg auch stellvertretend für meine Mutter vollziehen sollte, um die Beschämung, die sie zu erfahren glaubte oder erfahren hatte (denn sie musste als Putzfrau arbeiten, damit meine Schwester und ich weiterführende Schulen besuchen und studieren konnten), in Genugtuung und Zufriedenheit über den Erfolg ihrer Kinder ummünzen zu können. Mit einem Sohn, der den Arztberuf ergreift, wäre das, so ihre Vorstellung, optimal gelungen. Sie, ohne deren Unterstützung die Kinder es aus ihrer Sicht ›nicht geschafft hätten‹, wäre durch ihren Anteil mit aufgestiegen und könnte sich auf diese Weise, idealerweise in Zukunft auch räumlich in einem gemeinsamen Haus, für ihre Mühen entschädigen. Mein Vater, der zumindest meine Bildungskarriere als Wahrnehmung des Anspruchs von Arbeiterkindern auf gleiche Bildungschancen politisch deutete, hätte den Weg, von dem meine Mutter träumte, als ›Klassenverrat‹ betrachtet. Mein ›Gesetz des Vaters‹ lautete nicht: Steig sozial hoch auf und werde finanziell erfolgreich, sondern im Wortlaut: Vergiss niemals Deine Herkunft! Verrate Deine Klasse nicht! Gleite nicht in den bürgerlichen Sumpf ab! Dabei konnte ich seiner bedingungslosen Unterstützung bei jeglicher Berufswahl sicher sein. So hätte ich eben auch Arzt werden können, aber dann einer wie Albert Schweitzer. Meine plötzliche Entscheidung, nicht Medizin, sondern Philosophie (zusammen mit Germanistik und Slavistik) in Bochum zu studieren, hatte zugleich mit dem ›Gesetz des Vaters‹ zu tun und nicht (mehr) zu tun. Beides traute ich mir nach dem Abitur zu, aber inzwischen war ein wirkliches Interesse für ein geisteswissenschaftliches Studium herangewachsen, verbunden mit dem Vergnügen am Lesen und Schreiben.

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3. Endlich Student und dann Lehrer In Münster und Bonn studierte man in Schlössern, in Bochum auf einer gigantischen Baustelle inmitten von Schlamm und Lärm. Der Campus über dem Ruhrtal veränderte sich ständig und wurde, anders als heutige Großbauprojekte, rasch fertiggestellt. Dort konnte man sich besonders gut der Illusion hingeben, an der Beseitigung der Benachteiligung der Arbeiterkinder mitzuwirken, indem man sich selbst in diesem fremden Milieu akademischen Lebens in vertrauter Landschaft erfolgreich durchsetzte. Von Vorteil war, dass die eigene Situation in versachlichter (entfremdeter?) Form ref lektiert wurde, zum Beispiel durch die intensive Beschäftigung mit der Soziolinguistik und ihrer Hypothese von den restringierten und elaborierten Sprachcodes und deren Auswirkungen auf Lernprozesse und Bildungschancen. In Bochum ging man als Student*in eher herkunftsbewusst in die GEW als in eine Studierendenverbindung und suchte eine zeitlang den Kontakt mit den Gewerkschaften der umliegenden Großbetriebe. An der Ruhruniversität lag es nahe, dass Studierende an ihr ›mitbauen‹ und über Forschung, Lehre und Verwaltung mitbestimmen wollten. Die Auseinandersetzungen darüber prägten die ersten Jahre und zeugen in der Rückschau von einer hohen Identifikation mit der ersten Ruhrgebietsuniversität, die aber dennoch keine ›Arbeiteruniversität‹ und schon gar nicht eine Arbeitertöchteruniversität war. Im Sommersemester 1969 war ich Sprecher des Fachschaftsrats der Germanistik. Diese Selbstverwaltungsinstitution der Studierenden zerfiel allmählich, weil es einen Teil der Mitglieder aus der Universität hinaus in Fabriken und Betriebe zog, meist zur Unterstützung gewerkschaftskritischer oder -oppositioneller Betriebsgruppen. In meinem Rechenschaftsbericht findet sich der aus heutiger Perspektive für Studierende merkwürdig klingende Satz, dass »unser Arbeitsplatz nicht die Fabrik, sondern die Universität ist, und daß wir unsere Arbeit hier zu leisten haben«. Dass das Studium als Arbeit bezeichnet wird, zeigt, dass der Unterschied zwischen ›Kopfarbeit‹ und ›Handarbeit‹ im Bewusstsein der studentischen Akteur*innen für einen Moment seine soziale Bedeutung verloren hatte. Es waren Kommiliton*innen meiner Alterskohorte aus bürgerlichen, oftmals wohlhabenden Familien, die ihr Studium aufgaben (oder unterbrachen), um in Betrieben der ›Sache des Proletariats‹ zu dienen. Das wollte ich auch, konnte im Gegensatz

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zu ihnen trotz ähnlicher politischer Ausrichtung nicht genug bekommen von bürgerlicher Kultur und bürgerlichem Wissen. Das ›Gesetz des Vaters‹ verlor auch bei der Arbeit an meiner Dissertation, die ich nur schreiben konnte, weil ich eines der raren neuen Promotionsstipendien erhalten hatte, nicht seine Wirkung. Unter dem Titel ›Schaurige Bilder‹. Der Arbeiter im Blick des Bürgers versuchte ich in meinem Metier der Schicht, aus der ich stamme, etwas ›zurückzugeben‹, indem ich die Wahrnehmungsmuster der literarischen Eliten um 1900 als Formen der Macht offenlegte. Nach der Promotion fehlten mir von heute aus gesehen für eine ›gerade‹ akademische Karriere die ›Netzwerke‹ und Beziehungen. Damals habe ich das nicht so gesehen, weil ich gar nicht wusste, dass es solche Netzwerke überhaupt gibt. Das wurde mir erst wirklich dann klar, als ich selbst als Inhaber eines Lehrstuhls für die Karrierewege anderer interessant geworden war. Mit meiner Herkunft hat sicher zu tun, dass ich auf unsichere Zeitstellen an der Universität nicht aus war, sondern sofort eine Dauerstelle anstrebte. In den späten 1970ern und den 1980ern war das in den meisten geisteswissenschaftlichen Fächern ein nahezu aussichtsloses Unterfangen für die Mehrzahl des wissenschaftlichen Nachwuchses. An der Uni in Bochum war es zum Glück üblich, vor oder nach der Promotion auch das Zweite Staatsexamen zu machen. So besaß ich ein Zertifikat, dessen Wert ich nun schätzen lernte. Den Beruf eines Gymnasiallehrers, den ich dann lange Jahre ausübte, habe ich immer noch als Aufstieg empfunden. Er führte mich mitten hinein in einen Dortmunder Industrievorort an eine mehrheitlich von Arbeiterkindern und Kindern ›kleiner‹ Angestellter besuchten Schule. Deren Defizite waren mir bekannt und deren Schwierigkeiten vertraut. Ihnen – in einer kurzen Auf bruchsphase des Schulsystems – im Deutsch- und Philosophieunterricht und darüber hinaus (durch Schultheatergruppen, Gründung eines Filmclubs, Ausstellungsprojekte) eine allgemeine und literarische Bildung zu vermitteln, die denen der ›Bürgerkinder‹ in den Innenstadtgymnasien mehr als gleichwertig war, gab mir das Gefühl, nicht am falschen Ort gelandet oder in eine Sackgasse geraten zu sein.

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4. Doch noch die Universität Über Kontakte aus meiner Studienzeit konnte ich auch während meiner Beschäftigung als Lehrer – und bald als Fachleiter für Deutsch an einem Studienseminar – alles, was ich weiterhin wissenschaftlich erforschte, in Fachzeitschriften und Buchreihen auch publizieren. Als Lehrer wollte ich nicht nur weitergeben, was die Lehrbücher anboten und was fachlich oft schon überholt war, sondern auch auf eigene Ergebnisse und Erkenntnisse zurückgreifen. Irgendwann konzentrierte ich diese Arbeit auf ein Projekt, dass ich nach Fertigstellung 1991 als Habilitationsschrift einreichte. Auch diese Studie, die 1991 unter dem Titel Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts erschien, lässt erkennen, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Herkunft sich längst in einem produktiven Sinn auf meine wissenschaftliche Arbeit auswirkte. Nach der Habilitation entschloss ich mich dazu, wieder auf das universitäre Bewerbungskarussell aufzuspringen. Zu meiner Überraschung führte schon die erste Bewerbung zu einer Berufung. Meiner wissenschaftlichen Lauf bahn lag keine ›Entscheidung‹ zugrunde. Sie stellt sich für mich als Ergebnis einer Entwicklung dar, für die ich mir die notwendige Zeit genommen habe. Diese Entwicklung führte an Kreuzungen, von denen aus auch andere ›Entscheidungen‹ – für den Journalismus, die Erwachsenenbildung, die Kulturpolitik – möglich und sinnvoll gewesen wären. Mit anderen Worten: Es war gut, die Schritte in Richtung einer akademischen Karriere nicht auf ein enges Ziel hin orientiert zu haben und in den dramatischen Kategorien von Erfolg und Versagen zu denken und zudem Status und Finanzen nicht zu hoch zu hängen. Das, was also für viele Aufsteiger*innen so wichtig ist, sollte meinen Lebensentwurf nicht bestimmen. Mein hochschulpolitisches und gesellschaftspolitisches Engagement kann man, zumindest was die Kontinuität und Breite betrifft, als abgeschwächte Nachwirkung der überfordernden Forderung betrachten, der ›Klasse‹ etwas zurückzugeben und ›nicht die Seiten zu wechseln‹. Mein Vater war stolz und blieb zugleich misstrauisch, las nicht wenige meiner Veröffentlichungen und sprach mit mir darüber. Noch mit 92 Jahren wollte er wissen, was ich an der inzwischen dritten Station meiner Lauf bahn, an der Universität Bielefeld, trieb. Er begleitete mich, als Seniorenstudent getarnt, einen ganzen Tag in Seminare und

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Vorlesungen und schaute sich die Veranstaltungsplakate und Aushänge in der großen Halle genau an und schien zufrieden damit zu sein. Was ich ihm nicht mehr erzählte, war die Tatsache, dass sich die Bedingungen für Arbeiterkinder und Kinder von Arbeitsmigrant*innen seit den 1970er Jahren keinesfalls mehr verbessert, sondern nahezu unbemerkt und wenig debattiert verschlechtert hatten. Kein Anreiz durch Stipendien, die den Namen verdienten, war geschaffen worden. Über das nicht-staatliche Stipendienwesen wussten meist nur die Kinder aus Akademiker*innenfamilien gut Bescheid. Die Tendenz, bei den (erwartbaren) Schwierigkeiten das Studium abzubrechen oder sich mit der niedrigsten Qualifikationsstufe zufriedenzugeben, nahm meiner Beobachtung nach zu. Die Begründungen und Gründe, die ich in zahlreichen Beratungsgesprächen zu hören bekam oder heraushörte, waren stets die gleichen: auf Nummer sicher gehen, nicht länger auf Einkommen verzichten wollen, Angst vor ›Theorie‹ und ein Gefühl der Sicherheit, wenn es ›praktisch‹ wurde, aber auch ein Mangel an Selbstvertrauen, der fehlende Bezug zur ›Hochkultur‹ (ohne ihn kann man nicht erfolgreich Fächer wie Literatur und Geschichte studieren), Unkenntnis der akademischen Lauf bahn, Unverständnis und nur selten Unterstützung der Familien, wenn man es doch zum Beispiel versuchte, zu promovieren. Studentinnen aus Migrantenfamilien wählten mehrheitlich den ›niedrigsten‹ Lehramtsstudiengang, obwohl ihre Qualifikation andere Optionen gerechtfertigt hätte. Das waren deprimierende Erfahrungen, die die sozialwissenschaftlichen Studien über den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg Jahr für Jahr bestätigten.

5. Sowohl als auch Mich hat wohl niemals ganz verlassen, was ich als ›proletarisches Selbstbewusstsein‹ bezeichnen möchte: der Anspruch auf Gleichheit und Gleichbehandlung und eine Sensibilität für alles, was dagegen verstößt. Hinzu kommt eine gewisse Immunität gegen einen forcierten Elitehabitus, gegen Blender*innen und die Sammler*innen von Statussymbolen, von denen es auch im akademischen Milieu genug gibt. Häufiger habe ich mich gefragt, inwieweit meine eigenen, beschränkten Erfahrungen verallgemeinert werden können, ohne zu einem ›Hohelied‹ über einen ›sauberen‹ sozialen Aufstieg zu werden.

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Der Rückblick lässt mich allmählich erkennen, dass die Herkunft nicht allein den Berufsweg geprägt hat. Die positiven Werte und Einstellungen wie gegenseitige Hilfe, Wertschätzung von Arbeit, Bescheidenheit und Widerständigkeit drohten im akademischen Milieu unterzugehen. Andererseits war es unerlässlich, mit bestimmten Einstellungen, Wertungen, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen des Herkunftsmilieus zu brechen, die dessen Enge und kulturelle Begrenztheit erzeugen. So blieb eine Distanz (keine Fremdheit) zu beiden sozialen Sphären, zum Herkunftsmilieu und zur akademischen Welt. In der Beziehung zu beiden empfinde ich mich als gleich und doch verschieden, als ein ›Dritter‹: als Intellektueller in und aus der Arbeiter*innenklasse und als Arbeiterkind im Intellektuellenmilieu – bis heute.

»Wo gehöre ich hin?« Gedanken eines Arbeiterkindes Manfred Brill

Manfred Brill wurde 1958 geboren. Er ist Diplom-Mathematiker und seit 1994 Professor für Informatik und Mathematik an der Hochschule Kaiserslautern. Zwischen 1977 und 1983 studierte er Mathematik an der Universität Kaiserslautern und arbeitete im Anschluss bis 1988 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kaiserslautern. 1989 promovierte er dort im Fach Mathematik. 1988 bis 1993 arbeitete Brill als Software-Entwickler, 1993-1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Informatik der Universität Kaiserslautern.

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1. »Wer bin ich und wo gehöre ich hin?« Hier gehöre ich nicht hin! Dieser Satz ist mir in meinem Leben oft durch den Kopf gegangen. Und zwar in vollkommen verschiedenen Kontexten. Bei Gesprächen mit Professoren*innen an einer Hochschule oder auf Konferenzen. Aber auch, was mich viel stärker betroffen macht, in der Familie oder im sozialen Umfeld. Schon sehr früh während des Verfassens dieses Beitrags stand der Satz, mit dem er beginnt, plötzlich auf dem Papier. Aber alles der Reihe nach. Ich bin ein Arbeiterkind. Das wusste ich schon seit ich denken kann. Meine beiden Eltern arbeiteten als Stepperin und Zwicker in einer Schuhfabrik, keine ungewöhnliche Tätigkeit im Landkreis Südwestpfalz oder, wie er damals hieß, Landkreis Pirmasens. Denke ich an meine Kindheit, ist meine erste Erinnerung, dass ich meiner Mutter, die als Heimarbeiterin die Kindererziehung und den Beruf verband, bei der Produktion der Schuhe helfen musste. Das war selbstverständlich, wenn auch häufig mit dem klaren Hinweis verbunden, dass man, bevor die Arbeit nicht getan ist, auch nicht das Mittagessen zubereiten könne. Der Geruch von Leder erinnert mich sofort an diese Zeit. Die Steppmaschine stand in der Küche, sie gehörte zum täglichen Leben dazu. Auch alle anderen Menschen im familiären Umfeld waren Handwerker oder arbeiteten in der Fabrik. Was ich auch mit der Kindheit verbinde, ist die Aufforderung meiner Eltern, für die Schule zu arbeiten, damit aus mir einmal etwas ›Besseres‹ wird. Bis auf den Teil der Familie, den meine Ehefrau und ich gegründet haben, leben alle anderen in der Familie in einem nicht-akademischen Umfeld. Unsere Kinder und wir haben allgemeine Hochschulreife. Und damit unterscheiden wir uns von allen in der Familie – wir sind ›anders‹. Wir haben häufig andere Ansichten, sei es politisch oder bei Fragen der Bildung, wir haben andere Beweggründe für unsere Entscheidungen. Sehr häufig habe ich das Problem auf Familienfesten, dass wir über Dinge sprechen, zu denen wir gänzlich andere Ansichten haben. Das fängt ganz banal damit an, dass wir über Sendungen in vielen Privatsendern keine Aussagen machen können, da diese Sender uns nicht interessieren. Ich habe es inzwischen aufgegeben zu erwähnen, dass wir in unserem Teil der Familie regelmäßig Sender wie 3SAT oder ARTE sehen. Oder dass wir der Meinung sind, dass Rundfunkgebühren sinnvoll sind, denn damit werden ja die Sender finanziert, die wir anschalten. Wir hören Radio, aber auch hier wieder öffentlich-rechtliche

»Wo gehöre ich hin?« Gedanken eines Arbeiterkindes

Sender, die nicht Pop, sondern Klassik und Jazz spielen wie SR2 oder Deutschlandfunk Kultur und sogar Wortbeiträge ausstrahlen. Ich habe es aufgegeben zu erklären, was ich beruf lich eigentlich mache. Und was gar nicht verstanden wird, ist das Gehalt, das mit einer Professur verbunden ist. Mein Hinweis, dass ich dafür hart gearbeitet habe, wird meist in Frage gestellt, denn geistige Tätigkeit am Schreibtisch wird nicht als Arbeit akzeptiert. Arbeit ist etwas, das man mit den eigenen Händen macht. Diese Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Wir reden einfach nicht mehr darüber, es führt zu nichts. Auch im beruf lichen Umfeld habe ich häufig den Gedanken, nicht wirklich dazuzugehören. Mir macht es Spaß, an einer Hochschule zu lehren. Aus meiner Sicht ist es für eine Professur unbedingt erforderlich, dass man Empathie für die Studierenden hegt. Ich fühle mich verantwortlich für ›meine‹ Studierenden. Wenn mich nicht alles trügt, kommen Studierende (meist) gerne in meine Lehrveranstaltungen und ich hatte die Ehre, mehr als 100 Abschlussarbeiten betreuen zu dürfen. Ich hege die Hoffnung, dass meine Hörer*innen spüren, dass ich an ihrem Erfolg interessiert bin. Schließlich habe auch ich es geschafft, durch meine eigene Arbeit, meinen Ehrgeiz und mit Unterstützung, dort zu sein, wo ich jetzt bin. Mir fehlt offensichtlich das ›Standesgefühl‹, Teil der professoralen Welt zu sein. Es gibt durchaus Kolleg*innen, die mich dies auch spüren lassen. In Diskussionen im Fachbereich und der Hochschule wurde ich schon mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde mich mit den Studierenden gemein machen. Dabei hatte ich nur gewagt, die Sicht der Studierenden als wichtig und richtig zu bezeichnen. Natürlich bin ich nicht immer einer Meinung mit den Studierenden. Aber Hochschulen gibt es aus meiner Sicht unter anderem deshalb, weil es Studierende gibt. Auch in Berufungskommissionen bemerke ich, dass ich Bewerber*innen häufig anders beurteile. Ich habe eine tiefe Abneigung gegenüber Überlegungen, jemandem eine Position zu geben auf Grund seiner Herkunft oder weil man sich gut kennt. Strippenzieher*innen sind mir ein Gräuel. Mir ist es egal, wo jemand herkommt – entscheidend ist die Leistung, die man erbracht hat. Das bin ja ich! Ein weiterer Gedanke, der am Anfang dieses Beitrags stehen könnte. Als Professor*in lebt man in einer Blase. Häufig sind die Privilegien und Lebensbedingungen, die dieser Beruf mit sich bringt, vielen Professor*innen, wie ich finde, nicht mehr bewusst. Vieles wird als selbstverständlich eingestuft. Dies ist es aber nicht. Dieser Beruf ist

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eine Berufung, im wahrsten Sinne des Wortes. Und nicht etwas, das, wie manche meiner Kolleg*innen denken, uns ›zusteht‹. »Das bin ja ich« – dieser Gedanke kam mir spontan bei der Lektüre des Beitrags von Marco Maurer (Maurer 2013) in der Wochenzeitung Die ZEIT. Maurer schildert hier seine eigenen Erfahrungen und die von weiteren, öffentlich bekannten Menschen, die eines mit mir gemeinsam haben: Sie waren alle die Ersten in ihrer Familie, die studierten. Ganz ehrlich, vorher hatte ich über die Art und Weise, wie ich am Ende auf einer Professur an einer Fachhochschule gelandet bin, nicht ref lektiert. Natürlich nimmt man wahr, dass eine solche Position mit einer großen Selbstbestimmung und viel Freiheit einhergeht. Dies habe ich nie als Selbstverständlichkeit angenommen. Aber dass eine Biographie wie meine immer noch die Ausnahme ist, wurde mir erst bei der Lektüre dieses ZEIT-Beitrags und anschließend des Buches des gleichen Autors wirklich bewusst (Maurer 2015). Wie so oft – darauf hätte man auch selbst kommen können. Inzwischen bin ich aktives Fördermitglied von ArbeiterKind.de, der Organisation, die von Katja Urbatsch gegründet wurde (Urbatsch 2011) und versuche, anderen Menschen, die ähnliche Probleme wie ich selbst in meiner Jugendzeit haben, zu helfen und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und wenn ich nur als Rollenmodell helfen kann – als Beweis, dass es möglich ist. Neben diesem Ehrgeiz, genauso gut zu sein oder noch besser als andere, gab es in meinem Leben, vor allem während der Schulzeit, häufig eine Triebfeder, die ich gar nicht so gerne erwähne. Aber der Neid auf andere, denen scheinbar einfach in den Schoß fällt, etwas zu tun oder zu bekommen, für das ich bis zur Selbstaufgabe schuften musste – dies hat mich mehr als einmal angetrieben und motiviert, noch mehr als andere zu tun.

2. Eine Schulzeit, ein Studium und der Weg in den Beruf Dass ich auf das Gymnasium gehe, war scheinbar für alle klar, nur nicht für meine Eltern und mich selbst. Ich erinnere mich noch gut, dass die Eltern von Schulkamerad*innen bei uns zu Hause waren und die ganze Familie einfach zu einem Tag der offenen Tür meines späteren Gymnasiums mitnahmen. Das war auch dringend notwendig, gab es doch bei uns zu Hause weder jemanden mit Führerschein, geschweige denn ein Auto. Und mindestens für meinen Vater war klar, dass das nichts für

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mich wäre, die Schule zu wechseln. Rückblickend gab es im Gymnasium, wenigstens in den ersten Jahren, durchaus einige Lehrer*innen, die wohl der Meinung waren, dass ich dort nichts zu suchen hätte. Das wurde nicht offen ausgesprochen. Aber wie kann man es sonst erklären, dass ich zum Beispiel im Fach Englisch am Ende der sechsten Klasse auf einer glatten ›Sechs‹ stand und am Ende des nächsten Halbjahres zu einem sicheren ›Sehr gut‹ wechselte? Sanfte Unterstützung von Grundschullehrer*innen, die mich aus unserem Dorf und der Schule kannten, half mir in diesen Jahren, meine Leistungen zu verbessern und dadurch auf dem Gymnasium zu bleiben. Unterstützung in meiner Familie gab es immer, bis hin dazu, eisern zu sparen, um die Kosten für Bücher und Bus aufzubringen. Aber es war immer klar, es gab niemanden, den man bei Hausaufgaben zu Rate hätte ziehen können oder der hätte Tipps geben können, wie man sich denn in einer Sexta richtig verhält. Am Ende der Mittelstufe stand wieder die Frage im Raum, ob die mittlere Reife nicht ausreichend wäre und ich endlich auch etwas zum Einkommen der Familie beitragen sollte. Denn es war klar, in der Oberstufe brauchte man noch mehr Bücher und verursachte Kosten. Und das in einem Alter, in dem viele meiner Schulkameraden aus der Grundschulzeit schon selbst Geld verdienten und es als ›Kostgeld‹ an die Familie weitergaben. Manchmal hängen Entscheidungen an einem seidenen Faden. In diesem Fall war es das ›Schüler-BAföG‹, das den Ausschlag gab, dass ich weiter im Gymnasium bleiben und letztendlich auch das Abitur machen konnte. Im Rückblick auf meine Schulzeit hat diese Zeit mich gelehrt, alles selbst zu organisieren und selbst zu erarbeiten. Ich habe nicht das Fach gewählt, das jemand mit einem ›nicht-rationellen und eher pragmatischen Umfeld‹ studiert. Wenigstens wenn man den Forschungen Reinhardts (Reinhardt 2014) folgt. Ich studierte ein ›reines und theoretisches Fach‹, nämlich die Mathematik. Dass es Mathematik wurde, war wie so vieles in meiner Bildungskarriere, eigentlich Zufall. Es gab im Umfeld einfach keine Rollenmodelle, an denen ich mich hätte orientieren können. Die Lehrer*innen waren, sicher meinem Alter geschuldet, auch keine Orientierung. Während der gymnasialen Oberstufe träumte ich von einer Karriere als Musiker. Da dies meiner Familie aber doch zu unsicher erschien, einigten wir uns auf ein Studium als Toningenieur – eine Kombination aus einem Fachhochschulstudium in Elektrotechnik und der Musik an einer Musikhochschule. Diese Träume platzten leider mit der Aufnahmeprü-

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fung an der Musikhochschule in Düsseldorf, die ich ziemlich krachend nicht bestand. Die Alternative, es auch in Berlin zu versuchen, scheiterte am Veto meiner Familie. Berlin erschien dann doch zu weit und zu teuer, BAföG hin oder her. Natürlich gab es keinen Plan B. Aber an der Universität Kaiserslautern, nicht weit von zu Hause entfernt, gab es im September 1977 noch freie Studienplätze. Auf Grund der Tatsache, dass ich in der Schulzeit in Mathematik ›gar nicht schlecht‹ war, entschied ich mich spontan für dieses Studienfach. Mathematik brauchte man ja so gut wie in jedem Studium, so dass dies als eine gute Übergangslösung erschien. Die Idee, die Aufnahmeprüfung ein halbes Jahr später nochmals abzulegen und diese Zeit dafür zu verwenden, sich darauf vorzubereiten, diese brotlose Kunst kam mir keine Sekunde in den Sinn. Zu meiner großen Überraschung stellte sich während des ersten Semesters heraus, dass ich einer der Besten im Jahrgang war, wenigstens was die Prüfungsnoten anging. Obwohl ich nicht wirklich wusste, was ein Diplom-Mathematiker nach dem Studium denn so machen würde, blieb ich bei meinem Studium und schloss es erfolgreich ab. Reine Mathematik, die Klarheit und die intellektuelle Herausforderung diesen Bereichs der Wissenschaft, die ich studierte, übten und üben eine große Faszination auf mich aus. Aber man muss doch etwas ›Ordentliches‹ machen. Wenn man schon nicht erklären kann, was man in einem Studium der Mathematik eigentlich macht, dann stellte Angewandte oder, genauer, Numerische Mathematik die erste Wahl dar. Damit hatte man eine beruf liche Perspektive mit finanzieller Sicherheit. Darüber musste ich keine Sekunde nachdenken, das war mir vollkommen klar. Natürlich habe ich diese Frage mit Kommiliton*innen diskutiert. Aber die Orientierung hin zu einem Gebiet der Mathematik, das potenziell zu einer Anstellung in der Wirtschaft befähigt, das stand für mich sehr schnell fest. Es war einfach undenkbar, nur des Studiums wegen zu studieren, ohne darüber nachzudenken, ob damit eine sichere Perspektive verbunden ist. Ich war der erste Student in meinem Fachbereich, der ein Urlaubssemester machte und ein halbes Jahr im Philips-Forschungslabor in Hamburg arbeitete, als Vorbereitung auf die Diplomarbeit. Rückblickend war es eine gute Vorbereitung auf eine Tätigkeit als Professor an einer Fachhochschule, an der das Praxissemester inzwischen ein fester Bestandteil des Studiums ist. Vor dem Diplom kam eine weitere Entscheidung auf mich zu. Diese war aber nicht so wie viele andere, die ich bisher schilderte, durch Zu-

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fall oder den Rat anderer beeinf lusst. Direkt nach dem Diplom habe ich geheiratet. Ob es Zufall ist oder ob es nur folgerichtig erscheint – ich hatte meine Ehefrau nicht auf der Universität kennengelernt. Meine Frau hat Hochschulreife, hat aber eine beruf liche Karriere gemacht. Aber auch sie ist in ihrer Familie die erste, die einen solchen Abschluss abgelegt hat. Wir arbeiten in ganz verschiedenen Umfeldern, aber wir können uns austauschen. Sie hilft mir, die akademische Welt, die sich häufig um sich selbst dreht, zu verlassen und einen Blick von außen auf meinen Beruf zu behalten. Etwas, das ich nicht missen möchte und wofür ich zutiefst dankbar bin, bis zum heutigen Tag. Kurz vor dem Abschluss meiner Diplomarbeit fragte mich mein späterer Doktorvater und damaliger Betreuer, ob ich schon einmal über die Möglichkeit einer Promotion nachgedacht hätte. Ich muss damals ziemlich überrascht ausgesehen haben. Das wissenschaftliche Arbeiten und das Schreiben von wissenschaftlichen Texten lernt man in der Mathematik recht schnell. In diesem Fach spielt die Sozialisation der Akteur*innen überhaupt keine Rolle. Dies ist sicher dieser Wissenschaft geschuldet, die durch Abstraktion, Logik und rationalem Denken geprägt ist. In der Mathematik geht es nicht um subjektive Empfindungen, sondern um objektive Wahrheiten, die mit Hilfe eines mathematischen Beweises nachgewiesen werden können. Meiner Frau und mir war sofort klar, dass die Entscheidung, die Promotion anzustreben, richtig war. Meine Eltern waren stolz darauf, in absehbarer Zukunft einen ›Doktor‹ in der Familie zu haben. Was das bedeutete war ihnen unklar, aber sie vertrauten vermutlich darauf, dass die bisherigen Entscheidungen ja richtig waren. Für die Familie war die Entscheidung nicht ganz so schwer zu verstehen, denn die Doktorandenstelle, die mit einem A 13-Gehalt einherging, bedeutete Einkommen. Und das in einer Höhe, die die Löhne und Gehälter in unserem familiären Umfeld deutlich überstiegen. Und vor der Heirat hatten sowohl Eltern als auch zukünftige Schwiegereltern fest damit gerechnet, dass wir aus der Westpfalz wegziehen würden. Anfang der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts gab es in dieser Region außerhalb der Schulen und Hochschulen keine Chance auf eine beruf liche Tätigkeit als Mathematiker*in. Zu der Zeit ging die Mehrzahl der Absolvent*innen aus der Informatik oder Mathematik in den Großraum München. Da bedeutete eine Anstellung an der Universität, auch wenn sie befristet war, die Aussicht, dass wir wenigstens noch einige Jahre ›zu Hause‹ blieben.

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Gegen Ende meiner Promotion hatten einige meiner Kolleg*innen die Idee eines Start-Ups an der Schnittstelle zwischen der Mathematik und der Informatik. Als sie mich fragten, ob ich mir vorstellen könnte, in diesem Unternehmen zu arbeiten, zögerte ich nicht lange und sagte zu. Zu Beginn abends, nach der Arbeitszeit an der Universität. Da das Unternehmen schnell wuchs, übernahm meine Frau abends noch kaufmännische Tätigkeiten – davon hatten wir als Mathematiker überhaupt keine Ahnung und waren froh, hier professionelle Unterstützung zu bekommen. Beendet habe ich die Promotion extern. Wir bekamen so viele Aufträge, dass es mit einer Nebentätigkeit nicht mehr vereinbar war. Die Probleme, die wir bearbeiteten, erschienen mir deutlich reizvoller als das, was ich nach wie vor an der Universität bearbeitete. Ich begann mein Fachgebiet, die Angewandte Mathematik, eher als ›potenziell anwendbare Mathematik‹ anzusehen. Ich wollte das akademische Umfeld endlich hinter mir lassen und ›richtige‹ Probleme lösen. Deshalb verließ ich die Universität, nachdem die Doktorarbeit stand, und legte die Promotionsprüfungen als externer Doktorand ab. Die Position, die ich heute innehabe, eine Professur an einer Fachhochschule, der heutigen Hochschule Kaiserslautern, habe ich auf ähnliche Art und Weise erhalten wie die Auswahl meines Studienfachs. Natürlich habe ich mich auf die Ausschreibung einer Professur beworben. Aber eine Professur wurde mir wiederum von außen schmackhaft gemacht. In einem Forschungsprojekt, das ich als Mitarbeiter des StartUps mit einem Professor im Fachbereich Informatik der Universität Kaiserslautern durchführte, kam relativ schnell die Frage auf, ob ich schon über eine Professur nachgedacht hätte. Darauf hatte ich natürlich mal wieder keine Antwort. Die Voraussetzungen für eine Professur an einer deutschen Fachhochschule erfüllte ich bereits, wie ich nach der Lektüre des Landeshochschulgesetzes, nicht nur von Rheinland-Pfalz, feststellen konnte. Oder, so schlug es der Professor vor, man könnte ja gemeinsam an die Habilitation denken. Der*die Leser*in ahnt es schon, die Habilitation erschien mir dann doch nicht die richtige Wahl. Im September 2019 werden es 25 Jahre, dass ich eine Professur für »Informatik und Mathematik« an der Fachhochschule Rheinland-Pfalz, heute Hochschule Kaiserslautern, innehabe. Ein Schritt, den ich in dieser ganzen Zeit noch nie bereut habe. Heute nennen sich die Fachhochschulen »Hochschulen für angewandte Wissenschaft«. Persönlich bin ich nicht sicher, ob dies notwendig ist. Ich halte die Diskussion, ob diese Hochschulen für angewandte Wis-

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senschaft nicht auch noch das Promotionsrecht bekommen sollten, für überf lüssig und kontraproduktiv. Ich habe diese Diskussion in verschiedenen Kontexten geführt, als Dekan eines Fachbereichs, als Mitglied im Senat und des Fachbereichsrats und als Vertreter unserer Informatikstudiengänge im Fachbereichstag Informatik. Ich finde es gut, dass wir in Deutschland zwei verschiedene Typen von Hochschulen haben, die unterschiedliche Ziele verfolgen und deshalb auch unterschiedlich aufgestellt sind. Die Nähe zur Anwendung, der regelmäßige Kontakt zu Firmen und Forschungsinstituten bei der Betreuung von Praxissemestern und externen Bachelor- und Masterarbeiten zeichnet den Hochschultypen aus, an dem ich arbeite. Die Hochschullandschaft in Deutschland hat überhaupt nichts davon, wenn sich diese beiden Hochschultypen immer ähnlicher werden und dabei nicht immer nur die positiven Aspekte fördern. Ich bin, hoffentlich merkt man das nach diesem Absatz, mit Haut und Haaren Professor an einer Fachhochschule.

3. Schlussbemerkungen Rückblickend muss ich sagen, ich hatte in meinem Leben viel Glück. Es gab scheinbar in vielen entscheidenden Phasen immer Menschen, die die richtigen Fragen stellten und mich auf Möglichkeiten hinwiesen, die mir gar nicht bewusst waren. Hätte ich etwas besser machen können? Habe ich etwas versäumt? Hätte man mit den heutigen Erfahrungen Entscheidungen doch anders treffen sollen? Hätte ein anderes familiäres Umfeld mit Akademiker*innen zu einem größeren beruf lichen Erfolg führen können? Hätte es vieles leichter gemacht? Natürlich ist das so. Aber nur wer nichts tut, macht keine Fehler. Alles war so, wie es war und mir erscheint es müßig, darüber zu philosophieren, ob andere Voraussetzungen zu einer anderen Entwicklung hätten führen können. Meine Erfahrungen mindestens als Rollenmodell, aber auch als Mentor an junge Menschen weiterzugeben, die eine ähnliche Situation wie ich vor vielen Jahren erleben, halte ich für viel wesentlicher. Und dies tue ich inzwischen, als Fördermitglied und aktives Mitglied von ArbeiterKind.de.

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Literatur Urbatsch, Katja (2011): Ausgebremst. Warum das Recht auf Bildung nicht für alle gilt, München: Wilhelm Heyne Verlag. Maurer, Marco (2013): »Ich Arbeiterkind«, in: DIE ZEIT vom 24.01.2013. Maurer, Marco (2015): Du Bleibst Was Du Bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet, München: Droemer Verlag. Reinhardt, Max (2014): »Öffnung der Hochschulen. Nichttraditionelle Studierende und Lehrende. Eine theorie- und empiriegeleitete Untersuchung unter Berücksichtigung kompetenzorientierter Lehrund Lernformate und am Beispiel eines berufsbegleitenden Studiengangs«, in: Rolf Arnold/Konrad Wolf (Hg.), Herausforderung Kompetenzorientierte Hochschule. Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung Band 78, Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 430-454.

Ausgewählte eigene Publikationen Streamball Techniques for Fluid Flow Visualization. In IEEE VISUALIZATION 94, 225-231, 1994 (zus. m. H. Hagen, H.-C. Rodrian, W. Djatschin, V. Klimenko). Geospatial Visualization Using Hardware Accelerated Real-Time Volume Rendering. In IEEE Oceans 09, Biloxi, 2009 (zus. m. M. Berberich, P. Amburn, J. Dyer, R. Moorhead).hh Mathematik für Informatik, München 2001; Computergrafik, München 2003 (zus. m. M. Bender). Virtuelle Realität, Heidelberg 2008.

Solidarität als Bedingung von sozialer Mobilität Zoe Clark

Zoe Clark wurde 1983 in Lübbecke geboren. Derzeit lebt sie mit ihrer Familie (ein Sohn) in Köln. Bis 2019 hat sie als Juniorprofessorin für Kinder- und Jugendhilfe an der Universität Hamburg gearbeitet, um dann einem Ruf an die Universität Siegen nachzugehen. Dort ist sie als Professorin für Erziehungswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Ihr Arbeitsschwerpunkt umfasst vor allem eine gerechtigkeitstheoretisch-fundierte Kinder- und Jugendhilfeforschung. In ihren Forschungsprojekten arbeitet sie sowohl mit qualitativen als auch quantitativen Methoden der Sozialforschung. Eine biographische Notiz darüber zu verfassen, wieso man es als Person, die in unteren Klassenlagen aufgewachsen ist, trotzdem geschafft hat, als Hochschullehrer*in tätig zu sein, und entgegen aller Wahrscheinlichkeiten und Erwartungen weder an der Tankstelle noch als Floristin arbeitet, birgt mindestens zwei Gefahren: Die erste Gefahr beinhaltet eine Fürsprache von individualisierungstheoretischen Prämissen und naiven Annahmen über die Zusammenhänge von Bildungs-

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und sozialer Ungleichheit. Es mag sich beim Lesen einer Aufstiegsbiographie ein erleichterndes Gefühl einschleichen, da dies als Beleg verstanden werden kann, dass es offensichtlich doch geht, wenn man sich nur genug anstrengt, eine gute Schule besucht oder hinreichend mit frühkindlicher Bildung traktiert wurde. Ich möchte deshalb zunächst betonen, dass dieser biographische Ausschnitt weder als Beleg für Individualisierung und Entstandardisierung von Lebensverläufen verstanden werden kann, noch als Beispiel dafür, wie Bildungsinstitutionen als ›soziale Waschanlagen‹ wirksam würden. Es ist evident und offensichtlich, dass ›wir‹ nach wie vor in einer kapitalistischen, von Ausbeutung geprägten Klassengesellschaft leben und Bildungsinstitutionen nach wie vor hochselektive Allokationsfunktionen erfüllen. Eine zweite Gefahr, die mit einer solchen biographischen Notiz verbunden ist, ist eine mit Fremdscham behaftete Selbstheroisierung. Vermieden werden soll eine Art Selbstinszenierung darüber, wie allen Wahrscheinlichkeiten trotzend, durch Genialität und harte Arbeit ein Aufstieg in eine höhere soziale Klasse gelingen konnte. Stattdessen besteht die Funktion dieser biographischen Notiz darin, einerseits über Gelingensbedingungen meiner Bildungs- und Berufsbiographie und andererseits über Hürden zu sprechen, die klassen-1, aber ebenso geschlechtsspezifisch sind. Das Tückische an Aufstiegsbarrieren ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie daherkommen. Lebensverläufe sind geprägt von zahlreichen unhinterfragten normativen Prämissen, die zu scheinbar unüberwindbaren Hürden werden, die den eigenen Möglichkeitshorizont definieren. Diese Selbstverständlichkeiten sind klassistisch, rassistisch, sexistisch und/oder heteronormativ und werden damit zu externen Barrieren, weil Schließungsmechanismen wirksam werden, sowie zu internen Barrieren, da sie zu einem Teil der eigenen Identität und des eigenen Möglichkeitshorizontes werden. Ich habe in meiner Biographie mit einigen dieser Selbstverständlichkeiten gebrochen, teilweise weil ich Opportunitätsstrukturen genutzt habe, teilweise weil ich gezwungen war und teilweise weil ich mich durch einen Mangel an Perspektiven und Freiräumen beengt gefühlt habe, den mir eine Jugend auf dem Land geboten hätte.

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1. Die Tankstelle als Möglichkeitshorizont und die einzig richtige Position für die Gabel Die erste Bildungsentscheidung, die andere Menschen für mich getroffen haben, war der Übergang von der Grundschule zur Realschule. Als jüngstes Kind und einziges Mädchen in einer Pf legefamilie mit zwei leiblichen Söhnen, erschien es selbstverständlich, dass ich nicht die erste Person mit allgemeiner Hochschulreife werde. Auf Grund dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit lohnt es sich an diesem Punkt nicht, über abwertende Intentionen oder Herabsetzung zu sprechen, vielmehr war es eine unhinterfragte Gewissheit, dass die Tochter des Bruders sich auf dem Bildungsniveau der eigenen Söhne bewegt. Dies war eine sehr gute Entscheidung, weil mir die Realschule potenzielle Versagenserfahrungen an einem Gymnasium erspart hat. Ich war als Jugendliche durchaus interessiert an unterschiedlichen Dingen – man könnte, im weitesten Sinne, bildungsaffin sagen –, ich war jedoch nicht schulaffin. Diesen Unterschied zwischen Schulferne und sog. Bildungsferne haben zahlreiche Wissenschaftler*innen noch nicht begriffen. Nicht schulaffin zu sein, kollidierte jedoch mit meinem Berufswunsch: Sozialpädagogin. Ich kann nicht genau in Worte fassen, wo dieser Berufswunsch herrührte. Ich hatte als Kind und Jugendliche diverse Kontakte zu Sozialpädagog*innen, manche waren für mich extrem positiv, andere eher nicht, das hielt sich die Waage. Schließlich war es eine weitere unhinterfragte Selbstverständlichkeit für mich, diesen Beruf anzustreben. Im Nachhinein kann ich mutmaßen, dass es vielleicht darum ging, handlungsfähig zu werden und Ohnmachtserfahrungen aus der Kindheit zu korrigieren. Aber insgesamt war es eher eine diffuse Präferenz als ein begründeter Wille. Mit diesem Berufswunsch bin ich, gemeinsam mit meiner Schulklasse, in das Arbeitsamt geführt worden. Das Amt hielt für uns einen Computer bereit, der mithilfe von etwa fünf Fragen unsere beruf liche Eignung ermitteln sollte. Da ich ›etwas mit Menschen‹ machen wollte, kam der Algorithmus zu dem Schluss, dass die Arbeit als Tankstellenwärtin die einzig sinnvolle Lösung für mich sei. Ich war davon nicht vollständig überzeugt und habe mich durch die Karteikarten gewühlt, um nach dem Beruf Sozialpädagogin zu suchen. Die nette Dame beim Arbeitsamt erklärte mir, dass dies ein Beruf sei, der ein Studium erfordere und ›wir‹ uns Ausbildungsberufe anschauen könnten. Ich war einigermaßen irritiert, dass die Notwendigkeit eines Studiums für ›uns‹

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ein derartiges Hindernis zu sein schien, dass die potenziellen Berufe bereits realschüler*innengerecht serviert wurden. Nachdem ich der Dame von Amt erklärt habe, mir sei durchaus bewusst, dass man für diesen Beruf ein Studium benötige, brachte sie mir einen DIN-A4-Flyer für das Oberstufen-Kolleg in Bielefeld. Der Flyer war rosa und darauf waren zottelige Menschen abgebildet, die sich mit Trommeln beschäftigt haben. Farbe und Bild haben mich überzeugt, an den Text kann ich mich nicht erinnern. Mit dieser Schule war für mich die Austrittskarte aus kleinbürgerlichem Land-Idyll verbunden, in dem es das höchste Ziel war, nicht aufzufallen, mir von Peers jedoch zugleich zugeschrieben wurde, Exzentrikerin zu sein. Bildungsbegehren war in meinem familiären Umfeld tendenziell suspekt, es gab keine politischen Themen. Man ging zwar gelegentlich in die Operette, weil man das eben so machte, dies diente aber der Unterhaltung. Es gab danach weder eine fundierte Auseinandersetzung über das Stück, noch bildungsbürgerliches Gebaren. Als ich mir Bücher von Bertolt Brecht zu Weihnachten wünschte, bekam ich zunächst Stirnrunzeln und die Frage, ob ich ›das‹ denn verstehe, und dann eine Lampe mit einem herzförmigen Schirm. Gesellschaftskritik erzeugte eher Unbehagen. Mit einem allgegenwärtigen Wunsch nach Konformität, der sich in kleinste Alltagshandlungen eingeschrieben hatte, war ein Ausmaß an Kontrolle verbunden, das mir die Luft zum Atmen nahm. Beim Essen gerade sitzen, Gabel links, Messer rechts, Ellenbogen nicht auf den Tisch, Kartoffeln nicht matschen, das Eigelb darf nicht weich sein, weil das Spuren auf dem Löffel hinterlässt; Süßigkeiten sind Teufelszeug, Zigaretten werden hart bestraft, die Handtücher mit der Häkelspitze dürfen nicht schief hängen oder gar benutzt werden, die Küche darf nur von der Hausfrau benutzt werden, die eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin absolviert hat; die Fußleisten müssen staubgewischt sein; dunkle Geheimnisse, wie Homosexualität, wurden so lange es ging wohl gehütet (vor allem vor mir). Diese Form der familiären Selbst- und Fremddisziplinierung schien eine Art Richtschnur für das (Zusammen-)Leben bereitzuhalten. Nicht nach links und rechts abbiegen, keine Unsicherheit zulassen, denn dann sind auch keine Fehler möglich. Diese kleinbürgerlichen Regeln entlasten vor grundsätzlichen identitätsbezogenen Auseinandersetzungen, Krisen und Daseins-Fragen (die es im Verborgenen natürlich trotzdem gibt und dort umso schlimmer werden), weil sie eine simple Schablone bereithalten, wie die Dinge funktionieren und man sich zu der Welt ins Verhältnis setzen kann. Es gibt eine Ordnung, die

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selbsterklärend erscheint – in welche Hand die Gabel gehört, ist nicht diskussionswürdig –, und die Dinge werden wie von selbst strukturiert und geordnet, wenn man nur oft genug zu dieser Ordnung ermahnt. So wie immer klar zu sein scheint, welches Besteck wo hingehört, ist klar, wo man selbst hingehört, wie man sich wo und wohin zu bewegen hat. Ich weiß nicht, ob diese Form der Komplexitätsreduktion, die eine Art künstliches Leben hervorbringt, für irgendjemanden wahrhaftig wertvoll ist, für mich hat sich dieses Leben jedenfalls feindselig und fremd angefühlt. Zugleich habe ich dort eine gewisse Arroganz entwickelt, weil ich oft den Eindruck hatte, dass diese vielen Lebensregeln, die mir aufgezwungen wurden, im engeren Sinne dumm sind, und ich das Gefühl hatte, dass diese Dummheit außer mir niemand sieht, obwohl ausnahmslos alle Beteiligten darunter leiden. In Wirklichkeit stimmt das wahrscheinlich nicht und auch andere Menschen werden Zweifel an diesem und jenem gehabt haben, dennoch war diese unschöne Arroganz im akademischen Kontext wahrscheinlich hilfreich.

2. Der Ausbruch aus der ländlichen, kleinbürgerlichen Einhegung Eine Schule, die das exakte Gegenteil von all dem verkörperte, eine Zugfahrt entfernt und mit einem Wohnortwechsel verbunden war, erschien mir extrem attraktiv. Tatsächlich habe ich dort – die Grundschule einbezogen – die ersten positiven Schulerfahrungen gemacht. Abgesehen von Hippies, Punks und Drogen hatte diese Schule so viel mehr zu bieten, als ich von Regelschulen bislang kannte. Die erste Selbstverständlichkeit, die dort gebrochen wurde, war die Feindschaft zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen – man könnte auch sagen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Menschen, die sich duzen und sich auf Augenhöhe begegnen, insgesamt eine Limitierung erzieherischer Autorität. Das Selbstverständnis dieser Schule, auch Menschen zum Abitur zu verhelfen, die in der Regelschule gescheitert sind, war deutlich spürbar. Es ging nicht um Selektion, sondern um solidarisches Lernen, ohne Sitzenbleiben und schlechte Zensuren. Zugleich war die Schule sehr akademisch geprägt, da man dort, damals, in Zeiten noch vor der Reform zum Zentralabitur, das Abitur und Grundstudium in vier Jahren absolvierte. Ähnlich wie an der Universität vor der Bologna-Reform, erlaubte dies zahlreiche Bildungsexperimente

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und ein Ausprobieren. Einfach mal ein paar Sitzungen schauen, ob man Altgriechisch lernen möchte oder nicht (ich entschied mich für Letzteres). Neben zwei Wahlfächern war es anstelle von festen Fächerzuordnungen die Vorgabe, thematisch sehr unterschiedliche Kurse in den jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen zu belegen. Folglich war dort sehr interessengeleitetes Lernen möglich. Ich habe beispielsweise innerhalb der Naturwissenschaften Themen gewählt, die Schnittmengen mit den Sozialwissenschaften hatten. Meine Abschlussklausur in Biologie hatte die pränatale Diagnostik zum Thema, in der Auseinandersetzung mit potentiellen sozialen Folgen hat es für eine Zwei gereicht. In Klausuren nicht allein zu arbeiten, ist an Regelschulen ein Knockout-Kriterium und wird als Betrug klassifiziert; dort war es an bestimmten Punkten quasi Teil des Lehrplans. In den ersten Semestern durften die Klausuren der Kurse mit nach Hause genommen werden, was es ermöglichte, die ›Scheine‹ (heute wären das Credit-Points) für die unliebsamen Fächer zu Beginn schnell abzuhaken und sich Hilfe zu suchen. Die Physikklausur habe ich gemeinsam mit meiner Mitbewohnerin geschrieben, die Biologie studierte und mir in dem Zuge beigebracht hat, wie ich die Formeln anwende. Auch in Klausuren vor Ort wurde es teilweise noch geduldet, anderen etwas zu erklären, weil die Selektion eben nicht das Kernziel dieser Institution war. Dennoch war diese Schule und der starke Kontrast, den sie zu einem Aufwachsen unter kleinbürgerlichen Bedingungen bereithielt, auch eine Überforderung. Kritisches Denken, politisches Handeln oder Gespräche über irgendwie geartete ›gesellschaftliche Ereignisse‹ spielten bislang einfach keine Rolle. Widerworte zu geben, zu diskutieren, sich argumentativ zu positionieren war plötzlich kein Ausdruck von ungewollter Grenzüberschreitung mehr, sondern wurde gefordert. Zugleich waren meine befreundeten Mitschüler*innen in der Mehrzahl links-intellektuelle Personen Anfang 20. Es war selbstverständlich, das wenige Geld in mindestens drei Zeitungs-Abos, Bücher und Platten zu investieren, belesen, klug, witzig und schlagfertig zu sein. Für mich war das mit 16 Jahren neu, dies waren bislang wirklich nicht die Dinge, auf die es angekommen wäre. Das hat mich stellenweise dermaßen unter Druck gesetzt, dass ich im Unterricht oder auch in Gesprächen nicht denken konnte. Ich war so krampf haft darauf fixiert, etwas Kluges sagen zu sollen, dass ich oft vollständig geschwiegen habe. Es war für mich eben keine Selbstverständlichkeit, über Themen zu sprechen, die mich und/ oder die Welt bewegt haben.

Solidarität als Bedingung von sozialer Mobilität

3. Unterrepräsentiert, aber doch nicht besonders In die Universität habe ich aus dieser Schule sowohl analytisches und kritisches Denken als auch unterschiedliche Ängste mitgenommen. Ich hatte massive Sprech- und Prüfungsängste, aber auch schlichtweg diverse Selbstzweifel. Dies sind Dinge, an denen ich hart arbeiten musste, um mich überhaupt im akademischen Feld bewegen zu können. Ich habe eine Mischung aus Sprech- und Gesangsunterricht genommen, um meine Stimme zu finden, musste mich fortwährend mit Ängsten konfrontieren und tue das immer noch. Mit diesem Problem stehe ich – das wird mir bei meinen eigenen Studierenden oft deutlich – nicht allein da. Es ist für viele Personen wenig selbstverständlich, im akademischen Kontext die Stimme zu erheben. Wer diese vielen Menschen sind, ist nicht zufällig, es gibt einen erheblichen Gender Gap. Ich habe sowohl als Studierende als auch als Lehrende viele Seminare erlebt, in denen gefühlt 80-90 Prozent weibliche Personen sitzen, der Redeanteil jedoch nur zu 20 Prozent weiblich war. Dieser Eindruck setzt sich auf Konferenzen fort; es gibt eine deutliche männliche Sprechdominanz, möglicherweise, weil sie schon immer mehr gehört wurden und männliche Kindheit an bestimmten Punkten öffentlicher ist als weibliche Kindheit. Es scheint vielen Männern leichter zu fallen, öffentlich zu sprechen. Den ›Proll-Background‹ haben in der Sozialpädagogik viele Personen. Es ist ein Aufsteiger*innenstudiengang, auch das ist keine Besonderheit von mir in diesem Feld. Entsprechend sind bei den Nachwuchswissenschaftler*innen Menschen, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, überrepräsentiert. Schaut man auf die Zahlen derer, die eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiter*in innehaben, verkehrt sich jedoch dieses Verhältnis. An diesem Punkt sind Personen aus nicht-akademischen Elternhäusern signifikant unterrepräsentiert.2 Man könnte also sagen, die Sozialpädagogik verhilft der Arbeiter*innenklasse zu einem Hochschulabschluss, um sie in die Profession zu entlassen. In der eigenen Disziplin scheint sie nicht unerwünscht, aber dennoch weniger erwünscht zu sein. Ich persönlich hatte dieses Gefühl des Nicht-Erwünscht-Seins oder des Deplatziert-Seins innerhalb meiner Arbeitskontexte nicht. Dies hing sicherlich auch damit zusammen, dass ich mit meinem familiären Background nicht allein war, es Menschen mit teilweise ähnlichen Erfahrungen gab.

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Die oben genannten Zahlen zeigen, dass dies nicht in allen sozialpädagogischen Kontexten der Fall zu sein scheint. Insgesamt kann ich aus meinen Erfahrungen resümieren, dass Bildung und akademisches Arbeiten dann funktionieren, wenn es in solidarischen Zusammenhängen passiert. Selektion und Konkurrenzkämpfe führen unweigerlich dazu, dass Menschen scheitern und Arbeiter*innen unter diesen Scheiternden überrepräsentiert sind. Ich hatte das Glück, diese Solidarität an unterschiedlichen Punkten zu erfahren und bemühe mich, anderen Menschen ebenso zu begegnen. Dies beinhaltet eine spezifische Form der Interaktion mit Studierenden, die nicht unbedingt immer im Sinne eines standardisierten, zeitlich getackteten BA/MA-Studiums funktioniert. Studierende sind im Sinne eines solidarischen Studiums nicht ausschließlich als Lernende zu begreifen, sondern, wenn es nötig wird, als Menschen mit besonderen Lebenssituationen, die sich auf Möglichkeitsräume im Studium auswirken. Solidarität mit Studierenden bedeutet, den Selektionsmechanismen, die der Logik des Studiums und dessen Prüfungen immanent ist, mit Bedacht zu begegnen und ein Scheitern zu vermeiden, wenn es in Kooperation mit den Studierenden auch unter erschwerten Bedingungen möglich ist. Ängste von Studierenden zur Kenntnis zu nehmen und wenn möglich entsprechend darauf zu reagieren, indem zum Beispiel Handlungsstrategien für Studierende mit Prüfungsangst entwickelt werden, gehört zu den zentralen Fähigkeiten guter Hochschullehrer*innen. Mit Studierenden gemeinsam ein solidarisches Studium zu gestalten, bedeutet insgesamt, Restriktionen abzufedern und strukturelle Handlungsoptionen so weit wie es möglich ist auszunutzen und darüber hinaus, die Erfahrungen von Studierenden in die Gestaltung von Studiengängen einzubeziehen – zum Beispiel in Form einer partizipativen Curriculumsentwicklung. Die ungleichen Bedingungen und personalen Voraussetzungen, auf denen die unterschiedlichen Modi von Partizipation, Bildung und Entwicklung strukturell und individuell fußen, zu berücksichtigen und möglichst weit zu kompensieren, ist ein zentraler Punkt an dem Hochschulen, Fakultäten und Lehrende sich solidarisch zeigen können.

Solidarität als Bedingung von sozialer Mobilität

Anmerkungen 1 Mich selbst innerhalb einer Klassenlage zu verorten, ist nicht ganz einfach. Meine Großeltern väterlicherseits hatten einen Bahnhofsgrill, das ist recht eindeutig. Meine Großeltern mütterlicherseits hatten (haben) ein kleines Unternehmen, das Modellflugzeuge herstellt. Mein Vater war lange ungelernt und hat dann auf dem Zweiten Bildungsweg eine Tischlerlehre gemacht. Meine Mutter hat vor wenigen Jahren auf Zweitem Bildungsweg ihren Bachelor in Psychologie nachgeholt, was an der Open University in London ohne Abitur möglich ist. Beides ist jedoch mit Blick auf potentielle Erwerbsmöglichkeiten nur eingeschränkt hilfreich. Meine Pflegeeltern waren Hausfrau mit einem Abschluss als Hauswirtschafterin und selbstständiger Steuerberater, sie waren nicht sehr bildungsorientiert, aber monetär gut situiert. Je nach Lebensphase bin ich also dem ›Lumpenproletariat‹ oder dem Kleinbürger*innentum zuzuordnen, und seit jüngstem bin ich Akademikerkind. 2 Die Daten eines aktuellen deutschlandweiten Onlinesurveys über die Arbeitsbedingungen von Nachwuchswissenschaftler*innen (erhoben von Fabian Fritz, Universität Hamburg/HAW, 2019) zeigen, dass 54,3 Prozent (n=210) der Nachwuchswissenschaftler*innen angeben, kein Elternteil zu haben, das einen Hochschulabschluss erlangt hat. Von denen Nachwuchswissenschaftler*innen mit dem Beschäftigungsstatus der wissenschaftlichen Mitarbeiter*in (N=139) sind es nur noch 43,2 Prozent, auf die dies zutrifft. Dies ergibt einen signifikanten Zusammenhang von akademischem ›Background‹ und Arbeitsstatus von -.209***.

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Autobiographische Notizen eines ›Aufsteigers‹ – ›Wege einer anderen Bildung‹* Reinhard Damm

Der Verfasser: 20-jährig, rechts im Bild, mit der Wasserwaage in der Hand, London, Sommer 1963

Prof. Dr. Reinhard Damm, Geburtsjahr: 1943. Geburtsort: Marburg/Lahn. Beruf der Mutter: Hausfrau, Landfrau, Putzfrau, Lohnwäscherin. Beruf des Vaters: Anstreicher. Beruf des Bruders: Elektriker. Familienstand: Verheiratet, zwei Kinder. Hochschule: Universität Bremen, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht. Professur für Zivil-, Wirtschafts- und Verfahrensrecht. Themenschwerpunkte: Zivil- und Wirtschaftsrecht, Biotechnik- und Medizinrecht, Rechtssoziologie und Rechtstheorie. * Der Beitrag ist denen gewidmet, von denen ich herkomme, und denen, die mich auf diesem langen Weg bis heute begleitet haben.

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1. Einige Vorbemerkungen So wie Blut ein ganz besonderer Saft ist, so gehören autobiographische Texte einer besonderen und besonders sensiblen Literaturgattung an. Dies gilt einerseits für die Art der Darstellung und andererseits für inhaltliche Aspekte. Bei der Darstellung geht es um das Verhältnis von Erzählung und Erklärung sowie um das von Rationalität und Emotionalität, insofern gewissermaßen um die Melodie des Textes. In inhaltlicher Hinsicht geht es gewiss durchgängig um die Unterscheidung von Strukturellem und Individuellem. Schließlich erscheint bei der hier betroffenen Publikation eine Bemerkung zu den dabei zentralen Begriffen des ›Aufstiegs‹ und des ›Aufsteigers‹ angebracht. Erzählung und Erklärung verweist als Begriffspaar auf die möglichen Anteile darstellender Passagen einerseits und solchen der vom Verfasser eingefügten Binnendeutungen und Eigenkommentierungen der äußeren Verläufe. Bei diesen handelt es sich sicherlich um nicht mehr, aber auch nicht weniger als um subjektive Versuche einer Objektivierung der erzählenden Anteile. Bei Rationalität und Emotionalität handelt es sich auf den ersten Blick um zu trennende Kategorien, die aber doch bei der hier betroffenen Textgattung schon deshalb miteinander verwoben sind, weil es die Erzählung von Lebensabschnitten auch mit der seinerzeit und bis heute erlebten emotionalen Prägung der Lebenswelt zu tun hat. Gefühlswelt und Emphase sind nicht realitätsferne Topoi, sondern auch empirisch wirksame Parameter auf der biographischen Wegstrecke. Die Unterscheidung von Strukturellem und Individuellem betrifft die von wesentlichen gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen des Lebensverlaufs auf der einen Seite und besonderen subjektiven Gegebenheiten bei dem Betroffenen und seinem unmittelbaren persönlichen, nicht zuletzt familiären Umfeld auf der anderen. Diese Kategorien mögen analytisch zu unterscheiden sein, aber nicht als reale Wirkmechanismen. Sie sind daher nicht im Sinne einer strikten Alternativität zu verstehen, sondern als Begriffspaar mit übergangsreichen Wechselbezüglichkeiten. Dies gilt sowohl für die vertikale Perspektive eines ›Aufstiegs‹ als auch für die den Verfasser seit längerem beschäftigende Frage nach der linearen Perspektive menschlicher Lebensläufe im ›Recht der Humanbiographie‹ und insbesondere für den Blick auf besonders schützenswerte »Personen und Populationen an den Endpunkten der Humanbiographie« (Damm 2015).

Autobiographische Notizen eines ›Aufsteigers‹ – ›Wege einer anderen Bildung‹

Schließlich sei eine Anmerkung zu den Begriffen des Aufstiegs beziehungsweise Aufsteigers vorangeschickt. Die Begriffe werden vielfach positiv besetzt und mit einem gewissermaßen hellen Klang im Sinne eines irgendwie gearteten Gelingens verwendet. Insofern ist allerdings in doppelter Weise zur Vorsicht zu mahnen. Der Aufstieg von ›unten‹ nach ›oben‹ bis an die Spitze der wissenschaftlichen Hierarchien ist zunächst gewiss nicht ohne weiteres mit einem gelingenden Leben gleichzusetzen. Insofern sind wohl unterschiedliche Gewichte in Betracht zu ziehen, die dem beruf lichen Erfolg in unterschiedlichen Lebensläufen zugewiesen werden. Und es ist zweitens im Kontext der ›Aufsteigerliteratur‹ davor zu warnen, den Aufstieg mit Blick auf das private Herkunftsmilieu unbesehen im Sinne eines ›Ausstiegs‹ oder ›Abschieds‹ misszuverstehen.

2. Ausgangslage: »Aber gehungert haben sie nicht.« Welches ist die Ausgangslage als biographisches Basislager, von der aus der ›Aufstieg‹ seinen Ausgang nimmt? Ohne die im Folgenden geschilderten lebensgeschichtlichen Erfahrungen blieben zentrale spätere Entwicklungspfade unverständlich. Am Anfang steht das kurze, schwere Leben meines Vaters und das lange, arbeitsreiche und fürsorgende Leben meiner Mutter. Der Vater wird zur Zeit des Kaiserreichs 1908 in einem abgelegenen Dorf im Marburger Land als ›uneheliches‹ Kind eines Großbauernsohns und einer mittellosen jungen Frau geboren, die dann auch noch früh einer Grippeepidemie zum Opfer fällt. Der viele Jahrzehnte später am Bürgerlichen Gesetzbuch ausgebildete Sohn hat dann gelernt, was dieses am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Gesetz für diese Kinder an ›Recht‹ bereit hielt, insbesondere mit der berüchtigten, insbesondere vom Erbrecht ausschließenden Regelung, wonach »das uneheliche Kind und dessen Vater nicht als verwandt gelten« (§ 1589 Abs. 2 BGB alte Fassung), die trotz verfassungsrechtlichem Gleichstellungsauftrag seit 1949 (Art. 6 Abs. 5 Grundgesetz) in skandalöser Weise erst 1969 gestrichen wurde. Für die Mutter meines Vaters, die mir unbekannt gebliebene Großmutter, galt – ebenso skandalös –, dass sie zwar »das Recht und die Pf licht hat, für die Person des Kindes zu sorgen«, aber »zur Vertretung des Kindes nicht berechtigt ist« (§ 1707 BGB alte Fassung). Insofern musste ein Vormund eingeschaltet werden. So ist mein Vater, was diese Kinder

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noch lange bleiben sollten, aus rechtlicher Sicht ein »defizitäres Wesen« (Schwab 2012: 132). Das »BGB im Kaiserreich« hat auch den Sohn viele Jahre später aus rechtlicher und historischer Sicht beschäftigt (Damm 2002d). Ärmlichkeit und Waisenhaus werden dem nichtehelichen Kind zum Schicksal. Der später erlernte Handwerksberuf (Anstreicher) ist bereits ›Aufstieg‹. Tragischerweise wird er dann als Ehemann und Vater zweier Söhne im Krieg in Russland schwer verwundet und stirbt 1946 mit 38 Jahren, als ich drei Jahre alt war. Meine Mutter wird 1911 als jüngstes von zwölf Kindern in eine kleinbäuerliche Familie hineingeboren, ebenfalls in einem auch heute noch winzigen Dorf im ›Hinterland‹ des heutigen Kreises Marburg-Biedenkopf. Die Arbeit im Rahmen dieser bescheidenen familiären Existenz und später als Magd bei Großbauern (man nannte das in ›Stellung‹ sein) bestimmte die jungen Jahre. Später sieht es dann nach der Verheiratung mit meinem Vater nach einer, wenn auch nach wie vor bescheidenen, Konsolidierung auch der wirtschaftlichen Verhältnisse aus. Dann aber ist meine Mutter nach dem frühen Tod meines Vaters junge Witwe von 35 Jahren und Mutter zweier Söhne von drei und elf Jahren. Das war die Situation, in die ich hineingeboren worden bin und die mein Leben in Kindheit und Jugend entscheidend bestimmt hat. In der mir allmählich in Erinnerung bleibenden Nachkriegszeit sehe ich meine Mutter als Tagelöhnerin auf den Feldern von Großbauern und als Putzfrau (oder zur ›Aufwartung‹) in bürgerlichen Häusern, wohin ich sie in der frühen Kindheit häufig begleitet habe. Die Universität und ihre Studierenden im nahegelegenen Marburg gehörten einer anderen Welt an. Hinsichtlich der Wohnsituation gab es einen wichtigen Lichtblick: Meine Eltern hatten unmittelbar vor Ausbruch des Krieges mit erheblicher eigener Arbeit ein Haus gebaut und dies in meinem nachmaligen Heimatort, einem Dorf im Marburger Umland. Das Haus war allerdings noch nicht völlig abbezahlt und die Zweifel berechtigt, ob meine Mutter mit ihren beschränkten Mitteln die Restbelastung noch würde schultern können (sie bekam, und damit mittelbar auch wir Kinder, aus hier nicht auszubreitenden unglücklichen Umständen keine Hinterbliebenenrente als ›Kriegerwitwe‹). So waren die materiellen Verhältnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit einer kümmerlichen Rente von anfangs etwa 50 Mark und dem Zuverdienst meiner Mutter eher ärmlich. In einer späteren schriftlichen Schilderung unserer Situation durch einen Verwandten heißt es: »Aber gehungert haben sie nicht.« Noch wichtiger ist gewiss, dass das enge

Autobiographische Notizen eines ›Aufsteigers‹ – ›Wege einer anderen Bildung‹

und vertrauensvolle Verhältnis zwischen Sohn und Mutter bis zu deren Tod nie abgerissen ist, auch nicht in Zeiten der dem ›Aufstieg‹ des Sohnes geschuldeten räumlichen Distanz.

3. Dorfschule, Mittelschule, Maurerlehre, Zweiter Bildungsweg: ›Wege einer anderen Bildung‹ Meine Bildung und Ausbildung vor der universitären Zeit vollzieht sich mit Blick auf den äußeren Verlauf in den in der Überschrift bezeichneten Etappen. Im Jahr 1949 werde ich in eine zweiklassige (nicht zweitklassige) Volksschule eingeschult. Insofern sei jedenfalls knapp angemerkt, dass ich vor meiner Einschulung fast ausschließlich in unserem heimischen oberhessischen Dialekt gesprochen hatte. Daher bedeutete die Einschulung auch wesentlich den Einstieg in die Welt der ›Hochsprache‹ und dies nun neben dem im familiären und dörf lichen Umfeld umgangssprachlich bleibenden Dialekt. Nach vier Jahren Volksschule besuchte ich ab 1953 die damalige Mittelschule in Marburg/Lahn. An dieser Stelle will ich auf einen Gesichtspunkt hinweisen, der nicht nur hier, sondern auch für andere biographische Zäsuren wichtig ist: Von besonderer Bedeutung sind jeweils die Schnittstellen und Übergänge zwischen aufeinander folgenden (Aus-) Bildungsphasen und damit natürlich die diesen Übergängen zugrunde liegenden Entscheidungen. Insofern ist es für meinen Weg kennzeichnend, dass die Übergänge der frühen Jahre in erheblichem Maße jedenfalls zunächst nicht planenden Entscheidungen, sondern aus meiner und der Sicht meiner Familie einer guten Portion ›Zufall‹ zu verdanken waren. Dies galt schon für den Übergang zur Mittelschule, der für meine Mutter außerhalb ihrer Erfahrungswelt lag. Die Anmeldung zu dieser Schulform kam daher erst auf Anregung eines informierten Nachbarn zustande. Für diese dann ab dem zehnten Lebensjahr folgenden sechs Jahre soll hier nicht auf Einzelheiten eingegangen werden, sondern nur auf eine für meine in dieser Zeit einsetzende und für meinen gesamten Bildungsgang, ja für mein gesamtes Leben, zentral werdende Prägung hingewiesen werden, nämlich die durch Bücher und Lesen. In dieser Hinsicht entwickelt sich bemerkenswert früh in diesen Kinder- und frühen Jugendjahren nachgerade ein regelrechter Bücher- und Lesehunger. Im höheren Alter habe ich dies in einer Gedächtnisschrift für einen ehe-

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maligen Lehrer auf die Formel gebracht, »dass nur solche Leser wissen, was Lesen ist, die Bücher nicht lesen, sondern fressen« (Damm 2002a: 82). Es ist bemerkenswert, dass diese Entwicklung in einem Elternhaus fast ohne Bücher einsetzt. Meinen Lesestoff bezog ich insbesondere aus dem Marburger ›Amerika-Haus‹ (insofern Benefiziar einer Institution der amerikanischen ›Re-Education‹) und Bücherregalen der Familien, bei denen meine Mutter arbeitete. Nach Abschluss der Mittelschule im Jahr 1959 mit der auch sprachlich von der ›Reifeprüfung‹ abgesetzten ›mittleren Reife‹ stand eine folgenreiche Entscheidung für den weiteren Weg an. Besonders naheliegend wäre mit Blick auf den ›mittleren‹ Schulabschluss jedenfalls damals der Einstieg in eine Bürolauf bahn gewesen. Es galt das von Dahrendorf kolportierte Motto: »Das Arbeiterkind mit ›Köpfchen‹ kommt ins Büro« (Dahrendorf 1965: 14). Und es wäre dies auch aus der Sicht meiner Herkunftsfamilie schon genug ›Aufstieg‹ gewesen. Dies gilt insbesondere für die Erwartung, dass damit auch ein Abschied von körperlicher ›Knochenarbeit‹ und eine Existenz statt im Blaumann mit ›Schlips und Kragen‹ verbunden gewesen wäre. Ich habe mich mit 16 Jahren nun meinerseits für Knochenarbeit auf Baustellen entschieden. Dieser Entscheidung für eine Maurerlehre lag ein Motivgemisch zugrunde. Dazu gehörte sicher auch eine deutliche Abneigung gegen eine ›Ärmelschonerexistenz‹ gegenüber einer auch körperlich fordernden Tätigkeit. Wesentlich war aber Folgendes: Die Maurerlehre konnte einerseits zu einem lebenslangen Berufsleben auf dem Bau führen, andererseits aber auch zu der ganz anderen Perspektive einer Weiterbildung zum Bauingenieur (damals an einer Ingenieurschule oder Staatsbauschule, heute Fachhochschule). Dazu passte die hierauf gerichtete Vorbereitung durch den Erwerb der Fachschulreife an einer Berufsfachschule, ein neben täglicher Bauarbeit und der Berufsschule durchaus belastender zusätzlicher Schulbesuch an einem Wochenabend und am Samstagvormittag. Nach der Gesellenprüfung kam es 1961 zu einer kurzen, aber folgenreichen Zwischenphase zwischen Bauzeit und Zweitem Bildungsweg, die in meinem Lebenslauf kurz ›das halbe Jahr‹ genannt wird. Am Morgen nach meiner Gesellenprüfung fuhr der Bauunternehmer, mein Chef und Arbeitgeber, an der Baustelle vor und eröffnete mir, dass ich ab dem nächsten Tag im Baubüro der Firma arbeiten sollte. Auf den Gedanken, dieser Aufforderung zu widersprechen, bin ich nicht gekommen. Nun war ich doch im Büro gelandet. Ich hatte es dort mit der

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›Abrechnung‹ größerer Bauprojekte des Unternehmens für Stadt- und Staatsbauämter zu tun, nämlich der damals neuen Mensa der Universität Marburg und des neuen Marburger Justizgebäudes. Ich wurde daher aus späterer scherzhafter Sicht der einzige deutsche Student, der sich seine Mensa (in der er später essen würde), und der einzige Jurist des Landes, der sich sein Gericht (in dem er später als Rechtsreferendar ein und aus gehen würde), ›selber gebaut‹ hatte. Wesentlich, ja entscheidend, für die zukünftige biographische Entwicklung war der Umstand, dass ich in diesen Monaten den wichtigen konkreten Hinweis auf die bevorstehende und für Anmeldungen noch offenstehende Aufnahmeprüfung am Hessenkolleg Wiesbaden bekam. Diesen Hinweis konnte ich einer Radiosendung beim Mittagessen in einer Marburger Gaststätte entnehmen, in der ich mich, wäre ich auf den Baustellen des Unternehmens geblieben, mit Sicherheit zu der Zeit nicht aufgehalten hätte. Ich erwähne dies deshalb, weil ein weiteres Mal der Faktor ›Zufall‹ eine wichtige Rolle bei einer biographischen Weichenstellung spielt. So nahm ich im Frühjahr 1961 an der bemerkenswerten Aufnahmeprüfung am Hessenkolleg Wiesbaden teil, eine der seinerzeit noch sehr wenigen Kollegschulen dieser Art (in Hessen noch für kurze Zeit das einzige, in der Bundesrepublik das vierte Kolleg). Ich gehörte zum dritten Jahrgang dieses im Jahr 1959 eröffneten Kollegs. Nach meiner Erinnerung waren es über hundert Bewerber (kaum Bewerberinnen), die den schriftlichen Teil der Prüfung in einer großen Sporthalle absolvierten, davon zwischen 30 und 40 erfolgreich (darunter eine Frau1 und außer mir noch ein weiterer Maurer). Diese überschaubare Zahl wurde auf drei je etwa zehnköpfige Klassen mit sprachlicher, mathematisch-naturwissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Ausrichtung aufgeteilt. Für mich stand, auch für eine mögliche spätere Entwicklung relevant und durchaus unter dem Eindruck der Ausbildung zum Maurer, eine Schwerpunktbildung in Mathematik und Naturwissenschaften außer Zweifel. So kam es zu meiner »Wanderung auf dem Zweiten Bildungsweg« als »Weg einer anderen Bildung« (Damm 2002a). Als 18-jähriger Maurer aus einer Arbeiter*innenfamilie und vom Lande stammend wurde ich hinsichtlich der Passform für den Zweiten Bildungsweg nur noch übertroffen vom kolportierten Idealtypus der »katholischen Arbeitertochter vom Lande«. Wie auch immer, »der Zweite Bildungsweg im sozialen und kulturellen Leben der Gegenwart« war auch schon unmittelbar vor meinem eigenen frühen Einstieg

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Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen (Dahrendorf/ Ortlieb 1959). An dieser Stelle will ich hervorheben, dass sich die anschließenden zweieinhalb Jahre an diesem Kolleg zu den wohl prägendsten meiner gesamten Bildungs- und Ausbildungsphasen entwickelten. Das kann ich hier nur andeuten. In die äußeren Rahmenbedingungen einer eine beruf liche Ausbildung voraussetzenden zweieinhalb Jahre dauernden Vollzeitschule musste sich die Zielsetzung einer gleichwertigen, aber nicht gleichen Stoffvermittlung und eines gleichwertigen, aber nicht gleichen Abiturs fügen. Inhaltlich war daher das später prominent werdende ›exemplarische Lernen‹ wohl von größerer Bedeutung als in anderen Schulformen. Wie ernst gelingendes Lernen und seine Bedeutung für den weiteren Weg von unseren Lehrer*innen genommen wurde, sei exemplarisch für das von mir geschätzte Fach Mathematik mit einem Zitat meines geschätzten Mathematiklehrers Heinrich Dücker (zweiter Leiter des Kollegs) belegt, der sich auch zum »Unterrichtsstil in Mathematik und Naturwissenschaften als Beitrag zur politischen Bildung« äußern konnte (Dücker 1964a): »Das Lehren der Mathematik ist zeitweise entartet zu einem leeren Drill im Lösen von Aufgaben. […] Wer studierfähig sein will, sollte etwas erfahren haben, von der klaren und vereinfachenden Kraft mathematischen Denkens, das die Menschen seit über 2000 Jahren zu ganz besonderen Fragestellungen angeregt hat und immer noch anregt. […] Nicht zu vergessen ist der ästhetische Wert, der sich z.B. in der Durchsichtigkeit einer Konstruktion und in der zielstrebigen Eleganz eines Beweises oder eines Experimentes zeigen kann. […] Der Unterricht ist seminarähnlich. Die Formen des Unterrichts sind: Referat, Bericht, Diskussion und Gespräch, womit nicht ein Unterrichtsgespräch zwischen Lehrer und Schüler, sondern eine lebhafte, aber disziplinierte Auseinandersetzung zwischen den Partnern gemeint ist, an der der Lehrer als Mitsuchender beteiligt ist.« (Dücker 1964b) Die Schwerpunktsetzungen fielen auch in anderen Lehr- und Lernbereichen teilweise deutlich anders aus. Als ein Beispiel aus subjektiver Sicht soll für das Fach Deutsch dienen, dass Goethes Faust jedenfalls in meiner Klasse zwar eine Rolle spielte, aber Thomas Manns Doktor Faustus ein größeres Gewicht zukam und zu den für mich besonderen und nachhaltigen Bildungsgütern gehört. Den literarischen, histo-

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rischen, politischen und auch die (von Thomas Mann nicht zuletzt bei Adorno ›entlehnten‹) musiktheoretischen Elemente dieses die deutsche Katastrophe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelnden Werkes sind auch in den zurückliegenden Jahrzehnten bis heute wichtige Begleiter geblieben.2 Unvergessen (und seinerzeit schwer verdaulich) auch der biographische Klassiker Anton Reiser. Ein psychologischer Roman und zugleich ein fast autobiographischer Roman des Autors Karl Philipp Moritz in Zeiten der Spätauf klärung. Aufgezeichnet wird der Weg eines jungen Mannes auf einem mühevollen ›Zweiten Bildungsweg‹ als Armenschüler durch Prinzengunst zur Hohen Schule. Aus ärmlichem Elternhaus stammend und nach ausbeuterischer Lehrzeit ist es der Weg eines bescheidenen Aufstiegs durch Lernen. Sicher verdient es dieses Werk auch heute noch, als Gegenstand literarischer Biographieforschung zur Kenntnis genommen zu werden. Für meinen weiteren Weg hin zur Studienfachwahl und letztlich bis hin zu späteren wissenschaftlichen Orientierungen war eine allmählich einsetzende Schwerpunktverlagerung der inhaltlichen Interessen von großer, ja entscheidender, Bedeutung. Dies gilt insbesondere für eine deutliche Relativierung der lange unverbrüchlichen Dominanz einer mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundorientierung. Zunehmend gewannen sprachlich-literarische, historische und gesellschaftliche Stoffe an Gewicht. Besonders hervorheben möchte ich auch aus biographierelevanten Gründen schließlich ein aus heutiger Sicht erstaunliches Element des seinerzeitigen Lehrplans des Kollegs. Zum festen und bis heute nachklingenden Bestandteil des Curriculums gehörte (noch) für jeden Jahrgang ein mehrwöchiger Aufenthalt in London (dazu Reimer 1989). Dieser bestand im außergewöhnlich heißen Sommer 1963 zunächst für einige Wochen aus einer Tätigkeit in den früher erlernten Berufen, für mich also aus wochenlanger Arbeit auf Londoner Baustellen. Daneben ging es natürlich um eine allgemeine Horizonterweiterung, für viele, wie auch für mich, auch um den ersten Auslandsaufenthalt. Für mich stand dieser Aufenthalt danach gewissermaßen unter dem Motto »Mauern, Moderne und Museen« (erste überwältigende Begegnung mit der Tate Gallery und William Turner). Die nichttouristischen Erfahrungen in der Arbeitswelt eines anderen Landes und gerade auch dieser Stadt gehören bis heute zu den Erinnerungen mit besonderer Prägekraft. In bemerkenswerter Weise kam es ausgerechnet in diesen Wochen zur bislang für mich und andere intensivsten Berührung mit

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dem Thema Holocaust, das in der frühen und mittleren Schulzeit nur ›zurückhaltend‹ vermittelt worden war und damals noch nicht einmal zwei Jahrzehnte zurücklag. Dazu gehörte nicht zuletzt die beeindruckende Einladung unserer Gruppe durch die seit der Emigration in London niedergelassene Breslauer jüdische Gemeinde. Und es gehört auch in diesen Zusammenhang, dass ich eine Londoner Freundin zu meiner Verwunderung nie zu Hause abholen durfte. Ich erfuhr dann, dass ihre jüdischen Eltern in Auschwitz ermordet worden waren und die Verwandten, bei denen sie lebte, den Kontakt mit einem jungen Mann aus dem Land der Täter nicht hätten tolerieren können. Ein Jahr später machte ich dann im Frühjahr 1964 Abitur, also zu einer Zeit, in der »pro Jahr rund 1000 Menschen (= 2 Prozent von ca. 50.000 Abiturienten) die Hochschulreife über den Zweiten Bildungsweg« erwarben (Dahrendorf 1965: 23).3 Für diese Zeit auf dem Zweiten Bildungsweg will ich abschließend in einem Selbstzitat festhalten, »dass diese Jahre außerordentlich prägend gewesen sind, sei es in Form positiver Übernahmen oder kritischer Distanzpositionen. Und ›Prägung‹ ist auch als kleine Schwester und bescheidenere Variante von ›Erziehung‹ wohl noch mehr, als viele Bildungsinstitutionen erwarten dürfen.« (Damm 2002a: 86ff.)

4. Studium und Universität: Zwischen Neigung und Pragmatik Wie folgenreich dieser ›Weg einer anderen Bildung‹ für den weiteren Weg gewesen ist, zeigte sich alsbald bei den Besonderheiten der Studienfach- und Studienortwahl. Nach dem Abitur in Wiesbaden habe ich im Sommersemester 1964 das Studium in Berlin aufgenommen. Damit gehörte ich zu den seinerzeit 5 Prozent Arbeiterkindern an den deutschen Universitäten, an den juristischen Fakultäten waren es nur 3,4  Prozent (Dahrendorf 1965: 5, 12).4 Hervorhebenswert war insofern Folgendes: Die schon angesprochenen inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen bildeten sich in bemerkenswerter Weise in dem Umstand ab, dass ich mich in Berlin erfolgreich sowohl um einen die Bauzeit widerspiegelnden Studienplatz für Architektur/Bauingenieurwesen an der Technischen Universität als auch für das gänzlich andere Fach Politikwissenschaft an der Freien Universität beworben hatte. Die ersten Tage im damaligen West-Berlin bewegte ich mich zwischen bei-

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den Hochschulen hin und her, um mit hin und her wanderndem Blick auf Vorlesungsverzeichnisse und sonstige Informationen letztlich die endgültige Entscheidung zu dem nun einzuschlagenden Weg zu treffen. Sie fiel zugunsten der Politikwissenschaft aus und damit für das Otto-Suhr-Institut (OSI) an der Freien Universität. Das OSI war seinerzeit nicht nur ein zentraler Ort der frühen Politikwissenschaft in der Bonner Republik und kurz danach der studentischen Unruhen, sondern auch ein Ort der Begegnung mit der Gründergeneration und den Altmeistern dieser Disziplin, von denen einige auch eine Rückkehr aus der Emigration oder des Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime repräsentierten (Ernst Fraenkel, Ossip K. Flechtheim, Otto Heinrich von der Gablentz).5 Trotz des Interesses an diesem Fach habe ich mich schon nach einem Semester zu einem Studienfachwechsel jedenfalls im Hauptfach hin zur Rechtswissenschaft entschlossen. Dafür gab es nach meinen damaligen Überlegungen sicher ein Gemisch von Gründen. Jedenfalls spielten sowohl pragmatische Überlegungen zu späteren Berufsperspektiven als auch inhaltliche Aspekte eine Rolle (so die Beibehaltung eines gesellschaftlich unmittelbar relevanten Faches, aber Ausschluss einer Lehrer*innenausbildung). Der Entscheidung im heißen Sommer 1964 waren heiße Diskussionen mit Freunden aus der Kollegzeit vorangegangen, die den kritisierten Wechsel zu dem ›rechten‹ Fach Rechtswissenschaft wohl auch als Verrat am emanzipatorischen Geist des Wiesbadener Kollegs empfanden (vgl. Damm 2002a: 83ff.). Allerdings ist dem alsbald als wichtige Ergänzung hinzuzufügen, dass es sich dabei um einen Wechsel ohne Abschied handelte. Die Sozialwissenschaften blieben weiterhin im fachlich bestimmenden Umfeld. Dies galt nach zwei Studienortwechseln neben dem juristischen Studium etwa für politikwissenschaftliche Seminare bei Wolfgang Abendroth (Marburg) und für soziologische Seminare bei Helge Pross (Gießen) zu Talcott Parsons. Dass dieser amerikanische Großtheoretiker dann auch zum Gegenstand meiner juristischen (!) Dissertation wurde (Damm 1976a), ist so gewiss kein Zufall. Die interdisziplinäre Ausrichtung war in meiner Zeit als Assistent an einem rechtssoziologisch ausgerichteten Lehrstuhl weiter bekräftigt worden. Hinzu kam die vieles mitentscheidende Tatsache, dass gerade in dieser Zeit auch allgemein die Begründung der Rechtssoziologie an den (west-)deutschen Juristenfakultäten in Gang kam und dies unter maßgeblicher Mitbeteiligung meines Doktorvaters (Thomas Raiser, damals Gießen, später

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Humboldt-Universität Berlin). In diesen Zusammenhang gehört meine intensive Mitarbeit an einer auch für die Lehre bestimmten »Einführung in die Rechtssoziologie« (vgl. das Vorwort bei Raiser 1972). Insgesamt resultierte aus diesem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenfallen von mehr Interdisziplinarität auch in der deutschen Rechtswissenschaft einerseits und damit korrespondierenden schon länger angelegten eigenen Interessen andererseits eine Chanceneröffnung in besonderem Maße. Es trafen strukturelle Rahmenbedingungen und individuelle Prägungen in günstiger Weise zusammen. Für die strukturelle Dimension ist in der einschlägigen Literatur der Begriff konjunktureller und politischer »Gelegenheitsstrukturen« eingeführt worden (Möller 2013: 342; ebd. 2015: 309ff.). Damit wird ein auch für meine Biographie wesentlicher Umstand hervorgehoben und dies namentlich mit Blick auf die bundesrepublikanische Bildungssituation und ›Bildungsexpansion‹ in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Auf das davon betroffene und durchaus problematische Verhältnis von strukturellen ›Gelegenheiten‹ und subjektiven Motivations- und Entscheidungslagen werde ich noch einmal zurückkommen. Für meinen weiteren Weg ist aus einem rechtspolitischen Blickwinkel der Umstand wesentlich, dass meine vorprofessoralen universitären Jahre einen Ausschnitt der »Rechtsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre« spiegeln, gewissermaßen zwischen »Reform und Revolte« (Löhnig/ Preisner/Schlemmer 2012).6 Meine thematischen Schwerpunktbildungen lagen schon in der Assistentenzeit neben der sozialwissenschaftlichen Grundierung und rechtstheoretischen Grundlagenarbeit (Damm 1976a, 1976b) insbesondere bei einer sozialstaatlichen Akzentuierung und Neuorientierung des Privatrechts, etwa im Bereich des Verbraucherrechts (Damm 1978a, 1978b). In dieser Zeit spielte auch das Unternehmensrecht, insbesondere die Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer*innen eine nicht unerhebliche Rolle. Dazu gehörte unter anderem meine Mitarbeit an einer literarischen und gutachterlichen Befassung und die Teilnahme an der spannenden mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht um den in den 1970er Jahren zentralen rechtspolitischen Konf likt um das Mitbestimmungsgesetz 1976 (Raiser 1977). Begünstigt wurde die weitere Entwicklung gewiss auch durch die (hier nur aus sachlichen Gründen zu erwähnenden) jeweils mit Spitzennoten bewerteten Abschlüsse sowohl bei den beiden juristischen Staatsexamina als auch der Promotion (summa cum laude). Die in ju-

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ristischen Berufsfeldern (Justiz, Anwaltschaft, Wirtschaft) bis heute entscheidenden Examensnoten hatten zwar für eine wissenschaftliche Lauf bahn nicht das gleiche Gewicht, vermittelten aber vor dem Erreichen einer universitären Dauerstelle doch eine existenzielle Sicherheit.

5. Professur, Lehre und Wissenschaft: Rechtstraditionen und Innovationen Vor diesem Hintergrund vollzieht sich mein äußerer Weg zur Professur in Kürze folgendermaßen: Nach einer Vertretungsprofessur an der Universität Hamburg in den Jahren 1978 bis 1980 und einem Ruf an die Universität Hamburg (reformierte Juristenausbildung) habe ich einen Ruf auf eine C 4-Stelle an die Universität Bremen (Fachbereich Rechtswissenschaft) angenommen und bin dort seit dem Sommersemester 1980 als Hochschullehrer tätig. Die Stellenbeschreibung lautet bis heute ›Zivilrecht, Wirtschaftsrecht und Verfahrensrecht‹. Inhaltlich änderte diese ›klassische‹ Fächerkombination nichts an dem Umstand, dass die Befassung mit der gesellschaftlichen Relevanz und interdisziplinären Tönung dieser Fächer weiterhin unverzichtbare Orientierung blieb. In der Lehre ging es sowohl in Hamburg als auch in Bremen noch jahrelang um die arbeitsaufwendige Reform im Rahmen der auch an einigen anderen Universitäten praktizierten ›einstufigen Juristenausbildung‹. Im Übrigen gehörte ich zu den Hochschullehrer*innen, für die die Ausbildung der Studierenden auch vor vollen Hörsälen und auch studentisch evaluiert nicht nur Last, sondern mit den Studierenden arbeitsteilig zu erfüllender zentraler Auftrag war. Die Freude an der ›Arbeit‹ im Hörsaal dauert bis in diese Tage an. Schließlich gehört zu meinem Verhältnis zu den Studierenden auch der Umstand, dass ich jahrzehntelang Beauftragter meines Fachbereichs in Angelegenheiten von BAföG gewesen bin. In diesem Rahmen war ich häufig nicht nur mit den finanziellen Nöten förderungswürdiger Studierender konfrontiert, sondern auch mit Beratungsbedarf zu Studienverläufen als Ausschnitt studentischer Lebensläufe, nicht selten auch vor dem Hintergrund schwieriger familiärer Situationen. Dabei war der Gedanke immer gegenwärtig, dass ich insofern nicht nur eine biographische Verknüpfung, sondern geradezu eine biographisch-solidarische Verantwortung hatte, auch wenn meine seinerzeitige Förderung noch den Namen Honnefer Modell7 trug.

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Die Hinweise zur Entwicklung der wissenschaftlichen Themenschwerpunkte dienen hier als Beleg für zentrale inhaltliche Kontinuitäten seit jungen Jahren einerseits und deren Neuakzentuierung in Forschungsverbünden andererseits. Dazu gehört unter anderem eine rechtliche und interdisziplinäre Befassung mit dem ›Recht der Risikogesellschaft‹, die weitgehend im Rahmen drittfinanzierter Forschungsprojekte stattfand (DFG, BMBF, VW-Stiftung). Dies galt zunächst über viele Jahre (1991 bis 1998) für ein von der DFG finanziertes Graduiertenkolleg ›Risikoregulierung und Privatrechtssystem‹, zu dessen Veranstaltern ich gehörte (Damm 1993, 1997, 1999a). Es handelte sich um eines der ersten juristischen Graduiertenkollegs dieser Art an deutschen Universitäten. Weitere drittmittelfinanzierte Projekte folgten.8 Sie gaben auch Gelegenheit zum Fortschreiben rechtstheoretischer und interdisziplinärer Grundlagenarbeit (Damm 1991, 2002c, 2009a, 2009b). Zentrale Bedeutung bekam dann das Medizinrecht, das bis auf den heutigen Tag ein Zentrum meiner wissenschaftlichen Arbeit bildet. Insofern war in institutioneller Hinsicht die Gründung des Instituts für Gesundheits- und Medizinrecht9 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen im Jahre 1998 ein herausragendes Faktum, zu dessen Gründungsdirektoren ich gehörte und dessen Mitglied ich auch heute noch bin. Aus der Perspektive inhaltlicher Kontinuitäten zwischen ›Aufstieg‹ und Aktualität ging es für mich in diesem Kontext in rechtlicher Hinsicht um die Fortschreibung ›alter‹ Themen des Verbraucherrechts (Damm 1999b) hin zu Patientenrechten und hinsichtlich der lange verfolgten Thematik der Risikosteuerung nun um rechtliche Anteile der Steuerung gesundheitlicher Risiken (Damm 2002b, 2004, 2012, 2018). Zu meinen zentralen Schwerpunkten gehörten über viele Jahre neben den Grundmaterien des Arzt-Patienten-Verhältnisses das Recht der Biomedizin und Gendiagnostik sowie später rechtliche Grundfragen der Vulnerabilität namentlich »einwilligungsunfähiger Personen« (Damm 2011a, Damm 2011b, 2011c, 2013, 2015, 2017). Insgesamt ist es in diesen Themenbereichen zu einer erheblichen Erweiterung und Vertiefung der aus der Frühzeit stammenden interdisziplinären Perspektiven und zu Kooperationen gekommen, die nun neben Rechtswissenschaftler*innen insbesondere Mediziner*innen, Gesundheitswissenschaftler*innen, Soziolog*innen und Medizinethiker*innen einschloss. Das Institut und in dessen Rahmen die Graduiertenkollegs hatten auch maßgeblichen Einf luss auf die Nachwuchsförderung. Damit ist nicht nur die Förderung von Doktorand*innen durch Stipendien an-

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gesprochen. Vielmehr fand auch die Betreuung nun im Wesentlichen nicht nur in der Dyade von Hochschullehrer*in und Doktorand*in statt, die in jüngster Zeit ohnehin und nicht ohne Grund einiges von ihrer Reputation eingebüßt hat. Vielmehr war für die Betreuung im Kollegverbund die gemeinsame diskursive Qualitätskontrolle während der gesamten Entstehungszeit und letztlich der Bewertung der Dissertationen kennzeichnend. Die Antwort auf die Frage, ob meine biographischen Erfahrungen für mein späteres und heutiges Selbstverständnis als Hochschullehrer und für die wissenschaftlichen Themenstellungen eine Rolle gespielt haben, kann naturgemäß nicht pauschal ausfallen. Insofern gibt es gewiss einige Plausibilitäten, für die mit Blick auf biographische Etappen differenziert werden muss. Mit aller Vorsicht kann zwischen Herkunft sowie familiärem Hintergrund und einer in bestimmten Bereichen sozialstaatlichen Ausrichtung des Rechts sowie einer auch rechtspolitischen Sensibilisierung für besonders vulnerable Personen und Populationen eine jedenfalls plausible Verknüpfung unterstellt werden. Nicht so vorsichtig, sondern entschieden fällt die Einschätzung aus, dass wesentliche frühe Orientierungen zu rechtstheoretischen und interdisziplinären Grundsatzfragen in der Zeit des Zweiten Bildungswegs grundgelegt worden sind.

6. Zusammenfassender Rückblick Am Anfang eines am Ende zusammenfassenden Rückblicks steht noch einmal die Frage, welches die entscheidenden Bewegungsgesetze des ›Aufstiegs‹ gewesen sind. Gewiss sind auch für meine Biographie in meiner Generation objektive Rahmenbedingungen sowie politische und gesellschaftliche ›Gelegenheitsstrukturen‹ von zentraler Bedeutung. Allerdings hatte Anfang der 1960er Jahre die sog. ›Bildungsexpansion‹ noch kaum eingesetzt.10 Aber die Anfänge des Zweiten Bildungswegs sowie dann später der Ausbau von sogenannten Reformuniversitäten und -fakultäten11 waren relevante ›äußere‹ objektive Weichenstellungen. Allerdings waren und sind diese strukturellen Entwicklungen zwar mitentscheidend, aber nicht allein entscheidend für das Verständnis des ›Aufstiegs‹. Insofern waren und sind auch ›innere‹ subjektive Verfasstheiten der betroffenen Personen in Betracht zu ziehen. Ob Chanceneröffnungen durch ›Gelegenheitsstrukturen‹ je individuell wahrgenommen

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oder unerkannt bleiben oder trotz Kenntnisnahme nicht als Option begriffen und ergriffen werden, zählt neben den strukturellen Gegebenheiten zu den ebenfalls wichtigen subjektiven Situationsbestimmungen. Die Herkunft aus ›bildungsfernen Milieus‹ konfrontiert die Betroffenen bei den frühen und teilweise auch noch bei späteren Weichenstellungen mit vorgegebenen Initiativlasten, Entscheidungs- und Durchsetzungsmühen zwischen Entschlusskraft und Zögerlichkeit. Der Hinweis auf deren auch soziale Mitprägungen ändert an ihrer Qualität sui generis grundsätzlich nichts. Insofern waren für meine Generation die nach langjährigen, nicht zuletzt Nachkriegserschwernissen allmählich einsetzenden strukturellen Begünstigungen Objekte der Außenbetrachtung, die die Binnenperspektive der jeweils erforderlichen subjektiven Entscheidungsvollzüge keineswegs vollständig abbilden. Zu dieser Einschätzung passen auch die Ergebnisse späterer Lebenslaufforschung. Darin wird für das »Verhältnis von Institutionen und individuellen Akteuren«, von »gesellschaftlicher Organisation von Lebensverläufen« und der »individuellen Koordination von Lebensbereichen und biographischen Übergängen« eine differenzierende Betrachtungsweise eingefordert. Danach »wäre es aus soziologischer und empirischer Sicht voreilig, eine Ursache-Wirkungs-Kette von makrostrukturellem Wandel über institutionelle Reflexivität zu individualisierter Biographiegestaltung zu konstruieren. Gerade in der empirischen Lebenslaufforschung wird deutlich, dass zwischen gesellschaftlichen Makrostrukturen, der institutionellen Steuerung von Lebensverläufen und den Mikroprozessen biographischen Handelns – etwa bei der Bewältigung von Übergängen – lockere Verbindungen, vielfältige Arrangements und Konfliktlinien bestehen.« 12 Von entscheidender Bedeutung für den eingeschlagenen Weg war die Familie, zunächst die Herkunftsfamilie. In ihr bildete die verwitwete alleinerziehende Mutter das Zentrum. Ungeachtet ihrer persönlichen Klugheit war sie angesichts einer nur eingeschränkten Informiertheit über Bildungswege zwar nicht eigentlich die Entscheidende, aber dennoch von entscheidender Wichtigkeit, jedenfalls bei den ersten Bildungspassagen zur Mittelschule, zur Maurerlehre und später zum Zweiten Bildungsweg. Insofern waren ihre Akzeptanz und Toleranz gegenüber meinem eingeschlagenen Weg anfangs und weiterhin auch eine Siche-

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rung gegen eine Entfremdung vom Herkunftsmilieu. Im Übrigen blieb auch der Kontakt zur weiteren Herkunftsfamilie weitgehend erhalten. Es ist dann später die eigene Familie ein wichtiger Ort der Stabilisierung des ›Aufstiegs‹ schon seit den Anfängen der vorprofessoralen Phase. Während ich noch ungesicherte Assistentenstellen besetzte, war meine damalige und heutige Lebenspartnerin und Ehefrau schon Sonderschullehrerin im Beamtinnenstatus. Sie war damit jahrelang Mitgarantin einer materiellen Existenzsicherung in der universitären Übergangszeit und dies insbesondere nachdem zwei Kinder dazu gekommen waren. Nunmehr haben wir zwei Enkelkinder, Kinder unseres Sohnes und unserer Schwiegertochter. Der Sohn hat schon vor Jahren wie ich ein ebenfalls interdisziplinär angelegtes Jurastudium abgeschlossen. Er gehört als Kind von Akademiker*inneneltern in dieser Hinsicht nicht mehr zu den ›Aufsteigern‹, sondern zählt wie seine Frau nun zur akademischen ›Normalpopulation‹. Und es gehört in diesen Zusammenhang auch unsere geistig behinderte Tochter, deren Begleitung und Betreuung nun schon seit über vier Jahrzehnten ein erheblicher Teil der familiären Fürsorge und auch der professoralen Lebenszeit des ›Aufsteigers‹ gewidmet ist.

Anmerkungen 1 In den nächsten Jahren sollte sich der Anteil der Kollegiatinnen zunächst allmählich und später sprunghaft erhöhen. Hierzu liegt das vollständige Verzeichnis aller Abiturient*innen für die Jahre 1961 bis 1988 vor. Die Einführung einer Regelung, wonach die »Führung eines Familienhaushaltes« als Aufnahmevoraussetzung einer Berufstätigkeit gleichgestellt wurde, sollte einen Schritt zu mehr ›Chancengerechtigkeit‹ darstellen; für beides gibt es Nachweise in der vom Kolleg herausgegebenen Broschüre 30 Jahre Hessenkolleg Wiesbaden 1959 bis 1989. 2 Statt vieler nur Hinweise auf Adorno als »geheimer Rat« von Thomas Mann bei der Entstehung des Doktor Faustus bei Stefan Müller-Doohm, Adorno, Sonderausgabe 2011: 474ff. sowie auf Thorsten Valk, Zeitschrift für Ideengeschichte 2017: 29ff., 40ff., 44 zu Opus 111 als »Beethovens letzter Klaviersonate«, die fortan von vielen nur noch als »die Sonate, über die Thomas Mann geschrieben hat«, wahrgenommen wird, nachdem Thomas Mann die Möglichkeit eröffnet hat, »Beethovens letzte Klaviersonate in ein Verhältnis zur historischen Situation Deutschlands in den Jahren nach 1945 zu rücken«. 3 Dies mit dem Zusatz: »Daß unter diesen (Absolventen des Zweiten Bildungswegs, R.D.) verhältnismäßig viele Arbeiterkinder sind, ist wahrscheinlich, aber nur für einzelne Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges belegt.« (Dahrendorf 1965: 23)

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Reinhard Damm 4 Die Arbeit von Dahrendorf 1965 enthält meine handschriftliche Notiz: Erwerb »1967«. 5 Zu den beiden Erstgenannten die Beiträge von Theodor Ebert und Gerhard Göhler in: Jesse/Liebhold (Hg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, 2014: 247ff., 261ff.; zu Fraenkel außerdem jetzt Joachim Detjen, Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung 2016: 207ff. 6 Wichtig für die gesamte Entwicklung der »Rechtswissenschaft in der Bonner Republik« sind die Beiträge in Simon 1994. 7 Zur damaligen Bedeutung dieses Modells aus damaliger Sicht Dahrendorf 1965: 16f; aus heutiger Sicht Mälzer 2016: 80f., 84ff. 8 Interdisziplinäre Forschungsprojekte etwa: ›Technisierung, Objektivierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung von Behandlungs- und Kommunikationsprozessen in der Medizin‹ (1998-2004); ›Chancen und Risiken im Gesundheitssystem: Evidence-Based-Medicine, Health Technology Assessment und gesundheitsrechtliche Regulierung‹ (2004-2008); BMBF-gefördertes Projekt: ›Recht und Realität des informed consent. Rechtliche Rahmenbedingungen des informationellen Konsensprinzips unter den Bedingungen der Molekularen Medizin‹ (2003-2006). 9 Die Bezeichnung lautet heute Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht. 10 Vgl. etwa Möller 2015: 191, die den dafür wesentlichen starken Ausbau der Bildungseinrichtungen (für Nordrhein-Westfalen) auf die späten 1960er und die 1970er Jahre ansetzt. 11 Vgl. dazu jüngst Mälzer 2016. 12 Die Zitate entstammen einer kurzen ›Zwischenbilanz‹ des Sonderforschungsbereichs ›Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf‹ an der Universität Bremen, verfügbar unter: http://www.sfb186.uni-bremen.de 13 Auch während der Arbeit an diesem Text habe ich wie regelmäßig, wenn auch in Abständen, mit einer über 80-jährigen Cousine telefoniert. Sie lebt nach wie vor in dem bereits erwähnten kleinen Dorf im Marburger ›Hinterland‹, in dem sie (und meine Mutter) geboren wurde. Selbstverständlich unterhalten wir uns in unserem vertrauten Dialekt. Sie war nicht nur Kinder aufziehende Hausfrau, sondern gemeinsam mit ihrem Mann (dieser war ›Gemeindearbeiter‹) viele Jahre mit den Arbeiten ihres kleinbäuerlichen Nebenerwerbsbetriebs befasst. Eine ihrer Töchter lebt seit langem als Ärztin in einer süddeutschen Universitätsstadt, ein ›Aufstieg‹ in der nächsten Generation.

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Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit und Diversität Martin Eisend

Martin Eisend wurde 1968 in Auerbach in der Oberpfalz geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sein Vater war Landwirt und ungelernter Arbeiter; die Mutter war Landwirtin. Er hat drei Schwestern und einen Bruder. Eisend ist Professor für Marketing an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Schwerpunkte in der Forschung sind Marketingkommunikation, Werbung und Gesellschaft, empirische Generalisierungen. Meine Herkunft ist wohl das, was man als ›einfache Verhältnisse‹ bezeichnet. Mein Vater war Landwirt in einer bayerischen Kleinstadt und nahm in den 1970er Jahren eine Arbeit als ungelernter Schichtarbeiter

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in einer Fabrik im etwa eine Stunde Busfahrt entfernteWn Nürnberg auf. Das war nötig, da die Einkünfte aus der kleinen Landwirtschaft allein nicht ausreichten, die wachsende Familie zu ernähren. Neben den Kindern lebten in den 1970er Jahren auch meine Großeltern in unserem Haus. Meine Mutter ging daher auch keiner Berufstätigkeit nach, sondern war zur Genüge damit beschäftigt, sich um den Bauernhof und die Großfamilie zu kümmern. Aufgewachsen bin ich in einem katholischen Umfeld, in dem Familie eine wichtige Rolle spielte. Meine Eltern haben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten immer uneingeschränkt um das Wohl ihrer fünf Kinder bemüht. Auch wenn es wegen der Landwirtschaft nie einen Urlaub gab und ich viele Tage meiner Sommerferien damit verbrachte, bei der Ernte mitzuhelfen, blicke ich auf meine Kindheit in den 1970er Jahren als eine sehr schöne, harmonische und glückliche Zeit zurück. Meinen Eltern war es immer wichtig, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten, wenngleich sie dabei sicherlich nicht zuerst an eine Hochschulausbildung dachten. Meine drei Schwestern haben die Realschule und danach eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich bzw. in der staatlichen Verwaltung absolviert, mein Bruder hat nach der Hauptschule eine handwerkliche Ausbildung gemacht und später den Meisterbrief erworben. Dass ich nach der Grundschule auf das Gymnasium wechseln durfte, lag auch daran, dass sowohl der Pfarrer unserer katholischen Gemeinde als auch meine Lehrerin in der Grundschule, die zugleich Klosterschwester war, meine Eltern davon überzeugten, dass das die richtige Entscheidung für ihren Sohn ist. So habe ich schließlich nach meiner Grundschulzeit ein von Jesuiten geleitetes Internat in Nürnberg besucht. Die Kosten wurden zum Teil durch staatliche Förderung gedeckt, denn mein Internatsbesuch wäre für meine Familie allein nur schwer finanzierbar gewesen. Während meiner Internatszeit in Nürnberg habe ich ein humanistisches Gymnasium besucht und schließlich Ende der 1980er Jahre Abitur gemacht. Die 1980er Jahre mit ihren politischen Protestbewegungen und einer verschiedenen Ereignissen (Tschernobyl, AIDS) geschuldeten Endzeitstimmung auf der einen Seite und der hedonistischen und individualistischen Grundeinstellung einer mehr und mehr erlebnis- und konsumorientierten Generation auf der anderen Seite waren sicherlich für meine Entwicklung ein prägendes Jahrzehnt. Aus einem eher wertkonservativen Umfeld kommend habe ich in dieser Zeit ein kritisches Weltbild entwickelt und gelernt, vorgegebene gesellschaftliche Strukturen

Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit

und Prozesse zu hinterfragen. Mir wurde auch bewusst, dass ich einen Anspruch darauf habe, mein Leben selbst gestalten zu dürfen und die gleichen Möglichkeiten und Chancen wie alle anderen Menschen in meinem Umfeld haben sollte. So der Anspruch. Die Realität sah und sieht aber häufig anders aus.

1. Soziale Unterschiede: Wahrnehmung und Wirkung Dass meine Herkunft eine Rolle spielt und was soziale Unterschiede bedeuten, habe ich sehr bewusst beim Besuch des humanistischen Gymnasiums erlebt. Ich war vermutlich das einzige Arbeiterkind in meiner Klasse. Als Teenager in den 1980er Jahren nimmt man soziale Unterschiede wohl vor allem als materielle Unterschiede wahr: Markenkleidung, Walkman, Urlaubsreisen und später dann Moped und Auto. Deren Besitz oder Nichtbesitz verdeutlicht einem Teenager, wo man sozial steht, ob man dazu gehört oder nicht. Materielle Unterschiede spielten auch noch während des Studiums eine Rolle, etwa die Tatsache, dass einige meiner Kommiliton*innen keine Nebenjobs benötigten, um ihr Studium zu finanzieren. Während der akademischen Lauf bahn kamen dann aber auch andere, ›weichere‹ Faktoren, die die sozialen Unterschiede sichtbar machen, hinzu: das Allgemeinwissen, die Verhaltensweisen und der Habitus, den meine Mitstreiter*innen, die aus akademischen Familien stammten, selbstverständlich mitbrachten, die ich mir oftmals erst aneignen musste. Das sind so banal erscheinende Dinge wie die Frage, welches Besteck man benutzt, wenn man zu einem Dinner mit mehreren Gängen eingeladen ist, oder über welche Themen man bei derartigen Veranstaltungen spricht und welche man vermeidet. Auch heute noch erlebe ich diese oftmals sehr subtilen Unterschiede im Umgang mit Menschen, die in anderen sozialen Schichten aufgewachsen sind, z.B. bei der Frage, welche Musikinstrumente man in der Kindheit zu spielen gelernt hat oder welche Länder man im gemeinsamen Urlaub mit den Eltern besucht hat. Während das Bewusstwerden dieser sozialen Unterschiede in jungen Jahren durchaus entmutigend sein konnte, sehe ich das mittlerweile, da ich mich in meinem Beruf etabliert habe, sehr gelassen. Manchmal erlebe ich sogar, dass mir Respekt gezollt wird für die Tatsache, dass ich ein sozialer Aufsteiger bin, wenngleich dieser Respekt nicht unbedingt karrierefördernd war und ist. Manche Personalentscheidungen im wissenschaft-

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lichen Bereich fallen immer noch so aus, dass Entscheider*innen meist unbewusst die Menschen aus der gleichen sozialen Schicht bevorzugen bzw. es keinen ›Nachteilsausgleich‹ für diejenigen gibt, die aus einer niedrigeren sozialen Schicht stammen. Der sehr niedrige Anteil von deutschen Professor*innen, die aus der Arbeiter*innenschicht stammen, mag teilweise auf diese Entscheidungen zurückzuführen sein, liegt aber auch an den spezifischen Karriereentscheidungen, die Menschen aus der Arbeiter*innenschicht treffen.

2. Karriereentscheidungen und der Einfluss von Mentor*innen Als sozialer Aufsteiger ist einem die wissenschaftliche Karriere nicht in die Wiege gelegt und daher ist diese Lauf bahn wohl auch selten genau durchgeplant und wird auch nicht von Anfang an zielstrebig verfolgt. Zumindest ging es mir so. Ich habe mir eine wissenschaftliche Karriere lange nicht zugetraut und hatte bis zum Abschluss meiner Promotion immer einen sehr großen Respekt vor allen Professor*innen, die aus meiner Sicht eine beeindruckende intellektuelle Leistung erbracht haben mussten, um diese besondere beruf liche Position zu erreichen. Rückblickend würde ich für meine Karriere sagen, dass einige Zufälligkeiten, aber vor allem auch bestimmte Personen eine große Rolle gespielt haben und dafür verantwortlich waren, dass ich jetzt als Universitätsprofessor tätig bin. Natürlich haben mich meine Eltern und meine Familie immer unterstützt, wo es ging. Das Wissen um diesen Rückhalt war und ist wichtig und ermutigend und ich bin meiner Familie dafür sehr dankbar. Zu konkreten inhaltlichen Entscheidungen konnte meine Familie aber wenig beitragen, dazu fehlte ihnen der Zugang zur akademischen Welt. Meine Entscheidung, ein Studium aufzunehmen, hat daher auch etwas länger gedauert und letztendlich waren es fachliche Interessen verbunden mit der Überlegung, wie ich mein zukünftiges Leben nach meiner Ausbildung eigenständig finanzieren kann, die mich dazu veranlasst haben, ein Studium der Kommunikationswissenschaft und der Betriebswirtschaftslehre zu beginnen. Finanziert habe ich mein Studium mit BAföG und verschiedenen Nebenjobs, unter anderem als Interviewer bei einem Marktforschungsinstitut und später dann als wissenschaftliche Hilfskraft am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) in Berlin. Am WZB habe ich auch zum ersten Mal einen tieferen Einblick in die vielseitigen und

Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit

spannenden Tätigkeiten von Wissenschaftler*innen bekommen, was mir sehr imponiert hat. In der Abteilung, in der ich gearbeitet habe, habe ich sehr viel Unterstützung durch die Kolleg*innen und vor allem meine Abteilungsleiterin erfahren. Und dort wurde auch von einigen Wissenschaftler*innen der Abteilung zum ersten Mal der Vorschlag an mich herangetragen, nach dem Studium zu promovieren. Trotz aller Selbstzweifel hat die Tatsache, dass ›gestandene‹ Wissenschaftler*innen mir diesen Vorschlag unterbreitet haben, mich ermutigt, mich an das Vorhaben Promotion zu wagen. Dass ich mich letztendlich für eine Promotion im Bereich Betriebswirtschaftslehre entschieden habe und nicht für eine Promotion in einer anderen Sozialwissenschaft, so wie mir das die Kolleg*innen am WZB eigentlich nahegelegt haben, lag einfach daran, dass die Frage der eigenständigen Finanzierung meines zukünftigen Lebens eine große Rolle gespielt hat. Da war Betriebswirtschaftslehre einfach die sichere Alternative. Dass derartige Überlegungen immer eine Rolle in meiner beruf lichen Karriere gespielt haben, ist ganz sicherlich meiner Herkunft geschuldet. So bin ich schließlich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin gelandet und habe dort am Lehrstuhl für Marketing gearbeitet und promoviert. Auch hier war es mein Doktorvater Alfred Kuß, der mich ermutigt hat, eine wissenschaftliche Karriere weiterzuverfolgen, und mich in diesem Vorhaben stets unterstützt hat. Er wusste sehr gut, dass und wie man Menschen zu fördern hat, denen die akademische Lauf bahn nicht in die Wiege gelegt wurde. Ihm habe ich vieles zu verdanken. Erst die erfolgreiche Promotion war für mich dann der Moment, in dem ich mich endgültig für eine wissenschaftliche Karriere entschieden habe. Es folgten eine Tätigkeit als Juniorprofessor für Marketing an der Freien Universität Berlin und dann die Professur für Marketing an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

3. Biographische Erfahrungen und der Einfluss auf das heutige Wirken Meine soziale Herkunft und mein Bildungsweg haben meine berufliche Tätigkeit immer beeinf lusst und tun es auch heute noch. Inhaltliche Themen meiner Forschung orientieren sich sehr häufig am Spannungsfeld zwischen Marketing bzw. betrieblichem Handeln und der Gesellschaft. Konkret beschäftige ich mich vor allem mit Themen

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aus dem Bereich Werbung und Marketingkommunikation und untersuche Fragen wie die der Auswirkung von Geschlechterstereotypen in der Werbung oder der Darstellung von ethnischen Minderheiten oder von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung in der Werbung. Auch mein hochschulpolitisches Engagement ist stark von Fragen der Chancengleichheit und Diversity geprägt. Ich bin aktiv in verschiedenen Gremien, in denen diese Themen eine zentrale Rolle spielen. Vor kurzem habe ich das Amt des Vizepräsidenten für Forschung, wissenschaftlichen Nachwuchs und Transfer übernommen und in allen Projekten, die ich im Rahmen dieser Tätigkeit vorantreibe, spielen Fragen von Diversity und Chancengleichheit selbstverständlich eine Rolle. Auch in der Lehre versuche ich Studierenden nicht nur fachliches Wissen zu vermitteln, sondern sie auch für die gesellschaftlichen Implikationen betrieblichen Handelns zu sensibilisieren. Die Europa-Universität Viadrina als eine Universität mit einem sehr hohen Anteil an nicht-deutschen Studierenden bietet ein weltoffenes und Diversity-sensibles Umfeld für meine Tätigkeit. Ich glaube auch sagen zu dürfen, dass mein Bildungsweg und meine wissenschaftliche Karriere im privaten Umfeld einen positiven Vorbildcharakter haben, der vor allem den Kindern meiner Geschwister Mut gemacht hat. Mein ältester Neffe absolviert gerade ein PhD-Programm an einer der führenden Universitäten in den USA. Alle anderen Neffen und Nichten bemühen sich um einen guten Schulabschluss, in der Regel um das Abitur.

4. Soziale Herkunft und Chancen(un)gleichheiten an deutschen Hochschulen Meiner Einschätzung nach gibt es an deutschen Hochschulen eine deutliche Tendenz, das Thema Diversity und Chancengleichheit mehr und mehr ernst zu nehmen, sei es aufgrund politischen Drucks, sei es aufgrund der Sensibilisierung der an den Hochschulen tätigen Personen. Von daher ist es doch etwas einfacher geworden, für Menschen aus bisher benachteiligten Bevölkerungsgruppen einen Zugang zu einer akademischen Karriere zu gewinnen, wenngleich es noch sehr viel zu tun gibt, bis wir eine tatsächliche Chancengleichheit erreicht haben. Gerade im Vergleich zum Ausland, allen voran den skandinavischen Ländern, müssen wir in Deutschland sowohl im akademischen

Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit

Bereich als auch in der Wirtschaft noch stark auf holen in Sachen Chancengleichheit. Leider spielt die soziale Herkunft bei der Diversity-Debatte noch eine nachrangige Rolle. Dafür gibt es sicherlich viele Gründe, unter anderem auch die geringere Sichtbarkeit dieses Merkmals. Ich würde mir wünschen, dass die soziale Herkunft in der zukünftigen Diversity-Diskussion an Hochschulen ernster genommen wird, denn die Zusammensetzung der Professor*innenschaft in Deutschland ist im Hinblick auf die soziale Herkunft noch weit davon entfernt, die gesellschaftlichen Verhältnisse abzubilden. D.h. der Beruf des/der Professor*in ist nach wie vor noch stark von der sozialen Herkunft abhängig. Hierzu ist eine stärkere Sensibilisierung für das Thema nötig und eine Diskussion, wie das Merkmal der sozialen Herkunft sinnvoll erfasst werden kann. Ich bin glücklich und stolz, dass ich hier und heute so offen über meine Erfahrungen aufgrund meiner sozialen Herkunft sprechen kann. Das wäre sicherlich in frühen Phasen meiner Karriere eher wenig opportun gewesen. Jetzt kann ich damit anderen, denen die wissenschaftliche Karriere nicht in die Wiege gelegt wurde, Mut machen. Alles, was dazu beiträgt, die Chancengleichheit zu verbessern, ist wichtig, denn nur eine Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben, kann eine glückliche Gesellschaft der Zukunft werden.

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Das Professorenkostüm Christine M. Graebsch

Christine M. Graebsch, geboren 1967 in Esslingen am Neckar, wuchs ohne Geschwister auf. Sie ist verheiratet mit Dr. Sven-U. Burkhardt, Rechtsanwalt und Vertretungsprofessor an der FH Dortmund, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat. Graebsch ist Professorin für Recht der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Dortmund. Themenschwerpunkte ihrer Lehre und Forschung sind Gefängnis, Straffälligenhilfe, Migrationsrecht. Legal Clinic (angeleitete studentische Rechtsberatung) im Migrationsrecht an der FH Dortmund, Legal Clinic für Gefangene an der Universität Bremen (Lehrauftrag seit 2003); Lehrauftrag im Weiterbildungsmaster Kriminologie an der Universität Hamburg seit 2012; Graebsch ist zudem Leiterin des Strafvollzugsarchivs an der FH Dortmund (Forschung und schriftliche Gefangenenberatung). Neben ihrer Pro-

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fessur ist sie in einer Kanzlei tätig und befasst sich hier vor allem mit Strafvollzugs- und Migrationsrecht.

1. Subsumtion Die Anfrage für dieses Buch nach »Professor*innen aus den Rechtswissenschaften (vor allem auch Frauen), die aus nicht-akademischen Elternhäusern stammen«, ließ mich gedanklich Kolleg*innen durchgehen. Ich wusste aber entweder nichts über deren familiären Hintergrund oder es war ein akademischer. Wie es sich für eine Juristin gehört, begann ich dann zu subsumieren: Was genau heißt ›nicht-akademisches Elternhaus‹? Die Eltern haben nicht studiert. Meine Eltern haben nicht studiert. Meine Eltern haben auch kein Abitur. Aber ich selbst komme für das Buch ja nicht in Frage. Aber: Warum eigentlich nicht? Ich bin kein ›Arbeiterkind‹. Gesucht werden aber anscheinend auch Nachfahren von Nicht-Arbeiter*innen, Hauptsache die Eltern haben nicht studiert – denn dann stellt es trotzdem einen Aufstieg dar, wenn die Tochter Professorin ist. Dennoch machte sich erst einmal Abwehr gegen das Subsumtionsergebnis breit. Ich gehöre da nicht dazu, will auch gar nicht für mich in Anspruch nehmen, Besonderes geleistet zu haben – als hätte ich mich sozusagen gegen Widerstände hochgearbeitet und könnte besonders stolz auf meine Entwicklung sein. Ich will also keinen autobiographischen Beitrag für ein Buch mit Texten von Kolleg*innen schreiben, die ›es‹ geschafft haben, obwohl sie aus ›solchen‹ Verhältnissen kommen. Komme ich sowieso schon mal nicht. Meinem Vater – und deswegen auch mir – fehlte es keineswegs am Geld. Büchern wurde von meinen Eltern eine hohe Bedeutung beigemessen. Und jedenfalls für mich selbst war von jeher klar, dass ich studieren würde so viel es geht. Es gab also schlicht keinerlei Zusammenhang zwischen dem Nicht-Studiert-Haben meiner Eltern und irgendwelchen Erschwernissen auf dem Weg zur Professur, dachte ich. Sicher schon eher zwischen meinen Erfahrungen in Kindheit und Jugend und der Art meiner heutigen Forschung, Lehre und beruf lichen Praxis. Aber das hat doch mit der sozialen Herkunft nichts zu tun, sondern mit anderen Schwierigkeiten, ist also eher individualpsychologisch zu erklären als soziologisch. Ich schreibe also Tina Möller, dass ich mit dem ganzen Thema nichts zu tun habe(n will) – nahm ich mir vor.

Das Professorenkostüm

Nach dem Jurastudium hatte ich das juristische Referendariat erst ein Jahrzehnt später angeschlossen, zunächst sozialwissenschaftliche Kriminologie an der Universität Hamburg studiert. Dort lehre ich bis heute nebenberuf lich zu meinem Hauptthema: Gefängnisse. Im Zentrum steht dabei die Erkenntnis, dass das Gefängnis ein Ort ganz vornehmlich für bestimmte soziale Gruppen ist, für diejenigen, die nicht aufsteigen, sondern über vielfältige Mechanismen, zu denen Kriminalisierung und Gefängnis einen wesentlichen Beitrag leisten, zumeist und dann erst recht unten bleiben. Gleichzeitig sollte die soziale Herkunft aber in meiner eigenen Geschichte keine Rolle gespielt haben? Das erinnerte mich dann doch ein bisschen an Opa war kein Nazi! (Welzer/ Moller/Tschuggnall 2002) – das Ausblenden bekannter gesellschaftlicher Zusammenhänge im familiären Zusammenhang. Klar, Opa war kein Nazi – und ich bin kein Nicht-Akademiker*innen-Kind! Ohne es zu wollen, hatte ich seit der Anfrage schon damit begonnen, mein Leben unter dem Gesichtspunkt des Sozialaufstiegs zu betrachten. Und weil diese neue Brille zumindest mir selbst eine sinnvolle Perspektive eröffnete, sagte ich doch zu und las Rückkehr nach Reims. Ob und wie sich meine autobiographischen Notizen dann in eine soziologische Betrachtung einfügen ließen, konnte ich ja getrost anderen überlassen.

2. Kindheitsalltag, Bücherwelt und Professorenkostüm Mein Vater hatte nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und arbeitete bei Daimler-Benz. Das Abitur war wohl an der Mathematik gescheitert. Meine Mutter war ›Katechetin‹, Lehrerin für evangelische Religion, aber ohne vorheriges Studium. Sie hatte zwar ein Gymnasium besucht, gab dort aber nach Klassenwiederholung unter anderem aus Prüfungsangst weit vor dem Abitur auf. Die Trennung meiner Eltern, als ich vier Jahre alt war, legte einen traurigen Schatten über meine Kindheit. Nach ihr nahm meine Mutter eine Stelle als Verwaltungsangestellte an. Als die Schwester meiner Mutter in ein neu gebautes Haus in Stuttgarts gehobener Lage zog, mietete meine Mutter – nun alleinerziehend – eine verhältnismäßig teure Wohnung in Nachbarschaft zur Schwester. Ich wohnte in den Schulwochen meiner Grundschulzeit in kurzer Fußentfernung zur mütterlichen Wohnung im Gästezimmer meiner Tante. Meine Tante

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war Hausfrau, mein Onkel arbeitete in leitender Position, ebenfalls ›beim Daimler‹. Er war Diplom-Kaufmann, aber meine Eltern erschienen mir wesentlich intellektueller. Ich habe mich in diesem Haushalt sehr unverstanden gefühlt. Man hatte mich in der Not aufgenommen (»des Kind hot ja koin Vadder«), aber mein Onkel ließ mich dies spüren. Meine Mutter habe ich viel zu selten, meinen Vater so gut wie nie gesehen, zehn Jahre lang überhaupt nicht. Er sei eben viel verreist, habe keine Zeit. Er war für den Export in arabische Länder zuständig und wechselte schließlich die Seite, wie er sich ausdrückte, kaufte als Selbständiger für eine irakisch-kuwaitische Firma in Deutschland ein, womit er ein Vielfaches verdiente. Der frühere Ostermarschierer hatte offenbar kein Problem mit seinen Handelsgeschäften, unter anderem für die Familie von Saddam Hussein, deren Gegenstand für mich bis heute im Dunkeln liegt. Mein Großvater mütterlicherseits war gelernter Schlossermeister und hatte nach dem Krieg (»zweimal ausgebombt«) ein Markisengeschäft, in dem meine Großmutter mitgeholfen hatte. Sie verbrachten von den im Haushalt von Tante und Onkel lebenden Erwachsenen die meiste Zeit mit mir. Niemanden dort sah ich jemals mit einem Buch in der Hand. Trotzdem standen bei Tante und Onkel in Leder gebundene Klassiker in der Vitrine. Ich nahm mir später Goethes Faust in Weiß und erinnere mich an das Erstaunen meiner Tante, dass man so etwas tatsächlich lesen könne und ihre Sorge, der Einband könne schmutzig werden (wurde er, ich habe es behalten, vermisste sowieso niemand). »Die liest immer« war eine familiär gängige Beschreibung meiner Person, mit einer Mischung aus Ver- und etwas Bewunderung bei gleichzeitig irgendwie spürbarer Missachtung. Akademiker*innen galt Hochachtung, aber nur, weil sie gut verdienten. Mein Onkel sagte allen Ernstes, Geld sei das Wichtigste im Leben und verachtete Menschen wie meine Mutter zutiefst dafür, dass sie keines hatten. Als ich anfing, Jura zu studieren, sah mein Onkel dies als gute Wahl, als Mädchen müsse ich das ja nur solange studieren, bis ich ›einen finde‹ und da sei Jura ideal. Jedenfalls wurde mir mit diesem Vorbild klar, wie ich keinesfalls werden wollte. Meine Mutter unterstützte meine Sicht darauf und gab mir durchgehend das Gefühl, das Wichtigste sei zu entscheiden, wo meine persönlichen Interessen lägen, alles Weitere schien dann kein Problem zu sein. Während meine Cousine diverse Arbeiten im Haushalt erlernte, las ich und beobachtete auf dem Rückweg von der Schule Eidechsen (»die

Das Professorenkostüm

Tine trödelt wieder«). Mein Opa, dessen ›Goldenkel‹ ich war, meinte, ich bräuchte das mit der Hausarbeit nicht: »Aus dir wird mol äbbes recht’s!«, es blieb aber immer offen, was er mit etwas Richtiges meinte. Mein Berufswunsch war es, Lehrerin zu werden – aber immer nur in der Klasse, in der ich gerade war, keinesfalls darunter, denn das wäre ja dann langweilig. Außerdem war klar, dass ich gerne Bücher schreiben wollte. Ich erwartete damals, das größte Problem dabei werde es sein, ein Thema auszuwählen. In der Nachbarschaft fand ich eine zwei Jahre ältere Pfarrerstochter als Freundin, im Grundschulalter kein geringer Unterschied. Ich verbrachte in ihrer Familie so viel Zeit wie möglich, aß regelmäßig dort und war sehr froh, als ich Getränke aus dem Keller holen musste und also – trotz meiner extremen Schüchternheit – ein bisschen dazugehörte. Bei einem Kindergeburtstag sagte ihre Mutter: »s Tinele: so still, aber so g’scheit!«. Das freute mich, denn meine Schüchternheit gründete in einer tief sitzenden Angst, für dumm gehalten zu werden. Genau so eine Familie wollte ich damals: in aufgeschlossener Weise christlich, intellektuell und musisch. Im Alter von elf Jahren entschied ich mich, an Fastnacht als ›Professor‹ zu gehen, wie auf dem Kinderfoto zu Beginn dieses Beitrags zu sehen ist. Bemerkenswert ist, dass sich diese Kostümierung mehrheitlich durch Attribute von Männlichkeit auszeichnete. Ich hatte auch viele männliche Vorbilder, vor allem in Büchern, ohne zu merken, dass da vielleicht etwas nicht ganz passte.

3. Professor(in) werden ohne Streber(in) zu sein Von Anfang an hatte meine Mutter sehr deutlich gemacht, dass es nicht in Frage kam, für die Schule auch nur irgendetwas zu lernen, denn sonst wäre man ja ein Streber. Ich hatte dies zusammen mit der Erwartung, in der Schule Höchstleistungen zu bringen, verinnerlicht, auch wenn meine Mutter stets spaßig betonte, anders als andere würde ich für eine Fünf belohnt und für eine Eins bestraft. Bis zur sechsten Klasse funktionierte das mit den guten Leistungen ohne Lernen auch problemlos. Ich kam in eine wunderbare (echte) Ganztagsschule, ohne Hausaufgaben, und meine Mathelehrerin spielte mit mir nachmittags Superhirn und Schach. Sie meinte, ich würde einmal Mathematikprofessorin werden.

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Dann allerdings entdeckte ich meinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ich hatte außerdem als Kind sehr viel über die NS-Zeit gelesen und meine Mutter vertrat in diesem Zusammenhang vehement, man müsse konsequent die eigene Meinung sagen, dürfe sich keinerlei Opportunismen erlauben oder gar vor irgendwelchen Autoritäten kuschen. Dieses Erziehungsziel erreichte sie in einem Ausmaß – gegenüber Lehrer*innen, aber auch gegen sich selbst –, das ihr irgendwann über den Kopf wuchs. So kam ich mitten in der siebten Klasse in ein evangelisches Internat im Oberschwäbischen. Das änderte an der Renitenz allerdings nichts, sorgte nur dafür, dass ich nun meine Rebellion auch noch durch Schulboykott zum Ausdruck brachte, ganz gewiss kein Streber war, ganz gewiss nicht anpasslerisch, aber in den Noten stetig schlechter und in der zehnten und elften Klasse mit zunehmendem Fehlzeiten. Schließlich scheiterte meine Versetzung in die elfte Klasse an acht Fünfen im Zeugnis. Das Lesen hatte ich nur während der ersten drei Jahre meiner Zeit in einem Internat unterbrochen, in dem es weit selbstverständlicher war, eine Bierf lasche als ein Buch in der Hand zu halten. Danach las ich wieder, aber höchstens zufällig auch Bücher, die (zu anderem Zeitpunkt) im Unterricht gelesen wurden. Hausaufgaben und anderen ›streberhaften‹ Tätigkeiten verweigerte ich mich konsequent – litt aber gleichzeitig darunter und verachtete die ›Streber‹ in der Klasse ebenso wie ich sie zugleich beneidete. Wenn ich in einem Fach (ohne Lernen) keine Eins haben konnte, mochte es eben eine Sechs sein (die die Lehrer*innen allerdings in keinem einzigen Fach über sich brachten). Es gab jedoch während dieser ganzen Jahre, in denen ich mich mit der Mehrzahl meiner Lehrer*innen anlegte, auch jeweils mindestens eine Lehrperson, die sich im positiven Sinne mit mir auseinandersetzte und gewissermaßen an mich glaubte – was ich (durchaus bedürftig nach Ersatzeltern) dankbar aufnahm, zumal ich selbst nicht recht wusste, weshalb ich mich so verhielt. Deren Bedeutung und die Selbstverständlichkeit, mit der ich trotz alledem auf dem Gymnasium bleiben konnte, sind kaum zu überschätzen. Die Leiterin des Mädcheninternats, die ebenfalls sehr viel Geduld für mich auf brachte, meinte: »Entweder du landest mal in der Gosse oder kämpfst auf einem Podium für Frauenrechte.« Besonders wichtig unter ihnen war für mich mein Schul- und Internatsleiter, der von meinen Mitschüler*innen höchstens geachtet, wegen seiner hohen Anforderungen – z.B. täglich 60 Seiten zu lesen

Das Professorenkostüm

(wenn man schon Bier trank) – und sonstiger Anmaßungen, aber nicht unbedingt gemocht wurde (zur Person Folkers et al. 2014). Für mich war er zunächst jemand, der keiner Auseinandersetzung auswich und, obwohl allgemein als autoritär bekannt, sich weit mehr als andere mit vehement vorgetragenen Gegenargumenten von meiner Seite befasste, statt Sanktionen auszusprechen. Als mir drohte, in der elften Klasse zu scheitern, sagte er im Monat April, ich solle mich doch einfach hinsetzen und lernen, bis zu den Sommerferien könne ich bei meiner Begabung nicht nur die elfte Klasse, sondern auch das Abitur schaffen. Diese Aussage stürzte mich in tiefe Ambivalenzen, einerseits war ich stolz, andererseits ähnelte dies viel zu sehr der ohnehin ständig über mir schwebenden Erwartung, Großartiges zu leisten, (fast) ohne etwas dafür zu tun. Ich entschied mich, die Klasse zu wiederholen. Natürlich hätte ich entsprechend an mich selbst gestellter Erwartungen am liebsten mein Verhalten sofort in das genaue Gegenteil verändert und ab dann konsequent gelernt. Auch wenn mir dies nicht gelang, so veränderte sich meine Herangehensweise aber immerhin nach und nach, wenn auch mit starken Rückschlägen und einer Reihe weiterer Boykottaktionen. Wichtig dafür war, dass ein Lehrer meinem Wunsch nachkam, mich einfach zu betrachten als wäre ich eine Schülerin, die er noch nicht aus früheren Auseinandersetzungen kannte. Der Internatsleiter, mein Lehrer in den mich begeisternden Fächern Deutsch, Philosophie und Religion, und seine Frau, meine Lehrerin in dem für mich höchst ambivalenten Mathe-Leistungskurs, unterstützten mich beide mit unzähligen Gesprächen und positivem Denken. Als ich kurz vor dem Abitur wieder Kontakt zu meinem Vater hatte, meinte dieser, ein Philosophie-Studium werde er mir nicht finanzieren – denn da könne ich ja direkt anfangen, die Straßen zu kehren. Mein Internatsleiter und seine Frau empfahlen mir Jura, wobei er anmerkte: »Wenn du Philosophie studierst, kannst du deine Überzeugung gut begründen, aber wenn du Jura studierst, kannst du sie auch durchsetzen.« Mein Vater war zähneknirschend einverstanden, nicht ohne den Hinweis, dass schlechte Juristen später in irgendwelchen Hinterzimmern säßen und Rechnungen schrieben. Ich solle lieber erstmal eine Lehre machen, da ich gerne läse als Buchhändlerin, er würde mir dann »einen Buchladen kaufen«.

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4. Juristische Sprachspiele Ich schrieb mich an der Universität Konstanz für Jura ein. Neben juristischen Lehrveranstaltungen besuchte ich aber, ermutigt durch den Staatsrechtler Ekkehart Stein (ohne ihn hätte ich mich nicht getraut), auch solche der philosophischen Fakultät. Vor allem Seminare zu Wittgenstein, Wissenschaftstheorie und Nietzsche unterstützten mich in der spöttischen Verachtung, die ich den juristischen Sprachspielen und ihrer Abstraktion von jeder mir bekannten Lebenswirklichkeit entgegenbrachte. Zugleich bestand die schwierigste Aufgabe für mich gar nicht darin, die dogmatischen Abstraktionen zu verstehen, sondern darin, die Selbstverständlichkeiten zu erahnen, die beispielsweise jeden Klausursachverhalt als unerwähnt Vorausgesetztes durchzogen. Sie prägten offenbar das Denken ›aller billig und gerecht Denkenden‹ – zu denen ich anscheinend (noch) nicht gehörte. Die kritische Auseinandersetzung mit alledem mündete aber immerhin im Bestehen der Zwischenprüfung. Diese hatte ich nur wegen des schlechten Gewissens meinem Vater gegenüber versucht und – getreu den unterschwelligen Vorgaben meiner Mutter – ohne Lernen im Sinne der Wissensaufnahme mittels Lehrbuch, Leuchtstift und Karteikärtchen bestanden. Dass ich dabei mehrfach die beste Arbeit des Semesters geschrieben hatte, brachte meinen Vater nicht von seiner Meinung über mich ab, ich könne nur eine schlechte Juristin werden. Meine Mutter hingegen war einerseits sehr überzeugt von meinen Fähigkeiten. Andererseits aber begegnete sie jedem kleinen Zwischentief, das beim Schreiben einer Hausarbeit auftrat, sofort mit Sprüchen wie: »Du kannst ja auch beim Breuniger [Kauf haus in Stuttgart] arbeiten.« Es fehlte jedes Instrumentarium, mich zum Durchhalten zu motivieren und beim kontinuierlichen Arbeiten zu unterstützen. Besonders kritisch betrachtete ich das Strafrecht. Die Professoren (ja, durchwegs Männer) hatten ganz offensichtlich keinerlei Vorstellung von den Ärgernissen und Lebenskatastrophen, über die sie da sprachen, was ich vor dem Hintergrund von Internatserlebnissen für mich selbst durchaus in Anspruch nahm. Sie aber konstruierten eine Lehrbuchkriminalität, bei der sich nichts aus den Umständen ergab, alles Ergebnis rationalen Kalküls bis hin zur Bösartigkeit war. Dies würzten sie mit einem schwer erträglichen Juristenhumor, der den Unterstellungen zugleich die Ernsthaftigkeit nehmen sollte (»der Dieb Klau…«). Während in der Einführungswoche unter anderem der

Das Professorenkostüm

Kriminologe Wolfgang Heinz für mich hochinteressante Erkenntnisse vorstellte (die Rückfallrate nach Jugendstrafvollzug sei höher als ohne), spielten solche Fragen in den kommenden vier Semestern keinerlei Rolle mehr. Strafrecht wurde gelehrt, ohne auch nur ein einziges Mal über Sinn und Zweck von Strafen und die tatsächliche Möglichkeit diese zu erreichen, zu sprechen.

5. Begegnungen mit der Welt des Gefängnisses Zum Ende dieser Zeit hin konnte ich meinen Vater nicht mehr erreichen, schließlich sagte mir seine Freundin: »Sie können Ihren Vater im Gefängnis besuchen.« Das machte ich dann. Es lehrte mich mehr über Strafrecht als alle bisherigen Kurse, vor allem aufgrund des missachtenden Umgangs, den ich durch das Personal des Vollzugskrankenhauses Hohenasperg erfuhr, während mein Vater den Aufenthalt dort als großen Fortschritt zu seinem vorherigen in Stuttgart-Stammheim beschrieb. Er saß in Untersuchungshaft wegen eines Wirtschaftsdelikts. Das Strafverfahren, das ich verfolgte (bzw. es versuchte, da entgegen dem Öffentlichkeitsgrundsatz im Nebenzimmer gedealt wurde, während mein Vater und ich als Einzige im Gerichtssaal verblieben), zeigte mir das ›law in action‹. Statt das Jurastudium aufzugeben, wechselte ich an die Universität Bremen. Dieser Entschluss entstand, weil das dortige Lehrangebot Themen wie ›Zivilistischer Verbraucherschutz‹ umfasste, während in Konstanz gelehrt wurde: »Das Recht ist für den Wachsamen da« (Jürgen Damrau) – die anderen bleiben dann eben auf der Strecke. Mein Entschluss wurde dadurch gefestigt, dass mir viele abrieten, weil Bremen ›meine Karriere gefährde‹, ich würde ›vom Daimler‹ dann nicht mehr genommen. Da wollte ich allerdings auch keinesfalls hin. Das in Bremen gleich zu absolvierende Praktikum führte mich zu dem Strafverteidiger Erich Joester, die im Studium dominante richterliche Perspektive erschien mir zunehmend als Anmaßung. Dort erfuhr ich auch von der Möglichkeit studentischer Rechtsberatung im Gefängnis – ich solle auf den Namen Johannes Feest achten (näher Graebsch/Schäfer/Bruns 2005). Die so mögliche Auseinandersetzung mit der Situation von Gefangenen veränderte mein Denken vollständig, was noch einmal mehr galt, als ich dann unmittelbar nach meinem Jurastudium in Bremen begann, eine Rechtsberatung auch in der Ab-

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schiebungshaft aufzubauen. Bis heute bin ich alldem verbunden, der zugehörige Kurs an der Universität Bremen wird seit 2003 von mir, mit anderen wie Johannes Feest, angeboten. Mein Vater, inzwischen zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung und hoher Zahlungsauf lage verurteilt, hatte mir zwar ein wenig über Strafvollzug, insbesondere über Probleme für die Gefangenen berichtet, die nicht in einer so privilegierten Situation waren wie er. Als er von meinem Engagement auf diesem Gebiet erfuhr, verwies er mich aber auf Das absurde System (Wagner 1985) und meinte: »Heroische Einzelleistungen vermögen am Gesamtsystem nichts zu ändern.« Als ich am Ende meines Jurastudiums eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin angeboten bekam und promovieren wollte, war seine Reaktion abfällig: Ich solle doch lieber arbeiten gehen, Leute von der Uni seien immer so theoretisch.

6. Doktorarbeit und -väter Dass ich nach dem Jurastudium nicht direkt mit dem Referendariat begann, hatte seinen wesentlichen Anlass mal wieder in einer Konfrontation, diesmal zwischen der Welt richterlicher Praxis – in Gestalt des Vorsitzenden Richters am Landgericht sowie meiner mündlichen Prüfung im ersten Staatsexamen, Helmut Heinrichs (Autor im Palandt) – und meinem Gerechtigkeitssinn und Anti-Opportunismus. Diese Mischung eskalierte in der mündlichen Prüfung des ersten Staatsexamens etwas (Parole: ›Zivilcourage statt Zivilrecht‹). Ich blieb an der Uni Bremen und studierte außerdem Kriminologie in Hamburg. Während der Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin besuchte ich eine Veranstaltung über ›Frauen in der Wissenschaft‹. Auf die Frage, wer von den Teilnehmerinnen eine Professur anstrebe, hätte ich mich niemals gemeldet, erinnere mich sogar, wie ich mich für eine Kollegin, die dies bejahte, schämte. Mit experimenteller Forschung und Gesetzgebung im Strafrecht hatte ich ein anspruchsvolles und interdisziplinäres Dissertationsthema gewählt, das mich sehr faszinierte. Es gelang mir allerdings nicht, in gleichzeitig kontinuierlicher Schreibarbeit und Beschränkung des Gegenstands die geforderte Monographie anzufertigen. Vielmehr entstanden nach zunächst verzögertem Schreibbeginn weit über tausend Seiten nicht zusammenhängenden Textes, der sich der Einhegung

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zwischen zwei Buchdeckeln nachhaltig entzog. Daran vermochte auch die jahrelange Bemühung zweier Doktorväter (Karl F. Schumann und Johannes Feest), daraus eine ›Diss Light‹ zu machen, nichts zu ändern. Unterstützt hat mich nicht nur dabei und bis heute zudem mein damaliger WiMi-Kollege und heutiger Mann, später unter anderem durch die Übernahme des großen Teils der Elternarbeit. Obwohl er Jahre vor mir mit ›summa cum laude‹ promovierte, hat er bis heute keine Professur. Er stammt aus einem nicht-akademischen Elternhaus: der Vater war Kneipenwirt ohne Ausbildung, die Mutter Verwaltungsangestellte mit Volkshochschulabschluss. Schließlich holte ich bei gleichzeitiger Fortsetzung diverser Unitätigkeiten mein Referendariat und zweites Staatsexamen nach. Ich wollte in der Praxis, die ich insbesondere im Bereich Abschiebungshaft inzwischen aufgebaut hatte, anwaltlich tätig sein können. Als ich dann schwanger war und fürchtete, nach der Geburt des Kindes keine Zeit zum Schreiben mehr zu haben, gelang mir die Beschränkung des Dissertationsthemas immerhin im Rahmen eines Aufsatzes, dem danach weitere folgten. Damit habe ich mich letztlich in gewisser Weise selbst ausgetrickst: Die Publikationen erregten die Aufmerksamkeit eines Hochschullehrers und mündeten in den Rat eines anderen zu einer kumulativen Promotion. Die »Streberarbeit« hatte ich also ungewollt bereits erledigt und erhielt dafür den formalen Abschluss mit Bestnote.

7. Professur an der Fachhochschule Dortmund Noch während des laufenden Promotionsverfahrens war meine heutige Stelle an der FH Dortmund ausgeschrieben. Ich hatte zuvor nie an eine Fachhochschul-Professur gedacht, aber meine Praxisjahre als Anwältin erfüllten genau die Voraussetzungen dafür. Die Stelle war wie für mich gemacht, umfasste genau meine Interessengebiete (Straffälligenhilfe und Migrationsrecht). Diese einzige Bewerbung führte direkt zu einer Berufung, die sich dann durchaus als eine im doppelten Sinne herausstellte. Das liegt daran, dass Forschung und Lehre hier interdisziplinär sowie mit nur einem Minimum akademischer Selbstbezüglichkeit möglich sind. Auch besteht eine untrennbare Verbindung mit meiner nebenberuf lich fortgeführten anwaltlichen Praxis und Perspektive. Das Gerechtigkeitsstreben darf längst offiziell als Teil des Berufs ausgeübt werden und immerhin bin ich dort angelangt, ohne opportunisti-

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sche Kompromisse einzugehen. Aufgrund meiner Geschichte weiß ich sehr genau, was Sanktionen anrichten, wie wichtig ressourcenorientierte Unterstützung und ernsthafte Auseinandersetzung stattdessen sind, aber auch Fairness in Entscheidungsprozessen und die Möglichkeit effektiver Beschwerde gerade in der totalen Institution (Graebsch 2017 zu Goffman), wozu neben Gefängnissen ja auch Internate gehören. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Themen heute im Zentrum meiner Tätigkeit stehen und dass diese nun im Bereich Soziale Arbeit stattfindet. Heute arbeite ich gerne so viel es geht, was manch einem strebsam erscheinen mag.

8. Abrupte Korrektur des kindheitsprägenden NS-Bildes Mitte der 1990er Jahre zeigten mir einige schmerzliche Erfahrungen in meinem Umfeld, dass die (nicht nur) mir vermittelte stillschweigende Grundannahme falsch war, die Mehrzahl der Deutschen sei innerlich im Widerstand gewesen, habe nur nicht gewagt zu widersprechen. So erfuhr ich erst aus einem Buch von Ernst Klee (1991; dazu auch Lächele 1995), dass an meiner Internats-Schule der im Nürnberger Einsatzgruppenprozess zum Tode verurteilte Eugen Steimle nach seiner Begnadigung Lehrer (u.a. für Geschichte!) und zudem Nachbar meines Internatsleiters gewesen war. Dies war während meiner Internatszeit jedoch beschwiegen worden (dazu im Roman Blickle 2011).

9. Entdeckung der doch vorhandenen akademischen (Groß-)Familie väterlicherseits Nachdem mich allein die Fachhochschule nach Dortmund geführt hatte, in eine Stadt und Region, zu der ich sonst keinerlei Bezüge hatte, spürte mich dort Ende 2016 ein Pfarrer im Ruhestand auf, der einer von elf Cousins und Cousinen meines Vaters ist, die dieser aber niemals erwähnt hatte. Es stellte sich heraus, dass viele von ihnen und ihren Nachfahren in unmittelbarer Nähe zu mir in Dortmund wohnen und einige zu der Schule gegangen sind, zu der heute meine Tochter geht. Näheres Kennenlernen der (großen) Familie ergab, dass auch die inzwischen 70- bis 80-Jährigen einschließlich der Frauen, nahezu sämtlich entweder studiert oder eine sonstige gute Ausbildung durchlaufen

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hatten. Diese Familie ist genau das, wonach ich mich als Kind gesehnt hatte. Gut denkbar, dass dasselbe meinen Vater – mit seiner stets zur Schau getragenen Akademiker*innenfeindlichkeit – zur vollständigen Abwendung von dieser Familie veranlasst hatte.

10. Resümee Mein familiärer Hintergrund hielt immerhin ein professorales Kostüm als Möglichkeit bereit, die mir prinzipiell zu ergreifen auch zugetraut und bei der ich mütterlicherseits inhaltlich und väterlicherseits finanziell unterstützt wurde. Trotzdem fehlte jede Vorstellung davon, was es bedurft hätte, um diese Kostümierung in gelebten Alltag zu übersetzen: Dass akribische Arbeit an einem selbst entworfenen Schnittmuster grundverschieden von angepasstem Strebertum oder opportunistischer Unterwerfung war; dass man ein Kostüm nicht nur anziehen, sondern auch lernen musste, wie man sich in diesem glaubhaft bewegt und dass eine Kostümierung eben eine solche bleibt, wenn sie nicht mit Inhalten ausgefüllt wird. Wieso immerhin das Kostüm selbst präsent war, ist eine offene Frage. Vielleicht spielte neben den unerfüllten und uneingestandenen Aufstiegswünschen meiner Eltern, diversen Negativvorbildern und dem Eintauchen in eine Welt von Büchern auch die verschwiegene akademische Familie meines Vaters dafür eine Rolle, vielleicht auch gerade durch das Verschweigen.

Literatur Blickle, Peter (2011): Von einer Liebe zur andern, Eggingen: Edition Isele. Folkers, Gernot/Dangel-Pelloquin, Elsbeth/Kleinert, Ulfrid (2014): Hans-Albrecht Breuning. Mann des Anstoßes in Zeiten der Studentenbewegung, Berlin/Münster: LIT Verlag. Graebsch, Christine/Schäfer, Manuela/Bruns, Martina (2005): »Der Verein für Rechtshilfe. Kostenlose Gefangenenberatung und praxisbezogene Juristenausbildung«, in: Sven-U. Burkhardt/Christine Graebsch/Helmut Pollähne (Hg.): Korrespondenzen in Sachen Strafvollzug, Rechtskulturen, Kriminalpolitik, Menschenrechte. Ein Lese-Theater als Festschrift, Münster, S. 265-275.

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Christine M. Graebsch

Graebsch, Christine (2017): »Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen«, in: Christina Schlepper/Jan Wehrheim (Hg.): Schlüsselwerke der Kritischen Kriminologie, Weinheim: Beltz Juventa, S. 118-129. Klee, Ernst (1991): Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen, Frankfurt a.M.: Fischer. Lächele, Rainer (1995): »Vom Reichssicherheitshauptamt in ein evangelisches Gymnasium – Die Geschichte des Eugen Steimle«, in: Jörg Thierfelder/Rainer Lächele (Hg.): Das evangelische Württemberg zwischen Weltkrieg und Wiederauf bau, Stuttgart: Calwer Verlag, S. 260288. Wagner, Georg (1985): Das absurde System. Strafurteil und Strafvollzug in unserer Gesellschaft, Heidelberg: Müller. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer

Von wo ich herkomme Sabine Hark

Sabine Hark wurde 1962 in Otzenhausen/Saarland geboren. Der Vater arbeitete nach seiner Lehre (Former) als Fabrikarbeiter am Band, die Mutter hat keine Ausbildung absolviert und war für die Familien- und Hausarbeit zuständig. Die vier Geschwister arbeite(te)n als Krankenschwester, Großhandelskaufmann, Elektriker sowie Bauingenieurin (FH). Hark lebt in einer lesbischen Lebenspartnerschaft ohne Kinder und hat eine Professur für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin inne. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Feministische und Queer Theorie; Politische Soziologie und Theorie; Wissenssoziologie und Hochschulforschung. Die letzte Buchpublikation (zusammen mit Paula-Irene Villa) trägt den Titel: Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verf lechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. 

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»Es ist eine bestimmte Technik nötig, die Erfahrungen frisch zu halten, so daß man immerzu aus ihnen neue Urteile schöpfen kann.« (Bertolt Brecht)

1. Von wo ich herkomme Ein Dorf im nördlichen Saarland. Katholische Gegend. In den 1960er Jahren. Kaum 1.000 Einwohner*innen. Eine Kirche, ein Marktplatz, eine Volksschule, ein Kindergarten. Eine freiwillige Feuerwehr und ein Fußballverein. Im Verein dürfen Mädchen nicht Fußball spielen. Ein Männergesangverein und ein Kirchenchor. In dem singen Frauen und Männer gemeinsam. Zwei Metzgereien, zwei Bäckereien, die wenigen Lebensmittelläden kaum größer als ein Wohnzimmer. Ein Laden für Eisen- und Haushaltswaren, zwei für Stoffe, Wolle und Kurzwaren, einer für Schreib- und Spielwaren. Eine Lottoannahmestelle. Die Post und die Raiffeisenbank. Vielleicht ein halbes Dutzend Wirtshäuser, einige davon mit Festsaal und Kegelbahn. Zwei Hotels, Zur Post und Zum Hunnenring. In denen wird Hochzeit gefeiert und nach der Beerdigung zum Leichenschmaus, in dieser Gegend Leichenimbs genannt, geladen. Eine Schreinerei, ein Fliesenleger, im Dorf nur bekannt als de Plattemann, ein Elektriker, ein Anstreicher. Eine Schneiderin, ein Schuster, ein Friseursalon, eine Tankstelle. Noch haben freilich nur wenige im Dorf ein Auto. Ein Pfarrer, Fräulein Kolb, die Lehrerin, der Bürgermeister, der Schuldirektor, ein Förster. Ein Arzt für die Menschen und einer für die Tiere. Ein Gemüseauto, das sein Kommen am Freitag mit lautem Schellengeläut ankündigt. Das gibt dem immer gleichen Rhythmus des Alltags Struktur. Wie die Sonntagsmesse. Zweimal im Jahr kommt der Scherenschleifer und Alteisenhändler, um die Messer zu schärfen und verrostete Sensen und Milchkannen, ausrangierte Kohleöfen und Fahrräder einzusammeln. Das Obst von ihren Bäumen tragen die Leute in die örtliche Kelterei. Viez* trinken die Kinder das ganze Jahr. Jedes Jahr am zweiten Augustwochenende Kirmes und am Fronleichnamstag eine Prozession durchs Dorf. Ein Wanderzirkus macht einmal im Jahr 1

* Viez bezeichnet im moselfränkischen Sprachraum, zu dem dieses Dorf gehört, wahlweise Apfelsaft oder Apfelwein, auch süßer oder saurer Viez genannt.

Von wo ich herkomme

Station. Mit unbeholfen verborgener Neugier begegnen die Dorf kinder ihren zeitweiligen Schulkameraden. Abstand halten muss ihnen nicht eigens aufgetragen werden. Das Dorf hat nur noch wenige Höfe. Ein Leben ist damit nicht mehr zu machen. Ein Kino und ein Bahnanschluss verbinden es mit der Welt. Im 1954 errichteten ›Europahaus‹, einer der deutsch-französischen Verständigung gewidmeten politischen Bildungsstätte, sind es nicht die Dorf bewohner*innen, die die Zukunft Europas entwerfen. Der als ›Hunnenring‹ bekannte Steinwall, eine der größten keltischen Fliehburgen Europas, und seine Mittelgebirgslage am südlichen Rand des Hunsrücks machen den Ort zu einem des bescheidenen Fremdenverkehrs. Ein ›Luftkurort‹. Das Café ›Ritz‹, nahe des Europahauses, wirbt mit Terrasse, Liegewiese am Wald und Ölheizung. Die Einheimischen essen am Sonntag, nach dem Spaziergang, ihren eigenen Kuchen. Seit 1961 schickt das Katholische Müttergenesungswerk Mütter ins ›Helene-Weber-Haus‹. Die sollen sich da erholen. Dass der »reine Männerstaat das Verderben der Völker« sei, hatte die spätere CDU-Politikerin Helene Weber, die erste Ministerialrätin der Weimarer Republik, die im Juni 1933 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« von den Nazis aus dem Amt gejagt worden war, nach dem Ersten Weltkrieg erklärt. Davon wissen die im Dorf nichts. Auch nicht, dass Helene Weber eine der vier ›Mütter des Grundgesetzes‹ ist. In dem steht seit 1949: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« (Art. 3, Abs. 2) Mit dieser Regel sollten die Dörf ler erst ein Jahrzehnt später zu leben beginnen. Die Reste eines anderen, jüngeren Walls, Hitlers Westwall, sind ein beliebter Spielplatz der Kinder. In dessen Bunkern lässt sich vortreff lich Verstecken spielen. Auch, weil es verboten ist. Auf der Straße spielen sie, 20 Jahre nach Ende des Krieges, ›Völkerball‹. Der Landkreis, dem das Dorf angehört, zählt 90.000 Menschen auf 476 km2; die teilen sich knapp 10.000 Autos. Weniger als Tausend nennen eine andere als das Deutsche ihre Muttersprache. Im Dorf sind die noch nicht angekommen. Zu den ›besseren Leuten‹ im Dorf zählen die, die einem Erwerb ›auf dem Amt‹ nachgehen – in der Gemeindeverwaltung oder gar in der Kreisstadt. Die proletarischen Männer pendeln in die rund 60 Kilometer entfernten Saargruben und Hüttenwerke zur Arbeit oder sind im nahegelegenen Gusseisenwerk beschäftigt. In dem laufen seit Anfang der 1960er Jahre statt Öfen und Kochherde Panzerketten für die Bundeswehr vom Band. Die Frauen aller Klassen sind meist nicht erwerbstätig, Arbeit haben sie gleichwohl mehr als genug.

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Sie versorgen Kinder und Haushalt, waschen die Wäsche in mit Holz beheizten Kesseln, legen im Herbst den Weißkohl in Steinguttöpfen ein, auf dass es im Winter an Vitamin C nicht mangelt, und ziehen am Samstag die auf dem Bohnerbesen hockenden Kinder über den Küchenboden. Die Kinder gehen in die Grundschule, zur Erstkommunion, wenn sie in der dritten Klasse sind, und ab der fünften Klasse ins benachbarte Dorf auf die Hauptschule. Die Kinder vom Schreinermeister, dem Doktor und dem Schuldirektor gehen in die Kreisstadt aufs Gymnasium. In den Urlaub fährt fast niemand.

2. Heimat? Zur Bundesrepublik Deutschland ist das Dorf 1957 gekommen. Ab 1959 gehen auch diese Bürger*innen mit der D-Mark um. Mit deutlicher Mehrheit hatten sich die Saarländer*innen 1955, bei der ›Saarabstimmung‹, dafür entschieden, zu den (West-)Deutschen gehören zu wollen. Dass sie nur so ihr Wirtschaftswunder erleben könnten, war ihnen von deutschnationalen Kräften aller politischen Couleur eingebläut worden. Schon seit 1950 hatten die im Deutschen-Heimatbund verbündeten Parteien, die Demokratische Partei Saar, die Christlich Demokratische Union und die Deutsche Sozialdemokratische Partei, immer wieder mit aller Schärfe gegen die so genannte ›Entnationalisierung‹ der saarländischen Bevölkerung polemisiert. Nix wie hemm!* hatte die schon einmal, 1935, gewollt. Aber was war das für eine Heimat, nach der sie sich zweimal gesehnt hatten? Im Verlauf der Jahrhunderte zwischen dem Kurfürstentum Trier, den Franzosen und den Preußen mehrfach hin- und hergereicht, hatte das Dorf schon oft die Zugehörigkeit gewechselt. Saarländer waren sie nie gewesen. Eine saarländische Identität hat erst Napoleon erfunden. 1798 war von ihm das Département de la Saare eingerichtet worden. Gedankt haben es ihm die solcherart mit einer neuen Zugehörigkeit Ausgestatteten nicht. ›Saarfranzosen‹ wollten sie nicht sein, doch zum Schlafen legen sie sich bis heute unters Plümmo* . Im 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg einmal mehr dem Regierungsbezirk Trier unterstellt, 2

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* Nichts wie heim! * Lehnwort aus dem Französischen im moselfränkischen Dialekt der Region. Im Original: Plumeau – Bettdecke.

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blieb das Dorf, anders als das von 1920-1935 vom Völkerbund beaufsichtigte Saargebiet, bis zur Niederschlagung des NS-Regimes und dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Bürgermeisterei im Deutschen Reich. Links des Rheins gelegen, lebt es bis 1930 unter Aufsicht der Alliierten, bis zur völkerrechtswidrigen ›Rheinlandbesetzung‹ durch die Nazis 1936 bleibt es entmilitarisiert. 1938 bringt die Organisation Todt für den Bau der ›Höckerlinie‹, Teil des faschistischen Westwalls, dienstverpf lichtete Arbeiter aus dem gesamten Reich – ab Kriegsbeginn auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – in das nun in der ›Luftverteidigungszone West‹ gelegene Dorf. Über die kriegerischen Absichten der Nazis kann sich jetzt niemand mehr hinwegtäuschen. Getan haben sie es doch. Aus Stadt und Land Trier werden zwischen 1941 und 1943 mehr als 600 jüdische Menschen deportiert und ermordet. Kleine jüdische Gemeinden gab es in einigen Nachbarorten des Dorfes. Mit dem Auto sind diese heute in weniger als zehn Minuten erreichbar. »Nohfelden judenfrei!« frohlockte die Birkenfelder Zeitung am 16. Juni 1937, nachdem der Viehhändler Ferdinand Wolff, laut Auskunft der Zeitung der »einzige Jude« im Dorf, seine Absicht kundgetan hatte, »nach Amerika auszuwandern«. Mehr als 130 Mitglieder dieser Gemeinden haben die Deutschen bis zum Ende des Krieges deportiert und ermordet, rund 100 konnten ihr Leben durch Auswanderung und Flucht retten. Eine Erinnerung an jene Mitbürger*innen hatten diese Dörfer in meiner Kindheit nicht vorgesehen. Jahrzehnte später, am Abendbrottisch, wenn die Eltern auf Drängen der Kinder einmal mehr ›vom Krieg‹ erzählten, sollte der Vater von den Grausamkeiten im nur 20 Kilometer entfernten KZ Hinzert berichten. Davon erzählen konnte er, weil es ihm selbst berichtet worden war: vom eigenen Vater. Der hatte dort als Dachdecker zu tun gehabt. 1939 zunächst als »Arbeitserziehungslager« zur Disziplinierung sogenannter »arbeitsscheuer« Westwallarbeiter errichtet, diente das von Himmler zum »SS-Sonderlager« erklärte Lager im Verlauf des Krieges vor allem als Durchgangslager für verhaftete Widerstandskämpfer aus Luxemburg, Frankreich und Belgien, zur Internierung sowjetischer Kriegsgefangener und aus der Sowjetunion verschleppter Zwangsarbeiter sowie als Durchgangsstation für aus den Benelux-Staaten deportierte Juden auf dem Weg nach Auschwitz. Das weiß ich heute. Und die damals? Dass ›wir‹ nichts gewusst haben, konnte mein Vater nicht bestätigen. Ein Misstrauen gegenüber jenen, die allzu bereitwillig dem »Größten Bau- und Feldherren aller Zeiten«

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gefolgt waren, blieb ihm aus den Jahren des NS-Terrors erhalten. Dass er Zeit seines Lebens Abstand hielt zu den Zusammenkünften und Geselligkeiten im Dorf, hatte es damit zu tun? Sich an die eigene Wahrheit und nicht die der anderen halten, ist das Geländer, an dem er durchs Leben geht. Wat die anner Leit sahn, kimmert uus nit.* Das trägt er uns Kindern auf. Die sollen sich das merken. Der Zweite Weltkrieg ist für das Dorf im März 1945 beendet. Einheiten der dritten und fünften US-Armee rücken ein. Das Saargebiet, einschließlich der im Oktober 1946 eingemeindeten nordöstlichen Gegenden, also auch mein Dorf, wird zunächst Teil der französischen Besatzungszone. Eine eigene Regierung und Verfassung, die die Unabhängigkeit der Saar von Deutschland und den wirtschaftlichen Anschluss an Frankreich festschreibt, machen es am 8. November 1947 zum (teil-)autonomen Staat, dem ›Saarland‹. Zehn Jahre sollte es einmal mehr ein Land sein, in dem andere Pässe getragen werden und nicht nur eine andere Währung gilt. Bis zur vollständigen Integration in das politische, wirtschaftliche, rechtliche und gesellschaftliche Gefüge der Bundesrepublik sollten weitere zwei Jahrzehnte vergehen. Auch in den Köpfen existiert diese Grenze noch lange, nachdem Schlagbäume und Zollstationen zwischen dem Saarstaat und der Bundesrepublik abgebaut sind. ›Ins Reich‹ fährt, wer Verwandte im Taunus oder in der Eifel besucht. 4

3. Von ›besseren‹ und anderen Leuten Immer schon eine strukturschwache, eine Arme-Leute-, im 18. und 19. Jahrhundert auch eine Auswanderer-Gegend, kennt das Dorf gleichwohl verschiedene Sorten von Leuten. Seine klar gegliederte Sozialstruktur kann erkennen, wer die Größe und Anordnung der Häuser studiert. Niedergelassen hat sie sich auch in den Körpern und Gewohnheiten ihrer Bewohner*innen. Das Dorf hat Ecken, wo die ›besseren Leute‹ wohnen, und solche für die anderen. Ein Oberdorf und ein Unterdorf. Getrennt durch die Hauptstraße, über die die schier endlos scheinenden Kolonnen des US-amerikanischen Militärs rollen. Das ist in den beharrlich »die amerikanische Zone« genannten und an das nördliche Saarland angrenzenden rheinland-pfälzischen Gegenden * Was die anderen Leute sagen, das kümmert uns nicht.

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stationiert. Die Kinder des Dorfes rechnen mit der Schokolade, die die GIs aus ihren Jeeps heraus verteilen. Aufgereiht stehen sie am Straßenrand, wenn diese den Ort passieren. Ein Kind weiß, wann es im ›falschen‹ Teil des Dorfes, wo es nicht hingehört, unterwegs ist. In einer der Ecken des Dorfes für die anderen bin ich aufgewachsen. Das dritte von insgesamt fünf Kindern. Auch in den Jahren des Baby-Booms ist diese Zahl ein Thema für Gespräche an den dörf lichen Ladentheken und Stammtischen. 2,5 Kinder über dem Durchschnitt pro Frau. Einen »Wuermeling-Pass« zu beantragen, betrachten die Eltern als unter ihrer Würde. Hatte das zu tun mit dem Namensgeber des Passes, Familienminister Franz-Josef Wuermeling, der sein Ministerium verstand als eines für Sitte und Anstand? Von diesem Staat wollten die Eltern, deren erstes Kind sechs Monate nach der Hochzeit geboren wird, jedenfalls nichts geschenkt haben. Von der Kanzel herab hatte der Pfarrer die Mutter in der Sonntagspredigt dafür getadelt, ein weißes Kleid zur Hochzeit getragen zu haben. Das stand ihr nicht zu. Das ist nur für Jungfrauen. Die Beschämung hat sich ihr Körper gemerkt. Er bebt, wenn sie davon erzählt. Erzählt hat sie es doch. Die ältere Schwester ist noch im Ausland geboren, im Saarstaat. Auch die Ehe der Eltern war unter anderem als bundesdeutschem Recht geschlossen worden. Das macht sie und ihre Kinder streng genommen zu Personen mit Migrationshintergrund. Das Statistische Bundesamt will davon nichts wissen. Einen solchen Hintergrund hat, wer »nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland« zugewandert oder wer »in Deutschland als Deutsche mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil« geboren ist, besagt dessen eigene Definition. Die Eltern leben mit den Kindern im Haus der Mutter des Vaters. Der ist ein Einzelkind. Ein Adoptionskind. Das erfährt er mit 28 Jahren, am Tag seiner eigenen Eheschließung. Nicht aus dem Mund der Mutter. Die hütet Geheimnisse und teilt den Sohn nicht gern mit der Schwiegertochter. Sie hat nur ihn. Der Vater des Vaters ist zwei Jahre vor meiner Geburt tödlich verunglückt. Vom Dach gestürzt. In der Familie ist er erinnert als ein freundlicher Mann. Die Eltern der Mutter sind beide tot. Als Älteste von vier teilte sie sich seit ihrem 14. Lebensjahr die Sorge für die jüngeren Geschwister mit der kränkelnden Mutter. Ein Kind ist sie seitdem nicht mehr gewesen. Sie ist 19 Jahre alt, als sich zu dieser Sorge die für die eigenen Kinder gesellt.

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Zusammengerechnet bringen die Eltern es auf gerade einmal 14 Schuljahre. Sie dienten vor allem der »Erziehung und Unterweisung im Geiste des Nationalsozialismus«. Das Schulgesetz von 1938, das den »Größenwahn als historisches Prinzip« (Durs Grünbein) atmet, sah das so vor. Ein toxischer Geist, er hat sich tief eingegraben in kindliche Seelen. Als die Mutter die Tochter mehr als vier Jahrzehnte nach Ende des Krieges in Berlin besucht, gibt ein Satz, der sich unverhofft über ihre Lippen schiebt, die Kerbe preis. Berlin, das war, wo der Führer ist. Bei Kriegsende ist die Mutter ein Kind von zehn Jahren. Sie ist in der dritten Klasse, als der Schulbetrieb im Herbst 1944 kriegsbedingt eingestellt und erst zum Herbst 1945 wieder aufgenommen wird. Eine weiterführende Schule hat sie als Schülerin nicht kennengelernt. Eine Berufsausbildung verhindern chaotische Nachkriegszeiten und die Notwendigkeit, früh zum Familienerwerb beitragen zu müssen. Dafür führt sie besseren Leuten, seit sie 15 ist, den Haushalt – woanders. Was sie noch hätte sein können, sie wird es nicht erfahren. Es an ihrer statt herauszufinden, nimmt ihr mittleres Kind als Auftrag an. Für den Vater schließt sich an die Volksschule eine Lehre als Former im Gusseisenwerk an. Im Herbst 1944, gerade 18 Jahre alt, steckt das Reich ihn in eine Uniform und schickt ihn in einen längst verlorenen Krieg. Eine Uniform hatte er bis dahin vermeiden können. Jungvolk und Hitler-Jugend sind seine Sache nicht gewesen. Er überlebt die vorletzte deutsche Offensive an der Westfront, die »Ardennen-Offensive«, die in gerade einmal sechs Wochen die mörderische Gesamtbilanz des Krieges um 20.000 gefallene US-Amerikaner und noch einmal so viele deutsche Soldaten erhöht. Als Gefangener der Alliierten spürt er für den Rest des Krieges an der Küste der Normandie deutsche Minen im Sand auf. Im Frühjahr 1946 läuft er von der normannischen Küste zu Fuß zurück in sein Dorf. Weiter weg sollte er nie gewesen sein. Zeit seines erwerbstätigen Lebens arbeitet er im Dreischicht-Betrieb zunächst in der Gießerei, um nach deren Umwandlung in einen Betrieb der ›wehrtechnischen Produktion‹ als ›ungelernter Arbeiter‹, am Band stehend, Panzerketten herzustellen. Auch er kennt höhere Schulen nur vom Hörensagen.

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4. Du bist ja weggegangen Das Kind, das ich war, muss, kaum dass es laufen kann, mit einem jüngeren Bruder auskommen. Es weiß sich mit sich selbst zu beschäftigen. Das Kind ist drei, als es ein Ziel im Leben weiß. Bundeskanzler will sie werden. Heiraten schließt sie aus. Wer ihr das beigebracht hat? Das Kind ist drei, als die Mutter ihm die Haare kurz schneidet, um das Balawa* beim Bürsten der allzu dicken Haare zu beenden. Für einen Bruder des Bruders wird es fortan oft gehalten. Sie ist drei, als im Oktober 1965 der Zigarre rauchende Ludwig Erhard zum zweiten Mal als Kanzler der Republik vereidigt wird. Von ihr wird ein anderes Leben erwartet. Eins, das sich einfügt in die Geschicke des Dorfes. In die Geschicke der Frauen. Im Sommer vor der Einschulung bringt sich das Kind das Lesen bei. Mit den Kindern, mit denen sie aufgewachsen ist, sitzt sie vor dem Haus auf dem Troddwa* und liest ihnen aus der Zeitung vor. Daran erinnern sich die Nachbarinnen der Eltern noch, als sie längst das Lesen zu ihrem Beruf gemacht hat. Den Stichtag für die Einschulung, in dem Jahr, in dem das Kind sechs Jahre alt wird, verpasst sie um sechs Wochen. Doch dieses Kind will in die Schule. Der Schuldirektor willigt ein, seine körperliche und geistige Schulreife zu testen. Sie malt einen Tannenbaum und muss mit dem rechten Arm über den Kopf fassen, um das linke Ohr zu erreichen. Sie ist klein, aber der Kopf nicht zu groß und der Arm lang genug. Die schulische Reife will ihr der Amtsarzt freilich nicht attestieren. Die Mutter steht dem Kind bei. Vielleicht das einzige Mal in seiner Schulkarriere. Mit dem Finger zuerst an ihren eigenen Oberarm und dann an den Kopf tippend, belehrt sie den Arzt, dass es ja nicht ankomme auf die Kraft des Körpers, sondern auf das, was das Kind im Kopf habe. Das Kind staunt. Woher nimmt die Mutter das? Dass Widerstände etwas sind, woran eine wachsen kann, ist, was es sich fürs Leben davon behält. Am 2. September, ein sonniger Spätsommertag, beginnt für sie, was andere den ›Ernst des Lebens‹ nennen. Sie hat ihn kaum erwarten können. Hinter der Schultüte schaut ein Zuversicht versuchendes, 5

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* Moselfränkische Variante von Palaver; ein endlos scheinendes, meist ergebnisloses Gespräch, eine Debatte, Verhandlung, auch für Streit oder heftige Auseinandersetzung verwendet. * Lehnwort aus dem Französischen im moselfränkischen Dialekt der Region. Im Original: Trottoir.

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verhalten lächelndes Kind hervor. Es ist das Jahr 1968. Im Mai hatten in Paris die studentischen Barrikaden gebrannt und wenige Tage vor der Einschulung die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling beendet. Der Vietcong hatte die zweite Großoffensive des Jahres gegen US-amerikanische und südvietnamesische Stellungen gestartet, Frankreich seine erste Wasserstoff bombe gezündet und das Internationale Rote Kreuz seine sporadischen Hilfsf lüge in das sich seit einem Jahr im Krieg mit Nigeria befindliche Biafra vorerst eingestellt. Der SPIEGEL schreibt am 19. August 1968 in seiner 34. Ausgabe, erstmals werde »ein Völkermord im Fernsehen gezeigt«. »Durch Filme, Photos und Berichte aus Biafra« werde die ganze Welt »zum Zeugen des Genozids«. An solche Bilder kann sich ein Kind erinnern. Als Sternsinger wird auch sie von Haus zu Haus ziehen und für die hungernden Kinder Biafras sammeln. Von ganz anderer Art sind die Sorgen des deutschen Kniggerats. Der empfiehlt an ihrem ersten Schultag die Lockerung überkommener Etikette. In der Tanzstunde dürfe auf die Anrede mit Titel und auf übertriebenes Händeschütteln verzichtet werden. Auf Leute mit Titel traf dieses Kind nicht. Das erste Schuljahr verbringen Erst- und Zweitklässler gemeinsam. Sie ist mit einem Ohr bei den Älteren und versucht sich an deren Aufgaben. Die Schule fällt dem Kind leicht. Sie liebt es, mit dem Griffel ihre Schwünge auf die Linien der Tafel zu setzen. Die ist schon nicht mehr aus Schiefer und steckt in einem blauen Tafelschoner. Mit der falschen, der linken Hand zu schreiben, wird ihr mit dem Stock ausgetrieben. Die Prügelstrafe war im Saarland schon seit 1948 »grundsätzlich nicht anzuwenden«. Ihre Lehrer*innen machten hier eine Ausnahme geltend. Den Griffel wird sie fortan mit rechts führen. Für alles andere hat sie die linke Hand. Hochdeutsch muss das Kind, wie alle Kinder des Dorfes, erst lernen. In der zweiten Klasse freundet sie sich an mit einem Mädchen, das gehört zur einzigen evangelischen Familie im Dorf. Das gehört sich nicht. Die gehen in eine andere Kirche. Für den evangelischen Religionsunterricht wird die Freundin in ein anderes Schulzimmer gebracht. In die Abstellkammer. Die Eltern sind stolz auf ihr als schlau geltendes Kind. Zeit mit Büchern gilt dennoch als Nichts-Tun. Dieser Eindruck muss vermieden werden. Leseminuten klaubt sie sich zwischen ihren häuslichen Pf lichten zusammen. Unter der Bettdecke liest sie heimlich mit der Taschenlampe. Sie liest, was ihr unter die Augen kommt. Bis heute ist das so. Viel später kann sie immer wieder kaum glauben, dass sie nun tatsäch-

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lich fürs Lesen bezahlt wird. Ihr Anteil an der täglichen Hausarbeit ist abzuleisten vor den schulischen Hausaufgaben. Da lässt die Mutter nicht mit sich reden. Da behilft die sich schon mal mit Schlägen. Ohnehin kommt, wer nicht folgt, ›ins Heim‹. Das weiß jedes Kind. Hausaufgaben erledigt dieses Schulkind, wie die Geschwister, am Küchentisch. An dem spielt sich das Leben der achtköpfigen Familie ab. Ein Zimmer für sich allein* kennt es nicht. Das gilt, bis sie zum Studium das Dorf für immer verlässt. Bücher gibt es nur wenige im Haus. Die Bibel liest sie mehrfach. Es ist ihr erstes Geschichtenbuch. Rund ein Dutzend Bände aus einer kurzen Mitgliedschaft der Großmutter in einem Buchclub stehen im Schrank des nur am Sonntag benutzten Wohnzimmers. Gottfried Kellers Grüner Heinrich ist ihr erinnerlich. Hanni und Nanni begleiten sie durch die Grundschuljahre. Mary Poppins hilft ihr, sich andere Welten als die eigene vorzustellen. In der vierten Klasse besuchen die Direktoren der nahegelegenen weiterführenden Schulen auch ihre Klasse. Das Gymnasium wird ihr als machbar vorgestellt. Die Eltern können sich mich da nicht hindenken. Dass es das Kind wegführen würde aus einem Leben mit ihnen, haben sie wohl geahnt. Du bist ja weg gegangen. Das wird nicht mehr wettzumachen sein. Dem Bruder hatte die Realschule, die wenige Jahre zuvor in der zehn Kilometer von ihrem Dorf entfernten, rheinland-pfälzischen Kleinstadt eingerichtet worden war, den Besuch der Hauptschule erspart. Was sie ihm gewährt hatten, können sie der jüngeren Schwester nicht vorenthalten. Die Realschule durfte es sein. Ein Leben als Fahrschülerin beginnt. 7

5. Nicht vorgesehen Diese Fahrt sollte länger dauern. Aus sechs werden neun Jahre. Denn das Abitur erwirbt die Fahrschülerin am Ende doch. Es ist ihr nicht geschenkt worden. Einen höheren Schulabschluss hatte ihre Familie noch in keiner Generation vorzuweisen. Ein solches Kind war schlicht nicht vorgesehen an den Orten der höheren Bildung. Die, die dort schon immer gewesen waren, wollten weiter unter sich bleiben. Auch brauchte es da anderes Rüstzeug. Das hatte ihre Familie nicht angehäuft. Das sah die auch an als etwas, das gegen sie gerichtet sein könnte. Nicht * Virginia Woolf.

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vorgesehen. Ein Gefühl, dass sie an jenen Orten, wo sie inzwischen mehr Zeit verbracht hat, als irgendwo sonst auf der Welt, bis heute gelegentlich überfällt. Als müsste sie ihr Aufenthaltsrecht wieder und wieder unter Beweis stellen. Als könnte es widerrufen werden. Sie dabei ertappt werden, sich am falschen Ort aufzuhalten. Inside out. In der Akademie, aber nicht von ihr. Bildungsgeschichte als Migrationsgeschichte. Fremd werden und sich neu erfinden müssen. Fremd bleiben und sich neu erfunden habend. Double consciousness. 1978, als sie ankommt am Neusprachlichen Gymnasium jener Kleinstadt, die sie schon seit sechs Jahren täglich aufsucht, hatte die Bildungssoziologie der Zeit längst einen Namen für sie. Auf der Suche nach »Begabungsreserven« hatte der Soziologe und liberale Politiker Ralf Dahrendorf, Mitglied des britischen House of Lords, ausgerechnet dieses Schulkind entdeckt. »Hier stoßen wir auf die drei großen Gruppen der Landkinder, der Arbeiterkinder und der Mädchen, zu denen mit gewissen Einschränkungen als vierte katholische Kinder kommen«, hatte der 1966 geschrieben. Die »katholische Arbeitertochter vom Land« war so ins Visier der bildungspolitischen Expansion gerückt. Und genau das ist diese Schülerin: Kind und Kindeskind von Arbeiter*innen mit und ohne Erwerb, von Tagelöhnern, Schreibfräuleins, Dienstmädchen und nicht-selbstständigen Handwerkern, aufgewachsen in vergessenssüchtigen, postfaschistischen und vom nationalsozialistischen Hass und Größenwahn vergifteten, ländlich-proletarischen Verhältnissen, in patriarchalen Traditionen und Horizonten und unter der Aufsicht von Kirche und dörf licher Gemeinschaft. Wer konnte sich da ein anderes Leben denken? Der Wechsel aufs Gymnasium ist hart erkämpft. Für zu renitent halten Rektor und Konrektor der Realschule die Klassensprecherin der 10a, die diese Schülerin jetzt ist. Schlau genug sei sie ja. Aber Widerworte kenne sie zu viele. Weil sie a sense of one’s place* vermissen lässt? Ich gebe Dir zwei Wochen, dann bist Du wieder unten. Unten? Wo sie hingehört? Mit diesem Satz des Rektors wird sie aus sechs Jahren mittlerer Bildung entlassen. Eine Empfehlung für die höhere Anstalt kann sie sich wünschen, verweigert wird sie ihr doch. Die Realschule hat ihr das Tippen mit zehn Fingern beigebracht; was ihr fehlt für ein Leben als Oberschülerin, sie wird es drei Jahre lang jeden Tag erfahren. Auch den Umgang mit Gymnasiasten muss sie erst lernen. Nach Hause ein8

* Erving Goffman.

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laden kann sie die neuen Schulfreundinnen nicht. Sollen die mit am Küchentisch sitzen? Die, mit denen sie vier und sechs Jahre die Schulbank geteilt hat, werden ihr fremd. Dass die beste Freundin ein Leben mit Büchern ausgeschlagen hatte, nimmt sie als Verrat an gemeinsamen Wünschen. Ein nicht zu heilender Bruch. Sie braucht Jahrzehnte, bis sie das der Freundin aus Realschultagen beim Klassentreffen, an dem sie nur aus diesem Grund teilnimmt, sagen kann. Wie ein solches Leben mit Büchern zu machen ist, wird sie nun alleine herausfinden müssen. Die Eltern können ihr dabei nicht helfen. Und haben ihr doch etwas mitgegeben dafür. 235 DM Schüler-BAföG plus 12 DM für Krankenkasse und 35 DM für Fahrtkosten ermöglichen den Eltern die Zustimmung zur höheren Bildungsstufe. Ein Kind muss zum Unterhalt der Familie beitragen können. Im Jahr 1978 fördert die Bonner Republik 246.000 seiner rund 1.1 Millionen Schüler*innen dieser höheren Bildungsstufe mit ihrem Bundesausbildungsförderungsgesetz; 91.000 davon erhalten den Höchstsatz. Diese Oberschülerin gehört dazu. Die sozialdemokratisch geführte Regierung sieht das nicht an als Gehalt, sie will es als »Hilfe zur Selbsthilfe« verstanden wissen. Mehr Demokratie wagen wollte sie damit. Die Väter der solcherart Geförderten gehen zu 30 Prozent einer Beschäftigung nach, die sie zu Arbeitern macht, von den Müttern ist nur jede vierte erwerbstätig. Im Saarland sind 1977 rund 8 Prozent der erwerbstätigen Frauen und Männer ohne Erwerb, fast doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Das durchschnittliche Netto-Einkommen eines Arbeiters liegt 1978 bei 1.836  DM, ein Ei kostet 24 Pfennig, ein Viertel Pfund Butter 2,30 DM und VW verkauft seinen Käfer, Modell 1303A, metallic-grün, für 8.000 DM. Ab 1981, das Jahr in dem sie die Hochschulzugangsberechtigung erwirbt, wird der Kreis derjenigen, denen Hilfe zur Selbsthilfe zuteilwerden soll, stark eingeschränkt; 1983 macht die inzwischen christlich-liberale Regierung Kohl für alle ein vollständig zurückzuzahlendes Darlehen daraus. Ein Abitur hätte sie jetzt nicht mehr erreichen können. 1981 verlässt die Abiturientin, die sie jetzt ist, das Dorf. Ein Studium hat sich das Arbeiterkind in den Kopf gesetzt. Ein Studium beginnt es. Weit genug weg, so dass ein Umzug unumgänglich ist. Nah genug, damit sie die elterlichen Wünsche an regelmäßige Besuche vorerst bedienen kann. Das ist das Kriterium für die Wahl des Studienortes. Sie weiß keine anderen. Aufenthalte woanders kennt diese Arbeitertochter nur als Besuch bei Verwandten. Sie war noch nie im Ausland.

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Zweimal mit der Schule auf Klassenreise. München und (West-)Berlin. Eine Universität von innen hat sie zum ersten Mal bei den »Schülerinformationstagen« gesehen. Die Statistik führt sie als Studierende aus »niedriger sozialer Herkunftsgruppe«. Das Hochschul-Informations-System (HIS) hat das errechnet aus Faktoren, die heißen: Prestige, höchster Bildungsabschluss der Eltern sowie Entscheidungsautonomie und Einkommenshöhe des Berufs, den sie ausüben. Der Anteil der ›Arbeiterkinder‹ an den Studierenden westdeutscher Universitäten beträgt im Jahr 1982 18 Prozent. Höher sollte er niemals sein. 2016 verbucht das HIS 11  Prozent in der »niedrigen Herkunftsgruppe«. Ihre Studienfächer liegen auf der Hand. Geschichte und Sozialkunde waren seit der Realschule ihre Lieblingsfächer. Sie schreibt sich ein in Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte. Wer jemand ist und geworden ist, wer zu wem und wozu gehört, wer wissen darf und wer folgen muss, wie es kommt, dass den einen die Definitionen zustehen, während die anderen definiert werden, wie das Kleine und das Große zusammenhängen, das will sie wissen. Dass es zusammenhängt, das ahnt sie schon. Wie es zusammenhängt, will sie verstehen. Damit es nicht bleiben muss, wie es ist. Sie ist ein Kind der Ära Brandt.

»Hintertreppen zum Elfenbeinturm« Ein Beitrag zur Enttabuisierung der sozialen Herkunft von Bildungsaufsteiger*innen Elke Kleinau

Foto mit Schwester (rechts im Bild) aus dem Jahr 1957

Elke Kleinau wurde 1954 in Gütersloh geboren. Ihr Vater war kaufmännischer Angestellter, die Mutter gelernte Weißnäherin und Hausfrau. Die Schwester wurde 1950 geboren. Kleinau ist verheiratet und hat eine Tochter. Nach ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft 1980-1984 schloss sie 1985 ihre Promotion in Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld ab. Im Anschluss war sie von 1986-1990 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt an der Universität Bielefeld beschäftigt. 1990 -1998 war Kleinau

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Hochschulassistentin am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg. Es folgten Vertretungs- und Gastprofessuren in Bielefeld, Graz, Duisburg und Köln. 1994 habilitierte sie sich an der Universität Bielefeld und erhielt 2002 den Ruf auf die C-4 Professur für Historisch-systematische Pädagogik an der Universität zu Köln, die 2006 in Historische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Gender History umbenannt wurde. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, Kindheitsgeschichte nach 1945 sowie Historische Biographie-, Reise- und Migrationsforschung.

1. Einleitung Die im Titel aufgegriffene Metapher, die auf eine Monographie der Grazer Bildungshistorikerin Gertrud Simon über die Anfänge der höheren Mädchenbildung in Österreich zurückgeht (vgl. Simon 1993), habe ich in einer Publikation über Erziehungswissenschaftlerinnen in der Frauenund Geschlechterforschung genutzt, um meinen bildungs- und berufsbiographischen Werdegang als Frauen- und Geschlechterforscherin in die Hochschule zu beschreiben (vgl. Kleinau 2008). Sie trifft gleichermaßen auf meinen Status als soziale Aufsteigerin in der Wissenschaft zu. Als Biographieforscherin weiß ich um den Konstruktionscharakter von Autobiographien. Lebenserinnerungen werden im Nachhinein geschrieben, jede*r Autobiograph*in ist bemüht, eine Lebensgeschichte zu erzählen, die Sinn macht, die erklärt, wie man zu dem geworden ist, der*die man ist. Jede Autobiographie stellt eine nachträgliche Beschreibung vergangener Erlebnisse und Erfahrungen dar, die von einem bestimmten, gegenwärtigen Bewusstseinsstand erfolgt. Jeder Mensch ref lektiert im Verlauf seines Lebens entscheidende Ereignisse ggf. neu, deutet und strukturiert sie um. Selbstref lexion bedeutet, so Theodor Schulze »das bereits Erlebte und Erfahrene immer wieder in Übereinstimmung zu bringen mit den Entwürfen und Vorstellungen, die sich der Einzelne von seinem Leben macht« (Schulze 1993: 217). Auslöser für eine nachträgliche Bearbeitung von Erinnerungen können aber auch aktuelle Diskurse sein, die innerhalb einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe wirkmächtig sind (vgl. Jureit 1997: 98). Dieser Prozess des ständigen Umschreibens der eigenen Lebensgeschichte lässt sich besonders gut beobachten, wenn mehrere autobiographische Zeugnisse einer Person vorliegen, die zu unterschiedlichen Zeiten und Anläs-

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sen verfasst wurden. Wie geht man mit diesem Wissen um, wenn man aufgefordert wird, seine eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben? Das unbefangene Erzählen will sich nicht ohne Weiteres einstellen. Fragen drängen sich auf: Ist der eigene biographische Werdegang wirklich von Interesse? Für wen? Was macht dieses Interesse aus? Ist man als Hochschullehrerin an einer westdeutschen Universität eine Person öffentlichen Interesses? Wird mit autobiographischen Ref lexionen noch lebender Personen ein voyeuristisches Interesse bedient? Oder setzt man sich vielleicht dem Verdacht aus, sich selbst allzu wichtig zu nehmen? Mein tabellarischer Lebenslauf ist über meine universitäre Homepage öffentlich zugänglich. Was bin ich bereit, darüber hinaus von mir zu erzählen? Kann man tatsächlich aus Lebensgeschichten lernen, wie der von Dieter Baacke und Theodor Schulze herausgegebene Sammelband postuliert (vgl. Baacke/Schulze 1993)? Als Bildungshistorikerin weiß ich, dass die Geschichte keineswegs die ›richtigen‹ Antworten auf Fragen der Gegenwart parat hält. Aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte können wir allenfalls lernen, innovative Fragestellungen zu entwickeln. Lebensgeschichten sozialer Aufsteiger*innen eignen sich nicht als praktische Handreichungen zur Karriereplanung. Das Lesen und das Schreiben von Autobiographien kann jedoch zu einer verstärkten Selbstref lexion führen, hoffentlich bei den Leser*innen, vor allem aber bei den Verfasser*innen selbst.

2. Herkunftsfamilie und Kindheit Geboren wurde ich 1954 in der ostwestfälischen Provinz, als zweites Kind eines kaufmännischen Angestellten und einer gelernten Weißnäherin1, die seit ihrer Heirat nur phasenweise erwerbstätig war. Bin ich damit ein ›Arbeiterkind‹, wie es im Titel dieses Sammelbandes heißt? Nicht, wenn man die soziale Herkunft am Beruf meines Vaters festmacht, aber ich verstehe ›Arbeiterkind‹ in diesem Zusammenhang als Synonym für eine Herkunft aus einem nicht-akademischen Elternhaus. Meine ältere Schwester Gisela wurde 1950 mit Trisomie 21 geboren. Von ihrer Behinderung erfuhren meine Eltern allerdings erst, als Gisela zwei Jahre alt war. Meine Mutter machte sich Sorgen, weil ihre Tochter – im Vergleich mit anderen Kindern – eine deutliche Entwicklungsverzögerung aufwies. Vom langjährigen Hausarzt der Familie wurde ihr kurz und knapp mitgeteilt, das Kind sei ›behindert‹. Ob man

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ihr das bei der Geburt nicht gesagt habe? Nein, hatte man nicht. Der Hausarzt hatte die Behinderung bis dato aber auch nicht angesprochen, obwohl Gisela seit ihrer Geburt von ihm ärztlich betreut worden war. Heute fragt man sich vielleicht, ob meine Eltern die Behinderung nicht selbst hätten erkennen können. Vielleicht war nach der ›Auslese‹ und ›Ausmerze‹ von Menschen mit geistigen Behinderungen im Nationalsozialismus wenig Wissen über diese Art von Behinderung in der Bevölkerung vorhanden (vgl. Ellger-Rüttgardt 1997). Meine Eltern wollten zunächst kein weiteres Kind. Zu groß war die Angst, dass auch das nächste Kind eine Behinderung haben könnte. Versicherungen des Hausarztes über die statistische Unwahrscheinlichkeit von mehreren behinderten Kindern in einer Familie und Überlegungen, dass Giselas Zukunft im Alter nicht gesichert sein könnte, gaben schließlich den Ausschlag für die weitere Familienplanung. Damit war meine Funktion in der Familie weitgehend vorgegeben: Solange ich zurückdenken kann, war ich verantwortlich für meine ›kleine‹ große Schwester, hatte sie vor Anfeindungen – behindertenfeindlichen Sprüchen und ›scheelen‹ Blicken – zu schützen. Anfang der 1960er Jahre gehörten meine Eltern zu den Gründungsmitgliedern des Ortsvereins der Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. Der Verein kämpfte gegen die im Nationalsozialismus vorgenommene ›Ausschulung‹ sogenannter ›bildungsunfähiger‹ Kinder und trat für einen Rechtsanspruch auf Bildung ein. Das Reichsschulpf lichtgesetz von 1938 war von den Alliierten nach dem Ende des ›Dritten Reiches‹ nicht aufgehoben worden, ein Anspruch auf Bildung wurde Menschen mit geistiger Behinderung erst 1960 mit dem Gutachten der Ständigen Kultusministerkonferenz eingeräumt. Dass dieser Umdenkungsprozess überhaupt in Gang kam, geht auf die 1958 gegründete Lebenshilfe, eine Initiative betroffener Eltern, zurück. Mit viel Engagement und Eigenarbeit, in die unsere ganze Familie eingebunden war, wurden Vereinsmitglieder geworben, Briefwechsel mit Behörden geführt, Räumlichkeiten gesucht und renoviert, damit sie als Unterrichtsräume genutzt werden konnten. Widerstände und Diskriminierungen hatten viele Eltern mit ihren Kindern erfahren, auch von Seiten pädagogischer Expert*innen. So bestand z.B. der Leiter der Volksschule, in dessen Gebäude der Lebenshilfe anfänglich zwei Räume zugewiesen worden waren, auf einer anderen Unterrichtstaktung, damit ›seine‹ Schüler*innen in den Pausen nicht mit diesen ›besonderen‹ Kindern konfrontiert würden. Anfeindungen auszuhalten, nicht aufzugeben und zur Selbsthilfe zu greifen, wenn der Staat oder andere

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öffentliche Träger einen im Stich lassen, war somit etwas, was ich in meinem Leben früh gelernt habe.

3. Schule und Studium Neben der ›Beschützerin‹ meiner ›kleinen‹ Schwester war ich aber auch die Hoffnungsträgerin der Familie, was schulische Bildung anbelangte, genauer gesagt: der meines Vaters. Bei ihm spielten eigene biographische Gründe eine nicht unerhebliche Rolle. Er war sehr ehrgeizig und hätte gern selbst das Gymnasium besucht und studiert, was sich allerdings – bedingt durch die beschränkten finanziellen Verhältnisse (höhere Schulen waren schulgeldpf lichtig), den Zweiten Weltkrieg, den frühen Tod seines Vaters – nicht realisieren ließ. Für ihn war es selbstverständlich, dass das ›aufgeweckte‹ Kind aufs Gymnasium gehörte. Mit dieser Entscheidung setzte er sich sogar über die Empfehlung meines Grundschullehrers hinweg.2 Für meine Mutter muss das ›altkluge‹, eigenwillige Kind eine ziemliche Herausforderung dargestellt haben, war ihr Verständnis von Kindesentwicklung doch von ihrer älteren Tochter geprägt, die selten Widerworte gab und elterliche Gebote nicht kritisch hinterfragte. Meine Schulzeit fiel in die Zeit der sozialdemokratischen Bildungsoffensive, in der gerade Eltern aus sogenannten ›bildungsfernen‹ Schichten ermutigt wurden, ihre Kinder auf höhere Schulen zu schicken (vgl. Metz-Göckel 1996). Bis zur Mittelstufe machte mir die Schule auch Spaß, danach rieb ich mich an den autoritären Strukturen und Persönlichkeiten einiger Lehrer, mit denen ich als langjährige Klassensprecherin konfrontiert war. Mein Lieblingsfach war Geschichte, obwohl der Unterricht noch klassisch politikgeschichtlich ausgerichtet war und die Fragen, die mich brennend interessierten, beispielsweise wie ›einfache‹ Menschen früherer Jahrzehnte gedacht, gefühlt, gelebt, gearbeitet, gegessen und geliebt hatten, nicht zur Sprache kamen. ›Geschichte von unten‹, Mikrohistorie, Alltagsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Kulturgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, dieses ganze Spektrum von Ansätzen, die die Auseinandersetzung mit Geschichte meiner Meinung nach so lebendig macht, gab es noch nicht, jedenfalls nicht in dem Unterricht, den ich genossen habe. Aber ›Geschichte machen von unten‹ erschloss sich mir aus anderen Quellen. Bereits im Grundschulalter war ich eine eifrige Nutzerin der Stadtbibliothek, wo man aber pro Woche nur drei Bücher

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ausleihen durfte. Ich wählte jeweils die dicksten ›Schwarten‹ aus, aber spätestens nach drei Tagen war mir der Lesestoff ausgegangen. Mutter und Großmutter wollten zunächst nicht glauben, dass ich so schnell lesen konnte und verlangten genaue Inhaltsangaben der ausgeliehenen Bände. Ich verblüffte sie mit wortwörtlichen Nacherzählungen einzelner Kapitel. Auch der Bücherschrank meines Vaters mit den goldbedruckten Buchrücken der Bertelsmann Sonderausgaben, die die – zuvor verbotene – Literatur des Auslands in die bundesrepublikanischen Haushalte brachten, stand mir zur Verfügung. Es gab keine verbotene Lektüre, aber auch keine Empfehlungen oder Gespräche über Gelesenes. Ich las wahllos alles, was mir in die Hände fiel, bevorzugt aber historische Romane. In der Pubertät war Lesen mein Rückzugsgebiet aus der Familie, in das aber immer wieder meine Mutter oder meine Großmutter mit dem empörten Ausruf »Du liest ja schon wieder« einbrachen und mich aufforderten, entweder für die Schule zu lernen oder sich an der Hausarbeit zu beteiligen. Bei Schritten auf der Treppe zu meinem Zimmer lernte ich, die Lektüre rasch unter dicken Mathebüchern zu verstecken. Offizielle Freizeit gab es für mich nur am Wochenende, verbunden mit einer strikten Ausgangskontrolle, weil ich mich auf die Schule konzentrieren sollte. Ich besuchte das Städtische Mädchengymnasium in Gütersloh. Die soziale Herkunft ihrer Schülerinnen war den Lehrer*innen zur damaligen Zeit wohl bekannt, war doch der Beruf des Vaters im Klassenbuch vermerkt. Wir Schülerinnen merkten sehr bald, dass es Lehrer*innen gab, die ausgesprochene ›Lieblinge‹ hatten: Die Töchter bzw. Enkeltöchter der großen Industriellen am Ort gehörten dazu wie auch die Töchter von Ärzten, Rechtsanwälten oder von Studienräten des benachbarten Jungengymnasiums. Vereinzelt gab es Freundschaften zwischen Mädchen aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Für mich ergaben sich diese nicht, weil ich kein ›Kapital‹ einzubringen hatte, wie beispielsweise eine Schülerin, deren Mutter eine Parfümerie besaß. In der Grundschule wurden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet. In den Gymnasien vor Ort wurde erst 1968 die Koedukation eingeführt. Am Städtischen Mädchengymnasium entbrannte eine Diskussion über die zukünftige Namensgebung der Schule. Stadt und Schulleitung verfielen – nicht sehr originell – auf Städtisches Gymnasium. In diesem Zusammenhang fällt mir meine damalige Deutschlehrerin ein, die mir eines Satzes (vielleicht auch eines Bildes) wegen in Erinnerung geblieben ist. Die ältere Dame hockte, wie sie es oft tat,

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auf dem Lehrer*innenpult und kritisierte, warum die Schule nicht nach Helene Lange, einer Frau, die unbestreitbar viel für die Mädchenbildung getan habe, benannt worden sei. Mit diesem Namen verband ich nichts. Weder wusste ich, wer Helene Lange war, noch versuchte ich es herauszubekommen. Warum setzte sich aber dann dieser Gedanke bei mir fest? Weil sich hier jemand explizit für Mädchen eingesetzt hatte? Geschlechterspezifische Benachteiligung hatte ich bereits erfahren, war ich doch mit zwei Cousins aufgewachsen. Obwohl sie jünger waren als ich, wurden ihnen größere Freiheiten zugestanden. Wenn ich dafür eine Begründung einforderte, hieß es lediglich »Das sind ja auch Jungen«. In dieser Zeit reifte in mir die Erkenntnis, dass der von mir sehnlich erwünschte große Bruder wahrscheinlich das Ende meiner höheren Schullauf bahn bedeutet hätte. Geschichte war, wie gesagt, während der Schulzeit mein Lieblingsfach. Trotzdem kam ich nicht auf die Idee, Geschichte zu studieren, weil das Fach für mich untrennbar mit Schule verbunden war. Außerschulische Berufsfelder für Historiker*innen kannte ich nicht. Der Lebenshorizont einer Kleinstadt vermittelte nur ein ausgesprochen kleines Spektrum akademischer Berufe, besonders für Frauen. Ich wusste, dass es Ärztinnen und Rechtsanwältinnen gab, und ich kannte natürlich Lehrerinnen. Lehrerin, das sei doch der ideale Beruf für Frauen, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, hieß es sowohl in der Familie als auch in der Schule, und tatsächlich wählten von den 13 Schülerinnen meiner Abschlussklasse neun das Lehramtsstudium. Ich aber wollte partout keine Lehrerin werden, obwohl meine Eltern alles Erdenkliche getan hatten, um mir den Beruf einer Sonderschullehrerin schmackhaft zu machen. Aus ihrer Sicht als Eltern einer Tochter mit geistiger Behinderung war diese Einstellung sogar verständlich, aber mir war dieses Berufsfeld zu nah, zu sehr verstrickt mit meinen familiären Verpf lichtungen. Psychotherapeutin wollte ich werden, Medizin oder Psychologie studieren, auf jeden Fall aber dem ›Kleinstadtmief‹ entkommen. Für beide Fächer war, obwohl ich Klassenbeste war, mein Notendurchschnitt zu schlecht. Auf einen Studienplatz zu warten, war keine Option in Anbetracht der elterlichen Vorwürfe, gegenüber der Familie ›wortbrüchig‹ geworden zu sein. Stattdessen schrieb ich mich in den Studiengang Diplom-Pädagogik an der Universität Bielefeld ein. Da ich seit einigen Jahren in der außerschulischen Jugendarbeit aktiv war, konnte ich mit dieser Umorientierung ganz gut leben. Als ich 1980 endlich einen Studienplatz in Medizin erhielt, hatte ich bereits mit

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meiner Dissertation begonnen und gab den Studienplatz ohne Zögern zurück.

4. Promotion und Anfänge der Frauen- und Geschlechterforschung Mein Studium (1974-1979) war zunächst gar nicht auf eine spätere Wissenschaftskarriere angelegt. Ich war an praktischer pädagogischer Arbeit interessiert, aber sie war es, die mich zur Frauen- und Geschlechterforschung führte. Nach der Jugendverbandsarbeit arbeitete ich in einer Drogenberatungsstelle, wo ich mich an den rigiden Geschlechternormen rieb, die angeblich eine ›gesunde Weiblichkeit‹ oder ›Männlichkeit‹ ausmachen sollten. Bei Frauen wurde bereits ein Kurzhaarschnitt, das ausschließliche Tragen von Hosen als Ausdruck eines ›Männlichkeitskomplexes‹ gedeutet. Als eine der ersten Motorradfahrerinnen in der Region fühlte ich mich auch persönlich herausgefordert. Für die Begründung dieser ›Diagnose‹ wurde von den Mitarbeiter*innen immer auf die Freud’sche Psychoanalyse verwiesen, und so fasste ich den Entschluss, dieses Thema einmal gründlich aufzuarbeiten und meine Diplomarbeit über psychoanalytische Theorien zur psychosexuellen Entwicklung der Frau zu schreiben. Für Psychoanalyse hatte ich mich interessiert, seitdem ich im Grundstudium Günther Bittner gehört und bei ihm mein Vordiplom abgelegt hatte. Bittners Vorlesungen hatte ich als außerordentlich anregend erlebt, aber seine Ausführungen zum Geschlechterverhältnis als hoffnungslos konservativ empfunden. Die Zeit, die ich mit dem Schreiben der Diplomarbeit verbrachte, war die schönste und produktivste meines ganzen Studiums, so dass die – zugegeben naive – Vorstellung, diese Zeit durch die Abfassung einer Dissertation noch etwas auszudehnen, Gestalt gewann. Eigentlich wollte ich meine Diplomarbeit zu einer Dissertation ausbauen, fand aber für dieses Thema keine*n Betreuer*in. Mit dem frisch berufenen Johannes Gröll einigte ich mich dann auf das Thema Frühe sozialistische Theorien zur Frauenemanzipation. Gröll war und begriff sich auch selbst aufgrund seiner politischen Ausrichtung als Außenseiter im Wissenschaftssystem, und vielleicht war es kein Zufall, dass ich ausgerechnet bei ihm landete. Als großes Glück erwies sich für mich, dass Juliane Jacobi, damals noch wissenschaftliche Assistentin, sich für mich und mein Forschungsvorhaben interessierte, und die Reformuniversität Biele-

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feld Assistent*innen die offizielle Position von Zweitgutachter*innen in Promotionsverfahren einräumte. Frauen- und Geschlechterforschung gab es in Bielefeld während meiner Studienzeit nicht. Ich betrieb sozusagen Frauen- und Geschlechterforschung avant la lettre. Gemeinsam mit Juliane Jacobi engagierte ich mich in einer von Studentinnen und Wissenschaftlerinnen getragenen Initiative zum Auf bau einer zentralen Forschungsstelle Frauenforschung, der späteren Interdisziplinären Forschungsgruppe Frauenforschung (IFF). Gegen den Widerstand renommierter Historiker wie Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, aber mit Unterstützung des liberalen Rektorats gelang uns 1982 die Institutionalisierung der Frauenforschung.3 Meine Hochschulsozialisation fand in der frauenbewegten Gruppe der IFF statt, die durch ausgesprochen f lache Hierarchien gekennzeichnet war. Diese Konstellation hat mir als Angehörige der Ersten-Generation-Universität beim Einstieg in eine Wissenschaftskarriere zweifelsohne geholfen. Dass f lache Hierarchien in der Universität die Ausnahme und keineswegs die Regel darstellen, habe ich erst in meiner Zeit als Hochschulassistentin in Hamburg erfahren. Nachdem ich 1985 mein Promotionsverfahren erfolgreich abgeschlossen hatte, meine Stelle an der Universität Bielefeld ausgelaufen und keine neue in Sicht war, schrieb ich – zusammen mit Juliane Jacobi – einen Projektantrag zur Geschichte des höheren Mädchenschulwesens in Hamburg, den wir bei der DFG einreichten. Da ich seit anderthalb Jahren erwerbslos war, ich mir auch nicht sicher war, ob die DFG das Projekt bewilligen würde, ging ich im Mai 1986 nach Irland und jobbte – um einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu erhalten – in einem Restaurant in Connemara. Im September kam jedoch der Bewilligungsbescheid der DFG, und ich kehrte nach Deutschland zurück. Das Projektthema war zunächst ganz pragmatischen Gründen geschuldet. Meine Dissertation, die unter dem Titel Die freie Frau. Soziale Utopien des frühen 19. Jahrhunderts (vgl. Kleinau 1987) publiziert worden war, wurde zwar in der Geschichtswissenschaft, aber nicht in der Erziehungswissenschaft rezipiert. Als promovierte Diplom-Pädagogin hatte ich kein erziehungswissenschaftliches Profil. Wollte ich in der Erziehungswissenschaft bleiben, musste ich ein ›genuin pädagogisches‹ Thema wählen. Es war also eher rationales Kalkül und nicht leidenschaftlicher Forscherinnendrang, der mich der Sozialgeschichte des höheren Mädchenschulwesens zuführte. Schule, fand ich, war

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eigentlich ein langweiliges Thema, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Die Geschichte des höheren Mädchenschulwesens ließ sich als ›Geschichte von unten‹ schreiben. Ich stieß auf beeindruckende Frauen wie beispielsweise Helene Lange, die durch zähe Ausdauer, Entschlossenheit und die Vorstellung einer geschlechtergerechteren Welt den Staat zwangen, längst überfällige Reformen in der Mädchenbildung umzusetzen. Vor allem aber faszinierten mich die Frauen im Umkreis der Schule des Paulsenstifts, die diese als Armenschule gegründete Einrichtung zielstrebig zu einer höheren Mädchenschule ausbauten und sich dem Ausgleich sozialer und konfessioneller Unterschiede verschrieben (vgl. Kleinau 2015).

5. Habilitation und Familiengründung An eine Habilitation hatte ich zunächst gar nicht gedacht. Juliane Jacobi verstand es, mir den Druck zu nehmen, der mit dieser Weiterqualifizierung verbunden war. Sie ermutigte mich, das DFG-Projekt in Angriff zu nehmen und schlug vor, ich solle zum Abschluss einfach »ein gutes Buch machen«. Die Zusammenarbeit mit ihr hat mich – so sehe ich es heute – gut auf meine heutige Position als Hochschullehrerin vorbereitet. In der Forschung hat sie mir jede Freiheit gelassen, war aber zur Stelle, wenn ich Unterstützung benötigte. Um erfolgreich in universitären Gremien agieren zu können, war der gemeinsame Kampf um die Institutionalisierung der Frauenforschung in Bielefeld die beste hochschulpolitische Schulung, die man sich denken kann. Ein Seminar des Deutschen Hochschulverbandes (DHV), das ich anlässlich der Übernahme diverser Ämter an der Universität zu Köln besuchte, vermittelte mir demgegenüber keine neuen Erkenntnisse. Nachdem das Projekt ausgelaufen war, erhielt ich – für mich überraschend – eine Stelle als Hochschulassistentin am Institut für Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Universität Hamburg. Überraschend insofern, als ich mich zwar beworben, aber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden war. Als Hochschwangere hatte ich mir zudem keine großen Hoffnungen gemacht. Mein Mann erklärte sich bereit, ›Erziehungsurlaub‹ zu nehmen, wurde aber, als seinem Chef das zugetragen wurde, am letzten Tag seiner Probezeit gekündigt. Er blieb ein Jahr zu Hause, um sich um unsere Tochter zu kümmern. Der Wiedereinstieg in den Beruf gestaltete sich für ihn schwierig. Als

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verheiratetes Paar hatten wir keinen Anspruch auf Kinderbetreuung. Man gab uns behördlicherseits den Rat, dann solle doch ich zu Hause beim Kind bleiben. Wir engagierten uns stattdessen in einer Elterninitiative, gründeten ein Kindertagesheim (Krippe, Kindergarten, Hort), und ich wurde Vorsitzende des Trägervereins.

6. Barrieren und Hindernisse – Unterstützung und Förderung So sehr ich mich aber über die Assistent*innenstelle freute, glücklich wurde ich am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte nicht. Die drei männlichen Professoren waren einander in ›herzlicher Abneigung‹ zugetan, und die einzige Professorin, Marie-Elisabeth Hilger, der ich ›qua Geschlecht‹ zugeordnet wurde, hatte einen extrem schweren Stand. Die Professoren hatten bei der Besetzung der Assistent*innenstelle ihren Wunschkandidaten nicht durchsetzen können und hatten sich mit mir, einer Frauen- und Geschlechterforscherin und noch dazu einer Pädagogin, arrangieren müssen. Im Vergleich mit der Erziehungswissenschaft ist die Geschichtswissenschaft eine ausgesprochen hierarchisch strukturierte Disziplin. Im Institutsalltag zeigte sich das u.a. daran, dass dem langjährigen, habilitierten Mitarbeiter erst mit dem Ruf auf eine Professur von seinem Doktorvater das ›Du‹ angeboten wurde. Mir wurde, nachdem ich in einer Besetzungskommission mit einem weiteren Mittelbauvertreter und den Studierenden gegen die Professoren gestimmt hatte, von einem der Herren bedeutet, ich solle mich in Zukunft loyal verhalten, schließlich wolle ich ja an diesem Fachbereich noch habilitiert werden. Ich war keineswegs gewillt, mich einschüchtern zu lassen, schließlich war ich an einer Reformuniversität mit einem starken Mittelbau hochschulsozialisiert worden. Als nach drei Jahren die Verlängerung meines Vertrages im Fachbereichsrat zur Diskussion stand, versuchte derselbe Professor das Verfahren trotz zweier positiver Gutachten zu hintertreiben. Damit stand für mich fest, dass ich mich nicht einem Habilitationsverfahren aussetzen würde, dass meine wissenschaftliche Reputation und mich als Person unweigerlich beschädigen würde. Juliane Jacobi, die in der Zwischenzeit eine ordentliche Professur erhalten hatte, war bereit, das Verfahren mit mir in Bielefeld durchzuziehen. Meine Chefin, Frau Hilger, wurde eingeweiht, und die drei Professoren des Instituts bekamen 1994 den erfolgreichen Abschluss meines Habilitationsverfahrens mitgeteilt. Dem

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darauf hin einsetzenden Mobbing entkam ich, da Juliane Jacobi zwischenzeitlich einen Ruf auf eine Professur in Potsdam angenommen hatte und ich die Vertretung ihrer Bielefelder Stelle angeboten bekam. Ilse Brehmer, die ich aus alten Bielefelder Zeiten kannte, vermittelte mir eine Gastprofessur in Graz, so dass ich erst im Frühjahr 1997 nach Hamburg zurückkehrte. Ende 1998 lief mein Vertrag am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aus. Seit Abschluss des Habilitationsverfahrens hatte ich mich mehrfach auf Professuren beworben, auch verschiedene Listenplätze erhalten, aber ein Ruf war nicht in Sicht. Die Vorstellungsgespräche hatte ich teilweise als ziemlich demotivierend, ja sogar demütigend erlebt, so dass ich ernsthaft über beruf liche Alternativen nachdachte. Eine Zeitlang habe ich in der Altenpf lege Psychologie unterrichtet, aber im Wintersemester 1999/2000 konnte ich die Vertretung einer Professur an der Universität Duisburg übernehmen. Wieder einmal hatte sich das Frauen-Netzwerk, in das ich seit meiner Doktorandinnen-Zeit eingebunden war, bewährt. Vermittelt hatte mir die Stelle Barbara Friebertshäuser, heute Professorin in Frankfurt, mit der ich mehrere Jahre im Vorstand der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zusammengearbeitet hatte. In Duisburg musste ich mich in neue Themengebiete einarbeiten, da die Professur mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und Erziehung in der Soziologie angesiedelt war. Die Entscheidung, mich auf die Nachfolge von Christa Berg in Köln zu bewerben, ist mir nicht leicht gefallen. Die Universität zu Köln stand in dem Ruf, besonders konservativ zu sein. Dass man ausgerechnet dorthin eine Frauen- und Geschlechterforscherin berufen würde, erschien mir unwahrscheinlich. Aber mein Forschungsvorhaben über Lehrerinnen als Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen (vgl. Gippert/ Kleinau 2014) war anschlussfähig an die stark interkulturell und international ausgerichtete Kölner Erziehungswissenschaft, so dass ich Ende des Jahres 2001 den Ruf auf die Professur für Historisch-systematische Pädagogik erhielt. Wenn ich meinen beruf lichen Werdegang Revue passieren lasse, kann ich Folgendes festhalten: Die letztlich eingeschlagene Lauf bahn war nicht meine erste Wahl. Der Zugang zur Pädagogik als Wissenschaft eröffnete sich mir über die Frauen- und Geschlechterforschung, und den Einstieg in eine Wissenschaftskarriere hätte ich ohne das ermutigende Beispiel forschender und lehrender Frauen, die mich unter-

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stützt und gefördert haben, nicht geschafft. In Berufungsverfahren hatte ich oft genug das Gefühl, dass die Universität eine der letzten feudalistisch geprägten männerbündischen Bastionen unserer Gesellschaft sei, in die Menschen meiner Art »nie passten und nie passen werden« (Jacobi 1998: 19). Dieses Gefühl des Fremdseins hat mit meinem Geschlecht, meiner sozialen Herkunft und der frühen Übernahme von (lebenslanger) Verantwortung für meine Schwester zu tun. Die Nicht-Verankerung im Old-Boys-Network war sicherlich ein Grund, warum es nach der Habilitation noch acht Jahre dauerte, bis der Ruf sich einstellte. Hinzu kam aber auch eine gewisse Unsicherheit auf dem wissenschaftlichen Parkett. Dass ich manchmal ostwestfälischen Dialekt sprach, wurde mir erst zu Beginn des Studiums – in der Begegnung mit Kommiliton*innen aus anderen Regionen Deutschlands – bewusst. Die Kunst des Small Talks habe ich mühsam, fast wie eine Fremdsprache lernen müssen. In meinem nicht-akademischen Elternhaus wurde Klartext geredet, ›leichte Sprache‹, wie es in der Sonderpädagogik heißt. Das hatte seinen Ursprung nicht nur in der Kommunikation mit meiner Schwester, sondern auch im sozialen Milieu, in dem Akademiker*innen nur dann eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht wurde, wenn sie sich auf einen ›hemdsärmeligen‹ Umgang mit Angehörigen ›bildungsferner‹ Schichten verstanden. Das Gefühl des Fremdseins, des Andersseins stellte sich aber auch gegenüber meiner Herkunftsfamilie ein. Mein Vater entwickelte zwar einen gewissen Stolz auf seine ›gelehrte‹ Tochter, aber dass nach der Habilitation nicht gleich eine hochdotierte Stelle als Professorin auf mich wartete, bestärkte ihn in der Ansicht, dass ich eine ›brotlose‹ Kunst studiert hätte. Beruf lich bedingte Auslandsaufenthalte waren bei meiner Mutter stets von der Sorge begleitet, ich könnte mich ›absetzen‹ und damit der Verpf lichtung gegenüber meiner Schwester entziehen. Dieses ständige Ausbalancieren zwischen individuellem Freiheitsdrang und familiärer Verantwortungsübernahme zeigt sich bis heute in der Wahl meiner Forschungsthemen und meinem Einsatz für Nicht-Privilegierte, beruflich Abhängige oder zu Unrecht Angegriffene. Dass ich mich in der Universität heute – meistens – wohlfühle, liegt vor allen Dingen an der deutlichen Zunahme von Frauen in meinem unmittelbaren Kollegium. Im Rahmen meiner Möglichkeiten habe ich mich stets für die Berufung qualifizierter Frauen eingesetzt, und auch die Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses war mir ein wichtiges Anliegen. Dass die Thematisierung sozialer Herkunft

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für viele Kolleg*innen immer noch ein Tabu darstellt, habe ich erst kürzlich in meiner Funktion als Vorstandsmitglied in der DGfE erfahren. Vorgestellt hatte ich mich auf der Mitgliederversammlung u.a. mit der Idee, innerhalb der DGfE ein Mentor*innen-Programm für Angehörige der Ersten-Generation-Wissenschaft aufzubauen. Gewählt wurde ich mit einem überzeugenden Votum. Auf der anschließenden Vorstandssitzung wurde mein Konzept des miteinander geteilten nicht-akademischen Hintergrunds von Mentor*in und Mentee heftig kritisiert. Die Frage sei doch, ob sich überhaupt genug Mentor*innen finden ließen, da eine Meldung doch mit einem Outing, mit einem Labeling als Outsider einhergehe? Die Tabuisierung der eigenen sozialen Herkunft scheint in der Wissenschaft tiefe Wurzeln geschlagen zu haben, auch in der sich ansonsten so offen gebenden Erziehungswissenschaft. Im Diskurs über soziale Bildungsaufsteiger*innen sollte stärker – als es bisher der Fall war – die Verf lechtung verschiedener Differenzzuschreibungen analysiert werden, wobei die Konzentration auf die Trias class, race and gender deutlich zu kurz greift. In individuellen Lebensgeschichten lässt sich die jeweilige Gewichtung der ›unendlich verschiedenen‹ Differenzattribuierungen (vgl. Lutz/Wenning 2001) herausarbeiten, die für den Weg vom ›Arbeiterkind‹ zum*zur Professor*in von Bedeutung sind.

Anmerkungen 1 Im Gegensatz zur Damen- oder Herrenschneiderei, die Oberbekleidung herstellen, wurden in der Weißnäherei, einem fast ausgestorbenen Berufszweig, Tisch-, Bettund Nachtwäsche sowie handgenähte Herrenoberhemden produziert. 2 In der Oberstufe durfte ich dann – zur großen Genugtuung meines Vaters – der versetzungsgefährdeten Tochter meines früheren Grundschullehrers Nachhilfe erteilen. 3 Den Institutionalisierungsprozess habe ich eingehender beschrieben in Kleinau 2008: 197f.

Literatur Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (Hg.) (1993): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. Neuausgabe, Weinheim/ München: Juventa.

»Hintertreppen zum Elfenbeinturm«

Ellger-Rüttgardt, Sieglind (1997): »Geschichte der sonderpädagogischen Institutionen«, in: Klaus Harney/Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, Opladen: Leske + Budrich, S. 247-269. Gippert, Wolfgang/Kleinau, Elke (2014): Bildungsreisende und Arbeitsmigrantinnen. Auslanderfahrungen deutscher Lehrerinnen zwischen nationaler und internationaler Orientierung (1850-1920), (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, Bd. 46), Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Jacobi, Juliane (1998): »›Vom Stief kind zum Wunschkind?‹ – Einige Gedanken zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an deutschen Universitäten«, in: Erziehungswissenschaft. Hg. vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 9,17, S. 16-22. Jureit, Ulrike (1997): »Authentische und konstruierte Erinnerung. Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen«, in: Werkstatt Geschichte 18, 6, S. 91-101. Kleinau, Elke (2015): »Von der Armenschule zur höheren Mädchenschule. Der Frauenverein zur Unterstützung der Armenpf lege und die Schule des Paulsenstifts in Hamburg«, in: Gabriele Ball/Juliane Jacobi (Hg.): Schule und Bildung in Frauenhand. Anna Vorwerk und ihre Vorläuferinnen, (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 141), Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, S. 205-219. Kleinau, Elke (2008): »Produktive Umwege. Auf dem Weg zur Hochschullehrerin«, in: Anne Schlüter (Hg.): Erziehungswissenschaftlerinnen in der Frauen- und Geschlechterforschung, Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 191-204. Kleinau, Elke (1987): Die freie Frau. Soziale Utopien des frühen 19. Jahrhunderts, Düsseldorf: Schwann. Lutz, Helma/Wenning, Norbert (2001): »Differenzen über Differenz. Einführung in die Debatten«, in: Helma Lutz/Norbert Wenning (Hg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen: Leske + Budrich, S. 11-24. Metz-Göckel, Sigrid (1996): »Die ›deutsche Bildungskatastrophe‹ und Frauen als Bildungsreserve«, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung (Bd. 2), Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 373-385. Schulze, Theodor (1993): »Lebenslauf und Lebensgeschichte«, in: Dieter Baacke/Theodor Schulze (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung

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Elke Kleinau

pädagogischen Verstehens, Neuausgabe, Weinheim/München: Juventa, S. 174-226. Simon, Gertrud (1993): Hintertreppen zum Elfenbeinturm. Höhere Mädchenbildung in Österreich. Anfänge und Entwicklungen, Wien: Wiener Frauenverlag.

Vom Bauernsohn zum Prorektor Rückblick und Ausblick eines Mathematikers Aloys Krieg

Mit den beiden jüngeren Brüdern und dem ersten Fahrrad auf dem Bauernhof im Jahr 1961

Aloys Krieg wurde am 14. Dezember 1955 in Ostbevern geboren. Seine Eltern waren zunächst Bauern, arbeiteten später als Handelsvertreter bzw. Hausfrau. Krieg hat drei jüngere Brüder, von denen einer nach seiner Dienstzeit als Postbote in Frührente ging und Anfang 2020 verstarb, ein Bruder arbeitet als Mechaniker, der andere ist Diplom-Mathematiker und arbeitet in der Medienbranche. Krieg ist verheiratet und hat einen Sohn. Als W3-Professor für Mathematik mit dem Schwerpunkt Analytische Zahlentheorie an der RWTH Aachen bekleidet er seit 2008 das Amt des Prorektors für Lehre.

1. Der Höfeordnung entkommen Ich wurde 1955 in Ostbevern in der Nähe von Münster als ältester Sohn einer Bauernfamilie geboren. Meine Eltern hatten die Volksschule absolviert, aber wie im landwirtschaftlichen Umfeld zur Kriegszeit üblich

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keine Berufsausbildung. Sie waren sozialdemokratisch geprägt und gläubige Katholiken, hielten aber kritischen Abstand zur Organisation Kirche. Auch wenn Literatur, Kunst und Musik bei ihnen keine Rolle spielten, waren sie politisch interessierte Bürger*innen, die eine offene Diskussion über alle möglichen Themen liebten und initiierten. Insgesamt war ihnen Bildung für alle ihre Kinder sehr wichtig, so dass man sie keinesfalls den so genannten bildungsfernen Schichten zurechnen darf. Eigentlich war mein Lebensweg nach der Höfeordnung als alleiniger Hoferbe vorgezeichnet. Aber ungewöhnlicherweise noch vor der Schulzeit hat sich mein Vater für mich ein Studium vorgestellt und meinen jüngeren Bruder als Hoferben vorgesehen. Um sich die Bedeutung dieses ›revolutionären‹ Schritts zu vergegenwärtigen, muss man sich klarmachen, dass meine Eltern dadurch mit einer Jahrhunderte alten Tradition gebrochen haben. Als Konsequenz haben sie meinen Wissensdrang unterstützt und gefördert. Darüber hinaus haben sie bei allen ihren vier Kindern die Eigenständigkeit unterstützt und deren Streben nach einer eigenen Meinung und Entwicklung zugelassen. Neben der üblichen Mithilfe im Alltagsbetrieb erhielt jedes Kind auf dem Bauernhof mit der Einschulung eine feste Aufgabe, in meinem Fall das abendliche Füttern der Kälber an allen sieben Tagen der Woche. Diese Aufgabe förderte sicherlich mein Verantwortungs- und Pf lichtbewusstsein, weil man sich ihr nicht einfach entziehen konnte, wenn man keine Lust dazu hatte. Auf der anderen Seite wusste ich von frühester Kindheit an, dass mir ein Leben auf dem Bauernhof keine sonderliche Freude bereiten würde. In diesem Umfeld war es klar, dass es zeitlebens nie einen Familienurlaub gegeben hat, den ich aber auch nie vermisst habe. Allerdings war bei all der Arbeit auch immer jemand zu Hause und für mich da. Damit wurde mir ein Vertrauen in die Wiege gelegt, dass die Familie im Krisenfall jederzeit Unterstützung bietet. Diese Verlässlichkeit war und ist für mich viel bedeutsamer als materieller Wohlstand. Als ich zehn Jahre alt war, gaben meine Eltern den eher unrentablen Bauernhof auf und wir zogen in einen Vorort von Warendorf. Mein Vater arbeitete von da an selbstständig als Handelsvertreter. Hervorzuheben ist vielleicht noch das Engagement der gesamten Familie im lokalen Fußballverein. Dies brachte mich früh in Kontakt mit Fragen der Führung und Organisation einer Mannschaft oder gar eines ganzen Vereins.

Vom Bauernsohn zum Prorektor

Die Familie hatte ein zwar bescheidenes, aber gutes Auskommen. Für jeden war immer gesorgt. Aber es war auch klar, dass man dafür arbeiten musste, wenn man etwas Außergewöhnliches – z.B. ein Mofa oder später ein Auto – haben wollte. Aus diesem Grund hatte ich regelmäßig während der Schulzeit und auch zu Beginn des Studiums Ferienjobs. Deshalb habe ich nie vergessen, wie hart es ist, sich den Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit zu verdienen.

2. Von der Bauernschule in die Welt der Mathematik Ich besuchte zunächst eine sehr kleine Bauernschule, in der die ersten vier Klassen mit über 40 Schüler*innen gemeinsam unterrichtet wurden. Für mich war das sehr positiv, weil ich einerseits während der Stillarbeit bei den höheren Jahrgängen zuhören konnte, aber auch meinen Mitschüler*innen im selben Jahrgang bei Problemen helfen durfte und auch hin und wieder die jüngeren Jahrgänge mit dem Material der Lehrerin unterrichten durfte. So sagte mein zwei Jahre jüngerer Bruder bis zu seinem Lebensende, dass ich (zumindest zeitweilig) sein Lehrer in der Schule gewesen sei. 1966 wechselte ich auf das Gymnasium Laurentianum nach Warendorf, wo ich mit zwei Kurzschuljahren und noch ohne Wahlmöglichkeit mit Latein als erster Fremdsprache begann. Ich entschied mich in der Mittelstufe für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig und bestand dort 1974 mein Abitur. Die gesamte Schulzeit war für mich völlig unproblematisch und von einem Klima bestimmt, in dem man seinen (ausschließlich männlichen) Mitschülern natürlich half, wenn sie Schwierigkeiten hatten. Die Erfahrung, dass es selbstverständlich ist, füreinander da zu sein, hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Nach dem Wehrdienst studierte ich ab dem Wintersemester 1975/76 Mathematik mit dem Nebenfach Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster. Nach dem Vordiplom war ich regelmäßig als Tutor in der Mathematik beschäftigt. Ich wurde in die Studienförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung und danach auch in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen. Das gesamte Studium war geprägt von Teamarbeit. Man half sich gegenseitig, um voranzukommen. Im Januar 1981 habe ich mein Studium dort mit dem Diplom abgeschlossen. Die Promotionszeit wurde mit einem Stipendium der Studienstiftung gefördert. Das Dissertationsthema Modulfunktionen auf dem Qua-

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ternionen-Halbraum wurde von Max Koecher betreut und setzte meine Diplomarbeit in kanonischer Weise fort. Im Dezember 1983 wurde ich in Reiner Mathematik mit ›summa cum laude‹ promoviert. Die Dissertation wurde in den Lecture Notes in Mathematics beim Springer-Verlag publiziert. Anschließend habe ich als Assistent (C1) in Münster gearbeitet. Gekennzeichnet werden kann diese Zeit – gerade im Vergleich zu den Aufgaben meiner Mitarbeiter*innen heute – durch eine enorme akademische Freiheit, insbesondere in der vorlesungsfreien Zeit, denn mein Betreuer war, wie damals nicht unüblich, nur an zwei Tagen in der Woche im Institut. Zur weiteren Entwicklung gehörte 1987 eine zweimonatige Gastdozentur des DAAD in Chandigarh und Bombay in Indien sowie im akademischen Jahr 1987/88 eine Tätigkeit als Visiting Assistant Professor an der University of California in San Diego. Gerade das Verlassen der Komfortzone in Münster ist mir schwergefallen, hat sich aber sehr nachhaltig auf meine Eigenständigkeit in der Wissenschaft ausgewirkt. Mein Betreuer hat aus seiner Philosophie heraus keine reinen Forschungsaufenthalte unterstützt. Die Zeiten außerhalb von Münster sollten stets mit Forschung und Lehre verbunden sein, weil einem die Erfüllung der Lehrverpf lichtung täglich das Gefühl gab, etwas geschafft zu haben, auch wenn es in der Forschung einmal nicht so gut lief. Aus den USA kam ich mit einer fertigen Habilitationsschrift zurück, die ich aber zunächst einmal nicht eingereicht habe, weil die Verwaltung meine Stelle nicht verlängern wollte, wenn ich mich in der ersten Phase meiner Assistentenzeit habilitiert hätte. Im Mai 1989 habe ich mich dann doch habilitiert und erhielt ein paar Monate später eine Hochschuldozentur (C2). Diese Stelle gab mir die notwendige Unabhängigkeit, weil mein akademischer Betreuer Max Koecher inzwischen emeritiert war und kurz danach gestorben ist. Ich habe dann die Aufgabe übernommen, zwei halbfertige Lehrbücher über Geometrie und Modulformen, an denen ich schon als Assistent mitgearbeitet hatte, zum Abschluss zu bringen und unter unserer gemeinsamen Autorenschaft zu publizieren. Die vier Jahre nach der Habilitation waren aus heutiger Sicht die wissenschaftlich produktivste, aber sicherlich auch die persönlich belastendste Zeit, weil es keine beruf liche Absicherung und nicht so sonderlich viele Professuren gab, auf die ich mich bewerben konnte. Auf der anderen Seite bin ich nie wirklich in die Gefahr von Arbeitslosigkeit geraten, weil ich immer noch genügend Vertragslaufzeit hatte.

Vom Bauernsohn zum Prorektor

1992 wurde ich mit dem Bennigsen-Foerder-Preis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Im September 1993 wurde ich auf eine C4-Professur an der RWTH Aachen auf die Leitung des Lehrstuhls A für Mathematik berufen. Ein entscheidender Punkt war sicherlich der Vorstellungsvortrag, der sehr gut angekommen ist, denn aufgrund des hohen Serviceanteils spielt die Lehre in der Mathematik eine große Rolle. An der RWTH erhielt man auch als junger Kollege eine gute Ausstattung, die aber immer durch immense Aufgaben in der Lehre begründet war. Ich wurde dort von Anfang an fair behandelt. In diese Zeit fiel dann auch meine achtjährige Mitgliedschaft im Präsidium der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Wissenschaftlich habe ich nacheinander in vier Graduiertenkollegs in der Mathematik mitgearbeitet. Relativ schnell war klar, dass ich mich für das Hochschulmanagement interessiere. In diesem Zusammenhang hat der spätere Rektor Burkhard Rauhut als Mentor meine Karriere innerhalb der RWTH begleitet. Von 2000 bis 2004 war ich Dekan der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften, der damals ca. 120 Professor*innen angehörten. Seit 2008 bin ich nunmehr in der dritten Amtszeit Prorektor für Lehre der RWTH. Damit verbunden ist auch ein Wechsel meines Tätigkeitsschwerpunktes, weil ich heute viel stärker mit der Einwerbung von Drittmitteln, der Beteiligung an Wettbewerben und dem Projektmanagement beschäftigt bin. 2016 wechselte ich dann in die W-Besoldung auf eine W3-Stelle. Der größte Erfolg in der Prorektorenzeit war sicher der Gewinn des Genius Loci Preises für Lehrexzellenz des Stifterverbandes im Jahre 2017. Denn dieser Preis würdigt die jahrelangen Anstrengungen um die Verbesserung der Lehre und ihres Stellenwerts an der RWTH. Besonders erwähnen möchte ich noch den ›Guten Studienstart‹. Das ist ein Projekt zwischen RWTH und FH Aachen mit einem gemeinsamen ›nullten‹ Semester in den Ingenieurwissenschaften zum Studieneinstieg. Seit 2014 gehöre ich dem Hochschulrat der Hochschule Rhein-Waal in Kleve an und bin seit 2017 dessen Vorsitzender.

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3. Die Bedeutung der Herkunft in unterschiedlichen Kontexten In meiner Bildungslauf bahn habe ich nur selten die Erfahrung gemacht, dass meine soziale Herkunft eine Rolle spielt, und wenn, waren es aus meiner Sicht eher unbedeutsame Ereignisse. In der Schulzeit etwa fragte der Deutschlehrer, welcher armselige Sextaner in den Sommerferien nicht im Ausland in Urlaub gewesen sei. In der Quarta wäre mir mein mangelndes Verständnis für Musik fast zum Verhängnis geworden, weil der Lehrer meinte, dass ein solches Kind nicht auf das Gymnasium gehöre. Die Warnungen vor dem Mathematikstudium waren groß, weil ich keine*n Mathematiker*in persönlich kannte, ich nicht wirklich wusste, was Mathematiker*innen in der Praxis machen, und die meisten Kommentare mir gegenüber lauteten, dass daran auch die Besten scheitern würden. Daher hatte ich mir auch vorgenommen, kein anderes Studienfach, sondern eine Ausbildung zu wählen, falls es mit der Mathematik nicht klappen sollte. In meinem Studienalltag spielte die Herkunft überhaupt keine Rolle. Das liegt sicherlich auch an der Mathematik selbst. Man bewegt sich dort in einer abstrakten Parallelwelt, in der es objektiv unterscheidbar um richtig oder falsch geht. Wenn die Eltern nicht zufällig Mathematik studiert haben, verstehen sie nicht wirklich, mit welchen Fragen und Problemen man sich eigentlich beschäftigt. Zu der gleichen Einschätzung der Bedeutung des Herkunftsmilieus würde ich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung kommen. Dort habe ich viele Studierende mit dem Label Bildungsaufsteiger*in getroffen und auch diejenigen, die für SPD-nahe Gruppierungen Hochschulpolitik betrieben. In der Studienstiftung sah das anders aus. Dort stand in den 1970er und 1980er Jahren in den Ferienakademien der direkte Wettbewerb der Stipendiat*innen untereinander viel stärker im Vordergrund, als ich es von der Universität gewohnt war. Darüber hinaus wurde insbesondere von der Geschäftsstelle der Eindruck vermittelt, dass man nur ein*e vollwertige*r Studienstiftler*in sein kann, wenn man mindestens ein Instrument spielt und jeden Tag musiziert. Hier hatte ich manches Mal das Gefühl, dass jemand aus einer nicht-akademischen Herkunftsfamilie nur alibimäßig aufgenommen wurde.

Vom Bauernsohn zum Prorektor

4. Wegbereiter und Wegbegleiter der eigenen Bildungsentscheidungen Insgesamt habe ich meinen Eltern sehr viel zu verdanken. Sie haben im Wesentlichen meine Schullauf bahn in eine Richtung entwickelt, die zur damaligen Zeit alles andere als üblich war und mir die Tür für meine Karriere geöffnet hat. Sie haben mich nach Kräften unterstützt und mir die Freiheiten gelassen, die ich brauchte. Weiterhin ist mir der Vorteil der Öffnung der Gymnasien und Hochschulen für breitere Schichten zugutegekommen. Ab dem Gymnasium gab es die Lehrmittelfreiheit, so dass die Bücher kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, was für meine Familie eine enorme Entlastung war. Ich hatte zumindest in Mathematik und Physik exzellente Lehrer, so dass mir der Wechsel an die Universität sehr leicht fiel. Im Studium musste ich mir keine finanziellen Sorgen machen, weil ich den BAföG-Höchstsatz mit einem sehr geringen Darlehnsanteil bezog, bevor ich ein Stipendium bekam. Diese Situation habe ich immer als Privileg empfunden. Sicherlich habe ich von Beginn an eine Begabung für das mathematische Denken mitgebracht, die aber auch durch eine große Portion Fleiß untermauert wurde. Schließlich habe ich an den entscheidenden Stellen auf die richtigen Ratschläge meiner akademischen Lehrer gehört. Dazu gehörte sicherlich der Zwang zu einem Auslandsaufenthalt vor der Habilitation. Zum Glück habe ich auch einige Empfehlungen, die mich in die falsche Richtung geschickt hätten, ignoriert, z.B. im Hauptstudium an die viel kleinere Universität in Osnabrück zu wechseln, um dem Wettbewerb zu entgehen. Meine Entscheidung für das Fach Mathematik fiel bereits sehr früh. Ich war ein sehr guter Schüler und konnte mir das Studienfach aussuchen. Eine Vorliebe für das Rechnen hatte ich von der ersten Klasse an, für die Mathematik ab der Quarta. Dort hat uns ein Referendar in einer Vertretungsstunde einen Beweis für die Tatsache vorgestellt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Dieser Beweis hat mich begeistert und diese Faszination ist bis heute erhalten geblieben. Beim Abitur bin ich von der schlichten Annahme ausgegangen, dass Mathematik das Fach wäre, in dem ich am ehesten etwas Neues entdecken könnte. Ich wurde von Max Koecher, dem Betreuer meiner Diplomarbeit, darin unterstützt, eine Dissertation zu verfassen. Nach der Promotion

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gab es eine zweijährige ›Probezeit‹, ob er meine Habilitation unterstützen würde. Schließlich ist alles gut gegangen, weil ich auch nicht so genau wusste, wie die Entscheidungsabläufe in Berufungsverfahren an Universitäten sind. Als Alternative, die ich nicht gerne realisiert hätte, hatte ich immer eine Karriere in den USA im Hinterkopf. Ich bin aber nicht sicher, ob ich mit dem Wissen von heute, wieviel Glück an der entscheidenden Stelle dazugehört, noch einmal diese risikoreiche Entscheidung treffen würde. Mein privates Umfeld hat sich in diese Entscheidungen nicht eingemischt, sondern meinen Wunsch mitgetragen und unterstützt.

5. Individuelles Fördern und Fordern als Aufgabe von Hochschulen Ich empfinde immer noch eine gewisse Dankbarkeit für die Förderung, die ich durch die Öffnung von Gymnasien und Hochschulen sowie BAföG und Stipendien von der Gesellschaft erfahren habe. Es ist mir ein inneres Anliegen, dafür auch etwas zurückzugeben. Ich arbeite sehr gern mit Studierenden und es ist mir ein Bedürfnis, sie an ihre Höchstleistungen heranzuführen. In meiner Funktion als Prorektor bin ich ein Mittler zwischen den Interessen der Studierenden und den Ansprüchen der Lehrenden. Ich habe nie aus den Augen verloren, dass die Studierenden im Konf liktfall die Schwächeren sind. Dabei ist es sicher wichtig, dass die Institution ihre Ansprüche definiert und auch die Mitwirkung der Studierenden einfordert. Auf der anderen Seite sehe ich eine gewisse Verantwortung für die jungen Leute, die bei uns studieren. Deshalb halte ich es für wichtig, denjenigen, die in einem Studium unserer Prägung nicht zurechtkommen, Alternativen aufzuzeigen. Solche Alternativen können ein anderes Studienfach, eine andere Hochschule bzw. Hochschulform oder gar eine Berufsausbildung sein. Die Durchlässigkeit zwischen Universitäten und Fachhochschulen stellt immer noch eine zentrale Herausforderung dar. Denn aus meiner Sicht ist es vorrangig, die Studierenden zu einem Abschluss zu führen. Dabei ist mir bewusst, dass diese Haltung an klassischen Universitäten Humboldtscher Prägung, die auf dem reinen Angebotscharakter von Bildung beharren, eher ungewöhnlich ist.

Vom Bauernsohn zum Prorektor

Bei der Nachwuchsrekrutierung gehe ich zunehmend proaktiver vor und orientiere seit einigen Jahren die Weiterbildung neben der Abschlussarbeit an den individuellen Zielen der Studierenden/Doktorand*innen. Diese Art von Personalentwicklung ist sicher ein gravierender Unterschied gegenüber der Situation in den 1980er und 1990er Jahren. Aus meiner Sicht ist das Studieren in Deutschland ein Privileg, da es kostenfrei ist. Im natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereich spielt nach meiner Erfahrung ein nicht-akademisches Herkunftsmilieu keine Rolle. Natürlich ist ein akademisches Elternhaus hilfreich, wenn es darum geht, Misserfolge einzuordnen oder Rückschläge wegzustecken. Aber für einen Praktikums- oder Arbeitsplatz meines Sohnes konnte ich auch nicht sorgen und meine Unterstützung beschränkte sich auf das Korrekturlesen einer Bewerbung. Bei mir wurde ein Studium als Bildungsaufsteiger von außen als Erfolg anerkannt. Bei meinem Sohn wurde ein Studium eher erwartet und als selbstverständlich angesehen. Ich habe bis vor wenigen Jahren nie öffentlich darüber gesprochen, woher ich komme. Das lag weder daran, dass ich besonders stolz auf meinen Aufstieg war, noch daran, dass mir mein nicht-akademisches Elternhaus eher peinlich gewesen wäre. Es spielt in dem Umfeld, in dem ich mich bewege, keine Rolle und ich möchte an meinen Leistungen gemessen werden. Auf der anderen Seite möchte ich gern jungen Menschen Mut machen, dass sie durch Bildung gute Chancen im Leben haben, aber auch vermitteln, dass dafür eigene Anstrengungen notwendig sind.

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»Was soll aus dem Mädchen denn werden — alte Tante auf dem Hof?« Oder: Der lange Weg von der ländlichen Hauswirtschaftsgehilfin zur Universitätsprofessorin Doris Lemmermöhle

Mit dem älteren Bruder bei der Feier der Erstkommunion

Prof. em. Dr. Doris Lemmermöhle wurde 1941 in Brickwedde, Kreis Bersenbrück, als zweitältestes von insgesamt acht Kindern der Bauernfamilie Lemmermöhle geboren. Von den fünf Brüdern und zwei Schwestern sind eine Schwester und drei Brüder bereits verstorben. Der älteste Bruder war Tierarzt, ein weiterer Bruder begann ein Studium der Psychologie, starb aber vor Abschluss des Studiums, ein weiterer Bruder wurde Informatiker, eine Schwester Gymnasiallehrerin, der jüngste Bruder erbte den Hof und machte eine landwirtschaftliche Ausbildung. Doris Lemmermöhle war Professorin an der Stiftungsuniversität Göttingen am pädagogischen Seminar, heute Institut für Erziehungswissenschaft, tätig, und war u.a. Vizepräsidentin der Georg-August-Universität Göttingen. 2009 übernahm sie die kommissarische Leitung des Lichtenbergkollegs an der Universität Göttingen, eingerichtet im Kontext der Exzellenzinitiative.

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2017 erhielt sie den Preis des Stiftungsrats der Universität Göttingen in der Kategorie Fundraising sowie für besonderes Engagement für die Stiftungsuniversität Göttingen. 2009 wurde ihr der niedersächsische Verdienstorden verliehen, 2019 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. »Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?« Diese Frage stellte 1963, am Tag nach der Silberhochzeit meiner Eltern, eine erst kürzlich in unsere Familie eingeheiratete Tante. Sie war Kinderärztin wie ihr Mann, ein Bruder meiner Mutter. Damals war sie die einzige Akademikerin in unserer Familie und hoch angesehen. Ihre Frage hatte Gewicht für meine Familie und auch für mich. Mit der Frage dieser Tante begann mein langer Weg in die Wissenschaft, denn das Mädchen, von dem die Rede war, war ich. Damals war ich 23 Jahre alt, hatte die Mittelschule sowie eine Lehre als ›Ländliche Hauswirtschaftsgehilfin‹ abgeschlossen und arbeitete seit drei Jahren auf dem Hof meiner Eltern. Für meine Eltern schien das selbstverständlich, und bis zur Frage meiner Tante ehrlicherweise auch für mich. Die Frage meiner Tante änderte mein Leben von Grund auf. Sie brachte mein von Kindheit an auf Gehorsam und ›Katholisch-Sein‹ geprägtes Denken in Unordnung. Vor allem aber: Die Frage stellte zugleich eine Anforderung an mich, jedenfalls verstand ich die Frage so: Wer eigentlich war ich? Wer wollte ich sein? Was durfte ich wollen? War ich nicht in erster Linie meinen älter werdenden Eltern und meinen jüngeren Geschwistern verpf lichtet? Und: War es von mir abhängig, ›alte Tante auf dem Hof zu werden‹? Sollte, durfte oder musste ich anders, selbstständiger denken und handeln? Bis heute bin ich meiner Tante für diese ›aufweckende‹ Frage dankbar. Ohne ihre Anregung und ihre Hilfe hätte ich den Weg in die Wissenschaft nicht einschlagen können, nicht einmal die ersten Schritte dieses Weges wären mir gelungen. Meine Eltern widersprachen der gebildeten Tante nicht. Auch das half mir – trotz vieler kritischer Fragen und Unsicherheiten – Mut für selbständigeres Denken zu entwickeln und einen neuen Weg zu beschreiten. Dennoch: Über Jahre kämpfte ich mit einem schlechten Gewissen gegenüber meiner Familie. Jahrzehnte später – damals war ich schon Professorin an der Universität Göttingen – konnte ich meiner Tante bei einer Rede zu ihrem 80-jährigen Geburtstag für diesen großartigen Denkanstoß danken und noch später war es mir möglich, sie bis zu ihrem Tod zu begleiten

»Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?«

und auf diese Weise etwas von ihrer Sorge für mich an sie zurückzugeben. Bei der Beschreibung meines ›Weges in die Wissenschaft‹ werde ich zunächst das Herkunftsmilieu meiner Familie und wichtige Momente meiner Kindheit und Jugend skizzieren und dann die aus meiner Sicht wesentlichen biographischen Elemente des ›Bildungsaufstiegs‹ benennen.

1. Herkunftsmilieu meiner Familie: Woher kam ich und wer war ich damals 1963? Das Herkunftsmilieu meiner Familie lässt sich leicht beschreiben: Meine Eltern und deren Eltern beiderseits, aber auch die meisten unserer Verwandten waren Bauern auf mittelgroßen Höfen, katholisch und kinderreich. Geboren wurde ich 1941 zur Zeit des Zweiten Weltkrieges auf dem einsam gelegenen niedersächsischen Bauernhof meines Vaters als zweitältestes von acht Kindern. Mein Vater war im Krieg und kam gegen Ende des Krieges mit einer Verletzung der rechten Hand aus Stalingrad zurück. Über den Krieg und die Erfahrungen meines Vaters in dieser Zeit wurde nicht gesprochen. Seine Verwundung nahm ich erst richtig wahr, als ich bei der Ernte half und bemerkte, dass er die Garben nicht richtig anreichen konnte. Nur mit Mühe konnte ich sie auf den Erntewagen ziehen. Wir sprachen nicht darüber und mir schien, er war dankbar dafür. Für mich als Kind waren wichtig, vielleicht sogar prägend, meine Großeltern mütterlicherseits und die Zeiten, die ich mit ihnen verbrachte. Wichtig aber auch war Dina, die schon als junges Mädchen auf den Hof meiner Eltern gekommen war und mit der ich viel Zeit verbrachte. Meine Großeltern mütterlicherseits liebte ich vielleicht auch deshalb so sehr, weil ich dort das einzige geliebte und verwöhnte Kind war. Die Familie meiner Mutter war sehr katholisch, aber im Gegensatz zu der Familie meines Vaters auch politisch interessiert. Der Vater meiner Mutter war vor dem Krieg einige Zeit Abgeordneter im Oldenburger Landtag. Seine Schwester – so die Familienerzählungen – war in den 1920er, Anfang der 1930er Jahre als energische und politisch resolute Frau bekannt. Die Brüder meiner Mutter wehrten sich Anfang der 1930er Jahre gegen den Nationalsozialismus und nahmen dafür erheb-

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liche Schwierigkeiten in Kauf. Mein Großvater sprach gelegentlich darüber, nicht aber meine Eltern. Wie bedeutsam die Religion in der Familie meiner Mutter und darüber auch in unserer Familie war, zeigt sich schon daran, dass meine Großeltern mütterlicherseits in der Regel jeden Morgen zur Messe in die katholische Kirche gingen. War ich zu Besuch – und das zeigte mir, wie sehr sie mich mochten – wurde mein Großvater von dieser Pf licht entbunden. Während die Großmutter in der Kirche war, erzählte er mir im Bett Geschichten aus seinem Leben, teilweise auf plattdeutsch, oder er las mir Märchen vor und spielte mit mir. Wir freuten uns miteinander. Erst wenn meine Großmutter zurückkam und ihre wunderbare Tasche mit einem silbernen Bügel an die Standuhr im Schlafzimmer hängte, verließen wir die Betten. Diese Tasche habe ich nach dem Tod meiner Großmutter bekommen und sie hängt bis heute in jeder meiner Wohnungen neben dem Bild meiner Großmutter. Unvergesslich ist mir auch, dass in der Familie meiner Mutter alle auf dem Hof Beschäftigten nach dem Abendessen die Stühle zurechtrückten, alle fielen auf die Knie und beteten den Rosenkranz. Wir waren zweifellos eine fromme Familie. Meine Mutter brachte, denke ich, aus ihrer Familie die strenge katholische Ausrichtung in die eher biedere und vielleicht auch großzügigere bäuerliche Familie meines Vaters. Sie sprach immer wieder von Schuld, von Sünde und nötiger Sühne. Auch wenn ich oft nicht genau wusste, worin die Schuld bestand, ich fühlte ich mich oft schuldig und tat auf unterschiedliche Weise Buße. Trotz des gleichen Herkunftsmilieus gab es auf dem Hof meiner Eltern erhebliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Nach der damaligen Regel auf den niedersächsischen Höfen war der jeweils jüngste Sohn der rechtmäßige Hoferbe. Mädchen spielten bei dieser Erbfolge keine Rolle, was nicht heißt, dass sie nicht auf dem Hof gebraucht wurden. Der Hoferbe lernte, anders als wir Mädchen, die Welt auch außerhalb des Hofes kennen und erwarb darüber Selbstbewusstsein. Den ›Erbthron‹ hatte zunächst mein zwei Jahre älterer Bruder inne. Er begleitete schon früh meinen Großvater zu Tiermärkten und Verwandten, war bei Tierkäufen und -verkäufen dabei und diskutierte darüber mit meinem Großvater. Mir erschien das selbstverständlich, dennoch habe ich ihn häufig beneidet. Als dann später ein weiterer Sohn geboren wurde, änderte sich die Reihenfolge: Der Erstgeborene kam nach einigen Jahren Mittelschule in ein katholisches Internat und

»Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?«

besuchte ein Gymnasium. Sobald die technischen Voraussetzungen da waren, stieg er um auf die Bahn, machte als Externer Abitur und wurde später Tierarzt. Dagegen verbrachte ich, bevor ich auf meine jüngeren Geschwister aufpassen musste und konnte, viel Zeit mit der bereits oben erwähnten Dina. Ihr Ort war die ›Schweineküche‹. Dort schälte sie Kartoffeln, putzte Gemüse, fütterte die Schweine und, das war für mich besonders wichtig, sprach mit mir über ihre fehlende Ausbildung, darüber, nicht verheiratet zu sein und keine Perspektive zu haben. Auch wenn ich vieles noch nicht verstand, ich erlebte immer wieder ihre große Traurigkeit, wenn sie sich missachtet oder gerügt fühlte oder an dörf lichen Festen nicht teilnehmen konnte. Ich fühlte mich solidarisch mit ihr und konnte sie verstehen, oder glaubte, sie verstehen zu können. Ostern 1948 wurde ich eingeschult. Die Volksschule, die wir Kinder alle zunächst besuchten, lag etwa drei Kilometer vom Hof entfernt, die nächste Realschule, die damals noch Mittelschule hieß, war fünf Kilometer entfernt und leicht mit dem Fahrrad zu erreichen. Nach der vierten Klasse wechselte ich also in die Mittelschule, über andere Möglichkeiten wurde nicht gesprochen. Betrachte ich aus heutiger Sicht meine Zeugnisse, so wird darin sichtbar, wie angepasst ich war. ›Betragen‹ oder später ›Führung‹ und ›Religion‹ waren immer mit ›sehr gut‹ bewertet, weitere Zensuren wie Kunst, Musik oder später Erdkunde, Physik, Chemie befanden sich zumeist im Viererbereich. Ungleichheiten zwischen gleichaltrigen Mädchen nahm ich zunächst im Kontext der katholischen Kirche wahr. Wie gern hätte ich bei einer der Prozessionen einmal eine Fahne oder ein Kissen mit darauf liegenden Reliquien getragen. Dazu erhielt ich keine Chance. War ich nicht fromm genug oder hatte ich andere Fehler? Ich gab mir Mühe, aber der Erfolg stellte sich nicht ein, ich gehörte eben zu den ›Landkindern‹ und nicht zu den ›Dorf kindern‹. Auch die ungleiche Situation von Mädchen und Jungen nahm ich damals zwar wahr, sie erschien mir als selbstverständlich und nicht als Benachteiligung. War ich doch ein Mädchen und damit ›von Natur aus‹ zuständig für meine jüngeren Geschwister, die nach und nach auf die Welt kamen und nach etwa sechs bis acht Monaten für eine gewisse Zeit bei mir im Zimmer schliefen. Eine meiner Aufgaben war, für einen störungsfreien Schlaf meiner Eltern im Zimmer unter meinem Zimmer zu sorgen. Dies galt insbesondere für einen behinderten Bruder, der über Jahre die Nächte mit mir in meinem Zimmer verbrachte. Später konnte

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ich ihn nur ruhig halten, wenn er mit mir in einem abgelegenen Zimmer war und auf das Klavier einhieb, das ich mir mit großen Mühen errungen hatte. Ich hörte auf, Klavier zu spielen. Bei all dieser Kinderbetreuung war mir das Lob meiner Eltern sehr, sehr wichtig. Das neunte und zehnte Schuljahr – 1956 bis zum März 1958 – verbrachte ich im Internat bei den ›Schwestern unserer Lieben Frau‹ in Cloppenburg, einer ›Privaten Realschule für Mädchen‹. Dieser Schulwechsel erfolgte nicht vorrangig, weil meine Eltern eine bessere Bildung für mich wollten. Ihnen, insbesondere meiner Mutter, ging es vielmehr um eine strengere katholische Erziehung. Eine solche Erziehung hielt sie für notwendig, nachdem sie unerlaubt in meinem Tagebuch gelesen hatte und glaubte, vermeintlich ›unkeusche Gedanken‹ aufgefunden zu haben. Mein behinderter Bruder wurde in ein Heim gegeben und starb nach einem halben Jahr.

2. Nach der Schule – Berufsausbildung Ohne Widerspruch besuchte ich nach Abschluss der Mittelschule 1958 mit der ›Mittleren Reife‹ für ein Jahr die Unterklasse einer Landfrauenschule in der Nähe von Paderborn. Danach absolvierte ich ein Jahr als Lehrling auf einem Bauernhof in Nordrhein-Westfalen, ein zweites auf dem elterlichen Hof und beendete die Ausbildung mit der Prüfung als ›Ländliche Hauswirtschaftsgehilfin‹ im März 1961 mit der Gesamtnote ›gut‹. Wie von meinen Eltern vorgesehen – und erneut ohne großen Widerstand meinerseits – arbeitete ich im elterlichen Betrieb, auf dem Feld, im Stall, im Garten und im Haus, kochte und putzte, bewirtete Gäste, betreute und unterstützte meine jüngeren Geschwister, pf legte meine Mutter, die häufig krank war. Mein fehlender Widerstand scheint dafür zu sprechen, dass ich, wie Helge Pross 1969 in ihrem Buch »Über die Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik« auf der Basis einer empirischen Untersuchung schreibt, zu den Mädchen gehörte, die »stärker als Jungen zu einer Ausbildung mit mittlerem Anspruch und geringerer Dauer« neigten (Pross 1969: 13). Offensichtlich war ich »zu öffentlicher Verteidigung ihrer [meiner] Interessen nicht fähig« (Pross 1969)? Und auch wenn die ersten in den 1960er Jahren vorliegenden Untersuchungen aufweisen, dass die Zugehörigkeit zu einer »Mehrheitsreligion« (vgl. Helbig/Schneider 2014: 27) die Chance zu weiterer Bildung erhöht, so

»Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?«

war die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche für mich zwar zweifellos von Bedeutung, den Weg in die ›Höhere Bildung‹ allerdings hat mir die katholische Kirche nicht gezeigt. Von großer Bedeutung jedoch – und da spielte die katholische Kirche schon eine Rolle – waren für mich Anfang der 1960er Jahre auf dem elterlichen Hof die von Oswald von Nell-Breuning für ländliche Gebiete entwickelten ›Sozialen Seminare‹. In diesen Seminaren traf ich 1961 Menschen, die wie ich eine ländlich geprägte Kindheit hatten, diese aber – so schien es mir – anders hatten verarbeiten können. Von und mit diesen Menschen lernte ich politisch und gesellschaftlich relevante Themen kennen. Das Wichtigste war: In diesen Jahren lernte ich, kontrovers zu diskutieren und in diesen Diskussionen sowohl recht zu behalten als auch zu verlieren. Über diese Seminare wurde ich Mitglied der katholischen Landjugend. Ich konnte erstmalig Berlin besuchen, lernte Neues, Unbekanntes kennen und wurde – zu meiner Überraschung – 1963 zur Dekanatsvorsitzenden der katholischen Landjugend gewählt. Allerdings war ich das nur für kurze Zeit, denn im gleichen Jahr 1963 im Herbst fand, wie oben beschrieben, die Silberhochzeit meiner Eltern statt. Gedeckt durch die Autorität meiner Tante durfte ich neu denken. Sie fand heraus, dass ich mit Realschulabschluss und einer Begabtensonderprüfung ein Studium als Volksschullehrerin beginnen konnte. Sie fand eine Studienrätin, die mir Nachhilfeunterricht gab. Aber am Wichtigsten war: Meine Tante und ihr Mann nahmen mich in ihrer Wohnung in Paderborn auf. Ich lebte plötzlich in einer, wenn auch kleinen Stadt, in einer akademisch geprägten Welt mit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur und anderen Umgangsformen. Ich hatte sehr viel zu lernen in dieser neuen Welt, nicht alles war einfach. Diese Zeit war der Beginn meines Weges in die Wissenschaft und mein Anfang als ›Soziale Aufsteigerin in die Wissenschaft‹. Konkret allerdings habe ich damals an einen solchen Aufstieg ohne Abitur noch nicht einmal zu denken gewagt. Meine Eltern – so nehme ich an – waren erstaunt, vielleicht auch entsetzt, vielleicht aber auch erleichtert? Was sie sich für mich gewünscht hatten, eine standesmäßige Heirat, hatte ich ›nicht erreicht‹.

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3. Lehramtsstudium in Paderborn Wenige Wochen nach der Silberhochzeit meiner Eltern zog ich Ende 1963 zu meiner Tante und zu meinem Onkel. Ich half gelegentlich in der Sprechstunde aus und bereitete mich mit Hilfe der Studienrätin, die meine Tante besorgt hatte, auf die Begabtensonderprüfung als Voraussetzung für das Studium ›Lehramt an Volksschulen‹ vor. Bis heute bin ich für die Einrichtung eines solchen Quereinstiegs außerordentlich dankbar und habe auch während meiner Zeit als Lehrerin an der Hauptschule immer nach solchen Möglichkeiten für Schüler*innen gesucht. Zu etwa der gleichen Zeit absolvierte mein älterer Bruder, der ›Enttrohnte‹, ein Studium als Tierarzt, ein Bruder hatte gerade Abitur gemacht und studierte Psychologie in Tübingen. Meine 15 Jahre jüngere Schwester bereitete sich auf das Abitur am Gymnasium in Osnabrück vor und war bereits von zu Hause ausgezogen. Dies insbesondere macht auch Veränderungen auf dem Bauernhof deutlich. Mein jüngster Bruder machte eine landwirtschaftliche Ausbildung, um später den Hof zu übernehmen. Damit waren auch für mich die Anforderungen von Seiten des Hofes geringer geworden. Der Auszug aus dem Elternhaus erfolgte daher ohne große Konf likte mit meinen Eltern. Ohne genau zu wissen, was auf mich zukam, konnte ich ein neues Leben beginnen. Jahrelang allerdings fühlte ich mich verpf lichtet, an den Wochenenden und später in den Semesterferien die Familie auf dem Hof zu unterstützen. Im Frühjahr 1964 fand die Begabtensonderprüfung für den Beginn des Studiums an der Pädagogischen Hochschule Paderborn statt. Ich bestand die Prüfung, war aber sicher, dass dabei meine Tante ›die Hand im Spiel hatte‹. Ich profitierte doppelt: von den veränderten Bedingungen beim Zugang zum Studium und von dem Ansehen des Arztehepaares. Im Sommersemester 1964 begann ich mein Studium als Volksschullehrerin. Zunächst wohnte ich noch bei meiner Tante, versuchte dann aber mich etwas selbstständiger zu machen und suchte mir ein eigenes Zimmer.

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4. Klassenspezifische Diskriminierungserfahrungen Klassenspezifische Diskriminierungen durch Dritte machte ich während meines Studiums nicht. Vermutlich hätte ich sie auch nicht als solche erkannt. Bei der Begabtensonderprüfung, die ich als Voraussetzung für das Studium brauchte, war ich nach meiner Erinnerung allein. Über das fehlende Abitur sprach ich über Jahre nicht, sondern behielt diesen ›Makel‹ lange Zeit für mich. Ich suchte auch nicht nach Studierenden mit dem gleichen Zugang zum Studium. Nach dem Bestehen der Prüfung und in den ersten Semestern des Studiums wusste niemand von meinem fehlenden Abitur. Nicht andere standen mir im Weg, sondern ich mir selbst. Jedes Gespräch über die Frage ›Woher kommst du? Wer bist du?‹ versuchte ich zu vermeiden. Ich kämpfte weniger mit Dritten, als vorrangig mit mir. Jedes nicht verstandene Fremdwort fand – wie auch immer, richtig oder falsch geschrieben – Eingang in meine Unterlagen und wurde – ebenso wie Namen unbekannter Autor*innen – im Duden oder im Lexikon nachgeschlagen. Fragen in den Seminaren stellte ich möglichst nicht, sondern hörte nur genau auf die Fragen anderer. Was durfte gefragt werden, was nicht? Mit meinem Selbstbewusstsein hatte ich in den ersten Semestern schwer zu kämpfen. Eine Zeitlang ging ich insgeheim wieder zu der Studienrätin und bat um Hilfe. Sie vermittelte mir aber vor allem die Einsicht, dass auch andere nicht klüger seien und dass man fragen könne. Dafür war und bin ich ihr dankbar.

5. Das weitere Studium Im zweiten Studienjahr 1966 hatte ich das Glück, während der Semesterferien mit einer Studiengruppe Israel besuchen und für einige Wochen in einem Kibbuz in Israel arbeiten zu können. In der Vorbereitung auf diese Fahrt lernte ich historische Ereignisse und Entwicklungen kennen, die mir bis dahin unbekannt waren. Es war für mich die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Bei der Arbeit im Kibbuz war ich im Vorteil. Ein Großteil unserer Arbeit fand in der Landwirtschaft statt. Davon verstand ich etwas und konnte mitreden. Gesprochen wurde vorrangig Englisch auf niedrigem Sprachniveau oder Deutsch. Ich konnte ein wenig an Selbstbewusstsein gewinnen.

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Ähnliche Erfahrungen machte ich dann auch in den verschiedenen Praktika in der Grundschule. Den Umgang mit Kindern war ich gewohnt, Märchen und Geschichten mochte und kannte ich und vor allem, die Schüler*innen mochten mich und setzten mich nicht unter Druck. Im Frühjahr 1967 bestand ich die ›Erste Staatsprüfung für das Lehramt an der Volksschule‹ an der Pädagogischen Hochschule Paderborn und zwar zu meinem Erstaunen mit ›Auszeichnung‹. Die Examensarbeit hatte ich zum Thema: »Israelische Jugend – ihre Haltung zu Staat und Tradition« geschrieben. Direkt nach dem Staatsexamen gingen mein Mann und ich – unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg – für ein Jahr nach Jerusalem. Ich hatte bereits in Deutschland begonnen, Hebräisch zu lernen und besuchte in Jerusalem einen mehrwöchigen Hebräisch-Sprachkurs. Danach begann ich – aus reinem Interesse – an der Hebräischen Universität in Jerusalem Judaistik zu studieren. Erleichternd war, dass fast alle Lehrenden auch Deutsch oder Englisch sprachen. Für mich war dies eine Zeit, in der ich sehr an Selbstbewusstsein gewann. Niemand fragte nach dem fehlenden Abitur, in vielen Situationen konnte ich mich mit ›leichtem Hebräisch‹ verständigen und weitere Selbstzweifel lösten sich auf. Da mein Mann seine Dissertation über die politische Situation in Israel schreiben wollte, schrieb ich kurz vor unserer Rückkehr nach Deutschland auf Hebräisch an David Ben Gurion. Er antwortete sofort und auf Hebräisch. Das Jahr in Israel endete wenige Tage vor unserer Abreise mit einem privaten Besuch bei Ben Gurion in der Negev-Wüste. Ein ganz besonderer Glücksfall!

6. Erste Erfahrungen als Lehrerin in der Grundschule Schon während des Aufenthalts in Israel suchte ich, da mein Mann in Konstanz studieren und promovieren wollte, in der Nähe von Konstanz eine Stelle als Lehrerin. Im Sommer 1968 erhielt ich meine erste Stelle an einer Grund- und Hauptschule in Singen am Hohentwiel und machte dort meine ersten richtigen Erfahrungen als Lehrerin. Es fiel mir leicht, eine gute Beziehung zu den Schüler*innen aufzubauen, das Kollegium war sehr kooperativ, mit dem Rektor, der, wie ich, zuvor einen anderen Beruf hatte und im Krieg ein Bein verloren hatte, war die Verständigung sehr leicht, wir hatten viele Übereinstimmungen.

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Im gleichen Jahr fand mein Mann eine Stelle an der Gesamthochschule, heute Universität Paderborn. Er ging, ich blieb zunächst in Konstanz zurück, folgte ihm aber Mitte September 1970 hochschwanger nach Paderborn. Das Kind wurde geboren, starb aber kurze Zeit später. Die folgenden Jahre hatten nichts mehr mit Diskriminierungen im Studium oder im Beruf oder mit fehlenden Kompetenzen zu tun. Gemessen an den Ausgangsbedingungen hatte ich in beruf licher Hinsicht viel erreicht. Im Februar 1971 erhielt ich eine Anstellung zum nebenamtlichen Unterricht in Nordrhein-Westfalen an der Hauptschule Elsen. 1972 machte ich die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt an Volksschulen mit einer sehr guten Note. Im Mai 1973 bewarb ich mich am Lehramtsseminar in Paderborn als Fachleiterin für Geschichte und Politik. Ich erhielt die Stelle mit dem wunderbaren Satz: »Ich bestätige Ihre Bewerbung um die Stelle eines Fachleiters für das Lehramt an der Grund- und Hauptschule Paderborn. Ich darf Sie bitten, künftig bei Eingaben den Dienstweg über das für Sie zuständige Schulamt Paderborn einzuhalten.« 1973 wurde ich Fachleiterin für Geschichte und Politik, ein Jahr später übernahm ich als Fachleiterin ein weiteres Fach, ›Sachunterricht II Grundschule‹. Nebenher hatte ich ein Diplomstudium ›Erziehungswissenschaft‹ an der Gesamthochschule Paderborn begonnen, das ich im Dezember 1975 wiederum sehr akzeptabel abschloss. Ich verfolgte damit kein bestimmtes Ziel, vielleicht wollte ich nur einfach das fehlende Abitur überspielen? Zusammen mit Fachleiterkolleg*innen entwickelten wir Grundschullesebücher für die Klassen 1-4. Sie hießen zunächst Bunte Lesefolgen, später Bunte Drucksachen. Und ich arbeitete am Forschungsund Entwicklungszentrum für Objektivierte Lehr- und Lernverfahren (FEOL) ohne zu ahnen, dass ich damit einen weiteren Schritt des ›sozialen Aufstiegs‹ tat. Drei Jahre später, 1978, schrieb die Universität Bielefeld eine Stelle im Hochschuldienst für Pädagogik im Bereich der Lehrer*innenbildung aus. Ich bewarb mich und es schien, als könnte ich in der ›wirklichen‹ akademischen Welt ankommen. Kurz vor dem Bewerbungsvortrag erfuhr ich, dass ich bei einer erfolgreichen Bewerbung meine Verbeamtung hätte aufgeben müssen. Das wollte ich – aus Sicherheitsgründen – nicht. Zugleich aber war ich neugierig. Ich wurde zum Vortrag eingeladen, hielt ihn auch, teilte jedoch direkt danach noch vor der

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Tür dem Kommissionsvorsitzenden mit, dass ich die Stelle leider nicht annehmen könne. Ich hatte mich für die Sicherheit entschieden. Dann allerdings kam das große Glück: Ein halbes Jahr später meldete sich ein Professor, der an der damaligen Veranstaltung teilgenommen hatte. Er bot mir die Stelle einer ›Lehrerin im Hochschuldienst‹ an. Mit diesem Stellenangebot konnte ich die Verbeamtung behalten. Ich nahm an, stieg in das Projekt ›Betriebspraktikum‹ ein und erhielt – dafür bin ich bis heute außerordentlich dankbar – die wunderbare Chance, mit engagierten Wissenschaftler*innen und Lehrer*innen gemeinsam einen Beitrag zur politischen und vorberuf lichen Bildung von Jugendlichen vorrangig aus Haupt- und Realschulen zu leisten. Ich konnte meine Erfahrungen einbringen, schon lang vorhandene Interessen weiterverfolgen und erworbene Kompetenzen einsetzen. Dies war im Jahr 1978 meine dritte Stufe auf der akademischen Aufstiegsleiter. Danach spielte das nicht vorhandene Abitur keine große Rolle mehr, vor allem musste ich jetzt nicht mehr selbst darüber nachdenken. Allerdings: Wollte ich nicht auf der unteren Stufe der Wissenschaftlichkeit stehen bleiben und der Gefahr entgehen, nach einigen Jahren doch die Universität wieder verlassen zu müssen, musste ich promovieren. Dies geschah 1981 durch eine Promotion an der Gesamthochschule Paderborn. An der Universität Bielefeld zu promovieren, traute ich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht zu. Thema der Arbeit war: Soziale Realität der Hauptschüler – Bezugspunkte handlungsorientierten politischen Lernens. Bei einem Besuch meiner Eltern in Paderborn legte ich meinem Vater die Arbeit vor, er warf einen Blick darauf, kommentierte den Titel mit der Bemerkung: »Politik ist von Übel« und schlug die Arbeit zu. Erst später, als er erkrankte und sich zunehmend mit seinen politischen Erfahrungen in Stalingrad beschäftigte, habe ich ihn verstanden. Ich bin mir sicher, dass bis heute niemand aus meiner Familie die Doktorarbeit jemals aufgeschlagen oder sich dafür auch nur ansatzweise interessiert hat. 1988 wurde ich in Bielefeld zur Akademischen Rätin ernannt, etwas später zur Universitätsprofessorin. Das Besondere war, ich konnte aufgrund meiner eigenen Biographie, meiner Schulerfahrungen und den Interessen der Lehramtsstudierenden bei meinen Themen bleiben und sie weiter vertiefen. Die Projekte waren: Schüler*innenbetriebspraktikum, »Wir werden was wir wollen – Schulische Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen« in fünf Bänden – Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes NRW, Anfang

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bis Mitte der 1990er Jahre und 1999 im Rahmen eines Bund-LänderModellversuchs: »Berufsorientierung für Mädchen und Jungen – ein Modellversuch zur Erprobung, Weiterentwicklung und Umsetzung einer arbeitsorientierten und geschlechterbewussten Bildung«, gefördert vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg. Ende 1992 bewarb ich mich etwa gleichzeitig auf eine C3-Professur in Bielefeld und in Göttingen. Beide Bewerbungen waren erfolgreich, ich interessierte mich mehr für die für mich neue Universität Göttingen, nicht zuletzt deshalb, weil dort meine Schwester mit ihren beiden Kindern lebte. 1993 begann ich am Pädagogischen Seminar in Göttingen zu arbeiten. Das erste halbe Jahr war – verständlicherweise – schwierig und von meiner Seite aus wieder einmal mit vielen Zweifeln behaftet. Allerdings konnte ich das in Bielefeld begonnene Projekt des Landes Brandenburg in Göttingen weiterführen. Dann kam mir zu Gute, dass die Evaluation der Lehrer*innenbildung in Göttingen nicht sehr gut ausgefallen war. Vom damaligen Präsidenten wurde ich gefragt: Können Sie das verändern? Meine Antwort: Ja, wenn ich Geld und Personal habe. Beides bekam ich, wenn auch nicht in vollem Umfang. Von 2002 und bis 2007 übernahm ich gemeinsam mit Liselotte Glage, einer Kollegin aus Hannover, die Leitung der Lenkungsgruppe Lehrerbildung im Niedersächsischen Wissenschaftsministerium, für die wir einige Jahre später den Orden des Landes Niedersachsen bekamen. Kurze Zeit später wurde ich in den Hochschulrat der Universität Kassel und in die Baumert-Kommission Bochum berufen. Mit großer Unterstützung der damaligen Göttinger universitären Gleichstellungsbeauftragten und gestärkt durch die intensiven Diskussionen in und außerhalb der Universität über Gleichstellungen von Frauen und Männern wurde ich in den Göttinger Senat gewählt und beteiligte mich intensiv an der Diskussion um die Umwandlung der Universität in eine Stiftung. 2004 wurde ich eine der drei Vizepräsident*innen der neuen Stiftungsuniversität. Wenige Jahre später – als sichtbar wurde, dass die Universität mehr Geld über Fundraising einwerben musste – erfand ich das Stiftungsdinner, dessen Organisation ich auch im Ruhestand noch weiterführte. Für mich wurde die Grenze für den Einstieg in den Ruhestand um zwei Jahre verschoben. Danach übernahm ich noch einige Jahre die kommissarische Leitung des Lichtenbergkollegs der Universität Göttingen, eines mit den Mitteln der Exzellenzinitia-

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tive gegründeten Wissenschaftskollegs und erhielt 2017 den Preis des Stiftungsrats in der Kategorie Fundraising sowie besonderes Engagement für die Stiftungsuniversität Göttingen. Lang, aufregend und spannend – gelegentlich auch überfordernd – war der Weg von der ländlichen Hauswirtschaftsgehilfin zur Universitätsprofessorin. Harte Arbeit war ich von früh auf vom Bauernhof her gewohnt, aber zweifellos hatte ich auch viel, viel Glück. Eines allerdings habe ich auf dem weiten Weg in die Wissenschaft niew verloren: den Zweifel daran, ob ich wirklich eine gute Wissenschaftlerin war oder bin oder vielleicht doch eher eine gute Organisatorin des Wissens anderer?

Die Entdeckung am Sonnentor von Tiahuanaco Martin Lörsch

Auf dem Schoß der Großmutter

Prof. Dr. Martin Lörsch wurde 1951 in Koblenz-Niederberg als ältestes von insgesamt fünf Kindern geboren. Sein Vater, Hermann Lörsch (1922-2010), war Landwirtschaftsmeister, seine Mutter, Magdalene Lörsch (geboren 1924), geborene Mathey aus Ockenfels bei Linz/Rhein, Bäuerin und Hausfrau. Sein Bruder Albert (geboren 1953) arbeitet als Maschinenschlosser, Maschinenbauingenieur, Entwicklungshelfer, Wirtschaftsingenieur, Unternehmensberater und Landwirt (nebenberuf lich), seine Schwester Lydia (geboren 1956) als Krankenschwester, Ethikberaterin im Gesundheitswesen und Hausleitung des Lorenz-Werthmann-Hauses der Caritas Duderstadt. Die jüngste Schwester

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Hildegard (geboren 1957) ist Gemeindereferentin, der jüngste Bruder Werner (geboren 1960) Großhandelskaufmann. Lörsch ist Professor für Pastoraltheologie an der Theologische Fakultät Trier, die seit 1970 durch einen Kooperationsvertrag zwischen der Diözese Trier und dem Land Rheinland-Pfalz mit der Universität Trier verbunden ist. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Kirchen- und Gemeindeentwicklung in der Trias von Leitbild-, Organisationsund Personalentwicklung, lebens- und sozialraumorientierte Seelsorge, Kirche in der Einen Welt und interkulturelle Pastoral, Kooperation, Partizipation und Synodalität in der katholischen Kirche. Eine zentrale Schlüsselerfahrung in meinem Leben verdanke ich einer Exkursion nach Tiahuanaco in der Nähe des Titicacasees in Bolivien. Damals war ich Diözesanjugendpfarrer des Bistums Trier und federführend verantwortlich für die Bolivienpartnerschaft im Bereich der Jugendpastoral. Im Sommer 1993 habe ich Bolivien im Rahmen einer Begegnungs- und Dienstreise bereist. In diesem Rahmen fuhren wir von La Paz aus mit einer Kleingruppe zu Pastoral- und Sozial-Projekten in der Trabantenstadt El Alto sowie in einer ländlichen Region in der Nähe des Titicacasees auf 4.000 Meter Höhe. Von dort gab es einen Abstecher zur Ruinenstätte Tiahuanaco, errichtet in der Zeit der Prä-Inka-Kulturen (von 1.500 v. Chr. bis 1.200 n. Chr.). Bei der Besichtigung kamen wir schließlich zum berühmten Sonnentor. Padre Hugo, der uns als sachkundiger Reiseführer begleitete, erläuterte das Tor mit den rätselhaften Motiven der Reliefs. Es stellt vermutlich einen Bauernkalender dar mit dem Zyklus zwischen Aussaat, Wachstum und Ernte. Beim Betrachten der Motive und Hören der Ausführungen des Experten kam mir der Gedanke: Wie unser Padre einen Brückenschlag zwischen unserem Partnerland Bolivien und einer uralten Kultur dieser Region versucht, so ähnlich ging es mir während der gymnasialen Schulzeit in Koblenz. Damals hatte ich mich zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen zu bewegen und diese in meiner Person zusammenzufügen. Gefordert war ein ständiger Brückenschlag zwischen dem kleinbäuerlichen Familienbetrieb auf der rechten Rheinseite der Stadt und dem Görres-Gymnasium in der Innenstadt von Koblenz. Schlagartig wurde mir bewusst, weshalb für mich diese Lebensphase mit dem ständigen Pendeln zwischen zwei Kulturen so fordernd und anstrengend gewesen war. Heute kann ich mein ›Aha-Erlebnis‹ aus Bolivien mit der Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu über die Grundhaltung von Menschen zur Welt und zu sich selbst (vgl. Bourdieu 1984) in Beziehung setzen.

Die Entdeckung am Sonnentor von Tiahuanaco

Mit entsprechendem Abstand zum eigenen Kulturkreis und in der Mitte meines Lebens angekommen, erkannte ich an diesem Ort, warum das Umschalten zwischen den zwei unterschiedlichen Welten in meiner Jugendphase für mich außerordentlich anstrengend war und warum mir die Adoleszenzkrise als belastend in Erinnerung geblieben ist.

1. Meine Lebensgeschichte im Überblick Geboren bin ich im Herbst 1951 auf einem kleinen Bauernhof in Koblenz-Niederberg. Meine Eltern Hermann Josef und Magdalene hatten ein Jahr zuvor geheiratet, dann verstarb wenige Wochen später meine Großmutter Josefine. Als integrierende Mitte hinterließ sie nicht nur eine schmerzliche Lücke in der Familie, sondern stürzte meinen Großvater Hermann in eine tiefe Trauer. In beengten Wohn- und Arbeitsverhältnissen und unmittelbar neben einer vielbefahrenen und gefährlichen Bundesstraße wuchs ich dort auf. Nach mir erblickten drei weitere Geschwister auf dem alten Hof das Licht der Welt. Mein Vater war erst im Frühsommer 1949 aus der Gefangenschaft in Russland heimgekehrt und trat in den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb unseres Großvaters mit der Perspektive der Hofnachfolge ein. Die Mutter drängte darauf, einen neuen Hof am Rande unseres Stadtteils zu errichten. Diese Chance eröffnete sich wenig später durch den Grünen Plan, ein Förderprogramm für das Aussiedeln und Vergrößern von Bauernhöfen an die Peripherie von Orten oder aufs Land. Um die Voraussetzungen für eine staatliche Förderung zu erfüllen, absolvierte der Vater eine berufsbegleitende Ausbildung, die er 1956 mit dem Landwirtschaftsmeister abschloss. Im Dezember 1957 startete das Bauvorhaben, »der erste bäuerliche Aussiedler des Kreises Koblenz« – wie man damals in der Lokalzeitung lesen konnte. Dieses Projekt verfolgte ich mit Begeisterung, und ich wirkte an seiner Realisierung mit kindlichem Eifer und im Rahmen meiner Möglichkeiten mit. Nach den Osterferien 1958 wurde ich in die Volksschule Niederberg eingeschult. Im Sommer konnte unsere Familie gemeinsam mit dem Großvater das neue Zuhause beziehen. Mit dem Umzug begann für uns die Epoche der mechanisierten Landwirtschaft, denn nach dem plötzlichen Tod eines unserer beiden Pferde wurde der erste Traktor angeschafft. Mit gut acht Jahren (1960) feierte ich meine Erstkommunion, im selben Jahr wurde mein jüngster Bruder geboren. Die Volksschulzeit verlief unter

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heute undenkbaren Rahmenbedingungen: Uns standen drei Klassenräume zur Verfügung – jeweils einen für die Klassen 1 und 2, 3 und 4 sowie einen für alle Oberstufen-Klassen 5 bis 8 zusammen. Die ersten vier Schuljahre habe ich insgesamt nicht in guter Erinnerung. Das begann schon mit der Einschulung. Der erste Schultag löste bei mir solche Ängste aus, dass meine Mutter mich unter den kritischen Blicken des Lehrers und der Mitschüler*innen bis in den Klassenraum hinein begleiten und neben mir Platz nehmen musste. Der Sprachwechsel vom Dialekt der Bauernwelt ins Hochdeutsch gestaltete sich mühsam. Immer wieder wurde ich unter dem Gelächter der Klasse korrigiert, wenn ich in der Wortwahl mal wieder daneben lag. In den ersten vier Klassen bewegten sich die Zeugnisnoten auf einem schwach durchschnittlichen Niveau. An einen Wechsel aufs Gymnasium war daher nicht zu denken. Doch mit Beginn des fünften Schuljahres kam es zu einer überraschenden Leistungssteigerung. Sie verdanke ich vor allem der Aufmerksamkeit des Schulleiters, der die oberen vier Klassenstufen der Volksschule in einem Raum gemeinsam unterrichtete. Die Qualität dieses Lehrers und das ›Bildungs-Reizklima‹ des Klassenraumes haben sich für mich als inspirierend erwiesen und in mir zuvor verschlossene Begabungen gefördert. Aufgrund dieses Motivations-, Entwicklungsund Leistungsschubs empfahlen Schulleiter und Pfarrer meiner Heimatgemeinde, der auch als Religionslehrer an der Schule tätig war, den Wechsel aufs Gymnasium. Es war bereits Februar 1963, wenige Wochen vor dem Ende des Schuljahres, als mit dieser Intervention die Weichen für meinen weiteren Lebensweg gestellt wurden. Dabei erwies es sich als eine gute Fügung, dass soeben das Schulgeld für weiterführende Schulen abgeschafft und am humanistischen Görres-Gymnasium noch ein Schulplatz frei war. Nach den Osterferien 1963 begann für mich die Gymnasialzeit als zweite Ausbildungsphase. Für die Zukunft unserer Familie wie auch des kreditfinanzierten Aussiedlerhofes hatte die Bereitschaft der Eltern, mir diesen Bildungsweg zu eröffnen, weitreichende Folgen: Als Ältester war ich zunächst für die Hofnachfolge prädestiniert. Mit dem Ja zu meinem Wechsel aufs Gymnasium stellten die Eltern ihre persönlichen Interessen zur Absicherung ihres Lebenswerks und zur Zukunft unserer Landwirtschaft zurück. Und eine zweite Weichenstellung erfolgte damals: Gegenüber den eher patriarchalen Vorstellungen des Vaters setzte sich meine Mutter dafür ein, die mir eröffneten Bildungschancen nicht nur meinen Brüdern, sondern auch den beiden jüngeren Schwestern zu ermöglichen.

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Im Rückblick habe ich die Gymnasialzeit als eine oft belastende Zeit in Erinnerung. Als Kind einer eher ärmlichen Familie traf ich auf Gleichaltrige aus großbürgerlichen Familien und aus vermögendem Hause. Nicht wenige Klassenkameraden hatten Eltern in akademischen Berufen. Diese hatten für ihr Kind bewusst dieses Gymnasium gewählt, es zuvor vielleicht selbst besucht. An teure Markenkleidung war bei uns nicht zu denken, ich trug die Second-Hand-Hemden meiner Cousins auf. Und als am Ende der Oberstufe die Abschlussfahrt unserer Klasse nach Paris führte, musste ich zuhause bleiben. Seit dem Besuch in Bolivien ist mir klar geworden, warum die Gymnasialzeit von so viel Unlust geprägt war und sie für mich im Gegensatz zum späteren Studium so belastend war. Gegenüber der Mehrzahl meiner Mitschüler*innen hatte ich die Aufgaben zu erfüllen, täglich zwischen zwei Lebenswelten zu pendeln: zwischen Aussiedlerhof und City, Mitarbeit im Bauernbetrieb und Lernen für die Schule, Hausaufgaben und Hofarbeit. Dieses Changieren stellte mich immer wieder, vor allem in Ernte- und Notzeiten, vor stressige Entscheidungen. Die hier beschriebene Belastungssituation wurde verstärkt durch ein ständiges Abgleichen zwischen den Ansprüchen an mich selbst und den seitens der Familie vermuteten Erwartungen an mich als Ältesten in der Geschwisterfolge. Spaß erlebte ich vor allem durch die Mitgliedschaft und das Engagement in der verbandlichen Jugendarbeit der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG) wie auch in der Ministrantenarbeit meiner Heimatgemeinde. In den beiden Handlungsfeldern konnte ich weitere Begabungen ausprobieren, was nachhaltig Einf luss auf den weiteren Lebensweg genommen hat. Für meine Biographie nicht unbedeutend – vor allem auch in Bezug auf meine Studien- und Berufswahl – war auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), das während meiner Jugendphase in Rom stattgefunden hat und bis heute als das Weltereignis der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts gilt. Eröffnet wurde es im Oktober 1962 – unmittelbar vor meinem Schulwechsel auf das Gymnasium. Für die Erschließung seiner Bedeutung kam Dr. Kurt Esser, Religionslehrer und Schulpfarrer an unserem Gymnasium, eine herausragende Rolle zu. Er verstand es, uns die theologischen Ansätze des Konzils, seine Welt- und Kirchensicht zu erschließen und uns mit dem Perspektivwechsel »von der West- zur Weltkirche« vertraut zu machen. Als eine Frucht des Konzils ist die bis heute bestehende Partnerschaft des Bistums Trier mit der Kirche Boliviens entstanden.

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Eine kritische Phase für unseren Bauernhof löste der Tod des Großvaters im Sommer 1969 aus, der nach langer Krankheit im Kreise unserer Familie verstorben war. Denn die Eltern mussten die mit dem Großvater vereinbarten Finanzmittel an die Geschwister meines Vaters auszahlen. Dieser finanzielle Aderlass erwies sich als eine existenzgefährdende Belastung für unseren Bauernhof als Lebens- und Produktionsgemeinschaft. Bis heute kann ich mich an die gedrückte Atmosphäre in unserer Familie erinnern. Gerade zur rechten Zeit konnte die Mutter ein Grundstück aus dem Nachlass ihrer Eltern veräußern. Mit der Summe hat sie den entscheidenden Beitrag zur Abwehr der Überschuldung des Bauernhofes geleistet. Als bei mir in der Oberstufe die Frage der Studienwahl immer näher rückte, habe ich zwei Studien- und Berufsperspektiven in die engere Wahl genommen: Physik oder katholische Theologie. Beide Fächer hatten mich vor allem in der Oberstufe begeistert, nicht zuletzt aufgrund der Erschließung des Stoffes durch die entsprechenden Fachlehrer. Nach der Teilnahme an einem Schnupperwochenende an der Theologischen Fakultät Trier entschied ich mich dann für das Studium katholische Theologie mit der Berufsperspektive Seelsorge und Gemeindepastoral. So schrieb ich mich für das Wintersemester 1971/72 in Trier ein und meldete mich im Bischöf lichen Priesterseminar Trier an. Den Studierenden, mit denen ich damals das Theologiestudium begonnen habe, verdanke ich spannende Diskussionen zu aktuellen Themen in Theologie und Kirche. Zu vielen von ihnen bestehen bis heute verlässliche Beziehungen mit regelmäßigen Treffen. Nach den ersten vier Semestern wechselte ich für ein Jahr ins ›Außenstudium‹ an die Uni in Innsbruck und anschließend für ein weiteres Semester nach Würzburg. Vor allem diese Station hat meinen theologischen Horizont wesentlich geweitet und im Rückblick die Weichen für meine spätere wissenschaftliche Lauf bahn gestellt (vgl. Klostermann/ Zerfaß 1974). Im Sommersemester 1975 kehrte ich zur Fortsetzung des Studiums nach Trier zurück, wohnte zunächst aber in einem kleinen Apartment am Rande der Stadt, bevor ich für das letzte Studienjahr wieder ins Priesterseminar zurückkehrte. Nach dem Diplomabschluss und dem Pastoralkurs als praktisch-theologische Ausbildungsphase war ich zunächst Diakon in der Pfarrei Trier St. Paulin. Am 04. Februar 1979 hat mich Bischof Bernhard Stein im Trierer Dom zum Priester geweiht und anschließend für drei Jahre zum Kaplan der Brennpunktpfarrei Saarbrücken St. Johann bestellt. Es schlossen sich dann zwölf Jahre Tätigkeit als Jugendpfarrer auf regionaler und diözesaner Ebene

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an. Am Ende dieser Berufsphase ermöglichte mir Bischof Hermann-Josef Spital ein pastoralpsychologisches Auf baustudium in Frankfurt (vgl. Frielingsdorf 2008) mit dem Schwerpunkt kirchliche Organisationsund Gemeindeentwicklung. Mit der erworbenen Qualifikation wurde ich 1996 zum Pfarrer in einem Pilotprojekt in Bad Kreuznach mit halber Stelle und mit der anderen Hälfte zum Referatsleiter für Pastorale Planung im Bischöf lichen Generalvikariat Trier ernannt. Ermutigt durch den erfolgreichen Abschluss des Lizentiats absolvierte ich in dieser Zeit ein berufsbegleitendes Promotionsstudium in Wien und schloss dieses in 2001 mit der praktisch-theologischen Studie »Kirchen-Bildung« ab. Bischof Reinhard Marx berief mich 2004 wieder nach Trier und beauftragte mich mit der Projektleitung »Gemeindeentwicklung und Strukturreform 2020 der Territorialseelsorge«. Bevor Marx nach München wechselte, ernannte er mich zum Abteilungsleiter in der neuen Organisationsstruktur des Bischöf lichen Generalvikariats, um das Projekt 2020 in die Regelstruktur der Bischöf lichen Verwaltung zu überführen. Ermutigt durch gute Freunde bewarb ich mich zu Beginn des Jahres 2010 für die Professur der Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier und durchlief das reguläre Bewerbungsverfahren, das in die Berufung durch die Fakultätskonferenz und die Ernennung durch Bischof Ackermann als Magnus Cancellarius einmündete. Die Vorbereitung auf meinen Start im Wintersemester war durch die schwere Erkrankung und den Tod meines Vaters überschattet. Auf die Stunde genau einen Tag nach seiner Beerdigung hatte ich meine erste Vorlesung zu halten. Wie erging es mir als Professor angesichts einer für die wissenschaftliche Community untypischen Karriere und einem relativ späten Berufseinstieg als Professor? Vor allem die Anfangsphase bleibt wiederum als anstrengend in meiner Erinnerung haften: Tastend betrat ich den neuen Arbeits- und Lebensraum. Bei Pannen im Alltagsbetrieb oder, wenn ich in einer theologischen Fachdiskussion kritisch angefragt wurde, geriet mein Selbstbewusstsein immer wieder aus dem Gleichgewicht. Ob seitens des Kollegiums bewusst intendiert oder subjektiv empfunden, wurde mir immer wieder vor Augen geführt, in welchen Themenfeldern ich nicht auf dem aktuellen Stand des theologischen Diskurses war und wo bei mir Wissenslücken lagen. Diese persönlich empfundenen Defizite habe ich mit Leistungsbereitschaft, Mitarbeit in den Gremien der Fakultät sowie der Pf lege einer kollegialen Kommunikation zu kompensieren versucht.

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2. Biographische Tiefenbohrung zum sozialen Aufstieg Mit Rückgriff auf die eigene Biographie will ich drei für mich zentrale Aspekte des sozialen Aufstiegs in die Wissenschaft systematisch bedenken.

2.1 Im Auftrag unerfüllter Sehnsucht der Eltern und Großeltern Als Motivationsquelle für den sozialen Aufstieg sind die Biographien der Eltern- und Großeltern-Generation beider Familien von erstrangiger Bedeutung. Vor allem die in den Herkunftsfamilien tradierten und schon in der Kindheit gehörten und gelernten Narrative sind dazu in den Blick zu nehmen: Welche Lebensträume und Berufswünsche konnten die Großeltern und die Eltern in ihrem Jugendalter realisieren, und welche sind ihnen verwehrt geblieben? Welche Sehnsuchtsbilder haben sie möglicherweise ihren Kindern und Enkelkindern als einen Mix von »Mitgift und Gift« (vgl. Stenger 2000) vererbt? Diese Fragen kann ich mit Beispielen aus meiner Familiengeschichte beantworten und illustrieren. Unser Großvater in der väterlichen Linie hat immer wieder darüber geklagt, dass sein Vater ihm die Möglichkeit zum Besuch eines Gymnasiums verwehrt hatte. Dabei war sein Patenonkel, dessen Ehe kinderlos geblieben war, bereit, für ihn das Schulgeld zu übernehmen. Doch der Urgroßvater hatte seinen Sohn für die Landwirtschaft vorgesehen, und aus dieser Entscheidung gab es für ihn kein Entrinnen. Großvaters Traumberuf als Lehrer blieb unerfüllt. Im Ergebnis nicht viel anders erging es seinem Sohn, unserem Vater: Hier war es der Zweite Weltkrieg, der seine Lebens- und Aufstiegspläne durchkreuzt hat. Nach seiner landwirtschaftlichen Lehre wurde er im Jahr 1940 zum Militär einberufen. Mit gerade 18 Jahren hat er am Russlandfeldzug teilgenommen und kehrte 1949 aus russischer Gefangenschaft zurück. Nach der Rückkehr blieb ihm keine andere Wahl, als den elterlichen Hof zu übernehmen. Damals akzeptierte unser Vater sein Schicksal aus Pf lichtbewusstsein, nicht aus Begeisterung für den Beruf des Landwirts. Persönliche Erfüllung und soziale Anerkennung fand er im ehrenamtlichen Engagement: als Schöffe im Jugendgericht, Vorsitzender von Kirchenchor und Pfarrgemeinderat, Delegierter in den Genossenschaften. Eine besondere Bedeutung hatte für ihn der St. Martins-Umzug. Über Jahrzehnte hinweg ist er in unserem Stadtteil in die Rolle des St. Martin geschlüpft, führte die Lichter- und Laternen-

Die Entdeckung am Sonnentor von Tiahuanaco

prozession an und beschenkte am Ende die Kinder und die Bewohner des benachbarten Kinderheimes mit Bretzeln. Auch in der Familiengeschichte unserer Mutter konnten die vorhandenen Potenziale für eine kompetenzorientierte Berufskarriere nicht ausgeschöpft werden. Die Großmutter war ausgebildete Krankenschwester, hatte ihren Beruf aber mit der Familiengründung aufgegeben. Meine Mutter konnte als Jugendliche im Krankenhaus Linz/ Rhein eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin absolvieren und mehrere Praktika anschließen, die sie in große Landwirtschafts- und Winzer-Betriebe bis nach Ostpreußen und an die Nahe führt. Aus heutiger Sicht hätte sie das Potenzial für den Besuch eines Gymnasiums und ein Studium gehabt. Die Zeitumstände des Dritten Reiches und die knappen finanziellen Mittel ihrer Familie während des Krieges und in der Nachkriegszeit schlossen die Realisierung solcher Zukunftsträume aus. Sie entschied sich für Ehe und Familie, d.h. für unseren Vater und den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb am Stadtrand von Koblenz. Auch sie füllte die Landwirtschaft nicht gänzlich aus. Großen Wert hat die Mutter auf gute Bildung gelegt. Sie hat viel gelesen (mit zunehmendem Alter auch anspruchsvolle theologische Literatur, um darüber anschließend mit ihren Kindern – und später auch den Enkelkindern – zu diskutieren). Zudem hat sie ihre äußerst knapp bemessene Freizeit ins Musizieren und Singen investiert. Die Liebe zum Chorgesang hat sie mit unserem Vater geteilt, beiden verdanken wir Kinder sowie ihre Enkelkinder die Liebe zur Musik.

2.2 Den Todesschatten des Dritten Reiches mit der Botschaft des Friedens bekämpfen Über meinem Lebensbeginn am 09. November 1951 liegt der Schatten des Todes meiner viel zu früh verstorbenen Großmutter. Aber auch das unbewältigte Erbe des Dritten Reiches prägte Kindheit und Jugendalter. Die Spuren des Bombardements von Koblenz im Zweiten Weltkrieg haben sich tief eingeprägt, auch in den Jahren meiner Gymnasialzeit in den 1960er Jahren waren sie nicht zu übersehen. Vermutlich hatte es unsere Familie leichter, sich mit dieser dunklen Zeit auseinanderzusetzen und offen über diese Epoche zu sprechen. Beide Herkunftsfamilien hatten der Hitler-Ideologie kritisch gegenübergestanden, in beiden lässt sich der Widerstand in Haltung und Praxis nachweisen. Starken Eindruck hat auf meinen Lebenslauf das

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geistliche Testament von Onkel Klaus, dem zwei Jahre älteren Bruders meines Vaters, genommen. Als Jugendlicher war er bereits der Gestapo in die Hände gefallen und wegen unerlaubter kirchlicher Jugendarbeit verhaftet worden. Als Soldat erkrankte er unheilbar an Tuberkulose. Im Angesicht des bevorstehenden Todes verabschiedete er sich von seiner Familie und entlarvte dabei schonungslos die Ideologie des Nationalsozialismus. In seinem Abschiedsbrief an die Eltern und Geschwister legt er ein starkes Zeugnis seines christlichen Glaubens ab und entfaltet seine Hoffnung auf einen Neuanfang für Deutschland nach dem Ende des Nazi-Terrors. Dieses Dokument nimmt in Bezug auf meine Berufswahl einen nicht zu unterschätzenden Platz ein. Als Zweiten möchte ich Onkel Johann Gerhards nennen, der Cousin unserer Großmutter in der väterlichen Linie. Über ihn wurde in meiner Kindheit mit großem Respekt gesprochen. Nach einer Bäckerlehre und dem Militäreinsatz im Ersten Weltkrieg hatte er sich für den Pallottinerorden entschieden und war 1917 zum Priester geweiht worden. Im November 1943 wurde er von der Gestapo wegen »Defätismus und staatsfeindlicher Hetze« in seinen Predigten verhaftet. Sein Leidensweg führte ihn vom Stasi-Gefängnis in Frankfurt über das Sonderlager Hinzert/Hermeskeil ins Konzentrationslager Dachau, wo er bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs interniert war. Ihn habe ich noch persönlich kennengelernt, denn er starb im Jahr 1965. Des Weiteren möchte ich die Großmutter der mütterlichen Linie erwähnen. Sie hat sich immer wieder furchtlos der Nazi-Ideologie widersetzt und sich nicht den Mund verbieten lassen. Mehr als einmal wurde sie mit dem drohenden Hinweis auf eine Einweisung in das Konzentrationslager Dachau verwarnt. Nicht zuletzt ist mein Geburtsdatum, der 9. November 1951, bedeutsam. Seit meiner Jugendzeit habe ich unter diesem Datum gelitten und es als einen dunklen Schatten wahrgenommen. Vielleicht liegt eine zweite Motivationsquelle für den sozialen Aufstieg darin, im Auftrag meiner Familie den Schatten des Dritten Reiches mit seinen Spätfolgen zu bekämpfen und eigene Akzente gegen Unrecht und Gewalt zu setzen. Vielleicht lässt sich der Lebensweg auch als Versuch interpretieren, dieser Epoche nicht auszuweichen, sondern sich aktiv für Gerechtigkeit und Frieden in der Einen Welt zu engagieren. Aus heutiger Sicht interpretiere ich in dieser Linie meine Motivation für die Eine-Welt- sowie die Friedens- und Versöhnungsarbeit. Vielleicht liegt darin auch meine Leidenschaft für das geeinte Europa begründet. Es ist die Hoffnung, dass diesem Erdteil nach einem halben

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Jahrhundert blutiger Kriege eine gemeinsame Ordnung in Freiheit und Frieden geschenkt ist, die sich auch angesichts der Verwerfungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts als stabil, dauerhaft und fest erweist.

2.3 Fördern und Herausfordern durch Beziehungsnetze und Unterstützungssysteme Neben oder auch an Stelle der Herkunftsfamilie begünstigt in der Regel eine glückliche Kombination von motivierenden Personen und förderlichen Rahmenbedingungen den sozialen Aufstieg. Dennoch bleibt es ein mühsamer Suchprozess, der längst nicht immer gut ausgeht und als Ertrag dieses Weges in eine wissenschaftliche Karriere einmündet. Das gilt auch für meine eigene Biographie. Wie vielen Menschen verdanke ich ermutigende Zeichen, Worte und wichtige Hinweise an Weggabelungen. Vor allem das ›personale Angebot‹ in der Jugendverbandsarbeit erfuhr ich als Einladung zur Entfaltung meiner eigenen Identität und als Aufforderung, in der Auseinandersetzung (zwischen Imitation und Abgrenzung) mit ihnen mein eigenes Selbst zu finden. Unverzichtbar für den sozialen Aufstieg sind aber auch günstige Rahmenbedingungen wie bei mir die Abschaffung des Schulgeldes für weiterführende Schulen im Jahr 1963.

3. »Unterschiede, die einen Unterschied machen« (Gregory Bateson) Was war ausschlaggebend für meinen Eintritt in eine wissenschaftliche Karriere als Praktischer Theologe? Stand die erhoffte Chance eines sozialen Aufstiegs im Vordergrund, den ich mit Ausdauer und Fleiß angestrebt habe? War es die soziale Anerkennung, die der Geistliche und der Seelsorger damals noch in der Familie und im sozialen Umfeld genossen? War es eine als geistliche Berufung kaschierte Aufstiegsoption? Stand die Verheißung von Sinnerfahrung im Vordergrund (Jürgens 2019) oder war es die in der Pubertät geweckte Faszination, das weltkirchliche Reformvorhaben des Zweiten Vatikanischen Konzils in Gesellschaft und Kirche zu implementieren? Vermutlich lässt sich jede dieser Fragen mit ja beantworten. Diese und wahrscheinlich noch weitere Motive (vgl. Baumann u.a. 2017) werden dazu beigetragen haben, mit der Wahl der Theologie einen Weg des sozialen Aufstiegs einzu-

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schlagen, der erst nach Jahrzehnten in der Professur eingemündet ist. Rückblickend erweist sich das Motto »Unterschiede, die einen Unterschied machen« als hilfreiche Interpretationsfolie für die eigene Lebensgeschichte. Es bestätigt das ›Aha-Erlebnis‹ am Sonnentor von Tiahuanaco in Bolivien. Als Jugendlicher habe ich das Pendeln zwischen Landwirtschaft und Gymnasium, Bauernhof und bürgerlicher Gesellschaft usw. als Belastung interpretiert und diejenigen beneidet, denen diese Spannungen nicht zugemutet worden waren. Heute kann ich diese Lebensphase als eine Lehrzeit würdigen, die mir eine über Jahrzehnte gereifte Kompetenz zum vielfältigen Brückenbauen zwischen unterschiedlichen Welten erschlossen hat. Nicht auszuschließen, dass diese Lebenserfahrung auch meine Entscheidung für die Praktische Theologie beeinf lusst hat. Denn die praktisch-theologische Fächergruppe ist von ihrem Selbstverständnis grundlegend herausgefordert, mit Differenzen zu operieren, »die einen Unterschied machen«, d.h. in dialektischen Suchprozessen neue Erkenntnisse zu generieren: zwischen gesellschaftlicher bzw. kirchlicher Praxis auf der einen und Theologie als Theorie auf der anderen Seite, zwischen Theologie und Empirie, personaler und organisationaler Logik, Seelsorge und Psychologie usw. Jüngst konnte ich in der Heimatgemeinde mein 40. Priesterjubiläum feiern. In Erinnerung an meine Primiz (der erste eigene Gottesdienst nach der Priesterweihe) bin ich wieder nach Hause zurückgekehrt. Neben der Familie, den Verwandten und den Mitgliedern meiner ehemaligen Volksschulklasse waren auch die Gruppierungen, Vereine und Verbände der Zivil- und Kirchengemeinde meiner Einladung gefolgt. Die gelungene Begegnung interpretiere ich so, dass mein sozialer Aufstieg in die wissenschaftliche Theologie und in die hauptberuf liche Seelsorge offensichtlich keine derartige Ungleichheit produziert hat, dass der Kontakt zum Herkunftsort und zu meiner ehemaligen Lebenswelt beschädigt oder gar zerstört worden wäre. Das Jubiläum war für mich vielmehr Ausdruck einer grenzüberwindenden Beziehungskultur und ein Brückenschlag im Horizont des biographischen Wandels.

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Literatur Baumann, Klaus/Büssing, Arndt/Frick, Eckard/Jacobs, Christoph/ Weig, Wolfgang (2017): Zwischen Spirit und Stress. Die Seelsorgenden in den deutschen Diözesen, Würzburg: Echter. Bourdieu, Pierre (1984): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (3. Auf l.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frielingsdorf, Karl (2008): Vom Überleben zum Leben: Wege zur Identitäts- und Glaubensfindung, Ostfildern: Grünewald. Jürgens, Benedikt (2019): »Von der Aufstiegs- zur Sinnoption. Perspektiven für den Beruf des Priesters«, in: Lebendige Seelsorge 70, Würzburg: Echter, S. 61-67. Klostermann, Ferdinand/Zerfaß, Rolf (Hg.) (1974): Praktische Theologie heute, München/Mainz: Kaiser/Grünewald. Lörsch, Martin (1999): Systemische Gemeindeentwicklung. Ein Beitrag zur Erneuerung der Gemeinde im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, Frankfurt a.M.: Peter Lang. Lörsch, Martin (2005): Kirchen-Bildung. Eine praktisch-theologische Studie zur kirchlichen Organisationsentwicklung, Würzburg: Echter. Pesch, Otto Hermann (1994): Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte-Verlauf-Ergebnisse-Nachgeschichte (2. Auf l.), Würzburg: Echter. Stenger, Hermann (2000): Im Zeichen des Hirten und des Lammes. Mitgift und Gift biblischer Bilder, Innsbruck/Wien: Tyrolia. Tück, Jan-Heiner (Hg.) (2012): Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i.Br.: Herder.

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Rainer Müller wurde 1941 in Hagen in Westfalen geboren. Sein Vater arbeitete als Verwaltungsangestellter, seine Mutter als Hausfrau. Müller hat zwei Brüder; der Ältere, geb. 1940, wurde Kaufmännischer Angestellter, der jüngere Bruder, geb. 1954, Arzt. Seine Schwester, die 1947 zur Welt kam, war Bankkauffrau. Müller ist seit 1969 verheiratet und hat zwei Kinder: Seine Tochter, geb. * Während der Arbeit an diesem Buch mussten wir leider erfahren, dass Rainer Müller im Oktober 2019 nach schwerer Krankheit verstorben ist. Der vorliegende Beitrag wurde von ihm kurz zuvor noch autorisiert.

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1970, PhD, ist verheiratet und hat drei Töchter. Sein Sohn, Rainer Müller geb. 1972, ist Professor, ebenfalls verheiratet und hat einen Sohn und zwei Töchter. Rainer Müller war von 1976 bis 2007 Professor für Arbeits-/Sozialmedizin an der Universität Bremen mit den Themenschwerpunkten: Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren und Erkrankungen, Arbeitsschutz, betriebliche Prävention, Gesundheitsförderung, betriebliche Gesundheitspolitik, Geschichte der Arbeitsmedizin, Professionalisierung von Betriebsärzten, Gesundheitspolitik und Public Health. Über meine »Herkunft und damit verbundene Erfahrungen aus heutiger Sicht als Professor zu schreiben«, ist für mich zunächst eine nicht geübte Praxis. Im Rahmen meiner Familie habe ich über einige Episoden hin und wieder erzählt. Für eine wissenschaftliche Publikation sind meine nachfolgenden autobiographischen Notizen jedoch eine neue Übung. Vielleicht aber lässt sich meine Mitwirkung am DFG Sonderforschungsbereich 186 »Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf. Institutionelle Steuerung und individuelle Handlungsstrategien« (Universität Bremen 2002) als Impuls nutzen, mich mit meinem Lebenslauf und meiner beruf lichen Karriere auseinanderzusetzen.

1. Ein ›Familienhaus‹ nahe der Ruhrwiesen Geboren wurde ich am 19.12.1941 in Hagen-Bathey. Meine Eltern wohnten mit meinem älteren Bruder (geb. 1940) und mir in zwei Zimmern im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Dieses Haus war ein ›Familienhaus‹; es gehörte dem verwitweten Großvater väterlicherseits. Außer uns wohnten dort noch zwei der drei Brüder meines Vaters mit ihren Familien mit jeweils zwei Kindern. Der Krieg als Risikolage war stets präsent. Ich habe die Bombennächte mit Rosenkranzbeten im Luftschutzbunker im Garten des Wohnhauses in Erinnerung. Mein Großvater nahm im Großfamilienverband eine dominante Rolle ein. Die verwitwete Mutter einer Tante sorgte für eine großmütterlich fürsorgliche Atmosphäre im Haus. Das Haus war in den 1890er Jahren als Wohnhaus einer landwirtschaftlichen Hofstelle nicht weit davon entfernt errichtet worden, wo die Lenne in die Ruhr mündet. Zum Hof gehörten Ländereien in der Nähe des Hauses und in den Ruhrwiesen. Ein Kapital, welches Ende der 1920er Jahre durch Verkauf der Wiesen

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zur Errichtung des Hengsteysees den ökonomischen Niedergang des landwirtschaftlichen Betriebes verlangsamte und meinem Vater ein Stück Land gleich in der Nähe des Hauses als Erbe verschaffte. Vor der Währungsreform (Juni 1948) ließen meine Eltern dort mit den Steinen des zerbombten Verschiebebahnhofs Hengstey der Reichsbahn unter prekären finanziellen Verhältnissen ihr Einfamilienhaus mit großem Garten errichten. Der Garten war für unsere Ernährung wichtig. Für uns ältere Kinder war Arbeit im eigenen Garten und bei benachbarten Bauern bei der Kartoffelernte – entlohnt mit Rübenkraut – selten auch Wurstbroten und keinem oder geringem Sold – in den 1950ern selbstverständlich. Der Zugang zu den Reichsbahn-Ruinen war sicherlich über meinen Großvater möglich. Er hatte dort als Schreiner eine Anstellung bekommen. Er war das siebte Kind eines Heuerlings aus Oeventrop/Sauerland. Als Kostgänger hatte er im ›Familienhaus‹ einen Schlafplatz gefunden und die dortige nicht erbberechtigte Tochter 1905 geheiratet. Mein Vater, 1908 als zweiter Sohn geboren, hat nach dem Volksschulabschluss eine kaufmännische Lehre absolviert. Danach war er mit Phasen der Arbeitslosigkeit als Bau- und Fabrikarbeiter tätig. Im Februar 1939 wurde er als ziviler Angestellter der Reichswehr in Iserlohn angestellt. Vermutlich wurde diese Stelle über seinen jüngeren Bruder, der dort Berufsoffizier war, vermittelt. Als Soldat war mein Vater im Krieg gegen die Sowjetunion, hat darüber aber nie erzählt. In Erinnerung habe ich nur wenige sehr knappe Berichte über dramatische Szenen der Flucht aus dem Osten und über seine Gefangenschaft auf den Rheinwiesen bei den Briten, von ihm »Tommies« genannt. Von 1946 bis zur Verrentung war er als Verwaltungsangestellter bei der Stadt Hagen beschäftigt. Meine Mutter, geboren 1916, wuchs mit einem drei Jahre älteren Bruder auf. Ihr Vater war Maurer und hatte als Kriegsversehrter die Stelle des Hausmeisters am Realgymnasium Plettenberg bekommen. Er war katholisch und kam aus dem hessischen Amöneburg. Ihre Mutter stammte aus einer Bäckerei in Plettenberg und war evangelisch. Meine Mutter wurde in der ›Mischehe‹ katholisch erzogen. Die daraus erlebten Konf likte waren für ihre biographischen Wünsche und Vorstellungen für die Partnerwahl ihrer drei Söhne und ihrer Tochter spürbar. Das Realgymnasium musste meine Mutter nach dem frühen Tod ihrer Mutter 1931 verlassen, um dem Vater im Haushalt und bei der Arbeit im Schulhaus zu helfen. Als gute Schülerin hätte sie gern einen

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qualifizierten Schulabschluss gemacht und einen anspruchsvollen Beruf erlernt und ausgeübt.

2. Schule in der Nachkriegszeit Diese ihre Orientierung auf schulische Qualifizierung war für meinen Werdegang, also dem Besuch des Städtischen Gymnasium Hagen ab 1953, nicht unerheblich. Mein Vater hat diesen schulischen Übergang sicherlich auch begrüßt. Er war aber als einer, der in seiner Lebensorientierung eher Risiken und Scheitern für wahrscheinlicher hielt, und als alleiniger Ernährer einer fünf köpfigen Familie zurückhaltender. Schließlich musste von seinem sehr niedrigen Gehalt für mich Schulgeld entrichtet werden. Außerdem waren Schulbücher anzuschaffen. Die schulische Passage auf dem Gymnasium war anfänglich mit Leistungshürden in den Fächern Deutsch und Latein verbunden. Aber im Laufe der folgenden Schuljahre legten sich die Schwierigkeiten und ich schaffte ohne Probleme die Versetzungen bis zum Abitur 1962. Mein Elternhaus lässt sich als kleinbürgerlich katholisch charakterisieren. Bücher und Musik gehörten nicht zum alltäglichen Leben. Sonntags ging unsere Familie zur Messe und nachmittags hatten wir Kinder an ›Christenlehre und Andacht‹ teilzunehmen. In den ersten Nachkriegsjahren wählten meine Eltern die katholische Zentrumspartei und später dann CDU. Meine Mutter hatte, so lässt es sich aus Episoden schließen, eine gewisse antiklerikale Haltung und Abneigungen gegen Obrigkeiten. Beide Eltern waren keine Anhänger oder Mitläufer des Nationalsozialismus, aber auch keine Opponenten. Der Eintritt ins Gymnasium eröffnete mir einen Zugang zu einem mir bis dahin fremden sozialen Milieu und bot Chancen der Qualifizierung und Bildung. Über Freundschaften mit Schulkameraden kam ich früh in Kontakt mit bildungsbürgerlich akademischen Elternhäusern. Meine Handlungsstrategie als Schüler war eher geprägt durch die Haltung, ohne großen Aufwand durchzukommen. Erleichtert wurde das durch den förderlichen Umstand, dass ich in den Schuljahren mit wohlwollenden Lehrern zu tun hatte. Sicherlich war auch das Bild von Bedeutung, das ich ihnen präsentiert habe. Über mehrere Jahre wurde ich als Klassensprecher gewählt. Dieser glückliche Umstand kann für ›gelingende‹ Lebensläufe nicht unterschätzt werden. Denn Gymnasiallehrer der 1950er Jahre waren in den Deutungsmustern ihres be-

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ruf lichen Handelns zwischen Fördern und Auslesen eher der Auslese zugeneigt, als es heute der Fall ist. Von den 51 Schülern in der ersten Gymnasialklasse haben 1962 nach neun Jahren nur 15 das Abitur gemacht. Als wohl beeindruckendsten Lehrer habe ich Edmund Neudeck, den Vater von Rupert Neudeck (Cap Anamur), in Erinnerung. Er war unser langjähriger Mathematik-Lehrer. In der Oberstufe führte er uns im Fach Philosophie in die Gedanken von Aristoteles und Kant ein, er las mit uns Iring Fetscher Von Marx zur Sowjetideologie (1960). Meine intellektuelle, soziale, emotionale und spirituelle Entwicklung erfuhr eine einf lussreiche Prägung in dem 1919 von Jesuiten gegründeten katholischen Verband für Schüler höherer Lehranstalten »Bund Neudeutschland«. Dieser Verband verstand sich als katholischer Teil der Bündischen Jugend. Ich war bereits in der zweiten Gymnasialklasse der Gruppe in Hagen beigetreten. Im höheren Alter wurde ich Leiter dieser Gruppe. Im Kontext dieses katholisch akademischen Milieus besuchte ich im Laufe der Jahre an Wochenenden und in den Ferien Seminare und Tagungen. So erhielt ich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre u.a. Einblick in Philosophie, beschäftigte mich mit Existentialismus und Theologie (einschließlich der Anfänge der Befreiungstheologie) sowie mit Naturwissenschaft und Glaube (z.B. mit Teilhard de Chardin). In den Veranstaltungen wurden ebenfalls Dialektischer Materialismus und Fragestellungen um die ›Dritte Welt‹ behandelt. 1961 war es zu Schändungen jüdischer Friedhöfe gekommen. Durch meine Anregung besuchte unsere Schulklasse die neu erbaute Synagoge in Hagen. In Begleitung unseres Klassenlehrers kam es zu einem Gespräch mit zwei Vertretern der jüdischen Gemeinde. Vorbereitet hatten wir uns durch die Lektüre des Buches von Hofer Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945 (1960). Nicht vergessen werde ich den Film Nacht und Nebel von Alain Resnais und die damit verbundene Trauerarbeit. Auf Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (Mitscherlich/Mielke 1960) wurde ich aufmerksam gemacht. Die Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich 1967) bei Eltern und Lehrern war uns damals nicht bewusst. Lehrer berichteten, wenn überhaupt, anekdotisch über eigene eher abenteuerliche Erlebnisse als Pilot, Kompaniechef, Flughafenkommandant oder Flakhelfer. Körperliche Kriegsverletzungen an Händen, Füßen oder Kopf waren bei manchen Lehrern zu bemerken. Wir Kinder waren nicht in der Lage, nach den erlebten Gräuel und Untaten zu fragen. Nicht die NS-Diktatur, son-

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dern ein Antikommunismus war in den 1950er und 1960er Jahren mit Verweis auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin, den Volksaufstand in Ungarn 1956 und den Mauerbau 1961 beherrschendes Thema. In den Ferien der Oberstufe arbeitete ich bei der Post, in einer Drahtzieherei und einer Federnfabrik. Diese Erfahrung von mühsamer Erwerbsarbeit, die ich auch später als Student fortsetzte, war für meine spätere beruf liche Tätigkeit als Arbeits-/Sozialmediziner bedeutsam. Erfuhr ich doch nicht nur am eigenen Leib die physischen und psychischen Arbeitsbelastungen eines langen Werktages. So nahm ich ebenfalls die beanspruchenden Arbeitsbedingungen bei den anderen Werktätigen wahr, die nicht wie ich nach wenigen Wochen diesen Bedingungen entkommen konnten.

3. Studien- und Ausbildungsjahre zum Mediziner Die Statuspassage vom Gymnasium zum Studium verbunden mit der Frage, welchen Beruf ich anstreben sollte, ist mir nicht leicht gefallen. Fest stand für mich, dass ich als Erster aus meiner Großfamilie zur Universität gehen wollte. Meine Sozialisation im akademischen Milieu hatte mich neugierig auf diese Institution gemacht. Ein akademischer Beruf sollte es sein. Priester, selbstverständlich war ich danach gefragt worden, Lehrer, Anwalt oder Ingenieur bzw. Naturwissenschaftler konnte ich mir nicht vorstellen. Ein gewisses ›Helfersyndrom‹ hatte sich bei mir eingestellt, so dass ich zwischen Medizin und Landwirtschaft mit beruf licher Orientierung auf die Dritte Welt schwankte. Nach einigen Monaten in der praktischen Landwirtschaft habe ich mich für das Medizinstudium entschieden. Während der verbleibenden Monate bis zur Aufnahme des Studiums in Münster im Sommersemester 1963 habe ich in der mir schon aus der Ferienarbeit bekannten Drahtzieherei gearbeitet, um Geld für das Studium anzusparen. Ich ›kloppte‹ Überstunden und Samstagsarbeit, um den Lohn zu erhöhen. Der Schrecken, bei der Maschinenarbeit beinahe meine rechte Hand/den Arm schwer verletzt zu haben, ist mir in Erinnerung. Mein blitzschneller Schlag auf ›Notaus‹ hat mich davor bewahrt. Dieser Typ von Arbeitsunfall mit seinen schwerwiegenden Körperverstümmelungen war bei Arbeitern in der lärmigen, mit Öldämpfen gesättigten und dreckigen Werkshalle bereits vorgekommen.

Statuspassagen im Lebensverlauf: Eine autobiographische Annäherung

Mein Medizinstudium habe ich durch einen geringen Anteil meiner Eltern, durch Arbeit während der Semesterferien und durch ein Stipendium nach Honnefer Modell (Vorläufer BAföG) finanziert. Im Medizinstudium ging es vor allem darum, die zahlreichen Prüfungen zu bestehen. Meine Neugier auf sozialwissenschaftliche Fragen auch in Bezug zur Medizin hatte früh im Studium zu Lektüre wie u.a. Grundfragen der psychosomatischen Medizin (von Uexküll 1963) oder Einführung in die Sozialpsychiatrie (Strotzka 1965) geführt. Im Wintersemester 1966/1967 war ich beteiligt an der Gründung einer Arbeitsgruppe von Studierenden der Medizin und Soziologie mit Interesse an medizin-soziologischen Themen. Wir lasen und diskutierten die für die Entwicklung der Medizin-Soziologie in der Bundesrepublik einf lussreiche Publikation von König/Tönnesmann Probleme der Medizin-Soziologie (1965). Unserer Einladung folgten u.a. Niklas Luhmann, Horst Baier und Manfred Pf lanz. Allerdings waren wir auch mit der Beharrungstendenz der Institution Medizin und ihren konservativen Repräsentanten konfrontiert. Dazu sei als Episode erwähnt: Der Dekan der Medizinischen Fakultät war nicht bereit, einen Hörsaal für den Vortrag von Pf lanz, Professor für Epidemiologie der Medizinischen Hochschule Hannover, freizugeben. Und doch haben die 68er-Akteur*innen mit ihrer Kritik an der herrschenden Medizin in Verbindung mit selbstkritischen Minderheiten in der Medizin über politische Prozesse den Medizinischen Fakultäten 1970 eine neue Approbationsordnung für Ärzt*innen ›aufgezwungen‹, in der Medizinische Soziologie und Medizinische Psychologie in die Lehrverpf lichtung aufgenommen wurde. Im Juli 1969 bestand ich das Staatsexamen und erhielt im August 1970 die Approbation als Arzt nach ärztlichen Tätigkeiten in Innerer Medizin, Chirurgie und Pathologie. Das im Sommersemester 1968 begonnene Studium der Soziologie in Münster habe ich 1971 bis zum Diplom im Februar 1973 an der Freien Universität Berlin fortgesetzt. Meine Frau hat als Grundschullehrerin in dieser Zeit für unsere junge Familie (Tochter, geb. 1970; Sohn, geb. 1972) für den Unterhalt gesorgt. Von Januar 1973 bis September 1976 war ich als Assistent und Oberarzt an der Abteilung für Hygiene und Arbeitsmedizin der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen angestellt. Mein ›Doktorvater‹ Professor Einbrodt aus Münster war dort Leiter geworden.

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4. Aachener Lehrjahre Die Neuregelung der Approbationsordnung von 1970 war für meinen beruf lichen Werdegang wichtig. Denn als ich 1973 in Aachen in der Medizinischen Fakultät angestellt war, erhielt ich über meinen damaligen Chef Einbrodt aufgrund meiner Doppelqualifikation den Lehrauftrag für Medizinische Soziologie. Lehrpersonal für dieses neue Fach war damals rar. Die Fakultät war über meine Bereitschaft bestimmt froh, musste sie doch keine eigenständige Professur dafür einrichten. Auch in anderen Fakultäten war dies eine geübte Praxis in der Annahme, so soziologische Fragen zur Medizin und zum ärztlichen Handeln auf nicht bedrohliche Distanz halten zu können. Die Aachener Fakultät war gehalten, zum ersten Mal im Wintersemester 1973/74 die Vorlesung Medizinische Soziologie anzubieten. Bis zum Wechsel zur Universität Bremen im Oktober 1976 habe ich die obligatorische Vorlesung im Wintersemester und freiwillige Übungen in den Sommer- und Wintersemestern angeboten. An den Übungen nahmen jeweils etwa 30 Studierende teil. Einige von ihnen waren später in der Gesundheitsadministration, Psychiatrie, Arbeitsmedizin, ›Alternativen Medizin‹ und in der Wissenschaft, z.B. zur Geschichte der Medizin, tätig. Über Treffen der Lehrenden im Fach Medizinische Soziologie in der Bundesrepublik kam ich Anfang 1974 in Kontakt zu der Forschungsgruppe »Belastungen am Arbeitsplatz und Praxis der betrieblichen Arbeitssicherheit« des Kooperationsvertrages Arbeiterkammer Bremen mit der Universität Bremen. Für die Kooperation war 1972 eine Arbeitsstelle in der Universität eingerichtet worden. Das Forschungsprojekt wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung finanziert und von Volker Volkholz, Assistenzprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, geleitet. Volker Volkholz war für meine wissenschaftliche Arbeit sehr inspirierend. Über ihn war ich involviert in die Anfänge des Programms »Humanisierung des Arbeitslebens« (HdA) und in die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften gekommen. Der ÖTV war ich während meiner Klinikzeit in Westberlin beigetreten. An die Kooperationsstelle hatte sich der Betriebsratsvorsitzende der Fischereibetriebsgesellschaft Bremerhaven gewandt und um eine wissenschaftliche Untersuchung zu den gesundheitlichen Gefährdungen der Beschäftigten beim Löschen (Entladen) von angelandetem Frost- und Frischfisch nachgesucht. Ich wurde gebeten, mich um die

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Anfrage zu kümmern. So besuchte ich den Betriebsrat in Bremerhaven, beobachtete in einer Nachtschicht die körperliche Schwerarbeit in Nässe und Kälte (bei Frostfisch -30 bis -35 Grad) und verfasste eine Expertise zu Arbeit in Kälte auf der Basis von arbeitsmedizinischer Literatur. Das Arbeitsministerium stimmte der Integration der Untersuchung in das laufende Projekt zu. So erforschte ich mit teilnehmender Beobachtung die Arbeitstätigkeiten, befragte die Beschäftigten und die Verantwortlichen und organisierte internistische Untersuchungen der Hafenarbeiter*innen. Außerdem war mir an Diagnosen und Zeiten der kassenärztlichen Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeiten der Löscharbeiter*innen gelegen. Ich erhielt ihre Einwilligung zur Einsicht und suchte die Ortskrankenkasse Bremerhaven auf und bat um Nutzung ihrer Daten. Der Geschäftsführer der Kasse hatte bereits früh seine Verwaltung auf EDV umgestellt, trotz ablehnendem Verhalten von Kolleg*innen anderer Krankenkassen gegenüber dieser Modernisierung. Aus diesem Kontakt entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit der Kasse zur Nutzung ihrer Routinedaten für eine arbeitsweltbezogene Gesundheitsberichterstattung. In der Auswertung der anonymisierten Daten der Bremerhavener Krankenkasse über sozialstatistische Angaben und medizinisch-ärztliche Leistungen im Zeitverlauf sah ich eine Chance für eine fortlaufende arbeitsbezogene Medizinalstatistik. Zu diesem Verfahren hatte mich mit seinen Schriften der erste preußische Landesgewerbearzt in Düsseldorf (1921) Ludwig Teleky aus dem ›roten Wien‹ angeregt. Mein 1975 gestellter Förderantrag »Beruf liche, wirtschaftszweig- und tätigkeitsspezifische Verschleißschwerpunkte« beim Bundesarbeitsminister unter Nutzung der Bremerhavener Kassendaten wurde bewilligt. Das Ministerium war an der EDV-technischen Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung interessiert und hatte 1974 das »Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens« auf den Weg gebracht. Mein Aachener Chef hat meine Forschungsarbeiten in Bremen/Bremerhaven sehr befürwortet und tatkräftig unterstützt.

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5. Als Professor in Bremen Seit Oktober 1976 bis Februar 2007 war ich an der Universität Bremen als Professor für Arbeitsmedizin/Sozialmedizin tätig. Meine Berufung an die Universität Bremen wurde dadurch begünstigt, dass die Mitglieder der paritätisch besetzten Berufungskommission (Professor*innen, nichtwissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Studierende) in meinen Untersuchungen von Arbeitsbedingungen in Bremerhaven eine Forschungspraxis erkannten, wie sie gemäß Programmatik der Reformuniversität für innovativ und emanzipatorisch angesehen wurde. Das vom Arbeitsministerium finanziell gut dotierte Drittmittelprojekt zum Gesundheitsverschleiß versprach die Fortsetzung meiner Forschung zur »Industriellen Pathologie«. Im Bremer Projektstudium habe ich Erkenntnisse und Methoden einer interdisziplinären Arbeits- und Gesundheitsforschung vermittelt und konnte exemplarisch auf eigene Forschung zu Arbeitsplätzen der Bremer Region zurückgreifen. Zur Arbeitswelt der Bremer Region habe ich über Betriebsräte und gewerkschaftliche Bildungsarbeit Kontakt gehalten. Die Forschung mit Routinedaten von Krankenkassen wurde zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit. Die Nutzung der Routinedaten Gesetzlicher Krankenkassen für epidemiologische Berichterstattung ist mittlerweile bei Kassen und im Public Health-Sektor etabliert. Die Verpf lichtung der Gesetzlichen Krankenversicherungen zur arbeitsweltbezogenen Prävention und Gesundheitsförderung mit §20 des Gesundheitsreformgesetzes (GRG) ab 1989 geht auf diese Forschung zurück. Allerdings wurde mir der weitere Zugang zu den anonymisierten Daten der Bremerhavener Krankenkasse durch Intervention der Vertreter der Arbeitgeber in der Selbstverwaltung der Kasse 1984 verweigert. Ich hatte in einem Seminar der IG-Metall für Betriebsräte in Bremerhaven über berufsbedingte Krebserkrankungen referiert und Ergebnisse aus den Datenanalysen arbeitsmedizinisch erläutert. Die Analysen belegten hohe Raten von Krebs der Atemwege bei Schweißern der ortsansässigen Werftindustrie. Teilnehmer offenbarten, dass sie bereits an Lungenerkrankungen durch Asbest litten. Geschildert wurden gleichartige Erkrankungen zum Teil mit Todesfolge bei Kollegen oder im Bekanntenkreis. Am, dem Seminar folgenden, Montagmorgen verlangten die Betriebsräte der Werftunternehmen vor der

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Arbeitsaufnahme von den Betriebsleitungen Auskunft über Gefährdungen beim Schweißen und durch Asbest. Sie stellten Forderungen zum Arbeitsschutz. Diese Erfahrung hat mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit darauf aufmerksam gemacht, dass es für das Durchsetzen von humanitären Arbeitsbedingungen auch engagierter und solidarischer Wissenschaftler*innen bedarf. Die 1971 gegründete Bremer Reformuniversität hatte keine disziplinär zementierten Fachinstitute. So waren die Professoren nicht mit Personal und nur sehr knapp mit Finanzen ausgestattet. Wer forschen wollte, hatte sich mit ähnlich interessierten Kolleg*innen zusammen zu tun und sich als Verbund um die sehr knappen Forschungsmittel der Universität in Konkurrenz mit anderen zu bemühen und/oder Drittmittel einzuwerben. Ein solcher Verbund war der »Forschungsschwerpunkt Reproduktionsrisiken, soziale Bewegungen und Sozialpolitik« (1978-1985), an dem ich seit Beginn mitgewirkt habe. Der Initiator und wichtigste Akteur der Gruppe war Stephan Leibfried (1944-2018). Er war es auch, der der Forschung zur Sozialpolitik eine dauerhaft universitäre Institutionalisierung in Bremen verschaffen wollte. Er lud mich ein mitzumachen und so kam es im September 1988 zum Zentrum für Sozialpolitik, ZeS (heute in SOCIUM eingegangen). Ich übernahm die Leitung der Abteilung »Gesundheitspolitik, Arbeits- und Sozialmedizin« bis 2007 und war Sprecher des ZeS von 1994 bis 2006. In den 1980er Jahren wuchs in der Bundesrepublik die Selbsthilfe- und Gesundheitsbewegung. 1980 fand der erste Gesundheitstag in Berlin und 1984 der Zweite an der Universität Bremen statt. An beiden habe ich das in der Gesundheitsbewegung eher nachrangig angesehen Feld der abhängigen Erwerbsarbeit mit gleichgesinnten Akteur*innen, auch aus der Gewerkschaft, thematisiert. In der Universität Bremen war ich mit Kolleg*innen seit Ende der 1980er Jahre darum bemüht, »Gesundheit/Öffentliche Gesundheit« in Lehre wie Forschung zu verankern. 1995 wurde dazu der Auf baustudiengang eingerichtet, der zum WS 2004/05 zum grundständigen Studiengang umgewandelt wurde. Im Oktober 2004 wurde das Institut für Public Health und Pf legeforschung gegründet. Die Betonung der gesellschafts- und hochschulpolitischen Bedingungen für meinen Karriereweg in meinen ›autobiographischen Notizen‹ soll aufzeigen, dass die zeithistorischen Bedingungen mir gute Optionen boten, die ich kooperativ mit anderen genutzt habe. In dieser Situation war es mir möglich, auf die jeweiligen Gelegenheitsstruktu-

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ren für meine/unsere Interessen und Orientierungen Einf luss zu nehmen. Eine solche Offenheit für einen hohen Grad an Selbstorganisation des Lebenslaufs ist nicht jeder Generation gegeben. Offenheit war allerdings auch zur damaligen Zeit nicht in jeder Universität oder Fakultät vorhanden. Die Reformuniversität Bremen bot in ihrer Anfangsphase spezifische Bedingungen für gelingende Selbstorganisation. Selbstverständlich galt es, in dieser hochschulpolitischen Arena Macht und Einf luss zu gewinnen, wenn bestimmte Lehr- und Forschungsinhalte in Strukturen verstetigt werden sollten. In einer medizinischen Fakultät wäre mir sicher nicht der Status ›Professor‹ so früh zugänglich gewesen – wenn überhaupt dann erst nach einer langen Phase der Zuarbeit und Abhängigkeit. Hierzu war ich nicht bereit. Gerade in der medizinischen Fakultät verläuft bis heute eine erfolgreiche Universitätskarriere über einen mächtigen und einf lussreichen Ordinarius. Mächtig waren und sind sie als Klinikdirektoren. Ein Abteilungsleiter für Arbeitsmedizin ist in diesem Raum, zwar ebenso als Homo academicus (Bourdieu 1988) agierend, doch eher wenig mächtig und nur gelegentlich bei der Zustimmung zur Habilitation von Oberärzten der Klinik gefragt. Denn über Versprechen und Durchführen der Habilitation gelingt es Ordinarien der klinischen Fächer, qualifiziertes Personal längerfristig zu halten. Der recht schnelle Gang meiner beruf lichen Karriere war ohne Risiko für meine finanzielle und soziale Sicherung. Jederzeit hätte ich als Arzt in einer Klinik eine Weiterbildung zu einem Facharzt beginnen können. Ein Verlust des sozialen Status hätte dies nicht bedeutet. Sowohl in der Aachener Zeit als auch der frühen Zeit in Bremen habe ich einen solchen Schritt erwogen. Nachwuchsrekrutierung bzw. -förderung war mir nicht nur im Forschungssektor, sondern ebenso in der Lehre wichtig. Mir kam es darauf an, für Themen zu sensibilisieren, die mit ›Humanisierung des Arbeitslebens‹ umschrieben sind. Interdisziplinärer Zugang und gesellschaftssowie sozialpolitische Rahmung waren für mich unumgänglich. Dieses Verständnis habe ich in der Linzer Akademie für Arbeitsmedizin in der ärztlichen Weiterbildung zum Betriebsarzt seit 1989 eingebracht. Praktische Erfahrungen als Betriebsarzt habe ich nebenberuf lich bei der Flughafen Bremen GmbH von 1984 bis 2009 erworben. Als Erstgutachter habe ich an sechzig Promotionen (38 Männer, 22 Frauen) mitgewirkt. 2006 war ich beteiligt an der Einwerbung des

Statuspassagen im Lebensverlauf: Eine autobiographische Annäherung

Graduiertenkollegs »Nutzerorientierte Gesundheitssicherung« bei der Hans-Böckler-Stiftung für acht Stipendien (sechs Frauen, zwei Männer). Als Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung habe ich Personen, die an ihrer weiteren Bildung interessiert waren, zum Studium verholfen und begleitet. Professuren außerhalb von Bremen haben aus meinem Arbeitskontext drei Frauen und vier Männer erhalten.

6. Gelöst, aber nicht distanziert Meine soziale Herkunft hat für mich zweifelsfrei als stabiler Resonanzboden eine Rolle gespielt. Von diesem Herkunftsmilieu habe ich mich nicht bewusst, sondern eher implizit ohne Konf likte und Abbruch gelöst aber nicht distanziert. Zur sozialen Distanzierung gab es für mich keine Motive, Gründe oder Anlässe. Ohne Zweifel hat der akademische und universitäre Kontext auch bei mir zu einem dort üblichen ›Habitus‹ geführt. Darauf wurde manchmal mit gewisser Zurückhaltung im nicht-akademischen Milieu reagiert. Aber eigene Erfahrungen mit abhängiger Arbeit an verschiedenen Arbeitsplätzen, gewerkschaftliche Bildungsarbeit und mein wissenschaftliches Interesse an der Humanisierung der Arbeit haben vermutlich korrektiv gewirkt. An eigener Diskriminierung wegen meiner sozialen Herkunft kann ich mich nicht erinnern. Diskriminierungen gab es durch Vertreter*innen der konservativen universitären Szene der Arbeits-/Sozialmedizin. Als Repräsentant der ›roten Kaderschmiede‹ und Kritiker der dominierenden Arbeits- und Begutachtungsmedizin habe ich diese Reaktionen positiv gedeutet. Man wurde vor allem in den Arbeitsergebnissen wahrgenommen. Auf meine schriftliche Bewerbung um Mitgliedschaft der Fachgesellschaft wurde mir mitgeteilt: »Für Sie fand sich im Vorstand keine Mehrheit.« Meine soziale Herkunft sehe ich als positiv an, weil ich nicht mit besonderen Erwartungen konfrontiert oder belastet war und weil mir die Wertschätzung der Eltern und Geschwister sicher war. Es wurde von mir nicht erwartet, z.B. die Arzt-Praxis des Vaters oder den Familienbetrieb zu übernehmen oder einen akademischen Beruf zu erwerben. Scheitern ›durfte‹ ich nicht – das war ich mir selbst schuldig und hätte möglicherweise meine Eltern enttäuscht. Sie waren später bestimmt stolz darauf, zwei Söhne und einen Schwiegersohn als Ärzte in ihrer Familie zu haben.

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Das biographische Nachdenken aus dem wissenschaftlichen Zusammenhang heraus drängt nicht notwendig zur Offenbarung. Aktuell erfährt die Spannung zwischen privat und öffentlich eine beträchtliche Brisanz. Professor*innen haben sich ihrer öffentlichen Rolle und Funktion zu stellen. Sie veröffentlichen Überlegungen und Ergebnisse ihrer Forschung und wenden sich auch sonst an die Öffentlichkeit. Sie präsentieren sich mit ihren Aktivitäten, Texten und Publikationen verstärkt – fast obligatorisch – über ihre Einrichtungen an ihren Hochschulen im Internet. Die Verpf lichtung zur öffentlichen Offenbarung ist vielfach kompliziert. Einem Teil bin ich als Mitglied des SOCIUM (www.socium.uni-bremen.de) und als Privatperson (www.rainermueller.info) nachgekommen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Anstrengungen geben bei vernünftiger Exegese einen guten Einblick in Biographie und Lebenslauf, in Positionen und gesellschaftspolitische Haltungen. Ein paar persönliche Erfahrungen mögen dies näherbringen.

Literatur Bourdieu, Pierre (1988): Homo academicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fetscher, Iring (1960): Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt a.M./ Berlin/Bonn: Moritz Diesterweg. Hofer, Walther (Hg.) (1960): Der Nationalsozialismus. Dokumente 19331945, Frankfurt a.M.: Fischer. König, René/Tönnesmann, Margret (1965): Probleme der Medizin-Soziologie, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag. Mitscherlich, Alexander/Mielke, Fred (Hg.) (1960): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a.M./Hamburg: Fischer. Mitscherlich, Alexander und Margarete (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper & Co. Strotzka, Hans (1965): Einführung in die Sozialpsychiatrie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Teilhard de Chardin, Pierre (1959): Der Mensch im Kosmos, München: Beck. Von Uexküll, Thure (1963): Grundfragen der psychosomatischen Medizin, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Statuspassagen im Lebensverlauf: Eine autobiographische Annäherung

Universität Bremen (2002): Sonderforschungsbereich 186: Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf: institutionelle Steuerung und individuelle Handlungsstrategien: Abschlussbericht. Bremen. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-21071.

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»Mach was aus dir, aber bleibʼ der Alte!« — Von Auswärtsspielen am Rande erfolgreicher Wege Jürgen Prott

Der erste Schultag im April 1949

Jürgen Prott wurde 1942 in Münster in Westfalen geboren. Sein Vater, Hans-Jürgen Gosch (geb. 1896) war Versicherungsvertreter, seine Mutter, Emilie Prott (geb. 1907) Büroangestellte. Er ist das jüngste von insgesamt vier Kindern. Sein Bruder Wolfgang (geb. 1927) arbeitete als Journalist, seine Schwester Ellen (geb. 1928) war Schneiderin und sein Bruder Hans-Lothar (geb. 1930) arbeitete als Polizeikommissar. Prott war von 1981 bis 2008 Professor für Soziologie der

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Arbeitswelt an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, später Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Gewerkschaften und Mitbestimmung. Prott ist verheiratet und hat einen Sohn (geb. 1982). Es ist meistens schwerer, auswärts zu gewinnen als zu Hause. Da sind die beschwerliche Anreise und die fremde Umgebung. Der Anhang des Gegners auf den Rängen des Stadions macht sich lautstärker bemerkbar, als uns lieb ist. Wenn man nicht gerade Bayern München heißt, also eine Art natürlichen Anspruch auf Siege bei jeder Gelegenheit anzumelden gewohnt ist, mag man das Auswärtsspiel als gleichgültige Episode empfinden. Die meisten von uns sind realistischer, also in der Regel mit einem Unentschieden oder gar einer milden Niederlage zufrieden. Sollte die Sache schlimmer ausgehen, bleibt schließlich die Hoffnung auf das Rückspiel. Hauptsache, man muss am Ende der Saison nicht absteigen und kann weiter davon träumen, hin und wieder in die oberen Regionen der Tabelle vorzustoßen, sollten günstige Umstände und beharrlicher Ehrgeiz das zulassen. Parallelen zum ernsthaften Leben bieten sich an. Ich folge hier einigen meiner Spuren auf alles in allem erfolgreichen Pfaden. Das Institut für Publizistik an der Freien Universität Berlin residierte lange Zeit in einer alten Villa am Hagenplatz, ein paar Steinwürfe vom Grunewald entfernt. Hier trat ich an einem heißen Frühsommertag des Jahres 1978 zu einem Auswärtsspiel an. Ermutigt durch eine leidlich erfolgreiche Promotion (vgl. Prott 1976), weitere Veröffentlichungen (z.B. Prott 1975) und mehrjährige Erfahrung als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Soziologie der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik, hatte ich meinen Hut in den Ring einer Ausschreibung um eine Professur für Kommunikationssoziologie geworfen. Ich war bis ins Endspiel um den ersten Listenplatz vorgedrungen. Nun stand ich hier bei einem Probevortrag über den Begriff der kommunikativen Kompetenz, vorsichtshalber mit Schlips und Kragen, die ich mir nur widerwillig umgebunden hatte. Zu allem Überf luss herrschte im Seminarraum drangvolle Enge, denn die Besetzung dieser Stelle war stark umstritten. Die studentische Öffentlichkeit, von ›Sponti‹-Studierenden dominiert, die mir gelinde gesagt nicht unbedingt wohlgesonnen waren, hatte sich bis unmittelbar an das Podium vorgeschoben. Damals funktionierte mein Gehör noch halbwegs gut. So konnte mir nicht verborgen bleiben, wie eine Studentin ihrer Nach-

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barin zuraunte, kaum dass ich zur Begrüßungsf loskel angesetzt hatte: »Wie der Arsch schon aussieht!« Gleich lag ich im Rückstand. In der Diskussion über meinen Vortrag verschanzte ich mich hinter möglichst geschliffenen Formulierungen. Das kam ebenso wenig gut an wie mein dunkler Anzug, den ich vier Jahre nach der letzten Beerdigung mal wieder aus dem Schrank geholt hatte. »Der Anzug steht dir nicht«, hatte mir ein wohlmeinendes Mitglied der Trauergemeinde mit auf den Weg gegeben. Offenbar hatte ich ihm nicht geglaubt. Als ich nach meinem FU-Auftritt mit dem Interzonenzug zurück nach Hamburg fuhr, beschlich mich ein Gefühl der Niederlage. Meine erste Professorenstelle bekam ich trotzdem, wahrscheinlich, weil das von mir investierte soziale Kapital im Vergleich zu meinen Widersachern um den begehrten Listenplatz bei der Mehrheitsbildung im Berufungsausschuss stärker durchschlug als die habituelle Schwäche meines ›overdressten‹ Erscheinungsbildes. Drückte mich damals ein schwerer Rucksack herkunftsbedingter Verhaltensunsicherheit auf dem Weg nach oben oder bildete ich mir das nur ein? Ich weiß es bis heute nicht genau. Auf der Suche nach Antworten auf die Frage nach den Triebkräften meines sozialen Aufstiegs vom Arbeiterkind zum Hochschullehrer konzentriere ich mich auf drei Faktoren. Da ist zunächst die Familie. Für mich, den 1942 unehelich zur Welt Gekommenen, waren das meine alleinerziehende Mutter und die drei deutlich älteren Geschwister, zusammengedrängt auf den 45 Quadratmetern einer Zweizimmerwohnung in der Bielefelder Altstadt. Wir lebten in dem, was man heute wohl ›milde Armut‹ nennt. Nie mangelte es an Kleidung, auch wenn sie für mich zum Teil aus amerikanischen Armeebeständen stammte. Abends, wenn meine Mutter von ihrer Arbeit als Bürohilfskraft nach Hause gekommen war, brachte sie immer ein warmes Essen auf den Tisch. Meine Schulsachen stammten fast ausnahmslos aus zweiter Hand, bei Klassenfahrten musste ich meistens zu Hause bleiben, weil der Kostenbeitrag zu hoch war. Aber als richtig schlimm habe ich eigentlich nur empfunden, dass es nie zu einem neuen Lederfußball oder gar zu richtigen Fußballschuhen mit Schraubstollen reichte. Entscheidend für meinen Weg schon in jungen Jahren aber war etwas anderes. Bei uns zu Hause standen Bücher im Schrank. Die Geschichten vom kleinen Häwelmann, vom Kalifen Storch oder vom hölzernen Bengele (Pinocchio) konnte ich so gut wie auswendig, so oft hatte meine liebe Mutter sie mir vorgelesen. Wenn ich mich nicht ohne Ende auf dem Bolzplatz herumtrieb, zog es mich schon in jungen Jahren in die Kin-

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derabteilung unserer Stadtbibliothek. Das war der Grundstein für alles, was später kam. Ich wäre ein schlechter Soziologe, wenn ich als zweiten Faktor nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachen würde. Ich war noch nicht aus der kurzen Lederhose herausgewachsen, da begann in den späten 1940er Jahren das ›Wirtschaftswunder‹ immer tiefere Spuren im Leben auch der weniger gut Gestellten zu hinterlassen. Ohne diesen gesamtgesellschaftlichen Rahmen einer dynamischen Marktwirtschaft hätte mein Leben sicher eine andere Richtung genommen. Die Vollbeschäftigung kam in Reichweite, und es machte sich eine optimistische Grundstimmung breit. Der Soziologe Schelsky fabulierte von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« mit gleichmäßig verteilten Lebenschancen für alle, was sein ebenfalls an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg zu frühem Ruhm gelangter Kollege Ralf Dahrendorf später einen »nahezu unglaublichen Irrtum« nennen sollte. Auf jeden Fall ging es für viele Menschen nicht nur voran, sondern in der Stufenleiter des gesellschaftlichen Erfolgs auch aufwärts. Das schlug bis auf meine unmittelbare Umgebung durch. Meine Mutter, ein Dorfmädchen aus einer elf köpfigen Familie des südlichen Münsterlandes, brachte es von der ungelernten Bürohilfskraft bis zur rechten Hand eines Industriemeisters. Schwester Ellen, die gelernte Schneiderin, avancierte zur Büroleiterin einer Bielefelder Bundestagsabgeordneten der CDU. Bruder Hans-Lothar vertauschte den ungeliebten Konditorberuf mit einer Lauf bahn bei der Polizei, bei der er gegen Ende seines Berufslebens einer örtlichen Dienststelle im rheinischen Braunkohlerevier vorstand. Bruder Wolfgang, im letzten Kriegsjahr als Flakhelfer nur knapp dem Ehrentod entgangen, von meiner Mutter bei Nacht und Nebel aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft befreit, schlug sich zunächst in wechselnden Jobs durch, zum Beispiel als Funkpeiler im Flughafen Köln-Wahn, bevor er zum Journalismus fand. Er brachte es bis zum ›Dienstleiter‹ bei der Tagesschau. Diesem fünfzehn Jahre Älteren vor allem wollte ich es nachtun. Bei uns zu Hause war es völlig selbstverständlich, dass alle Kinder zur ›Mittelschule‹ gingen. Das entsprach dem kleinbürgerlichen Bewusstsein der Mutter. Weit davon entfernt, zu hoch hinaus zu wollen, verkörperte das Angestelltendasein das Sinnbild eines ›ordentlichen Mittelstandes‹. Der Realschulabschluss erschien dafür die selbstverständliche Eintrittskarte. Im Herkunftsmilieu meiner Mutter gab es keine Abiturienten, geschweige denn Absolventen von Hochschulstu-

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diengängen. Ähnliches gilt auch für meinen ›Zahlvater‹. Sohn eines Landarbeiters aus der Gegend um Flensburg, schmückte er sich am Ende seines Berufslebens mit dem Status eines Bezirksdirektors bei einer angesehenen Versicherungsfirma. Selbstverständlich sollte auch ich, der gänzlich ungeplante Nachkömmling, wie meine Schwester und die beiden Brüder auf die mittlere Lauf bahnschiene geschoben werden. Dem standen allerdings die verheerenden Zeugnisnoten meiner katholischen Volksschule im Wege. Diese Schule habe ich, ebenso wie die spätere Berufsausbildung als Schriftsetzer, als ein einziges Unglück erlebt. Prügelnde Lehrer, nur mühsam ihre nationalsozialistische Gesinnung im Zaum haltende Religionspädagogen und schließlich auch noch despotische Berufsausbilder provozierten bei mir eine Haltung notorischer Lernunwilligkeit und wilder Aufsässigkeit. Schule, das war für mich nichts anderes als eine bösartige staatliche Einrichtung, allein dazu angetan, der nachwachsenden Generation die Freude am Lernen systematisch auszutreiben. Ein ununterbrochenes Auswärtsspiel also. Gleichsam hinter meinem Rücken unterstützte die Bildungspolitik der ersten Nachkriegsjahrzehnte eine beachtliche Durchlässigkeit der Sozialstruktur. Trotz mancher Halbherzigkeiten eröffneten sich Chancen für einen erheblichen Teil sozial Benachteiligter. Zwischen 1949 und 1990 erhöhte sich in der alten Bundesrepublik der Anteil der Abiturienten an den Altersjahrgängen von 4 Prozent auf 26 Prozent. Zwischen 1960 und 1980 wurden 24 neue Universitäten und technische Hochschulen gegründet (vgl. Wehler 2008: 373). Später expandierte ein sich immer feiner ausdifferenzierendes System der beruflichen Fort- und Weiterbildung. Neben den Angestellten und Beamten schickten häufiger auch die Facharbeiter ihre Söhne und Töchter auf jene Einrichtungen der Bildung und Weiterbildung, die ursprünglich keineswegs für sie gedacht waren. Wenn manche Soziologen in diesem Zusammenhang von »Arbeiterklassenkindern« (vgl. Nachtwey 2016: 10) schwadronieren, die sich in dieser Phase gesellschaftlicher Reformpolitik in Bildungseinrichtungen jenseits der Volksschulen vorwagten, unterschlagen sie in ihren, in den marxistischen Deutungsmustern verhafteten, Schichtungsbildern beiläufig etwas Wesentliches: An den Kindern der angelernten und ungelernten Arbeiter sind Ideal und Wirklichkeit eines Aufstiegs durch Bildung früher wie heute fast spurlos vorbeigegangen. Viele meiner Freunde aus politisch bewegten Jugendzeiten, fast ausnahmslos Facharbeiter in der Druckindustrie (Schriftsetzer, Buchdrucker, Klischeeätzer) oder im metallverarbeitenden

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Gewerbe (Dreher, Maschinenschlosser, Werkzeugmacher), machten sich zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Weg heraus aus einer ungeliebten »proletarischen Existenz« (vgl. Prott 2019: 98). Einige scheiterten, die meisten fanden in Schulen, Weiterbildungsinstitutionen und Verbänden befriedigendere Betätigungsfelder auf einem erhöhten Statusniveau. Was mich angeht, öffnete sich kurz vor der mittleren Reife überraschend die Tür des sozialen Aufstiegs einen Spalt breit. Weil wir überdurchschnittlich gute Deutsch-Noten vorweisen konnten, bot die Schulverwaltung zwei Klassenkameraden und mir an, durch eine Art Crashkurs an einem Gymnasium im Fach Latein soweit nachgerüstet zu werden, dass auch für uns das Abitur in Reichweite geriet. Meine beiden Freunde schafften das, für mich lag diese Latte zu hoch. Ein halbes Jahr lang frühmorgens eine zusätzliche Schulstunde, diese Herausforderung brach ich schneller ab, als meiner hoffnungsfrohen Mutter lieb war. Wie stark die gesellschaftlichen Verhältnisse unmittelbar auf Lebensplanungen durchschlagen, erfuhr ich viele Jahre später mit Hilfe eines meiner Forschungsprojekte. Längst aus Berlin zurückgekehrt an jene Hochschule des Zweiten Bildungsweges, die mir als Student selbst den Weg in die akademische Welt gebahnt hatte, wollte ich gegen Ende des Jahrhunderts durch die wiederholte Befragung einer Population von Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung herausfinden, wie und warum sich die Berufsperspektiven von ehemaligen Arbeitern und Angestellten in einem Studium verändern, das in seinem zweiten Abschnitt mit Hilfe interdisziplinär angelegter Projekte den Weg in den abermaligen Berufseinstieg vorbereiten sollte. Es konnte mich nicht verwundern, dass 68,3  Prozent der Befragten sich zu Beginn ihres Studiums noch nicht auf ein angezieltes Berufsfeld festlegen mochten. Vier Jahre später, kurz vor dem Examen, war dieser Wert nicht etwa gesunken, sondern auf 75,7 Prozent gestiegen (vgl. Prott 2002: 87). Ich war zunächst recht erschrocken. Wie war das zu erklären? Fachkollegen beschwichtigten mich: Das Resultat zeige doch nur das Ausmaß der von unserem Studiengang hervorgerufenen ›produktiven Verunsicherung‹. Das fand ich weniger überzeugend als die Erinnerung an eine bereits Jahre zuvor formulierte Mutmaßung Pierre Bourdieus. Für Frankreich registrierte dieser glänzende Soziologe das Phänomen einer »geprellten Generation« (vgl. Bourdieu 1982: 241ff.). Ein expandierendes Bildungssystem hatte den Studierenden mehr versprochen, als das Beschäftigungssystem in Gestalt attraktiver Posten halten konnte. Während

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ich selbst und einige meiner Freunde und Kollegen in den 1960er und 1970er Jahren vom Ausbau der Hochschulen nach oben getragen wurden, prallten eine Generation später die Aufstiegsaspiranten allzu häufig gegen verschlossene Türen. Ein vertiefender Blick in die Protokolle meiner Intensivinterviews bestätigte diese Vermutung in vielen Fällen. Deutlich häufiger als in früheren Zeiten eines vermeintlich grenzenlosen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs hatten Absolventen des Zweiten Bildungsweges jetzt Nackenschläge in Gestalt von mindestens kurzzeitigen Phasen der Arbeitslosigkeit zu verkraften, noch bevor sie den Weg an die Hochschule fanden. Manche sahen in ihr weniger das Sprungbrett für beruf liches Avancement als eine Art sicheren Hafen, in dem man für ein paar Jahre zur Ruhe kam, bevor ein weiterer Schritt in unsicheres Gelände gewagt werden musste (vgl. auch Frohwieser u.a. 2009: 157ff.). Vom gut begründeten Zukunftsoptimismus meiner Studierendengeneration war nicht mehr viel übrig geblieben, allen curricularen Bemühungen unseres reformfreudigen Lehrkörpers an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik zum Trotz. Meine Herkunftsfamilie und die uns umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse haben mir jenen Rückenwind für einen sich mehr und mehr entwickelnden Drang zu Höherem vermittelt, den die eingeschliffenen strukturellen Muster von Schule und Berufsausbildung nicht blockieren konnten. Es war ja nicht so, dass ich nicht lernen wollte, jedoch die Art und Weise sowie die Gegenstände des Lernens im Klassenzimmer und am Setzkasten, nicht zuletzt die stickige Luft autoritärer Verhärtungen innerhalb und außerhalb der etablierten Institutionen, provozierten die Suche nach Auswegen jenseits der abgetretenen Pfade (vgl. Prott 2018: 166ff., 227ff.). Und jetzt kommt der dritte Faktor ins Spiel, der meinen Werdegang entscheidend bef lügelte: die politische Sozialisation bei der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken. Meine Mutter war Gewerkschaftsmitglied mit Sympathien für die Sozialdemokratie, aber nie integraler Bestandteil des in der Nachkriegszeit in unserer Stadt noch in beachtlicher Blüte stehenden Arbeitermilieus (vgl. Ciftci/Heidemann/Schrammen 2018: 141ff.). Deshalb führten mich Umwege in die Sozialistische Jugend. In der Katholischen Jugend ging ich zum ersten Mal ›auf Fahrt‹, hatte auch Freude an den Gruppenabenden. Eines Tages unterbrach ein tiefschwarz gekleideter Mann Gottes unser Tischtennisspiel und stellte uns ein Ultimatum: Nur wer künftig bereit sei, als Messdiener der katholischen Sache zu dienen, sei im Gemein-

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dehaus weiter wohlgelitten. Das war für mich das Ende meiner Mitgliedschaft in diesem Verband. Freunde brachten mich zu den ›Falken‹. Von meinem ältesten Bruder politisch schon ein wenig geimpft, fühlte ich mich hier schnell zu Hause. Was mir die Schule und der ungeliebte handwerkliche Beruf vorenthielten, das lernte ich hier in den Jahren bis zum Beginn des Studiums mit Feuereifer: Wie man ein Referat hält, wie man eine Jugendgruppe leitet, wie man Artikel für das Verbandsblättchen schreibt, wie man an langen Regentagen im Kinderzeltlager die Sechs- bis Zwölfjährigen durch gruselige Geschichten (besonders beliebt: Edgar Allan Poe) bei Laune hält, wie man sich blutige Ohren als Delegierter auf Bezirks- oder Bundeskonferenzen holt, wenn über den richtigen Weg zum Sozialismus oder die Beteiligung am ›Ostermarsch‹ gestritten wird und vieles mehr. Wenn es gegen die ›Wiking-Jugend‹ ging, konnten auch schon mal die Fetzen f liegen, aber ansonsten pf legten wir in der Sozialistischen Jugend eher die verbale Auseinandersetzung mit den Gegenspielern. Sicher war hier im sozialen Austausch auch eine Menge Konkurrenz im Spiel, aber das Band der Solidarität hielt sie fast immer erfolgreich in Grenzen. Der Jugendhof Vlotho in der ostwestfälischen Umgebung bot dazu an Winterwochenenden Gelegenheit. Einmal geriet ich als Achtzehnjähriger in Streit mit einem älteren Mitglied der Jungen Union. Ich glaube, es ging um Sinn und Zweck der NATO. Womöglich hatten wir beide nicht sehr viel Ahnung von der Sache, aber ich muss meinen Kontrahenten wohl durch eine gewisse Wortgewalt beeindruckt haben. Erstaunt hielt er inne und fragte mich, was ich denn sonst so mache. Meine Antwort, ich sei in der Lehre als Schriftsetzer zauberte ein überlegenes Lächeln auf seine Lippen. Zu voller Größe aufgerichtet, fertigte er mich mit der Bemerkung ab, nun werde ihm klar, warum wirre Gedanken meinen Kopf vernebelten: mir fehle der »studentische Weitblick«. Bis heute kann ich mir die Szene in lebhafte Erinnerung zurückrufen. Deutet allein das auf eine meiner wenigen Diskriminierungserfahrungen hin? Vom Wintersemester 1964 an bekam ich die damals noch recht seltene Gelegenheit, am eigenen Leibe zu erfahren, was »studentischer Weitblick« so alles zu entdecken versteht. Mein Studium mit dem Schwerpunkt der Volkswirtschaftslehre an der Akademie für Wirtschaft und Politik (vormals Akademie für Gemeinwirtschaft, später Hochschule für Wirtschaft und Politik) markierte die entscheidende Wende im Lebenslauf. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung fand ich mich im Kreis vieler gleichgesinnter Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung des

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DGB wieder. Das erleichterte mir die ›Statuspassage‹ sicher erheblich. Erst später, als ich mein Studium mit dem Schwerpunkt Soziologie an einer ›richtigen‹ Universität mit gemächlicherem Lerntempo fortsetzen konnte, kam mir der soziokulturelle Bruch so recht zum Bewusstsein, der mein Dasein nie völlig losgelassen hat. Was geschah da mit mir? »Mach was aus dir, aber bleib der Alte«, hatten mir wohlmeinende Genossen von Bielefeld aus mit auf den Weg gegeben. Wie sollte das funktionieren? Individueller sozialer Aufstieg, soviel war mal klar, verträgt sich nicht mit sozialistischen Gesellschaftsbildern. Das ist nur etwas für jene erbarmungswürdigen Geschöpfe mittlerer sozialer Lagen, die mit ›falschem Bewusstsein‹ geschlagen sind und ihr Heil vergeblich jenseits gewerkschaftlicher Solidarität suchen. Wer sich dennoch als politisch bewusstes Subjekt von der ›Arbeiterklasse‹ davonstiehlt, kann sich dem Vorwurf der Fahnenf lucht nur entziehen, wenn er glaubwürdig unter Beweis stellt, nach erfolgreich angeeigneten akademischen Meriten in den Dienst von Arbeiterorganisationen zu streben. Schlich sich nicht manchmal auf die Gesichtszüge der alten Kumpels, wenn man sich an Wochenenden ihn vertrauter Runde wiedersah, ein skeptischer Ausdruck, sofern dem Abtrünnigen verdächtig anmutende wissenschaftliche Floskeln über die Lippen rutschten? Da hatte man sich alle Mühe gegeben, die ›Preiselastizität der Nachfrage‹ als Element der Markttheorie zu kapieren, aber das Misstrauen der Kumpels stellte sich, eher vermeintlich als tatsächlich, noch der zurückhaltendsten Angeberei mit dem frisch Gelernten in den Weg. Wuchsen sich hier ›Rollenturbulenzen‹ zu handfesten ›Identitätskrisen‹ aus? Im vorauseilenden Gehorsam war der/die eine oder andere von uns uneingestandenen Aufsteiger bemüht, diese vernichtenden Fragen möglichst gar nicht erst hochkommen zu lassen: »Kannst du dich nicht verständlich ausdrücken, so wie früher? Glaubst du etwa, du bist jetzt etwas Besseres?« Als ich seit dem Wintersemester 1964/65 den Hörsaal mit der Setzerei zu vertauschen begann, spürte ich zwar den Nachklang der mahnenden Worte von Freunden des Herkunftsmilieus im Ohr, aber ich vertraute doch den ideologischen Schutzwällen, die ich vor meinem Lerneifer errichtet hatte. Fest eingeschlossen in die Burg eines unverdauten Ableitungsmarxismus, konnten mir die in unseren Kreisen als Unternehmergeschwätz diskreditierte Betriebswirtschaftslehre und die rabulistische sogenannte ›Rechtswissenschaft‹ wenig und die Volkswirtschaftslehre, auch sie ein Ausbund ›bürgerlicher Wissenschaft‹, kaum mehr etwas anhaben. Allerdings konnte und wollte ich

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mich dem Reiz der Soziologie Ralf Dahrendorfs nicht verschließen. Er ist neben Helmuth Schelsky und Karl Martin Bolte sicher einer meiner berühmtesten Vorgänger als Soziologieprofessor an der Hamburger Hochschule. Dass ich mich selbst nie in die lichten Höhen ihrer verdienten beruf lichen Ehrbarkeit würde aufschwingen können, daran habe ich nie gezweifelt. Dahrendorf, der sich in der kurzen Zeit an der Hamburger Einrichtung des Zweiten Bildungsweges den Ruf eines einfühlsamen Förderers sozial benachteiligter Studierender erwerben konnte, schilderte in seinem eindrucksvollen Werk über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland die schillernde Sozialfigur des ›Stipendien-Jungen‹, der es vom Arbeiterkind zu akademischen Ehren bringen wollte: »Er konnte manches besser als seine Altersgenossen, aber sein Können forderte einen Preis. Wenn die anderen, die Geschwister und Nachbarskinder auf der Straße herumstanden oder Fußball spielten oder, später dann, zum Tanzen gingen, saß er bei der verständnisvoll nicht-verstehenden Mutter und machte Schularbeiten; wenn die Geschwister im Wohnzimmer Schallplatten hörten, die Mutter bügelte und der Vater die Zeitung las und das Gelesene laut kommentierte, blieb ihm nur eine Tischecke zum Studium der Bücher, die so gar nicht in das Zimmer passen wollten. Er beneidete die anderen um ihr Lachen und hasste sie zugleich. Er trieb sich immer wieder zur Arbeit an und wurde von Jahr zu Jahr einsamer. Später, auf der Universität, nahm die Einsamkeit eine neue Form an. Er sah seine Eltern und ihr Haus nicht mehr täglich; vielleicht mied er beide; aber die anderen sahen sein Elternhaus in ihm – und wieder gehörte er nicht dazu. Er erwarb seine Scheine und absolvierte seine Fleißprüfungen pünktlich, schon um sein Stipendium nicht zu gefährden; aber die Begeisterung fehlte wie die Leichtigkeit und die Sicherheit des Umgangs mit dem Gelernten. Er war verspannt, in sich zerrissen und allein. Nun hat er einen akademischen Beruf, aber der Weg nach oben hat ihm nicht den ersehnten und zugleich verachteten Zugang zu den sinnlosen Selbstverständlichkeiten einer gehobenen sozialen Existenz gebracht. Glücklich ist er nicht. Ist das der menschliche Preis der Modernität?« (Dahrendorf 1965: 131f.) In dem, was sich hier liest wie eine dieser leichtfüßigen Passagen aus einem Roman Thomas Manns, kann ich mich nur in wenigen Facetten wiedererkennen. Wenn Nachbarskinder bei uns zu Hause Fußball spielten, war ich immer dabei. Ich wurde auch nicht von Jahr zu Jahr

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einsamer, sondern im Gegenteil eher geselliger. Aber das Empfinden des Aufsteigers, nicht wirklich dazuzugehören, sich selbst im ›Ankunftsmilieu‹ nicht recht wohlfühlen zu können, das war mir immer vertraut, auch wenn ich nie Anzeichen wirklicher Diskriminierung spürte. In der Mensa, wo die Kommilitonen nicht heftig genug die Vorund Nachteile ihrer Dozierenden beschwatzen konnten, aber auch in den Fluren der Institutsgebäude und später in meinem eigenen Büro hielt ich mich nur auf, wenn es unbedingt nötig war. Karl Marx hat einmal davon gesprochen, der Prolet f liehe seine Arbeit »wie die Pest«. So weit habe ich es nie kommen lassen, aber so richtig wohl gefühlt habe ich mich in den heiligen Hallen der Wissenschaft selten. Meine Bücher habe ich zu Hause geschrieben und mit den von mir als Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung betreuten Studierenden traf ich mich am liebsten in der Kneipe. Einmal besuchte ich einen Soziologentag mit seiner allgegenwärtigen Geschwätzigkeit. Mehr Auswärtsspiel ging eigentlich gar nicht. Als Mitglied verschiedener Expertenkommissionen habe ich mein kulturelles Kapital leidlich zu mehren verstanden, aber wenn die Herren Professoren dann in lockerer Runde den Tag ausklingen ließen, beschlich mich regelmäßig Unwohlsein. Undeutliche Bilder steigen aus der Erinnerung hoch: Ich lausche lebhaften Gesprächen, die um Segeltörns kreisen. Tipps über empfehlenswerte Anbaugebiete von Wein in mediterranen Regionen werden ausgetauscht, und selbst wenn dem Rätsel nachgeforscht wird, warum Eintracht Frankfurt trotz manchen Trainerwechsels über Jahrzehnte hinweg einen ›gepf legten Fußball‹ spielt, schwingt eine ästhetisierende Attitüde mit (O-Ton: »Könnt ihr euch noch an die herrlichen Pässe von Iztvan Sztani erinnern?«). Manchmal wollte es mir scheinen, dass sich vor allem die ›linken‹ Professoren bei diesen Gelegenheiten besonders hervortaten. Wenn dann der verschwitzte Kellner dazwischentrat, die unvermeidliche italienische Vorspeisenplatte abräumend, um in die Runde zu fragen: »Noch einen Roten oder noch einen Weißen?«, wie sehr musste ich mich da zu einem entschlossenen »Für mich bitte ein Pils« durchringen? Wer von den niedrigeren Rängen des Gesellschaftsgefüges in die akademische Welt emporblickt, dem bleibt häufig verborgen, wie hierarchisch zerklüftet auch dieses Feld bei genauerer Betrachtung ist. Professor ist ja nicht gleich Professor. Wen es beständig weiter nach oben drängt, weil er das womöglich seiner Familie schuldig zu sein glaubt oder von unbändiger Ruhmsucht getrieben ist, gibt sich mit den

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niedrigeren Rängen im universitären Olymp kaum zufrieden. Nur wer regelmäßig in renommierten Fachzeitschriften publiziert, sich in die Organisationsspitzen seiner Hochschule vorschiebt oder durch besondere Auszeichnungen und Ehrenämter von sich reden macht, erklimmt herausgehobene Ränge, von denen aus selbst noch das akademische Fußvolk weit entfernt erscheint (vgl. Bourdieu 1988: 204). Mein eigener Aufstiegsehrgeiz erlahmte mit dem Erreichen einer mittelmäßig besoldeten Hochschullehrerstelle weitgehend. Für die Langstrecke oder gar den Marathonlauf fühlte ich mich weder geeignet noch geschaffen. Mir reichte die akademische Mittelstrecke, konterkariert durch langjährige arbeitnehmerorientierte Forschung und gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Das war manchmal schon recht mühsam genug. Ich ersparte mir dadurch jenen Riss im Kopf, der Dahrendorfs ›Stipendien-Junge‹ verunstaltete. Rückblende. Am 25.11.2017, eine Woche nach meinem 75. Geburtstag, hämmerte Naldo um 17.20 Uhr, in der 94. Minute des Bundesligaspiels im Signal Iduna Park, einen wuchtigen Kopf ball in das Tor der Schwarzgelben zum Endstand von 4:4. Zur Halbzeit hatten die Hausherren noch mit 4:0 nahezu uneinholbar gegen die Königsblauen in Führung gelegen. Mein glückseliger Kumpel neben mir auf dem heimischen Sofa vor dem Fernseher seufzte auf: »Das ist ja fast so schön wie der Gewinn der Deutschen Meisterschaft. Und das bei einem Auswärtsspiel!« Wer hätte ihm da widersprechen wollen?

Literatur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1988): Homo Academicus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ciftci, Ridvan/Heidemann, Karl-Gustav/Schrammen, Wilfried (Hg.) (2018): Gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft. Schlaglichter aus 150 Jahren sozialdemokratischer Geschichte in Bielefeld, Bielefeld: Gieselmann Druck. Dahrendorf, Ralf (1965): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper. Frohwieser, Dana/Kühne, Mike/Lenz, Karl/Wolter, Andrea (2009): Die etwas andere Bildungselite. Eine empirische Untersuchung zur ge-

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werkschaftlichen Studienförderung, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag. Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Auf begehren in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp. Prott, Jürgen (1975): Industriearbeit bei betrieblichen Umstrukturierungen, Köln: Bund-Verlag. Prott, Jürgen (1976): Bewusstsein von Journalisten. Standesdenken oder gewerkschaftliche Orientierung?, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Prott, Jürgen (2002): »Gewerkschaftssekretär als Beruf. Beruf liche Perspektiven von Stipendiatinnen und Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung im Kontext von Studium und sozialer Herkunft«, in: Hans-Böckler-Stiftung (Arbeitspapier 56), Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Prott, Jürgen (2018): Aufstieg und Identität. Erinnerungen und soziologische Ref lexionen. Band 1 Heranwachsen in Bielefeld, Berlin: K.M. Scheriau. Prott, Jürgen (2018): Aufstieg und Identität. Erinnerungen und soziologische Ref lexionen. Band 2 Erwachsen in Hamburg, Berlin: K.M. Scheriau. Prott, Jürgen (2019): Solidarität in zerbrechlicher Gesellschaft. Soziale Schichtung und Mobilität in Deutschland, Augsburg/München: Rainer Hampp Verlag. Wehler, Hans-Ulrich (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 19491990. Band 5, München: C.H. Beck Verlag.

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Rosa Maria Puca wurde 1966 in Remscheid (NRW) geboren. Ihre Mutter war Hilfsarbeiterin, ihr Vater Schlosser. Sowohl ihr älterer Bruder (*1964 †2004) als auch ihr jüngerer Bruder (*1978 †2007) waren arbeitslos und ohne Schulabschluss und Beruf. Puca ist verheiratet, keine Kinder. Sie ist Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität Osnabrück. Themenschwerpunkte ihrer Arbeiten sind: Motivation, Emotion, Lernen.

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1. Das Elternhaus intelligent und ungebildet, das soziale Umfeld asozial und kriminell Die Frage nach der Beschreibung meines Herkunftsmilieus lässt sich einfach beantworten: Meine Eltern waren intelligent und ungebildet. Als Psychologin habe ich bereits im Grundstudium gelernt, dass Intelligenz und Bildung zwei voneinander unabhängige Konstrukte sind. Sie schließen einander nicht aus. Deshalb wäre der Titel ›intelligent aber ungebildet‹ hier nicht zutreffend. Mein Vater hat mit zehn Jahren die Schule verlassen, um im Gastgewerbe seiner Eltern mitzuarbeiten. Die Pf lichtschulzeit endete damals in Italien nach der vierten Klasse, und eine höhere Schulbildung war weder für ihn noch für eines seiner sechs Geschwister vorgesehen. Entschlossen einer finsteren Zukunft zu entgehen, folgte er 1961 als 18-jähriger dem Ruf der Bundesregierung, in Deutschland als Gastarbeiter zu arbeiten. Als ehemaliger Bäcker und Konditor hat er sich schnell in seine neue Tätigkeit als Schlosser eingefunden und ist schon bald als Facharbeiter eingestellt worden. Die deutsche Sprache lernte er mühelos, weshalb er von seinen Vorgesetzten häufig als Übersetzer angefragt wurde, obwohl er nie richtig schreiben gelernt hat. Wegen seiner Eloquenz und der für Neapolitaner typischen Kommunikationsfreude ist er von seinen Kollegen als Gewerkschaftsvertreter gewählt worden. Meine Mutter, in Deutschland geboren und als Heimkind bzw. bei Pf legeeltern in desolaten Verhältnissen aufgewachsen, hat die Volksschule nach der siebten Klasse verlassen und verdiente nun ihren Lebensunterhalt als Fabrikarbeiterin. Meine Eltern waren seit ihrer Hochzeit mit fremdenfeindlichen Ressentiments konfrontiert. Der Versuch, ihre Einzimmerwohnung gegen eine angemessene Wohnung für ihre nun vierköpfige Familie einzutauschen, scheiterte vor allem am Widerstand alteingesessener Mieter*innen in ›besseren‹ Wohngegenden. Einmal gipfelte deren Protest in einer Unterschriftenaktion gegen den Einzug von Ausländer*innen, oder weniger freundlich ausgedrückt: »Spaghettifressern«. Eine neue Bleibe fanden wir Jahre später in einem Viertel, das man heute als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde. Es war eine Mischung aus einem Ghetto für alleinstehende italienische Gastarbeiter, einem Obdachlosenasyl und Wohnungen für Menschen, die aus verschiedenen Gründen in den sogenannten ›gehobenen‹ Gegenden nicht willkommen waren. Die ersten Kindheitsjahre, an die ich mich bewusst

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erinnern kann, habe ich in einem Umfeld verbracht, in dem dramatische Polizeieinsätze an der Tagesordnung waren. Nachbarn haben ihre Kinder im günstigsten Fall nur vernachlässigt, im schlimmsten Fall missbraucht oder schwer misshandelt. Einige Nachbarn haben im Alkoholrausch so randaliert, dass Möbel und Fenster zu Bruch gingen. Junge Frauen haben sich zum Teil am helllichten Tag und im Freien prostituiert, ohne sich auch nur im Geringsten die Mühe zu machen, dies vor uns Kindern zu verbergen. Auch wenn wir in der heutigen Terminologie der einkommensschwachen und bildungsfernen Schicht angehörten, kam es mir so vor, als hätten wir eine gehobene Stellung. Meine Eltern hatten Arbeit und haben sich, wenn sie nicht bei der Arbeit waren, um uns gekümmert. In unserer Familie gab es außer den damals wohl üblichen gelegentlichen Ohrfeigen keine Gewalt und mein um ein Jahr älterer Bruder und ich gehörten zu den wenigen Kindern in der Nachbarschaft, die in die Grundschule und nicht in die damals sogenannte ›Sonderschule‹ eingeschult wurden. Als wir gegen Ende meines dritten Schuljahres 1975 dem Umfeld aus Prostitution, Alkoholismus und Gewalt endlich den Rücken kehren konnten und in eine beschauliche Gegend in ein kleines Einfamilienhaus zur Miete gezogen sind, hat sich meine Perspektive schlagartig geändert. Soziale Vergleiche haben aus psychologischer Sicht verschiedene Funktionen. Vergleicht man sich mit jenen, die einen noch niedrigeren sozioökonomischen Status haben, kann das zu einer Erhöhung des Selbstwertgefühls führen. Stellt man soziale Aufwärtsvergleiche an, mag das selbstwertbelastend und frustrierend sein. Es kann aber auch ein Ansporn sein, z.B. seine Leistung und somit vielleicht auch seine soziale Stellung zu verbessern. In der Gegend, in der wir nun wohnten, waren die Nachbarn Lehrer*innenfamilien oder selbständige Unternehmer*innen. Ob man uns dort tatsächlich so herablassend behandelt hat, wie meine Mutter immer betonte, vermag ich bis heute nicht mit Sicherheit zu sagen. In jedem Fall haben die Aussagen meiner Mutter dazu geführt, dass ich mich in meiner neuen Schule oft minderwertig und unzulänglich gefühlt habe. Der soziale Aufwärtsvergleich war meinem Selbstwertgefühl also zunächst nicht zuträglich. An die Seite des Gefühls der Unzulänglichkeit trat in dieser Zeit auch Angst. Die Terroranschläge der RAF waren in den Medien und in Alltagsgesprächen allgegenwärtig. Wir haben nicht verstanden, was

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da passiert ist, und unsere Eltern konnten oder wollten es uns auch nicht erklären. Da wurden Menschen getötet und einige Leute sagten, die RAF habe gar nicht so Unrecht. Wir fühlten uns bedroht und die Menschen mit Maschinengewehren, die wir in unserer beschaulichen Wohngegend im Wald zu sehen geglaubt haben, sind vermutlich nur unserer Phantasie bzw. unserer Angst entsprungen. Hinzu kam, dass mein Vater nach der Scheidung meiner Eltern 1977 angefangen hat, sich in Kreisen der italienischstämmigen ›Unterwelt‹ zu bewegen. Wir wussten irgendwie, dass es nicht richtig war, wie er sein Geld verdiente, aber wir wussten nicht genau, was er tat. Obwohl er offenbar viel Geld hatte und teure Autos fahren konnte, hat er sich nach der Scheidung meiner Eltern arbeitslos gemeldet und die Unterhaltszahlung für uns verweigert. Im Jahr 1981 ist er zusammen mit meinem damals 14-jährigen Bruder untergetaucht, um sich einer Verhaftung zu entziehen, die ihm drohte, weil er in illegale Geschäfte verwickelt war. Ich wusste nur vage, wo sich die beiden auf hielten und habe den Rest meiner Kindheit und meiner Jugend ohne die moralische und finanzielle Unterstützung meines Vaters auskommen müssen.

2. Bildungsaufstieg bedeutete Hindernisse zu überwinden Auf meinem Bildungs- und Karriereweg lagen seit dem Wechsel in die gehobene Wohngegend soziale Aufwärtsvergleiche nahe. Die Nachbarskinder konnten mehr, galten mehr und lebten in stabilen Verhältnissen. Gefühle der Unzulänglichkeit waren deshalb seitdem meine ständigen Begleiter. Nach der Grundschulzeit hätte ich wie mein Bruder zur Hauptschule wechseln sollen, wollte aber stattdessen lieber die Realschule besuchen. Ich weiß nicht genau warum, vielleicht war es damals tatsächlich die Zugkraft des Aufwärtsvergleichs, die diesen Wunsch entstehen ließ. Meine Mutter lehnte meinen Wunsch mit der Begründung ab, dies sei nichts für einfache Leute und Arbeiter*innen wie uns. Ihr Credo war, dass »die da oben ohnehin erwarten, dass Putzfrauen immer nur Putzfrauen hervorbringen«. Es war, als wollte sie mir verdeutlichen, wo mein Platz in der Gesellschaft ist. Sie hat sich aber schließlich, nicht zuletzt durch Zureden meines Vaters, doch überreden lassen, mich in der Realschule anzumelden. Vermutlich sähe mein Werdegang völlig anders aus, hätte sie damals nicht nachgegeben. Mein Bruder hat die Hauptschule ohne Abschluss verlassen

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und nie einen Beruf erlernt. Bis auf einen kurzen Zeitraum war er Zeit seines Lebens arbeitslos und auf Transferleistungen angewiesen. In der Realschule habe ich deutlich gemerkt, dass ich aus einer niedrigeren sozialen Schicht kam als die meisten meiner Mitschüler*innen. Wir wohnten nach der Scheidung meiner Eltern mit dem neuen Lebensgefährten meiner Mutter und meinem 13 Jahre jüngeren Halbbruder in derart ärmlichen Verhältnissen, dass ich keine Freunde mit nach Hause bringen durfte. Unsere Möbel, die aus Fundstücken vom Sperrmüll und hölzernen Obstkisten bestanden, seien nicht präsentabel. Viele Freunde, die ich hätte einladen können, gab es ohnehin nicht. Ich verfügte über keinerlei Prestigeobjekte, die mir Zugang zu den diversen Cliquen in meiner Klasse verschaffen konnten. Weder meine Kleidung aus dem ›Fundus‹ noch mein altes Klapprad waren dazu geeignet. Der ›Fundus‹, wie meine Mutter es nannte, war eine Altkleidersammlung, die der Firma, in der sie arbeitete, zur Verwertung als Putzlappen geliefert wurde. Das hört sich schlechter an, als es war. Die Kleidung war in Ordnung und ich fand das damals auch gar nicht schlimm. Peinlich war mir hingegen, dass das Geld für unsere Klassenfahrten aus einem Schulfonds für sozial benachteiligte Kinder bezahlt werden musste. Solche Fonds sollen dazu beitragen, eine gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Ich hatte damals allerdings das Gefühl, dass mir diese Hilfsbedürftigkeit als Makel anhaftete. Meine Leistungen waren während der Realschulzeit zunächst durchschnittlich, trotz aller Widrigkeiten in der neunten und zehnten Klasse aber gut und das Lernen hat mir Freude bereitet. Deshalb entstand der Wunsch, im Anschluss das Abitur zu machen. Diese Idee ist zu Hause auf wenig Begeisterung gestoßen. Lernen wurde dort nicht als Arbeit angesehen, mein weiterer Schulbesuch erschien als eine kaum zu bewältigende finanzielle Belastung. Meine Mutter, die selbst mit 14 Jahren angefangen hat, in einer Fabrik zu arbeiten, hätte es lieber gesehen, dass ich eine Lehre mache und so zum Familieneinkommen beitragen kann. Dennoch hat sie abermals zugestimmt, mir aber – wie so oft zuvor – zu verstehen gegeben, ich solle mir nun nicht einbilden, »wie die da oben etwas Besseres zu sein«. Heute kann ich die Angst von Eltern aus bildungsfernen Schichten verstehen, ihre Kinder könnten sie intellektuell überf lügeln. Als 16-jährige hat mich die Ermahnung meiner Mut-

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ter gekränkt. Ich habe danach versucht, sie mit allem, was die Schule betraf, nicht weiter zu behelligen und habe deshalb z.B. alle Formalitäten für den Wechsel auf das Gymnasium selbständig erledigt. Mit 18 Jahren, noch vor meinem Abitur, bin ich zu Hause ausgezogen, zum einen, weil ich meiner Mutter nicht weiter finanziell zur Last fallen wollte, zum anderen aber, weil sie mir zunehmend die Betreuung meines verhaltensauffälligen vierjährigen Bruders überlassen hat. Dadurch wurde das Lernen für die anstehenden Abiturprüfungen so gut wie unmöglich. Dank des Schüler-BAföGs, diverser Nachhilfestellen und einem Gelegenheitsjob beim Stadttheater konnte ich eine kleine Wohnung mieten. Sie hatte kein Badezimmer, kein f ließend warmes Wasser und musste im Winter mit einem Kohleofen mehr recht als schlecht beheizt werden. Dafür war sie unschlagbar billig. Fortan habe ich meinen Lebensunterhalt selbst bestritten. Meine Mutter hätte mich ohnehin nicht unterstützen können und wollen. Die Gymnasialzeit hat mir viele ernüchternde aber vor allem nützliche und interessante Erkenntnisse gebracht. Es war ernüchternd so deutlich zu spüren, dass man aus einer sozialen Schicht kommt, die auf dem Gymnasium selten anzutreffen und irgendwie auch nicht unbedingt willkommen ist. Die Abwehrhaltung ging dabei weniger vom Lehrpersonal als von den Mitschüler*innen aus. Wir waren nur wenige, die den Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium gewagt hatten. Wir unterschieden uns von den anderen in vielem, aber vor allem in unserer Sprache. Unsere ungehobelte Umgangssprache nahmen die anderen zum Anlass uns auszulachen, wann immer uns das Wort erteilt wurde. Einige ›Aufsteiger‹, die mit mir gewechselt hatten, meldeten sich darauf hin immer weniger zu Wort. Nicht wenige haben deshalb auch die Schule vor dem Abitur verlassen. Ich habe das Gelächter ignoriert und mich trotzdem noch am Unterricht beteiligt. Im Nachhinein finde ich schade, dass es einige Lehrkräfte gab, die in solchen Situationen nicht rigoros durchgegriffen und das Gelächter unterbunden haben. Auf dem Gymnasium ist mir deutlich geworden, dass ich trotz eines guten Realschulabschlusses vieles noch nicht wusste und kannte. Hier habe ich vor allem Wissen besonders zu schätzen gelernt, dessen praktischer Nutzen nicht unmittelbar ersichtlich ist. Ohne dieses Wissen wäre bei mir wahrscheinlich nie der Wunsch entstanden, Hochschullehrerin zu werden. Auf dem Gymnasium ist mir eine fundierte humanistische Bildung zuteil geworden. Ich habe meine Liebe zur Li-

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teratur, vor allem zur Poesie, zur Geschichte, zur Philosophie und zur bildenden Kunst entdeckt. Ich habe eine Ahnung davon bekommen, wie Wissen unterschiedlicher Domänen ineinandergreift und dass das Leben ein fortwährender Lernprozess ist. Deshalb lag es für mich auf der Hand, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Die Erfahrung finanziell auch ohne elterliche Hilfe zurechtzukommen und vor allem das Gefühl, noch nicht genug gelernt zu haben, hat mir die Entscheidung für ein Studium leichtgemacht. Mein Wunschstudium – Industriedesign – habe ich damals leider nicht beginnen können, weil ich die Aufnahmeprüfung nicht bestanden habe. Von diesem herben Misserfolg habe ich mich aber nicht beirren lassen. Ich war fest entschlossen, die Prüfung in einem Jahr zu wiederholen. In der Zwischenzeit wollte ich ein Praktikum absolvieren, das ich mir später für das Designstudium anrechnen lassen konnte. Dieses Praktikum habe ich bei einem Künstler und Glasmaler begonnen, der faszinierende Bleiverglasungen angefertigt hat. Seine Frau arbeitete als Psychologin in einer Haftanstalt. Was sie mir in beiläufigen Gesprächen über ihren Beruf erzählt hat, fand ich derart interessant, dass ich mich kurzerhand entschlossen habe, meine Pläne für das Designstudium aufzugeben und Psychologie zu studieren. An diese Möglichkeit hatte ich zuvor nie gedacht, aber es war eine Entscheidung, die ich bis heute nicht bereut habe. Leider war der Termin zur Einschreibung zum WS 1985/86 zu diesem Zeitpunkt bereits verstrichen. Um die Wartezeit zu überbrücken und um mir ein finanzielles Polster zu verschaffen, habe ich als Hilfsarbeiterin in einer Werkzeugfabrik beinahe ein Jahr lang Schraubendreher hergestellt. Dabei konnte ich froh sein, den Job überhaupt bekommen zu haben, denn der Personalchef hielt mich mit meinem Abitur für überqualifiziert und meinte dabei vermutlich insgeheim, ich sei für so eine Arbeit nicht geeignet. Mit meiner humanistischen Bildung stand ich nun tagein, tagaus an einer Maschine und habe für einen ›Hungerlohn‹ im Grunde jeden Tag das Gleiche getan und dabei manchmal über Lyrik, Philosophie und Geschichte nachgedacht, mich aber ansonsten zu Tode gelangweilt. Ich kannte bis dahin nichts anderes als ein Leben in Armut, deshalb war für mich der Lohn, den ich bekam, geradezu luxuriös. Ich konnte sogar sparen, um mir zu Beginn meines Studiums ein Motorrad zu kaufen. Mich hat aber der Gedanke sehr betroffen gemacht, dass Kolleg*innen, die eine Familie zu ernähren hatten, auch nicht wesentlich mehr Geld verdienten. Sie kamen alle

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aus der Arbeiter*innenschicht, hatten meistens keinen Schulabschluss und keine qualifizierte Berufsausbildung. Obwohl während meines Fabrikjahrs, wie in meiner Kindheit im ›Ghetto‹, wieder soziale Abwärtsvergleiche nahelagen, habe ich diese nie angestellt. Auch wenn ich wusste, dass ich nicht bleiben würde, fühlte ich mich wie die anderen als Arbeiterin an einer Produktionsmaschine – nicht mehr und nicht weniger. Der ›Job‹ hat mir außer einem finanziellen Polster noch zwei weitere Vorteile gebracht. Zum einen hatte ich die Möglichkeit, als erfahrene Arbeiterin während meines Studiums in den Semesterferien und an Samstagen mein BAföG aufzubessern. Da meine Mutter die meiste Zeit während meines Studiums arbeitslos war, habe ich den BAföG-Höchstsatz bekommen. Nur damit allein wäre es aber selbst mir trotz meiner billigen Unterkunft schwergefallen, mein Studium zu finanzieren. Den zweiten Vorteil meines einjährigen Intermezzos in der Fabrik sehe ich bis heute darin, dass ich anders als viele andere Studierende nicht von einer Schulbank auf die nächste ›gerutscht‹ bin, sondern persönlich erfahren habe, wie es ist, ›Arbeiterin‹ zu sein. Ich glaube aber, wenn ich damals nicht klar das Ziel im Blick gehabt hätte zu studieren, hätte ich das Fabrikjahr nicht durchgehalten. Ich habe mich oft gefragt, ob mir die Arbeit wohl ohne die Bildung, die ich durch das Abitur erfahren habe, leichter gefallen wäre, bin dabei aber nie zu einem Ergebnis gekommen.

3. Vom Studium zur Professur: Psychologie war die richtige Wahl Im Oktober 1986 konnte ich endlich der Monotonie des Fabrikalltags entf liehen und mein Studium der Psychologie an der Universität Wuppertal beginnen. Ich empfinde es im Nachhinein als großes Glück, dass die Universität damals noch eine Gesamthochschule war. Der Studiengang Psychologie war zu dieser Zeit ein sogenannter integrierter Studiengang. Das bedeutete, dass man das Studium nicht nur mit Abitur, sondern auch mit Fachabitur beginnen konnte. Viele Studierende kamen demnach nicht vom Gymnasium, sondern mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung an die Universität. Zwar gab es nur wenige Mitstudierende, die einer ähnlich bildungsfernen Schicht angehörten wie ich selbst, aber die Studierendenschaft war hinsichtlich ihrer sozialen

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Herkunft insgesamt sehr heterogen. Ein derart heterogenes Umfeld bietet die Möglichkeit für alle Arten von sozialen Vergleichen, für Aufwärts-, Abwärts- und Seitwärtsvergleiche. Vergleiche hinsichtlich des sozialen Status sind allerdings für mich auf der Universität deutlich in den Hintergrund getreten, obwohl einige Mitstudierende ›aus besserem Hause‹ ihren gehobenen Status deutlich zur Schau getragen haben. Ohne absichtlich Leistungsvergleiche anzustellen, ist mir damals zum ersten Mal bewusst geworden, dass die sozial höher gestellten Studierenden nicht zwingend die besseren Leistungen erbringen. Das Studium ist mir überraschend leichtgefallen und dementsprechend gut waren meine Prüfungsresultate. Natürlich war dazu auch viel Fleißarbeit nötig. Einige Studieninhalte wie z.B. die Funktionen unterschiedlicher Hirnareale oder die verschiedenen Stadien der Entwicklung menschlicher Kognition erschließen sich einem nicht durch logisches Denken, sondern man muss sie einfach auswendig lernen. Wahrscheinlich ist es in der Psychologie nicht anders als in anderen Fächern. Man braucht ein logisches Grundgerüst, das ›Skelett‹ des Fachs, das man verstanden und verinnerlicht haben muss. Das Fleisch an die Knochen zu bringen ist dann die Fleißarbeit. Wer versucht, mit dem Fleisch statt mit dem Skelett zu beginnen, wird es vermutlich schwer haben, sich ein Gesamtbild zu verschaffen. Bereits im Grundstudium habe ich mich für wissenschaftliche Fragestellungen im Allgemeinen und für motivationspsychologische Fragestellungen im Besonderen interessiert. Ich wusste sehr bald nach Studienbeginn, dass mein Weg nicht in die Angewandte Psychologie und schon gar nicht in die Psychotherapie führen würde. Ich hatte das Gefühl, dass in der psychologischen Forschung sobald eine Frage beantwortet ist, auch schon die nächste im Raum steht. Genau das war es, was mich angesprochen hat. Was ich wollte, war Erkenntnisgewinn. Nach meinen Vordiplomsprüfungen wurden mir 1989 gleichzeitig drei verschiedene Stellen als studentische Hilfskraft angeboten. Dies hat mich in meinem Wunsch bestärkt, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben ohne genau zu wissen, was mich erwartete. Wie schwierig sich das Ganze im Verlauf gestalten sollte, habe ich damals nicht geahnt und ich hätte es im Nachhinein auch gar nicht wissen wollen. Mein Studium habe ich 1992 als Diplom-Psychologin mit Auszeichnung abgeschlossen. Das hat mich einerseits mit Stolz erfüllt, andererseits hatte es die praktische Implikation, dass mir 25 Prozent der Rückzahlung meines BAföG-Darlehens erlassen wurde.

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Von dem Professor, an dessen Lehrstuhl ich seit drei Jahren als Hilfskraft arbeitete und bei dem ich auch meine Diplomarbeit geschrieben habe, wurde mir dann eine Doktorandenstelle angeboten. Im Rahmen dieser Stelle habe ich 1996 meine Promotion abgeschlossen. Obwohl oder vielleicht gerade weil diese Leistung mit der Bestnote bewertet wurde, beschlichen mich danach wieder Zweifel – hatte ich den Doktortitel und diese Note wirklich verdient, oder war es am Ende irgendwie nur Glück gewesen? Hatte ich mir das Ganze vielleicht nur durch geschicktes Agieren erschlichen? In der Sozialpsychologie bezeichnet man dieses ›unbegründete‹ Gefühl, seine Leistung erschlichen zu haben, als ›Hochstapler-Phänomen‹. Nach der Promotion habe ich die Stelle einer wissenschaftlichen Assistentin in Tübingen angenommen. Nach mehreren Forschungsprojekten, für die ich die finanziellen Mittel selbst bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingeworben hatte, folgte im Jahr 2004 die Habilitation. Während der Promotions- und Habilitationszeit hatte ich selten den Eindruck, als spiele meine soziale Herkunft eine Rolle. Das Diplom, und somit mein erster akademischer Abschluss, hat mich ›gefühlt‹ in eine andere soziale Schicht gehoben. Niemand fragt, aus welcher sozialen Schicht eine Diplom-Psychologin kommt, die an einer Universität forscht und lehrt. Nach meiner Habilitation lief meine zeitbegrenzte Stelle in Tübingen aus. Wer nach der Habilitation nicht auf eine Professur berufen wird, läuft Gefahr ›aus dem Raster zu fallen‹ und in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leben zu müssen. Habilitierte Wissenschaftler*innen sind offenbar für Stellen in der freien Wirtschaft entweder zu teuer oder überqualifiziert oder beides, vielleicht aber nach der unausgesprochenen Ansicht der Personalverantwortlichen auch ungeeignet. Dieser Umstand hat mich sehr an die Situation erinnert, als ich mich ca. 20 Jahre zuvor mit Abitur in einer Werkzeugfabrik als Arbeiterin beworben habe. Bei meinen Bewerbungen auf diverse Professuren ist mir dann seit langem wieder deutlich geworden, dass meine soziale Herkunft sehr wohl eine Rolle spielt. Während ich mich im Rahmen der Besetzungsverfahren bei meinen wissenschaftlichen Vorträgen und den Lehrproben auf sicherem Terrain fühlte, war ich in den Gesprächen mit den Berufungskommissionen regelrecht eingeschüchtert. Heute, da ich selbst oft Mitglied solcher Berufungskommissionen bin, fallen mir zwischen den Bewerber*innen immer wieder deutliche Unterschiede in der Si-

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cherheit des Auftretens auf und ich frage mich regelmäßig, inwiefern diese Unterschiede auf die soziale Herkunft zurückzuführen sind. Meine Bewerbungen auf Professuren waren in den meisten Fällen nicht erfolgreich und deshalb habe ich, überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen, etwa fünf Jahre damit zugebracht, vakante Professuren an fünf verschiedenen Universitäten in drei verschiedenen Bundesländern zu vertreten. Nach zahlreichen Absagen hatte ich fast die Hoffnung auf eine Professur aufgegeben. Der Nachteil an dem heute üblichen wissenschaftlichen Karriereweg ist, dass es für viele Betroffenen keinen Plan B gibt, den man ernsthaft in Erwägung ziehen könnte. Als ich mich bereits darauf eingestellt hatte, mein Scheitern zu akzeptieren, kamen 2010 überraschend zwei Rufe auf Professuren in kurzem Abstand. Meine Wahl ist auf die Universität Osnabrück gefallen, an der ich seitdem forsche und in der Lehre im Wesentlichen an der Lehramtsausbildung beteiligt bin. Mein Interesse an der psychologischen Forschung ist bis heute ungebrochen und ich denke auch nach über 30 Jahren nach meiner Entscheidung für das Fach, dass sie richtig war.

4. Motoren des Bildungserfolgs: Gaspedal und Bremse Wie kann man es vom ›Arbeiterkind‹ z.B. zur Professorin schaffen? Bildungserfolg ist unabhängig von der sozialen Schicht eine Frage des Könnens, Wollens und Dürfens. Unterstützung von außen ist immer dann hilfreich, wenn eine der Komponenten fehlt. Welche das ist, ist sicher individuell ganz unterschiedlich. Bei mir hat es aus heutiger Sicht nicht am Können und auch meistens nicht am Wollen gemangelt. Ich hatte immer meine Ziele vor Augen und habe versucht, sie bestmöglich umzusetzen. Meine Fähigkeit, immer auch das Interessante in lästigen Aufgaben zu sehen und vermeintlich langweilige Themen spannend zu finden, hat meine Motivation sehr befördert. Hier konnte ich das Gaspedal sprichwörtlich durchtreten. Manchmal durfte und konnte ich aber meine Ziele nicht so umsetzen, wie ich wollte, weil aufgrund der schwierigen familiären Situation entweder die zeitlichen oder die materiellen Ressourcen fehlten. Das hat meine Bemühungen ausgebremst. Einige wenige Lehrkräfte, die um meine häusliche Situation wussten, haben großes Verständnis gezeigt und mich dadurch sehr unterstützt. Sie wussten, dass ich meine

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Hausaufgaben nicht in angemessener Form und Zeit erledigen konnte, weil ich mich um meinen jüngeren Bruder (damals ein Kleinkind) kümmern musste, während meine Mutter krank war oder Spätschicht hatte. Im letzten Fall ging sie um 13 Uhr aus dem Haus und kehrte um 22 Uhr heim. Es waren auch eben diese engagierten Lehrkräfte, die mir die Anerkennung für Erfolg und die Ermunterung bei Misserfolg entgegengebracht haben, die ich zu Hause nicht bekommen habe. Leider gab es aber auch weniger emphatische Lehrkräfte, die ihren Schützlingen bei Misserfolgen allein aufgrund des sozialen Status gleich Faulheit oder mangelnde Intelligenz attestiert haben, mich persönlich hat das in meinem Erfolgsstreben erheblich gebremst. Als Dozentin, die in der Ausbildung von Lehramtsstudierenden eine zentrale Rolle spielt, ist es mir in diesem Zusammenhang heute besonders wichtig, die angehenden Lehrer*innen für die Ursachen von Erfolg und Misserfolg im Kontext sozialer Heterogenität zu sensibilisieren. Der in Deutschland noch immer beklagenswert hohe Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Bildungschancen lässt sich nur reduzieren, wenn Lehrer*innen verstehen, welche Rolle sie in diesem Gefüge spielen. Um bei der oben genannten Metapher zu bleiben: Sie müssen lernen, wo das Gaspedal und wo die Bremse ist und wie man beides richtig betätigt. In letzter Zeit beschäftige ich mich in der Forschung zunehmend mit der Frage, welchen Einf luss der soziale Hintergrund von Kindern auf die Rückmeldung hat, die sie von Lehrpersonen nach Erfolg und Misserfolg bekommen. Dieses Thema versuche ich auch als Mitglied der Arbeitsstelle Inklusion des Zentrums für Lehrerbildung an unserer Universität in die Diskussion und in die Planung der Lehrinhalte einf ließen zu lassen.

5. Welche Chancen haben Arbeiterkinder heute an deutschen Hochschulen? Der Studienbetrieb an Hochschulen ist anonymer als der Schulbetrieb und die Interaktion zwischen Lehrkräften und Studierenden ist somit geringer als die Schüler-Lehrer-Interaktion. Deshalb ist zu erwarten, dass stereotype Erwartungen und Einschätzungen der Lehrenden die Leistungen und Chancen der Lernenden an Hochschulen weniger negativ beeinf lussen als an Schulen. Zum größten Teil kennen die Lehrenden den sozialen Status ihrer Studierenden auch gar nicht.

Putzfrau oder Professorin: Hat man die Wahl?

Da zudem gerade in Veranstaltungen mit großen Studierendenzahlen häufig Multiple-Choice-Prüfungen eingesetzt werden, ist ein Bewertungsbias durch den sozialen Hintergrund der Studierenden nahezu ausgeschlossen. Dennoch können Studierende aus nicht-akademischen Milieus bzw. aus Milieus mit niedrigeren Einkommen in vielerlei Hinsicht benachteiligt sein. Möglicherweise trauen sie sich hinsichtlich ihrer Leistung weniger zu oder sind auch weniger organisiert in der Studienplanung, weil ihnen das akademische Leben weniger vertraut ist als Studierenden aus akademischen Milieus. Dem könnte man mit entsprechenden Informationsangeboten und Tutorials seitens der Hochschulen entgegenwirken. Ein weit größeres Problem sehe ich in den finanziellen Ressourcen. Heute wie schon zu meiner Studienzeit sind Studierende vor allem benachteiligt, wenn sie keinerlei finanzielle Unterstützung durch ihre Eltern erfahren. Sie müssen häufiger neben ihrem Studium arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und ihnen bleibt deshalb weniger Zeit zum Lernen. Sie können sich wegen der notwendigen Nebentätigkeiten nicht ehrenamtlich wie in der akademischen Selbstverwaltung (z.B. Fachschaft) oder gemeinnützigen Verbänden engagieren und haben deshalb später bei möglichen Bewerbungen einen Wettbewerbsnachteil. Sie können zudem häufig kein Auslandssemester absolvieren, weil dies mit erheblichen Kosten verbunden ist, die sie nicht bewältigen können.

6. Putzfrauen bringen nicht immer Putzfrauen hervor! Meine Mutter war davon überzeugt, die Gesellschaft erwarte, soziale Schichten müssten sich selbst reproduzieren. Wer als Putzfrau geboren ist, der kann auch nur Kinder großziehen, die ihrerseits Putzfrauen werden. Mit einem Einzelfall kann man diese Hypothese natürlich nicht widerlegen. Der Einzelfall zeigt aber vielleicht Möglichkeiten auf. Es ist nicht leicht, als Hochschullehrerin über die eigene soziale Herkunft zu schreiben, vor allem, wenn sie auch moralisch nicht tadellos ist. Die Ref lexion über die eigene Herkunft lässt Erinnerungen auf leben, die nicht immer angenehm sind. Peinlich ist mir der Bericht hingegen keineswegs. Ich bin nicht Verursacherin meiner sozialen Herkunft und hoffe, durch meine Beiträge Schüler*innen und Studieren-

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den Mut zu machen, sich von ihrer sozialen Herkunft nicht bremsen zu lassen, sondern allen Widrigkeiten zum Trotz aufs Gaspedal zu treten und die ihnen auferlegten sozialen Schranken zu durchbrechen.

Herkunft versus Zukunft Pakize Schuchert-Güler

Pakize Schuchert-Güler wurde 1966 in Sorkun in der Türkei geboren. Sie hat einen 22-jährigen Sohn. Seit 2004 ist sie Professorin für Marketing, insbesondere Konsumentenverhalten, an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Mein Herkunftsmilieu würde ich als ›bescheiden‹ bezeichnen. Meine Eltern waren während meiner gesamten Kindheit voll berufstätig, obwohl es für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war, dass beide El-

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ternteile gleichberechtigt sowohl berufstätig als auch im Haushalt tätig waren. Nach dem Umzug aus der Türkei nach Deutschland wurde ich in die erste Klasse einer sogenannten »Nationalklasse« eingeschult. Die Klassengemeinschaft war durch eine sehr homogene Herkunftskultur sowie vermutlich auch ähnliche Bildungsherkunft geprägt. Für meine Eltern war es allerdings von Anfang an äußerst wichtig, dass wir nicht nur die neue Sprache möglichst schnell lernen – jeden Abend gab es ›Vokabelstunden‹ mit meinem Vater –, sondern wir sollten auch soziale Kontakte in unserem Umfeld auf bauen.

1. Früher ›Spagat zwischen den Welten‹ Daher wurde es für mich selbstverständlich, nach der Schule so oft wie möglich zu unseren Nachbar*innen zu gehen und durch die Geschichten, die sie mir erzählten, nicht nur schneller Deutsch zu lernen, sondern auch Einblick in unterschiedliche Milieus zu bekommen. Viele dieser Nachbar*innen waren sehr engagiert und so wurde ich nicht nur zu Kaffeekränzchen eingeladen, sondern auch zu der einen oder anderen kulturellen Veranstaltung mit anschließendem Restaurantbesuch. Einige Nachbar*innen konnten dabei nicht nur Geschichten aus der Kriegszeit erzählen, sondern auch aus dem schillernden Berlin der 1920er Jahre, wodurch ich nicht nur ein intergenerationales, sondern auch ein interkulturelles und intersoziales Umfeld kennenlernte. Auf diese Weise lernte ich bereits in jungen Jahren, deutliche Unterschiede zu den mir bekannten Ritualen und Verhaltensweisen zu erkennen. In dieser für uns neuen Gesellschaft war so vieles anders, angefangen von der Wohnungseinrichtung über die dort ausgestellte Literatur bis hin zum wohlgemeinten Rat, nicht zu ›Berlinern‹– dieser Dialekt schicke sich nicht! Warum? Weil es eher ungebildet wirke! – oder dem Hinweis, man rede nicht so laut beim Essen! Einige der neuen Tipps habe ich mit den Jahren verinnerlicht, andere dagegen nicht: So haben wir es in meiner Familie immer sehr genossen und genießen es auch heute noch, uns gerade beim Essen lang, intensiv und emotional auszutauschen. Neben diesen Privatpersonen hat mich aber auch eine Lehrerin in meiner »Nationalklasse« stark geprägt. Ihr persönliches Engagement und ihr innovativer Unterricht machten sie für mich zu einer ersten

Herkunft versus Zukunft

Bezugsperson, die mir im Verlauf vieler Gespräche und gemeinsamer Unternehmungen zeigte, welche unterschiedlichen Lebensmodelle es gab, und mich ermutigte, mehr vom Leben zu erwarten und alle sich mir bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Im Nachhinein würde ich diese frühen Erlebnisse als eine Art ›Spagat zwischen den Welten‹ bezeichnen. Jedoch haben mich diese Erfahrungen nicht nur geprägt, sondern mir auch das soziale Gefälle im Migrations-Deutschland plastisch vor Augen geführt. Meine Eltern versuchten in dieser Zeit, meine Schulbildung ihren Möglichkeiten entsprechend zu unterstützen. So bemühten sie sich beispielsweise nach unserem Umzug in einen Bezirk, in dem es keine »Nationalklasse« gab, meine immer noch vorhandenen Sprachdefizite durch die Finanzierung einer Nachhilfe-Lehrerin zu beheben, was in der damaligen Situation absolut nicht selbstverständlich war. Diese Nachhilfe-Lehrerin verbesserte nicht nur meine Deutschkenntnisse, sondern sie weckte auch mein Interesse am Lesen und unterstützte dieses Interesse durch einen Büchereiausweis. Es waren diese kleinen Dinge, die mir durch meine Eltern ermöglicht wurden, die mein künftiges Leben maßgeblich beeinf lussen sollten. Meine Eltern wollten, dass wir, ihre Töchter, es im Leben besser haben sollten als sie selbst und obwohl sie aufgrund ihrer Herkunft nicht mit dem deutschen Schulsystem vertraut waren, führten sie uns die Bedeutung eines ›ordentlichen Schulabschlusses‹ und einer soliden Ausbildung als Voraussetzung für ein erfülltes Leben in vielen abendlichen Gesprächen immer wieder vor Augen. Sie bestätigten damit auch die Geschichten der Nachbar*innen und die Visionen, die mir meine Grundschullehrerin vermittelt hatte. Trotz einiger Schwächen in der neuen Grundschule schaffte ich es mit eigener Initiative, auf das Gymnasium zu wechseln und das Abitur zu machen. In dieser Zeit standen mir Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Schule zur Seite, die mich nicht nur mit zusätzlicher Lektüre versorgten, sondern mich auch immer wieder motivierten, allen Hindernissen zum Trotz den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Sie halfen mir auch, Ängste und Vorbehalte meiner Eltern gegenüber dieser neuen Situation aus dem Weg zu räumen. Letztlich waren meine Eltern definitiv sehr stolz auf mich und ließen sich auf dieses, auch für sie neue Abenteuer ein.

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2. Soziale Herkunft als Schicksal? Bis zum Gymnasium hatte mich meine soziale Herkunft kaum beschäftigt. Insbesondere in der »Nationalklasse« kamen ja auch die meisten Mitschüler*innen aus Nicht-Akademiker*innen-Familien. In unserem näheren familiären Umfeld gab es zwar vereinzelt Akademiker*innen, so erzählten meine Eltern etwa von verschiedenen Verwandten, die eine Universität besucht hatten und erfolgreich national oder international tätig waren. Von Professor*innen war jedoch nie die Rede. Auf dem Gymnasium wurde mir dann allerdings bereits in der siebten Klasse die Kluft zwischen unterschiedlichen sozialen Welten deutlich gemacht. Vom ersten Tag an musste ich erkennen, dass offenbar nicht nur die geographische, sondern auch die soziale Herkunft Schicksal ist! Es war durchaus nicht dasselbe, ob ich von sozialen Unterschieden nur durch die Erzählungen unserer Nachbar*innen erfuhr, oder sie auf dem Gymnasium im Alltag zu spüren bekam. So beobachtete ich beispielsweise bei einigen Mitschüler*innen für mich unbekannte Freizeitaktivitäten, und erfuhr von Reisen, Markenartikeln, Automarken etc., zu welchen ich bis dato keinen Zugang gehabt hatte. Tröstlich war dagegen die Feststellung, dass meine Ausgangsbedingungen mir meines Erachtens verhältnismäßig früh zur Selbstständigkeit verhalfen. Meine Wahrnehmungen und Bedenken tauschte ich in dieser Zeit nicht nur im Familienkreis, sondern insbesondere auch mit einer Lehrerin, die mich während meiner gesamten Oberstufenzeit begleitete, aus. Sie war es auch, die mir nicht nur bestehende Unterschiede sehr sachlich und emotionslos erklärte, sondern mich auch immer wieder anspornte und motivierte. Aus unserer Schülerin-Lehrerin-Beziehung ist eine intensive Freundschaft entstanden, die heute noch besteht!

3. Erste Berührungen mit der Wissenschaft und Unterstützungsnetze Die Entscheidung für ein Studium stand nicht von vornherein fest. Mit einer Ausbildung wäre meine Familie auch zufrieden gewesen. Angespornt und beeinf lusst durch mein schulisches und privates Umfeld entschloss ich mich dann aber trotz einiger Zweifel doch für ein Studium. Die Entscheidung für die Fachrichtung Betriebswirtschaftslehre fiel eher spontan, da mich ein solcher Abschluss ggf. zu einer inter-

Herkunft versus Zukunft

nationalen Tätigkeit mit entsprechender Bezahlung befähigen würde. Richtig durchdacht waren beide Entscheidungen definitiv nicht, sondern sie reihten sich in eine Vielzahl von Zufällen in meinem Leben ein. Von besonderer Bedeutung für meine spätere wissenschaftliche Laufbahn war dagegen die Tatsache, dass mir eines Tages ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eine Stelle als Tutorin anbot. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein Studium hauptsächlich mit klassischen außeruniversitären Hilfstätigkeiten (z.B. Mitarbeiterin bei der Deutschen Post, Verkäuferin etc.) finanziert. Ich bewarb mich also auf eine Stelle als studentische Hilfskraft mit Lehrtätigkeiten und bekam eine Stelle an der Technischen Universität Berlin. Im Rahmen meiner Tätigkeit musste ich Unterrichtsmaterialien vorbereiten und diese mit den anderen Tutor*innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen diskutieren. Diese Erfahrungen haben mich nachhaltig geprägt, wofür ich heute noch dankbar bin. Meine Tätigkeit als studentische Hilfskraft half mir nicht nur, meine Methodenkompetenz zu erweitern, sondern auch meine Sozialkompetenz wurde durch den Umgang mit den Studierenden, die ich unterrichtet habe, geprägt. Des Weiteren gewann mein eigenes Lernverhalten durch diese Beschäftigung an Struktur und wurde ref lektierter, was sich schlussendlich in meinen Noten widerspiegelte. Daher bekam ich bereits während meiner studentischen Tätigkeit das Angebot, in einem Unternehmen als Werkstudentin zu arbeiten. Dort war ich auch nach meinem Hochschulabschluss weiterbeschäftigt. Im Rahmen meiner Aufgaben hatte ich u.a. Kontakt zu promovierten Kolleg*innen, die mich zu einer Promotion motivierten, was mir ohne eben jene Gespräche und ermutigenden Worte nicht in den Sinn gekommen wäre. Davon ermutigt entschied ich mich für eine Bewerbung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin am Institut für Marketing bei Professor Kuß. Dabei war es mein Ziel, so schnell wie möglich zu promovieren und danach wieder zurück in die Praxis zu gehen, da ich wusste, dass dort eine Promotion zu einem schnelleren Aufstieg führen würde. Meine gesamte wissenschaftliche Lauf bahn wurde durch die Zeit, in der ich zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin und später wissenschaftliche Assistentin bei Professor Kuß am Institut für Marketing war, geprägt. Ihm bin ich sowohl für die wissenschaftliche Ausbildung, als auch für die menschliche Unterstützung überaus dankbar. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mein akademischer Lehrer ein ›be-

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sonderes Händchen‹ dafür hatte, mit sozialen Unterschieden umzugehen und Menschen, denen – wie er immer sagte – »die Wissenschaft nicht in die Wiege gelegt wurde«, zu fördern. Die Sozialkompetenz von Kuß hat meines Erachtens wesentlich dazu beigetragen, mich nach der Promotion endgültig für eine wissenschaftliche Lauf bahn zu entscheiden und nicht – wie ursprünglich beabsichtigt – zurück in die freie Wirtschaft zu gehen. Er war es auch, der mich auf ein Programm zur Professionalisierung von Nachwuchswissenschaftler*innen (ProFil) aufmerksam machte und mich zu einer Bewerbung ermutigte. Im Rahmen dieses einjährigen Programms wurden Nachwuchswissenschaftler*innen auf eine Karriere an der Hochschule vorbereitet, indem neben einem Mentoring-Programm unterschiedliche Dimensionen gleichzeitig trainiert, diskutiert und schlussendlich die persönlichen Kompetenzen gestärkt wurden. Mein besonderes Interesse galt dem Mentoring-Programm des ProFils. Dabei wurde mir eine Mentorin zugeteilt, mit der ich nicht nur fachliche, sondern auch außerfachliche Themen und auch gesellschaftspolitische Fragen und meine eigene Position in diesem Gefüge diskutieren konnte. Sie war eine herzliche, ermutigende und starke Persönlichkeit, die mich nebenbei auch in verschiedene Netzwerke einführte.

4. Mein Beitrag zur Einstellungsänderung in der Gesellschaft Diese positiven Erfahrungen wollte ich auch an meine Studierenden weitergeben, was dazu führte, mich nicht nur hochschulpolitisch mit einem speziellen Mentoring-Programm, dem Cross Cultural Mentoring, an meiner Hochschule zu engagieren, sondern mich auch gesellschaftspolitisch zu betätigen. So war ich einige Jahre in einem Verein aktiv, der sich die Förderung von Schüler*innen bei der Berufswahl zur Aufgabe gemacht hatte. Insgesamt kann ich sagen, dass meine biographischen Erfahrungen definitiv auch mein Wirken als Professorin beeinf lusst haben und dies auch weiterhin tun. Wenn Studierende mich fragen, wie ich zu dem wurde, was ich heute bin, bietet sich mir in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, diese Studierenden durch Berichte von meinen eigenen Erfahrungen beispielsweise für eine studentische Tätigkeit zu motivieren, wie ich selber seinerzeit motiviert wurde. Dabei ist es ein

Herkunft versus Zukunft

schönes Gefühl zu erleben, was bereits kleine Ermutigungen bewirken können. Ich freue mich darüber, dass es bestimmte Initiativen, wie »Arbeiterkind«, oder verschiedene Mentoring-Programme zur Förderung von Chancengleichheit gibt und bin davon überzeugt, dass diese Programme für unsere Gesellschaft nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch von größter Bedeutung sind. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das Thema ›Herkunft und Diversität‹ in der Hochschullandschaft bisher hauptsächlich auf die Studierenden ausgerichtet ist, während eine Betrachtung der Vielfalt der Hochschullehrer*innen weder erwartet noch für notwendig erachtet wird. Die Gründe hierfür mögen zum einen darin bestehen, dass Vorstellungen vom Berufsbild »Professor oder Professorin« mit Stereotypen behaftet sind und kaum mit Begriffen wie »Arbeiterkind« oder »Nicht-Akademikerkind« in Verbindung gebracht werden. Zum anderen wird alles, was mit Universitäten in Bezug gesetzt werden kann und so auch diese Profession, mit einem eher elitären Status assoziiert. Die aktuellen Diskussionen, in denen es darum geht, beispielsweise mehr Frauen in die MINT-Berufe oder mehr männliche Lehrer in die Grundschulen zu holen, Mentoring-Programme für verschiedene Studierendengruppen ins Leben zu rufen etc., zeigen deutlich, dass immer wieder nur bestimmte Bereiche der Bildungswertschöpfungskette lose betrachtet und erforscht werden. Zu diesem Thema sind die Arbeiten von Dahrendorf aus den 1960ern (»Landmädchen an die Universitäten«) aktueller denn je. Selbst die Diskussion über Frauen in Führungspositionen in Deutschland ist ein Musterbeispiel dafür, wie festgefahren bestimmte Einstellungen in der Gesellschaft sind. Darüber wird jährlich durch die Allbright-Stiftung berichtet. Eine theoretische und empirische Analyse der sozialen Herkunft von Hochschullehrer*innen wäre daher im Zusammenhang mit der Analyse der Bildungswertschöpfungskette unbestritten wichtig und hilfreich. Neben den gesellschaftlichen Aspekten muss dabei aber auch die individuelle Situation der jeweiligen Professor*innen betrachtet werden. Ich selbst werde regelmäßig auf meine Bildungsherkunft, aber auch auf meine Herkunftskultur angesprochen. Ja, ich entspreche nicht dem klassischen Stereotyp einer Professorin und bin Erstakademikerin, wie dies im Diskurs bezeichnet wird. Darauf sind nicht nur meine Familie und mein näheres Umfeld, sondern nicht zuletzt ich selbst sehr stolz. Vor allem aber bin ich all jenen dankbar, die mich über die Jahre hinweg

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immer wieder motiviert und gefördert und so meine beruf liche und persönliche Entwicklung ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechend unterstützt haben. In diesem Zusammenhang ist es mir ein dringendes Bedürfnis, diese positiven Erfahrungen auch an meine Studierenden weiterzugeben. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass für eine generelle Einstellungsänderung in der Gesellschaft die Entwicklung struktureller Ansätze allein nicht ausreicht. Stattdessen müssen strukturelle Veränderungen durch das gesellschaftliche Engagement Einzelner ergänzt werden, um eine ganzheitliche Veränderung für die Gesellschaft herbeizuführen.

Von der Hauptschule an die Hochschule Ahmet Toprak

Ahmet Toprak, geboren 1970 in der Türkei, lehrt seit 2007 an der Fachhochschule Dortmund am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt »Gruppenpädagogische und therapeutische Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensstörungen, insbesondere Dissozialität«. Seine Forschungs- und Interessengebiete sind: Migration, Integration, Geschlechterforschung im Kontext der Migration. Er ist verheiratet und Vater eines zehnjährigen Sohnes. Seine Eltern haben weder eine Schule besucht noch eine Berufsausbildung abgeschlossen. Beide arbeiteten bis zum Ruhestand im Schichtdienst in Kölner Fabriken. Er hat drei Schwestern und zwei Brüder. Zwei Schwestern haben eine Lehre in der Altenpf lege absolviert und arbeiten

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Ahmet Toprak

seitdem in diesem Bereich. Die andere Schwester hat zwar Betriebswirtschaftslehre studiert, arbeitet aber als Journalistin und ist zudem Schriftstellerin. Einer der Brüder hat ebenfalls Betriebswirtschaftslehre studiert und unterrichtet in einem Berufskolleg in Köln als Lehrer Mathematik und Wirtschaft. Der zweite Bruder hat Germanistik studiert und ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften an der Universität Kocaeli in der Türkei.

1. Familie und Migration Meine Eltern gehören zu den sogenannten Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre. Mein Vater meldet sich 1967 in Ankara in einem Anwerbebüro und wird medizinisch gründlich untersucht. Es ist damals üblich, dass die Arbeitswilligen von deutschen Ärzten und Krankenschwestern in Ankara, Istanbul, Izmir etc. auf Herz und Niere gecheckt werden. Fortgeschrittenes Alter oder gesundheitliche Auffälligkeiten sind Gründe, warum viele Männer und einige wenige Frauen abgelehnt werden. Als mein Vater sich entscheidet nach Deutschland auszuwandern hat er vier eigene Kinder und zwei Söhne von seinem verunglückten Bruder zu versorgen. Mein kleiner Bruder und ich kommen erst später auf die Welt. Das Leben in einem zentralanatolischen Dorf in der Türkei ist hart. Die Familie lebt von Viehzucht und etwas Landwirtschaft. Große Sprünge sind nicht möglich. Der Winter ist so hart, dass das 150- bis 200-köpfige Dorf für mehrere Monate von der Außenwelt abgeschnitten ist. In den Häusern gibt es weder f ließendes Wasser noch Strom. Die Frauen müssen das Wasser vom Dorf brunnen holen. Gaslampen sorgen für ein wenig Licht in den langen Winternächten. Das kurdisch-alevitische Dorf im Landkreis Kayseri ist übersichtlich. Weder eine Moschee noch ein Männercafé bzw. ein Tante-Emma-Laden existieren hier. Die Moschee wird aus Prinzip und religiöser Einstellung gemieden. Männercafé und Tante-Emma-Laden rentieren sich wirtschaftlich nicht. Zum Kartenspielen und Einkaufen müssen die Bewohner*innen in die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt laufen. Autos oder Busverbindungen gibt es auch nicht. Viele im Dorf sind miteinander verwandt oder verschwägert. Alle kennen sich, alle helfen sich. Aber auch die soziale Kontrolle ist enorm. Sich im Dorf frei zu bewegen oder jemanden zu treffen, wird schnell registriert und ggf. sanktioniert.

Von der Hauptschule an die Hochschule

Um aus dieser prekären Situation zu f liehen, entscheidet sich mein Vater für Deutschland. Jedoch behauptet meine Mutter, sie habe meinen Vater gezwungen, sich als Gastarbeiter zu melden. Er kommt gar nicht erst auf die Idee selbst zu fahren, weil er bemüht ist, seine Neffen in Anwerbebüros anzumelden. Auf Druck meiner Mutter verkauft mein Vater einen Teil der Schafe und Kühe und macht sich auf den Weg nach Ankara. Er meldet sich als Gastarbeiter, wird aber nicht berücksichtigt. Nach zwei Jahren Wartezeit, im Jahre 1969, darf er nach Stadthagen (Niedersachsen) kommen, weil ihm dort eine Anstellung im Straßenbau zugewiesen wird. Von Deutschland ist er begeistert, die Menschen sind sehr freundlich. Gemessen daran, was er in seinem Dorf verdient hat, ist sein Einkommen in Deutschland hoch. In Stadthagen bleibt er aber nicht lange. Ungefähr nach einem Jahr, Anfang 1970, geht er nach Köln, um bei den Ford-Werken zu arbeiten. Hier sind viele Verwandte aus dem Herkunftsdorf. Er fühlt sich nicht alleine und einsam. Die Gastarbeiter*innen sowie auch meine Eltern wollen gar nicht so lange in Deutschland bleiben. Drei, vier Jahre arbeiten, etwas Geld verdienen, Schulden abbezahlen, wieder zurückkehren, ein Häuschen in der Türkei kaufen. Das ist der Plan vieler. Zwei Bedingungen verhindern immer wieder die Umsetzung dieser Pläne. Sie verdienen doch nicht so viel Geld, das ihnen erlaubt, sorglos in die Zukunft zu blicken. Ihre Ansprüche an die Lebensweise steigen: d.h., sie wollen z.B. mehr als Schulden abbezahlen. Um diese Pläne schneller umzusetzen, möchte mein Vater, dass meine Mutter nachkommt. Seine Argumentation: Mit zwei Gehältern lässt sich der Plan schneller umsetzen. Auch wenn er das niemals zugeben würde: Eigentlich hat er Sehnsucht nach seiner Frau. Meine Mutter lebt mit den fünf Kindern – ich bin mittlerweile geboren – und den zwei Neffen meines Vaters im Dorf. Verwandte und Bekannte unterstützen meine Mutter. Im Sommer 1970 bekommt meine Mutter von meinem Vater einen der seltenen Briefe. Im Jahre 1970 gibt es im Dorf kein Telefon. Ein Brief braucht auch mindestens zwei bis drei Wochen, um bei meiner Mutter anzukommen. Der Briefträger wedelt mit einem Umschlag in der Hand und ruft meiner Mutter zu »Gülüzar bacı, Brief für Dich, was bekomme ich für diese gute Nachricht?« Meine Mutter sagt darauf: »Wenn du mir den Brief vorliest und die Nachrichten gut sind, bekommst Du von mir ein paar frische Eier geschenkt.« Der Briefträger macht den Brief auf, liest ihn meiner Mut-

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ter vor, da sie Analphabetin ist. Auch er tut sich mit dem Lesen schwer, meine Mutter weiß nicht, ob sie alles richtig verstanden hat. Der Briefträger ist zwar kein guter Leser, aber mein Vater war auch kein guter Schreiber. Wenn sie alles richtig verstanden hat, dann soll sie ihre Kinder verlassen und nach Deutschland zu meinem Vater fahren, alleine. Der Briefträger bekommt von meiner Mutter keine frischen Eier geschenkt. Am Abend lässt sie den Brief von meiner ältesten Schwester noch einmal vorlesen. Das Ergebnis bleibt unverändert. In Begleitung von männlichen Verwandten geht sie nach Kayseri – einem Ort, der 130 Kilometer von unserem Dorf entfernt ist –, um den Papierkram für die Ausreise nach Deutschland zu erledigen. Als sie schließlich Ende des Jahres nach Deutschland ausreist, bleiben fünf Kinder zwischen zehn Monaten und elf Jahren im Dorf bei Verwandten. Meine Mutter möchte zumindest mich – den Säugling – mitnehmen, aber das Ausländergesetz ist rigide. Begründung der Behörde: Der Wohnraum ist dafür nicht geeignet. Meine älteste Schwester versorgt mich. Ein türkisches Sprichwort sagt, dass die älteste Schwester wie eine halbe Mutter ist. Ihnen wird traditionell eine sehr wichtige Versorgerrolle für die kleineren Geschwister übertragen, auch wenn die Mutter zugänglich ist. Auch meine Schwester nimmt diese Rolle wie selbstverständlich wahr. Die Andere – Zweitälteste – unterstützt sie in Erziehungs- und Versorgungsfragen nach Kräften. Das gesamte Dorf wirft ebenso ein Auge auf die Kinder. Nach dem Anwerbestopp vom 23.11.1973 reisen auch die beiden älteren Geschwister nach Deutschland aus. Drei Kinder zwischen vier und acht Jahren bleiben zurück. Abwechselnd bleiben wir bei Verwandten im Dorf oder bei Großvater und Stiefgroßmutter in der Kreisstadt. Nachdem im Jahr 1978 meine andere Schwester nach Deutschland geht, bleibe ich mit meinem Bruder bei Verwandten in einer türkischen Großstadt.

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Wie und warum ich nach Deutschland kam

In der Stadt werde ich mit acht Jahren mit Dingen konfrontiert, die ich vorher überhaupt nicht gehört hatte, und ich in dieser Phase nicht einordnen kann. Erstens: die enorme Wirtschaftskrise, die dazu führt, dass die Lebensmittel und Güter sehr knapp werden und die Menschen sogar für Brot vor Supermärkten Schlange stehen. Zweitens: Die politi-

Von der Hauptschule an die Hochschule

sche Lage ist dermaßen prekär, dass das Land in linke und rechte Lager aufgeteilt ist und die zwei Lager sich im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße bekriegen. Demonstrationen, die von der Polizei gewaltsam aufgelöst werden, Straßenschlachten zwischen den Lagern und Mordanschläge sind ganz alltäglich. Eines Abends – Silvester 1979 – sind drei Männer bei uns zu Besuch. Die Männer verstecken sich vor der Polizei, weil sie einige Wände mit linken Parolen beschmiert haben. Sie diskutieren sehr angeregt, die Inhalte kann ich nicht verstehen. Einer zückt eine Pistole und zeigt sie den anderen Männern. Er erzählt, dass die Pistole monatelang unter der Erde versteckt war. Die Männer unterhalten sich und hantieren dabei mit der Waffe. Es sieht nicht so aus, als ob sie sehr viel Erfahrung mit einer Waffe hätten. Auf einmal löst sich ein Schuss und die Kugel landet in dem Stuhl auf dem ich sitze, wenige Millimeter neben meinem Bein. Alle sind zwar schockiert, aber niemand kümmert sich um mich. Schließlich hat mich die Kugel nicht getroffen. Bei der nachfolgenden Diskussion geht es eher darum, dass die Waffe wohl nicht zu gebrauchen sei, weil sie mehrere Monate unter der Erde versteckt war. Ob dieser Schuss der Auslöser ist oder die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage, werde ich (noch) nicht erfahren. Aber am 10. Februar 1980 sitze ich in einem Flieger nach München. Was war passiert? Anfang Februar bekommen alle Schüler*innen traditionell die Halbjahreszeugnisse und zwei Wochen Ferien. Für Februar ist das Wetter in Zentralanatolien angenehm. Ich rede mit meinem Bruder während eines Spazierganges darüber, wie es eigentlich in Deutschland ist. Im Vergleich zu mir war er schon einmal für einige Wochen in Deutschland zu Besuch. Er erzählt von gut angezogenen Menschen und sauberen Straßen. Von Briefträgern, die nicht nur Briefe bringen, sondern auch freundlich grüßen. Von Supermärkten, in denen alles zu haben ist. Von sauberen Bussen und Bahnen, die pünktlich an- und abfahren. Und vor allem von Eltern, die für einen da sind. Es hört sich alles wie ein Traum an und vor allem wie auf einem anderen Stern. Da frage ich mich zum ersten Mal, warum ich in Kayseri bei Verwandten bleiben muss, wenn es den anderen in Deutschland so gut geht. Warum muss ich fernab von meinen Eltern und Geschwister bei Verwandten bleiben. Zumal ich im Jahr 1976 einen weiteren Bruder bekomme, den ich zwar mal gesehen habe, aber nicht ganz genau weiß, wie er aussieht. Nach dem Spaziergang gehe ich erschöpft ins Bett. Auf einmal schreie ich, weil mitten in der Nacht ein dunkler Mann mit schwarzem

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Schnauzbart mich an der Schulter packt. Ich denke, es sind wieder die Männer aus der linken Szene. Der Mann ist aber alleine und sagt, dass er mein Vater sei. Mein Bruder und die Verwandten bestätigen diese Aussage und beruhigen mich. Wir müssen uns ganz schnell anziehen, weil ein Taxi vor der Tür wartet. Wir haben nicht einmal die Zeit, ein paar persönliche Dinge mitzunehmen. Wenn der Mann nicht mein Vater wäre, würde ich sagen, dass diese Aktion eine Kindesentführung ist. Der Grund ist aber eher trivial. Wir müssen uns beeilen, weil wir rechtzeitig einen Bus erreichen müssen. Irgendwann in der Morgendämmerung des 10.02.1980 kommen wir dann in Köln an.

3. Warum ich auf eine Hauptschule komme und wieder in die Türkei gehe Eine Woche nach unserer Ankunft kommen mein Bruder und ich in die Hauptschule Kolkrabenweg in Köln-Vogelsang. Gefühlt ist die Schule auf der anderen Seite der Welt. Wir fahren ewig mit der U-Bahn und später mit dem Bus, der über ganz Vogelsang tingelt. Laut heutigem google maps ist die Schule zehn Kilometer von unserem Wohnort entfernt. Damals denke ich, es ist noch weiter weg. Warum wir diese Schule besuchen müssen und nicht die fußläufige Hansaring-Hauptschule meiner Schwester, verstehe ich nicht. Wir haben auch Glück. Denn die Schüler*innen haben ihre Halbjahreszeugnisse bekommen und wir können gleich mit Beginn des zweiten Halbjahres in die Schule starten. In diesem ersten Halbjahr bin ich mit meinem Bruder in der gleichen Klasse. Wir besuchen die sogenannten türkischen Vorbereitungsklassen (»Nationalklassen«), in der die einzige deutschsprechende Person unsere Klassenlehrerin ist, und sind im Gebäude auf der rechten Seite mit eigenem Pausenhof untergebracht. Das linke Gebäude mit eigenem Pausenhof ist für die Regelklassen, für Deutsche, vorgesehen. Es ist zwar nicht verboten, in der Pause in den anderen Hof zu gehen. Aber wir trauen uns trotzdem nicht, auf die andere Seite zu wechseln. Heute beschreiben die Soziolog*innen so eine Aufteilung mit dem Begriff Segregation. Im ersten Jahr wird mir auch nicht ganz klar, was die Bezeichnung »türkische Vorbereitungsklassen« bedeutet. Es gibt zu dieser Zeit in unserer Schule auch noch italienische oder griechische Vorbereitungsklassen. Werden wir auf die deutschen Regelklassen vorbereitet oder auf die Rückkehr in das Heimatland? Wenn ich die Auf-

Von der Hauptschule an die Hochschule

teilung nach Nationalitäten wahrnehme und feststelle, welche Inhalte vermittelt werden, komme ich zwangsläufig zum Ergebnis, dass wir auf die Rückkehr in die Heimat vorbereitet wurden. Ich habe mich nicht einmal in Deutschland eingefunden, schon werde ich auf die Rückkehr vorbereitet. Ich hätte mich eher gefreut, wenn ich auf Deutschland vorbereitet worden wäre. In der Schule lernen wir neben der deutschen Sprache Mathematik, Türkisch und Geschichte, aber die türkische Geschichte, nicht die Deutsche. Der Türkisch- und Geschichtsunterricht wird von einer jungen Lehrerin in Türkisch unterrichtet. Unsere deutsche Lehrerin ist sehr engagiert und bringt uns Deutsch und mathematische Grundlagen bei. Mein Bruder macht in beiden Fächern schnell Fortschritte. Im Sommer 1981 wechsele ich in die Vorbereitungsklasse für Fortgeschrittene, um einen Sommer später in die sechste Stufe der Regelklasse, also in den Schulhof der Deutschen, zu wechseln. Das Abschlusszeugnis der neunten Klasse im Jahr 1986 ist nicht schlecht, aber es rechtfertigt nicht den Besuch einer Realschule. Eine Ausbildungsstelle zu finden, die meinen Interessen entspricht, scheint schwer zu sein. Handwerkliche Berufe wie Maler, Dachdecker, Installateur etc. interessieren mich nicht. Für kaufmännische Berufe sind meine Noten nicht gut genug. Um meine Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu verbessern, möchte ich die zehnte Klasse besuchen, was in den 1980ern möglich ist. Doch dazu kommt es erst gar nicht, weil mein Vater mich im Frühjahr 1986 mit einem Vorschlag überrascht. Ford stellt im handwerklichen und kaufmännischen Bereich mehrere Auszubildende ein. Er ist der Meinung, dass ich mich bewerben soll. Ich hätte gute Chancen, weil er mit seinem Chef gesprochen habe. Inwieweit so ein Gespräch verbindlich ist, kann ich nicht einschätzen. Ich interessiere mich eher für den kaufmännischen Zweig, doch dieser Wunsch empört meinen Vater. Seiner Meinung nach ist dieser Bereich den Deutschen vorbehalten. Ausländische Kinder sollen froh sein, wenn sie überhaupt eine Ausbildungsstelle bei einer so renommierten Firma erhalten könnten. Ich solle mich als Schlosser bewerben, da hätte ich relativ gute Chancen, genommen zu werden. Das überzeugt mich überhaupt nicht, denn ich bin handwerklich unbegabt. Auch optimale Arbeitsbedingungen mit guten Verdienst- und Aufstiegschancen in einem Weltunternehmen können mich nicht locken. Die Aussicht, ein Leben lang einer Tätigkeit nachgehen zu müssen, die mir nicht zusagt, lässt mich nicht schlafen. Die Bewerbung sausen zu lassen wäre

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meinem Vater gegenüber unhöf lich, weil er sich in der Firma für mich eingesetzt hat. Also muss ein Plan her, bei dem alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können und der allen gerecht wird. Ich schlage meinem Vater vor, mein Glück in Ankara zu versuchen. Er ist jedoch der Meinung, dass ich aufgrund meiner mäßigen Hauptschulleistungen in der Türkei untergehen würde. Meine Mutter ist erst recht dagegen: Eigentlich will sie alle ihre Kinder bei sich haben, und dass ich gehen möchte, schmerzt sie besonders, weil sie mich als Säugling damals in der Türkei zurückgelassen hat. Ich drücke aber auf die Tube und bearbeite meinen Vater weiter. Ich erwähne, wie wichtig es ist, studieren zu können. In meiner Not verspreche ich, dass ich im Falle des Scheiterns in der Türkei zurückkommen werde, um Dachdecker zu werden. Dies ist in den 1980ern ein Beruf, der unter türkischen Migranten einen äußerst schlechten Ruf hat. Wer es nicht schafft, eine solide Ausbildung zu machen, muss bei Wind und Wetter auf Dächern herumklettern. Kein Argument der Welt wird meine Mutter überzeugen, deshalb muss ich meinen Vater umstimmen. Und siehe da, mit diesem Schachzug habe ich ihn: Er räumt ein, dass dieser Vorschlag einen Versuch wert ist. In den Sommerferien 1986 fahren wir wieder mit dem Bus in die Türkei – ich mit einem One-Way-Ticket. Da ich das liberale deutsche Schulsystem gewöhnt bin, ist die Umstellung in der Türkei umso schwieriger. Denn das System ist nicht nur sehr autoritär, sondern auf reines Auswendiglernen ausgerichtet. Das fällt mir in den gesamten drei Jahren des Gymnasiums sehr schwer. Das Abitur in der Türkei ist nicht das Problem. Außerdem kennt das türkische System keine Dreigliedrigkeit, wie wir es in Deutschland kennen. Wenn man jedes Jahr das Klassenziel erreicht, erwirbt man automatisch das Abitur. Die Selektion findet beim Übergang an die Universität statt: Das Abitur berechtigt lediglich zur Aufnahme an der zentralen Hochschulaufnahmeprüfung und die Durchfallquote beträgt zu meiner Zeit 82 Prozent. Ich bestehe die Prüfung, schreibe mich an der Universität Hacettepe (Ankara) für Anglistik ein und komme ein Jahr später nach Deutschland zurück, um mein Studium der Anglistik an der Universität Bonn fortzuführen. Nachdem ich in Bonn drei Semester Anglistik und Germanistik studiere, wechsele ich an die Universität Regensburg, um dort Erziehungswissenschaft zu studieren. Das Studium liegt mir so, dass ich es in sieben Semestern abschließe, vielleicht auch deshalb, weil ich durch Ankara und Bonn einige Semester ›verloren‹ habe. Direkt nach dem Studium ziehe ich nach München, um

Von der Hauptschule an die Hochschule

mit mehrfach gewalttätigen jungen Migranten Anti-Gewalt-Trainings durchzuführen. Da ich eine theoretische Ausbildung genieße und keine Praxiserfahrung habe, mache ich eine berufsbegleitende Ausbildung zum Anti-Aggressivitäts-Trainier in Frankfurt a.M.

4. »Du hast das Zeug zum Professor« Meine Ausbildung zum Anti-Aggressivitäts-Trainer beginnt im Herbst 1998. Sie besteht aus sieben jeweils dreitägigen Modulen. Dazwischen liegen zwei- bis dreimonatige Pausen, in denen die Teilnehmer*innen die gestellten Aufgaben erledigen sollen. Der Kurs beginnt in der Regel mittwochs und endet freitags. Ein Professor aus Hamburg soll uns die Methoden der Konfrontativen Pädagogik nahebringen. Wir werden lernen, wie die Konfrontationstechniken eingesetzt werden. Ich freue mich auf die praktische Arbeit und Ausbildung. Von Theorie habe ich genug und Fußnoten kann ich nicht mehr sehen. Um 13.00 Uhr sollen wir im Seminarraum sein, doch das Institut ist sehr verschachtelt und ich kann den Raum nicht finden. Auf den Gängen treffe ich eine Frau, die auch auf der Suche ist. Anscheinend haben wir das gleiche Ziel. Wir suchen zusammen weiter und kommen schließlich ein paar Minuten zu spät. Die Seminarteilnehmer*innen und der Ausbilder sitzen bereits an den Tischen. Das Seminar ist gut aufgebaut, neben vielen praktischen Elementen ist es auch theoretisch fundiert. Wir lernen nicht nur, wie wir mit den Jugendlichen arbeiten sollen, sondern erhalten durch Vorträge und Gruppenarbeiten auch Hintergrundwissen darüber, wie Jugendgewalt entsteht. Ich bin sehr interessiert und mache bei allen Einheiten motiviert mit. Am zweiten Abend lädt uns der Ausbilder zu einem Glas Wein ein. Bei den meisten bleibt es aber nicht bei einem Glas, auch nicht bei unserem Professor. Für einen Professor finde ich ihn sehr jung und locker, ganz anders als die Typen, die mir während des Studiums in Bonn und Regensburg begegnet sind. Der Abend ist schon fortgeschritten und ich möchte mich verabschieden, als er zu mir sagt: »Ahmet, ich denke, dass du promovieren solltest. Die meisten Profs an den Hochschulen sind alte Säcke. In zehn Jahren werden sehr viele Stellen frei. So einen wie dich können die Hochschulen gut gebrauchen. Du hast das Zeug dazu.« Ich bin völlig von den Socken. Warum sollte ich das Zeug zum Professor haben? Hat er nicht vor ein paar Stunden meine biographischen Daten für den heißen Stuhl aufge-

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nommen? Ich nehme an, dass er mich in angetrunkenem Zustand ›auf die Schippe‹ nimmt, nehme es nicht ernst und gehe schlafen. Auf der Rückfahrt nach München komme ich aber doch ins Grübeln. Glaubt er wirklich, dass ich Professor werden kann? Ich bin seit knapp einem Jahr mit dem Studium fertig und fühle mich immer noch als Student. Das ist doch weit außerhalb meiner Reichweite und seit wann werden Türken Professor? Ich habe bis dahin weder einen gesehen noch von einem gehört. Trotzdem beschäftigt mich dieses Thema weiter, obwohl ich mir geschworen hatte, nie wieder wissenschaftlich zu arbeiten: eben keine Fußnoten mehr. Ich rufe den Professor in Hamburg an, um zu fragen, ob seine Einschätzung ernst gemeint war. Er sagt nur: »Wie, hast du etwa mit der Promotion noch nicht angefangen?« Danach legt er auf. Ende der 1990er Jahre ist das Internet noch nicht so allgegenwärtig wie heute, aber doch sehr informativ. Ich sehe mir die berufsbiographischen Daten von Professor*innen an Fachhochschulen an und recherchiere, welche formalen Qualifikationen benötigt werden. Das Wichtigste ist in der Tat eine qualifizierte Promotion – eine Note, die ich nicht wirklich verstehe (magna cum laude), wird vorausgesetzt. Außerdem werden fünf Jahre Berufserfahrung – drei davon außerhalb der Hochschule –, Publikationen und Lehrer*innenerfahrung erwartet. Nichts davon kann ich vorweisen. Aber mit meinem Abschluss habe ich die formale Zulassung für ein Promotionsstudium. Immerhin! Trotzdem gebe ich den Gedanken zwischenzeitlich auf. Meine Trainings mit den Jungs laufen gut und mein Arbeitgeber ist hoch zufrieden mit mir. Bei meinem Vorgesetzten rege ich an, dass es besser wäre, mit einem zweiten Trainer zu arbeiten. In der Ausbildung wird dringend empfohlen, einen Kurs immer als Tandem zu leiten. Mein Chef sagt, dass wir niemanden fest einstellen können, aber eine Honorarkraft können wir uns leisten. Ich mache mich auf die Suche und finde eine junge türkeistämmige Psychologin, die gerade promoviert. Sie fängt als Honorarkraft an. Mit der Zeit werden wir Freunde und sprechen nicht nur über Beruf liches (gewalttätige Jungs, Optimierung des Trainings), sondern auch übers Promovieren. Sie rät mir, es zu versuchen, zu verlieren hätte ich schließlich nichts. Ich entscheide mich doch zu einer Promotion, mit dem Ziel an einer anwendungsorientierten Hochschule die Professur anzustreben. Am 11.09.2001 lege ich mein Rigorosum an der Universität Passau mit der Gesamtnote ›magna cum laude‹ ab. Nachdem ich auch die anderen for-

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malen Kriterien erfülle, bewerbe ich mich an deutschen Hochschulen auf die passenden offenen Stellen. Ich bin aber trotzdem nicht überzeugt davon, dass ich jemals eine Stelle bekommen werde. An manchen Hochschulen mache ich negative Erfahrungen: An einer bayerischen Hochschule wird mir hinterhergeworfen, dass ich die Stelle nicht bekommen werde, weil es an dieser Hochschule kein Migrationsbonus gebe; an einer hessischen Hochschule werde ich gefragt, ob ich in der Lage sei, wissenschaftliche Texte zu verfassen. Bis zur Berufung an der FH-Dortmund hatte ich mich nicht sehr häufig beworben, aber diese wenigen Versuche machen deutlich, dass es nicht einfach wird. Als ich bei der Berufungsverhandlung vor dem Rektor der FH-Dortmund sitze, glaube ich immer noch nicht an eine Professur. Anscheinend steht meine Biographie mir immer noch im Weg. Es muss quasi einen Haken geben, den ich auf meinen Habitus zurückführe.

5. Trotz Widrigkeiten am Ziel angekommen? Am 18. Juni 2007 sitze ich in Anwesenheit des Dekans und des Kanzlers vor dem Rektor. So viel Hochschulprominenz nur für mich – ich bin beeindruckt. Der Rektor ist ein großer, kräftiger Mann mit Schnauzbart. Ein Schnauzbart ist bei Türken seines Alters sehr verbreitet, bei Deutschen aber eine Seltenheit. Vielleicht finde ich ihn deshalb so sympathisch. Er erklärt mir das Verfahren: Der Kanzler ist anwesend, um die Finanzen zu klären, der Dekan wegen inhaltlicher Fragen in Bezug auf die Fakultät. Er liest mir vor, welche Denomination die Stelle hat. D-e-n-o-m-i-n-a-t-i-o-n bedeutet nichts anderes als die Beschreibung des Arbeitsbereichs einer Professur. Und die D-e-n-o-m-i-n-a-t-i-o-n meiner Stelle lautet »Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt gruppenpädagogische und therapeutische Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensstörungen, insbesondere Dissozialität«. Aha! Ich weiß wirklich nicht, wer sich das ausgedacht hat, tippe aber auf die Berufungskommission. Er geht akribisch das Protokoll durch, erklärt mir meine Rechten und Pf lichten. Natürlich möchte er, dass ich nach Dortmund umziehe. Das habe ich sowieso vor, deshalb stresst mich das nicht. Schließlich traue ich mich doch, zu ›verhandeln‹: »Könnten vielleicht meine Umzugskosten übernommen werden?«, frage ich vorsichtig beim Rektor nach. Der Kanzler antwortet, dass es da nichts zu verhandeln gebe, das stünde mir in jedem Fall zu. Nach dem Umzug

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soll ich die Kosten einfach mit der Hochschulverwaltung abrechnen. Ich staune nicht schlecht. Abschließend muss das Protokoll vom Rektor und mir unterschrieben werden. Das ist das rechtlich verbindliche Dokument. Der Rektor zögert bei seiner Unterschrift. Er legt den Stift weg, denkt nach, lehnt sich zurück und schaut kurz aus dem Fenster. Mein Herz rast. Er hat bestimmt etwas entdeckt, was gegen meine Berufung spricht. Dann sagt er: »Herr Toprak, mir ist ein Gedanke gekommen. Wollen Sie nicht statt am 1.9. am 1.8. anfangen? Dann haben Sie mehr Zeit, sich bei uns einzuarbeiten.« Ich atme tief durch, bedanke mich für das tolle Angebot und erkläre, dass ich meinem aktuellen Arbeitgeber versprochen hätte, alle Arbeiten sauber zu Ende zu bringen. Dieses gegebene Wort könnte ich nicht einhalten, wenn ich einen Monat früher nach Dortmund käme. Der Rektor sagt nur »Das spricht für Sie!« und unterschreibt das Protokoll. Auch ich setze meine Unterschrift unter das Dokument und alle drei anwesenden Herren gratulieren mir. Ich muss nach einigen Wochen noch einmal wiederkommen, weil die eigentliche Urkundenverleihung erst nach der amtsärztlichen Untersuchung und dem Vorliegen des polizeilichen Führungszeugnisses erfolgt. Schließlich werde ich verbeamtet. Das ist dann aber wirklich Routine. Ich bin seit dem 01.09.2007 an der gleichen Hochschule Professor für Erziehungswissenschaft mit derselben Denomination und seit dem 01.03.2014 Dekan der Fakultät.

Keine Rückkehr nach Wattenscheid Jürgen Vogt

Jürgen Vogt wurde 1958 in Bad Oeynhausen geboren und wuchs in Wattenscheid (jetzt Bochum) auf. Sein Vater war Kaufmann, seine Mutter Hausfrau. Der Bruder arbeitete nach seinem Jura-Studium als Pharmareferent. Vogt ist verheiratet. Nach dem Besuch der Paul-Gerhardt-Schule (Volksschule) und dem Märkischen Gymnasium (beides Wattenscheid) studierte er an der Universität-Gesamthochschule Essen. Vogt ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Musikpädagogik an der Universität Hamburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Musikpädagogische Bildungstheorie.

1. Meine Großeltern entstammen dem Arbeiter*innen- und Dienstbot*innenmilieu, väterlicherseits aus einem ländlichen, mütterlicherseits aus einem kleinstädtischen Umfeld. Die Eltern meiner Mutter schafften es dann, zu kleinen Gewerbetreibenden (Kolonialwaren und Milchhan-

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del) aufzusteigen; zu einem Haus haben es beide Großelternpaare mit einem gerüttelten Maß an Fleiß und Sparsamkeit gebracht. Auf einem alten Foto sehe ich, dass meine Großeltern mütterlicherseits spätestens 1934 ein Auto besaßen, das sie stolz präsentieren, während ich bezweifle, dass meine Großeltern väterlicherseits überhaupt einen Fotoapparat besaßen, geschweige denn ein Auto. Ein gewisses Stadt-Land-Gefälle ist hier jedenfalls nicht zu übersehen. Während keiner meiner Großeltern eine Berufsausbildung hatte, gingen sowohl mein Vater als auch meine Mutter zur Handelsschule. Auch mein Vater wurde nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft Einzelhändler, später (1958) dann ebenfalls mit eigenem Haus. Meine Mutter arbeitete zunächst im Kolonialwarenladen, den meine Großmutter betrieb, und blieb später Hausfrau mit zwei Kindern. Folgt man Wehler (2009: 299), so handelt es sich also um aufgestiegene Vertreter*innen des ›alten Mittelstandes‹, jedenfalls nicht um Angestellte, und definitiv nicht um Menschen, die in der Lage gewesen wären, »eine ständische Ruhelage in der Mitte zu genießen« (ebd.: 300). Das Aufstiegsmotiv blieb ebenso konstant erhalten wie die ständige Sorge um Konkurs und Inf lation. Im Folgeband von Wehlers Sozialgeschichte kommen dann ›Kleinbürger‹ übrigens nicht mehr explizit vor. Nach 1945 löst sich das Kleinbürgertum in der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky) angeblich auf (etwa als lower middle class) oder es wird durch eine gleichsam generalisierte Angestelltenschicht ersetzt. Da habe ich so meine Zweifel. Die kleinen Gewerbetreibenden meiner Familie mögen sich nicht der Bourgeoisie zugehörig gefühlt haben – das taten sie definitiv nicht –, aber ihre Mentalität war grundlegend anders als diejenige von Beamten und Angestellten (vgl. dazu auch erhellend Kocka 1977: 28ff.). Meine Eltern (und die nicht mehr berufstätigen Eltern meiner Mutter) zogen kurz nach meiner Geburt (1958) aus beruf lichen Gründen von Vlotho nach Wattenscheid (heute Bochum), wo die Prägung durch den Bergbau noch lange spürbar war. So richtig heimisch sind sie dort aber nie geworden. Nicht zuletzt hatten sie Angst, dass ich mir die ruhrgebietstypische Sprache aneignen würde: »Du willst doch kein Püttjunge werden!?« (Pütt = Zeche) Da ich nicht wusste, was ein ›Püttjunge‹ ist, schreckte mich das wenig. Die Kinder aus der Nachbarschaft sprachen ohnehin nicht so, da es sich um eine eher kleinbürgerliche Straße handelte, in der in erster Linie Beamte wohnten. Das Abgrenzungsbedürfnis war aber deutlich: Wenn man schon im ›Ruhrpott‹ wohnen musste,

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so wollte man doch mit dem typischen Bergmannsmilieu nichts zu tun haben; über ›Kumpel Anton‹, dessen ruhrdeutsche Glosse am Wochenende in der Zeitung zu lesen war, konnte man dementsprechend lachen. Es ist wohl kein Zufall, dass es die Internetseite ArbeiterKind.de gibt, aber nicht KleinbürgerKind.de: Aufgrund seiner sozialen Position, die er am liebsten verlassen möchte, wird der Kleinbürger nicht gerne zugeben, dass er im Grunde auch nicht mehr über das Studium weiß, als der Arbeiter. Das bringt ihn in eine prekäre Lage, da es keine ständischen Solidarisierungseffekte gibt. Im hohen Maße ist das ›Kleinbürgerkind‹ daher auf funktionierende Institutionen wie Schule und Universität angewiesen, die den Rahmen bilden, innerhalb dessen der soziale Aufstieg möglich ist. Das war auch bei mir der Fall, und daher war es ein großes Glück für mich, in Zeiten der Bildungsreform aufgewachsen zu sein. Beim Versuch, diese autobiographischen Notizen zu schreiben, fällt mir aber auf, durch wie viele Zufälligkeiten dieser Aufstieg geprägt war. Eine kohärente autobiographische Erzählung werde ich daher auf diesen wenigen Seiten kaum zustande bringen, allenfalls einen »soziologischen Selbstversuch« (Bourdieu 2002) en miniature. Als erstes fallen mir vor allem kleine Episoden ein, die vielleicht für das Aufwachsen von Kindern meiner Generation und Herkunft typischer sind, als mir das lange klar war. Bertelsmann Lesering, Bertelsmann Schallplattenring. Wenn man vergessen hatte, etwas zu bestellen, bekam man zwangsweise etwas Schlimmes zugeschickt, ich weiß nicht, ob als Strafe, oder als ernsthaften Vorschlag. Bildbände über die Alpen, die schönsten Operettenklänge oder etwas in dieser Richtung. Das Angebot war aber gemischt; wer suchte, konnte durchaus literarische und musikalische Klassiker finden, gelegentlich auch Zeitgenössisches. Das waren natürlich Lizenzausgaben, aber das war ja egal. Meine Eltern waren nie in einer Buchhandlung, ich nehme an, aus Unsicherheit. Als mein älterer Bruder auf das Gymnasium kam, kauften meine Eltern Klassiker, weil sie dachten, das müsse so sein: Goethe, Schiller, Shakespeare. Ich glaube nicht, dass mein Bruder jemals hineingeschaut hat; in der Schule benutzte man ohnehin nur Reclam-Ausgaben. An der Universität wurde ich dann belehrt, dass man keine Lizenzausgaben benutzt; die Bertelsmann-Klassiker habe ich dann irgendwann entsorgt. Für eine gewisse Zeit hatten meine Eltern ein Abonnement im Musiktheater im Revier, einem ambitionierten architektonischen und kulturellen Projekt in der Arbeiter*innenstadt Gelsenkirchen. Sie haben

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sich da immer mächtig in Schale geworfen, ob die anderen Opernbesucher*innen das auch taten, kann ich nicht sagen. Im Grunde hat es ihnen aber nicht gefallen, sie hätten wohl am liebsten Operetten gehört. Irgendwann gab es Alban Bergs Wozzeck und danach haben Sie das Abo nicht mehr verlängert. Meine Eltern (genauer gesagt mein Vater) kauften immer Opel. Zum Schluss war das ein weißer Admiral, ein benzinverschlingendes Schiff, in dem man saß, wie in einem Wohnzimmersessel. Das Ding war bestimmt genauso teuer wie ein Mercedes, aber der wäre für meine Eltern irgendwie unangemessen gewesen. Mein Vater hörte in einem erstaunlichen Maße so gut wie keine Musik, nur morgens Schlager oder ›volkstümliche Musik‹ im Radio. Meine Mutter und meine Großmutter hatten einen sehr ähnlichen Geschmack. Ihr Idol war Richard Tauber; später kam dann Rudolf Schock hinzu. Dass Richard Tauber und Rudolf Schock ausgewiesene Opernsänger waren, wusste ich gar nicht, denn solche Aufnahmen gab es im Plattenschrank nicht. Sie wurden in erster Linie als Operettensänger wahrgenommen (wobei man dem Léhar-Sänger Tauber immerhin ein hohes Maß an großbürgerlicher Eleganz zugestehen konnte). Im Unterschied zu meinem Vater war ihr Musikgeschmack also typisch kleinbürgerlich im Sinne Bourdieus (vgl. Bourdieu 1987: 531ff.), aber noch nicht als Geschmack des »neuen Kleinbürgertums« (ebd.: 561ff.). Ich besitze noch heute eine Plattensammlung von Bertelsmann, eine recht üppig aufgemachte Kassette mit dem Titel Schöne Stimmen. Das war eine Kompilation von allem, was damals in der Opernwelt Rang und Namen hatte, aber das wurde nie gehört. Beeindruckender und rätselhaft: Bruckners Sechste. Wie die in die Sammlung kam, weiß ich nicht. Das Radio war toll. Ich konnte als kleiner Junge daran herumdrehen und Musik der ganzen Welt hören, wenn auch mit beträchtlichem Rauschen. Magische Sendernamen, die von der großen Welt zeugten. Am geheimnisvollsten: Radio Hilversum. Dass das quasi gleich um die Ecke, in Holland war, wusste ich nicht. Mein Bruder hatte einen eigenen, tragbaren Plattenspieler. Freunde aus der Schule kamen mit frisch erschienenen Singles, z.B. Help von den Beatles, immer wieder, bis zum Abwinken. Der Text musste etwas Geheimnisvolles sein; wie banal das war, habe ich dann später erst bemerkt. Buchrücken im Bücherregal meines Bruders: Böll, Grass, Enzensberger. Mein Bruder ist 1990 verstorben; die Bücher, die er selbst lange nicht mehr las, habe ich noch immer.

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Mein Großvater mütterlicherseits spielte bei guter Laune Mundharmonika, ein typisches ›Arbeiterinstrument‹. Meine Mutter spielte als junge Frau Mandoline, auch das nicht gerade großbürgerlich. Sie wollte immer Klavier lernen, warum, das hat sie nie gesagt und ich habe nie danach gefragt, wie nach so vielem nicht. Meine Großeltern haben das aber nicht erlaubt; das war wohl extravaganter Unsinn in ihren Augen, schon gar für ein Mädchen. Irgendwann brachte mein Vater zwei Melodicas mit nach Hause, ich glaube, das waren Werbeexemplare. Mein Bruder und ich erprobten uns autodidaktisch an diesen nicht besonders gut klingenden Instrumenten; irgendwann gab er auf und ich brachte wohl einige Melodien zustande. Dies war Anlass für meine Eltern, ein Klavier anzuschaffen und mir Unterricht zu bezahlen. Mein besonderer Wunsch war das gar nicht einmal. Ich hatte noch nie ein wirkliches Klavier aus der Nähe gesehen, und kein Kind aus meiner Bekanntschaft oder Verwandtschaft hatte so ein teures Instrument bei sich zu Hause. Das war sicherlich auch Angeberei: Das Klavier als Statusmöbel. Meine Mutter hat, soweit ich weiß, nie darauf gespielt oder wenigstens ein paar Töne geklimpert. Mit einem Mini-Radio mit Kopf hörern abends im Bett bzw. unter der Bettdecke (streng verboten): gruselige Geschichte mit Musik, sehr beeindruckend. Das muss Der Freischütz gewesen sein. Sehr viel später, irgendwo spät abends im Fernsehen: Tschaikowskys Rokoko-Variationen für Cello und Orchester, ich glaube, mit Jacqueline du Pré. In einem ›klassischen Konzert‹ dieser Art war ich vorher nie gewesen. Unglaublich begeistert. Ein Schlüsselereignis ohne Tür und Schloss.

2. Mein älterer Bruder (Jg. 1949) war der erste in der Familie, der Abitur machte und studierte (Jura). Meine Eltern hatten lediglich die Volksschule, und danach die Handelsschule besucht. Dennoch war, zumindest für meinen erstaunlich aufstiegswilligen Vater, aus völlig unerfindlichen Gründen klar, dass seine Söhne studieren werden. Gleichzeitig sagten meine Eltern aber auch, dass sie uns auf dem Gymnasium nicht helfen konnten. Glücklicherweise war das auch nicht nötig, aber ein Rest an Unsicherheit blieb vielleicht. Ein bestimmtes Berufsbild hatten meine Eltern nicht vor Augen. Insofern war mein Lehramtsstudium erwartungsgemäß: ein weiter Sprung, auch aus dem

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Horizont der eigenen Familie heraus, aber kein allzu weiter. Dass ich jemals eine Professur haben würde, war jenseits aller Vorstellungen, auch meiner eigenen. Im ehemaligen Wattenscheid gab es zwei Gymnasien, eines für Mädchen und eines für Jungen. Insofern war es gar keine Frage, dass ich das Jungengymnasium besuchte – ein anderes, renommierteres Gymnasium, etwa in Bochum oder Essen, kam schon aus logistischen Gründen nicht in Frage. Die Zusammensetzung der Schülerschaft war heterogen, da es in Wattenscheid so gut wie kein ausgeprägtes Bildungsbürgertum gab. Ein paar Arzt- und Anwaltssöhne waren dabei; der Rest kam aus eher ›kleinen Verhältnissen‹ und war genauso ›bildungsfern‹ (oder ›bildungsnah‹) wie ich auch. Die wenigsten Eltern hätten bei den Latein-Hausaufgaben helfen können. Es gab natürlich schulische Anforderungen, die mit dem Alltag der Schüler nichts zu tun hatten, aber ein ausgeprägt gymnasialer Habitus wurde nicht entwickelt und auch nicht verlangt. Der Musikunterricht war ein Desaster. In den meisten Jahren fand er gar nicht statt, und wenn, so wurde er von nebenamtlichen Organisten erteilt, die über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten. Meine Mitschüler taten mir fast leid, da der Unterricht selbst für mich schon uninteressant und unergiebig war: Volkslieder, Quintenzirkel und Mozarts Reisen. Irgendwann wurde ich dazu verdonnert, eine zweistimmige Invention von Bach vorzuspielen, ohne erkennbaren Sinn, da der Lehrer/Organist dies viel besser konnte. Mir war das nahezu peinlich; meine Mitschüler schienen sich zu fragen, weshalb jemand so einen Unfug freiwillig lernen möchte, wenn es denn überhaupt freiwillig war. Vermutlich tat ich ihnen mehr Leid, als sie mir. Mir war klar, dass ich etwas studieren wollte, das war irgendwie ganz unstrittig; kaum jemand aus meinem Abiturjahrgang (1977) studierte nicht. Das Studienfach war aber ganz unklar. Das Ergebnis war ein Kompromiss: Musik und Englisch für Lehramt. Es hätte auch Deutsch und Geschichte sein können, aber die Berufsaussichten mit diesen Fächern erschienen damals düster. Mit Musik und Englisch konnte man notfalls ausscheren und irgendetwas anderes machen. Was auch immer. Einige Informationen zum Musikstudium: Spätere Musiklehrer*innen kommen überwiegend aus Familien, in denen Musik eine große Rolle spielt. Die Motivation, Musik für das Lehramt zu studieren (›Schulmusik‹), entspringt daher eher selten primär aus der positiven

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Erfahrung des eigenen Schulunterrichts. Durch die familiale Prägung wird die Entscheidung, Musik zu studieren, zumeist recht früh getroffen, früher jedenfalls als in den meisten anderen Lehramtsstudiengängen. Dies ist auch notwendig, denn ohne eine intensive Vorbereitungszeit, vor allem am Instrument, kann die übliche Aufnahmeprüfung nicht bestanden werden. Diese konzentriert sich immer noch im Wesentlichen auf den Bereich der sogenannten ›klassischen Musik‹; dazu kommen noch Prüfungsbereiche wie Musiktheorie oder Gehörbildung, auf die auch der Instrumentalunterricht in der Regel nicht vorbereitet. Mein Musikstudium war, so gesehen, recht unwahrscheinlich. Ich schrieb mich an der damals noch jungen Universität-Gesamthochschule in Essen ein, weil man dort Musik studieren konnte und in Bochum nicht. Größere geographische Sprünge machte in meinem Umfeld kaum jemand, allenfalls nach Münster oder Köln. Ich hatte Glück. Zu Beginn meines Studiums gab es keine Aufnahmeprüfung, was vermutlich einen juristischen Grund hatte. Dass es in Essen auch eine Musikhochschule gab, an der man selbstverständlich auch eine Aufnahmeprüfung absolvieren musste, wusste ich gar nicht. Vermutlich hätten mich die Anforderungen abgeschreckt, oder ich hätte mich zumindest ein Jahr lang intensiv vorbereiten müssen. An die Universität durfte jeder, der wollte – es waren ohnehin nicht viele –, wobei manchem so etwas wie Beratung sicher gutgetan hätte. Das Studium war dementsprechend ausgerichtet, vielleicht, weil man sich von der Musikhochschule abgrenzen wollte, vielleicht auch, da man wusste, dass man in manchen Bereichen wie Musiktheorie oder Gehörbildung ›bei null‹ anfangen musste. Von der Grundstruktur her entsprach das Studium aber doch dem gängigen Muster: Ohne ein ›klassisches‹ Instrument, Notenkenntnisse etc. war es nicht möglich. Ich hatte keine Probleme damit. Für das Anglistikstudium war ein Auslandssemester erwünscht, wenn auch nicht obligatorisch. Meine Eltern haben die Studiengebühren in Großbritannien anstandslos bezahlt. Dass es so etwas wie Stipendien gab, wusste ich gar nicht, und die Betreuung an der Universität war schlecht. Meine Frau, die tatsächlich aus einer Arbeiter*innenfamilie stammt, hatte ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren Existenz mir völlig unbekannt war. Dass es so etwas gibt, hatte sie in der ZEIT gelesen, die aber nicht zu ihrem elterlichen Haushalt gehörte; im Ruhrgebiet liest man ansonsten die WAZ.

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Ich nehme an, dass schon damals das Lehramtsstudium im Wesentlichen ein Instrument des sozialen Aufstiegs war, während andere Studiengänge wie Medizin oder Architektur eher die soziale Position der Eltern bestätigen und bekräftigen. Kein anderes Akademiker*innenmilieu ist sozial so ›durchmischt‹ wie das der angehenden Lehrer*innen (vgl. dazu etwa Kühne 2006: 623), was sich dann ja auch in der sozialen Zusammensetzung der Professuren niederschlägt (vgl. u.a. Möller 2015). Die enge Verbindung der Musikstudierenden zu ihrem Fach und die damit verbundene Zuordnung zu einem sozialen Milieu gab es in meinem zweiten Fach, Anglistik, nicht. Sehr viele, so jedenfalls mein Eindruck, studierten Englisch weniger aus Neigung zu Literaturwissenschaft oder Linguistik, als vielmehr aus pragmatischen Gründen. Falls es hier irgendwelche besonderen akademischen Distinktionsmechanismen gab, so sind sie mir jedenfalls nicht aufgefallen.

3. Erst während der Examenszeit merkte ich, dass mir die wissenschaftliche Arbeit Freude bereitete – ich kann nicht genau sagen, warum – und ich verbrachte den Großteil meiner Zeit in der Bibliothek, was ich während des Studiums nie getan hatte. So etwas wollte ich unbedingt weiter machen! Eine Universitätskarriere hatte ich dabei noch gar nicht im Blick. Dass hinter dem Promotionswunsch auch die Überzeugung von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden stand – ein damals beliebter Buchtitel –, will ich gar nicht leugnen: Wozu in die Schule und in einen geregelten Beruf gehen, wenn man im Grunde das Studium noch ein paar Jahre verlängern konnte? Es war aber klar, dass ich nicht in Anglistik promovieren wollte, sondern im Bereich der Musik, und hier eher in Musikpädagogik als in Musikwissenschaft. Es war allerdings damals noch unüblich, in Musikpädagogik zu promovieren. Die Professor*innen waren in der Regel ehemalige Lehrer*innen, die selbst in Musikwissenschaft promoviert waren, ohne dort jedoch reüssieren zu wollen. Ich erhielt glücklicherweise ein Stipendium für zwei Jahre – ein Hinweis meines Doktorvaters –, die ich größtenteils darauf verwendete, mir Dinge autodidaktisch anzueignen, denen ich im Studium nie begegnet war. Das Lehramtsstudium bereitete in keiner Weise auf wissenschaftliches Arbeiten vor. Die zwei

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Jahre Stipendium reichten daher nicht aus, und so kamen erst einmal Referendariat und Schuldienst, aber es war schnell klar, dass ich dies nicht weitermachen wollte. Nach Abschluss der Promotion bewarb ich mich erfolgreich auf eine Assistentenstelle in Hamburg; das Ziel war jetzt eindeutig Habilitation und Professur. Die Schule habe ich irgendwie innerlich übersprungen; sie war offenbar nie Ziel meiner zweifelsohne vorhandenen Aufstiegsambitionen. Nach einigen Vertretungsstellen landete ich dann wieder in Hamburg, diesmal als Professor. Das Gefühl der Unberechenbarkeit von Bewerbungsverfahren habe ich nie verloren; die Entscheidung zwischen Hartz IV und C4, so meine Erfahrung, hängt oft von Zufällen ab, die mit der eigenen Leistung nur wenig zu tun haben. Das Gefühl der ›unsicheren Klassenlage‹ meiner Großeltern und Eltern kann ich offenbar nur schwer abschütteln. Meine Mutter ist leider sehr früh verstorben (1985), während mein Vater (verstorben 2008) noch Promotion, Habilitation und Berufung miterlebt hat. Dass er stolz war, steht außer Zweifel, auch wenn ihm das ganze Leben des ›Homo academicus‹ fremd blieb. Geschätzt hat er wohl vor allem den Ehrgeiz und die Aufwärtsbewegung; auch eine Stellung in der Bildungsadministration, jenseits des Lehrerdaseins, hätte er goutiert. Die Liebe zur Theorie hat er sicher nicht verstanden.

4. Folgt man der sozialen Aufstiegslogik, so hätte ich mit dem Abitur sowie dem Lehrer*innenstudium und -beruf gewissermaßen mein Soll erfüllt. Ich hatte keine exotischen Berufswünsche, die ich mir aus Unsicherheit versagt hätte, so dass ›auf Lehramt‹ zu studieren einfach eine sichere Option gewesen wäre. Der Wechsel auf die ›wissenschaftliche Schiene‹ schien mir dann aber nahezu selbstverständlich zu sein, und auch das objektiv vorhandene Risiko, eventuell keine Professur zu bekommen, hat mich nicht von dieser Entscheidung abhalten können. Hier scheinen mir die Grenzen einer deterministischen Analyse zu liegen. Auch Pierre Bourdieu konnte in seinem »soziologischen Selbstversuch« (Bourdieu 2002) nicht wirklich erklären, weshalb es, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, den berühmten Pariser Professor Bourdieu überhaupt geben konnte, auch wenn er die vielfältigen Probleme, die mit seinem Aufstieg verbunden waren, nicht verschwieg. Vor allem der kleinbürgerliche Habitus ist offenbar nicht ganz und gar geschlossen,

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sondern er hat – schon aufgrund seiner spezifischen Klassenlage – viele Löcher und Sprünge. So produziert er vielleicht in seiner Fragilität manchmal seine eigene Überwindung, auch wenn man kaum prognostizieren kann, wann und warum dies geschieht. Warum hat Didier Eribon Reims verlassen, sein Bruder aber nicht? Vielleicht lag es vor allem an seiner Verliebtheit in den bildungsbürgerlichen Jungen aus seiner Schulzeit (vgl. Eribon 2017: 163ff.; dazu auch Vogt 2017). Der Freischütz unter der Bettdecke und die überraschende Liebe zur Theorie – letztlich bringen uns wohl im weitesten Sinne erotische Erfahrungen und Widerfahrnisse nicht selten ganz woanders hin, als andere und vor allem wir es von uns selbst erwartet hätten.

Literatur Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), hier: Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2002): Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eribon, Didier (2017): Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp. Kocka, Jürgen (1977): Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten. USA 1890-1940 im internationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Kühne, Stefan (2006): »Das soziale Rekrutierungsfeld der Lehrer. Empirische Befunde zur schichtspezifischen Selektivität in akademischen Berufspositionen«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9. Jg., Heft 4, S. 617-631. Möller, Christina (2015): Herkunft zählt (fast) immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren, Mannheim/Basel: Beltz Juventa. Vogt, Jürgen (2017): »Didier Eribons Rückkehr nach Reims – eine bourdieusche Biographie (mit ein wenig Musik)?«, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik (ZfKM). Siehe http://www.zf km.org/17-vogt. pdf, S. 22-34.

Keine Rückkehr nach Wattenscheid

Wehler, Ulrich (2009): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949 (2003), hier: Bonn: bpb. Wehler, Ulrich (2009a): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949-1990 (2008), hier: Bonn: bpb.

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Das UNTEN spürst du immer Klaus Weber

Prof. Dr. phil. habil. Klaus Weber wurde 1960 in Kolbermoor in Oberbayern geboren. Sein Vater arbeitete als Dachdecker und Totengräber, seine Mutter als Näherin und Hausfrau. Seine Brüder gingen den Lehrberufen Kaminkehrer und Heizungsinstallateur nach. Weber lebt getrennt und hat einen Sohn. Er ist Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München, Fakultät für Sozialwissenschaften. Seine Lehrgebiete umfassen die Themen Subjekt und Gesellschaft, Beratung und Gesprächsführung, Integration und Ausgrenzung (Hauptstudium). In seiner Forschung beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Faschismus, Subjektwissenschaft sowie Marxismus.

I so soll ich mich auf die suche machen. in die vergangenheit. angefragt bin ich als einer, der etwas ›besonderes‹ sein soll: professor, aber aus der arbeiterklasse. was ist das sonderbare, dessentwegen ich mich bis heute von den dünkelklugen, den jackettfiguren und selbstverständ-

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lichkeitsexperten sondere? was an mir lässt diese mir den rücken zudrehen, die worte überkomplex wählen, das rotweinglas bei der abendsoireé feinfingrig drehen, sodass sich mein herkunftsunten mit einer tiefen scham verbindet? bloch schreibt: jeder mag in seinem eigenen leben die kleinen uranlässe suchen; sie werden meist ebenso geringfügig, ja kurios und komisch sein. so mache ich mich auf die suche nach diesen ›uranlässen‹, welche das UNTEN in mir festfügten; und nach denen, die es infragestellten, auf brachen und zum überschreiten brachten. und bringen. tag für tag.

Duale Zahlen: Symbole des Übergangs Den Übertritt in das Gymnasium ermöglichten nicht nur meine sehr guten Noten in der vierten Klasse, sondern ein Gespräch, das Lehrer und Pfarrer mit meinen Eltern führten. Diese waren davon überzeugt, ein Realschulabschluss müsse für ein Arbeiterkind genügen. Im Gymnasium erlebte ich das, was Eribon in Bezug auf die körperliche und soziale Zurichtung schreibt: Die Anpassung an die Kultur der Schule und des Lernens erwies sich für mich als ein langer … Prozess. Die körperliche und geistige Disziplin, die sie erfordert, ist nichts Angeborenes, man benötigt Zeit und Geduld, um sie sich anzueignen … Dinge, die für andere selbstverständlich waren, musste ich mir … Tag für Tag, Monat für Monat erarbeiten. Aus vielerlei Gründen war Schule für mich – bei aller Anstrengung – eine Freude. Erst im Gymnasium in Rosenheim spürte ich den Riss zwischen meinem Leben und den Geschichten, die Mitschüler*innen über ihre Eltern, ihre Freizeit, ihre Wohn- und Spielverhältnisse zum Besten gaben: Da waren Teppiche in Wohnzimmern zu bestaunen, da musste man Schuhe vor der Haustüre ausziehen, da stand ein Klavier in einem eigens dazu bestimmten Musikzimmer; nicht aus den Bergen oder aus dem kommunalen Freibad kamen andere vom Urlaub zurück, sondern aus Rimini, Mallorca oder den USA. Und auch das Lernen selbst wurde schwer; zudem war ich mit meinem Lernmaterial alleine – Mutter wie Vater konnten mir nicht helfen, weil sie den ›Unterrichtsstoff‹ nicht verstanden, bestenfalls. Schlechtestenfalls wurde ich ausgelacht, weil ich Sachen lernen sollte, die vor allem aus der Sicht meines Vaters unpraktisch und lebensfremd waren. Beleidigungen wie ›Bleistiftspitzer‹ und ›Kopfgesteuerter‹, Behauptungen wie die, ich könne keinen Nagel in die Wand schlagen, musste ich gekränkt über mich ergehen lassen. Ich erinnere mich, wie ich mit unheimlichem Stolz aus der sechsten Klas-

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se des Gymnasiums nach Hause kam und vom Mathematikunterricht erzählte. Wir hatten an diesem Tag das Thema ›duale Zahlen‹ durchgenommen, und eigenartigerweise verstand ich die Logik dieser damals revolutionären mathematischen Neuerung. Als ich am Mittagstisch meine Mitschrift aus der Schulstunde auf blätterte, bekam ich als Reaktion auf meine ›lächerlichen‹ zwei Symbole – O und I – dumme Sprüche und ein hämisches Lachen meines Vaters zu hören. Damals schwor ich mir: »Es wird Zeiten geben, da werde ich über euch lachen. Wenn ich schon schwächer bin und nicht zurückschlagen kann, dann werde ich klug!« Doch nicht nur innerfamiliär spürte ich die Herkunft aus der Arbeiter*innenklasse am eigenen Leib und im eigenen Herzen, auch und gerade außerhalb der scheinbar schützenden Mauern des Familiendaseins musste ich erleben, dass und wie die Zugehörigkeit zu den ›Unteren‹ ihre Spuren hinterließ.

II demütigungen pf lastern meinen weg. nicht bin ich daran zerbrochen, doch alle tun sie weh, manche bis heute. die selbstverständlichkeit der bourgeoisen rede hat keinen platz, an dem ICH anwesend sein könnte. doch wer sagt, dass der platz ihnen gehört? wer sagt, dass es nicht andere, bessere plätze gibt, die zu suchen und zu finden sind – in dieser welt.

Auf das OBEN herabschauen – von UNTEN Die Diplomzeugnisse sind verteilt; wir Student*innen aus der politisch aktiven Fachschaft kommen ein letztes Mal zusammen. Ich berichte freudig über eine Stelle als freiberuf licher Psychologe, die ich beim TÜV Süd in der Fahreignungsbegutachtung bekommen habe, mit einer Bezahlung, die es mir ermöglicht, weiter in München zu leben und nebenbei zu promovieren. A., Architekten- und Hausbesitzerkind, theoretisch radikal wie wir alle, fragt: »Ist das auch politisch korrekt, was Du da arbeitest?« Die Borniertheit dieser Frage, die nur stellen kann, wer keine Ahnung davon hat, was es heißt, täglich in die Ketten des Broterwerbs gezwungen zu sein (bei Strafe von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe), ist dem Bourgeoisiekind ebenso wenig zugänglich wie das mögliche Wissen um die Kränkung, die in ihren Worten steckt. Jahre

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später, unser Kontakt beschränkt sich auf seltene Treffen und ich war soeben an die FH Frankfurt berufen, ein weiterer Schlag: »Eine Fachhochschulprofessur würde mir nicht reichen, darauf bewerbe ich mich erst gar nicht.« Heute bekleidet sie eine Universitätsprofessur – und schreibt Bücher über ›Ungleichheit‹. Annie Ernaux und Édouard Louis – beide Gewährsmenschen für Eribons Schriften – gehen davon aus, dass es eine Grenze zwischen der bürgerlichen und der Arbeiter*innenklasse gibt, habituell sowie sprachlich. Für Louis scheint sie unüberwindbar: Weil etwas über uns gekommen ist … und diese Verdikte bewirken, dass gewisse Lebensentwürfe, gewisse Erfahrungen, gewisse Träume unerreichbar sind. Ernaux dagegen erkennt, dass sie selbst das vertraute Leben verlassen kann und will, und also nicht mehr, nie mehr, zurück in die ›alte Welt‹ kann: Ich habe mich dem Willen der Welt, in der ich lebe, gefügt, einer Welt, die einen die Herkunft aus einfachen Verhältnissen vergessen machen will, als wäre sie ein Ausdruck schlechten Geschmacks. Selbst Eribon schreibt so, als gäbe es nur UNTEN und OBEN – und keinen dritten Weg: Der Zugang zur ›legitimen‹ Kultur markiert den Anfang einer aufsteigenden Bahn und somit auch des ›Klassenverrats‹, nicht merkend, dass er mit seinen Worten die Klassenverhältnisse reproduziert, anstatt sie in Frage zu stellen. Er hat keinen Begriff von Subjektivität, der einen realen Handlungsspielraum der Individuen – bei aller Gewaltförmigkeit der Verhältnisse – eröffnen würde. Der Satz: Wir sind so sehr Produkte der Ordnung der sozialen Welt, dass wir sie am Ende selbst reproduzieren, macht die Subjekte zu geformten Objekten gesellschaftlicher Wirklichkeit, ohne Alternative, sich individuell dazu verhalten zu können. Wo eine differenzierte Analyse der subjektiven Denk-, Fühlund Handlungsmöglichkeiten (bzw. deren Beschränkung) notwendig wäre, fällt Eribon in eine lamentierende Ohnmachtsposition. Es gibt aber keine ›Notwendigkeit‹, sich dem herrschenden ›kulturellen und intellektuellen Milieu‹ zu unterwerfen; was es gibt, sind Nahelegungen an die Einzelnen, sich auf gewisse Art und Weise zu verhalten, wenn sie weiterkommen, Erfolg haben wollen etc. Die möglichen Alternativen dazu, und damit auch die Entwicklung einer herrschaftskritischen Persönlichkeit, kommt bei Eribon erst gar nicht in den Blick. So ging er den Weg nach OBEN und streifte sein Kinder- und Jugendleben an der Schwelle zur bürgerlichen Wissenschaft ab. Doch wer sagt, dass es nicht andere Ein-, Zu- und Ausgänge gibt?

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III schon nicht zu wissen, wie das glas rotwein ›richtig‹ zu halten ist, macht mich klein. alle anderen scheinen es – einfach so – zu wissen.

Scham und Unscham Ernst-Bloch-Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing, Mitte der 1980er Jahre. Vorträge halten Alfred Schmidt (verstanden) und Jan Bloch (verstanden). Den Hauptvortrag hält Günter Figal, der in Heidelberg Philosophie lehrt. Ich verstehe nur Wörter, aber sie ergeben in meinem Kopf keinen Sinn. Am Abend stehen die ›Jünger‹ Figals (seine Studenten, nur Männer) im Salon der Akademie im Kreis, ihm zuhörend. Ich dränge mich dazu, unverschämt, und frage, wieso er so unverständlich spreche. Nicht nur, dass er mich nicht ansieht; nicht einmal eine Reaktion bin ich ihm wert. Er doziert weiter zu seinen Adepten: Alle halten Rotweingläser in ihren Händen. Jahre später versuche ich von Figal etwas über Heidegger zu lesen: Sobald die intuitiven Voraussetzungen eines sich dann bewährenden Wissens thematisiert werden, ermöglichen sie dieses Wissen nicht mehr bloß, sondern sie werden zu Bildern des Seienden, die vorgeben, als was das Seiende nun einzig in den Blick kommt. Wer so schreibt, liebt die Menschen nicht. Er soll in seinem ›hohen Haus‹ der Philosophie zu seinen versammelten Zuhörer*innen reden. Ich gehe zu den Menschen, zu den wirklich existirenden, thätigen Menschen.

IV wer von unten, von außen, aus der fremde kommt, erkennt die dinge klarer. er kennt sich in den verhältnissen aus und hat sie überschritten. nur so ist ihm der blick darauf möglich und also enttarnt, entschleiert und verklart er diese. des kaisers neue kleider: ein märchen zur überschreitung des seins einer sache hin zum wesen, zur wirklichkeit und wahrheit. kindern, narren gelingt diese erkenntnis; wissenschaftler*innen nur, wenn sie den dingen auf den grund gehen, zur befreiung der menschen beitragen und die welt menschlicher machen wollen: die unterscheidung zwischen einer welt des scheins und einer welt der wirklichkeit … ist die art und weise, auf die das denken ›zur sache selbst‹ kommt.

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Wissenschaft: Verständnisschranke Sommersemester 2017: Eine Studentin meldet sich und meint, sie habe mein Büchlein über Adolf Hitler (erschienen 2016) gelesen. In der ihr eigenen Sprache lobt sie meinen Schreibstil: »Das Vorwort ist ziemlich cool. Ich wollte gleich weiterlesen.« In die Stille, die darauf folgt und meiner Freude Raum gibt, ruft sie hinein: »Aber wissenschaftlich ist das nicht!?« Auf meine verwunderte Frage, wie sie das meine, entgegnet sie: »Ich habe doch alles verstanden!« Anfang 2014 habe ich beschlossen, den ›wissenschaftlichen‹ Stil des Schreibens aufzugeben und mich – anlehnend an die Diktion Ernst Blochs – als sprachlicher ›Vermittler‹ zu verstehen: zwischen den Dingen und den Menschen, die sich für die Dinge ihres Lebens (und was ist nicht mit unserem jeweiligen Leben verbunden) begeistern können. Und das ist nicht die rechte Art, Menschen zu lieben, wenn man ihnen allzu verbilligtes Wissen abgibt. Es ist nicht so, dass diese neue Sprache ›leichter‹ zu lesen und zu verstehen ist – doch sie öffnet Räume für Gedanken und kann Anstoß für notwendiges Handeln sein. Sie soll das Unmittelbare, Oberf lächliche und Pseudokonkrete, aus dem die ›Wissenschaftssprache‹ ihren Distinktionsgewinn zieht, mit dem Erkenntnisinteresse der Leser*innen vermitteln: Aufforderung zum Selber-Denken als Voraussetzung subjektiven Handelns. Diese akademische Diktion trägt nicht. Eine andere Diktion ist nötig. Keine extravagante. … Im normalen Sprechen spricht man zu jemandem, und über Dinge, die diesen Jemand betreffen, und in einem Tone, den dieser Jemand versteht. Und wer diese Normalität nicht erreicht, der wird nie etwas zu sagen haben, wie viel er vielleicht auch zu ›sagen‹ haben mag. Das Ziel, mein Ziel: Den Weltzugriff so zu schreiben, dass das Geschriebene zeigt: Du musst sowohl die Wissenschaft als auch die Welt radikal ändern; und nicht zuletzt dich selbst. Im Verändern der Verhältnisse verstehen wir auch schwierige Dinge.

V im april 2019 – während des schreibens – stirbt die mutter. seit jahren depressiv, klinikaufenthalte, psychopharmaka. ihr leben im bett statt im leben verbringend. näherin von beruf, nach drei geborenen kindern ein leben lang hausfrau. afraid of dying she never learned to live.

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Mit auf den Weg gegeben Jede Urkunde – Diplom, Doktorat, Habilitation – hängt sie an die mit Krimskrams überfüllten Wände des Hauseingangs. Sie ist stolz auf den Sohn, der es ›zu etwas gebracht‹ hat. Ihr Stolz ist unterfüttert von der Frage während meiner Habilitationszeit: »Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?« Auch eine Antwort hätte für sie nichts auf klären können. Ein einziges Mal liest sie ein Buch, das ich ihr empfehle. Der Titel: »Welche Frau wird so geliebt wie Du?« aus dem Rotbuch-Verlag. Es geht darin – wenn ich mich recht erinnere – um Befreiung aus ehelichen Verhältnissen. Meine Mutter verharrt im Unglück, sieht keinen Weg raus. Während des Studiums, ich lebe schon seit Jahren in Wohngemeinschaften, erfährt sie, dass sich meine Freundin von mir getrennt hat. Ihre hilf lose Frage: »Und wer wäscht Dir nun die Wäsche?« zeigt mir, dass ich unverstanden von ihr – auf ihre Weise – geliebt werde. Nicht nur diese nicht immer leicht zu nehmende Liebe lässt mich im UNTEN immer noch wohler fühlen als in der Welt, in der ich doch die meiste Zeit meines Lebens zu Hause bin. Auf den Weg gegeben hat sie mir die letzten Worte am Telefon, eine Woche vor ihrem schnellen Tod: »Du hast es richtig gemacht, dass Du Dein Leben lebst.« Ihr war es nicht möglich, die Enge des proletarisch-kleinbürgerlichen Rahmens zu sprengen; so passte sie sich täglich ein in die Lebensformen der Kleinstadt, die weitgehend andere bestimmten.

Literatur Alles kann aufgefunden werden. Wer die Zitate (in kursiver Schrift) nachlesen will, kann das tun. Die absichtlich ›unwissenschaftliche‹ Zitierweise soll den Bruch zum Ausdruck bringen, der zwischen uns – der Institution Wissenschaft und mir – besteht; in den Worten Roland Barthesʼ: Die Quellen … sind nicht die der Autorität, sondern die der Freundschaft: ich berufe mich nicht auf Garantien, ich gedenke, mit einer Art im Vorbeigehen erstatteten Grußes, lediglich dessen, was verführt, was überzeugt, was einen Augenblick lang die Wollust des Verstehens (des Verstandenwerdens?) geschenkt hat.

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Literatur Bloch, Ernst (1988): Spuren, GA Bd.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 38. Eribon, Didier (2015): Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp, S. 15859. Louis, Édouard (2019): Wer hat meinen Vater umgebracht, Frankfurt a.M.: Fi­scher, S. 31. Ernaux, Annie (2019): Der Platz, Berlin: Suhrkamp, S. 61. Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil, Berlin: Suhrkamp, S.  63, 123. Figal, Günter (1988): Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M.: Athenäum, S. 385. Marx, Karl/Engels, Friedrich (2017): Deutsche Ideologie. Manuskripte und Drucke. Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA) I/5, Berlin/Boston: de Gruy­ter, S. 25. Kosík, Karel (1967): Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Proble­matik des Menschen und der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 14-15. Bloch, Ernst (1976): Philosophische Aufsätze. Zur objektiven Phantasie. GA Bd.10, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 244. Anders, Günther (1992): Über philosophische Diktion und das Problem der Popularisierung (Göttinger Sudelblätter), Göttingen: Wallstein Ver­lag, S. 5. Midler, Bette (1979): The Rose. Barthes, Roland (2015): Fragmente einer Sprache der Liebe. Unveröffentlichte Figuren, Berlin: Suhrkamp, S. 26.

Dem weißen Kaninchen gefolgt … Andreas Wrede

Andreas Wrede kurz vor der Einschulung, 1973

Andreas Wrede wurde 1967 in Bonn geboren und ist verheiratet mit Elisabeth Kaliva, die als Referentin für Blended Learning arbeitet. Gemeinsam haben sie die beiden Kinder Sophia und Alexander. Wredes Mutter, Barbara Hansen, ist von Beruf Altenpf legerin, sein Vater, Johannes Joseph Wrede, Finanzberater. Sein Bruder Oliver Wrede ist ebenfalls Professor und Designer, seine Schwester Maike Hellerich arbeitet als Berufsschullehrerin und ist Ingenieurin der Dentaltechnologie. Wrede ist Professor für Identität und Design an der KISD – Köln International School of Design, einem Institut der TH Köln. Seine Themenschwerpunkte sind identitäts- und differenzlogische Kommunikationsprozesse von Körperschaften und Institutionen, visuelle Performativität und Rhetorik, Corporate Identity, Branding, Informationsdesign. Er ist Mitglied

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der Forschungsstelle »Echtzeit Stadt«, Schwerpunkte: Erforschung von urbanen Identitätskonstruktionen, Raumsemantiken und Zeichensystemen. Der Einfachheit halber orientiert sich der nachfolgende Text an den Leitfragen der Herausgeber*innen.

1. Wie würden Sie Ihr Herkunftsmilieu charakterisieren? Wie schauen Sie darauf zurück? Was hat Sie darüber hinaus möglicherweise in Ihrer Kindheit und Jugend geprägt (zeithistorische oder sonstige Prägungen)? Kleinbürgerlich. Pierre Bourdieu hätte meine Herkunft wohl als Kleinbürgertum mittleren Geschmacks klassifiziert. Im Sinne der heute praktizierten Zuordnung in Sinus-Milieus würde ich meine Herkunft in der bürgerlichen Mitte verorten. Der nachfolgende Rückblick ist daher auch in Form und Stil einem entsprechenden Habitus zuzuordnen, der, gepaart mit kleinbürgerlichem Unbehagen, in einem anekdotischen Schreibstil seinen Ausdruck findet. Etwas Ironie und ein wenig Polemik dienen lediglich der Kaschierung. Tatsächlich macht es einfach mehr Freude und Lust am Text, auf eine vergnügliche Art die Vergangenheit zu bemühen, den eigenen Werdegang und mögliche Prägungen zu bedenken. Die Schlussfolgerungen seien der Leser*innenschaft überlassen. Glaubt man dem Autor Roland Barthes, ist der ›Autor‹ ja ohnehin tot. Meine Mutter hat ein Abitur am ›Lyzeum für Mädchen‹ in Andernach vorzuweisen. Ihr späteres Leben bestritt sie indes, jenseits einer akademischen Karriere, als Mutter, Hausfrau, Kellnerin und in ihren späteren Jahren als Altenpf legerin. Mein Vater durchlief eine Lehre zum Versicherungskaufmann, um dann später als ›selbstständiger Finanzberater‹ tätig zu sein. Der Ort meiner Kindheit und frühen Jugend war ein kleines Dorf in der Nähe des Siebengebirges mit Namen Birlinghoven. Im ländlichen Nirgendwo zwischen den Städten Siegburg und Königswinter gelegen, war Birlinghoven anfänglich ein Bauerndorf mit nicht mal 1000 Einwohner*innen – als Kind wurde ich noch mit einer Kanne und 30 Pfennig zum Milch holen geschickt. Im Zuge der Gebietsreformen der 1970er Jahre wurde das Örtchen zu einem Teil der Stadt Sankt Augus-

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tin, die heute mit 57.000 Einwohner*innen die zweitgrößte Stadt des Rhein-Sieg-Kreises bildet. Dabei handelt es sich im Grunde um eine schwer überschaubare Ansammlung von Wohnsiedlungen und Gewerbegebieten, die weder einen städtischen Kern noch andere historische oder kulturelle Besonderheiten, aber immerhin ein großes Einkaufszentrum und mittlerweile sogar eine Hochschule vorzuweisen hat. Dem Wachstum dieses ›Siedlungsbreis‹ konnte ich – zunächst vom Fahrrad, dann vom frisierten Mofa aus – wie im Zeitraffer zusehen. Immer neue Häuser wurden aus dem Boden gestampft, um genügend Wohnraum für all die Beamt*innen und Angestellte der nahen Bundeshauptstadt Bonn sowie für die Arbeiter*innen der neuen Gewerbegebiete zu schaffen. Mal bescheiden in Reihe für weniger Betuchte gebaut, mal als alleinstehende Einfamilienhäuser im Pseudo-Landhausstil mit Geltungsanspruch und Garten drum herum und alles zunehmend dichter. Damals hat niemand mit dem Fall der Mauer und dem Wechsel der Hauptstadt gerechnet. Berlin war in meiner Jugend eine Insel in der DDR mit Zwangsumtausch und billigem Karl Marx – Das Kapital in drei blauen Bänden steht noch heute in meinem Bücherschrank. Berlin war der Geburtsort meiner Mutter, Ton Steine Scherben, bestenfalls David Bowie und, weil weit weg, Zuf luchtsort für Kriegsdienst-Verweigerer, die nach Oberstufe und Abitur dem damals noch strengen Wehrdienst-Verweigerungsverfahren und dem Kreiswehrersatzamt zu entgehen suchten – »Ihr kriegt uns hier nicht raus …« (Rio Reiser. Rauch-Haus-Song). Doch zurück zu meinem Heimatort: Schaut man aus heutiger Sicht auf Sankt Augustin, weicht der Wunsch, die Umgebung meiner Kindheit zu verklären, eher einem Gefühl der Traurigkeit angesichts der Entwicklung, die diese suburbanen Siedlungshaufen gegenwärtig nehmen. Um mit Churchill zu sprechen: »We shape our buildings; thereafter they shape us.« Der Wald drum herum, das Siebengebirge und der Rhein dahinter gefallen mir aber nach wie vor. Möglicherweise weil ich mich, als Kölner und Stadtmensch, doch ein wenig nach dem Naturschönen sehne und als Rheinländer vom großen romantischen Strom nicht abzulassen vermag. Meine Bildungskarriere nahm ihren Anfang in einem katholischen Kindergarten im Nachbarort und führte mich im Weiteren an eine ebenso katholische Grundschule in einem anderen Nachbarort. Katholisch, weil man halt so getauft war. Kommunion und Firmung, weil

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man das halt so mitmachen sollte und die damit einhergehenden Werte auch nicht so verkehrt zu sein schienen. Der Kirchgang allerdings wurde – zu meinem Glück – unter den sonntäglichen Frühstückstisch fallen gelassen. Im Kindergarten und in der Grundschule hatte man brav zu sein, sonst gab es von der strengen, aber angeblich gerechten Lehrerin ein Ziehen am Ohr, einen Wurf mit dem Schlüsselbund oder ein Zeugnis mit dem Vermerk »Andreas sollte lernen, sein Temperament zu zügeln«. Es gab einmalig süße Schluckimpfungen gegen bittere Kinderlähmung und jeden Tag Pausenmilch in der Schule. ›Die Milch macht’s‹ – angeblich wegen des gesunden Calciums – in Wirklichkeit aber wohl eher wegen eines EU-Programms zur Förderung der Milchwirtschaft. Der neue Westermann-Logimat-Mengenlehre-Kasten wurde angeschafft, aber bevor er seine erhoffte pädagogische Wirkung entfalten konnte, in seinen Einzelteilen verloren. Der Schulranzen roch nach Leder, Pausenbrot und frisch gedruckten Schulbüchern mit Schutzumschlag – der Geruchsinn ist nachhaltiger als man denkt. Nachdem sich meine Eltern hatten scheiden lassen, kamen die besorgten Lehrer*innen zu dem Schluss, mich zunächst einmal auf die Hauptschule zu schicken, weil das Kind ja die Scheidung der Eltern psychisch verarbeiten müsse und dafür Zeit brauche. Tatsächlich erschütterte mich die Trennung weniger als unterstellt. Damals wurden mein fünfjähriger Bruder meiner Mutter und ich, zehnjährig, meinem Vater ›zugesprochen‹. Aus heutiger Sicht ein merkwürdiges Vorgehen. In meinem damaligen Empfinden aber die Aussicht auf eine abenteuerliche Art der Männer-WG. Zu diesem Zeitpunkt setzte allerdings auch das ein, was meine schulische Jugend und meinen weiteren Bildungswerdegang nachhaltig prägen sollte – die Wünsche und Vorstellungen meines Vaters, die mir erst heute in der Rückschau richtig deutlich werden. Mein Vater hielt die Entscheidung, mich in die Hauptschule zu stecken, für falsch. Seine Unzufriedenheit und möglicherweise auch seine eigene narzisstische Kränkung lastete er indes nicht mir an oder warf sie mir gar vor, sondern schrieb sie ganz offensichtlich dem System zu. Seine Reaktion darauf war eine Art private Bildungsoffensive, die zum Ziel hatte, mich aus diesem Schlamassel zu befreien und mich der gymnasialen Schulbildung zuzuführen. Zunächst jedoch hieß es für mich: 5. Klasse Hauptschule. Tatsächlich war die Zeit an der Hauptschule alles andere als schön. Der sprachliche Umgang der Lehrer*innen mit uns Schüler*innen war wenig freundlich. Man sah in uns wohl eine wilde Horde, die es in Bann

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zu halten galt und der man darüber hinaus ein Mindestmaß an Bildung ermöglichen sollte. Der Ton unter uns Schüler*innen war rüde und Prügeleien gehörten zur Tagesordnung. Klassensprecher wurde der, der am kräftigsten zuhauen konnte. An dem Ansehen der Hauptschule hat sich seitdem wohl wenig geändert. Auch heute wird diese Schulform als Endstation im dreigliedrigen Schulsystem, als ›Verwahranstalt‹ oder ›Resterampe‹ für Jugendliche ohne beruf liche Perspektive kritisch diskutiert. Den heute dort tätigen Lehrer*innen und ihren Schüler*innen tut man hoffentlich bald den Gefallen, diese überkommene Schulform zu reformieren oder gänzlich aufzuheben. Das häusliche Bildungsprogramm meines Vaters sollte also der Fehlentscheidung entgegenwirken und war vollumfänglich. Es reichte von persönlicher Hilfe bei den Hausaufgaben und bezahlter Nachhilfe über eine eigens angestellte Haushaltskraft bis zur massiven Intervention bei den verantwortlichen Lehrer*innen. Nach einem Jahr war das Ziel erreicht. Die Noten waren sehr gut, dem Schulwechsel auf das Gymnasium mit dem vielversprechenden Namenspatron Albert Einstein stand nichts mehr im Wege. Die Förderung durch meinen Vater hörte aber damit nicht auf. Ich täte ihm Unrecht, wenn ich behaupten würde, dass er durch mich seine eigenen verpassten Bildungschancen zu realisieren suchte. Getrieben haben ihn wohl vielmehr elterliche Fürsorge und Zuwendung sowie die liberale Vorstellung, dass die Welt für seine Kinder offen und gestaltbar zu sein hätte. Aus heutiger Sicht – ich bin selbst Vater von zwei Kindern – schaue ich sehr verständnisvoll und dankbar auf seine Anstrengungen zurück. Damals indes gab es zu meinem persönlichen Leidwesen zu meinen Geburtstagen und zu Weihnachten nur noch Bildungsgeschenke: Meyers Enzyklopädie in 25 Bänden, Golo Manns Propyläen-Universal-Weltgeschichte in 10 Bänden, Mikroskop, Chemie-, Physik- und Ölmalkästen in allen Variationen und noch mehr Bücher. Sogar eine Trompete wurde angeschafft, landete aber nach erfolglosem Herumpusten dekorativ neben Golo Mann im Regal. Selbstredend wurden Bildungsreisen in Form von Inter-Rail-Tickets ebenso bezahlt wie Tennis- und Karatestunden – man sollte sich ja schließlich wehren können. Das soziale Umfeld, in dem ich mich tummelte, Freundinnen und Freunde, wurde inspiziert und bewertet. Gesteuert wurde väterlich unmerklich, aber durchaus einf lussreich. Im Gymnasium ging dann die Rechnung meines Vaters auf. Dort gab es einen Deutschlehrer mit schwarzem Rollkragen und einer star-

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ken Affinität zum französischen Existentialismus. Goethes Faust und Albert Camusʼ Der Mensch in der Revolte zählen heute noch zu meinen Favoriten. Die roten und gelesenen Taschenbücher von Albert, Simone und Jean-Paul landeten neben den blauen, aber ungelesenen Bänden von Karl und der goldenen Trompete im Regal. Meine Mitschüler*innen entsprangen, beinahe ausnahmslos und zu meines Vaters Freude, bürgerlichen und akademischen Haushalten und hatten – honni soit qui mal y pense – auch Rot und Blau im Regal. Hinzu kamen selbstredend meine enthusiastische und Reclam-gelbe Teilnahme an der Theater AG, der jährliche Rundgang in der Düsseldorfer Kunstakademie und Museumsbesuche mit dem Kunstlehrer etc. Es gab sogar ein Sprachlern-Labor – zum Glück sind Skinners Boxen und behavioristische Lernkonzepte mittlerweile weitgehend passé. Selbstverständlich belegte ich die Fächer Kunst und Biologie als Leistungskurse sowie Deutsch und Philosophie in den Nebenfächern. Nur die spätere Kifferei und Abhängerei in rot-schwarzen Szeneclubs – in Bonn gab es tatsächlich drei davon – die weltschmerzige Musikuntermalung von The Cure und Joy Division oder die Teilnahme an der großen Bonner Friedensdemo gegen den NATO-Doppelbeschluss mit Joseph Beuys und BAP auf der Bühne sowie meine Sympathie für die in Wackersdorf Steine schmeißenden Schulfreund*innen fand mein Vater dann nicht mehr so toll – »Kinder, die mit dem Reichtum ihrer Eltern nicht klarkommen« war sein, »love will tear us apart« mein Statement dazu. Aber sonst war alles prima und alles dabei, was eine gymnasiale Schulbildung und ein Abitur in den 1980ern in Nordrhein-Westfalen so fruchtbar und erfolgreich machten. Darauf folgte, ohne väterlichen Widerspruch, die Verweigerung des Wehrdienstes und ein Zivildienst im Sankt Augustiner Kinderkrankenhaus. Ich verstehe heute noch nicht, warum der sinnvolle Zivildienst gemeinsam mit dem blöden Wehrdienst abgeschafft wurde. Einer als neoliberal diagnostizierten Gesellschaft von ›Ichlingen‹, ›Superstars‹ und ›Topmodells‹ könnte eine Verpf lichtung gegenüber hilfsbedürftigen Menschen durchaus entgegenwirken. Meine Zeit im Zivildienst – immerhin 20 Monate – empfand ich trotz aller Zwänge als sinnvoll und erfüllend. Beinahe hätte mich diese Erfahrung zu einem Medizinstudium verleitet, doch blieb mir dieser Weg aufgrund eines Numerus clausus versperrt und ich den Patient*innen als Arzt erspart. So fiel die Entscheidung zugunsten eines Designstudiums.

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2. Wie sah Ihr Bildungs- und Karriereweg aus? (Schildern Sie bitte kurz die wichtigsten Stationen) Tabellarisch. 1986 Abitur 1986 Zivildienst 1989 Studium an der Fachhochschule Köln im Fachbereich Kunst/Studiengang Visuelle Kommunikation 1991 Designstudium im neu gegründeten »Kölner Modell einer neuen Designausbildung« der Fachhochschule Köln 1996 Diplom bei Prof. Heinz Bähr, Prof. Heiner Jacob und Prof. Dr. h. c. Gui Bonsiepe 2000-2010 Lehraufträge an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg und der Fachhochschule Köln 2010 Berufung als Professor an die Fakultät für Kulturwissenschaften der Fachhochschule Köln Lehrgebiet: Identität und Design 2012-2018 Stellvertretender Direktor der Köln International School of Design seit 2016 Mitglied des Senats der TH Köln 2019 Gründung der Forschungsstelle: »Echtzeit Stadt« gemeinsam mit Prof. Dr. Carolin Höf ler und Prof. Philipp Heidkamp seit 1996 Selbstständigkeit und Gründung eines eigenen Büros: causa formalis – gesellschaft für kommunikationsdesign Darin dann Gestaltungs- und Beratungstätigkeit im Bereich Corporate Identity/Design, Unternehmenskommunikation und Branding u.a. für FEI Weltreiterspiele Aachen, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Hochschulrektorenkonferenz, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, unterschiedliche Ministerien des Landes Nordrhein-Westfalen, Verlage, Reedereien, pharmazeutische Unternehmen in der Schweiz und Deutschland, die Europäische Zentralbank uvm.

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3. Worauf würden Sie Ihren eigenen Bildungserfolg zurückführen? Was/wer hat Ihnen am meisten geholfen? Zeit! In meiner Jugend war es zweifellos die Zeit am Gymnasium und die damit einhergehende Zeit für Freundschaften und Muße, die mir am meisten geholfen hat. Die Zeit, die mein Vater mir gewidmet beziehungsweise mir gelassen hat. Selbst die Zeit, die ich an der Hauptschule verbringen musste, erscheint mir im Nachhinein nicht ganz als verloren. In der Zeit meines Studiums war es das Umfeld der Hochschule, die vorzüglichen Kommiliton*innen und die mitunter beeindruckenden und prägenden Persönlichkeiten der Professor*innen. Das menschliche Klima dort, besonders jenes des neu gegründeten Modellstudienganges, in den ich mich eingeschrieben hatte, war von Auf bruchsstimmung erfüllt. Wir konnten als Studierende am Curriculum mitwirken und unser Studium in vielen Teilen selbst gestalten. Es wurde eine Vorstellung von Gestaltung gepf legt, die über das kreative Hervorbringen von Originalität weit hinausreichte. Alles sollte analysiert, verstanden und gestaltet werden; nicht nur ein wenig Grafik oder ein bisschen Produkt. Es zählte nicht so sehr das Ergebnis, seine schnöde Verwertbarkeit oder das Mittel, sondern vielmehr die Wege des Verstehens, das Konzept, der Sinn und Zweck. Vollgepumpt mit bezugswissenschaftlichem Viertel- und Halbwissen konnten wir nichts, trauten uns aber alles zu. Kein Aspekt von Alltagskultur sollte vor uns sicher sein. Universelle Dilettant*innen – irgendetwas zwischen der HfG Ulm und der Postmoderne – sollten und wollten wir sein. Und wir hatten alle Zeit der Welt. Einen Teil dieser Zeit durfte ich während meines Studiums in Japan verbringen. Durch die Erfahrung von Fremdheit in einem Reich der Zeichen konnte und durfte ich einsehen, dass Dinge auch ganz anders und dennoch richtig, schön und sinnvoll sein können. Und zugleich durfte ich erleben, dass Fragen nach dem Sinn eben nicht immer sinnvoll sind. »Brichst Du auf gen Ithaka, wünsch dir eine lange Fahrt, voller Abenteuer und Erkenntnisse.« (Konstantinos Kavafis) In meiner Selbstständigkeit schließlich war es die Zeit, die mir zunehmend abhanden kam. Arbeitstage reichten bis in die Nächte hinein und ich sah mich mit Effizienzanforderungen konfrontiert, die sich bei genauerer Betrachtung als protestantisch-kapitalistische Internalisierungen und Selbstaffirmationen erwiesen. Und das mir als katholi-

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schem Rheinländer. Zeit wurde zu Geld, Kirchensteuer zu teuer – also nur noch Rheinländer. Zugleich war diese Zeit eine Zeit der Einsicht. Im Themenfeld Corporate Identity arbeitet man mitunter über Jahre mit Unternehmen und Körperschaften zusammen und gewinnt nicht nur fachliche, sondern auch menschliche Einblicke. Über Branchen und Themen hinweg zeigten sich wiederkehrende Strukturen der Kommunikation – Systeme, die mich bis heute beschäftigen. Luhmann neben Weber ins Regal gestellt, Marx abgestaubt – Schulbibel entsorgt.

4. Wie kam die Entscheidung für eine wissenschaftliche Lauf bahn/ das Fach zustande? Welche Rolle spielte das private Umfeld? Zufälle? In den Schulferien wurde ich regelmäßig rheinaufwärts zu meinem Onkel in die Schweiz geschickt. Dieser begann sein Studium der Textilgestaltung nach dem Krieg in Krefeld bei einem ehemaligen Bauhaus-Lehrer – Meisterklasse Georg Muche ‒, um dann, im Zwist mit meinem Großvater, in die Schweiz auszuwandern und schließlich am Zürichsee sein eigenes Grafik-Atelier zu gründen. In diesem Atelier kam ich, zwischen des Onkels Zeichentisch und seiner Reprokamera, erstmals bewusst mit dem Fach Kommunikationsgestaltung in Berührung. Das pädagogische Sendungsbewusstsein meines Onkels war ebenso ausgeprägt wie das meines Vaters und auch von ihm wurde ich umfassend mit Fachliteratur und Belletristik versorgt. Dabei erwies sich vor allem Umberto Ecos Der Name der Rose als außerordentlich folgenreich sowohl für mein anwachsendes Bücherregal als auch für meinen Zugang zur Semiotik. Nach dem Tod meines Onkels half ich meiner Tante im als Familienunternehmen geführten Atelier aus und durfte somit schon sehr früh die beruf liche Wirklichkeit der visuellen Kommunikation kennenlernen. Das öffentliche Bewusstsein für gute Gestaltung war damals in der Schweiz sehr viel ausgeprägter als in Deutschland. Gründe dafür gab es viele. Künstler*innen des Bauhaus und andere Protagonist*innen der gestalterischen Avantgarden fanden auf der Flucht vor den Nazis in der Schweiz Unterschlupf. Die Schweizer Grafiker*innen und Künstler*innen konnten ihrerseits ganz unbehelligt von der deutschen Barbarei in Europa eine gebrauchsgrafische Kultur entwickeln, die als Export und sogenannter Internationaler Stil von den 1950er bis in die 1980er Jahre hinein weltweit für Furore sorgte. Der eidgenössische Ge-

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danke, dass demokratische Vielfalt sowie ein menschliches Maß und Miteinander einen sinnlichen und vernünftigen Ausdruck finden können, sowie die daran anschließende Überzeugung, dass Gestaltung – von was auch immer – die conditio humana sogar positiv präformieren und bedingen kann, ist seitdem ein ständiger Dreh- und Angelpunkt meiner eigenen Ref lexion über Design. Die Fragen, ob man Gestalter*innen damit nicht etwas viel Verantwortung auf bürde und solch ein moralischer Anspruch nicht schlecht für das Geschäft sei, sind berechtigt. Schließlich wird Design in der allgemeinen Wahrnehmung eher dem Spektakel respektive der Auf hübschung von Produkten und Dienstleistungen zugeordnet. ›Designer-Mode‹, ›Designer-Autos‹, ›Designer-Möbel‹, ›Designer-Brötchen‹, ›Design Thinking‹ usw. – nice to have oder Alles, was die Welt nicht braucht. Demgegenüber steht meine nicht unbegründete Vermutung: Möglicherweise ist Design und die damit verbundene Verantwortung einfach wunderbar komplex und ein sinnvoller Forschungsgegenstand. Ein weiterer Zufall brachte zwei meiner ehemaligen Professoren auf den Gedanken, mich für eine Vertretung in einem vakanten Lehrgebiet vorzuschlagen. Quasi beim Erdbeerpf lücken und gänzlich nebenbei fragten sie mich, ob ich nicht an meinem alten Fachbereich lehren wolle. Ein paar Wochen später fragten Menschen einer anderen Hochschule in Sankt-Augustin – ebenso zufällig, aber weniger beiläufig –, ob ich nicht auch dort einen Lehrauftrag übernehmen wolle. Wie das Leben so spielt. Und weil Andreas seit der Grundschule noch immer nicht gelernt hatte, sein Temperament zu zügeln, sagte er zu allem ja. Ich fühlte mich gut gerüstet: Diplom hervorragend bestanden, genügend beruf liche Erfahrung in der Tasche und ein – mittlerweile ordentlich gefülltes – Bücherregal im Rücken. Darauf folgten zehn Jahre der ›Lehre‹ und eine intensive Beschäftigung mit der Frage, wie man Gestaltung lernen beziehungsweise lehren könne. Neuerdings nennt man dies SoTL – Scholarship of Teaching and Learning. Damals hingegen habe ich mir einfach das Prinzip von John Dewey – learning by doing – zu Eigen gemacht und war im problembasierten Lernsetting an der Köln International School of Design damit sehr gut aufgehoben. Das Spannende an dieser Zeit war dann tatsächlich das Selbststudium und die Auseinandersetzung mit den Studierenden. Dies führte immer tiefer in bezugswissenschaftliche Kaninchenlöcher: Wie kann man semiotische, kultur- und sozialwissenschaftliche Theorien in die Praxis der Kommunikationsgestaltung

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sinnvoll einbeziehen? Was sind die Figuren und Tropen einer visuellen Rhetorik? Wie lässt sich die interdisziplinäre Vielfalt bildwissenschaftlicher Diskurse auf die gestalterische Bilderzeugung und -nutzung übertragen? Wie kann man philosophische Aporien, soziologische Diskurse und gesellschaftliche Problemstellung zum Themenfeld Identität in die Gestaltung von Identität einbeziehen? Wie kann man im Gegenzug die Qualitäten gestalterischer Entwurfs- und Iterationspraktiken als spezifische Forschungs- und Erkenntnisprozesse in designwissenschaftliche Heuristiken und Theorien überführen? »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« (Hermann Hesse). Der letzte und entscheidende Zufall auf dem Weg in eine wissenschaftliche Lauf bahn ereignete sich am Fließband eines Paket-Dienstes am Köln-Bonner Flughafen. Dort arbeitete ich nachts, um mein Studium und den Haushalt der mittlerweile gar nicht mehr so lustigen Männer-WG zu finanzieren. Die überbordende Fantasie und das allzu illusorische Denken meines Vaters hatten ihn und damit auch mich in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, was mich wiederum an besagtes Fließband führte. Am Flughafen, zwischen Paketen und Zolldokumenten, lernte ich meine zukünftige Frau Elisabeth kennen. Halb Griechin, halb Spanierin, im Herzen leidenschaftliche Europäerin; erst Optikerlehre, dann Abitur am Abend und Paket-Verzollung am Tage; dann ein Diplom in Informatik und eine Tätigkeit als freiberuf liche Medieninformatikerin, dann ein Master in Medienpädagogik und die Promotion zum Dr. phil. – eigentlich sollte sie statt meiner hier Notizen schreiben. Ohne Elisabeths kluge Kritiken und hingebungsvolle Unterstützung hätte ich meinen Entschluss, Forschung und Lehre betreiben zu wollen, so nicht fassen können. Sie hat mir geholfen, mein Temperament schließlich doch noch zu zügeln und das Vage und Intuitive zu explizieren, überf ließende Gedanken zu kanalisieren und zu systematisieren und das akademische Wunderland in vollen Zügen zu genießen. Im Jahr 2010 erhielt ich dann meinen Ruf als Professor an die TH Köln. Das war dann wohl kein Zufall mehr – aber ein großes Glück.

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5. Gab es/gibt es Situationen in Ihrer Bildungslauf bahn, in denen Sie gemerkt haben/merken, dass Ihre Herkunft eine Rolle spielt? Vielleicht. Auf meinem Weg in die Hochschule musste ich keine Ressentiments aufgrund meiner Herkunft erdulden. Auch innerhalb der Hochschule sind mir Vorbehalte oder Geringschätzungen, die sich auf Herkunft oder Bildungswege von Kolleg*innen beziehen, noch nicht untergekommen. Ehrlich gesagt, kenne ich nur von wenigen meiner Kolleg*innen deren vorakademischen Bildungshintergrund. Offensichtlich spielt er im täglichen Miteinander keine besondere Rolle. Gelegentlich, doch insgesamt eher selten, nehme ich Vorbehalte wahr, die universitäre Kollegin*innen gegenüber Professor*innen pf legen, die an Hochschulen für angewandte Wissenschaften beziehungsweise Fachhochschulen lehren und forschen. Auf manchen Visitenkarten taucht dann die Bezeichnung ›Universitätsprofessor‹ auf, die darauf hinweist, dass es feine Unterschiede oder Klassen der Amtsträgerschaft und Verpf lichtung zu geben scheint. Der Leidens- und Anerkennungsdruck muss bei manchen doch recht hoch sein, wenn jene sogar bereit sind, die damit einhergehende kommunikative Selbstoffenbarung in Kauf zu nehmen. »You cannot not communicate« (Paul Watzlawick).

6. Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Bedingungen für Studierende oder auch Nachwuchswissenschaftler*innen aus nicht akademischen Milieus bzw. Arbeiterkinder an deutschen Hochschulen? (evtl. auch im Vergleich zu ausländischen Hochschulen oder zur Privatwirtschaft) Ob die Bedingungen an anderen Hochschulen oder Fakultäten gut oder schlecht sind, vermag ich leider nicht einzuschätzen. In unserem Institut KISD – Köln International School of Design – beziehungsweise an unserer Fakultät für Kulturwissenschaften der TH Köln sind die Bedingungen sicherlich gut. Wir leben mit einem Anteil von 40 Prozent internationaler Studierender ein hohes Maß an kultureller und mit einem Anteil von 55 Prozent Frauen ein ausgewogenes Maß an geschlechtlicher Diversität. Darüber hinaus kommen viele Studierende aus einem handwerklichen Umfeld oder Beruf und haben ihre Hochschulzulassung auf einem anderen Weg als durch eine gymnasiale

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Schulbildung erlangt. Inwiefern es sich dabei aber tatsächlich um Menschen aus nicht akademischen Milieus handelt, ist mir nicht einsichtig. Allerdings sind die beruf lichen Kompetenzen und die fachliche Vorerfahrung, die diese Studierenden mitbringen, eine unverzichtbare Bereicherung unseres Fachs. Meiner Einschätzung nach spielen auch unter den Studierenden die jeweiligen Bildungshintergründe keine Rolle. Nur die teilweise sehr hohen Studiengebühren, die unsere Austausch-Studierenden an manchen ihrer Heimat-Hochschulen zahlen müssen, machen mir deutlich, wie sinnvoll und richtig es ist, den Zugang zu hochschulischer Bildung so offen wie möglich zu halten. Wer würde hierzulande noch studieren können, wenn zehntausend oder mehr Euro pro Semester gezahlt werden müssten?

7. Welche Rolle spielen die biographischen Erfahrungen des Bildungsaufstiegs für Ihr heutiges Wirken als Professor? (z.B. im Hinblick auf das eigene Selbst verständnis als Wissenschaftler, Themensetzungen, Nachwuchsrekrutierung, hochschul- oder gesellschafts politisches Engagement) Möglichkeiten der Gestaltung – Gestaltung des Möglichen. Möglicherweise wird mein heutiges Wirken als Professor in erster Linie durch die positiven Erfahrungen bestimmt, die ich mit Bildung verbinde und die ich einer ganzen Reihe von Menschen zu verdanken habe. Wenn man etwas Schönes erhalten hat, möchte man es mit anderen teilen oder weitergeben. Eine recht hübsche, aber bezogen auf die Fragestellung noch wenig zufriedenstellende Antwort. Nach Erik H. Erikson befinde ich mich ja ohnehin in der vorletzten Phase beziehungsweise Krise des Lebenszyklus. Diese bewältigt man nur dann erfolgreich, wenn man sich selbstvertraut und im Bewusstsein der Generativität durch die Weitergabe von Wissen und Erfahrung an nachfolgende Generationen vor Selbstabkapselung und Vereinsamung zu schützen weiß. Die Frage nach dem Bildungsweg und seinen Folgen für mein heutiges Selbstverständnis kann ich dabei auch mit meinem recht unüblichen Zugang zum Wissenschaftsbetrieb in Beziehung bringen: eine Berufung ohne Promotion, langjährige Berufspraxis außerhalb der Hochschule, ein intensives Selbststudium, das ungewöhnliche Fach Design und eine Denomination mit schier unlösbaren Herausforde-

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rungen. Mitunter werde ich gefragt, wie man denn Professor sein könne, ohne vorher promoviert worden zu sein. Das ist tatsächlich eine Besonderheit in den gestalterischen und künstlerischen Fachrichtungen. Hier werden dann, wenn keine Promotion vorliegt – was aufgrund des Mangels an originär wissenschaftlichem (d.h. promovierten) Nachwuchs in diesem Fach noch häufig der Fall ist –, die Leistungen in der Praxis durch Gutachten im Berufungsverfahren als promotionsadäquat gewichtet. Tatsächlich habe ich selbst allerhöchsten Respekt vor Kolleg*innen, die eine Dissertation oder gar eine Habilitation erbracht haben. Bei meiner Frau Elisabeth war ich selbst einige Jahre Zeuge der intensiven Mühen, die mit solch einer Arbeit einhergehen. Eine weitere Besonderheit – diese teile ich dann aber mit allen Professor*innen an Hochschulen für angewandte Wissenschaften – ist die mehrjährige Berufserfahrung außerhalb der Hochschule, die für eine Berufung zwingend vorausgesetzt wird. Gründe hierfür sind sicherlich der stärkere Anwendungsbezug sowie die Hinwendung zur beruflichen Qualifikation, die unserem Hochschultyp zugewiesen werden. Für mich hat sich dies als Vorteil erwiesen. Möglicherweise erlaubt mir meine eigene beruf liche Selbstständigkeit außerhalb der Hochschule und meine fachliche Herkunft aus einer undisziplinierten Disziplin – dem Design – einen potentiell etwas anderen Blick auf das System Hochschule und auf die eigene wissenschaftliche Praxis. Obendrein bewege ich mich aufgrund meiner Denomination: Identität und Design in einem sehr volatilen und kontingenten Themenfeld mit einer so enormen Fülle bezugswissenschaftlicher und methodischer Optionen, dass man durchaus den Überblick verlieren könnte. Die Arbeitsweise, die ich mir in den letzten Jahren zugelegt habe und die mich mit dieser Fülle und thematischen Vielfalt versöhnt, könnte man als eine eklektische Praxeologie forschender Gestaltung bezeichnen. Und auch dies scheint mir etwas zu sein, was eher meiner Herkunft und einer wissenschaftlichen Leichtfüßigkeit als einer akademisch konformen und gradlinigen Sozialisation entspringt und bei dem einen oder der anderen zum Naserümpfen führen könnte – »Anything goes« (Paul Feyerabend). Diese Offenheit gegenüber unterschiedlichen Zugängen zu Forschung und Wissenschaft gestehe ich auch meinen Studierenden zu. Tatsächlich erachte ich es sogar als meine Aufgabe, ihnen einen möglichst breiten und leichten Zugang zu kulturwissenschaftlichen Wis-

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sens- und Erfahrungsräumen anzubieten und zuweilen als weißes Kaninchen vor ihnen rum zu hoppeln. Nach meiner Berufung bin ich bei besagtem Herumhoppeln und -stöbern – ich wollte dann noch mal genauer wissen, in welchem Wunderland ich den Rest meines Lebens verbringen werde – auf einen Text mit einer spannenden Formulierung gestoßen. In einer Empfehlung des Wissenschaftsrats zur Differenzierung der Hochschulen aus dem Jahr 2010 finden sich folgende Sätze: »Die Hochschulen ihrerseits dürfen sich gesellschaftlichen Ansprüchen auch dann nicht entziehen, wenn diese über das ›Kerngeschäft‹ von Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung hinausgehen – auch aus Gründen der Verschränkung mit ihren gesellschaftlichen Umgebungen und ihrer Stellung in einem demokratischen Gemeinwesen. […] Sie müssen prinzipiell mehr leisten, als die Gesellschaft von ihnen erwartet, um leisten zu können, was die Gesellschaft von ihnen fordert.« Das klingt anspruchsvoll und ist es meines Erachtens auch. Besonders spannend finde ich diese Formulierung aufgrund der in sie eingeschriebenen Dialektik von sprachlich praktizierter Exklusion und inhaltlich beschworener Inklusion. Auf sprachlicher Ebene wird wunderbar deutlich, dass mit dem sogenannten ›Kerngeschäft‹ – ein ebenso merkwürdiges wie unpassendes Wort – fachspezifische, selbstreferentielle und hochschul-eigenlogische Formen der Kommunikation einhergehen. Diese sind systemerhaltend und somit existenziell für die Hochschule. Leider sind sie im Gegenzug auch schwer zugänglich und mitunter ausgrenzend. Insofern verlangt besagte Empfehlung von uns Hochschulangehörigen im Namen der Gesellschaft eine enorme Transformations- beziehungsweise Integrationsleistung. Wir sollen und müssen unser System und unsere Kommunikation so offen und anschlussfähig wie nur irgend möglich gestalten, um den Ansprüchen und Bedürfnissen auch nicht akademischer und außerhochschulischer Dialoggruppen gerecht zu werden, und diese Ansprüche darüber hinaus in unser Tun integrieren. Das ist in der Konsequenz nicht nur eine Frage guter Öffentlichkeitsarbeit, sondern reicht tief in die Gliederung der Hochschulen hinein und verändert diese auch – eine enorme Herausforderung und viel Arbeit für uns alle. Und doch bin ich davon überzeugt, dass kein anderes System als jenes der Hochschule geeigneter wäre, diese Herausforderungen zu meistern. Hierzu gibt es glücklicherweise immer mehr Bestrebungen, Initiativen und Projekte, z.B. das sogenannte Talentscoutig, das von Hochschulen in Nordrhein-West-

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falen gefördert wird und das Schüler*innen aus nicht akademischen Elternhäusern den Zugang zur Hochschule erleichtern soll. Auch die von den Herausgeber*innen konzipierte und hier vorliegende Publikation ist ein weiterer und wichtiger Beleg dafür, dass die offene und vielfältige Hochschule ein Ziel ist, das erreicht werden kann. Als forschender Gestalter, der sich mit Identität stiftenden und präformierenden Kommunikationsprozessen beschäftigt, erscheint mir die Herausforderung, Diversität an Hochschulen zu steigern, Ressentiments abzubauen und unterschiedliche Menschen für uns und unser Streben zu gewinnen, wunderbar komplex und spannend. Ein Forschungs- und Gestaltungsgegenstand par excellence. Besonders institutionelle Identitäten, wie jene von Hochschulen, changieren zwischen der notwendigen Geschlossenheit und der anzustrebenden Offenheit eines Systems – zwischen Identität, Alterität und Differenz. Als eine Art proof of concept hatte ich gemeinsam mit drei Studierenden das Glück, bei der Gestaltung der Neuausrichtung unserer Hochschule – nunmehr TH Köln benannt – einen kleinen Teil der Arbeit zu leisten. Uns war es ein zentrales Anliegen, die Hochschule als einen offenen und vielfältigen Möglichkeitsraum – der sie ja schließlich auch ist – erscheinen zu lassen. Nach zweijähriger Arbeit ist ein Erscheinungsbild entstanden, auf das wir recht stolz sind und das hoffentlich zu einer besseren Wahrnehmung und Kommunikation innerhalb und außerhalb der Hochschule beiträgt. In der Frage einer anzustrebenden Offenheit und einer notwendigen Geschlossenheit des Systems Hochschule offenbart sich eine weitere Herausforderung. Diese zeigt sich in einem veränderten Sprachgebrauch, der den Hochschulkontext leider mehr und mehr zu bestimmen scheint. Man könnte diese Veränderung an dem bereits kritisierten Wort ›Kerngeschäft‹ festmachen, aber es ließen sich auch viele andere Beispiele finden: ›Hochschulbranding‹, ›Corporate Identity‹, ›Stakeholder‹, ›Credit Points‹, ›Human Ressource Management‹, ›Wissens- und Reputationsmarketing‹ in einem ›Wettbewerb um die klügsten Köpfe‹ etc. Diese Wörter und Phrasen sowie die darin eingeschriebenen Konnotationen und Operationen entspringen mehr oder weniger der Sphäre des ökonomischen und marktliberalen Denkens. Sie erscheinen mit oder ohne Anführungszeichen harmlos und plausibel: ›Sind doch nur Metaphern!‹ Aber gerade weil sie so harmlos erscheinen, präformieren sie unser Denken und Handeln – unmerklich aber nicht minder wirksam. »How to do things with words« (John Langshaw Austin).

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In der Konsequenz könnten diese Sprechakte unser erkenntnisstrebendes Ethos, unser offenes und vielfältiges Verständnis von Bildung, Forschung und Lehre unterlaufen. So berechtigt die gesellschaftlichen Anforderungen an die Effizienz unseres Systems auch sein mögen, so berechtigt erscheint mir aber ebenfalls die vielfach geäußerte Kritik an dem Versuch, die Freiheit des Marktes mit der Freiheit von Forschung und Lehre gleichzusetzen. Bildung scheint mir als Ware ungeeignet. Zeit ist eben nicht immer Geld, und ob Märkte tatsächlich immer so frei sind, wie behauptet, darf bezweifelt werden. Dieser Diskurs sei insofern hier erwähnt, weil wir Designer*innen – wie kaum eine andere Berufsgattung – Teil marktwirtschaftlicher Transformationsprozesse sind. Wir funktionieren darin, tagein, tagaus, und tragen entscheidend dazu bei, dass die Kaskade von Produktion und Konsum, die Verschwendung von Ressourcen und ein zügelloses Wachstum vorangetrieben werden. Man muss wahrlich kein überkritischer Skeptiker sein, um hierin eine Fehlentwicklung unserer Gesellschaft zu erkennen. Hier kommt meines Erachtens die bereits erwähnte Verantwortung von Designer*innen ins Spiel. Wo anders sollten junge Gestalter*innen ein kritisches Bewusstsein für ihr Denken und Handeln – ihre Verantwortung – entwickeln können, wenn nicht in dem offenen und vielfältigen Möglichkeitsraum einer Hochschule! Sollten sie beispielsweise an irgendeinem Freitag auf den Gedanken verfallen, ein Designverständnis, das permanent Lösungen verspricht, sei ein Teil des eigentlichen Problems und kein Design mitunter das bessere Design, würde ich dem nicht widersprechen, sondern eher mit Studierenden gemeinsam diesen Gedanken qualifizieren wollen. In diese kritische Auseinandersetzung mit unserem Fach würde ich selbst die Bezeichnung meines Lehrgebiets Identität und Design einbeziehen wollen. Denn auch der Begriff Identität erweist sich – und das nicht erst seit Uwe Pörksen – als inhaltsleeres und konnotativ überfülltes Plastikwort oder schlimmer noch als ein Baustein ideologischer und fragwürdiger Diskurse, die eine pluralistische und offene Gesellschaft zu gefährden drohen. »Identität kann nur als Problem existieren, sie war von Geburt an ein ›Problem‹, wurde als Problem geboren. […] Man denkt an Identität, wenn man nicht sicher ist, wohin man gehört. […] ›Identität‹ ist ein

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Name für den gesuchten Fluchtweg aus dieser Unsicherheit.« (Bauman 1997: 134) E-Mail an mein akademisches Selbst: Dringend die Änderung der Denomination des Lehrgebietes beantragen.

8. Was bedeutet es für Sie, über Ihre Herkunft und damit verbundene Erfahrungen aus heutiger Sicht als Professor zu schreiben/zu sprechen? Vergnügen.

Literatur Bauman, Zygmunt (1997): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition.

III. Soziobiographische Kommentierung

Vom ›Arbeiterkind‹ zur Professur — Merkmale eines erfolgreichen Aufstiegs Michael Hartmann

Es ist nicht einfach, aus einer derart bunten Mischung von individuellen Berichten, wie sie in diesem Buch vertreten sind, so etwas wie Gemeinsamkeiten in einem wissenschaftlichen Sinne herauszudestillieren. Dass die Herausgeber*innen bei ihrer Auswahl keine gezielt ausgewählte, geschweige denn eine repräsentative Stichprobe im Sinn hatten, sondern versucht haben, ein möglichst breites Spektrum abzudecken, macht die Sache nicht einfacher. Wenn zwölf Männer und sieben Frauen aus vier Jahrzehnten, zu jeweils der Hälfte aus Arbeiterund kleinbürgerlichen Familien stammend, in zehn Fachdisziplinen zu zwei Dritteln an Universitäten und einem Drittel an Fachhochschulen lehrend ihren Weg zur Professur beschreiben, bietet sich auf den ersten Blick eine kaum überschaubare Vielzahl an Besonderheiten, unterschiedlichen Motiven und Gelegenheitsstrukturen. Bei genauerer Betrachtung kristallisieren sich jedoch vier Merkmale heraus, die für die Bildungs- und Berufskarrieren der Professor*innen von ausschlaggebender Bedeutung waren: vom üblichen Muster abweichende familiäre Besonderheiten, institutionelle Veränderungen im Rahmen der bundesrepublikanischen Bildungsreformen, eine starke Gewichtung des Sicherheitsaspekts bei der Studienfach- und der Berufswahl sowie eine deutlich kritischere gesellschaftspolitische Einstellung inklusive praktischer Konsequenzen für die eigene Hochschultätigkeit.1

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1. Die Eltern – enttäuschte Bildungshoffnungen und kritische Außenseiter*innen Als erstes fallen dabei die familiären Besonderheiten ins Auge, die die jeweiligen Familien von den in ihrem Milieu üblichen Traditionen und Gepf logenheiten unterschieden und den Zugang zu Einrichtungen höherer Bildung deutlich erleichtert haben. Es gab Väter und Mütter, deren eigene Bildungswünsche an finanziellen Problemen gescheitert waren. So hatte die Mutter von Rainer Müller das Realgymnasium wegen des Todes ihrer Mutter verlassen müssen, um den Haushalt des Vaters zu führen. Sie hat ihre Hoffnungen auf einen höheren Bildungsabschluss dann aber auf ihren Sohn übertragen. Müller schreibt selbst, dass »ihre Orientierung auf schulische Qualifizierung« für seinen eigenen Werdegang »nicht unerheblich« gewesen sei. Bei Elke Kleinau war es der Vater, dessen Bildungsbestrebungen – er wollte das Gymnasium besuchen und anschließend studieren – durch den frühen Tod des Vaters und die damit verbundenen finanziellen Restriktionen beendet worden waren. Sie blieben aber so prägend, dass der Vater, was in den frühen 1960er Jahren völlig ungewöhnlich war, sich sogar über die Schulempfehlung der Lehrer hinwegsetzte und seine Tochter gegen den Willen des Lehrers auf das Gymnasium schickte. Bei Christine Graebsch hatten beide Elternteile wenigstens zeitweise das Gymnasium besucht, es allerdings ohne Abschluss verlassen – der Vater, weil er am Fach Mathematik gescheitert war, die Mutter, weil sie aus Prüfungsangst lange vor dem Abitur aufgegeben hatte. Auch hier war also eine (ambivalente, aber) familiäre Nähe zu den Institutionen der höheren Bildung vorhanden. Bei Andreas Wrede, Pakize Schuchert-Güler und Doris Lemmermöhle gab es zumindest Onkel oder Tanten, die studiert hatten und damit der Vorstellung eine reale Grundlage boten, dass so etwas auch für Nicht-Akademikerkinder möglich und sinnvoll sei. Bei Lemmermöhle wird die Bedeutung einer solchen Bezugsperson besonders deutlich. Eine Frage ihrer Tante, einer Kinderärztin, änderte ihr Leben »von Grund auf«, wie sie schreibt. Diese Frage auf der Silberhochzeit der Eltern lautete: »Was soll aus dem Mädchen denn werden – alte Tante auf dem Hof?« Da die Tante als einzige Akademikerin in der Familie hoch angesehen gewesen sei, hätte diese Frage großes Gewicht gehabt und sei letztlich verantwortlich gewesen für das Ausbrechen aus dem

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üblichen und auch schon eingeschlagenen Weg: erst Mittelschule, dann Lehre und schließlich Mitarbeit auf dem elterlichen Hof. Nicht nur eine für die breite Bevölkerung unübliche familiäre Nähe zu höherer Bildung, sondern auch eine kritische politische Einstellung der Eltern spielte in einigen Fällen eine wichtige Rolle. So hatte der Vater von Klaus Bogdal es über sein Engagement in Gewerkschaft und kommunistischer Partei geschafft, in der Weimarer Republik schon im Alter von zwanzig Jahren als Volontär einer Ruhrgebietszeitung einen Zugang zum Journalismus zu finden statt, wie in seiner Familie üblich, Bergmann zu werden. Er war als Volksschüler »ein Autodidakt mit breitem kulturellen Interesse vor allem an Geschichte und Literatur«, wie Bogdal es schildert, und wurde schließlich nach langjähriger KZ-Haft in der Bundesrepublik zunächst wieder Journalist und dann Mitarbeiter einer Kulturorganisation. Die Nähe zur Bildung, und hier speziell auch zur Literatur, war damit für Bogdal ebenfalls familiär vorgegeben. Auch bei Aloys Krieg spielte das politische Interesse seiner Eltern, Sozialdemokraten im katholischen und von der CDU dominierten Münsterland, eine gewichtige Rolle für den Lebensweg. Das politische Interesse der Eltern ging Hand in Hand mit einem großen Interesse an Bildung und war entscheidend für einen für die Bauernfamilie geradezu »revolutionären Schritt«, wie Krieg es selbst formuliert. Sie brachen mit der Jahrhunderte alten Tradition, dass der älteste Sohn den Hof übernahm, und sahen für ihn stattdessen ein Studium vor. Eine von der Mehrheit abweichende politische Haltung dürfte es in beiden Fällen erleichtert haben, auch bei der Bildung der Kinder vom üblichen Weg abzuweichen. Für Sabine Hark dürfte die Außenseiterstellung des Vaters im Dorf – er wollte die Gräuel der Nazizeit im Unterschied zu den anderen Dorf bewohner*innen nicht einfach verdrängen – für die Bildungsentscheidung ebenfalls eine Rolle gespielt haben, auch wenn Hark diesen Punkt selbst nicht explizit benennt. Auch bei Doris Lemmermöhle kam zur maßgeblichen Rolle der bereits erwähnten Tante noch hinzu, dass die Familie der Mutter sich Anfang der 1930er Jahre stark gegen den auf kommenden Nationalsozialismus engagiert und der Großvater mütterlicherseits sogar als Abgeordneter im Oldenburger Landtag gesessen hatte. Bei Martin Lörsch zeichneten sich gleich beide Herkunftsfamilien, die des Vaters wie die der Mutter, durch eine kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus aus. Zwei seiner Onkel wurden von den Nazis verhaftet, einer sogar bis Kriegsende in ein KZ gesteckt.

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Dort, wo familiär keine Besonderheiten existierten, die die Entscheidung für eine höhere Bildungslauf bahn förderten oder unterstützten, spielten oft Lehrer*innen und Geistliche eine ausschlaggebende Rolle. Sowohl für Klaus Weber-Teuber als auch für Martin Eisend und Martin Lörsch waren es die Lehrpersonen an der Volksschule und die Pfarrer, die die Eltern letztlich vom Gymnasialbesuch der Söhne überzeugten. Die Eltern selbst wären nie auf diese Idee gekommen, sondern hätten für ihre Söhne ganz traditionell die klassische Schullauf bahn an der Volksschule mit anschließender Lehre gewählt. Auch bei Manfred Brill waren die Grundschullehrerinnen wichtig, allerdings weniger für den Übergang zum Gymnasium als vielmehr später während der der ersten Gymnasialjahre, um die damit verbundenen Schwierigkeiten dank ihrer Hilfe zu überstehen. Bei Schuchert-Güler war die Lehrerin ihrer Grundschule, neben den Akademiker*innen unter der in der Türkei lebenden Verwandtschaft, ebenfalls von erheblicher Bedeutung für den Wechsel auf das Gymnasium.

2. Die Bildungsreformen sorgen für neue Gelegenheiten Die familiären Besonderheiten hätten in der Mehrzahl der Fälle allerdings ebenso wenig wie die Unterstützung durch Lehrkräfte und Geistliche ausgereicht, um eine höhere Bildungslauf bahn einzuschlagen und erfolgreich zu beenden, wären im Zusammenhang mit beginnenden Bildungsreformen nicht gleichzeitig neue Institutionen oder Förderinstrumente geschaffen worden, die solche ungewöhnlichen Bildungswege erst ermöglichten bzw. zumindest entscheidend erleichterten. Das trifft umso stärker zu, je früher die entsprechenden Personen das Licht der Welt erblickten. Bei den in den 1940er und 1950er Jahren Geborenen stellten sie für zwei Drittel einen enorm wichtigen, wenn nicht ausschlaggebenden Faktor dar. Bei den im folgenden Jahrzehnt Geborenen galt das dagegen nur noch für ein Drittel und von den noch später auf die Welt Gekommenen wird es überhaupt nicht mehr genannt, sei es, weil die Förderung, vor allem durch das BAföG, nun selbstverständlich geworden war, sei es, weil man sie nicht benötigte. Die jeweils für den Bildungsverlauf entscheidenden Institutionen oder Förderinstrumente unterscheiden sich allerdings stark je nach den Geburtsjahrzehnten. Die größte Vielfalt ist bei der Alterskohorte aus den 1940er Jahren zu sehen, die von ersten, noch eher unsystema-

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tisch eingeführten Veränderungen profitierte. So konnte Reinhard Damm nach Maurerlehre und Berufsfachschulabschluss das zwei Jahre zuvor gegründete Hessenkolleg, das erst vierte seiner Art in der Bundesrepublik, besuchen und dort das Abitur machen. Er war damit 1964 einer von nur ungefähr 1000 Menschen bundesweit, die ihr Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachholten und damit die Berechtigung zum Studium an einer Universität erwarben. Doris Lemmermöhle profitierte von einer Sonderregelung, die es auch Personen ohne Abitur ermöglichte, ein Studium zu beginnen. Sie absolvierte an der Pädagogischen Hochschule Paderborn die Begabtensonderprüfung für das Lehramt an Volksschulen, damals in Nordrhein-Westfalen die einzige Möglichkeit, ohne Abitur an einer Hochschule, wenn auch nicht an einer Universität, aufgenommen zu werden. In den meisten anderen Bundesländern konnte man auf dem Weg einer Begabtenprüfung auch an die Universität gelangen. Diese Zulassungsvariante wurde damals bundesweit pro Jahr aber von nicht mehr als zehn Personen in Anspruch genommen. Das erfolgreich abgeschlossene Studium an der PH war für Lemmermöhle dann später, nach einigen Jahren Berufstätigkeit als Lehrerin, die Voraussetzung für ein Studium der Pädagogik an der Gesamthochschule Paderborn, in der die PH 1971 aufgegangen war. Der Bildungsweg wurde also gleich zweimal von institutionellen Neuerungen geprägt. Für Rainer Müller war entscheidend, dass er sein Studium zumindest zu größeren Teilen durch das 1957 ins Leben gerufene Honnefer Modell, den Vorläufer des BAföG, finanzieren konnte. Bei Jürgen Prott eröffneten die Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs und die Existenz der auf gewerkschaftliche Initiative hin gegründeten Akademie für Wirtschaft und Politik, später Hochschule für Wirtschaft und Politik, erst den Weg in die akademische Welt. Bei denen, die in den 1950er Jahren geboren wurden, ist dagegen schon eine eindeutige Konzentration auf den finanziellen Aspekt festzustellen. Für Martin Lörsch, so seine Formulierung, erwies es sich bei der Entscheidung für den Gymnasialbesuch 1963 als »gute Fügung, dass soeben das Schulgeld für weiterführende Schulen abgeschafft« worden war. Bei Manfred Brill war die Einführung des Schüler-BAföG entscheidend dafür, dass er das Gymnasium nicht nach der zehnten Klasse beenden musste, sondern auch die Oberstufe besuchen konnte. Wie er schreibt, hing diese Entscheidung »am seidenen Faden« und das BAföG gab den Ausschlag. Bei Aloys Krieg war die Finanzierung des Studiums durch Stipendien der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stu-

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dienstiftung des Deutschen Volkes wichtig. Dieselbe Konzentration auf den finanziellen Aspekt ist auch bei denen anzutreffen, die in den 1960ern das Licht der Welt erblickten. Sowohl für Sabine Hark als auch für Martin Eisend spielte das Schüler-BAföG eine zentrale Rolle für die Möglichkeit des Gymnasialbesuchs. Bei Hark gestattete das BAföG den ursprünglich nicht vorgesehenen Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium, bei Eisend den Besuch eines Jesuiteninternats in der eine Stunde Busfahrt entfernten Großstadt Nürnberg. Auch für Rosa M. Puca war BAföG entscheidend. Dies galt sowohl für die Schule, weil es ihr den Auszug aus dem Elternhaus ermöglichte und damit ein konzentriertes Lernen für das Abitur, was sonst durch die Betreuung des vierjährigen, verhaltensauffälligen Bruders unmöglich gewesen wäre, als auch später für die Finanzierung des Studiums. Außerdem profitierte Puca von der Studienstruktur an den Gesamthochschulen, wie an der von ihr besuchten GHS Wuppertal. Deren integrierte Studiengänge, die auch einen Zugang mit Fachoberschulabschluss erlaubten, waren sozial deutlich gemischter als an den Universitäten und reduzierten damit die mit der sozialen Herkunft üblicherweise verknüpften Probleme. Einzig bei Jürgen Vogt waren finanzielle Aspekte überhaupt nicht auschlaggebend, sondern die Chance, an der neuen Gesamthochschule Essen Musik im Gegensatz zur traditionellen Musikhochschule in derselben Stadt auch ohne Aufnahmeprüfung studieren zu können. Die Anforderungen einer Aufnahmeprüfung hätten ihn der eigenen Darstellung zufolge vermutlich abgeschreckt.

3. Der Sicherheitsaspekt ist für die Studien- und Berufswahl wesentlich Wie wichtig finanzielle Erwägungen für soziale Aufsteiger*innen sind, zeigt nicht nur die Bildungslauf bahn, sondern auch der spätere Berufsweg. Die Entscheidungen für bestimmte Fächer und daran anschließend bestimmte Berufe sind stark von Erwägungen geprägt, wie sicher die jeweilige beruf liche Perspektive aussieht, d.h. wie sicher man damit sich selbst und gegebenenfalls eine Familie ernähren kann. Bei keinem einzigen lautete, anders als bei manchem Akademikerkind derselben Generationen, der ursprüngliche Berufswunsch zu Studienbeginn: eine Professur bekommen. Selbst die Vorstellung, dass man es unter besonders glücklichen Umständen bis dahin schaffen könne, war

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bei niemand vorhanden. Diese Perspektive erschien zu abenteuerlich, jenseits der eigenen Vorstellungskraft und vor allem viel zu unsicher. Was zunächst die Studienfachwahl angeht, so wurde sie zwar in erster Linie von persönlichen Interessen und Vorlieben bestimmt, die wiederum die eigenen Erfahrungen in Familie, sozialem Umfeld und Schule ref lektierten. Doch das große Bedürfnis nach Sicherheit und die Angst vor einer unsicheren Berufsperspektive sind ebenfalls unübersehbar. Am auffälligsten ist dieser Aspekt bei Manfred Brill, dessen Leidenschaft die Musik war und der eigentlich Musik hätte studieren wollen, wenn es nur nach seinen Wünschen gegangen wäre. Er wählte statt der Musik eine pragmatische, vernünftige Lösung: Studium zum Toningenieur, eine Kombination aus einem Musikstudium an der Musikhochschule und einem Studium der Elektrotechnik. Diese Lösung scheiterte jedoch an der nicht bestandenen Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule, so dass als ›Notlösung‹ die Mathematik herhalten musste. Weniger ausgeprägt, aber immer noch deutlich erkennbar ist die Bedeutung des Sicherheitsarguments auch bei anderen. So lag der Entscheidung zugunsten der Wirtschaftswissenschaften bei Martin Eisend neben fachlichen Interessen vor allem die Überlegung zugrunde, »wie ich mein zukünftiges Leben nach meiner Ausbildung eigenständig finanzieren kann«, so seine Formulierung. Bei Reinhard Damm war der Wechsel von der Politikwissenschaft zur Rechtswissenschaft nach eigener Aussage ebenfalls darin begründet, dass Jura sichere Berufsaussichten bot. Noch eindeutiger als bei der Studienwahl schlägt sich der Aspekt einer sicheren Berufsperspektive aber nach dem Ende des Studiums und beim Einstieg in die Berufswelt nieder. Nicht nur diejenigen, die heute an einer Fachhochschule lehren und für die damit eine vorherige Berufstätigkeit außerhalb der Hochschule als Berufungsvoraussetzung zwingend erforderlich war (Brill, Schuchert-Güler, Toprak, Weber-Teuber und Wrede), ergriffen zunächst Berufe außerhalb der Wissenschaft, sondern auch eine erhebliche Zahl der späteren Universitätsprofessor*innen. Klaus Bogdal war wie Doris Lemmermöhle längere Zeit an einer Schule beschäftigt, Jürgen Vogt zumindest für einige Zeit. Martin Lörsch war 15 Jahre als Pfarrer aktiv und danach weitere fünf Jahre in der Pastoralplanung des Trierer Generalvikariats. Rainer Müller wiederum konnte als Arzt jederzeit auch außerhalb der Universität arbeiten und Geld verdienen. Reinhard Damm schließlich konnte seine akademische Karriere ohne größere Existenzängste verfolgen,

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weil seine Frau als Lehrerin für einen sicheren finanziellen Rückhalt sorgte.

4. Die Erinnerung an den eigenen Werdegang prägt das Verhalten Als viertes Merkmal lässt sich schließlich bei der großen Mehrzahl der Professor*innen eine im Vergleich zu ihrer Berufsgruppe deutlich kritischere Haltung zur Gesellschaft im Ganzen wie zum Hochschulsystem im Besonderen konstatieren. Bei einigen wird hier zwar eine familiäre Tradition fortgeführt (Bogdal, Hark, Krieg, Lemmermöhle und Lörsch), bei den meisten ist es aber ausschließlich eine Folge der am eigenen Leib erfahrenen Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten. Die kritische gesellschaftspolitische Grundeinstellung tritt bei Bogdal und Weber-Teuber am deutlichsten zutage. Bogdal spricht explizit davon, dass er durch sein gesellschafts- und hochschulpolitisches Engagement seiner Herkunftsklasse etwas zurückgeben wolle. Ihn habe »niemals ganz verlassen, was [er] als ›proletarisches Selbstbewusstsein‹ bezeichnen möchte: der Anspruch auf Gleichheit und Gleichbehandlung und eine Sensibilität für alles, was dagegen verstößt.« Dazu komme »eine gewisse Immunität gegen einen forcierten Elitehabitus, gegen Blender und die Sammler von Statussymbolen, von denen es auch im akademischen Milieu genug« gebe. Klaus Weber-Teuber teilt diese Grundhaltung und ist zudem, zunächst auf kommunalpolitischer, später auf Bezirksebene, politisch seit Jahren für die Linkspartei in Bayern aktiv. Bei Jürgen Prott wird das nicht ganz so deutlich. Er blieb durch seine langjährige Tätigkeit in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und seine Funktion als Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung aber auch seinen kritischen gewerkschaftlichen Wurzeln aus seiner Zeit als Schriftsetzer und Mitglied der Falken treu. Bei den anderen drückt sich die kritische Grundeinstellung zumeist in ihren Aktivitäten innerhalb der Hochschule aus. Reinhard Damm ist z.B. BAföG-Beauftragter und achtet in seiner inhaltlichen Arbeit speziell auf die »rechtspolitische Sensibilisierung für besonders vulnerable Personen und Populationen«, wie er es selbst bezeichnet. Martin Eisend hat das Amt des Vizepräsidenten für Forschung, wissenschaftlichen Nachwuchs und Transfer übernommen. Nach seinen Worten spielten dort in allen Projekten, die er vorantreibe, Fragen von Diver-

Vom ›Arbeiterkind‹ zur Professur – Merkmale eines erfolgreichen Aufstiegs

sity und Chancengleichheit selbstverständlich eine Rolle. In der Lehre versuche er »Studierenden nicht nur fachliches Wissen zu vermitteln, sondern sie auch für die gesellschaftlichen Implikationen betrieblichen Handelns zu sensibilisieren«. Aloys Krieg will der Gesellschaft als Prorektor für Lehre ebenfalls etwas zurückgeben. Rosa M. Puca versucht als Mitglied der Arbeitsstelle Inklusion am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Osnabrück in die Planung der Lehrinhalte das Thema einf ließen zu lassen, welchen Einf luss die soziale Herkunft auf die Leistungsrückmeldungen an die Schüler*innen hat. Zoe Clark plädiert für ein solidarisches Studium, was z.B. bedeute, Handlungsstrategien für Studierende mit Prüfungsangst zu entwickeln, und Elke Kleinau wurde zum Vorstandsmitglied der DGfE gewählt mit dem Vorschlag eines Mentor*innenprogramms für Nicht-Akademikerkinder. Manfred Brill schließlich ist Förder- und aktives Mitglied bei Arbeiter Kind.de. Nur Christine Graebsch und Doris Lemmermöhle geben in ihren biographischen Schilderungen zusätzlich an, auch außerhalb der Hochschule sozialpolitisch tätig zu sein. Lemmermöhle hat 2019 für ihr Engagement im Verein Psychagogische Kinder- und Jugendhilfe für traumatisierte Kinder und Jugendliche sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Graebsch legt einen Schwerpunkt ihrer Arbeit als Anwältin außerhalb der Hochschule auf die Rechtsberatung für Straffällige, weil sie aufgrund eigener Erfahrungen – ihr Vater war zeitweise im Gefängnis – die Probleme dieses Personenkreises kennt.

5. Ausnahmen bestätigen die Regel Zum Schluss noch zwei allgemeine Anmerkungen: Erstens muss man gerade angesichts der in diesem Buch geschilderten erfolgreichen Karrieren stets eines beachten: Die öffentlich gerade von Politiker*innen immer wieder proklamierte Chancengleichheit kann nur erreicht werden, wenn auch die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft deutlich reduziert wird. Die Beispiele erfolgreicher Lebensläufe bis hin zur Professur dürfen nicht zu dem Irrtum verleiten, die materielle Lage einer Familie habe nicht viel zu tun mit den Bildungschancen der Kinder (vgl. hierzu Butterwegge in diesem Band). Sie bildet immer noch das entscheidende Hindernis, wie nicht zuletzt die zahlreichen Schilderungen über die große Bedeutung finanzieller Probleme in den hier präsentier-

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ten Biographien zeigen. Die seit zwei Jahrzehnten zunehmende soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft hat also ohne Zweifel auch negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Aufstiegs, nicht nur, aber auch in der Wissenschaft. Zweitens machen die immer stromlinienförmiger verlaufenden Karrieren in der Wissenschaft und die Fixierung der meisten Berufungskommissionen auf solche Verläufe (inklusive des damit zumeist verbundenen ›Jugendwahns‹) es immer unwahrscheinlicher, dass solche Aufstiege, wie sie die in diesem Buch vertretenen Professor*innen aufweisen, auch in Zukunft noch in größerer Zahl möglich sein werden.

Anmerkung 1 Auf die ebenfalls typischen, mit dem nicht-akademischen Habitus verbundenen Fremdheitsgefühle und Probleme auf allen Stufen der Bildungs- und Berufskarriere geht Andrea Lange-Vester in ihrem Beitrag ein. Sie werden daher hier ausgespart.

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld Andrea Lange-Vester Michael Hartmann hat in seinem Kommentar bereits verschiedene Merkmale eines erfolgreichen Aufstiegs in den biographischen Skizzen identifiziert. Dazu gehören die teilweise ausgeprägten Bildungsorientierungen in den Herkunftsfamilien, mit den Bildungsreformen verbundene Gelegenheitsstrukturen für einen Bildungsaufstieg sowie häufig eine Sicherheitsorientierung, die sich in der Studien- und Berufswahl der Bildungsaufsteiger*innen niederschlägt. Auf der Folie dieser Beobachtungen nähert sich der nachfolgende Text den Biographien der hier Beteiligten aus dem Blickwinkel der Habitus- und Milieuforschung. Dabei geht es vor allem um zwei Perspektiven: Zum einen um die mit der sozialen Herkunft der Bildungsaufsteiger*innen verbundenen Voraussetzungen und Implikationen des Bildungswegs in Abgrenzung von Gruppen mit längerer akademischer Tradition bzw. aus oberen sozialen Milieus. Zum anderen gilt das Augenmerk der Binnendifferenzierung innerhalb eines breiteren Spektrums an Herkunftsmilieus, das die Bildungsaufsteiger*innen umfasst. Exemplarisch wird gezeigt, dass sie keineswegs eine homogene Gruppe bilden, wie polarisierende Begriffspaare nahelegen, die zwischen Akademikerund Arbeiterkindern unterscheiden. Beide Perspektiven können an dieser Stelle nicht ausbuchstabiert, sondern nur ansatzweise skizziert werden, um mögliche Betrachtungsweisen aufzuzeigen. Dasselbe gilt für die Überlegungen zur Geschlechterungleichheit am Ende dieser Kommentierung. Insgesamt haben die Aussagen einen eher vorläufigen Charakter, zumal die Analyse von Habitusmustern und Herkunftsmilieus eine möglichst umfassende und ganzheitliche Sicht auf die betreffenden Personen erfordert,

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an die in diesem Fall eher in der Größenordnung eines Forschungsprojekts zu denken wäre.

1. Unterschiede zwischen den Milieus der Bildungsaufsteiger*innen und distinktiven (akademischen) Gruppen Dass sich Bildungsaufsteiger*innnen an Hochschulen von Akademikerkindern unterscheiden, haben Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1971) schon früh gezeigt. Auch in neueren Untersuchungen, die nach dem Habitus- und Milieuansatz (Vester u.a. 2001, Vester 2015) arbeiten, deuten sich systematische Unterschiede zwischen Studierenden ohne akademische Vorerfahrung in der Familie und Angehörigen älterer Bildungstraditionen an (Hild 2019; Lange-Vester 2015; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004; vgl. außerdem die Hinweise in Abschnitt 3.2 bei Lange-Vester/Bremer 2020). So ist beispielsweise auffällig, dass sich Studierende aus oberen Milieus, in denen häufig bereits seit Generationen gehobene Bildungsabschlüsse erworben werden, in der Regel ausgesprochen selbstbewusst und sehr redegewandt äußern, mit einer Vorliebe für abstrakte Sprache. Damit setzen sie deutliche Unterschiede zu Bildungsaufsteiger*innen ohne akademische Vorbilder, die überwiegend den mittleren und unteren Milieus angehören. Ihr Selbstvertrauen ist weniger ausgeprägt, teilweise werden Selbstzweifel geäußert, die in der Selbstwahrnehmung oberer Milieus keinen Platz haben bzw. nicht festzustellen sind. Die Sprache der Bildungsaufsteiger*innen ist häufig weniger abstrakt als konkret an den eigenen Erfahrungen ansetzend und alltagssprachlich in den Formulierungen. Die Milieustudien, auf die sich entsprechende Befunde stützen, werden etwa seit Beginn der 2000er Jahre durchgeführt und beziehen Studierende ein, die hauptsächlich nach 1980 geboren wurden. In einer Untersuchung über Habitusmuster von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und ihre Strategien zur längerfristigen Platzierung im wissenschaftlichen Feld (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013) wurden ähnliche Unterschiede herausgearbeitet: Bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen aus gehobenen Milieus finden sich eher Strategien individueller Leistungskonkurrenz und Selbstpräsentation, die selbstbewusst in den Auf bau von sozialem Kapital investieren. Hingegen bieten sich die Bildungsaufsteiger*innen ohne akademische Vorbilder

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen

in den Herkunftsfamilien stärker als ›Mädchen für alles‹ und für die unliebsamen Zuarbeiten an. Sie arrangieren sich vergleichsweise genügsam mit den gegebenen Bedingungen und stellen auch stärker ihre eigenen Interessen zurück. Die befragten Nachwuchswissenschaftler*innen sind zwischen 1960 und Mitte der 1980er Jahre geboren, der Schwerpunkt liegt bei den Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre Geborenen. Der vorliegende Band nun versammelt Biographien von Bildungsaufsteiger*innen, die zwischen 1941 und 1970 geboren und damit älter sind (mit Ausnahme von Zoe Clark, sie wurde 1983 geboren) als die im Rahmen der neueren Habitus- und Milieuforschung befragten Personen. Es zeigen sich gleichwohl Übereinstimmungen, die Sprache und das Selbstbewusstsein betreffend. Die Zielgruppe ermöglicht in den hier zu Diskussion stehenden Fällen zwar keinen Vergleich mit altersgleichen Abkömmlingen aus akademischem Elternhaus. Allerdings scheint deren Distinktion in den Berichten der Bildungsaufsteiger*innen zuweilen durch. Insgesamt wird sichtbar, dass sich die Alltagskultur der Bildungsaufsteiger*innen aus eher prekären oder bescheidenen Verhältnissen von der ihrer Mitschüler*innen im Gymnasium und von Kommiliton*innen unterscheidet.

2. Besonderheiten der Sprache Bourdieu (2001) hat die Bedeutung der Sprache und ihren Einf luss auf die Erfolge in Bildungsinstitutionen betont, in denen »der Reichtum, die Differenziertheit und der Stil des Ausdrucks« (ebd.: 30f.) stets wichtig sind. »Schulsprache« ist demnach nur für Kinder gebildeter Klassen die »Muttersprache«; zugleich bezeichnet Bourdieu »von allen kulturellen Hindernissen« diejenigen am »gravierendsten und tückischsten«, die mit der »im familialen Milieu gesprochenen Sprache zusammenhängen« (ebd.: 30). Inwieweit die Bildungsaufsteiger*innen, die hier zu Wort kommen, insbesondere diese letzte Bemerkung teilen, mag dahingestellt sein. Es fällt aber auf, dass sie nicht alle die in den Bildungsinstitutionen verlangte Sprache mitbringen. Wer in ländlich-bäuerlichen Verhältnissen aufwächst, muss in der Grundschule eventuell erst Hochdeutsch lernen. Davon berichten Sabine Hark, Reinhard Damm, Klaus-Michael Bogdal und Martin Lörsch, der den »Sprachwechsel vom Dialekt der Bauernwelt ins Hochdeutsch« als »mühsam« empfand: »Im-

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mer wieder wurde ich unter dem Gelächter der Klasse korrigiert, wenn ich in der Wortwahl mal wieder daneben lag.« Dass sie ihren ostwestfälischen Dialekt nicht völlig abgelegt hat, bemerkt Elke Kleinau erst im Studium. Als einen Beleg von »Unsicherheit auf dem wissenschaftlichen Parkett« führt sie auch »die Kunst des Small Talks« als eine Art »Fremdsprache« an, die sie »mühsam« erlernen musste. Ahmet Toprak ist neun- oder zehnjährig aus der Türkei nach Deutschland gekommen und besucht eine »sogenannte türkische Vorbereitungsklasse«, eine »Nationalklasse«, in der er separiert von deutschen Schüler*innen und Kindern aus anderen Nationen unterrichtet wird. Er lernt dort die deutsche und die türkische Sprache sowie die türkische Geschichte und gewinnt den Eindruck, eher auf die Rückkehr in seine Heimat als auf Deutschland vorbereitet zu werden. Auch Pakize Schuchert-Güler, die die ersten Jahre in der Türkei aufwächst, besucht nach dem Umzug nach Deutschland eine »Nationalklasse«; damit sie die deutsche Sprache rasch lernt, gibt es ›Vokabelstunden‹ mit dem Vater und regelmäßige Besuche bei Nachbar*innen. Doris Lemmermöhle, die nach ihrer Ausbildung zur ländlichen Hauswirtschaftsgehilfin und der Mitarbeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb 23-jährig zu Tante und Onkel nach Paderborn zieht, erinnert sich: »Ich lebte plötzlich in einer, wenn auch kleinen Stadt, in einer akademisch geprägten Welt mit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur und anderen Umgangsformen. Ich hatte viel zu lernen in dieser neuen Welt, nicht alles war einfach.« Fremdwörter und Namen unbekannter Autor*innen werden im Lexikon nachgeschlagen. Die Sprache wird bei Rosa M. Puca während der Gymnasialzeit zu einem Anlass offener Ausgrenzung. Sie gehört zu den wenigen Schüler*innen aus unteren Milieus, »die den Wechsel von der Realschule auf das Gymnasium gewagt hatten. Wir unterschieden uns von den anderen in vielem, aber vor allem in unserer Sprache. Unsere ungehobelte Umgangssprache nahmen die anderen zum Anlass, uns auszulachen, wann immer uns das Wort erteilt wurde. Einige ›Aufsteiger‹, die mit mir gewechselt hatten, meldeten sich darauf hin immer weniger zu Wort. Nicht wenige haben deshalb auch die Schule vor dem Abitur verlassen.«

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3. Alltagskulturelle Unterschiede In diesen Passagen wird auch deutlich, dass es nicht einzelne Aspekte sind, wie etwa die Sprache, die den Unterschied zwischen den sozialen Klassen oder Milieus machen. Vielmehr geht es oft um ein ganzes Bündel an Haltungen und (Konsum-)Gewohnheiten, das Abkömmlinge gehobener (akademischer) Milieus von gesellschaftlich darunter positionierten Bildungsaufsteiger*innen trennt. Diese alltagskulturellen Unterschiede werden häufig auf dem Gymnasium bewusst. Dort trifft Martin Lörsch als »Kind einer eher ärmlichen Familie […] auf Gleichaltrige aus großbürgerlichen Familien und aus vermögendem Hause. Nicht wenige Klassenkameraden hatten Eltern in akademischen Berufen. […] An teure Markenkleidung war bei uns nicht zu denken, ich trug die Second-Hand-Hemden meiner Cousins auf.« An der Abschlussfahrt der Klasse nach Paris kann Lörsch nicht teilnehmen. Ebenfalls auf dem Gymnasium erfährt Pakize Schucher-Güler den Unterschied zwischen ihrer »bescheidenen« Herkunft und den Möglichkeiten von Mitschüler*innen in puncto Reisen und Markenartikeln. Bis dahin hatte sie vor allem das Verhältnis von in der türkischen Gesellschaft eingelebten Gewohnheiten und in der deutschen Gesellschaft erwarteten Verhaltensweisen als »Spagat zwischen den Welten« erlebt. Klaus Weber, dem die Grundschule viel Freude bereitete, spürt im Gymnasium den »Riss« zwischen seinem und dem Leben der Mitschüler*innen, die »ein Klavier in einem eigens dazu bestimmten Musikzimmer« stehen haben. »Nicht aus den Bergen oder aus dem kommunalen Freibad kamen andere aus dem Urlaub zurück, sondern aus Rimini, Mallorca oder den USA«, heißt es weiter. Sabine Hark muss nach ihrem »hart erkämpften« Wechsel von der Realschule aufs Gymnasium »den Umgang mit Gymnasiasten […] erst lernen. Nach Hause einladen kann sie die neuen Schulfreundinnen nicht. Sollten die mit am Küchentisch sitzen«, an dem alle Geschwister ihre Hausaufgaben erledigen und an dem »sich das Leben der achtköpfigen Familie ab[spielt]«? Und Rosa M. Puca lebt nach der Scheidung ihrer Eltern mit Möbeln vom Sperrmüll und aus hölzernen Obstkisten »in derart ärmlichen Verhältnissen«, dass sie »keine Freunde mit nach Hause bringen durfte«. Dass Klassenfahrten, für die die Familie kein Geld hat, aus einem »Schulfonds für sozial benachteiligte Kinder« bestritten werden, empfindet Puca als »Makel« und »peinlich«. Martin Eisend schließlich schreibt, dass »das Bewusst-

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werden dieser sozialen Unterschiede in jungen Jahren durchaus entmutigend sein konnte«.

4. Distanz, Fremdheit und Selbstzweifel im Bildungsgeschehen Da höhere Bildung historisch nicht für die Kinder von Bauern, Handwerkern oder kleinen Angestellten vorgesehen ist, sind auch die Konventionen und Erwartungen in den Gymnasien und Hochschulen zunächst einmal nicht für sie gemacht, sondern für gehobene Gruppen, die entsprechend den Eindruck haben und auch vermitteln können, dorthin zu gehören. Veränderungen und Umstellungen, wie sie etwa durch Bildungsöffnungen und sich ändernde Qualifikationsanforderungen verursacht werden, beanspruchen Zeit, sowohl auf Seiten der Institutionen, die sich auf neue Gruppen einstellen müssen, als auch auf Seiten der Bildungsaufsteiger*innen, die zu Anpassungsleistungen gefordert sind, um sich die Spielregeln und Anforderungen höherer Bildung anzueignen. Zoe Clark etwa hat im Studium »massive Sprechund Prüfungsängste, aber auch schlichtweg diverse Selbstzweifel. Dies sind Dinge, an denen ich hart arbeiten musste, um mich überhaupt im akademischen Feld bewegen zu können«, schreibt sie. Dass der Akkulturationsprozess von Fremdheitserfahrungen, Distanz und Selbstzweifel geprägt sein kann, belegen die vorliegenden Berichte zum Teil eindrücklich. Dazu trägt bei einigen die innerhalb der Bildungseinrichtung transportierte Botschaft bei, in der einen oder anderen Hinsicht unpassend oder nicht ›legitim‹ zu sein. So fehlt Manfred Brill das Professorale, das ›Standesgefühl‹ und »es gibt durchaus Kolleg*innen, die mich dies auch spüren lassen«. Martin Lörsch, dessen Selbstbewusstsein nach der Berufung zum Professor rasch »aus dem Gleichgewicht« gerät, bekommt vom Kollegium »immer wieder« Wissenslücken »vor Augen geführt« mit der Folge, dass er sich defizitär fühlt. Jürgen Prott, der an der Universität »nie Anzeichen wirklicher Diskriminierung« spürt, ist gleichwohl »das Empfinden des Aufsteigers, nicht wirklich dazuzugehören, sich selbst im ›Ankunftsmilieu‹ nicht recht wohlfühlen zu können, […] immer vertraut«. Klaus-Michael Bogdal, der im Elternhaus sehr gefördert wird und für den der Besuch des Gymnasiums selbst »etwas Selbstverständliches« hat, berichtet, wie einige Lehrer »rücksichtslos und offen vor der Klasse […] den Kindern aus den

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bekannten Zechensiedlungen oder von Vätern mit Arbeiterberufen [verkündeten], dass sie […] an dieser Schule fehl am Platz seien und sie nicht lange besuchen würden. Das war mehr als eine Drohung, es war ein Programm, denn von ca. 45 Sextanern machten am Ende elf das Abitur.« Als Sabine Hark auf das Gymnasium wechselt, verabschiedet sie der Rektor ihrer Realschule mit den Worten: »Ich gebe Dir zwei Wochen, dann bist Du wieder unten.« Klaus Weber hat im Bildungsgeschehen häufig »Demütigungen« erlebt und sieht sich bis heute vom »herrschenden ›kulturellen und intellektuellen Milieu‹ abgelehnt, »was an mir lässt diese mir den rücken zudrehen, die worte überkomplex wählen, das rotweinglas bei der abendsoirée drehen, so dass sich mein herkunftsunten mit einer tiefen scham verbindet?« Distanz und Ablehnung sind dabei gegenseitig; Weber verdeutlicht seine kritische Position und Weigerung, sich den herrschenden Gruppen zu unterwerfen und sich anzupassen. Auch andere, wie zum Beispiel Sabine Hark, geben »Widerworte« und ordnen sich nicht ohne weiteres unter. Und doch »überfällt« Hark, die für die höhere Bildung seitens der Familie wie der Bildungsinstitution »nicht vorgesehen« ist, bis heute »gelegentlich« das Gefühl, »ihr Aufenthaltsrecht wieder und wieder unter Beweis stellen« zu müssen. »Als könnte es widerrufen werden. Sie dabei ertappt werden, sich am falschen Ort aufzuhalten.« Es scheint, dass es auch die von Kindesbeinen an eingelebten Ordnungsvorstellungen der Bildungsaufsteiger*innen sind, die sie (auch wider besseren Wissens) daran zweifeln lassen, ob sie in der höheren Bildung am richtigen Ort sind – ein Beispiel für die Wirksamkeit des Habitus und auch für die »symbolische Gewalt«, wie Bourdieu den Mechanismus nennt, in dem sich die Akteur*innen die soziale Ordnung in einem Prozess zu eigen machen, der »auf eine unsichtbare und heimtückische Weise« (Bourdieu 2005, S. 71) bewirkt, dass die Ordnung der Klassen und Geschlechter auf dem Wege eines »unmerklichen Vertrautwerdens« (ebd.) verinnerlicht wird. Hierher gehört vielleicht auch die Erinnerung von Doris Lemmermöhle, im Studium »weniger mit Dritten« als mit sich selbst zu kämpfen. Dass sie ohne Abitur an die Hochschule kommt, empfindet sie als »Makel«, den sie im Kreis der Kommiliton*innen verschweigt. Auch ohne »klassenspezifische Diskriminierung« hat Lemmermöhle mit ihrem Selbstbewusstsein teilweise »schwer zu kämpfen«. Auf fehlendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verweist auch die Bemerkung zur Begabtensonderprüfung als Voraussetzung für den Besuch der Pädagogischen Hochschule:

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»Ich bestand die Prüfung, war aber sicher, dass dabei meine Tante ›die Hand im Spiel hatte‹.«

5. Doppelleben, Distanz und Entfremdung vom Herkunftsmilieu Die mit dem Erwerb höherer Bildung verbundene Herausforderung, sich auf Neues einzulassen, beschränkt sich nicht auf die Bildungsaufsteiger*innen. Auch ihre Familien und das soziale Umfeld sind zwangsläufig involviert. Beziehungen ändern sich, Alltagsroutinen werden durchbrochen und neue Gewohnheiten eingeführt. Mehrfach ist es vor allem die Praxis des Lesens, die auffällt und kommentiert wird: »›Die liest immer‹ war eine familiär gängige Beschreibung meiner Person«, berichtet Christine M. Graebsch. Mit der Bemerkung »du liest ja schon wieder«, äußern Mutter und Großmutter von Elke Kleinau ihr Befremden; Kleinau solle besser Hausaufgaben machen oder sich an der Hausarbeit beteiligen. »Zeit mit Büchern gilt […] als Nichts-Tun. Dieser Eindruck muss vermieden werden«, erinnert sich auch Sabine Hark. Sie liest zwischen »häuslichen Pf lichten«, die vor den Hausaufgaben rangieren. Gelesen wird auch heimlich mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium werden ihr die bisherigen Schulfreundinnen »fremd«. Von einer »inneren Entfremdung vom unmittelbaren Umfeld« spricht Klaus-Michael Bogdal, der in einer sehr bildungsorientierten Familie aufwächst, die ihn dazu anhält, in der Siedlung nicht durch »Gymnasiastenverhalten (Besserwisserei und Sprachkenntnisse)« aufzufallen und zum Außenseiter zu werden. Bogdal führt schon früh ein »Doppelleben zwischen den Bücher- und Wissenswelten, dem Erlernen eines Instruments und dem proletarisch-ländlichen Kinderalltag mit Tierschlachtungen, Vorratshaltung, Tierquälerein, Revierkämpfen gegen die Nachbardörfer, dem Mobbing der ›Evangelischen‹ usw.« Auch Martin Lörsch erinnert sich an das »Pendeln zwischen zwei Kulturen«, zwischen »Aussiedlerhof und City«, »Hausaufgaben und Hofarbeit«, das er allerdings vor allem als »fordernd und anstrengend« erlebt. Dabei können die meisten Eltern spätestens nach dem Wechsel auf ein Gymnasium bei schulischen Inhalten nicht unterstützen. »[E]s war immer klar«, schreibt Manfred Brill, »es gab niemanden, den man bei Hausaufgaben zu Rate hätte zie-

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hen können, oder der hätte Tipps geben können, wie man sich in einer Sexta richtig verhält.« Im Rückblick stellt Klaus-Michael Bogdal fest, dass wichtige Werte seines Herkunftsmilieus »wie gegenseitige Hilfe, Wertschätzung von Arbeit, Bescheidenheit und Widerständigkeit […] im akademischen Milieu unterzugehen [drohten]«. Zugleich sei es »unerlässlich« gewesen, mit Haltungen und Praktiken »des Herkunftsmilieus zu brechen, die dessen Enge und kulturelle Begrenztheit erzeugen«. Geblieben ist »eine Distanz (keine Fremdheit) zu beiden sozialen Sphären, zum Herkunftsmilieus und zur akademischen Welt«, so Bogdal. Auch Elke Kleinau führt an, dass »das Gefühl des Fremdseins, Andersseins«, das sie in der Wissenschaft empfindet, sich ebenfalls gegenüber der Herkunftsfamilie entwickelt hat. Das dies auch umgekehrt gelten kann und die Herkunftsfamilie ihrerseits nicht auf die akademische Welt zugeht, verdeutlicht Doris Lemmermöhle: »Ich bin mir sicher, dass bis heute niemand aus meiner Familie die Doktorarbeit jemals aufgeschlagen oder sich dafür auch nur ansatzweise interessiert hat.« Rainer Müller, der sich »ohne Konf likte und Abbruch« vom Herkunftsmilieu löst und den akademischen Habitus übernimmt, beschreibt, dass darauf im nicht-akademischen Milieu teilweise mit Zurückhaltung reagiert wurde. Sehr anschaulich schließlich beschreibt Manfred Brill, keinen Ort zu haben, sich weder im akademischen Feld noch im Herkunftsmilieu wirklich zugehörig zu fühlen. Im Kreis der Verwandten sind Brill, seine Ehefrau und die beiden Kinder die einzigen Angehörigen, die die allgemeine Hochschulreife erworben haben. Sie sind ›anders‹ in ihren Ansichten und Motiven, die sie der Verwandtschaft offenbar nicht verständlich machen können und inzwischen »zu erwähnen [aufgegeben]« haben. Auch hat Brill »es aufgegeben zu erklären, was ich beruf lich eigentlich mache. Und was gar nicht verstanden wird, ist das Gehalt, das mit einer Professur verbunden ist. Mein Hinweis, dass ich hart dafür gearbeitet habe, wird meist in Frage gestellt, denn geistige Tätigkeit am Schreibtisch wird nicht als Arbeit akzeptiert. Arbeit ist etwas, das man mit den eigenen Händen macht. Diese Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Wir reden einfach nicht mehr darüber, es führt zu nichts.«

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6. Das heterogene Spektrum der Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld Was die Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld eint, ist ihr sozialer Ort jenseits der oberen Milieus mit ihren distinktiven Habitusmustern. Im Verhältnis zum gelassenen und selbstbewussten Gestus in diesen oberen gesellschaftlichen Gruppen fallen die verschiedenen Passungsprobleme in den Milieus darunter auf. Die zuvor beschriebenen Erfahrungen von Fremdheit und Selbstzweifeln im akademischen Betrieb sind kein »Mythos«, wie Ingrid Miethe in der neueren Diskussion über Bildungsaufsteiger*innen im Hochschulsystem zwischenzeitlich behauptet hat (vgl. Miethe 2017; kritisch Lange-Vester/Bremer 2020; aktuell dazu Käpplinger/Miethe/Kleber 2019). Es gibt sie und sie sind teilweise gravierend. Gleichwohl werden Fremdheitserfahren nicht von allen Bildungsaufsteiger*innen und auch nicht gleichermaßen geteilt. Unterhalb der Distinktionslinie gehobener Milieus öffnet sich ein weites gesellschaftliches Feld, in dem sich unterschiedliche Milieus mit zum Teil sehr verschiedenen Lebensführungen und Präferenzen positionieren. Diesem breiten Spektrum aus mittleren und unteren Milieus gehören die Bildungsaufsteiger*innen an, die, anders als ihre Vorfahren, einen akademischen Abschluss erwerben. Mit der Perspektive, um die es jetzt gehen soll, geraten stärker die Unterschiede innerhalb der Großgruppe der Bildungsaufsteiger*innen in den Blick. So werden beispielsweise alltagskulturelle Differenzen und mit dem sozialen Klassenunterschied verbundene Einschränkungen nicht von allen hier Beteiligten als Problem wahrgenommen. Den »Familienurlaub«, den es bei Aloys Krieg während seiner Kindheit auf dem Bauernhof nicht gibt, »vermisst« er »auch nie«. Positiv berichtet Rainer Müller von den »Chancen zur Qualifizierung und Bildung«, die mit dem Gymnasialbesuch verbunden sind, der Zugang zum fremden sozialen Milieu ermöglicht. Es entstehen Freundschaften, die ihn früh »in Kontakt mit bildungsbürgerlichen, akademischen Elternhäusern« bringen. Ebenfalls fällt auf, dass die Bedeutung der sozialen Herkunft für den eigenen Werdegang recht verschieden eingeschätzt wird. Auch machen nicht alle der hier Beteiligten im Zusammenhang mit ihrem Bildungsaufstieg die Erfahrung, zurückgewiesen oder ausgegrenzt zu werden. Bei Aloys Krieg verläuft die Schulzeit unproblematisch, ge-

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prägt von der Erfahrung selbstverständlicher gegenseitiger Hilfe. Auch im Studium der Mathematik, das mit seiner Teamarbeit positiv besetzt ist, spielt seine »Herkunft überhaupt keine Rolle«, meint Krieg. Er führt dies auch auf die »Mathematik selbst« zurück. Zustimmung erhält er hier von Manfred Brill: »In diesem Fach [Mathematik, A. L.-V.] spielt die Sozialisation der Akteur*innen überhaupt keine Rolle.« Andreas Wrede fühlt sich nur in der Hauptschule, die er ein Schuljahr lang besucht, von den Lehrpersonen »wenig freundlich« behandelt, während er auf seinem weiteren Bildungsweg »keine Ressentiments« aufgrund seiner Herkunft »erdulden« muss. Nur selten nimmt Wrede »Vorbehalte« universitärer Kolleg*innen gegenüber Professor*innen an Fachhochschulen wahr. Davon berichtet auch Klaus Weber. Pakize Schuchert-Güler bestreitet ihren Weg durch die Hochschule scheinbar ohne Hürden und auch Doris Lemmermöhle erfährt keine »klassenspezifischen Diskriminierungen […]. Vermutlich hätte ich sie auch nicht als solche erkannt.« Rainer Müller nimmt ebenfalls keine Diskriminierung aufgrund der eigenen sozialen Herkunft wahr. In diesen positiven Äußerungen spiegelt sich möglicherweise eine recht gute Passung zwischen den in die Bildungsinstitution mitgebrachten Habitusmustern und den dort gestellten Anforderungen und herrschenden Konventionen. Zumindest fällt auf, dass es in den Herkunftsfamilien der genannten Personen Unterstützung und Förderung gab, sei es durch eine ausgeprägte Bildungsorientierung (siehe dazu den Beitrag von Michael Hartmann) und bei einigen auch starkes politisches Interesse, durch Aufstiegswillen oder – wie Manfred Brill beschreibt – durch Eltern, die »eisern sparen«, um dem Nachwuchs Schulbus und -bücher finanzieren zu können. Denkbar, dass mit entsprechendem Rückenwind gute Voraussetzungen für die herzustellenden Passungen verbunden sind. Im Einzelfall gibt es, wie bei Jürgen Vogt, bereits ältere Geschwister oder andere Vorbilder, die als Pioniere das Abitur erwerben und studieren. In dem Zusammenhang ist auch auffällig, dass Sabine Hark, Klaus Weber und Rosa M. Puca, deren Bildungsbestrebungen während ihrer Schulzeit im Elternhaus vergleichsweise wenig positive und aktive Unterstützung erfahren, ihren Bildungsaufstieg streckenweise hart erkämpfen müssen. Insgesamt deuten die biographischen Notizen der Bildungsaufsteiger*innen darauf hin, dass die Haltungen und Lebensweisen ihrer Herkunftsfamilien zum Teil ganz verschieden sind. Damit bestätigt sich ein heterogenes Spektrum, das die neuere Habitus- und Milieu-

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forschung für Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter*innen in ihren seit den 2000er Jahren durchgeführten Untersuchungen herausarbeiten konnte (Hild 2019; Lange-Vester 2015; Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2004; vgl. außerdem die Hinweise in Abschnitt 3.2 bei Lange-Vester/Bremer 2020).

7. Ungleiche Bildungsaufsteiger*innen Welche spezifischen Habitusmuster sich für die hier vertretenen Bildungsaufsteiger*innen im Einzelnen ausmachen lassen und wie sie sich konkret voneinander unterscheiden, kann an dieser Stelle nicht herausgearbeitet werden. Exemplarisch lässt sich ein Rahmen skizzieren, in dem die Beteiligten als Mitglieder einer Gruppe von Ungleichen verschieden platziert sind. Dieser Rahmen wird unter anderem durch vertikale Differenzen abgesteckt. So wachsen einige Bildungsaufsteiger*innen in Familien auf, denen mehr Mittel, insbesondere mehr ökonomische Mittel, zur Verfügung stehen als anderen. Wer wenig hat, muss vor allem auf existentielle Sicherheit bedacht sein, die ohne materielle Grundlage nicht gewährleistet ist. Aber auch wenn materielle Sicherheit vielfach eine Priorität bildet und in der Regel wenig institutionalisierte Bildungserfahrungen bestehen, lassen sich doch Unterschiede in den dominierenden Reproduktionsstrategien der Familien ausmachen. Für einige ist vor allem ökonomisches Kapital wichtig, andere orientieren sich stärker an kulturellem Kapital. Dies sind zumeist keine Präferenzen allein für die eine oder die andere Kapitalart; die Strategien sind eher von Abstufungen und Zwischentönen geprägt, die hier, wie gesagt, nicht genauer nachvollzogen werden können. Mit den jeweiligen Ressourcen, die zur Verfügung stehen und die relevant sind, gehen im Alltag der Bildungsaufsteiger*innen verschiedene Erfahrungen einher, auf deren Grundlage sich unterschiedliche Haltungen ausprägen. In etwa lassen sich die beiden Pole, zwischen denen der Rahmen vertikal gespannt ist, am Beispiel der biographischen Notizen von Rosa M. Puca und Christine M. Graebsch zeigen. Die 1966 geborene Puca wächst in überwiegend prekären Verhältnissen ohne Unterstützung auf, während Graebsch – sie ist Jahrgang 1967 – unter vergleichsweise privilegierten Voraussetzungen groß wird und vielfältige Förderung erfährt.

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen

Die Eltern von Rosa M. Puca verfügen beide über wenig Erfahrungen in institutionalisierter Bildung. Das betrifft die Schul- wie die Berufsbildung; der Vater wächst in Italien auf, er verlässt die Schule als Zehnjähriger und arbeitet im Gastgewerbe seiner Eltern, bis er 1961 als Gastarbeiter nach Deutschland kommt. Pucas Mutter verlässt die Volksschule nach Abschluss der siebten Klasse und arbeitet in einer Fabrik. Jahrelang lebt die Familie mit ihren Kindern in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem von Gewalt, Alkoholismus und Prostitution geprägten Umfeld, auch weil Ressentiments gegenüber »Spaghettifressern« den Umzug in eine größere Wohnung in besserer Lage verhindern. Auch später, nach der Trennung der Eltern, dominieren prekäre Bedingungen und armselige Verhältnisse den Alltag. Puca hat nur wenig Freunde, sie kann in den Cliquen nicht ›mithalten‹. In der Schule fühlt sie sich häufig »minderwertig« und »unzulänglich«. Noch die Promotion schließt sie mit dem Zweifel darüber ab, ob sie Titel und Bestnote wirklich ihrer Leistung und ihrem Können verdankt, oder »sich das Ganze vielleicht nur durch geschicktes Agieren erschlichen« hat. Und in den Auswahlgesprächen in Berufungskommissionen für Professuren, auf die sie sich bewirbt, fehlt ihr das sichere und selbstbewusste Auftreten, sie fühlt sich »regelrecht eingeschüchtert«. In demgegenüber wohlhabenden Verhältnissen, die über viele Jahre auch einen Internatsbesuch ermöglichen, wächst Christine M. Graebsch auf. Der Vater, ein gelernter Bankkaufmann mit Realschulabschluss, arbeitet bei Daimler-Benz, später verdient er als Selbständiger in internationalen Geschäften »ein Vielfaches«. Ihre Mutter ist – ohne studiert zu haben – als Lehrerin tätig, sie unterrichtet evangelische Religion. Nach der Trennung der Eltern lebt Graebsch vor allem bei der Schwester und dem Schwager der Mutter, einem diplomierten Kaufmann in leitender Position, in einem Haus in »gehobener Lage«, bevor sie in der siebten Klasse – aus Disziplinierungsgründen – ins Internat wechselt. Auch dort verhält sie sich eher rebellisch, sucht die Auseinandersetzung mit Lehrpersonen und nimmt in Kauf, ein Schuljahr zu wiederholen. Mit ihren »vehement vorgetragenen Gegenargumenten« wird Graebsch jedoch vom Schul- und Internatsleiter und seiner Ehefrau, die ebenfalls unterrichtet, ernstgenommen und unterstützt. Dass sie es nicht eilig damit hat, ihre schulische Lauf bahn abzuschließen, kann als ein Hinweis auf eine in existentieller Hinsicht entspannte Situation und ebenfalls als Indiz für die sichere Gewissheit gelesen werden, dorthin zu gehören. Dabei vermittelt auch die Sprache Graebschs,

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dass sie das Heft des Handelns in der Hand hält: »Ich entschied mich, die Klasse zu wiederholen.« Die an das Abitur angeschlossene akademische Lauf bahn wird ihr seitens der Familie »zugetraut« (gleichzeitig wird sie im Alltag mit dem Verweis auf die Möglichkeit, beim »Breuninger« zu arbeiten, ängstlich in Frage gestellt) und für Graebsch »selbst war von jeher klar«, dass sie »studieren würde so viel es geht«. Tatsächlich studiert sie dann nicht nur Jura und Philosophie, sondern anschließend noch sozialwissenschaftliche Kriminologie. Die Herkunftsmilieus von Graebsch und Puca wirken in Vielem deutlich verschieden. Graebsch erfährt Unterstützung: »mütterlicherseits inhaltlich und väterlicherseits finanziell«. Die Mutter unterstützt die Bestrebungen der Tochter, eigene Interessen zu finden, und scheint damit an Emanzipation und Selbstbestimmung orientiert. Dabei zeigt sie sich anspruchsvoll und erwartet »Höchstleistungen«, die möglichst unangestrengt und mit Leichtigkeit erbracht werden sollen – eine Position, mit der sie sich vom »Streber«, von Fleiß und angestrengtem Lernen abgrenzt. Anders ergeht es Puca: Von ihrer Familie ist weder finanziell noch beim Bildungserwerb Unterstützung zu erwarten. Ihre beiden Brüder bleiben ohne Schulabschluss und beruf liche Ausbildung. Die Mutter hat ihren Platz in gesellschaftlich kaum geachteter Position in einem der unteren Milieus verinnerlicht. Während in vielen Elternhäusern der hier beteiligten Bildungsaufsteiger*innen die mehr oder minder explizite Erwartung oder zumindest Hoffnung vorherrscht, dass die Kinder es besser haben und die sozialen Aufstiegswünsche der Eltern einlösen sollen, zeigt sich Pucas Mutter eher fatalistisch: »Ihr Credo war, dass ›die da oben ohnehin erwarten, dass Putzfrauen immer nur Putzfrauen hervorbringen‹.« Entsprechend lehnt sie die Wünsche der Tochter, die Realschule zu besuchen und anschließend das Abitur zu machen, zunächst jeweils ab. Neben der damit verbundenen, »kaum zu bewältigende[n] finanzielle[n] Belastung« sieht sie Puca gegen das Konformitätsprinzip verstoßen und mahnt, »ich solle mir nun nicht einbilden, ›wie die da oben etwas Besseres zu sein‹«. BAföG und Nebenjobs ermöglichen Puca, noch vor dem Abitur in eine eigene Wohnung zu ziehen, was ihre Selbstständigkeit befördert. Obwohl ihr das Lernen in der Schule Freude bereitet und ihr später auch das Studium »überraschend« leichtfällt, ist für die guten Prüfungsresultate, die sie erzielt, »natürlich« genau die »Fleißarbeit nötig«, die in der Familie von Graebsch abgelehnt wird.

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen

Die Bedingungen, unter denen Rosa M. Puca aufwächst, scheinen prekärer zu sein als in den meisten anderen Familien, von denen in diesem Band die Rede ist. Gleichwohl ist Puca kein Ausnahmefall, andere Bildungsaufsteiger*innen bewegen sich in der Nähe und zumindest dichter bei ihr als bei Graebsch. So auch der 1943 geborene Reinhard Damm, der mit seiner alleinerziehenden Mutter ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen lebt. Nach dem frühen Tod des Vaters ist die Mutter als Tagelöhnerin und Putzfrau tätig. Damm, der ab dem zehnten Lebensjahr zunehmend gern liest, leiht sich aus den Regalen der Familien, für die seine Mutter arbeitet, die Bücher, die es in seinem Elternhaus kaum gibt. Im Anschluss an die Grundschule gelingt der »Übergang zur Mittelschule, der für meine Mutter außerhalb ihrer Erfahrungswelt lag« dank der Anregungen eines informierten Nachbarn. Und Klaus Weber teilt mit Puca zumindest die Erfahrung, dass Kopfarbeit in der Familie eher geringgeschätzt wird. Während seiner Schulzeit im Gymnasium verhöhnt ihn vor allem der Vater dafür, Dinge lernen zu wollen, die aus seiner Sicht nur »unpraktisch« und »lebensfremd« sind. Andere Bildungsaufsteiger*innen scheinen stärker in der Nähe von Graebsch positioniert zu sein. Jürgen Vogt – Jahrgang 1958 –, dessen »erstaunlich aufstiegswilliger Vater« ein Studium für seine Söhne vorsieht, folgt dem älteren Bruder, in dessen Bücherregal er Böll, Grass und Enzensberger findet. Die Eltern, die »nie in einer Buchhandlung« waren, beginnen mit dem Kauf von Klassikern (Goethe, Schiller, Shakespeare), als der ältere Sohn auf das Gymnasium kommt, und erwerben ein Abo für die Oper. Die Studiengebühren für das Auslandssemester, das Vogt später in Großbritannien absolviert, bezahlen die Eltern »anstandslos«. Auch Andreas Wrede, er wird 1967 geboren, wächst ohne Not und Entbehrungen, dabei mit erheblichen Unterstützungsleistungen an Zeit und Geld auf. Seine Mutter hat das Abitur erworben, der Vater ist gelernter Versicherungskaufmann. Die Entscheidung, dass Wrede im Anschluss an die Grundschule auf eine Hauptschule wechselt, bewirkt beim Vater eine »private Bildungsoffensive« mit dem Ziel, den Sohn ins Gymnasium zu befördern. Die Initiative ist umfangreich und schließt die persönliche Hilfe bei den Hausaufgaben, bezahlte Nachhilfe, eine Haushaltskraft sowie »massive Intervention bei den verantwortlichen Lehrer*innen« ein. Zeit und Geld werden nach dem Wechsel auf das Gymnasium, der bereits nach einem Jahr gelingt, weiterhin investiert. Wrede erhält zu Geburtstagen und an Weihnachten »nur noch Bildungsgeschenke« (wie z.B. Meyers Enzyklopädie in 25 Bänden), die

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sich nicht auf Bücher beschränken, sondern auch Reisen, ein Musikinstrument sowie Tennis- und Karatestunden umfassen. Während der Schulferien besucht er regelmäßig seinen Onkel in der Schweiz, der im Anschluss an sein Studium der Textilgestaltung am Zürichsee ein eigenes Grafikatelier betreibt. Wredes Designstudium schließt später einen Auslandsaufenthalt in Japan ein. Seine beiden Geschwister haben auch akademische Wege eingeschlagen, der Bruder ist ebenfalls Designer mit einer Professur an einer Fachhochschule, die Schwester ist Ingenieurin der Dentaltechnologie und Berufsschullehrerin. Neben vertikalen Unterschieden lassen sich in den Herkunftsfamilien der Bildungsaufsteiger*innen verschiedene Reproduktionsstrategien ausmachen, die sich zwischen Bildungs- und Leistungsorientierung und teilweise damit verbundenen Emanzipationsbestrebungen auf der einen Seite und Status- und Prestigeorientierungen auf der anderen Seite bewegen. Über relativ wenig materielle Mittel zu verfügen, ist nicht automatisch gleichbedeutend mit Bildungsferne oder fehlender Orientierung an Bildung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür geben die biographischen Notizen von Klaus-Michael Bogdal – Jahrgang 1948 – über die ausgeprägte Bildungsaufgeschlossenheit in seiner Familie und insbesondere seines Vaters, der Bogdal nicht nur während seines Bildungsaufstiegs fördert und motiviert, sondern auch später mit ihm seine Veröffentlichungen diskutiert und ihn einen Tag lang an der Uni begleitet. Auch der 1942 geborene Jürgen Prott, der die Umstände, unter denen er mit seiner alleinerziehenden Mutter und drei Geschwistern groß wird, als »milde Armut« bezeichnet, erfährt in der Kindheit eine Nähe zu Bildung, für die er beispielhaft die Geschichten benennt, die die Mutter ihm oft vorliest. Bogdal und Prott wachsen beide in politisch und gewerkschaftlich besonders aufgeschlossenen und engagierten Familien auf. So wie Armut nicht gegen Bildungsinteresse sprechen muss, ist eine materiell sehr auskömmliche Situation nicht selbstverständlich mit großer Bildungsnähe oder -aufgeschlossenheit verbunden. Es gibt soziale Milieus, deren Lebensweise und Bildungsinvestitionen sich stärker an Status- und Prestigefragen orientieren, während konkrete Bildungsinteressen dahinter zurückstehen. Ein anschauliches Beispiel dafür zeigt sich in der mütterlichen Linie der Herkunftsfamilie von Christine M. Graebsch. Für den Onkel, in dessen Familie sie aufwächst und in der sie sich »unverstanden« fühlt, ist Geld »das Wichtigste im Leben«. Zwar gibt es »in Leder gebundene Klassiker in der Vitrine«, die

Über Habitusmuster und Milieuherkunft von Bildungsaufsteiger*innen

aber nur ausgestellt und nicht gelesen werden. Ihren Vater bezeichnet Graebsch als »Akademikerfeind«; die Finanzierung eines von ihr in Erwägung gezogenen Philosophiestudiums lehnt er ab, dem Jurastudium stimmt er »zähneknirschend« zu. Er selbst hatte eine Lehre zur Buchhändlerin vorgeschlagen und in Aussicht gestellt, der Tochter »einen Buchladen [zu] kaufen«.

8. Ungleichheit der Geschlechter Mit der Perspektive auf die Milieus verbunden ist ein differenzierter Blick auf die Geschlechter; dass Frauen keine homogene Gruppe bilden, sondern sich nach ihren Lebensweisen und Haltungen unterscheiden, zeigt nicht zuletzt der Blick auf die Frauen in den Familien von Rosa M. Puca und Christine M. Graebsch. Bei Durchsicht des biographischen Materials fällt darüber hinaus auf, dass einige Frauen auch geschlechtsspezifische Rollenanforderungen und Arbeitsteilungen zur Sprache bringen, die für sie bestimmte Wege und Zuständigkeiten vorsehen und die als gesellschaftliche Vorstellungen auch in den Bildungsinstitutionen und den Familien präsent sind. Der Bildungsaufstieg eröffnet Möglichkeiten qualifizierter Erwerbstätigkeit und Selbstbestimmung, die mit tradierten Ordnungsvorstellungen nicht unbedingt vereinbar sind. Für die Frauen ist der Bildungsaufstieg entsprechend mit der zusätzlichen Hürde verbunden, sich auch Rollenerwartungen zu widersetzen und sich von ihnen zu befreien. Dazu abschließend einige Beispiele, die auch die Lenkungsprozesse verdeutlichen, in denen Geschlechterungleichheit im Lebensweg frühzeitig und implizit hergestellt und selbstverständlich wird. Näher zu überprüfen wäre, inwieweit es sich hier um milieuübergreifende Erfahrungen in der Gruppe der Frauen handelt, die, je nach Lebenswelt, in unterschiedlichem Gewand daherkommen. Weiter oben wurden bereits die an Elke Kleinau und Sabine Hark gerichteten Bemerkungen erwähnt, sich besser um Hausarbeiten als um die Lektüre von Büchern zu kümmern. Dass Christine M. Graebsch viel liest, wird skeptisch registriert, ohne dass damit die Anforderung verbunden ist, sich an der Hausarbeit zu beteiligen. Während Graebschs Cousine »diverse Arbeiten im Haushalt« erlernt, bleibt sie davon ausgenommen mit der Erwartung, dass aus ihr »mol äbbes recht’s wird«, wie der Opa mutmaßt. Das Jurastudium soll dann auch nur dazu dienen,

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›einen zu finden‹. Das Studium wird, mit anderen Worten, als Heiratsmarkt aufgefasst, auf dem Graebsch eine gute Partie machen soll. Von Sabine Hark wird ein Leben erwartet, »das sich einfügt in die Geschicke des Dorfes. In die Geschicke der Frauen«. Elke Kleinau, die Geschlechterungleichheiten im Wissenschaftsbetrieb kritisiert – sie hat vor allem in Berufungsverfahren häufiger den Eindruck, sich an einer »der letzten feudalistisch geprägten männerbündischen Bastionen unserer Gesellschaft« zu befinden –, fühlt sich bereits als Kind in der Familie aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt; den beiden Cousins, mit denen sie aufwächst, werden mehr Freiheiten zugestanden als ihr, obwohl sie jünger sind. Später spricht sich die Familie dafür aus, dass sie Lehrerin werden soll, »der ideale Beruf für Frauen, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren«. Die Eltern würden sie mit Blick auf die behinderte Schwester, für die Kleinau stets Verantwortung übernimmt, gern als Sonderschullehrerin sehen. Auch Doris Lemmermöhle bekommt frühzeitig die Rolle zugewiesen, sich um ihre Geschwister zu kümmern. Sie erinnert sich an »erhebliche« Geschlechterunterschiede während ihrer Kindheit, die sie damals »als selbstverständlich und nicht als Benachteiligung« wahrnimmt: Als rechtmäßiger Hoferbe lernt der jüngste Sohn der Familie die »Welt auch außerhalb des Hofes kennen« und hat so auch Gelegenheit, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Nachdem sich mit der Geburt eines Bruders die Reihenfolge der Erben ändert, erhält er die Möglichkeit, ein Gymnasium zu besuchen und wird später Tierarzt. »Mädchen spielten bei dieser Erbfolge keine Rolle, was nicht heißt, dass sie nicht auf dem Hof gebraucht wurden«, so Lemmermöhle. Als Mädchen ist sie »wie von Natur aus« dafür zuständig, die jüngeren Geschwister zu betreuen und auch dafür zu sorgen, dass die Eltern nicht im Schlaf gestört werden. So übernachten die jüngeren Kinder dann auch in Lemmermöhles Zimmer, insbesondere der behinderte Bruder, »der über Jahre die Nächte« dort mit ihr verbringt. Davon, dass ihr die Sorge für Geschwister übertragen wird, berichtet auch Rosa M. Puca; sie ist als Jugendliche verstärkt für »die Betreuung« des »verhaltensauffälligen vierjährigen Bruders« zuständig, was schließlich »das Lernen für die anstehenden Abiturprüfungen so gut wie unmöglich« macht. Puca entschließt sich, wie oben schon angeführt, zum Auszug und verlässt die Familie. Schließlich: Dass die hier beitragenden Wissenschaftlerinnen zeitweilig nicht frei sind vom Zweifel daran, ihren beruf lichen Erfolg verdient zu haben, wurde weiter oben mit Bezug auf Sabine Hark und

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Doris Lemmermöhle bereits als ein Ausdruck symbolischer Gewalt gedeutet, die dann auch bei Rosa M. Puca auffällt; in ihr kommt die verinnerlichte Ordnung der Klassen zum Tragen, aber eben auch die der Geschlechter. So zeigt auch Christine M. Graebsch nicht allein deutliche Hinweise auf eine, ihrer sozialen Zugehörigkeit entsprechende, selbstbewusste und zuversichtliche Haltung; daneben notiert sie in ihren Kindheitserinnerungen auch eine »extreme Schüchternheit« und Angst davor, »für dumm gehalten zu werden«. Für ihre Mutter hält sie die »Prüfungsangst« als eine Ursache für den Schulabbruch vor dem Abitur fest. Vielleicht ist die Neigung zum Gefühl, nicht vollwertig, kompetent und ernst zu nehmen zu sein, auch eine, die, bei aller Differenz, die Frauen und ihre, der Neigung zugrunde liegenden, Erfahrungen ein stückweit klassen- bzw. milieuübergreifend verbindet.

9. Abschließende Bemerkung Diversität ist zu einem viel beachteten Merkmal in der Diskussion über die Entwicklungen an den Hochschulen und insbesondere im Studium geworden. Andreas Wrede betont die ausgeprägte Diversität an seiner Hochschule, für die die hohen Anteile an internationalen Studierenden und an studierenden Frauen ebenso Beleg sind wie die Studierenden aus handwerklichen Berufen und ohne gymnasiale Hochschulreife. Daneben stellt Martin Eisend mit Bedauern ebenfalls fest, dass »die soziale Herkunft bei der Diversity-Debatte noch eine nachrangige Rolle [spielt]«. Elke Kleinau spricht gar von einem »Tabu«, mit dem die eigene soziale Herkunft in der Wissenschaft belegt ist. Dass die soziale Herkunft »die vergessene Seite« im Diversitätsdiskurs abbildet, bestätigen auch aktuelle Forschungen von Jürgen Gerhards und Tim Sawert (2018). So leistet der vorliegende Band einen eindrucksvollen Beitrag, mit dem die Bedeutung des Herkunftsmilieus für Erfahrungen und einverleibte Haltungen sowie für Chancen und Hindernisse im Bildungsgeschehen und schließlich für die Strategien unterstrichen wird, mit denen diese Hürden bewältigt werden. Die biographischen Notizen verweisen dabei auf ein breites Spektrum möglicher Erfahrungen und Wahrnehmungen im Bildungsaufstieg. Dass Bildungsaufsteiger*innen im akademischen Feld keine homogene Gruppe bilden, ist demnach keine aktuelle Besonderheit, sondern gilt genauso für ältere Generationen. Innerhalb dieser heterogenen Spannbreite gibt es in den verschiedenen Alters-

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gruppen und Generationen jeweils Wissenschaftler*innen, denen die Akkulturation im Wissenschaftsbetrieb ohne erhebliche Probleme gelingt. Ebenso real sind Wissenschaftler*innen mit Selbstzweifeln und Fremdheitserfahrungen, wie man sie auch selbst, während des eigenen Bildungsaufstiegs, vielleicht nicht erlebt hat. Die Anforderung, diese verschiedenen Ausprägungen und damit gegebenenfalls auch die Fremdheit zu »verstehen« (Bourdieu 1997), besteht für alle Beteiligten im Wissenschaftsbetrieb, für Angehörige mit akademischer Tradition wie auch für die Neulinge im Feld.

Literatur Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik, Hamburg: VSA. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit, Stuttgart: Klett. Bourdieu, Pierre (1997): »Verstehen«, in: Ders. et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK, S. 779-822. Gerhards, Jürgen/Sawert, Tim (2018): »Deconstructing Diversity«: Soziale Herkunft als die vergessene Seite des Diversitätsdiskurses, in: Leviathan, 46. Jg., 4, S. 527-550. Hild, Petra (2019): Habitus und seine Bedeutung im Hochschulstudium. Aneignungspraktiken und -logiken von Studierenden, Weinheim/ München: Beltz Juventa. Käpplinger, Bernd/Miethe, Ingrid/Kleber, Birthe (2019): Fremdheit als grundlegendes Erleben von Bildungsaufsteiger/-innen im Hochschulsystem? in: ZSE, 39. Jg., H. 3, S. 296-311. Lange-Vester, Andrea/Bremer, Helmut (2020): »Zur Bedeutung des Habitus für die Aneignung des Studiums«, in: Andrea Lange-Vester/Martin Schmidt (Hg.), Herausforderungen in Studium und Lehre, Weinheim/München: Beltz Juventa. S. 86-103. Lange-Vester, Andrea (2015): »Bildungsaufsteiger und Bildungsaufsteigerinnen: Eine Gruppe von Ungleichen im Studium«, in: Angela Graf/Christina Möller (Hg.), Bildung – Macht – Eliten. Zur Reproduk-

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tion sozialer Ungleichheit, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 94121. Lange-Vester, Andrea/Teiwes-Kügler, Christel (2004): »Soziale Ungleichheiten und Konf liktlinien im studentischen Feld«, in: Steffanie Engler/Beate Krais (Hg.), Das kulturelle Kapital und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Verschiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus, Weinheim: Juventa, S. 159-187. Lange-Vester, Andrea/Teiwes-Kügler, Christel (2013): Zwischen W3 und Hartz IV – Arbeitssituation und Zukunft wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Leverkusen: Verlag Barbara Budrich. Miethe, Ingrid (2017): Der Mythos von der Fremdheit der Bildungsaufsteiger_innen im Hochschulsystem, in: Zeitschrift für Pädagogik, 63. Jg. H. 6, S. 686-707. Vester, Michael (2015): »Grundmuster der alltäglichen Lebensführung und der Alltagskultur der sozialen Milieus«, in: Renate Freericks/ Dieter Brinkmann (Hg.): Handbuch Freizeitsoziologie, Wiesbaden: Springer VS, S. 143-187. Vester, Michael/von Oertzen, Peter/Geiling, Heiko/Hermann, Thomas/ Müller, Dagmar (2001): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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IV. Im Dialog

»Auch der Homo academicus hat eine Herkunft!« Im Dialog mit Initiativen von und für Arbeiterkinder in der Wissenschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft über herkunftssensible Nachwuchsförderung Ein Buch über Aufsteiger*innen in der Wissenschaft sollte neben den persönlichen wie sozialwissenschaftlichen Ref lexionen sozialer Flugbahnen auch die mittlerweile sehr aktiven hochschulischen Initiativen und Vereine zu Wort kommen lassen, die »Arbeiterkindern« bzw. »First Generation Students« zum Teil sehr unterschiedliche Formen von Unterstützung auf ihrem wissenschaftlichen Qualifizierungsweg anbieten. In vielen dieser Initiativen engagieren sich Wissenschaftler*innen, die aufgrund ihrer eigenen Herkunftsgeschichte und Erfahrungen eine besondere Sensibilität für die Herausforderungen für Nicht-Akademikerkinder in Bildungslauf bahn und Wissenschaftskarriere mitbringen. Viele der Initiativen arbeiten (noch) ehrenamtlich, da die Bildungs- und Hochschulpolitik erst langsam ein Problembewusstsein dafür entwickelt, dass Diversität und Chancengleichheit nicht nur Imagefaktor, sondern für die Innovationsfähigkeit von Wissenschaft wie Demokratiefähigkeit unserer Gesellschaft zentral sind. So lokal und überschaubar manche Initiativen begonnen haben, so sehr gibt ihnen die Aufmerksamkeit und der Zulauf recht, ihre Aktivitäten auch langfristig und überlokal, über die eigene Hochschule bzw. Landesgrenze hinaus, anzubieten, nicht zuletzt, weil sie eine Lücke in der bundesweiten professionellen Nachwuchsförderung schließen, die häufig Begabten- und Eliteförderung ist. Wir haben vier der Initiativen gefragt, wie sie die aktuelle Chancengleichheit für Arbeiterkinder einschätzen, wo für sie an der Universität die Orte und Kontexte sind, in denen so-

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ziale Differenzen einen Unterschied machen und welche Angebote sie für Nachwuchswissenschaftler*innen vorhalten, denen es aufgrund ihrer Herkunft an Vorbildern, Mitteln und Wissen für eine wissenschaftliche Karriere fehlt. Neben Verena Limper, Gründungsmitglied des 2014 an der Universität zu Köln ins Leben gerufenen Vereins »Erste Generation Promotion – EGP e.V.« (www.egp-verein.de), nahmen Anke Kujawski, zweite Vorsitzende des 2006 gegründeten Vereins »Forum Mentoring« e.V. des Bundesverbandes Mentoring in der Wissenschaft (www.forum-mentoring.de), Dr. Britta Korkowsky vom Projekt »Brückenschlag für Promovierende« der Göttinger Graduiertenschule Gesellschaftswissenschaften (GGG) (www.uni-goettingen.de) sowie Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin der seit 2008 bestehenden gemeinnützigen GmbH zur Förderung des Hochschulstudiums von Nicht-Akademikerkindern »ArbeiterKind.de« (www. arbeiterkind.de), hierzu Stellung. Außerdem hat uns Dr. Sonja Ochsenfeld-Repp aus dem Team »Chancengleichheit, Integrität und Verfahrensgestaltung« der DFG-Geschäftsstelle zum Verhältnis von sozialer Herkunft und wissenschaftlichen Fördermaßnahmen Auskunft gegeben.1 Ihre Antworten, die uns als schriftliche Emaildokumente vorlagen, wurden für dieses Buch gekürzt und in Form eines Interviewgesprächs auf bereitet, um die Lesbarkeit und Vergleichbarkeit zu erhöhen. Herausgeber*innen: Wie schätzen Sie die Bedeutung eines Buches ein, in dem Professor*innen ihre persönliche Aufstiegsgeschichte schildern? ArbeiterKind (AK): Studierende aus Familien ohne Hochschultradition, die sich für eine Promotion entscheiden, sind nach wie vor sehr selten. Ein Buch, das den Bildungsaufstieg von Professor*innen schildert, macht auf diese Problematik aufmerksam. Für Studierende der ersten Generation können die gesammelten autobiographischen Notizen als Ermutigung dienen, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben.

1 Ebenfalls haben wir das Bundesministerium für Bildung und Forschung um eine Stellungnahme zu den von uns vorgelegten Fragen gebeten, wurden aber hier auf die Homepage verwiesen, da es keine expliziten Förderprogramme und -instrumente für Nachwuchswissenschaftler*innen aus nicht-akademischen Elternhäusern gibt, aber das Thema als Forschungsthema in zum Teil recht unterschiedlichen Förderlinien im Bereich der Bildungssoziologie und/oder Wissenschafts- und Hochschulforschung bearbeitet wird.

»Auch der Homo academicus hat eine Herkunft!«

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Rollenvorbilder können einen wichtigen Beitrag für Personen leisten, die im eigenen Umfeld keine Ermutigung für eine akademische Karriere erhalten und sich mangels entsprechender Vorinformationen schwerer im akademischen System zurechtfinden. Diese Information müsste den entsprechenden Personenkreis allerdings auch erreichen. Brückenschlag für Promovierende (BfP): Persönliche Erfolgsgeschichten sind von sehr hohem Wert. Das Genre der Autobiographie ermöglicht größere Nähe zum Erzählten als eine wissenschaftliche Abhandlung. Zum einen wird die Sichtbarkeit von Bildungsaufstiegen erhöht, zum anderen stehen Rollenvorbilder zur Verfügung, die diesen Aufstieg bereits vollzogen haben. Menschen lernen gerne von den Erfahrungen anderer. In den Aufstiegsgeschichten werden unterschiedliche Strategien sichtbar, wie man an sein Ziel gelangen kann. Vordergründige Zufälle, die auch gerne als ›Glück‹ bezeichnet werden, formen sich zu Mustern. Schließlich geht es darum, Möglichkeiten zu erkennen und zu ergreifen. Ganz nebenbei führen persönliche Erfolgsgeschichten beim Bildungsaufstieg dazu, dass das Thema auch für die Professor*innen ›enttabuisiert‹ wird. Auch der Homo academicus hat eine Herkunft und ist nicht (immer) als solcher geboren. Erste Generation Promotion (EGP): Unserer Erfahrung nach wird es als sehr hilfreich und entlastend wahrgenommen, zu erkennen, dass man mit Schwierigkeiten nicht alleine ist. Ein Buch, in dem Professor*innen ihre persönliche Geschichte schildern, kann daher eine gute Grundlage sein, um auf das Thema aufmerksam zu machen und Sichtbarkeit für diverse Wissenschaftskarrieren zu schaffen. Es zeigt angehenden Wissenschaftler*innen, welche Möglichkeiten bestehen, Hürden zu überwinden und ihren Weg zu gehen. Die Professor*innen sind positive Vorbilder, die zeigen, dass Aufstieg möglich ist. Forum Bundesverband Mentoring in der Wissenschaft (FMW): Rollenvorbilder haben einen sehr hohen Identifikations- und Motivationsfaktor. Damit arbeiten wir gezielt im Bereich des Mentorings. Im Mentoring unterstützt eine erfahrenere Person eine weniger erfahrene. Über den persönlichen Kontakt, das individuelle Vorbild und den unmittelbaren Erfahrungsaustausch werden Einblicke in bestimmte Felder gegeben. Wichtig sind die persönliche Anbindung und ein Ein-

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blick in den persönlichen Werdegang: Wie waren Entscheidungswege? Wie sind die Mentor*innen mit verschiedenen Herausforderungen und Unsicherheiten umgegangen und haben diese gemeistert? Welche ähnlichen Situationen haben sie durchlebt und wie gehandelt? In der Rückschau erscheinen viele Entscheidungen als sehr eindeutig und zielführend, tatsächlich waren sie oftmals für die Personen in den jeweiligen Situationen gar nicht klar, vielleicht auch nicht geplant. Die Erkenntnis, dass Personen mit einem vielleicht ähnlichen Hintergrund Dinge geschafft haben, motiviert sehr. Herausgeber*innen: An welcher Stelle setzt ihre eigene Initiative an, um ›Chancengleichheit‹ im Bildungssystem zu realisieren? Warum gerade an dieser Stelle? AK: ArbeiterKind.de setzt beim Übergang von der Schule zur Hochschule an. Bundesweit ermutigt ein Netzwerk aus über 6.000 Ehrenamtlichen in 80 lokalen ArbeiterKind.de-Gruppen studieninteressierte Schüler*innen aus nicht-akademischen Familien dazu, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Die Ehrenamtlichen besuchen Schulen und informieren die Schüler*innen über Studien- und Finanzierungsmöglichkeiten. Sie erzählen von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Studium und fungieren als Vorbilder für die Jugendlichen. Außerdem begleiten die Engagierten von ArbeiterKind.de Studierende der ersten Generation bis zum erfolgreichen Abschluss und in den Berufseinstieg hinein. Studierende aus nicht-akademischen Elternhäusern haben einen spezifischen Unterstützungsbedarf, der durch die Beratungsangebote, die im deutschen Hochschulsystem existieren, oft nicht abgedeckt wird. BfP: Aus zahlreichen Beratungsgesprächen mit Promovierenden ging hervor, dass Problematiken, die beim Promotionseinstieg und in der Krisenberatung geschildert wurden, mit dem sozialen Hintergrund der Person verknüpft waren. Daher wurde das Pilotprojekt konzipiert, das zu diesem Zeitpunkt bundesweit das einzige war. Im Zuge des Projekts wurde an mehreren Stellen angesetzt. Eingebettet in das reguläre Qualifizierungsprogramm fanden Workshops mit dem übergeordneten Thema »sozialer Hintergrund« statt, beispielsweise zu Machtstrukturen an der Hochschule, zum Auftreten im akademischen Umfeld oder dazu, wie soziale Herkunft über Zukunft entscheiden kann. Diese

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wurden explizit für die Zielgruppe, also Promovierende der ersten Generation, beworben, leider mit nur mäßigem Erfolg. Was auf der Stufe der Studierenden noch funktioniert, lässt sich nicht auf die Qualifikationsstufe Promotion übertragen, da die Promovierenden der ersten Generation sich weniger mit diesem Status identifizieren und ihn Großteils auch nicht offenlegen. Parallel dazu haben wir uns mit der operativen Ebene der Universität zusammengetan, um generell darauf aufmerksam zu machen, dass sich die soziale Schließung im deutschen Bildungssystem auf den höheren Qualifikationsstufen nicht nur fortsetzt, sondern verschärft. Hierzu standen wir in engem Austausch mit dem parallel laufenden, MWK-geförderten Projekt »Brückenschlag« für Studierende der ersten Generation an der Abteilung Studium und Lehre. Den dritten Baustein des Projekts bildete das Beratungsangebot, das vor allem für den Übergang von Studium zur Promotion in Anspruch genommen wurde. Zwar waren die Fallzahlen klein, aber der Erfolg war dadurch sichtbar, dass die meisten, die die Beratung in Anspruch nahmen, danach auch mit der Promotion begannen. Häufig ging es nicht nur um das allgemeine Prozedere, sondern auch um Fragen der Finanzierung. Die Graduiertenschule bietet ebenfalls eine Förderberatung an, so dass die Fragen kompetent beantwortet werden konnten. Um einzelne Diversitätsdimensionen nicht mehr getrennt voneinander zu betrachten, haben wir in der Graduiertenschule mittlerweile ein Diversitätskonzept erstellt, in das die Erkenntnisse aus dem Projekt »Brückenschlag« aufgenommen wurden und so weiter in die tägliche Arbeit der Graduiertenschule einf ließen. Auf Basis unserer Erfahrungen aus dem Projekt bieten wir keine zielgruppenspezifischen Workshops an, die sozialen Hintergrund isoliert thematisieren, sondern verknüpfen die Dimensionen Geschlecht, Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaft, internationaler Hintergrund, Behinderung bzw. chronische Erkrankung mit dem sozialen Hintergrund. Dazu bieten wir für Doktorand*innen praktisches Handwerkszeug für den universitären Alltag, speziell für Themen, bei denen Unsicherheiten bestehen können und es implizite ›Spielregeln‹ gibt. Ein Beispiel wäre der Workshop »Networking at Conferences«, in dem ungeschriebene Regeln aufgezeigt werden und Tipps für ein gutes Auftreten und Vernetzen erprobt werden.

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EGP: Unsere Arbeit setzt sowohl individuell als auch strukturell an. Zum einen bieten wir kostenlose, persönliche Beratungsgespräche für Promotionsinteressierte und Promovierende mit nicht-akademischem Hintergrund an. In den Gesprächen beraten wir auf der Grundlage unserer eigenen Erfahrungen und unserer fünfjährigen Arbeit zu allen Fragen rund um die Promotion. Häufig geht es vor allem darum, die Ressourcen der Ratsuchenden gemeinsam zu aktivieren und ihnen genügend Informationen zu geben, um eine Entscheidung für oder gegen eine Promotion treffen zu können. Darüber hinaus bieten wir verschiedene Veranstaltungen an, die zur Vernetzung der ›EGP’ler*innen‹ untereinander beitragen, denn Erstakademiker*innen sind an der Universität zumeist weniger gut vernetzt. Viele Promovierende und Promotionsinteressierte der ersten Generation machen die Erfahrung, dass sie sich mit ihrem sozialen Umfeld und ihren Familien nicht über ihr Leben an der Universität austauschen können. Gerade hier ist der Austausch mit Peers sehr wichtig, um die Erfahrung zu machen, dass sie nicht alleine sind. Unser Verein bietet einen Rahmen, um über Schwierigkeiten zu sprechen, aber auch Erfolge zu teilen. Zum anderen setzen wir auf der Ebene der Hochschulpolitik und des wissenschaftlichen Diskurses an. Hier muss ein größeres Bewusstsein für den Bedarf von Erstakademiker*innen geschaffen werden, damit diese bessere Ausgangschancen haben, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen. Dazu braucht es in Zukunft insbesondere Gelder, um dieser Gruppe den Einstieg in die Wissenschaft, der häufig mit langen Phasen der Unsicherheit verbunden ist, zu ermöglichen. Die sehr unterschiedliche finanzielle Ausgangslage von Studierenden und Promovierenden wird viel zu selten diskutiert und es existieren in Deutschland fast keine Maßnahmen, die versuchen, diese ungleichen Startchancen auszugleichen. Es ist wichtig, auf beiden Ebenen zu arbeiten, insbesondere da es in dieser Hinsicht noch kein spezielles Programm an Hochschulen gibt. FMW: Die Zielperspektive des »Forum Mentoring e. V.« ist die Erreichung von Chancengleichheit der Geschlechter in Wissenschaft und Forschung. Der Verband dient der Vernetzung und Unterstützung gender- und diversitygerechter Mentoring-Maßnahmen in allen Stufen der wissenschaftlichen Ausbildung und Qualifikation unter besonderer Berücksichtigung von Frauen. Hier liegt unser Fokus. Der Aspekt der sozialen Herkunft stellt kein systematisches Alleinstellungsmerkmal in unserer Vereinstätigkeit dar. Er kann aber natürlich als ein aus-

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schlaggebender Faktor in Programmen aufgegriffen und thematisiert werden. Unsere Mitgliedsprogramme richten sich überwiegend an Frauen, da deren Anzahl stetig abnimmt, je weiter es auf der Karriereleiter nach oben geht. Viele Mentoring-Programme haben ihre Wurzeln in der Gleichstellungarbeit. Unsere Zielgruppen reichen von der Studentin bis zur (neuberufenen) Professorin. Denn Mentoring ist eine Methode, ein Instrument der Personalentwicklung, das auf jeder Qualifikationsstufe funktioniert. Es geht im Mentoring immer um die Weitergabe von Wissen einer (berufs-)erfahreneren Person an eine weniger erfahrene. Vielfach geht es um informelles Wissen, das nicht offen zugänglich, aber entscheidend für bestimmte Weichenstellungen sein kann. Gerade im Bereich der Wissenschaft ist der Anteil an informellem Wissen, das für die Karriere relevant ist, hoch. Schlüsselstellen sind im Hinblick auf die Professur sicherlich die Übergänge zwischen den Qualifikationsphasen: Neben der grundlegenden Entscheidung für eine Promotion vor allem die Überlegung in der Post-Doc-Phase, in der Wissenschaft zu bleiben. Da es unterhalb der Professur nahezu keine unbefristeten Stellen gibt, setzt man ab einem gewissen Punkt alles auf eine Karte. Mentoring dient auch dazu, Netzwerke auf- und auszubauen. Zum einen unter den Teilnehmer*innen selber, die sich als Gleichgesinnte in ähnlichen Situationen befinden und sich gegenseitig sehr gut unterstützen, motivieren und beraten können. Zum anderen aber auch im Austausch mit den Mentor*innen als mögliche Gatekeeper, die Übergänge begleiten. DFG: Neben der Förderung der Grundlagenforschung in Deutschland zählt auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Gleichstellung in der Wissenschaft zu den durch Satzung und Zuwendungsgeber (Bund und Länder) zugewiesenen Aufgaben der DFG. Für Promovierende können Stellen in Projekten und Verbünden oder auch Graduiertenkollegs eingeworben werden. Die Verantwortung für die Personalauswahl liegt in diesen Fällen bei den Leitungspersonen der Projekte. Die Antragsberechtigung von Personen bei der DFG beginnt erst mit dem Abschluss der wissenschaftlichen Ausbildung (im Regelfall: Promotion). Damit setzt das Fördergeschäft der DFG an einem relativ späten Punkt der akademischen Ausbildung an. Und so beginnen auch die in den Förderverfahren angebotenen Chancengleichheitsmaßnah-

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men und Nachteilsausgleiche, die an die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) genannten Kriterien anknüpfen, ebenfalls erst zu diesem Zeitpunkt.2 Herausgeber*innen: Welche Herkunftseffekte spielen Ihrer Erfahrung nach im Kontext Hochschule die größte Rolle? AK: Unsere Erfahrung zeigt, dass sich Erstakademikerkinder zunächst schwerer an der Universität zurechtfinden. Der akademische Habitus ist ihnen nicht vertraut, sie fühlen sich fremd und haben das Gefühl, im Vergleich mit Akademikerkindern zurückzustehen. Sie setzen sich selbst stark unter Druck, mehr leisten zu müssen, um das Gefühl der Unzulänglichkeit auszugleichen. Viele fürchten, sich von den Eltern und dem Freundeskreis zu entfremden, haben andererseits aber in der Hochschulwelt noch keinen Anschluss gefunden. Auch bei Praktika oder Auslandsstudienaufenthalten zeigen sich Unterschiede. Akademikerkinder können hier auf familiäre Ressourcen zurückgreifen, das Netzwerk der Eltern beispielsweise. Sie bekommen alle wichtigen Informationen, kennen Stipendien und bewerben sich selbstbewusst. Studierende der ersten Generation haben Sorgen, das Studium nicht erfolgreich zu bewältigen, oder an der Finanzierung zu scheitern. Ein Netzwerk fehlt, ein Auslandssemester ist für sie häufig erst einmal nicht denkbar. Informationen müssen sehr selbstständig beschafft werden. BfP: Unserer Erfahrung nach sind es unterschiedliche Effekte, die allerdings ineinander greifen und sich kaum getrennt voneinander betrachten lassen. Vielfach geht es im universitären Kontext um informelles Wissen, darum, die ›Spielregeln‹ zu kennen. Eine Anstellung als studentische Hilfskraft kann beispielsweise ein Sprungbrett zur Promotion werden. Allerdings werden diese nicht immer ausgeschrieben. Auch existiert in Deutschland nach wie vor eine Art ›Meister-Schüler-Verhältnis‹ [Anm. BK: absichtlich nicht gegendert], was die Promotion betrifft. Die Wege dorthin sind vielfach intransparent, wenn es darum geht, eine*n Betreuer*in zu finden. Darüber hinaus sind häufig das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Be2 Eine entsprechende Zusammenstellung findet man unter: www.dfg.de/diversity

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wertung der bisherigen eigenen Leistungen bei angehenden Promovierenden der ersten Generation anders: Die eigene Leistung wird trotz Bestnoten eher unterschätzt, weshalb Selbstzweifel auf kommen, ›gut genug‹ für eine Promotion zu sein, geschweige denn für die ›Begabtenförderwerke‹ als Stipendiat*in Frage zu kommen. Ein weiterer Effekt betrifft direkt das Elternhaus. In zahlreichen Beratungsgesprächen ergab sich, dass das Verständnis für den Schritt in die Promotion bei den Familien nicht immer gegeben ist und letztlich auch ideell wenig unterstützt wird. Das Thema Finanzierung kommt meist noch hinzu. Wer eine Promotion beginnt, muss häufig zunächst in Vorleistung gehen. Ein ausgearbeitetes Exposé wird für die Bewerbung auf ein Stipendium oder eine Stelle vorausgesetzt. Diese erste Finanzierungslücke kann bereits dazu führen, dass keine Promotion begonnen wird. Danach folgen oft kurze Vertragslaufzeiten bzw. begrenzte Stipendien. Finanzierungsengpässe sind weitaus schwieriger zu überbrücken, wenn die Eltern nicht einspringen können. EGP: Die soziale Herkunft spielt aus unserer Sicht eine wichtige Rolle im universitären Kontext. Dies zeigt sich auf mindestens drei Ebenen: Erstens haben Erstakademiker*innen weniger Erfahrungen damit, wie man sich im wissenschaftlichen Umfeld bewegt und am wissenschaftlichen Diskurs teilnimmt. Im Promotionsprozess werden die von Pierre Bourdieu beschriebenen »feinen Unterschiede« sehr viel wichtiger und deutlicher als während des Studiums. Häufiger Umgang mit Professor*innen in informelleren Settings etc. können eigene Unsicherheiten verschärfen. Teilweise gibt es zudem wenig Rückhalt in der Familie und keine Möglichkeiten, sich dort Rat zu holen. Es kann so zu einem doppelten Fremdheitsgefühl kommen – sowohl gegenüber dem Elternhaus als auch dem universitären Umfeld – und das Gefühl entstehen, ›zwischen den Stühlen‹ zu sitzen. Dies kann eine zusätzliche Belastung für Erstakademiker*innen darstellen, da an beiden Orten der volle Rückhalt fehlt. Zweitens haben Studien gezeigt, dass Menschen mit nicht-akademischem Hintergrund schon deutlich früher im Bildungssystem selektiert werden. Nur ein*e Grundschüler*in mit nicht-akademischem Hintergrund schließt eine Promotion ab, während es zehn Grundschü-

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ler*innen mit akademischem Hintergrund zum Doktortitel schaffen.3 Dabei sind die ökonomisch bedingten Unterschiede extrem wichtig. Promovierende aus nicht-akademischen Elternhäusern verfügen oft – wenn auch nicht immer – über beschränktere finanzielle Ressourcen. Dies führt etwa dazu, dass niedrig dotierte Stipendien für Auslandsaufenthalte nicht angenommen werden können, weil eine Querfinanzierung durch die eigene Familie nicht möglich ist. Hieran können Promotionsprojekte bereits im Vorfeld scheitern. Es fällt dieser Gruppe außerdem deutlich schwerer, Wartezeiten zwischen Studium und Promotion zu überbrücken. Drittens wird die Situation von Erstakademiker*innen erschwert, wenn weitere Differenzkategorien hinzukommen. Männer bewegen sich, so hat der Verein die Erfahrung gemacht, selbstbewusster im Wissenschaftssystem und nehmen ihre soziale Herkunft seltener als Nachteil wahr; tatsächlich sind sie seltener von geschlechterspezifischer Diskriminierung betroffen. Das Alter der Promovierenden ist ein weiterer Faktor, da Erstakademiker*innen häufig einen längeren Bildungsweg hinter sich haben, oftmals auf dem Zweiten Bildungsweg studieren oder eine Ausbildung absolvieren, bevor sie ein Studium beginnen. Erstakademiker*innen mit psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen werden ebenfalls systematisch benachteiligt, da implizit von Promovierenden ein extrem hohes Leistungspensum, teilweise auf Kosten der eigenen Gesundheit, erwartet wird. Insbesondere psychische Erkrankungen treten unter Promovierenden deutlich häufiger auf, wobei es zugleich keinen offenen Diskurs über dieses Problem gibt und große Scheu besteht, dies zu kommunizieren, etwa im Gespräch mit den Betreuer*innen.4 DFG: Die DFG erhebt keine eigenen Angaben zur sozialen Herkunft ihrer Antragsstellenden. Die Informationen aus externen Studien5 lassen es aber möglich erscheinen, dass Geschlecht, Migrationshinter3 Stifterverband (Hg.): Hochschul-Bildungs-Report 2020. Jahresbericht 2017/18, Essen 2017, S. 12, Abb. 1. (www.hochschulbildungsreport2020.de/downloads). 4 Vgl. u.a. Career Brief, More than one-third of graduate students report being depressed. Rates of anxiety and depression among PhD and master’s students exceed those in general public, in: Nature 555 (2018), S. 619. 5 Beispielsweise: Statistisches Bundesamt (DeStatis) – Datenreport 2018, Abschnitt 3.1: Bildungsbeteiligung, Bildungsniveau und Bildungsbudget, HansWerner Freitag und Andreas Schulz, S. 103ff.

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grund und Herkunft aus einem akademische oder nicht-akademischen Elternhaus auch im Kontext ›akademischer Ausbildung‹ eine Rolle spielen. FMW: In den meisten Mentoring-Programmen fragen wir die soziale Herkunft nicht systematisch ab. Daher ist es hier schwierig, eine belastbare Aussage zu treffen. Was wir aber immer wieder feststellen können, ist die Bedeutung, bestimmte Berufe oder Karrierestufen überhaupt erst einmal in den Blick zu nehmen und für sich zu konkretisieren. Bezogen auf die Professur heißt das: Was muss ich konkret tun, um Professor*in zu werden? Was ist hierbei planbar, wofür kann ich aktiv etwas tun? Wie sieht das Berufsbild im Alltag aus? Welche Kompetenzen brauche ich? Personen aus einem akademisch geprägten Umfeld liegen diese Vorstellungen näher, sie haben konkretere Vorstellungen als diejenigen aus einem nicht-akademischen Umfeld. An dieser Stelle kommen wieder sehr stark die Rollenvorbilder ins Spiel, die diese Fragen mit Leben füllen können. Mentor*innen können Vorbilder sein, die nicht zuletzt den akademischen Habitus vorleben und informelle Verhaltensregeln des universitären Systems erläutern. Gerade dies sind wichtige Aspekte für die akademische Karriere, die aber nicht offen zugänglich sind. Herausgeber*innen: Wie schätzen Sie das deutsche Wissenschaftssystem im internationalen Vergleich im Hinblick auf Chancengleichheit (bezogen auf soziale Herkunft) ein? AK: Die deutsche Hochschullandschaft hat sich in den letzten Jahren verändert, die formelle Durchlässigkeit hat sich aus unserer Sicht insgesamt verbessert. Es ist heutzutage an vielen Hochschulen möglich, auf dem Zweiten oder Dritten Bildungsweg ein Studium zu absolvieren. Bildungsaufstieg wird jedoch nicht mehr bewusst gefördert, weil man fürchtet, durch Unterstützung konkreter Gruppen zu stigmatisieren. Dabei wäre genau diese zielgruppengenaue Förderung das, was es braucht. ArbeiterKind.de ist Vorstandsmitglied im European Access Network (EAN). In diesem Netzwerk schließen sich seit 1991 verschiedene Akteur*innen aus dem Bildungswesen zusammen, um sich für einen breiteren Zugang zur Hochschulbildung einzusetzen. Derzeit engagieren sich rund 130 Mitglieder in Europa und den USA. Im Rahmen dieser Arbeit erkennen wir, dass die Probleme auch in anderen Ländern

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ähnlich sind und tauschen uns über Ideen und Lösungsmöglichkeiten aus. Natürlich gibt es Unterschiede, stärker elitär ausgerichtete Länder wie Frankreich, aber auf der anderen Seite auch sehr fortschrittliche Programme für First Generation Students in den USA. DFG: Die DFG erhebt keine Angaben zur sozialen Herkunft ihrer Antragsstellenden. Externe Studien lassen es auch hier als möglich erscheinen, dass die soziale Herkunft für die Chance auf akademische Bildung in Deutschland eine Rolle spielt. Herausgeber*innen: Was leistet Ihre Organisation, was andere nicht leisten? AK: Das Unterstützungsangebot von ArbeiterKind.de ist sehr niedrigschwellig und bedarfsorientiert ausgerichtet. Die offenen Treffen und Sprechstunden unserer Gruppen bieten Schüler*innen sowie Studierenden die Gelegenheit, Fragen zu stellen und in den Austausch mit Menschen zu kommen, die den Bildungsaufstieg bereits erfolgreich gemeistert haben. Auch ein individuelles Mentoring über einen längeren Zeitraum ist möglich. Die Ratsuchenden entscheiden dabei selbst, wieviel Unterstützung sie zu welchem Zeitpunkt ihres Bildungswegs brauchen. Das kann mal mehr und mal weniger sein. Die Ehrenamtlichen bei ArbeiterKind.de sind zum größten Teil selbst Studierende der ersten Generation und geben ihre Erfahrungen mit dem Studium an Ratsuchende weiter. Als Vorbilder helfen sie authentisch, verständlich, konkret und auf Augenhöhe. BfP: Durch das Projekt »Brückenschlag« für Promovierende bringen wir reichhaltige Erfahrungen zum Thema ›sozialer Hintergrund und Promotion‹ mit, die wir konsequent in unserer täglichen Arbeit berücksichtigen. Wir machen weiterhin auf das Thema aufmerksam und haben in unserem Konzept zur diversitätskompetenten Begleitung von Promovierenden Grundlagen geschaffen, durch die ›soziale Herkunft‹ nicht als isoliertes Phänomen, sondern in intersektionaler Verschränkung mit anderen Diversitätsdimensionen betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund haben wir eine bundesweite AG in UniWiND (Universitätsverband zur Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland) ins Leben gerufen, in der wir gemeinsam mit Vertreter*innen anderer Universitäten Empfehlungen zu Diversitätsaspek-

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ten in der Nachwuchsförderung erarbeiten. ›Sozialer Hintergrund‹ ist hierbei ein zentraler Punkt. Ziel dieser AG ist es auch, Empfehlungen zur Bedeutung von sozialer Herkunft und zur Verbesserung politischer Rahmenbedingungen zu geben. EGP: Der Übergang von der Schule zur Universität wird bereits gut durch die Arbeit von ArbeiterKind.de und seit Kurzem auch von »Talentscouting« begleitet und hilft hier Schüler*innen ihren Weg an die Universität zu finden. Die Informationen zum Studium sind zudem leichter zugänglich und weiter verbreitet als Informationen zur Promotion. Viele Fragen bleiben zudem von Promotionsbüros und -ordnungen unbeantwortet, die sich insbesondere unsere Zielgruppe stellt: Kann ich das überhaupt? Wie finde ich eine*n Betreuer*in und worauf muss ich dabei achten? Um dem zu begegnen, bietet EGP e.V. eine kostenlose Beratung und Unterstützung auf Augenhöhe an. In unseren Gesprächen können vor allem auch Fragen besprochen werden, die Promovierende ihren Betreuer*innen nicht stellen möchten und ihrer Familie häufig nicht stellen können. Weiter sind die sozialen Netzwerke für Doktorand*innen zunehmen von Bedeutung, nicht nur während der Promotionsphase, sondern auch darüber hinaus für den Einstieg in den Beruf. EGP e. V. ist der erste Verein, der Promovierenden mit nicht-akademischem Hintergrund ein Netzwerk bietet, in dem sie sich austauschen und miteinander wachsen können. Zudem informiert EGP e.V. bei Veranstaltungen von Stipendiengeber*innen und u.a. dem DAAD über die besonderen Bedürfnisse der Promovierenden mit nicht-akademischem Hintergrund, um hier auch auf struktureller Ebene Veränderungen anzustoßen. FMW: Wir wollen die Vorteile von formalem Mentoring offen und breit zugänglich machen. Formal heißt, dass das Mentoring in einer modular konzipierten Programmform innerhalb einer Rahmenstruktur angeboten wird und die Mentees in einem transparenten Verfahren ausgewählt werden, sich also aktiv bewerben können. Die Programme umfassen die Bausteine Mentoring, Training und Networking. Die Mentees werden auf den zeitlich begrenzten Mentoring-Prozess vorbereitet und begleitet. Zudem können sie im Modul Training im Rahmen von speziell auf sie zugeschnittenen Angeboten ihre überfachlichen Kompetenzen weiterentwickeln. Im Modul Networking geht es darum,

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die Bedeutung von Netzwerken zu erkennen und zu nutzen. Auch in dem jeweils eigenen Mentee-Netzwerk. Mentoring ist eine effektive Maßnahme, die jedoch einer Rahmung bedarf, damit sie gut funktionieren kann und offen zugänglich ist. Mentoring ist kein Selbstläufer. Die Zahl der Mentoring-Programme steigt stetig. Das ist natürlich zunächst einmal sehr erfreulich. Hiermit gewinnt aber auch das Thema Qualitätsentwicklung und -sicherung weiterhin stetig an Bedeutung. Seit 2010 werden die Qualitätsstandards von Mentoring-Programmen in der Wissenschaft durch das Forum Mentoring e.V. kontinuierlich und prozessbegleitend überarbeitet sowie regelmäßig an aktuelle Anforderungen im Hochschulkontext angepasst und veröffentlicht. Sie sind in der Broschüre »Mentoring mit Qualität – Qualitätsstandards für Mentoring in der Wissenschaft« in der inzwischen fünften Auf lage erschienen. DFG: Das Alleinstellungsmerkmal der DFG-Tätigkeit ist die wissenschaftsgeleitete und durch wissenschaftliche Selbstverwaltung entschiedene Vergabe von Fördermitteln für die Grundlagenforschung. Die DFG setzt konsequent ein Antidiskriminierungs- und Nachteilsausgleichskonzept in Bezug auf die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) benannten Faktoren um und belegt hier eine Vorreiterrolle. Künftig sollen weitere Vielfältigkeitsdimensionen noch stärker Berücksichtigung finden; dazu erarbeitet die DFG derzeit ein Qualitatives Vielfältigkeitskonzept. Herausgeber*innen: Wen erreichen Sie mit Ihrer Arbeit und wen nicht? AK: Unser Angebot richtet sich vor allem an Schüler*innen aus nicht-akademischen Familien, die die gymnasiale Oberstufe, Kollegs, Berufs- oder Abendschulen sowie Abschlussklassen der Sekundarstufe I an Real- und Gesamtschulen besuchen. Die Informationsveranstaltungen finden im gesamten Klassenverband statt, so dass sowohl Schüler*innen aus nicht-akademischen Elternhäusern als auch Akademikerkinder angesprochen werden. ArbeiterKind.de erreicht vor allem die Zielgruppe in den Städten, schwieriger ist es im ländlichen Raum, da die Wege bis zur nächsten lokalen Gruppe oft sehr weit sind. Hier versuchen wir unser Angebot auszubauen.

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BfP: Promovierende der ersten Generation erreichen wir sowohl direkt über unser Beratungsangebot als auch indirekt über unser Qualifizierungsprogramm und andere Angebote. Wie bereits geschildert, gestaltet sich dies zum Teil schwierig. Da wir zu Beginn des Projekts »Brückenschlag für Promovierende« uns und das Projekt an unterschiedlichen Stellen der Universität, wie beispielsweise an unseren Fakultäten und in der Stabsstelle Chancengleichheit und Diversität, persönlich vorgestellt haben, erreichen wir ebenfalls Lehrende sowie Beratende. In beiden Fällen funktioniert die Ansprache nur, wenn bereits ein gewisses Bewusstsein und Verständnis für das Thema vorhanden ist. Sowohl unter den Promovierenden, die ja bereits ihr Examen erfolgreich gemeistert haben, als auch unter den Lehrenden und Beratenden herrscht zum Teil noch der Glaube an das meritokratische Prinzip, also daran, dass ausschließlich Leistung zähle. Hier ist Überzeugungsarbeit zwar möglich, aber langwierig. EGP: Unser Vereinssitz liegt in Köln und wurde von Promovierenden der Universität zu Köln gegründet. Daher ist unsere Arbeit hier besonders verankert. Wir beraten aber auch deutschlandweit und wollen hier die Reichweite unseres Vereins noch ausbauen. Außerdem haben wir festgestellt, dass sich vor allem Frauen und Promotionsinteressierte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften von unserer Arbeit angesprochen fühlen. Grundsätzlich haben wir festgestellt, dass auch die Gruppe der Promovierenden mit einem nicht-akademischen Familienhintergrund sehr heterogen ist und nicht alle Erstakademiker*innen ihren Status als problematisch wahrnehmen. Zu uns kommen vor allem Personen, die entweder selbst mit besonderen Hürden konfrontiert wurden und mit niemandem im Umfeld darüber sprechen können, oder Erstakademiker*innen, die sich aktiv in die Umgestaltung der Hochschule einbringen möchten, um das System auf Dauer zu verändern und für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. FMW: Grundlegend für ein Programm sind zunächst die Überlegungen, welches Ziel mit dem Angebot verfolgt und welche Zielgruppe erreicht werden soll. Dementsprechend muss die Öffentlichkeitsarbeit gestaltet werden, um diese Personen zu erreichen, zu ermuntern und das Mentoring bekannt zu machen. Hierfür bedarf es auch immer entsprechender Ressourcen, was oftmals nicht ausreichend berücksich-

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tigt wird. Denn letztendlich können wir nur diejenigen als Mentees aufnehmen, die sich für unsere Programme bewerben. Als Verein dienen wir aber auch als Austauschplattform für unsere Mitglieder, um die Qualität der Mentoring-Programme zu sichern und weiter zu entwickeln. Aber es ist natürlich auch unser Anliegen, darüber hinaus auf bestimmte Aspekte im Wissenschaftssystem aufmerksam zu machen, die sich negativ auswirken können. Durch den engen Austausch mit den Mentees haben wir einen guten Eindruck, welche Faktoren die Entscheidung für oder gegen die wissenschaftliche Karriere beeinf lussen. DFG: Wie bereits gesagt, sind Forschende ab der Promotion als direkte Antragsstellende unsere Hauptzielgruppe. Das Team »Wissenschaftlicher Nachwuchs« innerhalb der DFG-Geschäftsstelle richtet sich mit seinen Aktivitäten und Informationen aber auch an Personen in früheren Karrierestadien, insbesondere für die Planung einer späteren wissenschaftlichen Karriere. Herausgeber*innen: Wo liegen die Grenzen Ihrer eigenen Arbeit bzw. an welchen Stellen sehen sie den größten Handlungsbedarf? AK: Bei ArbeiterKind.de steht die Unterstützung und Stärkung einzelner Personen im Vordergrund. Wir informieren, ermutigen und unterstützen. Wir bieten aber keine fertigen Lösungen an. Was wir machen, ist vielmehr eine Hilfe zur Selbsthilfe. Wir schließen Informationslücken, insbesondere zur Studienfinanzierung, damit der Schritt an die Hochschule in den Köpfen der Schüler*innen zu einer realistischen, konkreten Option wird. Wir können keine Stipendien vergeben. Wir sensibilisieren für die Herausforderungen, die Studierende der ersten Generation überwinden müssen, können aber die Strukturen an den Hochschulen nicht ändern. BfP: Die Grenzen unserer Arbeit in der Graduiertenschule sind sicherlich bereits durch die Beschränkung der Zielgruppe auf Promovierende vorgegeben. Wir betrachten durchaus auch die jeweiligen Übergänge vom Studium zur Promotion und von der Promotion zur Post-Doc-Phase. Trotzdem sind an der Stelle, an der wir ansetzen können, bereits viele Personen nicht mehr im Bildungssystem. Obwohl die Initiative Arbeiterkind e.V. hier einen wertvollen Beitrag leistet, muss es doch

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eigentlich Aufgabe des staatlichen Bildungssystems sein, eine soziale Schließung auf allen Stufen zu verhindern. Insgesamt müsste die Bildungspolitik ihr Augenmerk sehr viel stärker auf das Thema ›Sozialer Hintergrund‹ richten und der sozialen Schließung weit früher in der Schule bzw. im Kindergarten entgegenwirken. EGP: Auf Ebene der individuellen Beratung hat unser Verein es geschafft, vielen Promotionsinteressierten Ängste zu nehmen und einen Raum zu schaffen, sich gegenseitig zu unterstützen. Es besteht jedoch weiterhin großer Handlungsbedarf bei den Promotionsbüros der Universitäten, aber auch bei großen Geldgebern wie der DFG und dem DAAD. Soziale Herkunft bzw. soziale Diversität muss in Zukunft, ebenso wie die Kategorie Geschlecht, in die Bewilligungskriterien von Projekten eingebunden werden. Es müssen zudem spezielle Gelder aktiviert werden, um Menschen aus schwierigen finanziellen Situationen zu unterstützen – sonst kann sich die Situation für Promovierende aus nicht-akademischen Familien nicht dauerhaft verbessern. Auch Stipendiengeber*innen müssen hier klarere Richtlinien zur Förderung entwickeln. EGP e.V. geht daher vermehrt auf Gatekeeper zu. Insbesondere Professor*innen können wichtige Botschafter*innen für unser Anliegen sein, da sie gezielt Studierende fördern und als Vorbild gelten können. Um langfristige und nachhaltige Veränderungen herbeizuführen, muss sich nicht zuletzt die Hochschulkultur insgesamt verändern, um mehr Offenheit für Menschen mit diversen sozialen Hintergründen zu schaffen. Nur so kann garantiert werden, dass die soziale Herkunft nicht länger ein Tabuthema darstellt. FMW: Mentor*innen dienen als Leitbilder und als Ref lexionspartner*innen. Sie helfen, Ziele zu erkennen und Strategien zu entwickeln sowie Schritte zu planen, um diese zu erreichen. Sie vermitteln Einblicke und Zugang zu Netzwerken. Aber sie sind in der Regel ehrenamtlich engagiert, sie sind keine professionellen Berater*innen oder Therapeut*innen. Deshalb hat Mentoring auch Grenzen, das Thema eines Mentoring-Gesprächs muss klar umrissen und geeignet sein. Mentoring kann auch nicht funktionieren, wenn Mentee* und Mentor*in in einer abhängigen hierarchischen Beziehung stehen, denn die Mentee* sollten die Ratschläge und Empfehlungen annehmen aber auch ablehnen können. Das ist nur bei einer freien und unabhängigen Beziehung möglich.

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Grenzen unserer Arbeit liegen auch im Wissenschaftssystem begründet. Zum einen müssen Karrierewege weiter transparent gemacht werden. Hier ist das vorliegende Buch natürlich ein wunderbarer Beitrag. Aber auch an den Universitäten kann über ein breites Angebot von Informationsveranstaltungen verdeutlicht werden, wie die Karrierewege in der Wissenschaft verlaufen. Auch die vielen Befristungen und unsicheren Karriereoptionen unterhalb der Professur tragen dazu bei, dass der Wissenschaftsbereich vielfach unattraktiv ist. Zudem hält das Bild von der »Wissenschaft als Berufung« oftmals davon ab, eine Professur in Betracht zu ziehen. Viele stellen sich als Wissenschaftler*innen in Frage, wenn sie nicht 24 Stunden am Tag einsatzbereit sein, sondern auch ein Privatleben haben möchten. Der Umkehrschluss, dass man kein*e gute*r Wissenschaftler*in ist, wenn man diesem Bild nicht entspricht, ist weit verbreitet. Auch dies gilt es zukünftig zu verändern. DFG: Bislang wird die soziale Herkunft nicht als Kriterium bei Antragsstellenden für Fördermaßnahmen abgefragt und dementsprechend auch nicht bei Entscheidungen berücksichtigt. Die DFG prüft derzeit, ob strukturelle Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung von Personen aus nicht-akademischen Elternhäusern in ihrem Förderhandeln möglich und sinnvoll sind und auf welche Weise dies in die Förderverfahren und -prozesse implementiert werden könnte.

Autor*innenverzeichnis

Frerk Blome, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz Institut für Wissenschaft und Gesellschaft sowie am Institut für interdisziplinäre Konf likt- und Gewaltforschung. Forschungsschwerpunkte: Biographie-, Ungleichheits- und Armutsforschung. Publikationen: Generationen der Armut. Zur familialen Transmission wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit. Wiesbaden: Springer VS (mit Daniela Schiek und Carsten Ullrich); Open House? Class-Specific Career Opportunities at German Universities. Social Inclusion, Volume 6, Issue 4 (gemeinsam mit Christina Möller und Anja Böning 2019). E-Mail: [email protected]. de Christoph Butterwegge, Dr. rer. pol., war von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Sozialstaatsentwicklung, Armut und Ungleichheit; Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt; Globalisierung und demographischer Wandel; Migration und Integration. Zentrale Publikationen: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. 4. Auf l. Frankfurt a.M./New York: Campus (2016); Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik? 3. Auf l. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa (2018); Armut. 4. Auf l. Köln: PapyRossa (2019); Krise und Zukunft des Sozialstaates. 6. Auf l. Wiesbaden: Springer VS (2018); Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Weinheim/Basel: Beltz Juventa (2020). E-Mail: butterweg [email protected] Aladin El-Mafaalani, Dr. rer. soc., ist Professor für Erziehungswissenschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Bildungs-, Migrations- und Stadtforschung.

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Zentrale Publikationen: Bildungsaufsteiger/innen aus benachteiligten Milieus. Habitustransformation und soziale Mobilität bei Einheimischen und Türkeistämmigen. Wiesbaden: Springer VS (2012); Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konf likten führt. Köln: Kiepenheuer und Witsch (2018). Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer & Witsch (2020). Aladin El-Mafaalani ist Akademikerkind. Sein Vater ist Arzt, seine Mutter studierte Psychologie. E-Mail: Aladin.El-Mafaalani@uni-osna brück.de Markus Gamper, PD Dr. phil., ist Akademischer Rat für Erziehungsund Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie; Migrationssoziologie; Religionssoziologie; Netzwerk- und Ungleichheitsforschung. Zentrale Publikationen: Islamischer Feminismus in Deutschland? Bielefeld: transcript (2011); Transnational entrepreneurial activities: A qualitative network study of self-employed migrants from the former Soviet Union in Germany. Social Networks, 53, S.  136-147 (zusammen mit Elena Sommer 2018); Soziale Netzwerke und gesundheitliche Ungleichheiten – Eine neue Perspektive für die Forschung. Wiesbaden: VS Verlag (Hg. mit: A. Klärner/, H. von der Lippe/S. Keim-Klärner/I. Moor 2020). Markus Gamper ist Sohn einer alleinerziehenden, ungelernten Arbeiterin. Sein Vater war Taxifahrer. E-Mail: [email protected] Michael Hartmann, Dr. phil., ist emeritierter Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Elitenbildung im internationalen Vergleich; Globalisierung und Managementkulturen; Hochschulen im internationalen Vergleich. Zentrale Publikationen: Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt a.M.: Campus (2002); Elitesoziologie. Frankfurt a.M.: Campus (2004); Eliten und Macht in Europa. Frankfurt a.M.: Campus (2007); Soziale Ungleichheit. Kein Thema für die Eliten? Frankfurt a.M.: Campus (2013); Die globale Wirtschaftselite. Eine Legende. Frankfurt a.M.: Campus (2016); Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Frankfurt a.M.: Campus (2018). Michael Hartmann ist Bürgerkind. Der Vater hat nicht studiert, war aber Finanzchef einer großen Behörde, die Mutter war Hausfrau, aber Tochter eines Verlagsleiters. E-Mail: [email protected]

Autor*innenverzeichnis

Andrea Lange-Vester, Dr. phil., leitet das Ressort Studium und Lehre im Zentrum für Lehre und Beratung der Hochschule Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Habitus- und Milieuforschung; Bildungssoziologie; Sozialstrukturanalyse; Biographie- und Sozialisationsforschung. Zentrale Publikationen: Zwischen W3 und Hartz IV – Arbeitssituation und Zukunft wissenschaftlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich (mit Christel Teiwes-Kügler 2013); Soziale Ungleichheit, Milieus und Habitus im Hochschulstudium. Weinheim und München: Beltz Juventa (Hg. mit Tobias Sander 2016); Studienfachwahl im Kontext von Habitus und sozialer Auslese im Bildungswesen, in: Yvonne Haffner/Lena Loge (Hg.), Frauen in Technik und Naturwissenschaft: Eine Frage der Passung. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 21-42 (mit Helmut Bremer, 2019). Andrea Lange-Vester ist Nicht-Akademikerkind. E-Mail: [email protected] Christina Möller, Dr. phil., ist Vertretungsprofessorin für Soziologie an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der FH Dortmund. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und soziale Mobilität; Hochschul-, Bildungs- und Geschlechtersoziologie. Zentrale Publikationen: Herkunft zählt fast immer. Soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessorinnen und -professoren. Weinheim/Basel: Belz Juventa (2015); Bildung – Macht – Eliten. Zur Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a.M.: Campus (Hg. mit Angela Graf 2015); Open House? Class-Specific Career Opportunities at German Universities. Social Inclusion, Volume 6, Issue 4 (gemeinsam mit Frerk Blome und Anja Böning 2019). Christina Möller ist Nicht-Akademikerkind. Ihr Vater war Berufsfeuerwehrmann (gelernter Dreher), ihre Mutter ungelernte Arbeiterin. E-Mail: christina.moeller@f h-dortmund.de Julia Reuter, Dr. phil., ist Professorin für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologische (Kultur-)Theorien; Migrationssoziologie; ausgewählte Fragen der Wissenschafts- und Bildungssoziologie. Zentrale Publikationen: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript (2002); Professor mit Kind. Erfahrungsberichte von Wissenschaftlern. Frankfurt a.M.: Campus (Hg. mit Günther Vedder und Brigitte Liebig 2008); Wissenschaftliche Karriere als Hasard. Eine Sondierung. Frankfurt a.M.: Campus (Hg. mit Oliver Berli und Manuela Tischler 2016). Karrierewege und Karrierebedingungen in der

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Vom Arbeiterkind zur Professur

Wissenschaft. Ergebnisse einer Befragung von Professor*innen aus den Natur-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften. https://kups.ub.uni-koeln. de/8429/ (mit Oliver Berli und Bernd Hammann 2019). Julia Reuter ist Akademikerkind. Ihr Vater ist promovierter Psychologe, ihre Mutter, eine gelernte Erzieherin, ist Hausfrau. E-Mail: [email protected]

Soziologie Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Maria Björkman (Hg.)

Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3

Franz Schultheis

Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0

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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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