Warschauer Jiddisch [Reprint 2014 ed.] 9783110919943, 9783484231467

The book contains a synchronic description of the phonetic structure of Warsaw Yiddish. This takes the form of a linguis

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German Pages 370 [372] Year 2001

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Warschauer Jiddisch [Reprint 2014 ed.]
 9783110919943, 9783484231467

Table of contents :
Abkürzungsverzeichnis
Vorbemerkung
Zielsetzung der Publikation
I. Die jiddische Sprachgemeinschaft Warschaus
1. Historische Entwicklung
1.1. Die erste jüdische Gemeinde in Warschau
1.2. In der Zeit des jüdischen Wohnverbots in Warschau
1.3. Während der Teilung Polens im 19. Jh
1.4. Von der Jahrhundertwende bis zum II. Weltkrieg
1.5. Während des II. Weltkriegs
2. Soziolinguistischer Hintergrund
2.1. Historische und sprachliche Kontinuität
2.2. Immigration und gesellschaftliche Polarisierung
2.3. Bilingualismus
2.4. Zum Status des Warschauer Jiddisch
II. Methodologisches
1. Das Warschauer-Jiddisch-Korpus
1.1. Die Aufnahmen
1.2. Die Informanten
1.3. Die Interviews
2. Auswahl und Auswertung des Untersuchungsmaterials
2.1. Auswertung des Warschauer Korpus
2.2. Zusätzliches Belegmaterial
3. Gestaltung des Originaltextes und seiner Parallelfassungen
3.1. Der Originaltext
3.2. Die Paralleltexte
3.3. Die Methode der Eins-zu-Eins-Umsetzung
4. Dialektale Zuordnung
4.1. Räumliche Abgrenzung des zentraljiddischen Dialektgebiets
4.2. Sprachliche Abgrenzung des Warschauer Jiddisch
III. Vokalismus
1. Vokale der Haupttonsilbe
1.1. Bestimmung des Phoneminventars des WAJ
1.2. Das Phoneminventar des WAJ
1.3. Die Allophone des WAJ
1.4. Die Diphthonge des WAJ
2. Unbetonte Vokale
2.1. Vokale der Nachsilben
2.2. Vokale der Vorsilben
2.3. Der Sproßvokal (Svarabhaktivokal)
IV. Konsonantismus
1. Einführung
2. Klassifizierung der Konsonanten nach Artikulationsart (bzw. Überwindungsmodus) und Artikulationsstelle
2.1. Die Verschlußlaute
2.2. Die Engelaute
2.3. Affrikaten
2.4. Sonorlaute
3. Sonorität
3.1. Die Distribution der stimmlosen und stimmhaften Obstruenten
4. Palatalität
4.1. Palatalisierung der Dentale
4.2. Palatalisierung der Sibilanten
4.3. Palatalisierungen der Velare
4.4. Mouillierung
5. Konsonantenschwund durch Kontraktion
V. Prosodie
0. Vorbemerkung
1. Bestimmung des Untersuchungsfelds der Prosodie
1.1. Segmentelle Satzphonetik
1.2. Grenzsignale
1.3. Diskrepanz zwischen dem phonetischen und dem grammatischen Wort
2. Wortakzent
2.1. Ursachen der Differenzierung des Wortakzents im Jiddischen—
2.2. Der Wortakzent im WAJ
2.3. Funktion des Wortakzents
3. Prinzipien der jiddischen Satzphonetik
3.1. Die optimale Silbenstruktur
3.2. Hiatustilgung
3.3. Grenzsilbenökonomie (Haplologie)
4. Diasystem der Synsemantika
4.1. Starke und schwache Formen
4.2. Klitische Formen
4.3. Homophonie der jiddischen und polnischen Formen
5. Morphem- und Silbengrenzenverlagerung
6. Folgen der satzphonetischen Prosodiegesetze für die Morphosyntax des WAJ
6.1. Synthetisierung der Sprachstruktur
Zusammenfassung
Textproben zum Warschauer Jiddisch
1. Textprobe, Informantin BA:
2. Textprobe, Informant WI:
Literatur

Citation preview

PHONAI Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch

Herausgegeben von Walter Haas und Peter Wagener

Band 46

Ewa Geller

Warschauer Jiddisch

MAX N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 2001

Meinem

Vater

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geller, Ewa:Warschauer Jiddisch / Ewa Geller. - Tübingen : Niemeyer 2001 (Phonai ; Bd. 46)

ISBN 3-484-23146-7

ISSN 0939-5024

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Computersatz: Anna Rudnik, Warschau Druck: Weihert-Druck G m b H , Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Vorbemerkung

xi xiii

Zielsetzung der Publikation

1

I. Die jiddische Sprachgemeinschaft Warschaus

5

1. Historische Entwicklung 1.1. Die erste jüdische Gemeinde in Warschau 1.2. In der Zeit des jüdischen Wohnverbots in Warschau 1.3. Während der Teilung Polens im 19. Jh 1.4. Von der Jahrhundertwende bis zum II. Weltkrieg 1.4.1. Presse 1.4.2. Theater 1.4.3. Literatur 1.4.4. Schulwesen 1.4.5. Die sprachliche Situation 1.5. Während des II. Weltkriegs 2. Soziolinguistischer Hintergrund 2.1. Historische und sprachliche Kontinuität 2.2. Immigration und gesellschaftliche Polaxisierung 2.3. Bilingualismus 2.4. Zum Status des Warschauer Jiddisch II. Methodologisches 1. Das Warschauer-Jiddisch-Korpus 1.1. Die Aufnahmen 1.1.1. Aufnahmezeit und -ort 1.1.2. Aufnahmesituation 1.2. Die Informanten 1.2.1. Geburts- und Wohnort 1.2.2. Geschlecht und Alter 1.2.3. Mehrsprachigkeit und Ausbildung 1.3. Die Interviews 1.3.1. Die Sprache 1.3.2. Der Themenkreis 2. Auswahl und Auswertung des Untersuchungsmaterials 2.1. Auswertung des Warschauer Korpus

5 6 8 9 15 15 16 17 18 19 21 24 24 27 29 31 34 34 34 34 34 35 35 36 37 39 39 41 42 42

vi

Inhaltsverzeichnis

2.2. Zusätzliches Belegmaterial 2.2.1. The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry 2.2.2. Noah Prilutskis dialektologische Arbeiten 3. Gestaltung des Originaltextes und seiner Parallelfassungen 3.1. Der Originaltext 3.2. Die Paralleltexte

44 44 45 47 47 48

3.2.1. Der standardisierte (orthographische) jiddische Paralleltext

49

3.2.2. Der deutsche Paralleltext

49

3.2.3. Der polnische Paralleltext

50

3.3. Die Methode der Eins-zu-Eins-Umsetzung 3.3.1. Gründe für die Anwendung einer Umsetzungs-Methode . . . 3.3.2. Prinzipien der Umsetzungs-Methode 4. Dialektale Zuordnung

53 53 54 57

4.1. Räumliche Abgrenzung des zentraljiddischen Dialektgebiets

57

4.2. Sprachliche Abgrenzung des Warschauer Jiddisch

58

4.2.1. Obligatorische (sekundäre) Dialektmerkmale des WAJ

58

4.2.2. Fakultative (primäre) Dialektmerkmale des WAJ

60

III. Vokalismus

61

1. Vokale der Haupttonsilbe

61

1.1. Bestimmung des Phoneminventars des WAJ 1.1.1. Vokalquantität 1.1.2. Vokalqualität 1.1.3. Nasalität 1.2. Das Phoneminventar des WAJ 1.3. Die Allophone des WAJ 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4.

Die Die Die Die

67

/¡/-Allophone ( < PJ 12,3; U2,3) /ï/-Allophone ( < PJ I I , U l ) /u/-Allophone ( < A2,3) /e/-Allophone ( < E l )

1.3.5. Die/o/-Allophone ( < 1.3.6. Die /o:/-Allophone ( < 1.3.7. Die /a/-Allophone ( < 1.3.8. Die /a:/-Allophone ( < 1.4. Die Diphthonge des WAJ 1.4.1. Die /sj/-Allophone ( < 1.4.2. Die /aj/-Allophone ( < 1.4.3. Die /oj/-Allophone ( < 2. Unbetonte Vokale

61 61 62 65 65

Ol) U4) A l ; Ε1+/τ/) 14) E2, E5) E2,3,4) 02,3 und 0 4 )

2.1. Vokale der Nachsilben 2.1.1. Realisierung der Endung /-en/

68 68 69 71 72 72 73 74 74 75 76 77 77 80 81

Inhaltsverzeichnis

2.1.2. Realisierung der Endsilbe /-er/ 2.1.3. Realisierung der Endung /-e/ 2.1.4. Realisierung der Endsilbe /-es/ 2.1.5. Realisierung der Endsilbe /-im/ 2.1.6. Realisierung der Endsilbe /-ele/ 2.1.7. Realisierung der Endsilbe /-(e)lex/ 2.2. Vokale der Vorsilben 2.2.1. Realisierung der Vorsilbe /ge-/ 2.2.2. Realisierung der Vorsilbe /der-/ 2.2.3. Realisierung der Vorsilbe /tse-/ 2.3. Der Sproßvokal (Svarabhaktivokal) IV. Konsonantismus 1. Einführung 2. Klassifizierung der Konsonanten nach Artikulationsart (bzw. Überwindungsmodus) und Artikulationsstelle 2.1. Die Verschlußlaute 2.1.1. Schwund der Dentale im Wortauslaut 2.1.2. Ungenetisches [-(ε/ït] im Wortauslaut 2.2. Die Engelaute 2.2.1. Das Fehlen des Hauchlautes im WAJ 2.2.1.1. [h]-Schwund 2.2.1.2. Der Zusammenfall von [x] und [h] 2.2.2. Opposition der Frikative im velaren Bereich 2.2.3. Der /j/-Laut 2.2.3.1. Ein ungenetisches / j / durch Jotierung 2.3. Affrikaten 2.4. Sonorlaute 2.4.1. Die Nasale 2.4.1.1. /n/-Schwund durch Nasalierung des Vokals 2.4.1.2. /n/-Schwund in der schwachtonigen Stellung 2.4.2. Die Lateralen 2.4.2.1. Die Vokalisierung von Lateralen 2.4.3. Der /r/-Laut 2.4.3.1. /r/-Allophone in haupttoniger Stellung 2.4.3.2. /r/-Schwund in schwachtoniger Stellung 3. Sonorität 3.1. Die Distribution der stimmlosen und stimmhaften Obstruenten . 3.1.1. Die Desonorierung (Stimmverlust) 3.1.2. Regel der regressiven Angleichung 4. Palatalität

vii

82 83 84 84 84 85 85 86 86 86 87 88 88 89 90 91 91 92 93 93 94 95 95 96 96 97 98 98 99 99 100 101 102 102 103 104 104 106 108

vili

Inhaltsverzeichnis

4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Palatalisierung der Dentale Palatalisierung der Sibilanten Palatalisierungen der Velare Mouillierung 4.4.1. Mouillierung der Verschlußlaute 4.4.1.1. Scheinbare Mouillierung von /b/ 4.4.2. Mouillierung der Sonorlaute 5. Konsonantenschwund durch Kontraktion

109 109 110 Ill Ill 112 112 113

V. Prosodie 0. Vorbemerkung 1. Bestimmung des Untersuchungsfelds der Prosodie 1.1. Segmentelle Satzphonetik 1.2. Grenzsignale 1.2.1. Akzent 1.2.2. Fehlen des Glottisschlags im Jiddischen 1.3. Diskrepanz zwischen dem phonetischen und dem grammatischen Wort 2. Wortakzent 2.1. Ursachen der Differenzierung des Wortakzents im Jiddischen 2.1.1. Germanischer Erbwortschatz und (ältere) integrierte Slawismen 2.1.2. Hebräisch-aramäischer Wortschatz 2.1.3. Internationalismen und slawische Fremdwörter 2.2. Der Wortakzent im WAJ 2.3. Funktion des Wortakzents 3. Prinzipien der jiddischen Satzphonetik 3.1. Die optimale Silbenstruktur 3.2. Hiatustilgung 3.3. Grenzsilbenökonomie (Haplologie) 4. Diasystem der Synsemantika 4.1. Starke und schwache Formen 4.1.1. Pronomina im WAJ 4.1.2. Hilfsverben 4.2. Klitische Formen 4.2.1. Klitische verbal-pronominale Schmelzformen 4.3. Homophonie der jiddischen und polnischen Formen 5. Morphem- und Silbengrenzenverlagerung 6. Folgen der satzphonetischen Prosodiegesetze für die Morphosyntax des WAJ 6.1. Synthetisierung der Sprachstruktur

115 115 115 115 116 117 117 118 118 118 120 121 122 122 123 124 126 129 132 133 133 134 136 137 138 139 140 142 142

Inhaltsverzeichnis

6.1.1. Auslassung 6.1.2. Auslassung 6.1.3. Auslassung 6.1.4. Auslassung Zusammenfassung

ix

des des des des

Artikels Possessivpronomens Personalpronomens Hilfsverbs

143 145 146 148 150

Textproben zum Warschauer Jiddisch 1. Textprobe, Informantin BA: 2. Textprobe, Informant WI:

155 215

Literatur

343

Abkürzungsverzeichnis

Anm. BA: BI: d. gl. dt. EJ ΙΡΑ jid. Κ Kh Kl LCAAJ mhd. nhd. NOJ PI: PJ poln. russ. S. s. slaw. SOJ stjid. sth. stl. StJ übers. V vgl. WAJ WI: WJ WJK wörtl. YTVO

-

Anmerkung Sprecherkennung Sprecherkennung das gleiche deutsch Encyclopaedia Judaica International Phonetic Association jiddisch Konsonant stimmhafter Konsonant stimmloser Konsonant The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry mittelhochdeutsch neuhochdeutsch Nordostjiddisch Sprecherkennung protojiddisch polnisch russisch Seite siehe slawisch Südostjiddisch standardjiddisch stimmhaft stimmlos Standardjiddisch übersetzt Vokal vergleiche Warschauer Jiddisch Sprecherkennung Westjiddisch Warschauer-Jiddisch-Korpus wörtlich YIVO - Institute for Jewish Research

xii Ζ. ZA: ZI: ZJ ZIH

A bkürzungsverzeichnis

-

Zeile Sprecherkennung Sprecherkennung Zentraljiddisch Zydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut)

Vorbemerkung

Es ist erstaunlich, daß es neben den vielen kürzeren und umfangreicheren Dialektbeschreibungen des Jiddischen keine einzige gibt, die explizit seine größte Stadtmundart, das Warschauer Jiddisch, abhandelt. Die jiddische Sprache der Warschauer Juden und ihre Prägnanz war durchaus bekannt. Von anderen Jiddischsprechern zweifellos erkennbar und definierbar, wurde sie ironisch nachgeahmt, belacht, besungen und oft als Charakteristikum eines Warschauers in der weiten Welt und in der jiddischen Literatur verwendet. Dem Warschauer Jiddisch kam jedoch nie die Ehre zu, als Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung zu dienen. Es gibt mehrere Gründe dafür, die ich an anderer Stelle erörtern werde. Daß diese auffallende Lücke in der ansonsten gut repräsentierten jiddischen Dialektforschung dringend geschlossen werden sollte, bedarf keiner weiteren Erläuterung und Rechtfertigung. Es ist jedoch verwunderlich, daß dies tatsächlich im allerletzten Moment geschieht, aufgrund von Aussagen der letzten Warschauer Jiddischsprecher. Die Spuren des größten Urbanen jüdischen Zentrums Europas in der Geschichte sind im Warschauer Getto-Aufstand von 1943 verschwunden. Seit dieser Zeit gibt es kein jiddisches Warschau mehr. Ein Jahr später versinkt in den Trümmern des Warschauer Aufstands gegen die Nazis auch das polnische Warschau, das zu beinahe 90% dem Erdboden gleichgemacht wurde. Als man sich 1945 nach einigem Zögern entschieden hat, die Hauptstadt Polens trotz ihres enormen substantiellen Verlustes wiederaufzubauen, dachte man nicht mehr an das jüdische Viertel. Von dem amolikn jidisn Varse blieb in der modernen, wiederaufgebauten Stadt fast nichts mehr übrig. Ein großer, im Krieg verschont gebliebener jüdischer Friedhof, das Gettodenkmal, das „Umschlagplatz "-Denkmal, einige Gedenktafeln, die einzige wiederaufgebaute Nozyk-Synagoge im historischen Gzibov, das ehemalige Gebäude der Judaistischen Hauptbibliothek an der Tlomackie-Straße (heute Sitz des Jüdischen Historischen Instituts) und das Staatliche Jüdische Theater machen das bescheidene Register der materiellen Zeugnisse ehemaliger jüdischer Präsenz im heutigen Warschau aus. Vergeblich würde man heutzutage auf den Straßen, in Geschäften und Parks Warschaus nach den sprachlichen Spuren des Warschauer Jiddisch suchen, einer Sprache, die laut offiziellen Statistiken vor 1939 jeder vierte Einwohner Warschaus sprach oder zumindest verstand. Als ich mich Anfang der achtziger Jahre als junge Doktorandin an der Warschauer Universität auf die Suche nach dem Warschauer Jiddisch begab, ahnte ich nicht, daß ich bald mein damaliges Forschungsthema „mangels Informanten

xiv

Vorbemerkung

und Untersuchungsmaterial" würde aufgeben müssen, um es fünfzehn Jahre später aus denselben Gründen dankbar wiederaufnehmen zu wollen. Damals, in den Jahren 1982 und 1983, ist es mir gelungen, unter den wenigen in Warschau lebenden Jiddischsprechern nur zwei Personen zu finden, die den strengen akademischen Kriterien der zuverlässigen linguistischen Informanten für das Warschauer Jiddisch entsprachen und zusätzlich mit einer Aufzeichnung ihrer Textproben auf Tonband einverstanden waren. Hinzu kamen zwei weitere Personen, die diesen Kriterien nicht hundertprozentig entsprachen, aber die Bereitschaft zeigten, Auskunft zu geben. Einige der ohnehin kleinen Anzahl repräsentativer Informanten haben bewußt und entschieden ihre Teilnahme an meinem Projekt zum Warschauer Jiddisch abgelehnt, um sich den traumatischen Erinnerungen an den Holocaust und an den katastrophalen Untergang eines einst blühenden jüdischen Lebens in Warschau nicht aussetzen zu müssen, was durchaus verständlich ist und dementsprechend respektiert wurde. Diese recht bescheidene Anzahl der von mir damals gefundenen Warschauer Jiddischsprecher erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Da sich zu dieser Zeit das kurz vor dem Zusammenbruch stehende kommunistische Polen in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise befand (innerer Kriegszustand) und mir damals weder finanzielle noch institutionelle Unterstützung zur Verfügung stand, war es für mich keineswegs selbstverständlich, auf der einen Seite z.B. durch eine „Suchanzeige" in der Presse (die damals streng zensiert wurde) alle in Frage kommenden Informanten ausfindig zu machen und auf der anderen Seite die schon gefundenen dazu zu bewegen, ihre Probetexte in der herrschenden Atmosphäre der politischen Einschüchterung phonographisch aufzeichnen zu lassen. Aus ähnlichen Gründen konnten die Tonbandaufnahmen nur mit den mir zur Verfügung stehenden unprofessionellen Geräten und unter beinahe konspirativen Verhältnissen aufgezeichnet werden, wodurch ihre Qualität zum Teil beeinträchtigt wurde. Um so dankbarer bin ich heute all denjenigen, die damals zur Gewinnung der authentischen Warschauer Texte mit gutem Willen und Mut beigetragen haben. Vor allem möchte ich den Informanten danken, die hier nur unter Kennung zu identifizieren sind und zum Teil nur noch auf den Seiten dieses Buchs leben werden, die aber direkt zur Entstehung der vorliegenden Schrift beitrugen. An dieser Stelle möchte ich auch meinen Deutschlehrern und Freunden, Hanna und Willy Rogalla aus Göttingen, meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, die von Anfang an ein anregendes Interesse an meinem Projekt gezeigt hatten und es nicht nur moralisch, sondern auch praktisch durch erste Gerät- und Bücherspenden unterstützten. Das unter diesen bescheidenen Bedingungen geschaffene Korpus schien mir damals jedoch nach den Ansprüchen einer „akademischen Dialektologie" von seiner Menge und technischen Qualität her für eine ernsthafte linguistische

Vorbemerkung

XV

Deskription ungenügend. Letzten Endes hatte ich den Versuch gänzlich aufgegeben, um mich einem „zuverlässigeren" Korpus, der literarischen Sprache eines ehemaligen Warschauers, I. Bashevis Singer, zuzuwenden. Als ich zehn Jahre später dank einem Stipendium der Lady Davis Fellowship mit einem lexikalischen Forschungsprojekt nach Jerusalem kam und durch Zufall mit einem größeren Kreis der polnischen Juden Bekanntschaft machte, lebte mein Interesse am Warschauer Jiddisch wieder auf. Durch die Jidise Kulturgezelsaft in Jerusalem fand ich drei weitere Warschauer Informanten, die ich dank der Hilfe des Phonographischen Archivs der Hebrew University in Jerusalem mit professionellen Geräten aufzeichnen konnte. Zurück in Polen fing ich an, weitere Warschauer Informanten in anderen Städten zu suchen, jedoch mit geringem Erfolg. Sehr bald mußte ich nämlich feststellen, daß das fortgeschrittene Alter und die kulturelle Entwurzelung der neuen Informanten, ihr praktisch jahrzehntelang nicht mehr benutztes, dadurch verlerntes, gemischtes und halbvergessenes Warschauer Jiddisch für eine linguistische Analyse noch weniger brauchbar war. Als mir damals bewußt wurde, daß meine ersten Warschauer Aufnahmen von 1983 die im letzten Augenblick festgehaltenen, authentischen Sprachaufzeichnungen der einst größten und bekanntesten jiddischen Sprachgemeinschaft waren, habe ich mich entschlossen, mein bescheidenes Warschauer Korpus trotz seiner technischen und methodischen Mängel einer detaillierten linguistischen Analyse zu unterziehen, um auf diese Weise das lebendige, gesprochene Warschauer Jiddisch vor der Vergessenheit zu bewahren. Die Durchführung dieses Projekts in seiner letzten Phase verdanke ich in erster Linie einer zweijährigen finanziellen Forschungsförderung durch die Alexandervon-Humboldt-Stiftung und der gastfreundlichen Aufnahme am Lehrstuhl für Jiddistik der Universität Trier während dieser Zeit. Die anregenden Diskussionen, die ich dort mit Frau Prof. Erika Timm, Herrn Prof. Walter Röll und Herrn Dr. Simon Neuberg führte, haben sicherlich zur Qualität dieses Buchs beigetragen. Die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Universität Warschau haben den Druck dieses Buches zum Teil gefördert. Ohne praktische Hilfe durch Korrekturlesung der von mir erstellten Paralleltexte, des jiddischen durch Frau Vera Solomon aus Jerusalem und des deutschen durch Herrn Dr. Jürgen Hensel vom Jüdischen Historischen Institut Warschau, könnten die Probetexte im zweiten Teil dieses Buches nicht erscheinen. Für eingehende sprachliche Korrekturen und wichtige methodologische Hinweise bin ich den Herren Prof. Ulrich Engel aus Heppenheim, Prof. Wolfgang Heinemann aus Leipzig, dem Herausgeber Dr. Peter Wagener und Herrn Dr. Karl-Heinz Bausch, beide vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim, zu Dank verpflichtet. Die äußerst komplizierte Layout-Gestaltung verdankt das Buch der unermüdlichen, minutiösen und fachmännischen Arbeit von Anna und Krzysztof Rudnik aus Warschau.

Zielsetzung der Publikation

Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, in erster Linie eine synchrone linguistische Beschreibung der lautlichen Struktur der Warschauer Mundart des Jiddischen in seiner letztzugänglichen gesprochenen Ausprägung zu liefern. Es handelt sich dabei um die linguistische Analyse des gesprochenen Warschauer Jiddisch anhand von Tonbandaufnahmen von Informanten. Somit bleibt die schriftliche Erscheinungsform der Mundart, wie sie in der jiddischen literarischen Produktion Warschaus, in der lokalen Presse, in privaten Briefen, Memoiren und der stilisierten Literatursprache dokumentiert ist, von dieser Untersuchung ausgeschlossen. Zur Veranschaulichung der im deskriptiven Teil angesprochenen linguistischen Fragen werden zusätzlich Textproben zum Warschauer Jiddisch aus dem Untersuchungsmaterial präsentiert. Dabei werden die dargestellten Interviews in der vorliegenden Publikation ausschließlich als linguistisches Korpus betrachtet. Sie dienen also nicht als Hintergrund einer soziohistorischen Darstellung des Warschauer Judentums und insbesondere seines Untergangs. Im Gegenteil, es wird in der strukturell-linguistischen Abhandlung bewußt von den Inhalten der in den Interviews behandelten Themen abgesehen. Auf der anderen Seite muß hier unterstrichen werden, daß die einzigen mir als linguistisches Korpus zur Verfügung stehenden gesprochenen Texte von großem historischen und archi valischen Wert sind. Es handelt sich nämlich nicht um eine beliebige Auswahl neutraler Probetexte, wie man sie normalerweise für linguistische Analysen verwendet, sondern um die im letzten Moment festgehaltenen Belege einer in der Geschichte des Jiddischen bedeutenden Mundart mit ehemals über 350 000 Sprechern. Es handelt sich sicherlich um die letzten Sprecher des Warschauer Jiddisch in seiner Ausprägung in der Zeit vor dem Holocaust. Die sehr persönlichen, emotionsgeladenen Interviews, zum Teil tragischen Inhalts, stellen Augenzeugenberichte nicht nur explizit zum nicht mehr existierenden jüdischen Leben in Warschau, sondern auch implizit zur Beziehungsgeschichte der Juden, Polen, und Deutschen im 20. Jahrhundert dar. Als soziohistorisch relevante Quellen bedürften die Texte einer besonderen entsprechend sachlich kommentierten Edition, die sich mit einer linguistischen in dieser Publikation nicht vereinbaren läßt. Um oberflächliche oder sachlich unangemessene Interpretationen der in den Interviews berührten Fakten, geäußerten Meinungen und bekundeten Einstellungen zu vermeiden, die über den Rahmen einer linguistischen Analyse hinausgehen würden, beschränkt sich die vorliegende Publikation auf Wort- und stichwortartige Faktenerläuterungen (in Form von Fußnoten zu dem standar-

2

Zielsetzung

der

Publikation

disierten jiddischen Text), soweit sie für das Verständnis der inhaltlichen Zusammenhänge unentbehrlich sind. Um jedoch den allgemeinen kulturhistorischen Kontext und die Relevanz des Warschauer Judentums zu veranschaulichen, wird der linguistischen Abhandlung ein Überblick über die Geschichte der Juden in Warschau mit besonderer Berücksichtigung der Entstehung und Entwicklung der jiddischen Sprachgemeinschaft vorausgeschickt. Der monographische Charakter des Kapitels über die jiddische Sprachgemeinschaft Warschaus scheint mir als Einleitung hier umso mehr am Platze zu sein, als die keineswegs bescheidene Literatur zum Warschauer Judentum vorwiegend entweder in jiddischer oder in polnischer Sprache exsistiert und daher im allgemeinen schwer zugänglich und unbekannt ist. Darüber hinaus stellt das Schicksal des Warschauer Jiddisch eine interessante Grundlage für eingehende soziolinguistische Studien dar, zu denen ich anzuregen hoffe. Bei der Schilderung des historischen Kontexts habe ich versucht, die psychound soziolinguistischen Hintergründe zu erläutern, die dafür verantwortlich waren, daß das Warschauer Jiddisch einerseits zu einer so breiten quantitativen und qualitativen Ausprägung innerhalb kurzer Zeit gelangte, sich jedoch andererseits kaum als kulturbildender Faktor für das Gesamtjiddische auswirkte. Daraus lassen sich sekundär mutmaßliche Motive der Vernachlässigung der Warschauer-Jiddisch-Forschung in der Jiddistik ableiten. Der geschichtlichen Einleitung folgt ein methodologisches Kapitel, das ausführliche Informationen über das linguistische Korpus, seine Gewinnung und Auswertung enthält. Im wesentlichen besteht das Buch aus zwei Hauptteilen: einem deskriptiven und einem materiellen. Der deskriptive Teil bietet eine synchrone Abhandlung des Lautsystems des Warschauer Jiddisch. Da es sich hier um gesprochene Sprache handelt, steht das Phonetisch-phonologische im Mittelpunkt der Untersuchung. Fragen der Morphologie und der Syntax werden nur als Folgen der Lautentwicklungen im Kapitel zur Prosodie behandelt. Darüber hinaus werden im Textteil ausführliche Kommentare zu grammatischen, lexikalischen sowie sprachpragmatischen Fragen und dem Bilingualismus (Codewechsel, Gesprächstechniken usw.) in Form von Fußnoten gegeben. Der hier vorliegende Versuch einer synchronen Deskription des Lautsystems der Warschauer Variante des Jiddischen basiert in erster Linie auf dem Ergebnis der Korpusanalyse. Er wurde aber zum Teil auch durch verstreute Belege und Aufzeichnungen zum Warschauer Jiddisch in der dialektologischen Literatur, vor allem in Schriften von Noah Prilutski, sowie durch den Befund zum Warschauer Jiddisch aus dem Archiv des L C A A J gestützt, der mir freundlicherweise für diese Untersuchung zur Verfügung gestellt wurde.

Zielsetzung der Publikation

3

Im Textteil wird eine Auswahl aus dem analysierten Korpus in vierfacher Version dargestellt: als phonetisches Transkript der Tonbandaufnahme, als standardisierte jiddische Version sowie als lexemgetreue Umsetzung ins Deutsche und Polnische, die ich entsprechend als deutsche und polnische Paralleltexte bezeichne. Die Funktion der synoptischen Darstellung des Originaltexts und insbesondere die uniibliche Methode der Anfertigung von Paralleltexten, die dem deutschen Leser fremd vorkommen können, werden ausführlich im methodologischen Teil erörtert. Zusätzliche Anmerkungen zu besonders prägnanten Stellen im Text werden zur Veranschaulichung im deskriptiven Teil diskutiert.

I. Die jiddische Sprachgemeinschaft Warschaus

1. Historische Entwicklung Im Gegensatz zum Warschauer Jiddisch gibt es zur Geschichte der Juden in Warschau zahlreiche ältere und neuere Publikationen. Die ältesten stammen aus dem 19. Jh., z.B. die von Nussbaum (1880, 1881). Der umfangreichen, dreibändigen Monographie von Jakob Shatzky (1947, 1948, 1953) verdanken wir eine Menge faktographischen und soziokulturellen Wissens zum Warschauer Judentum von seinen Anfängen bis zum Ende des 19. Jh. Außerdem gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit besonderen Aspekten der Geschichte der Juden in Warschau befassen. Angefangen mit den ältesten Publikationen über das jüdische Schulwesen in Warschau (Z dziejów Gminy Starozakonnych w Warszawie, 1907), Kraushars (1929) und Schipers (1935) Abhandlungen zum jüdischen Handel in Warschau, Ringelblums früherer Geschichte der Juden in Warschau (1932) und seinen zahlreichen, zerstreuten Beiträgen, 1 über Balaban (1928), Fuks (1979, 1992), Steinlauf (1987), Cala (1989) zur jiddischen Presse, Ojslender (1930), Shmeruk (1988, 1992), Rozanski (1979), Krasiñski (1992), zu Literatur und Theater, Borzymmska (1994) zum Schulwesen, Wróbel (1988, 1991), Corssin (1989, 1991), Zalewska (1996) zur Demographie und Sozialfragen, reichen diese Arbeiten bis zu Sammelbänden: Jews in Warsaw (in Polin 3, 1988), The Jews in Warsaw (Bartoszewski/Polonski, Hg. 1991), Teatr Zydowski w Polsce do 1939 (Das jüdische Theater in Polen bis 1939, 1992), sowie dem Warschauer Getto in Sakowska (1980, 1993, 1997) und Resten des jüdischen Warschaus in Mórawski (1993), um einige wichtigere Titel zu nennen. Hinzu kommt eine Reihe von Memoiren, z.B. Zonszain (1954), Tajtlbojm (1947), Segalowicz (1946)2 und Anthologien der Warschauer Landsmannschaften: in Argentinien Pinkes Varse (1955) und in Kanada Dos amolike jidise Varse (1966). Trotz umfangreicher Literatur zum jüdischen Warschau fehlt es jedoch an einer Monographie, die den Werdegang Warschaus zum modernen Urbanen 1

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Eine Bibliographie zu Ringelblums Artikeln, zusammengestellt von J. Schatzky, befindet sich in seinen posthum herausgegebenen Kapitlex gesixte (1953). Eine Reihe der memoiristischen sowie literarischen Bearbeitungen zum Thema jüdisches Warschau wurde in Buenos-Aires in der vom Tsentral-farband fun pojlisejidn in Argentine herausgegebenen Serie „Dos pojlise jidntum" veröffentlicht; s. die Veröffentlichungsliste, die am Ende jedes Bandes der Serie erscheint; dazu s. auch die Bibliographie in der Anthologie „Dos amolike jidise Varse" (1966).

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

Zentrum des jüdischen Lebens nachvollziehen würde und die Spezifik Warschaus den anderen modernen Zentren wie Berlin oder Vilnius gegenüberstellte. In diesem Zusammenhang unternehme ich im weiteren den Versuch, die Genese und die Entwicklung der jiddischen Sprachgemeinschaft Warschaus zu rekonstruieren und ihre charakteristischen Züge zu unterstreichen.

1.1. Die erste jüdische Gemeinde in Warschau Erst im Laufe des 16. Jhs. wurde Warschau zum politischen Zentrum und schließlich zur Hauptstadt Polens. Zuvor war es eine ziemlich unbedeutende, provinzielle Stadt, dann Hauptstadt des autonomen Fürstentums Masovien, das erst 1526 in das polnische Königreich einverleibt wurde. Juden sind in anderen Städten Masoviens schon seit der ersten Hälfte des 13. Jh. nachgewiesen. Da das erste schriftliche Dokument zur jüdischen Präsenz in Warschau aus dem Jahre 1414 stammt, wird eine organisierte jüdische Ansiedlung in der Stadt spätestens seit dem Ende des 14. Jh. angenommen. 3 Laut Steuerdokumenten aus dem Jahre 1423 schätzt man die damalige jüdische Bevölkerung auf ca. 120-160 Personen. Später tauchen Warschauer Juden in verschiedenen städtischen Gerichts- und Rechtsakten auf, darunter auch Personen mit slawischen Namen. 4 Jüdische Gassen, ein Gebetshaus und ein Friedhof als Attribute organisierten jüdischen Lebens werden im christlichen Kern der Stadt intra muros im 15. Jh. bezeugt. Aus diesen Belegen geht hervor, daß sich die ersten Warschauer Juden weder durch den Wohnort noch durch ihre Kleidung, zum Teil nicht einmal durch ihre Sprache von anderen Bürgern der Stadt unterschieden und mit ihnen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Kontakte pflegten.5 Die polnische Sprache dürfte vielen bekannt und geläufig gewesen sein, was sich sowohl in manchen polnischen oder polonisierten Namen als auch in den Gerichtsdokumenten manifestiert. 6 3 4

Vgl. Shatzky (1947: 20, Anm. 2). Shatzky op. cit. erwähnt eine jüdische Medizinerin namens Slave (S. 38) sowie schriftliche Belege für slawisierte Schreibung des hebräischen Namen 2pJ?' als die er als Ja(n)kl deutet (S. 43); dazu vgl. Ringelblum (1926: 335) „der Warschauer Jude S p y (Jakov) unterschreibt sich 313' (= Jakób) . . . ". Zum Gebrauch slawischer Namen bei Juden vgl. u.a. Harkavy (1865) und Wexler (1987: 90 und Anm. 29).

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S. Shatzky (1947: 41f.) führt eine ganze Reihe von Beispielen für soziale Beziehungen zwischen Juden und Christen im mittelalterlichen Warschau an und konkludiert: „... die Berührungspunkte zwischen Juden und Christen konnten nicht so schwach sein, wie z.B. in Deutschland. "

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Shatzky op.cit. S. 39. „Juden trugen weder besondere Kleidung noch jüdische Abzeichen. Der ständige Kontakt mit der nichtjüdischen Bevölkerung führte dazu, daß Juden die

1. Historische

Entwicklung

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W i e in anderen polnischen Städten in der Zeit des Mittelalters wax der Anteil des deutschen Bürgertums in Warschau bedeutend. Zum großen Teil kamen nach Warschau auch Juden aus Deutschland und brachten ihre aschkenasische Alltagssprache mit. In Prozeßakten zwischen Warschauer J u d e n und Christen werden sowohl polnischsprachige Juden als auch Dolmetscher erwähnt, was darauf hindeutet, daß zu dieser Zeit beide Sprachen - Jiddisch und Polnisch - als Umgangssprachen unter den Juden Warschaus geläufig waren. Die jiddische und hebräische Sprache aus Warschau war laut Ringelblum in handschriftlichen „Bemerkungen" aus den Jahren 1 4 3 3 - 3 7 belegt. 7 E s gibt auch jiddische Glossen in anderen hebräischen Handschriften, die aber höchstwahrscheinlich aus Deutschland nach Warschau mitgebracht oder nachträglich importiert wurden. 8 E s ist schwer zu entscheiden, ob die dokumentierten polnischsprachigen J u den eine Mehrheit oder Minderheit in der kleinen jüdischen Gemeinde W a r schaus a m Ausgang des Mittelalters ausmachten, und ob sie präaschkenazischer Herkunft waren. 9 Viel wichtiger scheint in diesem Zusammenhang die Tatsache zu sein, daß die beiden Sprachen von Anfang an unter Juden Warschaus existent waren.

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polnische Sprache verstanden und vielleicht auch gesprochen haben", und S. 43: „Es ist feist sicher, daß die reicheren Schichten der jüdischen Bevölkerung, die im ständigen Kontakt mit dem fürstlichen Hof und mit der adeligen Kundschaft standen, auch Polnisch sprechen konnten, [oder] sich wenigstens auf Polnisch verständigten." [Ubers. E.G.]. S. Ringelblum (1926); laut Shatzky (op. cit. S. 43, Anm. 32) sind diese Dokumente, darunter die von Ringelblum im Warschauer Stadtarchiv gefundenen hebräischen Pergamentstücke, verloren gegangen. Es wurde auch über andere jiddische und hebräische Glossen aus dem Stadtarchiv in Warschau in anderen Publikationen mindestens seit 1850 berichtet, die konnte aber Ringelblum nicht mehr finden, vgl. Ringelblum ibidem. Vgl. Shatzky (1947: 44). Uber Gebrauch der slawischen Sprachen bei Juden in Mittel- und Osteuropa s. u.a. Harkavy (1865), Balaban (1920), Schiper (1932a: 225-236), Weinreich, M. (1956), Jakobson/Halle (1964), Bihari (1969: 161-164), Wexler, (1987, 1991, 1993), Harshav (1990:5), Shmeruk (1992:10), Geller (1994: 26-29); Harshav op.cit. S. 5 behauptet z.B. „Thus, it is plausible that Slavic-speaking Jewish communities in Eastern Europe (which existed there from early times) became dominated in the sixteenth century by Ashkenazic culture and adopted the Yiddish language"; vor allem s. Wexler (1987: 81-113) mit umfangreicher Bibliographie und Belegen zu diesem Thema; auf Seite 87 schreibt er: „Sixteenth-century sources infer that Slavic was the dominant tongue of some Jews both in Poland and East Slavic lands" und Weinreich (1956: 625) führt ein Beispiel für diese Sprache auf: „One of the very few Eastern Knaanic items, contained in a seventeenth century responsum, reads (the sounds can be rendered only approximately): ja tebi (es)tym [estim?] mekadesh byl ,by means of this I have hallowed you [i.e., declared you my wife]'."

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I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

1.2. In der Zeit des jüdischen Wohnverbots in Warschau Mit der wachsenden Bedeutung Warschaus als politischem und ökonomischem Zentrum Polens verstärkte sich die Feindseligkeit seines Bürgertums gegen die Juden. Durch ihre weltweiten Beziehungen und große Erfahrung im Handel wurden sie von den polnischen Kaufleuten als Konkurrenten betrachtet und bekämpft. Ein Jahr nach dem Anschluß Masoviens mit seiner Hauptstadt Warschau an das Königreich Polen haben die Warschauer Bürger das für Juden verhängnisvolle Dekret de non tolerandis judeais beim polnischen König durchgesetzt. Für den König Sigismund I., unter dessen rechtlichem Schutz z.B. die Juden in Krakau standen, 10 war die Unterzeichnung eines antijüdischen Gesetzes im Jahre 1527 für das neu gewonnene Warschau eindeutig ein taktisches Manöver, mit dem er das Warschauer Bürgertum für seine monarchische Politik gewinnen wollte. Als ein in erster Linie politischer Schritt blieb das Gesetz de non tolerandis judeais jahrelang nur ein Papier. Erst nach und nach wurde es unter dem Druck des Bürgertums durch andere Herrscher wiederholt und durch konkrete Ansiedlungsverbote, Beschlagnahmungen jüdischer Ware und nicht zuletzt durch Schikanen und eigenwillige bürgerliche Vertreibungen in Kraft gesetzt. Infolgedessen verließen die Juden allmählich die für sie verbotenen Wohngebiete im Kern der Stadt und suchten Zuflucht und neue Siedlungsmöglichkeiten auf privaten Landgütern und Dörfern des polnischen Adels am Rande oder in der Nähe von Warschau. Mit der territorialen Ausbreitung der Stadt in den folgenden Jahrhunderten wurden diese Siedlungen entweder Warschau eingemeindet oder entwickelten sich zu den später so charakteristischen polnischjüdischen stetlech. Besonders privilegierte Juden, die meistens in Verbindung mit dem königlichen Hof standen, durften sich in Warschau ansiedeln. Zu bestimmten Zeiten, z.B. zu den Jahrmärkten und während der Sitzungen des polnischen Parlaments durften sich jüdische Geschäfts- und Kaufleute mit besonderer Genehmigung in Warschau aufhalten und ihren Geschäften nachgehen. Polnische Adelige aus der Provinz brachten nach Warschau „ihre eigenen Juden" mit, welche sie mit Ware und Geld versorgten, wenn die hochgeborenen Herren in der Hauptstadt zu Parlamentssitzungen oder wegen anderer rechtlicher Angelegenheiten weilten. Regelmäßig kamen nach Warschau auch - oft mit der ganzen Gefolgschaft - Gesandte jüdischer Gemeinden (stadlonim) und des jüdischen Landtages in Polen, des Vaad Arbaa Aratsot, sowie andere Interessenten zum Hof oder zum königlichen Gericht. Es fehlte auch nicht an jüdischen Besuchern aus dem Ausland und sonstigen Durchreisenden, Gauklern, Musikanten und anderen 10

Zur Politik des Königs Sigismund I. (des Alten) gegenüber Juden vgl. u.a. Balaban (1925) Bd. III S. 147f., 156.

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Entwicklung

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zeitweiligen Gästen, die eine königliche Stadt wie Warschau in der Zeit vom 16. bis Ende des 18. Jhs. mit ihrem metropolen Reiz und lockenden Möglichkeiten anzog. 11 Juden waren also in Warschau auch in der Zeit des offiziellen Wohnverbots präsent und prägten sogar ihr äußerliches Bild.12 Dies führte zu wiederholten Beschwerden und gelegentlichen eigenmächtigen Vertreibungen der Juden von Seiten des Warschauer Bürgertums, wenn der Stadtrat die von ihnen geforderten Maßnahmen allzu lange verzögerte. Gegen Ende des 18. Jhs. (1784) wurde der Aufenthalt von Juden in Form einer Art Visum geregelt. Jeder jüdische Besucher in Warschau mußte beim Stadteintritt ein „Tagesbillet " (jid. togtsetl) kaufen, das ihm erlaubte, sich bis zu 14 Tage lang legal in der Stadt aufzuhalten. Auch wenn die Volkszählung aus dem Jahre 1765 ca. 2500 Juden in Warschau bezeugt, handelt es sich dabei um keine bodenständige jüdische Gemeinde, sondern um eine fluktuierende Bevölkerung von Besuchern, kurzzeitigen Bewohnern oder vor Krieg und Unheil in der Hauptstadt Zufluchtsuchenden, die dann immer wieder aus der Stadt verdrängt wurden.

1.3. Während der Teilung Polens im 19. Jh. Als infolge der drei aufeinanderfolgenden (1772, 1793, 1795) Verträge zwischen Rußland, Österreich und Preußen die Gebiete Polens unter die drei Mächte verteilt wurden, verschwand Polen für 120 Jahre von der Landkarte Europas. Zuerst geriet Warschau für einige Jahre (1796-1807) unter die preußische Herrschaft und Gesetzgebung. Um die rechtliche Lage der Juden in Warschau an die für Preußen herrschenden Regelungen anzugleichen, wurde das Privileg de non tolerandis judeais offiziell aufgehoben und ihr Wohnrecht in der Stadt teilweise legalisiert.13 Die geregelte rechtliche Lage sowie neue Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt unter preußischer Wirtschaftspolitik begüns11

Vgl. u.a. Shatzky (1947: 62-69), besonders S. 65: „Warschau, die ,Stadt ohne Juden' hatte außer Märtyrern und - es sei wohl unterschieden - Konvertiten sowie jüdischen Gauklern auch echte Juden gesehen, die hier in der Zeit von Landtagssitzungen und auch in der Zwischenzeit kamen. [ . . . ] Die Gesandten und stadlonim, eingeladen oder nicht, meistens aber legale Vertreter der jüdischen Gemeinden, [... ] und anderer Körperschaften." [Ubers. E.G.]

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Vgl. z.B. die jüdischen Gestalten abgebildet auf den aus dem 18. Jh. stammenden Vedutten aus Warschau von dem italienischen Hofmaler Warschaus Bernardo Beiotto (Canaletto), vgl. Rizzi (1991: 87, 94, 110 et passim). Dabei wurden die Juden Warschaus in zwei Kategorien aufgeteilt: Diejenigen, die sich in den Jahren 1776-99 in Warschau angesiedelt hatten, bekamen von der preußischen Verwaltung der Stadt ein Wohnrecht gegen „Toleranzsteuer", für die übrigen Juden in Warschau wurde das „togtsetl" erneut eingeführt.

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I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

tigten eine rasche Einwanderung der Juden nach Warschau von nah und fern. Die jüdische Bevölkerungszahl in der Stadt stieg im Jahre 1805 auf ca. 12 000 Einwohner an. Einen bedeutenden Teil der Neuankömmlinge bildeten die deutschen assimilierten Juden, hauptsächlich aus Preußen, Schlesien und dem Elsaß, die in der Hauptstadt Polens das Fundament für eine jüdische Bourgeoisie legten. Mit den neuen deutschsprachigen jüdischen Emigranten strömten die Ideen der Emanzipation sowie sprachlicher und kultureller Assimilation nach Warschau, wie sie durch Moses Mendelssohns aufklärerisches Werk in Deutschland erfolgreich durchgeführt worden waren. Die Einwanderer sprachen nicht nur anders, sie kleideten sich auch anders, zeichneten sich durch eine weltoffene Lebensweise aus und versammelten sich in eigenen, „reformierten" Gebetshäusern, wo auf deutsch gepredigt und zum Teil sogar gebetet wurde. Das ist die Zeit, in der im Munde eines frommen polnischen Juden der Begriff „dajtsch" beinahe als Schimpfwort für seinen äußerlich und sprachlich assimilierten Glaubensgenossen geprägt wurde, während sich schon gegen Ende des 18. Jhs. in Deutschland ein abwertendes Stereotyp eines „Ostjuden" entwickelte, der angeblich schmutzig, laut, roh und rückständig sei.14 Beide Gruppen trafen in Warschau zu Beginn des 19. Jhs. zusammen, und lernten im gegenseitigen Kampf ein erträgliches Zusammenleben der sich etablierenden jüdischen Gemeinde zu gestalten. Die „dajtschn" Juden sind ein wichtiger Faktor bei der kulturellen und sozialen Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Warschau, und ihre wirtschaftliche Tätigkeit zieht in den folgenden Jahrzehnten Tausende von Juden nach Warschau an, die sich im Laufe der Zeit zum jüdischen Proletariat entwickeln werden. Für die Gestaltung des Warschauer Jiddisch spielten die emanzipierten deutschen Juden jedoch keine kreative Rolle. Ihrer aufklärerischen Tätigkeit verdankte das Jiddische die Durchsetzung der für das gesprochene Jiddisch unadäquaten neuhochdeutschen Orthographie, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jhs. die wahre Form des sog. Ostjiddischen verschleierte. Aber schon in der zweiten, spätestens dritten Generation wurde ihre deutsche Muttersprache und Verankerung in der deutschen Kultur gegen die Landessprache 14

Zu diesem Thema vgl. Klañska (1996: 16f.) insbesondere S. 19: „Dieses Heterostereotyp war im Umlauf bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den deutschen Juden, die sich selbst als emanzipierte, fortschrittliche, akkulturierte Bürger Preußens bzw. Deutschlands oder Österreichs sahen . . . ". Dieses Stereotyp kommt aber ganz deutlich zum Vorschein schon in Zusammenhang mit der Lebensgeschichte eines aus Polen-Litauen stammenden Philosophen Salomon Maimons (1754-1800), der in den Jahren 1780-94 in Berlin lebte, vgl. op. cit. S. 271 : „ . . . , daß der kultivierte Berliner [Arzt und Philosoph Marcus Herz, Schüler und Freund Mendelssohns] auf den wild aussehenden, kein reines Deutsch sprechenden und ein ungebärdiges Betragen an den Tag legenden Provinzler [Salomon Maimón] . . . mit Befremdung und Staunen schaute. "

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Entwicklung

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eingetauscht, und bald wurden ihre Söhne und Enkelkinder in die nationalpatriotischen Unabhängigkeitskämpfe der Polen gegen die russische Herrschaft mitgerissen. Nach dem kurzlebigen Versuch ein mit dem Frankreich Napoleons verbündetes Warschauer Herzogtum (1807-1813) zu etablieren, geriet die Stadt samt dem auf dem Wiener Kongreß (1814) gegründeten Königreich Polen (sog. Kongreßpolen) für ca. 100 Jahre unter russische Herrschaft. Trotz andauernder Reibungen mit der polnischen Bevölkerung, weitgehender Einschränkungen ihres Wohngebiets und Belastung mit Steuern wirkte sich die Situation im russischen Warschau in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. für die Juden im allgemeinen als stimulierend aus, was sich im rapiden Zuwachs der jüdischen Bevölkerung um fast 1000% zeigte.15 In den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jhs. steht die rege soziale Entwicklung des Warschauer Judentums unter starkem Einfluß der aus Westeuropa mitgebrachten emanzipatorischen Ideologie der Haskala. Nicht nur wird ein reformierter religiöser Ritus als moderne Alternative zu traditionellen talmudisch-orthodoxen Praktiken eingeführt, sondern es entstehen auch jüdische weltliche Lehranstalten elementaren und höheren Niveaus. Ein jüdisches assimilatorisches Tageblatt sowie ein volkstümliches Theater versuchen in der „russischen Metropole" - wie Warschau zu dieser Zeit genannt wurde - festen Fuß zu fassen. Ein wichtiges Assimilationszentrum der Warschauer Juden mit polonophiler Gesinnung war die 1826 staatlich gegründete Rabbinerschule,16 deren Aufgabe es wax, aufgeklärte Rabbiner und Lehrer für die entstehenden öffentlichen jüdischen Schulen auszubilden. Ihre Absolventen bildeten die Grundlage für die spätere Herausbildung einer modernen, welt(lich)orientierten jüdischen Intelligenz in Warschau.17 Aus ihren Reihen kam der Herausgeber der ersten jüdischen Zeitung Warschaus und späterer Direktor der Warschauer Rabbinerschule Antoni Eisenbaum. Auf seine Initiative wurde in Warschau in den Jahren 1823-24 „Der

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1813 betrug die jüdische Bevölkerung Warschaus ca. 8000 und 1864 72.000 - Zahlen nach Balaban (1928); vgl. auch Schiper (1935). Zur Enstehungsgeschichte der Warschauer Rabbinerschule s. u.a. den Bericht eines Zeitgenossen; Nussbaum (1881: 56-76). Von 1209 Absolventen, die die progressive Rabbinerschule in Warschau in den 37 Jahren ihrer Existenz ausgebildet hat, wurde kein einziger auf einem Rabbinerposten in einer Gemeinde angestellt, vgl. Balaban (1928: 119). Das spiegelt den Antagonismus zwischen den beiden Orientierungen im polnischen Judentum und die Widerstandskraft der fast ausschließlich orthodoxen Gemeinden gegen jegliche Reform in der ersten Hälfte des 19. Jhs. wider. Nach zahlreicher Beteiligung ihrer Schüler am polnischen National-Aufstand gegen die russische Besatzung im Jahre 1863 wurde die Schule im selben Jahr geschlossen.

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

Beobaxter an der Vajxsel/Dostrzegacz Nadwislanski", ein zweisprachiges Wochenblatt, herausgegeben. Die Zeitschrift wurde zu Anfang als elitäres Organ der Haskala-Anhänger konzipiert und sollte in Polnisch und Hebräisch erscheinen, was die weniger aufgeklärte Leserschaft, die des Polnischen gar nicht und des Hebräischen nur dürftig zum Zwecke des Betens mächtig war, absichtlich ausschließen sollte. Da er aber für die Gründung seiner Zeitschrift, die „die Aufklärung unter dem jüdischen Volke verbreiten sollte", staatliche Gelder bekam, hatte er sich letzten Endes entschieden, dies in einer dem Volke „verständlichen" Sprache zu tun. 18 Obwohl die entsprechende Genehmigung zur Gründung eines jüdischen Blattes auch Jiddisch oder Hebräisch neben dem obligatorischen Polnisch zuließ, wählte Eisenbaum für den „Beobachter" ein stark dem zeitgenössischen Deutschen angeglichenes „Jüdisch-dajtsch" in hebräischen Lettern. 19 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß in der Zeit der starken Auswirkung der Haskala in Polen das lokale jiddische Idiom des „unaufgeklärten" jüdischen Volkes mit dem reinen Deutsch der assimilierten deutschen Juden pauschal entweder als Jüdisch-deutsch" oder als „Deutsch" bezeichnet wird. 20 Wie weit die beiden Sprachen schon damals voneinander entfernt waren, zeigt sich am Beispiel des „Beobachters". Der Herausgeber wählte für seine Zeitschrift die „deutsche" Sprache aus didaktischen Gründen, um das kauderwelsche ,jüdisch-deutsch" des einfachen Volkes durch den Druck nicht zu sanktionieren, sondern es im Gegenteil an das reine Deutsch „heranzuerziehen". Anders als in Deutschland, wo Mendelssohns Bemühungen, das Westjiddische zugunsten der hochdeutschen Landessprache „abzugleichen", ziemlich mühelos durchgeführt wurden, hatte die sogar in hebräischen Lettern gedruckte deutsche Sprache für einen Ostjuden offensichtlich eine viel zu weite 18 19

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Vgl. Paks (1979) S. 22f, Anm. 6. Die Forscher sind sich über die Bezeichnung der Sprache des „Beobachters" nicht einig; vgl. dazu Fuks' (1979) Stellungnahme zu Szacki (Shatzky) und Balaban auf S. 23, Anm. 7; dazu s. auch Shmeruk (1988: 298). Die Flexion (z.B. Pluralbildung), Syntax und die Rechtschreibung (bis auf die Kennzeichnung der Umlaute) folgen im Allgemeinen den Regeln des Neuhochdeutschen. Auch eine genauere linguistische Untersuchung könnte wahrscheinlich nicht eindeutig diese eher „sprachpolitische" Frage beantworten, ähnlich wie es unter diesem Aspekt schwierig ist, z.B. die Sprache der Cambridger Handschrift eindeutig zu klassifizieren. Im Zusammenhang mit der Bestimmung der Sprache des Warschauer jüdischen Theaters aus dieser Zeit schreibt Shatzky (1947; 1992: 184f.): „ . . . i n welcher Sprache spielten die Schauspieler? Der ,Izraelita' schrieb, daß man auf Deutsch spielte, ein englischer Korrespondent bemerkte auch, daß man auf Deutsch spielte: in ,einer universalen Sprache der Juden aus Zentraleuropa'. Er fügte übrigens hinzu, daß die Aussprache nicht richtig, und charakteristisch für Juden und nicht Deutsche war. [... ] Es ist klar, daß die jüdische Theatergruppe . . . mit Sicherheit auf Jiddisch spielte . . . " [Ubers. E.G.]; Vgl. auch op.cit. Anm. 10.

1. Historische

Entwicklung

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Distanz von seinem alltäglich gesprochenen Idiom. Es waren, wie es scheint, nicht so sehr die aufklärerischen Ideen der ersten jüdischen Zeitung in Warschau, die zu ihrem Mißerfolg geführt hatten, als vielmehr die verfehlte Wahl der für das jüdische Volk unverständlichen deutschen Sprache als Medium ihrer Verbreitung. 21 Nach 44 Nummern, die innerhalb von zehn Monaten erschienen, wurde die Veröffentlichung der Zeitschrift eingestellt. Nach über 40 Jahren wurde der Versuch einer aufklärerischen Zeitung in der „verständlichen" Sprache des jüdisches Volkes wieder aufgenommen. Nachdem die polnischsprachigen jüdischen Zeitschriften „Jutrzenka" - (1861-63) und „Izraelita" (1866-1912) nur einen geringen Empfängerkreis der schon assimilierten Juden erreicht hatten, wurde 1867 die „Varsojer jidise tsajtung" gegründet, und sie ist, wie es scheint, aus ähnlichen Gründen - d.h. wegen Fremdheit der jüdisch-deutschen Schriftsprache - wie ihre Vorgängerin nach einem knappen Jahr gescheitert. Das Jahr 1862 brachte den Juden in ganz Kongreßpolen die bürgerliche Gleichberechtigung. Dies geschah auf Initiative des polnischen Landesverwalters im russisch-kontrollierten Kongreßpolen, Graf Aleksander Wielopolski. Begeistert von den Ideen der französischen Revolution und von Resultaten der Judenemanzipation in Deutschland wollte er durch seine Reformen die Juden im Kongreßpolen in einen polnischen Mittelstand verwandeln. Besonderen Wert legte er dabei auf Warschau als dem kulturellen und ökonomischen Zentrum des Landes. Sein für damalige Verhältnisse sehr progressives Programm zur Gleichberechtigung der Juden stieß von allen Seiten auf Widerstand. Die Obrigkeit in Rußland sah sich durch die Durchführung einer so fortschrittlichen Reform in der ihr unterworfenen polnischen Provinz überholt. Die Mehrheit der durch die Teilung Polens verstärkt national-religiös gesinnten Polen sah in der Gleichberechtigung der Juden eine zusätzliche existenzielle und nationale Bedrohung durch das „fremde" jüdische Element. Nicht zuletzt widersetzte sich die jüdische Orthodoxie selbst einer liberalen Gesetzgebung. Die jüdischen religiösen Autoritäten sahen ihre Befürchtungen über den moralischen und nationalen Niedergang des Judentums in Polen in der Verbreitung der „dajtschen" Lebensweise bestätigt, die letztlich zu einer wachsenden Zahl von religiösen Konversionen ihrer Glaubensgenossen führte. 22 An der Seite des polnischen Reformators standen nur die fortschrittlichen Juden vor allem in Warschau, die in dieser Atmosphäre bald die Gelegenheit hatten, ihre bürgerliche „Reife" und ihren polnischen Patriotismus zu beweisen. Ihre Teilnahme am nationalen Auf21 22

Vgl. Fuks (1979: 39). Vgl. Encyclopaedia Judaica Warsaw: „The incidence of conversion in Warsaw became the highest in Eastern Europe: in the first half of the 19th century 70 bankers, industrialists and large scale merchants, 15 printers, and 20 officials adopted Christianity."

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

stand im Jahre 1863 und die damit verbundene Hoffnung auf ein unabhängiges polnisches „Vaterland" war bedeutend.23 Nach der Niederlage des zum großen Teil solidarischen polnisch-jüdischen Aufstandes nahm die russische Politik einen repressiven Kurs nach dem Motto: divide et impera. Diese Politik fand nach einer kurzen Periode der demonstrativen Verbrüderung zwischen Juden und Polen Warschaus in der Kontroverse um die jüdische Gleichberechtigung einen fruchtbaren Boden. Die Aufhebung der bisherigen Restriktionen u.a. bezüglich jüdischen Land- und Hauserwerbs, und des Wohnverbotes in bestimmten Teilen der Stadt, die die Gleichberechtigung mit sich brachte, eröffnete jedoch neue ökonomische Möglichkeiten und regte einen Zustrom der Juden in die Hauptstadt an. Die Industrialisierung und urbane Entwicklung der Stadt zieht in gleichem Maße Tausende von polnischen und jüdischen Zuwanderern aus der polnischen Provinz wie auch die reichen litauischen und ukrainischen Juden nach Warschau an. Infolge der antijüdischen Ereignisse in Rußland nach der Ermordung des liberalen Zaren Alexander I. im Jahre 1881 kommt es zur massiven Flucht der russischen Juden nach Warschau. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung Warschaus, die 1864 ca. 72 000 betrug, verdreifacht sich innerhalb von ca. 30 Jahren infolge der Zuwanderung der sog. litvakes, wie man die Immigranten aus den westlichen Gebieten Rußlands, hauptsächlich aus Litauen, aber auch aus Weißrußland und sogar aus der Ukraine bezeichnet, und beträgt 1897 ca. 213 000 Personen. Das führte einerseits zur Radikalisierung der antijüdischen Einstellung der polnischen Bevölkerung24 und andererseits zur Antagonisierung der ohnehin polarisierten jüdischen Gemeinschaft Warschaus. Die „mitnagdische", d.h. antichassidische Gesinnung der zahlreichen Neuankömmlinge aus Litauen, ihr unterschiedlicher religiöser Ritus, ihr fremder „Akzent" und ihr „komisches" Jiddisch, die Verwurzelung in der in Polen so verhaßten, weil zur auferlegten Russifizierung dienenden russischen Sprache und Kultur, und nicht zuletzt die vorteilhaften ökonomischen Beziehungen nach Rußland machten sie bei den bodenständigen Warschauern, unabhängig von ihrer Religion, gleichermaßen unbeliebt. In dieser ungünstigen Atmosphäre erwiesen sich die litauischen und ukrainischen Juden in Warschau als sehr anpassungsfähig. Sie eigneten sich innerhalb von einer Generation die Sprachen und Sitten des Landes an. Seltener erwarben sie das lokale Warschauer Jiddisch, viel öfter lernten sie die polnische Landes23

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Vgl. den von Shatzky (1948: 289) im Quellen-Annex zitierten „An ojfruf fun jidn-poljakn" aus dem Jahre 1862. Im Dezember 1881 bricht in Warschau eines der größten antijüdischen Pogrome in der Geschichte der Stadt aus. Die Ereignisse wurden mit „topographischer Genauigkeit" in dem anonymen zeitgenössischen Lid fun rabonik geschildert, dazu. vgl. Shatzky (1953: lOOf.).

1. Historische

Entwicklung

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spräche,25 die besonders nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Polen im Jahre 1918 in den säkularisierten Kreisen der Juden bevorzugt wurde.

1.4. Von der Jahrhundertwende bis zum II. Weltkrieg Die demographischen Statistiken zeigen, daß innerhalb des 19. Jhs. der Prozentsatz der Juden in der Gesamtbevölkerung Warschaus bis auf 41% stieg.26 Zu Beginn des 20. Jhs. wächst Warschau zur größten jüdischen Gemeinde Europas und zum wichtigsten kulturellen Zentrum des europäischen Judentums.27 Gegen Ende des 19 Jhs. wurden die Völker ganz Europas durch das wachsende nationale Bewußtsein ergriffen. Dies wirkte sich sehr stark auf die politisch-nationale Emanzipation der Juden in Polen aus, die durch die Enttäuschung über die Assimilation einerseits und den wachsenden polnischen Nationalismus und Antisemitismus andererseits unterstützt wurde.28 Infolgedessen kommt es zur weiteren Zersplitterung der jüdischen Gesellschaft in Warschau. In dieser Zeit wurde Warschau zum Gründungsort und Sitz von wichtigen jüdisch-nationalen Bewegungen und Organisationen, kulturellen und bildenden Einrichtungen, jiddischen und hebräischen Verlagen und Druckereien, die hunderte von Publikationen veröffentlichen. Religiöse, propagandistische und literarische Werke, Lehrbücher, Almanache, Broschüren und Kleinschriften, vor allem aber eine Menge von Zeitungen und Zeitschriften kommen an der Schwelle zum 20. Jh. in Warschau heraus.

1.4.1. Presse Schon seit den sechziger Jahren des 19. Jhs. erscheinen in Warschau regelmäßig einige jüdische Zeitungen und Zeitschriften, die verschiedene kulturelle, religiöse und soziale Kreise des Judentums ansprechen. Jeweils standen die Herausgeber vor der Entscheidung über die Wahl der Sprache ihrer Publikationen. Dem Aufbruch der jiddischen Presse zu Beginn des 20. Jhs. gehen Periodika in der polnischen (z.B. „Izraelita") und hebräischen Sprachen („Ha-Tsfira") voraus. Durch die Herausbildung und das Wachstum des modernen nationalen 25

Zur Stellung der Litvakes in Warschau vgl. Wróbel (1988: 162f.).

26

Die absoluten Zahlen und der Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung Warschaus beträgt nach Schiper (1935: 6) für das Jahr 1816: 15 579 - 19,2%, für das Jahr 1917 nach EJ 343 400 - 41%. Zur Bedeutung Warschaus für das ökonomische und kulturelle Leben der Juden in Polen und Europa s. u.a Balaban (1928), Schiper (1935), Shatzky (1953: 9-27), Fuks (1979), Shmeruk (1988), Wróbel (1988, 1991), Corrsin (1989, 1991). Vgl. u.a. Eisenbach (1988), Cala (1989), Fishman (Hg.) (1974).

27

28

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

Bewußtseins beim gleichzeitigen Rückgang der jüdischen Religion als Identifikationsfaktor gewinnt die jiddische Sprache ihren neuen Wert als Kennzeichnung der nationalen Zugehörigkeit zum Judentum. Das erklärt die große Zahl der jiddischen Tageblätter und Zeitschriften, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. auf eine zahlreiche und dabei unterschiedlich sozial und politisch orientierte jiddischsprachige Leserschaft rechnen konnten.29

1.4.2. Theater Eine wichtige Rolle bei der Erhebung des Jiddischen vom familiären zu einem nationalen und somit öffentlichen und kulturellen Medium - freilich nicht nur der Warschauer Juden - spielte neben der Presse das jüdische Theater. Seine Anfänge in Warschau reichen in die erste Hälfte des 19. Jhs. zurück, seine Blüte erreicht es aber in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs.30 Das jüdische Theater, dessen Wurzeln im volkstümlich religiösen Purimspiel ruhen, bleibt seit seinen Anfangen die einzige Institution, wo der öffentliche Gebrauch der jiddischen Sprache selbstverständlich ist und beinahe ununterbrochen herrscht. Auch dann, wenn laut dem zaristischen Gesetz aus dem Jahre 1883 der öffentliche Gebrauch der jiddischen Sprache im Theater verboten wird, gilt die Verdeutschung der Titel und Texte von den jiddischen Dramen auf den Plakaten und in den obligatorischen Zensurexemplaren nur als Tarnung.31 Als sich die traditionellen volkstümlichen Purimspiele, die von der jüdischen religiösen Autorität nur zur erlaubten Zeit, d.h. während des Purimfestes geduldet waxen, verselbständigten und öffentlichen - auch den Christen zugänglichen 29

Balaban (1928: 119) berichtet: „Zur Zeit erscheinen in Warschau 5 jiddische Zeitungen: Hajnt (gegründet im Jahre 1908), Moment (1911), Folks-tsajtung (Bund-istisch), Undzer Ekspres, Der Jud (Organ der Aguda), und die polnisch-jüdische Tageszeitung Nasz Przeglqd; . . . " [Ubers. E.G.]. Dann zählt er noch 6 Wochenschriften und 5 Monatsschriften verschiedener politischer Orientierungen auf. Für das Jahr 1935 gibt Fuks (1979: 168) eine Zahl von 24 jiddischen Periodika an. Dagegen spricht Shmeruk (1986: 305) von 11 jiddischen Tageblättern in den Jahren 1936-37. Eine vollständige Liste mit Angaben über Sprache, Erscheinungsjahr u.ä. der bis 1939 in Warschau herausgegebenen jüdischen Periodika findet sich bei Fuks op. cit. S. 312-340.

30

Zur Geschichte des jüdischen Theaters in Warschau s. eine Reihe von Artikeln, darunter Szacki [Shatzky] (1947; 1992), Shmeruk (1987/1992), Krasmski (1992) in: Teatr Zydowski w Polsce do 1939. (Reihe: Pamiçtnik Teatralny Hft: 161-164). Kapitel II: Teatr Zydowski w Warszawie (Das jüdische Theater in Warschau), S. 175-344; sowie Steinlauf (1987, 1989, 1992). Vgl. u.a. Steinlauf, M. C. (1992: 15): „Für mehr als 20 Jahre [1883-1905] waren Theateraufführungen auf Jiddisch im ganzen russischen Imperium verboten. Jiddische Truppen fanden unterschiedliche Auswege, um zu überleben, unter anderem gaben sie Aufführungen in verdeutschtem Jiddisch, das sie .Deutsch' nannten." [Ubers. E. G.]; vgl. Szacki [Shatzky] (1947; 1992: 184f.) und s. Anm. 17.

31

1. Historische

Entwicklung

17

- Charakter bekamen, erhoben sich starke Proteste von Seiten der Rabbiner.32 Auch die Maskilen wendeten sich gegen den öffentlichen Gebrauch der „verdorbenen jiddischen" Sprache sowie das niedrige Niveau derartiger Vergnügungen. Die ersten öffentlichen Aufführungen der jiddischen Bearbeitungen von biblischen Motiven erfreuten sich aber großer Beliebtheit nicht nur beim jüdischen Volk und führten zur Entwicklung professioneller Theatertruppen. Seit dem Ende der sechziger Jahre des 19. Jhs. gibt es in Warschau ein Theatergebäude des stationären jüdischen Theaters. Im Zuschauerraum versammelte sich zahlreich das weniger gottesfürchtige, aber keineswegs assimilatorisch gesinnte einfache jüdische Volk. Nach seinem Geschmack wird gespielt und geredet, und was auf der Bühne passiert, wird wiederum in ihrem Munde in den Alltag weitergetragen. Diese soziale Schicht bildet die Grundlage für die Perzeption einer um die Jahrhundertwende hervortretenden populistischen jiddischen Kultur. 33

1.4.3. Literatur Warschau mit seinen zahlreichen jüdischen Verlagen34 und Veröffentlichungen wurde auch bald zum jüdischen literarischen Zentrum und zum Pilgerort der jungen jiddischen Schriftsteller.35 Noch lange bevor Warschau zur Wohnstätte der wichtigsten Vorläufer und Gründer der modernen jiddischen Literatur wurde, wie Epelberg, Spektor, Dineson, und - der größte von allen - Peretz, besaß die Großstadt ihre eigene volkstümliche literarische Produktion.36 Warschaus eigene jiddische Literatur repräsentierte fast ausschließlich den Boulevard-Typ. Mit ihrem lokalen und topographischen Kolorit hatte derartige Produktion eine breite aber meistens ortsgebundene Leserschaft, die zum Teil mit den Besuchern des jiddischen Theaters identisch war.37 Dieser Strom der 32 33

34

35

36

37

S. Kuberczyk (1922: 27f.). Diese Hypothese formuliert Cala (1989: 104). Eine ähnliche Meinung im Hinblick auf die Leserschaft der jiddischen Volksliteratur in Warschau finden wir bei Shatzky (1953: 264-278). Zum jüdischen Druckwesen in Warschau vgl. Shatzky (1953) 3. Bd. S. 251-263, 269f und Shmeruk (1988). Vgl. u.a. Shmeruk op. cit. 297: „Obwohl es in allen erwähnten Wohngegenden der Autoren Hebräisch-Druckereien gab, die auch jiddische Bücher und Kleinschriften druckten, lamen sie offenbar nach Warschau, weil es billiger und einfacher war, die Bücher in Warschau zu drucken und von dort aus abzusetzen." [Ubers. E.G.]. Zur jiddischen Literatur in Warschau vgl. vor allem: Ojslender (1930), Shatzky (1953), 3. Bd. S. 264-278, Shmeruk (1988). Vgl. Shatzky (1953) Bd.3. S. 264: „Die Warschauer Volksdichter [badxonim] wenden sich . . . direkt an ein besonderes Auditorium. Meistens sind es die Straßenverkäuferinnen. " und op. cit. S. 270: „Mojse Slajfstejn (1850-1917) war einer der populärsten Warschauer Volksdichter .. .er war genau so rauh und primitiv wie seine Leser." [Ubers. E.G.].

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

volkstümlichen jiddischen Unterhaltungsliteratur, für den es in Warschau einen großen Bedarf gab, 38 bleibt aber für die Herausbildung der modernen jiddischen Literatur ohne Belang, so daß in dieser Hinsicht die Metropole am Rande der wichtigsten Entwicklungen stand. Und im Gegenteil verdrängte die Entstehung der neuen jiddischen Literatur die eigene literarische Folklore Warschaus nicht. 39 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß zu den bedeutendsten Protagonisten der modernen jiddischen Literatur, zu deren größtem und wichtigstem Zentrum Warschau wurde, kein gebürtiger oder selbst deklarierter Warschauer gehörte. Es waren fast ausschließlich Zuwanderer, die Warschaus modernes literarisches Milieu ausmachten. 40 Ihr unermüdlicher Kampf um Vertrauen in die künstlerischen und „kulturellen" Möglichkeiten des verhöhnten „Jargons" führten zur Aufwertung und schließlich Anerkennung der jiddischen Sprache als Träger einer nationalen jiddischen Kultur.

1.4.4. Schulwesen Trotz der Verbreitung moderner Ideologien und Lebensweisen bewahrt Warschau seine Position als wichtiges religiöses Zentrum vor allem des Chassidismus. Auch wenn die fortschrittlichen Juden 1878 ihre Anwesenheit durch das imposante Gebäude des reformierten jüdischen Tempels an der TlomackieStraße 41 erkennbar unterstrichen haben, spielte dennoch der Chassidismus im Warschau der Jahrhundertwende eine viel wichtigere Rolle.42 Größere und kleinere chassidische Führer weilten seit Anfang des Jahrhunderts zeitweilig in Warschau, wo sie zahlreiche Anhänger hatten. Der Cheder als traditionelle religiöse Schule herrschte als dominante elementare Bildungsanstalt unter dem männlichen Teil der jüdischen Bevölkerung 38

39 40

41

42

Shatzky op. cit. S. 269 erwähnt eine eigenartige „Literatur-Börse" in einer der Warschauer Bierschenken. Vgl. Shatzky op. cit. 276. Vgl. dazu Shmeruk (1988) S. 307: „Unter den 32 Prosaisten, die J.J. Trunk und A. Tsejtlin in ihre Antologie fun der jidiser proze in Pojlen tsvisn bejde velt-milxomes (1918-1939) aufgenommen haben, findet sich nur ein gebürtiger Warschauer: Efroim Kaganowski." [Übers. E.G.]. Zur Geschichte des Großen Warschauer Tempels vgl. u.a. Nussbaum (1881), Malkowska (1991), Mórawski (1993: 68-75). Shatzky (1953: 20) schreibt: „Schon 1866 erzählt man von so großen Mengen von Chassidim, daß Warschau den Eindruck einer chassidischen Stadt machte"; in der EJ lesen wir: „In 1880 two-thirds of the 300 approved synagogues, and many prayer rooms, were hasidic, and this also reflected the proportion of Hasidim, to the total Jewish population in the city." S. 337.

1. Historische

Entwicklung

19

Warschaus bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts.43 Schon seit 1820 gab es für jüdische Kinder in Warschau alternative Bildungsmöglichkeiten auf dem elementaren und höheren Niveau.44 Im unabhängigen Polen entstanden staatliche jüdische Volksschulen mit Polnisch als Unterrichtssprache. Darüber hinaus gab es vor dem II. Weltkrieg sechs zionistisch-orientierte Schulen der Tarbut-Organisation mit Hebräisch und vier weltliche Schulen der vom Bund unterstützten TSISO ( Tsentrale Jidise Sulorganizatsje) mit Jiddisch als Unterrichtssprache. Auch auf dem mittleren Niveau gab es für jüdische Kinder, neben den religiösen Schulen mit Jiddisch und Hebräisch, vierzehn staatliche (acht für Jungen und sechs für Mädchen) und fünfundzwanzig private Gymnasien (fünf für Jungen und zwanzig für Mädchen), übrigens alle mit polnischer Unterrichtssprache und zusätzlichem Unterricht in jüdischen Fächern, die teilweise auch auf Polnisch gelehrt wurden. Hinzu kommen zahlreiche Fachschulen, die zum Teil vom Staat, zum Teil von der jüdischen Gemeinde oder von Berufsorganisationen getragen wurden. Nachdem in den dreißiger Jahren an vielen Warschauer Hochschulen der numerus clausus und später das sog. „Bank-Getto" eingeführt wurden, geht die zu Anfang der zwanziger Jahre sehr hohe Zahl der jüdischen Studierenden stark zurück.45

1.4.5. Die sprachliche Situation Die seit der Entwicklung der zionistischen Ideologie wachsende Rolle des neu belebten Hebräischen bildet für das Jiddische im Polen der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts keine Bedrohung. Die offiziellen Statistiken aus dem

43

44 45

Balaban (1928: 119) berichtet: „Der neu entstandene polnische Staat führte die Schulpflicht ein, und ordnete für jüdische Kinder eigene Volksschulen mit polnischer Unterrichtssprache an. Im Schuljahr 1920/21 besuchten diese Schulen in Warschau 6228 jüdische Kinder (12,4% der gesamten Kinderzahl, bei 33% der jüdischen Bevölkerung), im Schuljahr 1924/25 - 14 088 jüdische Kinder (20,3% der gesamten Kinderzahl). Die Zahl der Mädchen war dabei viel größer als die der Jungen, die immer noch größtenteils in den Chedern lernen." [Übers E.G.]. Zum jüdischen Schulwesen in Warschau im 19. Jh. vgl. vor allem Borzymiñska (1994). Nach Zalewska (1996) S. 301 und 307f betrug der Prozentsatz der jüdischen Studierenden (Angaben nach Konfession) im akademischen Jahr 1920/21 z.B. an der Warschauer Universität 38,6% und im Jahr 1935/36 sank die Zahl auf 20,6%. Dabei bemerkt die Autorin, daß der Prozentsatz für Warschauer Hochschulen im allgemeinen immer noch hoch war im Vergleich mit der durchschnittlichen Zahl für ganz Polen, die im selben Jahr 13% und in den Jahre 1938/39 nur noch 8,2% betrug; Zum (jüdischen) numerus clausus an der Universität Warschau vgl. Natkowska (1999).

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I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

Jahre 1931 bezeugen in Warschau (nach der Konfession) 352 659 Juden, darunter 313 199 Jiddischsprecher, 19 739 Hebräischsprecher und 19 169 Polnischsprecher.46 Zur Zahl der „konfessionellen" Jiddischsprecher kommen noch 412 Personen, die Jiddisch ohne Zugehörigkeit zu der mosaischen Religion angaben, hinzu, so daß die Gesamtzahl der Jiddischsprecher in Warschau zu Beginn der dreißiger Jahre 313 611 Personen beträgt. Dies bedeutet nicht nur, daß 88% der Warschauer Juden Jiddisch sprach, und daß Warschau die größte jiddische Sprachgemeinschaft Europas in der Geschichte war, sondern auch, daß beinahe jeder vierte Einwohner der polnischen Hauptstadt ein Jiddischsprecher war. Es ist schwer, genau festzustellen, wie viele von ihnen bilinguale jiddisch-polnische Sprecher waxen, denn darüber gibt es keine Statistiken für Warschau. Die Zahl der bilingualen Sprecher für ganz Polen, errechnet von Lescinski (1943), betrug mindestens 11,9%. Diese Angaben muß man laut dem Autor dieser Statistik selbst mit Vorsicht betrachten. 47 Wenn wir beispielsweise nur zur Orientierung die in Warschau erscheinenden jiddischen Periodika mit den Gesamtzahlen für Warschau vergleichen, so müssen wir feststellen, daß es keine annähernde Proportion zwischen dem Prozentsatz der jiddischsprachigen Bevölkerung und seinem Anteil an der Presse in Warschau gibt. Im Jahre 1935 erschienen in Warschau 27 jiddische und 14 hebräische Zeitschriften, die gemeinsam 5% der Gesamtzahl von 828 der in Warschau erscheinenden Periodika ausmachten, während der Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung Warschaus um diese Zeit ca. 30% betrug. 48 Ein 46

47

48

Zahlen nach der Volkszählung in Warschau aus dem Jahre 1931, publiziert in den Materialien des Polnischen Hauptamts für Statistik (GUS): Drugi Powszechny Spis Ludnosci ζ dn. 9.XII.1931. Mieszkania i gospodarstwa domowe. Ludnosc. Stosunki zawodowe. Warszawa 1937; Tabelle Nr. 10 S. 18. Der Autor dieser wichtigen Studie zur sprachlichen Situation der Juden in Polen laut dem Zensus aus dem Jahre 1931 stellt alle dort angegebenen Daten bezüglich der jüdischen Bevölkerung Polens in Frage, indem er die Angaben zum Teil als Ergebnis einer pronationalen jüdischen Propaganda erklärt; vgl. Lescinski (1943: 147): „Bei Juden hat dais [Fehlen im Zensus der Frage nach der Nationalität] eine heiße Propaganda hervorgerufen [mit dem Ziel], daß man demonstrativ eine der beiden nationalen jüdischen Sprachen angeben soll: Jiddisch oder Hebräisch." und op.cit. S. 161: „Es ist möglich, daß im Jahre 1931 die Agitation in den Großstädten wirksamer war als in Kleinstädten und Dörfern und in Wirklichkeit der Prozentsatz sprachlich Assimilierter auch in Großstädten Polens größer war." [Übers. E.G.]. Vgl. auch Shmeruk (1986: 288): „The nationalist Jewish camp, in all its variations, opposed Jews' declaring Polish as their mother tongue in protest against the Polish government's infringement on their rights and as a demonstration of national identity in terms of language. " Zur Sprachenverteilung und Akkulturationsprozess unter den Juden Warschaus vgl. auch Corrsin (1991, 1998). Zahlen nach Fuks (1979: 168); hinzu kommen einige jüdische Periodika in polnischer Sprache, z.B. Nasz Przeglqd, der eine große Leserzahl hatte. Nicht selten gab es in der jiddischen Presse Inserate in polnischer Sprache. Natürlich handelt es sich bei einer solchen Berechnung nur um grobe Schätzungen. Leider gibt es keine Angaben zur Gesamtzahl

1. Historische

Entwicklung

21

ähnliches Verhältnis ergibt sich für jiddische Schulen und Theater.49 Daraus geht klar hervor, daß ein bedeutender Teil der jüdischen Bevölkerung Warschaus mit der Landessprache durch polnische Schulen, Theater und Presse mindestens im passiven, aber alltäglichen Kontakt war. Ein anderer Teil übte den sprachlichen Kontakt mit dem Polnischen durch die ökonomischen Beziehungen in Fabriken, Geschäften, auf Märkten und durch Dienstleistungen und Handwerk. Auf der anderen Seite war es durchaus möglich, seit Generationen in dem jüdischen Viertel der Stadt zu wohnen und zu verkehren, ohne in Berührung mit der Außenwelt und ihrer Sprache zu kommen. Dies betrifft hauptsächlich die chassidischen Kreise, die nach Schätzungen ca. 1/3 der jiddischen Bevölkerung Warschaus kurz vor dem Kriegsausbruch ausmachten. Wir dürfen also annehmen, daß ca. der Hälfte der jüdischen Bevölkerung Warschaus vor dem Ausbruch des II. Weltkriegs Polnisch geläufig war. Diese Einschätzung findet Bestätigung in den Untergrundschriften im Warschauer Getto, deren knappe Hälfte in polnischer Sprache erschien.

1.5. Während des II. Weltkriegs Uber das alltägliche Leben, den Widerstand und Holocaust der Warschauer Juden während des II. Weltkriegs aus historischer und soziologischer Sicht schrieben u.a. Sakowska (1975), Gutman (1982/1992), Bartoszewski/Edelman (1993), hinzu kommen zahlreiche Erinnerungen von Augenzeugen dieser Tage.50 Im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau befindet sich eine Fülle von Dokumenten aus dem Warschauer Getto in jiddischer, polnischer und hebräischer Sprache. Darunter findet man Schulaufsätze, Memoiren, Briefe, Untergrundpresse, Flugblätter und dergleichen, die allmählich bearbeitet und herausgegeben werden. Eine besondere Stellung nimmt in diesem Zusammenhang das sog. Ringelblum-Archiv51 ein. Der bekannte jüdische Historiker Emanuel Ringelblum (1900-1944) gründete im Warschauer Getto eine Arbeitsgruppe unter dem konspirativen Tarnnamen „Oneg sabat", deren Aufgabe es war, die Lage der Juden in Polen unter der deutschen Okkupation zu dokumentieren. Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Sammeln von Dokumenten und Berichterstattung über die dramatische Situation der Gettoinsassen für die Außenwelt.

49

50 51

der Auflagen, deren Vergleich aufschlußreicher sein könnte als der Vergleich der Titelzahl allein. Krasmski (1992: 328) gibt die Zahl der stationären jiddischen Theater in Warschau „pro Saison" zwischen zwei und sieben an; z.B. im Jahre 1934 gab es sieben jüdische Theater in Warschau, aber im Jahre 1938 nur noch zwei. Zur Bibliographie s. Gutman (1992: 569-572). Vgl. Sakowska (Hg. Warszawa 1980), Gutman (1988), Sakowska (1997).

22

I. Die jiddische Sprachgemeinschaft

Warschaus

Gezielt nach der extremen Existenzsituation der Juden im Warschauer Getto ausgearbeitete Befragungen wurden nach modernen Methoden der Soziologie durchgeführt sowie kulturelle und Publikationstätigkeit angeregt. Zwei von drei Behältern mit den Dokumenten des Ringelblum-Archivs wurden in Trümmern des Warschauer Gettos nach dem Krieg gefunden.52 Dank diesen Dokumenten können wir das alltägliche Leben im Warschauer Getto rekonstruieren, in dem der Kampf um geistiges, kulturelles und intellektuelles Überstehen genau so wichtig war wie das Ringen um das physische und substanzielle Überleben. Unter diesem Aspekt bedeutet der Ausbruch des II. Weltkriegs und die mit ihm verbundene Gründung des Warschauer Gettos für die Geschichte der jiddischen Sprache Warschaus kein Ende, sondern eine neue stimulierende Situation. Im Getto trafen sich alle Fragmente der zersplitterten jüdischen Gemeinde Warschaus aus der Zeit vor dem Krieg, auch diejenigen, die sich seit mehreren Generationen nicht mehr als Juden betrachteten. Außerdem wurden ins Warschauer Getto Juden aus den stetlex in der Umgebung von Warschau und jüdische Aussiedler aus Westeuropa umgesiedelt. Beinahe eine halbe Million Menschen mit unterschiedlicher Bildung, Weltanschauung, politischer Orientierung und nicht zuletzt Sprache und Tradition wurden auf einem Territorium von 340 ha zusammengebracht. Die direkte existenzielle Bedrohung und Infragestellung höherer religiöser oder allgemein humanistischer Werte führten zur Milderung der alten Antagonismen. In diesem Zusammenhang änderte sich auch positiv die Einstellung zur jiddischen Sprache,53 die auch im Warschauer Getto weiterhin die führende Rolle spielte. Im konspirativen Getto-Untergrund setzten jüdische Organisationen und Parteien ihre Tätigkeit fort und neue politische und militärische Gruppierungen vor allem unter der Jugend wurden gegründet. Sie gaben eigene Tageblätter, Zeitschriften, Aufrufe und Flugblätter heraus. Insgesamt gehen im Getto in der Zeit von 1940-42 siebenundvierzig illegale periodische Schriften heraus, darunter zwei in hebräischer, achtzehn in polnischer und vierundzwanzig in jiddischer Sprache, zwei zweisprachige (jiddisch-polnisch) und eine dreisprachige (hebräisch-jiddisch-polnisch).54

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S. Gutman (1993: 223). Emanuel Ringelblum selbst wurde noch vor dem Aufstand aus dem Getto evakuiert und in einem Bunker mit einer Gruppe von anderen Juden versteckt. In März 1944 wurde das Versteck auf einem Grundstück bei einer polnischen Familie in Warschau von der Gestapo entdeckt und alle Insassen, darunter Ringelblum mit Familie samt der polnischen Grundstücksbesitzer, erschossen. In diesem Zusammenhang sei das Beispiel von Janusz Korczak erwähnt: Dieser durchaus polonisierte Pädagoge und polnische Schriftsteller führt in seinem Waisenheim im Getto Elemente der jiddischen Tradition und Folklore ein; vgl. Sakowska (1993: 28f.). Angaben nach Gutman (1993: 230f.).

1. Historische

23

Entwicklung

Kinder und Jugendliche hatten die Möglichkeit, sich zu Anfang im offiziellen und später im konspirativen Schulunterricht weiterzubilden oder einfach von den Grausamkeiten des Alltags abgelenkt zu werden. Der koordinierende Schulausschuß im Getto überließ den Schulleitern selbst die Wahl der Unterrichtssprache: Jiddisch, Polnisch oder Hebräisch.55 Die extrem schwierige existenzielle Situation im Getto inspirierte viele seiner Insassen zur literarischen Tätigkeit. In der Poetisierung der Grausamkeiten oder in memoiristischer Bearbeitung der traumatischen Erfahrungen sahen viele die moralische und intellektuelle Rettung. 56 Auch hier werden alle drei Sprachen zum Medium und künstlerischen Stoff. Das größte von den im Warschauer Getto inspirierten jiddischen Werke ist Icchak Katsenelsons Dos lid funem

ojsgehargetn

jidisn

folk.57

Neben der tragischen Strömung der Gettoliteratur entsteht besonders in den ersten Jahren, wo die Hoffnung auf Zeitweiligkeit der Situation beharrte, eine gewisse Unterhaltungsliteratur. Der lebensnotwendige Optimismus findet seinen Niederschlag in Couplets, Witzen, kabarettistischen Texten, und leichterem Theaterrepertoir, die ein Tropfen bitterer Freude in die hoffnungslose Situation bringen sollten. Die jiddische Sprache bildet dabei ein untrennbares Element dieser eigenartigen „Gettofolklore" und bedarf einer besonderen Untersuchung. Die totale Vernichtung der Warschauer Juden 58 in der großen Aktion der SS im Jahre 1942 und die Zerstörung der materiellen Substanz des Warschauer Gettos nach dem Aufstand 1943 bilden ein abruptes katastrophales Ende der jüdischen Gemeinschaft Warschaus und mit ihr der größten jiddischen Sprachgemeinschaft Europas der Neuzeit.

55

Größtenteils richteten sich die Lehrprogramme nach den für polnische konspirative Schulen ausgearbeiteten, im Ringelblum-Archiv befindet sich aber z.B. ein jiddisches Lesebuch für Gettoschulen, vgl. Sakowska (1992: 26).

56

Vgl. u.a. Szlengel (1977).

57

Icchak Katsenelson lehrte im Getto im konspirativen hebräischen Gymnasium der Jugendorganisation DroT jüdische Literatur. Der Tod seiner Frau und seines Sohnes in der Gaskammer von Treblinka war der unmittelbare Anlaß seines Poems Dos lid funem ojsgehargetn jidisn folk, das er im Nazi-Lager in Vittel (Prankreich) geschrieben hat.

58

Laut den Angaben der EJ überlebten auf der sog. „arischen", polnischen Seite der Stadt mit falschen Papieren oder im Versteck ca. 15 000 Warschauer Juden. Viele von ihnen sind im polnischen Aufstand gegen die Nazis 1944 gefallen, ein großer Teil nach der Evakuierung der Stadt infolge des Aufstands nicht mehr zurückgekehrt. Nach dem Kriegsende 1945 lebten in Warschau ca. 5000 Juden, die Zahl hat sich mehr als verdoppelt, als die Überlebenden in der Sowjetunion nach dem Krieg nach Warschau zurückkamen.

24

I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

2. Soziolinguistischer Hintergrund Die Herausbildung einer so großen Urbanen jiddischen Sprachgemeinschaft, wie es sie in Warschau in der Zwischenkriegszeit gab, bedarf sicherlich einer gesonderten eingehenden Studie unter soziolinguistischem Aspekt. Die Untersuchung einer Reihe von außersprachlichen Vorgängen, die bei der Sprachbewahrung bzw. Sprachverlagerung jeder Sprachgemeinschaft eine wichtige Rolle spielen, wie z.B. die Industrialisierung, Migration, Säkularisierung oder der Nationalismus, müßte für das Warschauer Jiddisch spezifisch vorgenommen werden. Obwohl Jiddisch in der soziolinguistischen Literatur durch seine Entstehungsgeschichte, seinen Mischcharakter und seine jahrhundertelange Beständigkeit als Minderheitensprache in Mittel-und Osteuropa als besonders geeignetes Beispiel gilt, wird es lediglich zur Veranschaulichung vereinzelter soziolonguistischer Phänomene, wie z.B. Bilingualismus, Sprachmischung, Sprachverlagerung und Sprachbewahrung in unterschiedlicher Zeit und am unterschiedlichen Ort herangezogen.59 Die allgemeinen Prinzipien über Entstehung, Bewahrung und Verlagerung der jüdischen Sprachen, die Fishman (1985) formulierte, finden größtenteils ihre Geltung und Bestätigung auch im Warschauer Jiddisch und werden deshalb hier nicht weiter diskutiert. Vielmehr wird im folgenden der historische und gesellschaftliche Zusammenhang unter soziolinguistischen Gesichtspunkten zusammengefaßt. Die wichtigsten außersprachlichen Faktoren, die für die spezifische Sprachsituation der Juden in Warschau von Belang waren, werden im weiteren erörtert und einige allgemeine Thesen über die Herausbildung und den Status seiner jiddischen Sprachgemeinschaft aufgestellt.

2.1. Historische und sprachliche Kontinuität Vor allem müssen wir feststellen, daß wir es in Warschau mit keiner jahrhundertelangen bodenständigen jüdischen Minoritätsgruppe, somit mit keiner kontinuierlichen jiddischen Sprachgemeinschaft zu tun haben, und daß sich die wichtigsten soziolinguistischen Prozesse, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben, in weniger als 150 Jahren abgespielt haben. Für die Entstehung, Verfestigung und Ausprägung einer Sprachvarietät ist das nicht lange und zeugt von großer Vitalität der Sprachgemeinschaft. 59

Drei Hefte der Reihe International Journal of the Sociology of Language (1980/24, 1981/30, 1987/67) waren der Soziologie der jüdischen Sprachen, darunter Jiddisch gewidmet; vgl. dazu u.a. auch Weinreich, U. (1953 passim), Sektion Yiddisch in Fishman (Hg.) (1985: 85-179).

2. Soziolinguistischer

Hintergrund

25

Die Anfange einer jiddischen Sprachgemeinschaft sind nicht identisch mit dem historisch dokumentierten Erscheinen einer jüdischen Gemeinde in Warschau im 15. Jh. Das jahrhundertelang andauernde Wohnverbot in der Stadt führte zur Auflösung eines organisierten jüdischen Lebens. Der fluktuierende Status der ohnehin kleinen jüdischen Bevölkerung Warschaus förderte bis zu Beginn des 19. Jhs. keine einheitliche intra-gruppale Sprachvarietät. Wir können davon ausgehen, daß nach der Aufhebung des Wohnverbots in Warschau und nach dem Zustrom der jüdischen Bevölkerung eine gemeinsame sprachliche Grundlage in der Stadt entstanden wax. Wahrscheinlich setzte sie sich zusammen aus den jiddischen Mundarten der Sprecher aus benachbarten kleinen stetlex um Warschau herum, die als erste in die „frei gegebene" Großstadt einzogen. Leider wissen wir über diese jiddischen Sprachvarietäten und die Rolle des koterritorialen Polnisch bei ihrer Gestaltung nichts. Wir dürfen aber davon ausgehen, daß sie zu einer regionalen Variante des Ostjiddischen gehörten, die wir heute als Zentral(ost)jiddisch bezeichnen. Infolge der im 19. Jh. andauernden massiven Immigration von nah und fern wird diese zu Anfang dünne Schicht des Warschauer Jiddisch durch andere jüdische Bevölkerungsgruppen und ihre Sprachvarietäten überlagert. Zu Beginn des 19. Jhs. setzt die aufklärerische Beeinflussung der Warschauer Sprachgemeinschaft durch die deutsche Sprache der aus Deutschland stammenden Haskala-Anhänger ein, unterstützt durch die offizielle Sprache der kurzen preußischen Herrschaft in der Stadt. Das Deutsche wurde zwar schon nach ca. zwanzig Jahren in den assimilatorischen Kreisen durch das Polnische ersetzt, es wird jedoch zum Vorbild für die jiddische Schriftsprache60 und bewahrt einen sehr hohen Status auch als Träger der modernen Kultur und Wissenschaft bis zu Anfang des 20. Jhs.61 Der Einfluß von beiden mit der Assimilation 60 61

Vgl. u.a. Schaechter (1969), Dajömeris bei Katz (1984: 1033), Hutton (1993). Die aus der Hitskala-Zeit stammende und langdauernde Begeisterung für die gelehrte deutsche Sprache in den intellektuellen Kreisen des osteuropäischen Judentums hat gewisse Folgen für die moderne „germanozentrische" Auffassung des Jiddischen, vgl. dazu Geller (1997a). Die Gebundenheit an die prestigereiche neuhochdeutsche Schriftsprache manifestiert sich nicht nur in neueren sog. dajtschmerischen Lehnwörtern oder in der Durchsetzung ihrer Rechtschreibung. (Obwohl sie für das Jiddische schon in der Zeit ihrer Einführung weder sprachlich noch historisch angemessen war, bewahrten z.B. das dt. Dehnungs- oder - ihre Geltung im jiddischen Schrifttum teilweise bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts.) Viel wichtiger scheint in diesem Zusammenhang die fortdauernde Wirkung der ersten grammatischen Abhandlungen (Gerzon, Mieses, aber zum Teil auch Prilutzki und Birnbaum), die das Ostjiddische an das Gerippe der deutschen Grammatik anzupassen versuchten, vgl. Schaechter (1969), Hutton (1993). Diese ersten grammatischen Abrisse zum Jiddischen entstanden (und wurden vielleicht sogar inspiriert) einerseits unter einem starken Einfiuß des zeitgenössisch herrschenden und zweifelsohne attraktiven und erfolgreichen deutschen Junggrammatismus, und andererseits knüpften sie an die frühen Grammatiken zum .jüdisch-deutschen" (vgl. Althaus (Hg.)

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I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

verknüpften Sprachen dauert bis zu Anfang des 20. Jhs., bezieht sich jedoch unmittelbar nur auf einen marginalen Teil der Jiddischsprecher. Die Rolle des koterritorialen Polnisch wächst bedeutend, wenn es nach dem I. Weltkrieg zur offiziellen und institutionellen Landessprache wird. Zuvor muß auch mit einem Einfluß des Russischen gerechnet werden, das diese Funktion seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. in der polnischen Metropole als Sitz der russischen Regierung in Kongreßpolen ausübte. Eine wichtigere Rolle spielte der gewaltige Zustrom einer andersdialektalen jiddischen Bevölkerung aus Litauen und der Ukraine, die schätzungsweise mehr als die Hälfte der Warschauer Jiddischsprecher in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. ausgemacht haben muß. Trotz gewisser quantitativer Überlegenheit der Sprecher der nord- und südostjiddischen Mundarten in der Zeit um die Jahrhundertwende lassen sich im Warschauer Jiddisch nur geringfügige Spuren ihrer sprachlichen Ausprägung unmittelbar nachweisen. Es kommt also nicht zu einer zu erwartenden Dialektmischung oder bedeutenden Annäherung des Warschauer Jiddisch an das zu diesem Zeitpunkt quantitativ überlegene Nordostjiddische. Die genauen Gründe für die „Widerstandskraft" des Warschauer Jiddisch gegenüber dem Nordostjiddischen, besonders im Hinblick auf die spätere Basisfunktion des letzteren bei der orthophonischen Standardisierung des Jiddischen, bedürfen einer künftigen Erforschung. Im allgemeinen aber trugen die sprachbewußteren litvakes mit Sicherheit zur Aufwertung der jiddischen Sprache und zur Herausbildung einer gehobenen Varietät des Warschauer Jiddisch, wie es z.B. in den TSISO-Schulen verwendet wurde, bei. Zusammenfassend können wir folgendes festhalten: Die Herausbildung einer spezifischen jiddischen Warschauer Sprachvarietät war ein Prozeß, der sich während des ganzen 19 Jhs. und bis zu den vierziger Jahren des 20. Jhs. abgespielt hat. Dabei lassen sich folgende Etappen aussondern: a. Ende des 19. Jhs., wenn die jüdische Bevölkerung aus benachbarten stetlex, nach jahrhundertelangem Wohnverbot in Warschau, in größeren Mengen einströmt. b. Seit den sechziger Jahren des 19. Jhs., wenn sich nach der teilweisen rechtlichen und sozialen Gleichberechtigung ein organisiertes jüdisches Gemeindeleben etabliert oder neue Sozialverbände und kulturelle Institutionen (Schulwesen, Theater, Unterhaltungsliteratur, Presse, Zünfte, Berufsverbände u.d.gl.) gegründet werden, die den Sprachausgleich der heterogenen Masse der jüdischen Neueinsiedler in der breiteren intra-gruppalen Kommunikation zugunsten des Zentraljiddischen fördern. 62

62

(1966)) an, ohne dem autonomen linguistischen Status des gesprochenen Ostjiddisch gerecht zu werden. Nach Shatzky (1953: 269) kommen in der jiddischen literarischen Produktion Warschaus

2. Soziolinguistischer

Hintergrund

27

c. Seit dem Anfang des 20. Jhs., wenn der Ausgleichprozess abgeschlossen ist, und eine ausgeprägte großstädtische Sprachvarietät sich verfestigt hat. 63 Jiddisch wurde infolge der nationalen Bewegung zur autonomen Sprache der jüdischen Minderheit in Polen proklamiert,64 und eine gehobene Varietät des Warschauer Jiddisch entsteht.

2.2. Immigration und gesellschaftliche Polarisierung Die jüdische Gemeinschaft Warschaus zeichnete sich seit ihren Anfangen durch große Heterogenität aus. Die neutzeitliche Polarisierung resultierte hauptsächlich aus der andauernden Zuwanderung immer neuerer Bevölkerungsgruppen in die Stadt und der von ihnen mitgebrachten kulturellen, sozialen und religiösen Orientierungen. Erst nach der Entstehung der modernen nationalen und sozialen Richtungen im 20. Jh. kommt es zu einer ideologiegebundenen Umgruppierung, die einen Einfluß auf die Verteilung der im Warschauer Judentum gängigen Sprachen und Sprachvarietäten hat. Seit dem Beginn des 19. Jhs. treten im polnischen Judentum drei religiöse Orientierungen auf: die mystische Orthodoxie, d.h. der Chassidismus, die rationalistische Orthodoxie vertreten durch die Mitnagdim und die reformatorische Richtung der jüdischen Aufklärung, der Haskala. Um die Jahrhundertwende erweitert sich die religiöse Polarisierung um säkulare national-politische Richtungen, vor allem den Zionismus, Jiddischismus und Kommunismus. Alle drei Gruppen waren im Warschauer Judentum auch sprachlich unterschieden.65 Zu Anfang stammt die Mehrheit der jüdischen Zuwanderer nicht nur aus den Warschau direkt angrenzenden, sondern auch aus bis zu ca. 100 km entfernt gelegenen chassidischen stetlex (wie Blonie, Radzymin, Grójec, Gòra Kalwaria, Sochaczew, Lowicz), also hauptsächlich mit zentraljiddischer Sprachgrundlage. In Warschau herrschte eine Vielzahl von kleinstädtischen jiddischen Mundarten in gemeinsamer großräumiger Ausprägung, die anfangs durch die verschiede-

63

64

65

schon um diese Zeit neben den lokalen topographischen auch charakteristische phonetische Merkmale des Warschauer Jiddisch zum Ausdruck. Die besondere Stellung und sprachliche Ausprägung des Warschauer Jiddisch findet ihre Bestätigung u.a. im Volksmund. In der toponomastischen Sprichwörtersammlung von Prilutski (1912) finden wir einige, die direkt die Sprache der Warschauer Juden ansprechen: z.B. „varsever jaxes" bezieht sich auf die charakteristische Aussprache des Personalpronomens ,ich' > stjid. [ix] als [jax], und „varsever lox" auf die Realisierung des pluralischen Diminutivsuffixes stjid. /-lex/ als [-lo/ax], vgl. ibidem S. 28f. Einen Wendepunkt bildet die Entstehung der Ideologie des „Jiddischismus", die ihren Ausdruck in der Tschernovitzer Sprachkonferenz 1908 fand, dazu. vgl. Fishman (1980), King (1998). Zur religiösen und politischen Aufgliederung unter Warschauer Juden s. u.a. Wróbel (1991) und Corrsin (1991).

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I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

nen chassidischen Gemeinden in Form von mehr oder weniger ortsgebundenen stiblex (kleine für den Zweck gemeinsamen Betens adaptierte Wohnräume) aufrechterhalten wurden. Trotz der inneren Zersplitterung spielt diese Gruppe die grundlegendste und prägnanteste Rolle bei der Ausformung des Warschauer Jiddisch auf der Basis des Zentraljiddischen. Sie wurde zusätzlich durch die keineswegs unbedeutende Gruppe der jiddischen Pendler aus der nächsten Umgebung von Warschau unterstützt, die täglich ihre Ware in die Großstadt lieferten bzw. verkauften oder die in den neu entstandenen Fabriken Arbeit suchten. Die Gruppe der assimilierten Juden66 stammte hauptsächlich aus den höheren sozialen Schichten und war zahlenmäßig nicht groß.67 Völlig in die Sprache und Tradition akkulturiert, wurde sie nie ganz in die polnische Gesellschaft aufgenommen und strukturell integriert. Sie bewahrte eine Sonderstellung als Gruppe der „Polen mosaischer Abstammung/Religion" und distanzierte sich stark von den „Jargon "-sprechenden Massen, die sie verabscheute. Als moderne jüdische Intelligenz, sehr oft von höchstem intellektuellen Rang,68 hat sie praktisch keinen Einfluß auf die jüdischen Volksmassen in Warschau, deren Sprache sie aktiv, aber - wie sich bald zeigte - vergeblich bekämpft hatte.69 Die seit dem Ausgang des 19. Jhs. zahlreich repräsentierten „russischen" Juden bringen nicht nur eigene dialektale Varianten des Jiddischen nach Warschau, sondern auch eine rationalistische, antichassidische Weltanschauung und Verwurzelung in einer fremden - der russischen - Sprache und Tradition. Man darf wohl annehmen, daß der auf dieser Grundlage entstandene starke intragruppale Antagonismus, der zusätzlich durch ökonomischen Wettbewerb gefestigt wurde, sich auf die sprachliche Situation überraschend auswirkt: Möglicherweise werden dadurch die Vereinheitlichungsprozesse innerhalb des Warschauer Jiddisch beschleunigt und seine Ausprägung unterstrichen, so daß die bodenständige Sprachvarietät zum Identifikations- bzw. Abgrenzungsfaktor zwischen beiden Gruppen wird. Um in die jüdische Gemeinschaft Warschaus mindestens absorbiert zu werden, müßten die Neuankömmlinge ihren eigenen Dialekt preis66

67

68 69

Eine interessante (leider sehr stark ideologisierte, deshalb mit Vorsicht zu verwenden!) Abhandlung zu dieser Gruppe anhand von Interviews mit Angehörigen der assimilierten Familien aus Polen präsentiert Stopnicka-Heller (1974). Stopnicka-Heller (1974: 254*) schätzt den Prozentsatz der polonisierten Juden im Jahre 1921 auf ca. 9-10% der jüdischen Gesamtbevölkerung, d.h. ca. 270 000-300 000 in ganz Polen. Vgl. Hertz (1961). Diese besonders ausgeprägte antijiddische Einstellung der polonisierten Juden wurde von vielen polnischen Intellektuellen unterstützt, die neben der „Kapote" in dem „Jargon" ein hauptsächliches Hindernis bei der „Sozialisierung" der jüdischen „Masse" sahen, vgl. u.a. Cala (1989: 216-268). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Plädoyer des polnischen Schriftstellers Klemens Junosza, der schon 1885 schrieb: „Hunderte Tausend Juden lesen Jiddisch, das ist also die Berechtigung der Existenz dieser Sprache" - Zitat nach Shatzky (1953: 272, Anm. 18).

2. Soziolinguistischer

Hintergrund

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geben. Sie gleichen sich sprachlich an das lokale Warschauer Jiddisch oder an die polnische Landessprache an.70 Dies mag den geringfügigen Einfluß des Nordostjiddischen im Warschauer Jiddisch erklären. Um die Jahrhundertwende kommt es zu raschen Sozialisierungsprozessen. Entstehung von Großindustrie, politischen und beruflichen Massenorganisationen, öffentlichem jüdischem Schulwesen, die Blüte der jiddischen Presse, Literatur und Theater und die damit verbundene Säkularisierung der jüdischen Gesellschaft fördern eine moderne großstädtische Varietät des Zentraljiddischen. Diese wirkte dann auf die angrenzenden kleinstädtischen Mundarten zurück. Die alten religiösen Spaltungen werden durch politische ersetzt, bei denen der innerjüdische polnisch-litauische Antagonismus in den Hintergrund rückt. Der Jiddischismus als moderne nationale Ideologie bildet eine neue Gruppe der jiddischorientierten Intelligenz, die sich um den autonomen Status des Jiddischen als Nationalsprache gegenüber dem durch den Zionismus postulierten modernen Hebräischen durchzusetzen versteht. Der für die Verbesserung der ökonomischen Lage der jüdischen Bevölkerung vielversprechende und deshalb attraktive kommunistische Internationalismus förderte die Kenntnis des Polnischen bzw. Russischen. 2.3. Bilingualismus Die Mehrsprachigkeit ist ein immanentes Charakteristikum jeder jüdischen Sprachgemeinschaft. Sie bezieht sich übrigens nicht nur auf die Kenntnis des losn-kojdes, des Bibel- und Talmud-Hebräischen, die je nach Ort und Zeit mehr oder weniger gründlich, aber allgemein unter dem männlichen Teil der jüdischen Bevölkerung vertreten war. Uber den Beitrag der daraus resultierenden sog. hebräisch-aramäischen oder semitischen Komponente für die jüdischen Sprachen im allgemeinen und für das Jiddische im einzelnen gibt es zahlreiche Abhandlungen.71 In unserem Zusammenhang muß in erster Linie die Frage nach dem Ausmaß und der Rolle des jiddisch-polnischen Bilingualismus geklärt werden, denn sie hat eine wichtige Funktion bei der Klassifizierung mancher sprachlichen Daten als „genuin" jiddisch oder okkasionell (Codewechsel) und interferenziell (als Etappe der Sprachverlagerung in Richtung Polnisch).72 70

Vgl. Wróbel (1988: 164) „ . . . t h e Litvaks were very quickly absorbed into the Jewish society of Warsaw and in the second generation hardly differed. Many also quickly became Polonized. "

71

Zur sog. hebräischen Komponente des Jiddischen s. insbesondere Birnbaum (1922), Weinreich, M. (1980: 351-366), Katz (1985), Timm (1987: 335-354).

72

Einen interessanten Beitrag zur Frage der polnischen Sprachkompetenz unter Juden in Polen im historischen Überblick stellt in diesem Zusammenhang die Studie von Stone (1997) dar.

30

I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

Die Kenntnis der koterritorialen polnischen Sprache bei einem Teil der Juden Warschaus ist schon seit ihren Anfängen im späten Mittelalter bezeugt und scheint seither eine kontinuierliche Begleiterscheinung der jiddischen Sprachgemeinschaft Warschaus zu sein. Zu Anfang handelt es sich sicherlich um eine kleinere Gruppe bilingualer jiddisch-polnischer Juden, die eine notwendige intergruppale Kommunikation mit der Landesbevölkerung gewährleisten. Durch politischen Rücktritt des Polnischen aus dem amtlichen und offiziellen Gebrauch im 19. Jh. wurde die pragmatische Kenntnis der Landessprache in den unteren Schichten der jüdischen Bevölkerung nicht mehr gefördert. Die größtenteils eingewanderten höheren Schichten des Warschauer Judentums waren mehr an materiell-sozialen als an religiös-nationalen Bindungen interessiert. Deshalb tauschten sie ihre mitgebrachte deutsche Sprache gegen die Sprache der polnischen Adeligen, mit denen sie zum Teil durch gleiche soziale Stellung in einer feudalen Gesellschaft und - nach baldiger Akkulturation und nicht selten auch Konversion - durch gemeinsame Geschäfte und Mischehen die Warschauer Bourgeoisie bildeten. 73 Diese Gruppe können wir freilich nicht für bilingual halten, auch zahlenmäßig bildet sie eine sehr kleine Schicht. Trotzdem übt sie indirekt einen starken Einfluß auf die Festigung und Verbreitung des Bilingualismus in der jiddischen Sprachgemeinschaft aus. Der größte Teil der polonisierten jüdischen Bourgeoisie Warschaus bewahrt ihren wenn auch nicht mehr religiösen, so doch nationalen Charakter. Auch wenn sich die höhere Schicht von dem jüdischen Volk kulturell stark und bewußt distanziert, ist es zwangsläufig ihre Aufgabe und Verantwortung, sich für sie zumindest durch karitatives und soziales Tun einzusetzen. Um sich mit ihren Wohltätern verständigen zu können, müssen die zahlreichen armen und schutzlosen Hilfsbedürftigen deren polnische Sprache sprechen.74 Dadurch wird Polnisch nicht nur wie bisher in der inter-gruppalen, sondern auch in der intra-gruppalen Kommunikation verwendet. Der Gebrauch der Landessprache in Teilen der innerjüdischen Kommunikation verbreitet sich noch mehr, als das Polnische seine offizielle und nationale Funktion in einem unabhängigen Staat in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. wiederaufnimmt. Durch die Einführung des öffentlichen Schulwesens mit Polnisch als Unterrichtssprache wird die Landessprache kognitiv gelernt, was zum breiten und vollkommenen Bilingualismus der jungen Generation der Warschauer Juden, und somit zu Ansätzen einer Diglossie führt. Es gibt keine zuverlässigen Statistiken über die tatsächliche Zahl der bilingualen Sprecher,75 73

Fuks (1992: 117) schreibt u.a.: „Ein anderer wichtiger Grund [der Konversion] war die Flucht aus dem ,Getto' und die Anknüpfung von Verwandschaften mit der polnischen Aristokratie." [Übers. E.G.].

74

Uber die Wohltätigkeit der jüdischen Bourgeoisie in Warschau s. Fuks (1992: 196-201). Vgl. Anm. 46 und Lescinski (1943).

75

2. Soziolinguistischer

Hintergrund

31

sie muß aber mindestens die säkularisierten Kreise der jüdischen Gesellschaft umfassen. Die zeitgenössische jiddische Literatur liefert zahlreiche Beispiele für die „gefährlich ansteckende" Polonisierung der chassidischen Töchter, die auf den polnischen Gymnasien ihre Ausbildung bekamen, was eine indirekte Auskunft über das Ausmaß dieser Erscheinung gibt.76 Allmählich kommt es auch zur Bestimmung der Domänen, in denen Jiddisch bzw. Polnisch verwendet wird, wobei die Grenzen keineswegs scharf und strukturell gezogen werden können. Die ansetzende jiddisch-polnische Diglossie der zwanziger und dreißiger Jahre in Warschau bildet jedoch keineswegs die Vorstufe der Sprachverlagerung zugunsten der Landessprache im Sinne der klassischen Soziolinguistik. Das zeigt sich u.a. durch eine sehr hohe Zahl der jüdischen Sprecher in Warschau, die trotz der Kenntnis der Landessprache bei der Volkszählung 1931 bewußt Jiddisch als ihre Muttersprache angeben.77 Zusammenfassend können wir also feststellen, daß der jiddisch-polnische Bilingualismus ein andauernder Faktor des Warschauer Judentums mit geschichtlich unterschiedlichem Ausmaß darstellt. Die Kompetenz der polnischen Sprache unter den Juden Warschaus war vor dem Holocaust ziemlich verbreitet, ist aber keineswegs als unmittelbare Etappe vor der vollständigen Aufgabe des Jiddischen im Sinne der Sprachverlagerung aufzufassen. Der langwierige Bilingualismus führte zur immer breiteren Verwendung des Polnischen als intragruppales Sprachmedium, und somit darf er nicht als interferenziell-störender, sondern mitgestaltender und genuin jiddischer Faktor bei der Ausformung des Warschauer Jiddisch betrachtet werden.

2.4. Zum Status des Warschauer Jiddisch Abschließend versuchen wir die Stellung des Warschauer Jiddisch im Vergleich mit anderen jiddischen Mundarten sowie seine Rolle bei der Gestaltung der jiddischen Schriftsprache und als Kulturträger zu analysieren. Aus heutiger Perspektive müssen wir das Warschauer Jiddisch als eine dem litauischen Jiddisch (Nordostjiddisch) kulturell unterlegene Sprachvariante betrachten. Trotz seiner quantitativen Überlegenheit und seiner sozial und sprachpolitisch günstigen Position als hauptstädtische Sprachvarietät vermochte sich das Warschauer Jiddisch weder als Träger der modernen jiddischen Kultur durchzusetzen, noch 76

77

Vgl. insbesondere die Familienromane der beiden zeitweilig in Warschau wohnenden J.J. Singer Brider Askenazi und I.B. Singer Mispoxe Muskat. Vgl. Lescinski op. cit. Zur sprachlichen Situation der jüdischen Gesellschaft im Zwischenkriegspolen s. insbesondere Shmeruk (1986), Corrsin (1991).

32

I. Die jiddische

Sprachgemeinschaft

Warschaus

spielte es eine signifikante Rolle bei der modernen Standardisierung der jiddischen Schrift- oder Bühnensprache.78 Es gibt mehrere Gründe dafür, die hier in Form von Thesen für weitere ausführlichere Studien dargelegt werden. a. Das jahrhundertelange Fehlen einer in Warschau verwurzelten jiddischen Sprachgemeinschaft wax die Ursache dafür, daß keine standhafte und homogene Warschauer Tradition entstand. Eine jüdische Folklore, die ihren Ausdruck auch in eigener Sprachvarietät fand, bildet sich in Warschau erst gegen Ende des 19. Jhs. aus und wird bald durch eine moderne überdialektale Kultur überlagert. b. Durch soziale, religiöse und politische Heterogenität und eine antagonistische Polarisierung verliert die jüdische Gemeinschaft ihre normalerweise privilegierte hauptstädtische Position als meinungsbildende und -bestimmende Gruppe im osteuropäischen Judentum. Warschau wird zwar zum größten und bedeutendsten jüdischen und jiddischen Kulturzentrum, seine Sprachgemeinschaft spielt jedoch eine sehr marginale Rolle als Kulturträger. c. Durch anfangliche Germanisierung und spätere Polonisierung der höheren jüdischen Schichten Warschaus im 19. Jh. besteht die jiddische Sprachgemeinschaft hauptsächlich aus den jüdischen Volksmassen. Es gibt kaum sprachbewußte, kultivierte Sprecher, geschweige denn Sprachpfleger des Jiddischen in Warschau - wie die Mitnagdim in Litauen. d. Das als „Jargon" bezeichnete Jiddisch der breiten Schichten der jüdischen Bevölkerung wird sowohl von seiten der assimilierten Juden als auch der polnischen Anhänger der sprachlichen und kulturellen Assimilation der Juden verhöhnt und aktiv bekämpft. e. Das stark volkstümlich geprägte Warschauer Jiddisch erfreut sich auch keiner Achtung von seiten der massenhaft einwandernden Jiddischsprecher gegenüber der im gewissen Sinne dem deutschen näher verbleibenden litauischen Mundart. Aus pragmatischen Gründen lernen nur wenige die verachtete lokale Sprachvarietät, die meisten ziehen ihr die Landessprache vor. f. Unter diesen Umständen entsteht bei den Sprechern des Warschauer Jiddisch ein sehr niedriges Sprachbewußtsein und eine gewisse Selbstverachtung der eigenen zum Teil stark polonisierten Sprachvarietät,79 die sich dazu noch 78

Zur Rolle der einzelnen jiddischen Dialekte bei der Standardisierung s. u.a. Katz (1984: 1033f.).

79

Unter meinen neun Warschauer Jiddisch-Informanten fand sich kein(e) einzige(r), der auf seine Warschauer Mundart stolz war. Im Gegenteil haben fast alle ihre Verwunderung zum Ausdruck gebracht, daß jemand ein ihrem verlachten Jiddisch interessiert sein mag und haben auf die Schönheit und Echtheit des „litvischen" Jiddisch hingewiesen. Eine interessante Kritik dieser stereotypen Vorstellung von der Überlegenheit der nordöstlichen Jiddischvariante unternimmt Berliner (1981).

2. Soziolinguistischer

Hintergrund

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keiner literarischen Produktion von höherem, kulturbildendem Wert rühmen kann. In diesem Zusammenhang bleibt die Frage nach dem geringen Interesse der älteren und modernen jüdischen Forscher an der Varietät der größten Sprachgemeinschaft des Jiddischen nach wie vor ungeklärt. Die niedrige soziale und kulturelle Wertung des Warschauer Jiddisch und seiner hauptsächlich volkstümlichen Sprecher, dürften - wenn überhaupt - nur geringfügig das dialektologische Forschungsinteresse am Warschauer Jiddisch verdrängen, es aber keineswegs aus der Forschung verbannen, wie das der Fall zu sein scheint.

II. Methodologisches

1. Das Warschauer-Jiddisch-Korpus 1.1. Die Aufnahmen 1.1.1. Aufnahmezeit und -ort Das von mir gewonnene linguistische Korpus zum Warschauer Jiddisch besteht aus acht Interviews mit neun muttersprachlichen Warschauer-JiddischSprechern, die ich in Warschau 1982 und 1983 (4), in Jerusalem 1993 (2) und in Szczecin 1994 (2) auf Tonband aufgenommen habe. Insgesamt handelt es sich um ca. sieben Stunden Aufnahmen, mit jeweils unterschiedlicher Länge von ca. 30 bis 60 Minuten.

1.1.2. Aufnahmesituation Die Interviews sind zum größten Teil mit kleinen unprofessionellen Geräten und unter technisch ungünstigen Bedingungen, dafür aber in der den Informanten vertrauten Umgebung aufgezeichnet worden. Auf der einen Seite beeinträchtigt dies die technische Qualität der Aufnahmen zum Teil erheblich. Sie wurden beispielsweise durch zu große oder zu geringe Entfernung vom Mikrophon, durch Gespräche im Hintergrund oder durch offene Fenster von draußen eindringende Geräusche verzerrt. Auf der anderen Seite ist es jedoch meist gelungen, eine weitgehend ungezwungene Gesprächsatmosphäre zu schaffen, die sich auf die linguistische Repräsentanz der aufgenommenen Textproben positiv ausgewirkt hat. Dies wurde erzielt durch: - die vertraute Umgebung der Informanten - d.h. in den meisten Fällen bei ihnen zu Hause (5) oder an ihrem Arbeitsort (3), - eine natürliche Aufnahmesituation (z.B. offenes Fenster in überheiztem Raum, bequeme und nicht mikrophon-gesteuerte Sitzposition während des Gesprächs usw.), - den „inoffiziellen" Charakter der Interviews (z.B. haben die Informanten nicht mit einem Honorar gerechnet und erst nachträglich einen Fragebogen zu persönlichen Angaben ausgefüllt). Die Aufnahme fand in vier Fällen in Gegenwart dritter Personen statt. In drei Fällen waren beim Gespräch beide Ehepartner anwesend. In einem Fall wurden beide Sprecher als Informanten interviewt, woraus sich eine natürliche

1. Das Warschauer-

Jiddisch-Korpus

35

und lockere Gesprächsatmosphäre entwickelte. Auch in den zwei weiteren Fällen, wo die anwesenden Ehepartner der Informanten andersdialektal waren, wirkte sich ihre Gegenwart auf die Aufnahmesituation hauptsächlich positiv aus. Zum einen regten sie durch ihre unterschiedlich häufigen persönlichen Einschübe das Gespräch an und lenkten dadurch die Aufmerksamkeit der Informanten von der Sprachform ab. Zum anderen aber erlaubten sie sich als Außenseiter, den Informanten auf das manchmal entgleitende „richtige Warschauer Jiddisch" aufmerksam zu machen. Nur in einem Fall fand die Aufnahme in Gegenwart von zufällig anwesenden Personen statt, die wenig Rücksicht auf die Aufnahmesituation nahmen, indem sie im Hintergrund ein Gespräch führten und sich ab und zu in das Interview einmischten. Im übrigen wurden die Aufnahmen als Zwiegespräch zwischen dem Informanten und der Interviewerin ohne dritte Personen durchgeführt.

1.2. Die Informanten 1.2.1. Geburts- und Wohnort Acht von den neun Informanten sind geborene Warschauer, die Mehrheit von ihnen jedoch als Kinder von Zuwanderern. Ihre beiden Eltern oder ein Elternteil stammten nur in drei Fällen aus Warschau selbst, sonst aus kleinen Städten in der Nähe von Warschau, z.B. Warka (jid. Vurki1), Radzymin (jid. Radzmin), Szydlowiec (jid. Sidlovce) u.a., die nicht weiter als 100 km von der Hauptstadt entfernt liegen2. Man kann also davon ausgehen, daß die Eltern der Informanten selbst Sprecher der zentraljiddischen Mundart waren. Die in Warschau wohnhaften Informanten (4) fand ich in der Jüdischen Gemeinde (1), in der Jüdischen Kulturgesellschaft (Towarzystwo SpolecznoKulturalne Zydów w Polsce) (1), in der Redaktion der damals erscheinenden jüdischen zweisprachigen (jiddisch-polnischen) Wochenzeitung Foikssüyme3 (1) und im Jüdischen Historischen Institut (Zydowski Instytut Historyczny) (1). An die Informanten aus Jerusalem (3, darunter ein Ehepaar) kam ich durch die Jidise Kulturgezelsaft in Jerusalem. Sie verließen Polen kurz nach dem Kriegsende (zwischen 1945 und 1950), um sich in Israel niederzulassen. Die zwei letzten Informanten leben seit ca. 40 Jahren in Szczecin. Beide sind dort in der neuen jüdischen Gemeinde tätig, die nach dem II. Weltkrieg 1

2 3

Schreibung der jiddischen Ortsnamen nach The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry. Vol. II (1995). Nur in einem Fall stammte ein Elternteil aus Zamosc (jid. Zamisc). Seit 1991 Dos jidise vort.

36

II.

Methodologisches

unter den in der Sowjetunion vor dem Holocaust geretteten polnischen Juden entstand, welche in ihre Heimatstädte nicht zurückkehren durften oder wollten. Die in meinem kleinen Warschauer Korpus auffallend geringe Repräsentanz der seit Generationen in Warschau ansässigen Juden spiegelt die demographischen, sozio-kulturellen und somit die soziolinguistischen Verhältnisse in Warschau um die Jahrhundertwende wider. In diesem Zusammenhang hielt ich es für angemessen, unter meine Gewährspersonen einen Vertreter der ersten Generation der Zuwanderer in Warschau aufzunehmen. Der Informant stammt aus einem typischen steil in der Nähe von Warschau, wo er auch den Holocaust im Versteck überlebte. Er ließ sich erst nach Kriegsende in Warschau nieder. Wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht, hat er schon vor dem Krieg, ebenso wie viele andere Kleinhändler aus der Umgebung der Hauptstadt, während der Markttage in Warschau Handel getrieben. Somit ist er ein typischer Vertreter der seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. nach Warschau einströmenden sfeíí-Juden, die für den rapiden Zuwachs der jüdischen Bevölkerung in Warschau und somit bei der Herausbildung des Warschauer Jiddisch im 19. und 20. Jh. die Hauptrolle spielten. 1.2.2. Geschlecht und Alter Unter den neun Gewährspersonen befinden sich drei Frauen und sechs Männer, darunter ein Ehepaar gebürtiger Warschauer. Die Sprache der Frauen ist im allgemeinen weniger dialektal geprägt als die der Männer. Sie zeichnet sich durch sorgfältigere Artikulation aus, die aber auch durch die von Natur aus höhere Stimmlage der Frauen bedingt, rein auditiv „sauberer" wirken kann. Trotz perfektem Bi- und in einem Fall Trilingualismus aller weiblichen Gewährspersonen tritt der übliche Codewechsel bei ihnen bis auf einen Fall weniger auffallend auf. Alle Informanten sind zwischen 1909 und 1920 geboren. Zum Zeitpunkt der Aufnahme gingen sie verständnisvoll und interessiert auf die Fragen der Interviewerin ein. Nur in drei Fällen zeigten sich die Informanten, meist gegen Ende des Interviews, müde oder irritiert. Als ich hingegen Ende 1996 mit meinen ersten Warschauer Informanten die unklaxen Stellen in den gerade angefertigten Transkripten ihrer Interviews abzuklären versuchte, konnten sie sich anfangs kaum an ihre Aufnahmen vor dreizehn Jahren erinnern, zeigten sich aber dennoch sehr hilfsbereit. Größtenteils waren sie jedoch durch ihr fortgeschrittenes Alter und ihren schwachen Gesundheitszustand nicht mehr imstande, Auskunft zu geben, worüber sie rührende Hilflosigkeit und Bedauern zeigten.4 4

Alle vier in Warschau wohnhaften Informanten sind inzwischen gestorben. Sie werden als die letzten Zeugen des Warschauer Jiddisch auf den Seiten dieses Buches leben!

1. Das

Warschauer-Jiddisch-Korpus

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1.2.3. Mehrsprachigkeit und Ausbildung Ein besonderes Problem des Korpus ist der Bilingualismus (7), und im Falle der Jerusalemer Informanten sogar Trilingualismus (2) der Gewährspersonen. Da der jiddisch-polnische Bilingualismus, wie es scheint, in den zwanziger und dreißiger Jahren in Warschau, bis auf ultraorthodoxe Kreise, eine allgemeine Erscheinung war, darf er als mitgestaltender und nicht als störender Faktor bei der Deskription des Warschauer Jiddisch der damaligen Zeit betrachtet werden. Die in Polen lebenden Warschauer betrachteten sich selbst als jiddischpolnische bilinguale Sprecher (6), die in Israel lebenden entweder als JiddischIvrit (1), oder als Jiddisch-Polnisch-Ivrit-Sprecher (2). Unterschiedlich ist dabei die Dominanz der einen oder der anderen Sprache. Ein entscheidendes Kriterium bei der Informantensuche war die Reihenfolge der erworbenen Sprachen. Acht von neun Informanten gaben Jiddisch als die ersterlernte Sprache an. Ein Informant gab schließlich zögernd zu, daß er mit der Mutter Jiddisch, mit dem Vater „ein bißchen Polnisch und ein bißchen Jiddisch sprach". Ein anderer Informant, ursprünglich orthodoxer Abstammung, lernte als Kind während einer kurzen Zeit Polnisch im privaten Unterricht und behauptet, es nie gut gelernt und schließlich vergessen zu haben. Sein Jiddisch weist keine besonderen Abweichungen von dem der bilingualen jiddischpolnischen Sprecher auf. Alle drei weiblichen und zwei der männlichen Gewährspersonen sprachen ein sehr gepflegtes und akzentfreies Polnisch. Bei den beiden Männern und einer der Frauen hatte Polnisch Vorrang gegenüber dem Jiddischen. Bei den zwei anderen Frauen konnte man keine dominierende Sprache bestimmen, sie sprachen beide Sprachen gleich gut, fließend und idiomatisch. Jedoch, und das gilt für alle einwandfrei polnisch-sprechenden Informanten, handelt es sich bei ihnen um zwei verschiedene Register in den zwei Sprachen. Ihrem schulisch-gepflegten musterhaften Polnisch, ohne jegliche dialektale Merkmale (z.B. des Warschauer Polnisch), steht ein alltägliches, umgangssprachliches, stark dialektal geprägtes Jiddisch gegenüber, wie es auf der Straße im Warschauer „Judenviertel" und wahrscheinlich auch zuhause gesprochen worden war. Die drei Jerusalemer Informanten haben Ivrit als Erwachsene erworben. Nur einer von ihnen konnte auf den aus dem Cheder mitgebrachten Vorkenntnissen des Hebräischen aufbauen. Hinzu kommen sehr gute Kenntnisse des Russischen bei denen, die in der Sowjetunion überlebten (3), oder des Englischen durch längere oder häufigere Aufenthalte in England oder in den USA (2). Problematischer scheint dabei die oft (5) angegebene gute Kenntnis der deutschen Sprache, die sich weder aus dem Lebenslauf noch aus dem schulischen curriculum nachvollziehen läßt. Ihre Uberzeugung beruht wahrscheinlich auf einer in der Kriegszeit gemachten

38

II.

Methodologisches

Erfahrung, daß die Betreffenden das sog. „Okkupationsdeutsch" mühelos verstehen konnten und sogar einiges in ihren jiddischen Wortschatz aufgenommen haben.5 Charakteristisch ist dabei, daß gerade die drei, die in der Sowjetunion überlebten, Deutsch als bekannte Sprache nicht angegeben haben. Hinzu kommt, daß auffallende „Dajtschmerismen" (neuere Entlehnungen aus dem Deutschen) unter anderem bei einer Informantin anzutreffen sind, die keine Kenntnis des Deutschen angibt. Die Mehrsprachigkeit der Informanten macht sich vor allem durch Kodewechsel, fremdsprachige Ausdrücke und Schwankungen bei der Wortwahl bemerkbar, die ausnahmslos in den Interviews aller Sprecher vorkommen.6 Unter den Informanten befindet sich nur eine Person mit Hochschulabschluß. Sie hat vier Semester an der Universität Warschau vor 1939 studiert und ihr Abschlußdiplom an derselben Universität nach 1945 erworben. Drei weitere Personen haben weltliche, polnisch-jüdische (private oder staatliche) Elementar- und anschließend Oberschulen mit polnisch als Unterrichtssprache abgeschlossen. Gymnasialabschluß mit Abitur kommt zweimal vor. Diese Personen zeichnen sich durch perfektes, dialektfreies Polnisch aus, das für sie zugleich als die dominante oder, was die Sprachkompetenz anbetrifft, zumindest gleichwertige Sprache gilt. Ihr Jiddisch dagegen weist ausgeprägt dialektale Merkmale auf und hat trotz zum Teil perfekter Kompetenz einen ge5

6

Die erzwungene Angleichung des Jiddischen an das Deutsche in der Holocaustsituation beschreibt Harshav (1990: 86): „Forced to speak the language of the Master Race when communicating with Germans, Yiddish speakers ,germanized', that is, they selected what they thought to be German words in Yiddish and adapted them to a German pronunciation; [... ] Germanizing Yiddish in ghettos and death camps was a linguistic dehumanization of people reduced to baby-talk or to a grammatical subhuman stammer vis-a-vis the Master Race, whose orders they subconsciously accepted." Eine ähnliche angebliche Kenntnis des Deutschen deklarieren viele ältere Polen, die sechs Jahre lang im okkupierten Land einer besonderen deutschen „Fachsprache" ausgesetzt waren. Zum Problem des pragmatischen Bilingualismus der kultivierten Jiddischsprecher und des Codewechsels bei ihnen macht Harshav (1990: 70f.) die folgende völlig zutreffende Beobachtung: „In the forays Yiddish-users made into the domains of neighboring languages, we may distinguish two different functions, though there are no clear-cut boundaries between them: (1) the borrowing of words to enlarge the vocabulary of Yiddish itself: (2) the willful use of foreign expressions as such to enrich the effectiveness of the message and to enhance the stylistic tension between the components. The second function indicates that Yiddish speakers are supposed to be cultural persons and, by definition, know several other languages and demonstrate good style by using them. Such expressions are quoted ad hoc, with no intent to include them in the Yiddish language. Their use nevertheless, is an essential sociolinguistic fact of the ,pragmatics', or the real life of Yiddish." Ausführlicher auf das Code-Switching im biographischen Erzählen auf Jiddisch geht Reershemius (1997: Kapitel 3) ein, ihre Beobachtungen zu diesem Problem in einer Interviewsituation treffen im allgemeinen auch für die Informanten des Warschauer JiddischKorpus zu.

1. Das Warschauer-

Jiddisch-Korpus

39

ringeren Status gegenüber der Landessprache, unabhängig vom gegenwärtigen Wohnort (Polen oder Israel).7 Ein Informant besuchte eine weltliche jüdische Schule (TSISO) mit Jiddisch als Unterrichtssprache. Er spricht modernes, literarisches Jiddisch mit nur großräumigen, zentraljiddischen dialektalen Merkmalen. Bei ihm ist Jiddisch sicherlich die dominante Sprache, deren autonomen und kulturellen Wert er als einziger unter den Informanten beachtet. Diese ausgesprochen bewußte und positive Einstellung zum Jiddischen hängt auch mit seiner lebenslänglichen Beschäftigung als Redakteur in der jiddischen Presse zusammen. Sein Polnisch weist in der Aussprache und Grammatik geringfügige, aber merkliche Eigenschaften des sog. jüdischen Polnisch8 auf. Die übrigen drei Informanten erhielten eine traditionelle jüdische Ausbildung im Cheder, einer religiösen jiddisch-hebräischen Elementarschule. Jiddisch ist bei ihnen die primäre und dominante Sprache, deren dialektaler Charakter am deutlichsten zum Vorschein kommt. Auch ihr Polnisch zeichnet sich durch eine bestimmte koterritoriale dialektale Prägung aus, zu der die charakteristischen Merkmale des jüdischen Polnisch hinzukommen. Bei der unterschiedlichen Akzentsetzung auf die jeweils vorrangige Sprachkompetenz der Informanten (Jiddisch/Polnisch/Hebräisch) läßt sich folgende Korrelation feststellen: dominant bzw. perfekt bleibt bei den Informanten die Sprache, in der sie im Kindes- und Jugendalter den regelmäßigen Schulunterricht erteilt bekommen haben.

1.3. Die Interviews 1.3.1. Die Sprache Alle Informanten wurden über den Zweck der Tonbandaufnahmen - die linguistische Beschreibung ihres Warschauer Jiddisch - unterrichtet. Sie schienen, bis auf wenige Fälle, wo sie von ihren anwesenden Ehepartnern daran erinnert wurden, „warschauerisch" zu sprechen, im Zuge des Gesprächs darüber nicht mehr zu reflektieren, was dem authentischen Charakter ihrer Idiolekte zugute kam. 7

8

Vgl. Harshav (1990) S. 85: „Moving out of the Jewish towns in areas of minority nationalities into the centers of the state languages like Warsaw, Vienna, Berlin, Moscow, London, Paris, Tel-Aviv, or New York, masses of Jews eagerly embraced the new dominant language and culture. In centralized modern societies, speaking Yiddish would have isolated and stigmatized them." Zu den Charakteristika des jüdischen Polnisch s. Altbauer (1929, 1932, 1934, 1935), Brzezina (1979, 1986).

40

II.

Methodologisches

Bei den ersten vier Warschauer Aufnahmen aus den Jahren 1982/83 war Polnisch die Interviewsprache. Dies schien keinen bedeutenden Einfluß auf das sprachliche Verhalten der Informanten zu haben, führte jedoch manchmal im Anschluß an eine Frage in polnischer Sprache zum Kodewechsel, der aber meistens unaufgefordert schon nach einigen Worten zugunsten des Jiddischen wieder aufgegeben wurde. Die Interviews aus den Jahren 1993/94 - sowohl die in Israel als auch die in Polen aufgenommenen - wurden in Jiddisch geführt. Dabei muß vermerkt werden, daß Jiddisch nicht die Muttersprache der Interviewerin ist, was die Informanten sofort erkannten und dabei größtenteils mit höflicher „Bewunderung" zur Kenntnis nahmen. Dies erwies sich im allgemeinen als störender Faktor, und es hatte zur Folge, daß eine vorsichtige Distanz von Seiten der Informanten vor allem aus Israel entstand. Aus Unsicherheit darüber, ob sie tatsächlich verstanden werden oder einfach aus Höflichkeit, sahen sich die jiddischen Gesprächspartner der Interviewerin gegenüber verpflichtet, anderssprachige (polnische, hebräische, englische, russische, deutsche) Worterklärungen, seltener Umschreibungen bestimmter jiddischer Ausdrücke unaufgefordert und überflüssigerweise zu liefern. Das mag einen Teil der beträchtlichen Anzahl von fremdsprachigen Wörtern in den Probetexten erklären. Das mag aber auch auf den üblichen pragmatischen Kodewechsel zurückzuführen sein, mit dem Zweck, ihre Gewandtheit in vielen Sprachen zu zeigen, und dadurch den Status der kultivierten Sprecher zu dokumentieren. Im allgemeinen aber lassen sich die Zitationen und fremdsprachige Worterklärungen und Einschübe vor allem durch folgende Umstände erklären: - ein Thema oder eine Gegebenheit aus dem fremdsprachigen Bereich, z.B. polnische Schule, deutsche Okkupation in Polen, Aufenthalt in einem russischen Dorf; - die Wiedergabe in indirekter Rede früherer eigener Aussagen oder der im Bericht auftretenden anderssprachigen Personen, z.B. eines polnischen Bauern oder Hausmeisters, eines deutschen oder russischen Offiziers, usw. Der häufige Kodewechsel hat aber oft andere okkasionelle sozio- oder psycholinguistische Gründe, die im einzelnen an den entsprechenden Textstellen kommentiert werden. Darüber hinaus erscheinen in allen Probetexten Zitationen und Passagen unterschiedlicher Frequenz und Länge in polnischer Sprache, die außer den obengenannten noch andere Gründe haben können: - Annerkennung der muttersprachlichen Polnisch-Kompetenz der Interviewerin, - in wenigen Fällen Annahme eines höheren Status von Polnisch gegenüber Jiddisch, - Dokumentieren der eigenen Polnisch-Kompetenz.

1. Das

Warschauer-Jiddisch-Korpus

41

Der Einfluß des Ivrit bei den israelischen Informanten äußert sich in erster Linie in der hyperkorrekten modernen Aussprache der im Jiddischen geläufigen Hebraismen (z.B. hebr. fiDfcQ [ba?E'm£t] statt jid. ['bejmis]), und in der Verwendung hebräischer pragmatischer Gesprächsformeln, (z.B. slixa Entschuldigung', naxon ,richtig; ja wohl', rega exat,Moment mal!; einen Moment!'). Die israelischen Sprecher sind sich ihrer gelegentlichen Sprachmischung bewußt und äußern zum Teil ausdrücklich ihr Bedauern darüber. Dagegen sind die Einschübe in polnischer Sprache meistens unbewußt und werden daher von Seiten der Informanten fast nie kommentiert oder gerechtfertigt.

1.3.2. Der Themenkreis Die Interviews erfolgten nicht nach einem festen Fragebogen. Sie bestehen hauptsächlich aus spontanen oder zum Teil durch gezielte Fragen der Interviewerin angeregten Äußerungen zu beliebigen Themen aus der Lebensgeschichte und -erfahrung der Informanten. Das Besondere dabei war, daß für die bilingualen Informanten der Gebrauch des Jiddischen mit ganz bestimmten Themenkreisen gekoppelt wax: Auf Jiddisch sprechen sie über ihre Jugend, berichten über Kriegsereignisse, trauern um ihre Nächsten und um den katastrophalen Untergang des Judentums in Warschau, erzählen aus ihrem eigenen und dem allgemeinen jüdischen Leben. Ein Verlassen des vertrauten Themenkreises ist fast immer mit einem Kodewechsel verbunden. Die Benutzung eines von mir ausgearbeiteten Fragebogens mit einer Reihe von Minimalpaaren und Sätzen, die aus dem Polnischen ins Warschauer Jiddisch zu übersetzen waren, und das Vorlesen eines kurzen literarischen Textes wurde nach den ersten vier Aufnahmen aufgegeben. Der Zweck einer derartigen Abfragung erwies sich für die Gewährspersonen als undurchschaubar, unverständlich und daher irritierend, besonders, wenn sie ihrer Meinung nach nicht die „richtige" Antwort kannten. Eine Abfragung, die neben dem Erzählten auch noch auf die systematische Erfassung des linguistischen Materials hinzielt, ist angesichts der spezifischen Aufnahmesituation besonders schwierig, weil es nicht angebracht ist, einen innerlich aufgewühlten Informanten mit Sätzen vom Typ: „Was liegt auf dem Tisch?", oder „Wie heißen die vier Jahreszeiten?" zu behelligen. Auch lassen den Forscher selbst die Schicksale seiner Gewährspersonen nicht ungerührt, so daß es kaum möglich sein dürfte, das Jiddische in einem Interview emotionslos zu erheben. Viel lockerer und unbefangener verlief der Teil des Interviews, wo der Gewährsperson das Gesprächsthema spontan freigestellt wurde. Dabei zeigte sich bei den Informanten eine unterschiedliche Dialogbereitschaft. Im günstigsten Fall wurde eine fast 40-minütige monologische Erzählung durch keine Frage der Interviewerin unterbrochen. Im anderen Extremfall folgte auf jede Frage eine

42

II.

Methodologisches

kurze sachliche Antwort, so daß das Interview bis auf wenige längere Passagen des Befragten, ein in Takten aufgebautes Frage-Antwort-Geflecht darstellt. In den meisten Fällen jedoch entwickelte sich zwischen dem Informanten und der Interviewerin ein interessantes, teilweise recht reges Gespräch, das sich durch eine Reihe von Anakoluthen, Unterbrechungen, gleichzeitigem Sprechen und ähnlichem im natürlichen Gespräch vorkommenden Sprechverhalten auszeichnet. Für die Transkription der Probetexte wirkt sich dies nachteilig aus und läßt viele Stellen unklar. Diese Unzulänglichkeit wird jedoch durch den hohen Authentizitätgrad der Textproben auf sprachformaler und sprachpragmatischer Ebene ausgeglichen. Ausgangsthema war das jüdische Leben in Warschau vor dem Holocaust. Sehr bald wurde verständlicherweise von dem allgemeinen Thema auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen abgewichen. Im allgemeinen lassen sich in den Interviews folgende thematische Bereiche feststellen: 1. das Uberleben der Kriegszeit in Polen oder in der Sowjetunion, 2. soziales und kulturelles Leben in Warschau vor 1939 (Schulwesen, Freizeit, Sport, Theater, jüdische Organisationen, alltägliches Leben, Beruf), 3. Polarisierung der jüdischen Gesellschaft (z.B. litvakes, Bundisten, Chassidim), 4. jüdisch-polnische Beziehungen, 5. Verhältnis zur jiddischen Sprache. Die Fragen der Interviewerin richteten sich in den meisten Fällen ad hoc nach dem Interesse der Befragten und waren meistens als Anregung zum weiteren spontanen Redefluß gedacht und nicht auf das Erlangen von Wissen gerichtet. Bei den Interviews ging es primär um die Gewinnung eines linguistisch zuverlässigen Korpus und erst sekundär um den historischen Hintergrund. Im großen und ganzen geben die Äußerungen der Informanten jedoch einen Uberblick über ihre persönliche oder in ihren Kreisen geläufige Einstellung zu den oben genannten Themen und verdienen durchaus als historische Quellen weiter ausgewertet zu werden.

2. Auswahl und Auswertung des Untersuchungsmaterials 2.1. Auswertung des Warschauer Korpus Das Warschauer-Jiddisch-Korpus (WJK) bietet trotz seines bescheidenen Umfangs eine Fülle von sprachlich und soziolinguistisch differenziertem Material, das dem deskriptiven Teil dieser Abhandlung zugrunde liegt und an entsprechenden Stellen kommentiert wird.

2. Auawahl und Auswertung

des

Untersuchungsmaterials

43

Einer detaillierten Analyse wurden fünf von den neun Interviews mit sechs Warschauer Sprechern unterzogen. Davon erscheinen zwei Textproben im Textteil der Publikation zur Illustration der Behauptungen im deskriptiven Teil. Die Veröffentlichung des ganzen Korpus, trotz seines dokumentarischen (und inzwischen dokumentär gewordenen) Charakters, scheint in diesem Zusammenhang wegen sich wiederholender Belegstellen überflüssig zu sein. Bei der Auswahl der Textproben wurde vor allem auf ihre Repräsentanz für charakteristische dialektale Eigenschaften sowie für eine Vielfalt von Sprechertypen geachtet. Auch die technische Qualität der Aufnahmen spielte bei der Auswahl der publizierbaren Texte eine wichtige Rolle. Die zur eingehenden Untersuchung und Veröffentlichung ausgewählten Gewährspersonen repräsentieren folgende Unterschiedsmerkmale: a. Soziale Abstammung : chassidische (WI, BA, ZA), weltliche (PI, ZI). b. Ausbildung und Erziehung : jüdisch-hebräische religiöse Schule (Cheder WI), polnisch-jüdische weltliche Schule (BA, ZA, ZI), jiddische weltliche Schule (PI). c. Sozial-berufliche Stellung : kleinstädtischer Händler („Dorf-Jude" - WI), Arbeiterin (BA), Intelligenz (PI, ZA, ZI). d. Politisch-soziale Orientierung : jüdisch-kommunistische („Bund" - PI), polnisch-kommunistische (BA), religiös-unorthodoxe (WI), zionistische (ZA, ZI). e. Beständigkeit des Wohnortes : binnenländische Migration (WI), Auslandsaufenthalt während des II. Weltkriegs (in der Sowjetunion - BA, PI), Emigration nach Israel nach dem II. Weltkrieg (ZA, ZI). f. Sprachliche Dominanz : jiddisch (WI, PI, ZA); polnisch (BA, ZI); g. Geschlecht : Frauen (BA, ZA), Männer (PI, WI, ZI). Aus verständlichen Gründen entfällt ein wichtiger Parameter der soziolinguistischen Markierung, nämlich das Alter. Da die Korpusanalyse von einem synchronen Standpunkt aus erfolgt, ist es einerseits vorteilhaft, daß alle Gewährspersonen einer Generation angehören. Andererseits können bestimmte sprachliche Entwicklungstendenzen als solche anhand des Korpusmaterials nicht bestätigt werden. All diese soziolinguistischen Faktoren und ihre unterschiedlichen Konstellationen spielen beim Sprachgebrauch der jeweiligen Informanten eine bestimmende Rolle. Das vielfaltige Gebilde einer regionalen Sprachvariante, das Warschauer Jiddisch, setzt sich aus vielen individuellen Sprechakten/Sprachformen zusammen. 9 Trotz der individuell unterschiedlichen d.h. idiolektalen Realisie9

Auf dieses methodologische Problem bei einer korpusunterstüzten phonologischen Deskription der Wiener Umgangsprache gehen eingehend Dressler/Leodolter/Chromec (1976: 73) ein: „Die phonologische Stilskala - als Mengensumme der individuellen Repertoires - ist letztlich im Hinblick auf eine Skala der Sprechhaltungen und Sprechsituationen zu rechtfertigen."

44

II.

Methodologisches

rung dieser Sprachvariante im Munde der einzelnen Sprecher läßt sie sich modellhaft als konstantes und „ideales" Sprachsystem beschreiben. So wie es aber keinen „IdeaP'-Sprecher gibt, der alle relevanten Merkmale des so entstandenen, abstrakten Sprachsystems in seinem individuellen Sprechakt aktualisieren könnte, so ist auch nicht zu erwarten, daß sie alle in der Textprobe jedes einzelnen Informanten realisiert und somit bestätigt werden. Das linguistische Korpus ist nämlich per definitionem nur eine Auswahl der repräsentativen Äußerungen einer Sprache/Sprachvariante. Je größer und vielseitiger das Korpus, um so mehr Belege für die relevanten Merkmale liefert es und um so detaillierter kann ihre Kodifizierung in Form einer strukturellen Deskription erfolgen.

2.2. Zusätzliches Belegmaterial Um einerseits die Zuverlässigkeit der im Korpus auftretenden sprachlichen Besonderheiten des Warschauer Jiddisch zu dokumentieren und andererseits die im Korpus nicht repräsentierten, aber relevanten Merkmale mitzuberücksichtigen, wurden zusätzliche Quellen in die Untersuchung einbezogen. Sie bilden zwar eine wichtige Vergleichsbasis für die Analyseergebnisse des WJK, wirken sich aber nur geringfügig auf die darauf beruhenden deskriptiven Feststellungen zum Warschauer Jiddisch aus.

2.2.1. The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry Als zusätzliches Untersuchungsmaterial wurden vor allem die Aufnahmen des YTVO-Archivs zu dem Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry (LCAAJ)10 berücksichtigt. In einem beinahe zehnstündigen Interview wird ein Warschauer-Jiddisch-Informant nach dem von Uriel Weinreich entworfenen Fragebogen zur Datensammlung für das LCAAJ befragt. 11 Unschätzbarer Vorteil dieser Aufnahmen ist die gezielte Abfragung zu relevanten sprachlichen Erscheinungen in der Jiddischen Dialektologie, die dem WJK praktisch fehlen. Die Antworten des Befragten liefern eine Menge systematisierter Informationen, die zum größten Teil die Analyseergebnisse der vorliegenden Untersuchung am Warschauer Korpus bestätigen und zum anderen Teil vervollständigen. In den wenigen Fällen, wo die Daten des WJK und des LCAAJ nicht übereinstimmen, 10

11

The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry (LCAAJ). Volume I: Historical and Theoretical Foundations. Niemeyer 1992; Volume II: Research Tools. Niemeyer 1995. Vgl. Stabilized Master Questionnaire in: LCAAJ (1995: 9*-76*).

2. Auswahl und Auswertung

des

Untersuchungsmaterials

45

entscheidet die Belegquantität meistens zugunsten des Warschauer-JiddischKorpus, die Belegqualität zugunsten des LCAAJ. Auf der anderen Seite fehlen in den isolierten Antworten des Atlas-Informanten (meistens ein Wort, selten ein vollständiger Satz oder Text) viele Informationen besonders zur Prosodie, darunter zu der wichtigen Frage der systematischen Distribution der klitischen und vollen Wortformen der Synsemantika, sowie zu bestimmten Problemen der Syntax und Sprachpragmatik. Hinzu kommt der idiolektale Charakter der Atlas-Aufnahme, die sich daher sehr gut als Dokumentierungs-, weniger aber als Beschreibungsmaterial eignet. Die im zweiten Band des LCAAJ veröffentlichten beiden Indizes zur Dialektologie12 sowie der Fragebogen13 mit dem dazugehörigen Befund für Warschau bilden eine wichtige Unterstützung für die vorliegende Abhandlung. Es sei jedoch nochmals unterstrichen, daß diese auf der Analyse des Warschauer Korpus basiert, deren Ergebnisse für die Feststellungen in ihrem linguistischdeskriptiven Teil den Ausgangspunkt bildeten und entscheidend waren. Die Unabhängigkeit dieser Untersuchung vom Befund des Atlasses zeigt sich unter anderem in einer unterschiedlichen Interpretation und Klassifizierung bestimmter sprachlicher Erscheinungen in bezug auf Systemstellung oder Herkunft. Dies ist z.B. der Fall bei der Wertung der Vokallänge als distinktives Merkmal, Kasuszusammenfall, Konjugationsabbau u.a. Darüber hinaus werden bestimmte strukturelle Besonderheiten der Warschauer Mundart, z.B. Kongruenzverletzung nach Numeralen, ungenetischer Anlaut der klitischen Pronomina, Kasuszusammenfall des femininen Pronomen, vom slawistischen Standpunkt her beleuchtet. Dies kann übrigens wegen des synchronen Charakters der Abhandlung nur ansatzweise thematisiert werden und bedarf einer systematischen kontrastiven Untersuchung.14 Die Vergleichsmöglichkeit der Ergebnisse einer induktiven Korpusanalyse mit dem Befund eines detaillierten deduktiv erstellten Fragebogens wie der des LCAAJ ergeben ein methodologisch einwandfreies Forschungsfeld für die deskriptive Linguistik.

2.2.2. NoaJi Prilutskis dialektologische Arbeiten Eine andere wichtige Quelle dialektologischer Dokumentation zum Warschauer Jiddisch bilden die Schriften eines der Pioniere auf dem Gebiet der jüdischen 12

13 14

S. LCAAJ II (1995) Index to the Dialectology (29-35) und Subject Index to the Dialectology (35-46). S. Anm. 11. Zum Beispiel wurde das Problem der slawischen Herkunft des (analytischen) Verbalsystems im Jiddischen in einer kontrastiven Studie von Geller (1999) diskutiert.

46

II.

Methodologisches

Dialektologie: Noah Prilutski (1882-1941). Rechtsanwalt von Beruf, widmete er sich bald der Erforschung der jiddischen Sprache und Folklore, wax aber auch sehr aktiv als Journalist, Herausgeber und Politiker. In der Ukraine geboren, verbrachte er den größten Teil seines Lebens in Warschau. 15 Seine Tätigkeit als Sprach- und Folkloreforscher trug wesentlich zur Aufteilung und Klassifizierung der jiddischen Mundarten bei, die im wesentlichen bis heute ihre Geltung hat. 1 6 Vom heutigen Standpunkt aus ist vor allem sein Verdienst als Sprachsammler unverkennbar. Seine Jidise dialektologise oder Spraxvisnsaftlexe forarbetn sowie Jidise dialektologise forsungen und sñftn liefern eine Fülle von aufgezeichneten Sprachformen aus unterschiedlichen jiddischen Mundarten. Darunter ist das Zentraljiddische mit Prilutskis langjährigem Wohnort Warschau besonders gut belegt. Seine Formensammlung war offenbar als Korpus für eine Grammatik der jiddischen Sprache gedacht, die er zu verfassen plante. Zerstreut in seinem umfangreichen linguistischen und folkloristischen Schrifttum, warten seine dialektalen Aufzeichnungen immer noch auf Systematisierung und linguistische Auswertung mit den Methoden der modernen Linguistik. Die sprachlichen Belege zum Warschauer Jiddisch wurden hauptsächlich den oben genannten Schriften Prilutskis entnommen, wo sie als gelegentliche Aufzeichnungen oder Beispiele isolierter grammatischer Erscheinungen angeführt werden. Es handelt sich dabei meistens um einzelne Wörter oder Wortformen, die in Sätze eingebettet sind. Die Belege entstammen sowohl der gesprochenen als auch der geschriebenen Sprache. Bei den letzteren werden die schriftlichen Quellen, die teilweise bis zur Mitte des 19. Jhs. zurückreichen, angegeben. Die Belege aus der gesprochenen Sprache decken ungefähr den Zeitraum zwischen 1910 und 1939. Als zeitgenössische Dokumentierung eignet sich Prilutskis Befund besonders gut zum Vergleich des Sprachzustandes der Warschauer-Jiddisch-Informanten, deren Aussagen der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen. Die Annahme, daß das WJK einen konservierten Stand der Sprachform aus der Zeit vor 1939 repräsentiert, der sich bis zum Moment der phonographischen Aufnahme nur geringfügig verändert hat, konnte durch punktuelle Vergleiche mit Prilutskis Befund im allgemeinen bestätigt werden. Die zerstreute und zum größten Teil strukturell ungeordnete Menge der Belege, ihre inkonsequente und willkürliche Notierung sowie ihr isolierter Charakter machen sie als systematische Vergleichsbasis ohne vorgeleistete Klassifizierung schwer zugänglich. Diese Aufgabe konnte im Rahmen der vorliegenden materiellen Untersuchung zum Warschauer Korpus nicht geleistet werden. 15

16

Während des II. Weltkriegs suchte er Zuflucht in Vilna, wo er 1941 von der deutschen Gestapo verhaftet und zu Tode gefoltert wurde. Vgl. Katz (1984: 1019f.).

3. Gestaltung

des Originaltextes

und seiner

47

Parallelfassungen

Somit wurde Prilutskis Befund zum Warschauer Jiddisch als Vergleichsbasis und Vervollständigungsquelle für die vorliegende Abhandlung keineswegs ausgeschöpft. Die aus seinen Schriften stammenden Belege für das Warschauer Jiddisch werden jeweils gekennzeichnet.

3. Gestaltung des Originaltextes und seiner Parallelfassungen 3.1. Der Originaltext Als Originaltext wird in der vorliegenden Publikation ein möglichst genaues phonetisches Transkript der Interviews verstanden, das somit nicht mit ihrer phonographischen Aufzeichnung auf dem Tonband zu verwechseln ist, die hier einfach als Aufnahme bezeichnet wird. Der Redefluß wird nach dem System der phonetischen Transkription des International Phonetic Alphabet (IPA)17 übertragen und grundsätzlich nach dem prosodischen Prinzip segmentiert. Infolge zahlreicher Verschleifungen, Kontraktionen, Klitika und anderer koartikulatorischer und prosodischer Erscheinungen gibt es im Schriftbild eine nur geringfügige Korrelation zwischen den prosodischen (Silben, Akzenteinheiten) und den morphologischen (Morphemen, Wörtern) Einheiten. Da in dem Originaltext prozeßphonetische und nicht strukturell-phonologische sowie prosodisch-satzphonetische und nicht morphologische Genauigkeit angestrebt wurde, können die gleichen Wörter je nach lautlicher Umgebung, Stellung im Satz oder emphatischem Akzent unterschiedlich phonetisch realisiert und somit verschriftet werden 18 . Dies mag die Lesbarkeit des phonetischen Originaltextes erschweren, dafür aber gewährleistet es eine möglichst genaue Wiedergabe der lautlichen Form der Aufnahme, die für die Erschließung wichtiger systemhafter, lautgesetzlich verursachter Formwandlungen sehr aufschlußreich ist. Da das phonetische Transkript rein auditiv, d.h. ohne Verwendung technischer Möglichkeiten, wie z.B. der Spektrographie, angefertigt wurde, kann es nur in begrenztem Maße objektiven Charakter beanspruchen. 17

Vgl. The Principles

18

Zum Problem der Uneinheitlichkeit der lautlichen Realisierungen (Kookkurrenzen) bei Individuen als Stilmischung, d.h. als Resultat der Wirkung von solchen Parametern wie Nachlässigkeit, Schnelligkeit und Emotion vgl. z.B. Dressler/Leodolter/Chromec (1976: 73): „Allerdings zeigen Tonbandaufnahmen nie einheitliche Kookkurrenzen. [ . . . ] Diese Uneinheitlichkeit kann [... ] als Stilmischung erklärt werden. [... ] Darüber hinaus nehmen wir an, daß es eine menschliche soziolinguistische Stilkompetenz gibt, die die Stilwahl trifft und nicht probabilistisch [ . . . ] sondern qualitativ ist."

of the International

Phonetic

Association.

London (1949; 1989).

48

II.

Methodologisches

Der Originaltext ist mit Kommentaren zu Phonetik, Grammatik und Lexikon versehen, die als Fußnoten zu den entsprechenden Stellen im Text erscheinen. Die linguistischen Kommentare beziehen sich sowohl auf die Eigenschaften und Entwicklungstendenzen des Warschauer Jiddisch im Vergleich zum Standardjiddischen und, wo erforderlich, zu seinen Komponentensprachen, als auch auf die sprecherspezifischen Eigentümlichkeiten, die okkasionellen Charakter haben.

3.2. Die Paralleltexte Der Originaltext wurde in drei Paralleltexte umgesetzt, deren Aufgabe es ist, in einer standardisierten jiddischen, einer deutschen und einer polnischen Fassung in erster Linie die Struktur und Pragmatik des Originaltextes möglichst getreu wiederzugeben. Dabei wird auf die semantische Richtigkeit der fremdsprachlichen Paralleltexte, d.h. des deutschen und des polnischen, wie das bei der normalen Ubersetzung üblich ist, weniger geachtet. Anstatt einer objektiven Sachverhaltswiedergabe in fremder Sprache wird bei derartiger Paralleltextgestaltung eine möglichst getreue, d.h. wörtliche „Ubersetzung" angestrebt, um dem deutsch- und/oder polnischkundigen Leser den konzeptuellen Uber gang vom Denken und Vorstellen bis zur Wortwahl und Wortverwendung möglichst nahe zu bringen. Bei der Anfertigung der Paralleltexte wurde eine einheitliche Methode der Eins-zu-Eins-Umsetzung in die Segmente der jeweiligen Sprache, d.h. des Standardjiddischen, des Deutschen und des Polnischen, angestrebt, bei möglichst genauer Beibehaltung der Wortstellung, zum größten Teil auch der Wortwahl und womöglich auch der Wortformen des Originaltextes. Als Resultat dieses rigorosen, fast mechanistischen Verfahrens sind zum Teil semantisch und grammatisch keineswegs einwandfreie Ubersetzungen aus der jiddischen Mundart der Warschauer Juden in die jeweilige Zielsprache entstanden, und somit können sie zum Teil nur bedingt als Verständnishilfen für den Originaltext gelten. Gleichzeitig ist zu unterstreichen, daß die auf diese Weise entstandenen Paralleltexte je nach der Zielsprache einen unterschiedlichen Akzeptabilitätsgrad (Grammatikalitätsgrad) gegenüber ihren Standardsprachen aufweisen. Während der jiddische Text bis auf typische dialektale Markierungen durchaus als grammatikalisch gelten kann, ist z.B. die deutsche Version nur mit Vorbehalt als „deutsch" im grammatikalischen und semantischen Sinne zu bezeichnen. Die polnische Fassung kann dagegen, ähnlich wie die jiddische, bis auf wenige Besonderheiten, als durchaus akzeptabler Text des gesprochenen Polnisch mit entsprechender dialektaler, umgangssprachlicher bzw. stilistischer Färbung betrachtet werden und in diesem Sinne als Übersetzung und

3. Gestaltung

des Originaltextes

und seiner

Parallelfassungen

49

Verständnishilfe für die Ausgangssprache Jiddisch gelten. Für die überraschende strukturelle, semantische und sprachpragmatische Nähe des gesprochenen Warschauer Jiddisch zu seiner koterritorialen Sprache, dem Polnischen, gegenüber seiner Entfernung in dieser Hinsicht vom Deutschen her, gibt es unterschiedliche inner- und außersprachliche Gründe, die im weiteren thematisiert werden.

3.2.1. Der standardisierte (orthographische) jiddische Paralleltext Den standardisierten jiddischen Text bildet eine Verschriftung und Umsetzung der prosodischen Segmente des Originaltexts in lexikalische Einheiten des Jiddischen nach den orthographischen Regeln des YIVO (Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts). Dabei werden auch die entsprechenden Flexionsoder Erscheinungsformen der Wörter, wo erforderlich, „wiederhergestellt" und die okkasionellen und sprecherspezifischen Wortformen und -Verwendungen durch standaxdjiddische ersetzt. Das gleiche gilt für Formen, die als Versprecher oder Verzerrung durch den Tonträger zu gelten haben. Diese Fälle werden im Kommentar zum Originaltext gekennzeichnet und erläutert. Die systemhaften dialektalen Eigenschaften, z.B. Wortstellung, Konjugationsparadigmen (ix freg mix, undz hobn mir ), Rektions- und Kongruenzregeln (singularisches Verbum finitum mit pluralischem Subjekt: baj undz iz geven tsvej lererins) werden dagegen möglichst getreu beibehalten. Auf diese Weise entstand ein in geringerem Maße standardisierter jiddischer Paralleltext, der, bei Bewahrung der prägnanten dialektalen Spezifika, die Verständlichkeit des Inhalts für einen durchschnittlichen Jiddischsprecher durchaus gewährleistet. Der standardisierte jiddische Text, der als die eigentliche Verständnishilfe zum Originaltext gelten kann, wird ausschließlich im Hinblick auf (Fremd)Wort- und Faktenerklärung sowie textlinguistische Gesprächstechniken in Form von Fußnoten kommentiert, während sich die deskriptiv-linguistischen Kommentare nur auf das tatsächlich Gesagte im Originaltext beziehen und sich auch dort befinden.

3.2.2. Der deutsche Paralleli ext Die deutsche Version des gesprochenen jiddischen Originaltextes ist eine rigorose Eins-zu-Eins-Umsetzung in die entsprechenden etymologisch zusammenhängenden Lexeme (Etyma) der deutschen Gegenwartssprache in ihrer grammatischen Wortform, die der Flexionsnorm des Standarddeutschen entspricht. Ähnlich wie beim standardisierten jiddischen Text werden die dialektspezifischen Eigentümlichkeiten - zu denen hier die allgemeinjiddischen

50

II.

Methodologisches

sprachlichen Spezifika hinzukommen - auf der syntaktischen Ebene, wo immer möglich, beibehalten. Das Resultat eines solchen Verfahrens ist keineswegs eine durchweg verständliche deutsche Ubersetzung aus dem Jiddischen. Da sie von anderen akzeptablen Erscheinungsformen des historischen und modernen Deutsch, einschließlich der Mundarten, zum Teil stark abweicht, sei hier noch einmal betont, daß sie nur mit Vorsicht als Verständnishilfe Verwendung finden kann. Um die Sachverhalte richtig zu interpretieren, wurde in Fällen, wo deutsche Kognate der jiddischen oder jiddischmundartlichen Formen eine völlig andere Bedeutung haben, von der sich die jiddische nicht oder nur schwer ableiten könnte, oder wo solche Kognate gar nicht existieren (z.B. bei Lehnwörtern oder Lehnübersetzungen), das etymologisch nächste, sinngemäße deutsche Ubersetzungswort verwendet, was jedoch jeweils durch besondere Notation gekennzeichnet wird. Ein Schlüssel zu den verwendeten Notationen befindet sich am Ende dieses Kapitels.

3.2.3. Der polnische Paralleltext Die gleiche Methode wurde auch für die polnische Version angestrebt. Da aber das Polnische im großen ganzen über keine lexikalischen Kognate sowie andere morphologische Mittel als das Jiddische und das Deutsche verfügt, die sich in dieser Hinsicht typologisch nahestehen und in diesem Sinne umsetzbar sind, scheint im Falle des Polnischen eine getreue Wort-für-Wort-Ubersetzung als Vergleichsbasis berechtigt zu sein. Während bei der Umsetzung ins Deutsche zum größten Teil die Ausdrucksseite des jiddischen Lexems übertragen wurde, wurde im Falle des Polnischen zwangsläufig seine Inhaltsseite mit einem entsprechenden polnischen Wort wiedergegeben. Dabei wurde ein rigoroses Verfahren angestrebt, in dem einem jiddischen Lexem samt seinen Ableitungsformen jeweils nur ein polnisches Lexem entspricht. Dagegen werden die im Polnischen nicht vorhandenen morphologischen Strukturen und Segmente (z.B. der Artikel, die analytischen Vergangenheits- oder Possessivformen, das Personalpronomen als obligatorische Begleitform eines Verbums finitum, Infinitiv mit zu, Poststellung des Negationswortes u.a.) grundsätzlich nicht getreu wiedergegeben, sondern durch entsprechende grammatikalische Formen nach den Flexionsregeln des Polnischen hergestellt. Die Stellung des Prädikats bei zusammengesetzten Tempus- und Modusformen, die keine Entsprechungen mehr im modernen Polnischen haben, richtet sich meistens nach der Stellung des Vollverbs als des sinntragenden Segments, nicht nach der des funktionalen Hilfsverbs. Im übrigen wird eine quasi interlineare Wortfolge und Wortwahl wie bei den anderen Paralleltexten getreu beibehalten.

3. Gestaltung

des Originaltextes

und seiner

Parallelfassungen

51

Die auf diese Weise entstandene polnische Fassung weist nur geringfügige Abweichungen von anderen akzeptablen Erscheinungsformen des Polnischen, z.B. der Mundarten, der Umgangs-, Dialog- oder Erzählsprache auf, und somit kann sie als soziolektal und textlinguistisch angemessene Ubersetzung ins Polnische gelten. Die auffallende syntagmatische, semantische und pragmatische Parallelität des Warschauer Jiddisch mit dem koterritorialen Polnisch gegenüber dem genetisch (oder vielmehr nur lexikalisch und morphologisch) verwandten Deutsch läßt sich nur begrenzt aus dem polnisch-jiddischen Bilingualismus der Informanten und der daraus folgenden sprachlichen Interferenz erklären. Da es sich um die „letzten" Sprecher des Warschauer Jiddisch handelt, könnte man auch annehmen, daß sich ihre Sprache in einer Ubergangsphase vor ihrer vollständigen Aufgabe zugunsten des koterritorialen Polnisch oder des Ivrit befindet. Diese Annahme scheint mir gerade im Falle des Warschauer Jiddisch nicht plausibel zu sein, denn es handelt sich hier um eine Sprache, deren Aufgabe durch katastrophale geschichtliche Ereignisse erzwungen und sehr abrupt vollzogen wurde. In der Zeit von 1939 bis 1945, d.h. im Laufe von sechs Jahren, wurden die 350 000 Jiddischsprecher in Warschau infolge des Holocausts auf einige Tausend Uber lebende reduziert, die sich sehr bald gezwungen sahen, ihre bisherige Muttersprache zugunsten einer entweder schon bekannten oder erst neu zu erlernenden aufzugeben. Dabei blieb Jiddisch, nach den Aussagen der Informanten, ihre erste Sprache, die sie erst als Erwachsene für Polnisch bzw. Ivrit im alltäglichen Verkehr aufgaben. Da wir es also hier nicht mit einem soziolinguistisch klassischen Fall des allmählichen, freiwilligen oder gewünschten, aber voraussehbaren Sprachübergangs einer ganzen Sprachgemeinschaft zu tun haben, dürfen wir wohl annehmen, daß der im vorliegenden Korpus registrierte Sprachzustand keine Ubergangsphase in diesem Sinne darstellt, sondern eine lebendige Mundart, die in ihrer natürlichen Ausprägung zum Zeitpunkt kurz vor ihrer abrupten Aufgabe konserviert wurde. Freilich darf die Auswirkung des Bi(/Tri-)lingualismus der Sprecher bei der Analyse nicht übersehen werden. Die daraus resultierenden sprachlichen Erscheinungen im vorliegenden Korpus gehen aber meines Erachtens nicht über seine sonstigen, auch für andere Sprachen typischen Formen wie Kodewechsel, Zitationen, gelegentliche Lehnübersetzungen u.a. hinaus und können sich individuell keineswegs strukturumwandelnd auf die Gesamtstruktur der Belegtexte auswirken. Wir verfügen kaum über frühe lautliche Aufzeichnungen zusammenhängender Texte, um die Entwicklung des Warschauer Jiddisch gegenüber seinen Komponentensprachen in einer größeren Zeitspanne nachvollziehen zu können. Die ersten phonographischen Aufnahmen vom Warschauer Jiddisch stammen je-

52

II.

Methodologisches

doch aus den dreißiger Jahren. 19 Eine besonders wichtige Quelle bildet in diesem Zusammenhang eine Sammlung der Zeugenaussagen von holocaustüberlebenden Juden aus den vierziger und fünfziger Jahren, 20 in der sich auch einige Aufnahmen in Warschauer Jiddisch befinden. Die schlechte lautliche Qualität dieses frühen Archivmaterials macht es für eine zuverlässige phonologische Analyse weniger brauchbar. Die Aufnahmen stellen aber im großen und ganzen eine wichtige Vergleichsbasis zu dem in den achtziger und neunziger Jahren gesammelten WJK dar. In der Zeitspanne von ca. vierzig Jahren bemerkt man keine wesentlichen Unterschiede in der Annäherung des Warschauer Jiddisch in bezug auf die Aussprache, Morphologie, Syntax und Lexik an das koterritoriale Polnisch im Sinne eines Sprachwechsels. Ganz im Gegenteil bestätigen die ersten bekannten Warschauer-Jiddisch-Aufnahmen die oben geäußerte These über den relativ konservierten Sprachzustand des im WJK gesammelten Materials. Darüber hinaus finden viele Eigentümlichkeiten des Korpus gegenüber dem sog. Standardjiddischen und dem Deutschen, die das Warschauer Jiddisch noch näher an das Polnische rücken lassen, zum großen Teil auch in den detaillierten dialektologischen Aufzeichnungen von Noah Prilutski 21 Bestätigung. Die Ursachen der unbestreitbaren strukturellen und pragmatischen Verwandtschaft des Warschauer Jiddisch mit seiner polnischen Koterritorialsprache sind also nicht im Bilingualismus der letzten, entwurzelten Warschauer Jiddischsprecher, sondern in der Genese des Ostjiddischen als einer auf dem slawischen Substrat aufgebauten Sprache des aschkenasischen Judentums zu suchen. Diese interessante Aufgabe würde jedoch über den Rahmen der vorliegenden Untersuchungen hinausgehen.22

19

Es handelt sich dabei um eine Schallplattenserie mit I. A. Samberg, einem Schauspieler aus dem Warschauer Jiddisch Theater, herausgegeben in Polen ca. im Jahre 1935 mit Texten im Warschauer Jiddisch.

20

Im US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. befindet sich die sog. DavidBoder-Collection. Es ist eine Sammlung vom unikalen historischen und linguistischen Wert. Mehr als einhundert ehemalige ΚΖ-Häftlinge (darunter drei Warschauer Jiddischsprecher!) wurden von David Boder, einem amerikanischen Psychologen, in Europa in den Jahren 1946-50 interviewt und mit der damals modernsten Technik auf Draht aufgenommen. Vgl. dazu Boder, David P. (1957) Topical Autobiographies of displaced People, vol. 16. (Auf diese informationsreiche, leider aber inzwischen verkannte Sammlung wurde ich von Dr. Jürgen Matthäus, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des US Holocaust Memorial Museum hingewiesen. Die einschlägigen für mich interessanten Aufnahmen wurden mir freundlicherweise von dem Museum für weitere Forschung zur Verfügung gestellt.)

21

S. Literaturverzeichnis und einzelne Anmerkungen im Textteil dieses Buches. Vgl. dazu Geller (1999).

22

3. Gestaltung des Originaltextes

und seiner

Parallelfassungen

53

3.3. Die Methode der Eins-zu-Eins-Umsetzung 3.3.1. Gründe für die Anwendung einer Umsetzungs-Methode Die hier angewandte mechanistische Eins-zu-Eins-Umsetzung erinnert in ihrem rigorosen Verfahren an eine dem älteren Jiddisch wohlbekannte Bibelübersetzungstechnik der frühen jiddischen Bibelübersetzungen. 23 Einerseits entspricht jedem jiddischen Lexem saint seinen Ableitungsformen nur ein Lexem der Zielsprache, und andererseits werden die syntagmatischen Beziehungen möglichst getreu wiedergegeben. Die auf diese Weise hergestellten Paralleltexte bilden eine möglichst nahe Vergleichsbasis für eine komparativistische Untersuchung der strukturellen und pragmatischen Beziehung des gesprochenen Jiddisch zu seinen zwei indogermanischen Komponentensprachen, dem Deutschen und dem Polnischen (das hier als Hyponym für die sog. slawische Komponente steht). Eine systematische Erforschung dieser interessanten Verhältnisse ist jedoch nicht das Ziel der vorliegenden Publikation, die bestrebt ist, eine dialektale Variante des gesprochenen Jiddisch anhand der Analyse des hier präsentierten WJK synchron zu beschreiben. Insofern erscheinen die beiden Paralleli exte, deutsch und polnisch, als „Nebenprodukte" der hier angestrebten Analyse und können weder weiter ausgewertet noch kommentiert werden. Die folgenden Gründe sprechen jedoch für die Anwendung einer mechanistischen Eins-zu-Eins-Umsetzung und die Veröffentlichung ihrer Resultate in der Form der Paralleltexte statt einer angemessenen „literarischen" Übersetzung: a. Es ist das einzige Verfahren, das erlaubt, die prosodischen Einheiten der gesprochenen Sprache getreu und konsequent zu verschriften, und auf diese Weise die Spezifika der Mundart zu fixieren. Dieses Verfahren fand zuerst bei der Anfertigung der standardisierten jiddischen Fassung Anwendung und wurde dann auf die anderen Zielsprachen übertragen. b. Die etymon-getreue „Übersetzung" hat sich an den Stellen als unentbehrlich erwiesen, wo das Verstehen der Warschauer Mundart vom Standardjiddischen aus nicht möglich war. Das ist einerseits auf den jiddischpolnischen Bilingualismus der Sprecher und andererseits auf zahlreiche „Dajtschmerismen" z.B. aus dem Kriegswortschatz zurückzuführen. c. Bei Verwendung einer homogenen Methode der Umsetzung kann man den Annäherungs- bzw. Entfernungsgrad des gesprochenen Warschauer Jid23

Die Verwendung dieser Ubersetzungsmethode aus dem Hebräischen, wie sie u.a. durch Timm (1991, 1993, 1994) und Röll (1986, 1991, 1996) für das ältere Jiddisch als Zielsprache ausführlich beschrieben wurde, ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Sie scheint eine auch in der mündlich-sprachlichen Tradition des osteuropäischen Judentums stark verankerte Praxis nicht nur im Chederunterricht, sondern auch bei der Herausbildung des Ostjiddischen zu sein.

54

II.

Methodologisches

disch sowohl im Verhältnis zu seiner Standardsprache als auch zu den beiden Komponentensprachen objektivieren, was bis jetzt an einem größeren Korpus nicht gezeigt wurde.24 d. Dies bietet ein Forschungsmaterial nicht nur für Jiddisten, sondern auch für Germanisten und Slawisten ohne ausführliche Jiddischkenntnisse, und kann somit einen breiteren Linguistenkreis ansprechen und hoffentlich zu der erwünschten interdisziplinären Forschung auf dem Gebiet der Jiddistik anregen. e. Es handelt sich in erster Linie um eine linguistische und nicht um eine sozialgeschichtliche Publikation. Bei einer deskriptiv-linguistischen Auffassung ist eine möglichst genaue Wiedergabe des Originaltextes, seiner Strukturierung, der inter- und intralingualen Zusammenhänge, der textlinguistischen Gesprächstechniken usw., aus denen sich der inhaltliche Zusammenhang des Textes herleiten läßt, anzustreben. Dies ist auch der Grund, warum weder der Originaltext noch seine Parallelfassungen entsprechend den Normen der jeweiligen Schriftsprache redigiert wurden und keine literarische Übersetzung als zusätzliche Verständnishilfe mitgeliefert wird.

3.3.2. Prinzipien der Umsetzungs-Methode 1. Es handelt sich um eine quasi interlineare Eins-zu-Eins-Umsetzung (für das Polnische gelten zwangsläufig strikte Übertragungsregeln, s. oben) der prosodischen Einheiten des Originaltextes (a) in die Lexeme der jeweiligen Zielsprache: des (Schrift)Jiddischen (b), des Polnischen (c) und des Deutschen (d) - dabei sind mundartliche oder umgangssprachliche Varianten der jeweiligen Sprachen, soweit sie als Etyma für den Originaltext Geltung haben könnten, zugelassen. 2. Die originale Wortwahl wird grundsätzlich beibehalten. Uberall dort, wo ein jiddisches Wort durch kein etymologisch verwandtes neuhochdeutsches Wort wiedergegeben werden kann, wird das standarddeutsche Ubersetzungswort kursiv gedruckt. In der kursiven Schrift kommen also Ubersetzungswörter (-Morpheme) vor, die im Originaltext kein gemeinsames Kognat mit dem Deutschen haben. Je nach der Ursprungssprache des originalen Lexems sind sie mit einem entsprechenden, tiefgestellten Buchstabenindex: z.B. h, p, d, j, r, e ... versehen, der jeweils auf die Herkunftssprache hinweist (hebräisch, polnisch, deutsch, jiddisch, russisch, englisch usw.). 24

Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch Reershemius (1997). Sie führt aber ihre Wortfür-Wort-Übertragung der jiddischen Interviews sehr inkonsequent durch und ohne Kennzeichnung der Stellen, wo auf die Methode aus Gründen der Verständlichkeit verzichtet werden mußte.

3. Gestaltung

des Originaltextes

und seiner

Parallelfassungen

55

Beispiel 1: Regimentp - im Originaltext steht an dieser Stelle ein aus dem Polnischen (manchmal auch einer anderen slawischen Sprache) stammendes Wort/ Morphem (hier jid. /pulk/ < poln. pulk), das ins Deutsche übersetzt wurde. heiratenh+d - im Original steht an dieser Stelle eine Wort- oder Morphemkombination, von der der erste Bestandteil hebräischen, der zweite deutschen Ursprungs ist (hier jid. pNPI Π31ΠΠ /xasene hobn/ < hebr. Π31ΠΠ -I- dt. haben, die mit einem angemessenen Ubersetzungswort wiedergegeben wurden. Darüber hinaus kommen in den deutschen und polnischen Paralleltexten mit einem „+ "-Index auch Lexeme vor, die sich zwar vertikal nicht segmentieren lassen, bei denen es sich aber um eine „horizontalen" Spaltung handelt ( z.B. Lehnübersetzungen). Meistens sind es also Wörter mit deutscher Form und polnischer Bedeutung z.B. jid. umarbeiten p + d entspricht im Originaltext jid. iberton < poln. prze|robic wörtl. „über|tun". Unter dieser Kategorie werden auch Wörter zusammengefasst, die als Kontamination der Formen aus beiden Sprachen anzusehen sind; z.B. entspricht der Interjektion nuup +d im jiddischen Originaltext nu, das sowohl auf das poln. no als auch auf das dt. nun zurückgehen kann. derd Krieg - im Original steht an dieser Stelle ein anderes deutsches Wort, das sich durch seine grammatische Form oder semantische und pragmatische Anwendung unterscheidet und durch das angemessene deutsche Wort der Grammatikalität oder Verständlichkeit wegen ersetzt werden muß (hier: jid. di krig ,der Krieg' < Genuswechsel unter dem Einfluß des Hebräischen und des Polnischen, wo das Wort für ,Krieg' ein Femininum ist). Geschöpft - im Original steht an dieser Stelle eine jiddische Eigenschöpfung, die keine Entsprechung im Deutschen hat (hier: jid. basefenis ,Geschöpf = dt. *Beschaffnis), die ebenfalls durch ein Ubersetzungswort wiedergegeben werden muß. 2. Bei der Umsetzung werden grundsätzlich die Flexionsregeln der Zielsprache beachtet. Beispiel 2. jid. /fun hundert jor/ > dt. von hundert Jahren, jid. /hot gebrengt/ > dt. hat gebracht 3. Dagegen werden die syntagmatischen Verknüpfungsregeln (Rektion, Kongruenz, Valenz) des Originaltextes, wo sie von denen der jeweiligen Zielsprache stark abweichen oder mißverstanden werden könnten, durch den Index d als jiddische syntagmatische Besonderheit gekennzeichnet, weiterhin in die Zielsprache sinngemäß übersetzt.

56

II.

Methodologisches

Beispiel 3. jid. /far di krig/ > dt. vor demd Krieg jid. /in di sul/ > poln. do¿ szkoly 5. Die Wortfolge wird rigoros nach dem interlinearen Prinzip, bis auf zwei Ausnahmen für den polnischen Paralleltext, beibehalten. Die Reihenfolge der Zahlwörter bei zusammengesetzten Numeralen und die Poststellung des Negationswortes nist werden der korrekten polnischen Wortstellung angepaßt. 25 Die notwendigen Auslassungen werden durch { }, erstellte oder hinzugefügte Formen durch [ ] gekennzeichnet. Im allgemeinen kommen folgende typographische Zeichen und Symbole vor: [ ] - in den eckigen Klammern kommen Wörter vor, die im Originaltext nicht erscheinen, die aber der Verständlichkeit wegen hinzugefügt wurden (z.B. elidierte Pronomina oder Hilfsverben). { } - in den geschweiften Klammern kommen Wörter vor, die im Originaltext erscheinen, aber im Paralleltext der Verständlichkeit wegen nicht anwendbar sind (z.B. mehrfache Verneinung, Reflexivpronomina bei den im Deutschen nicht reflexiven Verben u.a.). (???) - die runden Klammern mit Fragezeichen bedeuten Lücken im Text, die meistens wegen der Aufnahmequalität nicht erschlossen werden konnten. Manchmal steht in den Klammern zwischen Fragezeichen ein Lesungsvorschlag z.B. (?gewollt?) „ " - in Anführungszeichen werden Wörter in ihrer Originallautung (sog. Zitationen) wiedergegeben, ohne Hinweis auf die Ursprungssprache. [... ] - Punkte in eckigen Klammern bedeuten die Auslassung einer unverständlichen oder überflüssigen (z.B. Wiederholung) Textpassage gegenüber der Aufnahme oder dem Originaltext. Beispiel 4. jid. /gekumen arajn in dorf arajn/ dt. [sie sind] gekommen {herein} insd Dorf herein. poln. przyszli dod wsi {przy}. 25

Das sind nämlich die einzigen zwei Fälle, in denen sich die ostjiddische Wortstellung von der Polnischen so entscheidend unterscheidet. Vom „slawozentrischen" Standpunkt her, könnte man auch diese auffallenden Abweichungen erklären. Für die Beibehaltung der charakteristischen „deutschen" Wortstellung bei den zusammengesetzen Numeralen im Ostjiddischen gibt es wahrscheinlich einen außersprachlichen, pragmatischen Grund: Jiddisch als eine „internationale" Handelssprache mußte in Hinsicht der Zahlenwiedergabe in Ost- und Westeuropa einheitlich sein. Die Poststellung des Negationswortes hat dagegen einen innersprachlichen Grund: Die Negationspartikel bildet enklitisch mit dem Verbum finitum oder dem nachgestellten Pronomen eine untrennbare prosodische Einheit.

4- Dialektale

Zuordnung

57

4. Dialektale Zuordnung Die Vielfalt und frühzeitige Ausprägung der jiddischen Mundarten regten seit den frühesten Zeiten der Jiddischforschung ein reges Interesse für die Dialektologie an.26 In der goldenen Ära der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im 19 Jh. wandten viele Sprachforscher ihr Interesse an der deutschen Mundartforschung auch auf das Jiddische hin. Auf diese Weise wurde Jiddisch als Teil der Germanistikforschung mit dem MHD verglichen, was langwierige Folgen sowohl für die Geschichtsschreibung der Sprache als auch ihre Deskription und Standardisierung hatte. 27 Durch die Gründung des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts, einer Forschungsanstalt, die sich ausschließlich mit der Forschung des Jiddischen befaßte, bekam die Arbeit an Dialektsammlung und Deskription einen neuen Aufschwung. Dies erklärt, waxum gerade die Dialektologie eines der am besten vertretenen Forschungsfelder in der jiddistischen sprachwissenschaftlichen Literatur darstellt.28 Erst später entwickelte Max Weinreich das Protosystem des jiddischen Vokalismus, das seitdem ein verbindliches Bezugssystem für die jiddische Dialektologie darstellt.29 Es gibt mehrere Klassifizierungsmöglichkeiten der jiddischen Dialekte, die historisch, methodologisch und ideologisch unterschiedlich untermauert werden können. Einen zusammenfassenden Uberblick über die jiddischen Mundarten samt der Geschichte und Bibliographie zur jiddischen Dialektforschung und tabellarischer Zusammenstellung der unterschiedlichen Klassifikationsprinzipien liefert Katz (1983).30 Im weiteren folgen wir im allgemeinen seinem Klassifizierungsvorschlag mit geringeren terminologischen Vereinfachungen: so steht für Katz's Zentralostjiddisch im weiteren Text einfach Zentraljiddisch (ZJ).

26

27

28

29

30

Die ersten Ansätze zur Differenzierung des West- und Ostjiddischen stammen aus dem Anfang des 17. Jhs. vgl. Katz (1983: 1018). Mit dieser Frage setze ich mich eingehend in einem Artikel Germanocentric vs. Slavocentric Approach to Yiddish in Proceedings of the 12 th World Congress of Jewisch Studies Jerusalem 1997 (in print) auseinander. Die Dialektforschung war auch eines der Hauptziele des in den dreißiger Jahren wirkenden Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts in Vilnius. S. Weinreich, M. (1973) Bd. 2. S. 321-382. Dieses System stellt im weiteren den Bezugspunkt zu der Deskription der Verhältnisse im Warschauer Vokalismus dar. Da genaue Erklärungen des Weinreichschen Systems sich in mehreren Publikationen zum Jiddischen befinden, u.a. in Jacobs (1991), Kiefer (1995), vor allem aber grundlegend für den LCAAJ sind, wird auf die Darstellung dieses inzwischen kanonisch gewordenen Systems hier verzichtet. Nennenswert in diesem Zusammenhang ist auch ein ausführlicherer Beitrag von Kozlowska (1968), der sich leider in der Bibliographie von Katz (1983) nicht befindet.

58

II.

Methodologisches

4.1. Räumliche Abgrenzung des zentraljiddischen Dialektgebiets Das Warschauer Jiddisch gehört zu den zentraljiddischen Mundarten und teilt mit ihnen die wichtigsten lautlichen und grammatischen Merkmale. Das ZJ wird im Nordosten durch die o/u-Isophone und im Osten durch die aj/ejIsophone ausgesondert. Die Großstadt Warschau liegt im nordöstlichen Teil des zentral(ost)jiddischen Sprachgebiets, das sich weiter südlich bis an Arad in Siebenbürgen ausdehnt. Im Norden grenzt das Zentraljiddische mit den Ubergangsmundarten des Nordostjiddischen sowie mit dem Nordostjiddischen selbst, im Osten mit dem Südostjiddischen und im Westen mit den südlichen Ubergangsdialekten des Westjiddischen. Der Terminus Warschauer Jiddisch steht in der älteren Literatur oft verallgemeinernd für Polnischjiddisch (d.h. Zentraljiddisch) als Gegensatz zum „Litvischen" (Litauischen) Jiddisch.31 In der vorliegenden Untersuchung fassen wir das Warschauer Jiddisch hauptsächlich als eine Großstadtmundart auf.32

4.2. Sprachliche Abgrenzung des Warschauer Jiddisch 4.2.1. Obligatorische (sekundäre) Dialektmerkmale des WAJ Als obligatorische Dialektmerkmale werden diejenigen sprachlichen Charakteristika verstanden, die einen Sprecher als Angehörigen eines Großdialekts identifizieren. Da sie großräumig gültig sind, in unserem Fall auf dem Gebiet des Zentraljiddischen, und der Sprecher über sie nicht als diskriminierende Spezifika seiner Mundart reflektiert, werden sie oft als sekundäre Merkmale verstanden. In diesem Sinne teilt das Warschauer Jiddische die charakteristischen lautlichen Realisierungen mit dem Zentraljiddischen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Unterschiede im Vokalismus, die dem Südostjiddischen, dem Nordostjiddischen bzw. dem Standardjiddischen gegenübergestellt werden. 31

32

In einem polnischen Jiddisch-Lehrbuch aus dem Jahre (193?) finden wir in der Einleitung die folgende Äußerung: „ Auf dem Territorium Polens existieren zwei jiddische Mundarten: sog. Litauisch und Polnisch vel Warschauer... " [Ubers. E.G.] Zelewski, J. (193?) Jçzyk Zydowski. Warszawa (o.D.). Zum Problem der Definierung einer Stadtmundart vom soziolinguistischen Standpunkt her vgl. Radtke (1976). Zur Abgrenzung des WAJ gegenüber der nächsten Großstadtmundart des ZJ, dem Lodzer Jiddisch vgl. Gutman (1926: 377): „Lodzer jidis hejst nist az azoj redt men nor in Lodz alejn. Dos gebit fun dem dozikn dialekt un iberhojpt di grenets mitn varsever jidis mit vebcn er gejt zix tsunojf in a sax protim, darf nox festgestelt vern. "

59

4- Dialektale Zuordnung

Die folgende Tabelle zeigt in einer vereinfachten und synchronen Weise 33 die wichtigsten Merkmale im Vokalismus des Zentraljiddischen gegenüber den anderen großräumigen Mundarten des Jiddischen und dem Standardjiddischen. 34

Nordostjiddisch / "Litwisch" o-dialekt

Zentraljiddisch/ "Polnisch" u/aj - dialekt

Südostjiddisch/ "Ukrainisch" u/ej - dialekt

Standardjiddisch

zogn broxe

zugn bruxe

zugn bruxe

zogn jlNt 'sagen' broxe Π3Ί3 'Segnung'

kumen stub

kirnen stib

kirnen stib

kumen jyDlp 'kommen' stub 31B» 'Stube'

hunt s(s)utef

hfnt sitef

(h)int sitef

hunt tSJin 'Hund' sutef ηηΐϋ 'Partner'

kejfn kejlec(ts) s(s)ejn krojt

kojfn kojlec sojn krout

kojfn kojlec sojn krojt

kojfn p'lp 'kaufen' kojlec »tsy^ip 'Brot' sojn 'schon' krojt tfl'np 'Kraut'

s(s)nej mejlex s(s)tetl

snaj majlex stejtl

snej mejlex stejtl

snej "JW 'Schnee' mejlex "[^D 'König' stetl ^tsytstr? 'Städtchen'

majn lajt majse

ma:n la:t ma:se

ma:n la:t ma:se

majn J'-'D 'mein' lajt ta'-'1? 'Leute' majse nttfyD 'Geschichte'

glejbn drejen s(s)ejn lebn

glajbn drajen sajn lejbn

glejbn drejen sejn lejbn

glojbn 'glauben' drejen ß r m 'drehen' sejn 'schön' lebn py1? 'leben'

33

Eine einschlägige Tabelle der dialektalen Unterschiede in bezug auf das jiddische Protovokalsystem liefert LCAAJ (1992: 11, 12).

34

Da es sich dabei hauptsächlich um Phoneme der Haupttonvokale handelt, wird hier auf die genaue phonetische Transkription der ganzen Wörter verzichtet, stattdessen wird hier eine phonologische Verschriftung verwendet.

60

II.

Methodologisches

4.2.2. Fakultative (primäre) Dialektmerkmale des WAJ Außer den großräumigen Merkmalen, die das Warschauer Jiddische gleichermaßen wie z.B. das Lodzer Jiddisch charakterisieren und deshalb als sekundär zu werten sind, hat das WAJ hervorstechende Merkmale, die einen sehr kleinen, regionalen Geltungsbereich haben, d.h. die primären Merkmale. Es handelt sich um diskriminierende differentia specifica , die dem Dialektsprecher in den meisten Fällen bewußt sind, und die er u.U. ablegen kann, (dann bleibt er jedoch als Sprecher eines Großdialekts erkennbar) deshalb heißen sie auch fakultative Merkmale. In den folgenden drei Kapiteln werden diese primären Merkmale des WAJ im Mittelpunkt einer detaillierten Deskription stehen. An dieser Stelle können sie zusammenfassend vorweggenommen werden, indem die oben angeführten Beispiele für das Zentraljiddische dem WAJ gegenübergestellt werden: Sekundärmerkmale des Zentraljiddischen (phonologisch)

Primärmerkmale des Warschauer Jiddisch (phonetish)

/zugn/ /bruxe/ /kinde(r)/

[zuq] [bruxe] [kinds]

/gekimen/ /stib/

[jikimo] Ρερ]

/hint/ /sitef/

[xint] Ii**]

/kojfn/ /kojlec/ /sojn/ /krout/

[kojfm] [koj+ftj]

/snaj/ /majlex/ /stejtl/

[fnaö [maj+ox] pjtu]

/ma:n/ /la:t/ /ma:se/

[mâ:] [+a:t] [mä:se]

/glajbn/ /drajen/ /sajn/ /lejbn/

[g'l'ajm] [drajen]

[fi(n)] [kro:t]

[faj(n)] t+ejm]

III. Vokalismus

1. Vokale der Haupttonsilbe 1.1. Bestimmung des Phoneminventars des WAJ 1.1.1. Vokalquantität In der bisherigen dialektologischen Literatur wird das Zentraljiddische (ZJ) zu den Mundarten mit Vokalquantitätsunterscheidung gerechnet.1 Das phonologisch distinktive Merkmal der Vokallänge wird dabei als Beibehaltung der phonologischen Verhältnisse der deutschen Determinate angesehen, das areallinguistisch ostwärts abnimmt.2 Dieser Annahme folgend könnte man feststellen, daß das WAJ, ähnlich wie das NHD, ein paralleles System der Langund Kurzvokale aufweist, das ZJ hat die Längeopposition nur zum Teil aufbewahrt, während das NOJ (und somit das StJ) dieses Merkmal gar nicht mehr kennt. Diese Annahme im Sinne eines germanisch-jiddischen Kontinuums erklärt zugleich das Problem der ungleichmäßigen Verteilung der Quantitätsopposition und ihren heterogenen Charakter in verschiedenen ostjiddischen Mundarten als Ergebnis einer Übergangserscheinung. Es gibt in der Tat keine ostjiddische Mundart, die das Merkmal Vokalquantität systematisch verwendet, so daß eine Symmetrie zwischen dem Inventar der Lang- und Kurzvokale entsteht, wie das der Fall im WJ zu sein scheint, vgl. Vokalsystem

i: i e: e

des WJ

3

ü ü: o: o

a a: 1 2

3

Vgl. z.B. Katz (1983: 1029); LCAAJ (1992). Vgl. Jacobs (1990: 58): „... vowel length was phonemic for the relevant instances of West Gmc (namely relevant MHG dialects) that serve as the source of a PY.", U. Weinreich (1992: 19): „Distinctive vowel length occurs in WY, CY and SEY, although it is utilized unevenly ... It may occur also along the westernmost fringes of NEY(Co). In some northeastern border varieties of CY, length seems to be absent."; s. auch Karte 44 im LCAAJ (1992). Nach LCAAJ (1992: 20).

62

III.

Vokalismus

Dagegen weist das ZJ, je nach Auffassung, drei bis sechs Oppositionspaare4 nach dem Kriterium der Vokalquantität auf. Teilweise handelt es sich dabei um heterogene Oppositionen, in denen auch Diphthonge als Quantitätsopponenten angesehen werden, oder sogar um Phonemvarianten, die keine echten distinktiven Minimalpaare bilden können, wie z.B. / u / # /u:/, 5 vgl. Vokalsystem des ZJ

i: i ej ε

6

u/(u:) o:/ou o oj a a: aj

Vom synchronen Standpunkt her kann das Problem der Systemlücken im WAJ-Vokalsystem, das sich in dieser Hinsicht an die allgemeinen Lautverhältnisse im ZJ anlehnt, in gewissem Sinne beseitigt werden, indem man die Quantitätsopposition zum Teil durch eine Qualitätsopposition ersetzt. Es handelt sich dabei besonders um die historische Opposition zwischen /i:/ in jid. j'D [bin] ,Biene; Bühne' und / ε / in jid. j'D [bin], ich bin'. Die qualitative Auffassung dieser Opposition scheint umso mehr berechtigt zu sein, als die Vokalqualität im Jiddischen ebenfalls keine systemhafte Verteilung aufweist und komplementär zur Vokalquantität auftritt.

1.1.2. Vokalqualität Während die oberen Vokale [i] und [u] gespannt und geschlossen sind, ist die mittlere Reihe ungespannt und offen: [] und [o]. Das tiefe [a] kann in dieser Hinsicht entweder als neutral oder ebenfalls als offen (hell) bezeichnet werden. Da in der germanistischen Tradition des NHD die geschlossene Qualität sehr oft als Begleiterscheinung der Vokallänge erscheint7, kommt es oft zur Verwechslung 4

Dazu vgl. z.B. Herzog (1965: 163), Katz (1983: 1029), Jacobs (1990: 69f.), LCAAJ (1992: 19-21).

5

Vgl. das nächste mögliche Oppositionspaar /stru:f/ ,strafe' # /sluf/ ,schlafe', angeführt im LCAAJ (1992: 25) als Beweis für den distinktiven Charakter der Opposition: „ . . . in CY . . . the split in A2 which yielded the contrast / u : / ~ / u / has given rise to a system in which the length futures utilized distinctively throughout."

6

Vereinfacht nach der Abbildung 53.10 in Katz op.cit. „Haupttonvokale des Zentralostjiddischen" S. 1029.

7

Vgl. z.B. Meinhold/Stock (1982: 80): „In deutschstämmigen Wörtern treten die gespannten Vokale allgemein als Langvokale auf, die ungespannten als Kurzvokale, ausgenommen

[ε:] ...."

1. Vokale der Haupttonsilbe

63

der beiden phonetisch unterschiedlichen Merkmale. So werden oft die Geschlossenheit und Gespanntheit der hohen Vokale für phonologische Länge gehalten. Demnach kann es sich bei den langen Realisierungen des geschlossenen / u / Lautes höchstens um eine nicht distinktive Länge als Begleiterscheinung der gespannten Artikulation handeln, die für die artikulatorische Bestimmung des Lautes primär ist. Das / u / Phonem weist z.B. im WAJ eine Reihe von stellungsbedingten bzw. freien Allophone, die von [u] über [u:] bis zum Diphthong [ug] und noch weiter bis zu einem überlangen Triphthong [uue] reichen, wie z.B. im Wort ^ D N [amuual] < dt. einmal, die keine bedeutungsunterscheidende Funktion ausüben und somit keinen phonologischen Wert haben. 8 Auf der anderen Seite kennt das WAJ kein ungespanntes, offenes /ε/, mit dem das geschlossene / u / in eine Opposition eingehen könnte. Anders ist es bei den /¿/-Lauten, wo wir es in der Tat mit einer qualitativen Opposition von einem ungespannten, offenen und zentralerem / ϊ / in ix bin ,ich bin' und einem gespannten, hohen / i / in di bin ,die Biene; die Bühne' zu tun haben. 9 Die Einführung der Opposition / i / ~ /i/, oder genauer gesagt, die Ersetzung der quantitativen Opposition im Bereich der hohen vorderen Vokale durch eine qualitative, geht zweifelsohne auf den Einfluß der koterritorialen slawischen Sprachen und Mundarten zurück, wo diese Opposition eine wichtige Rolle erfüllt, vgl. poln. /byl/ ,war' ~ / b i l / ,schlug', oder lwy ,Löwen' # lwi ,Löwen-' Adj. 10

8

9

10

Vgl. LCAAJ (1992: 25): „The largely CY variants ua~u:~u, 34 derive from a single source, A2,3, and remain in near total complementation; the diphthongal variant occurs in word-final syllable before the velar fricatives r and χ and the apicals d,t,s,z,n,l " Die diphthongierten Varianten von /u:/ (< A2,3) scheinen im ZJ seit langem gut etabliert zu sein, weil sie schon im 19. Jh. schriftlich belegt sind, vgl. die von Prilutski (1920: 42 und Anm. 27) angeführten Beispiele aus der jiddischen Schriftsprache: ^yPIND Ν / a muhel/ , einmal'. Den Vorschlag, für das SOJ die / i / ~ / i : / Opposition als eine qualitative / r / ~ / i / Opposition aufzufassen, hat U. Weinreich (1958b: 235) vgl. LCAAJ (1992: 19 Anm. 8) und Katz (1983: 1030) gemacht. Bin-Nun (1973: 212) beschreibt die phonetischen Eigenschaften des kurzen mitteljiddischen (= ZJ) / i / als: „sehr offener, dunkler nach dem e hinschwebender Laut", zugleich vergleicht es in einer Anmerkung mit dem poln. y (= [f] ). Trotzdem spricht er diesem Laut die slawische Herkunft ab, indem er widersprüchlich behauptet: „Dieses i als Slavismus zu bezeichnen (s. Mieses 36) ist verfehlt. P.[olnische] y-Schreibungen für dt. i beweisen im Gegenteil, daß das p.folnische] i zu hell war, um diesen dunklen Laut wiederzugeben." Bin-Nun op. cit. S. 214 Anm. 1. Wie kompliziert der Status des /i/-Phonems selbst in der slawistischen Sprachwissenschaft ist, zeigt die unterschiedliche Auffassung der obengenannten Oppositionen. In vielen polnischen Grammatiken werden derartige Oppositionen für stellungsbedingt (und nicht distinktiv) gehalten, wo das bedeutungunterscheidende Segment der Opposition bil # byl der palatale [b'] vs. nicht palatale [b] Konsonant ist, der ein /i/ bzw. / i / komplementär verlangt, dazu vgl. z.B. Morciniec/Prçdota (1973: 105f.).

64

III. Vokalismus

Die einzigen phonologischen Quantitätsoppositionen im WAJ sind also / a / ~ /a:/ wie in dem Minimalpaar /hant/ ,Hand' ~ /ha:nt/ ,heute' und die phonologisch weniger belastete Opposition ¡o¡ ~ /o:/ wie im Minimalpaar /hot/ ,(er) hat' ~ /ho:t/ ,Haut'. Nach der Ersetzung der Quantitätsopposition der hohen Vokale durch die Einführung eines hohen mittleren Phonems / i / weist das WAJ-Vokalsystem in dieser Form eine gewisse Ähnlichkeit mit dem koterritorialen Polnisch in bezug auf die Grundvokale auf. Besonders auffallend ist dabei die Verteilung der qualitativen Merkmale in beiden Sprachen, wo den zwei gespannten, mittellangen, hohen Vokalen /i , u/ in beiden Sprachen die ungespannten, kurzen, nicht hohen Vokale /ε, o, a/ gegenüberstehen. Der hohe, kurze, ungespannte Vokal /ϊ/, der dem deutschen / ε / am nächsten steht, nimmt dabei in beiden Sprachen eine Sonderstellung ein, vgl. Grundvokale des Polnischen l\l Iii /u/ Iti loi lai

Grundvokale des WAJ Iii Iii lui Iti loi lai

Vom sprachökonomischen Standpunkt her scheint die Einführung des slawischen / ï / und die damit verbundene Veränderung im Oppositionssystem des Jiddischen schwach motiviert, denn es handelt sich in der Tat um eine phonetisch gering belastete Distinktion gegenüber den angrenzenden Phonemen /i/ und /ε/. 11 Zwischen den Vokalsystemen der beiden koterritorialen Sprachvarietäten gibt es zwar Unterschiede bei Verwendung der Oppositionen Quantität und Nasalität, das jiddische Vokalsystem weist dennoch eine weitere Tendenz zur Angleichung an den koterritorialen polnischen Vokalismus auf. Während das gegenwärtige (Warschauer) Polnisch keine Lang- und Kurzvokale in distinktiver Funktion mehr kennt, verwendet es die phonologische Opposition der Nasalität, übrigens auch nur mit zwei nicht hohen Vokalen /5/ und /ε/. Im WAJ ist dagegen die Quantitätsopposition belastet, während die distinktive Funktion der in vielen jiddischen Mundarten verbreiteten vokalischen Nasalität im allgemeinen in der jiddistischen Sprachwissenschaft nicht anerkannt wird.12 11

12

Für einen nicht slawophonen Hörer ist die Unterscheidung der poln. Minimalpaare /wezcie/ ,nehmt' ~ /wyácie/ ,ihr (seid)' ~ /wiácie/ .hängt!' also der Phonemreihe /ε/, /t/, / i / sehr schwierig. Dies, sowie die auffallende Parallelität in Verteilung der vokalischen Grundphoneme und ihrer Allophone (s. unten), können vielleicht auf einen eher vom Slawischen geerbten Charakter der phonologischen Lautverhältnisse im ZJ hinweisen. Weinreich (1992: 19) betreichtet die nasalen Allophone als stellungsbedingt und spricht ihnen den distinktiven Charakter ab, vgl.: „Nasalized vovels seem to occur in adi varieties of Yiddish, under different conditions, but always as a result of a following n, whether the consonantal neis al segment is itself phoneticaly renderd or not. There is therfore no reason to consider nasalization distinctive in any Yiddish dialect."

1. Vokale der

Haupttonsilbe

65

1.1.3. Nasalität Die nasalierten vokalischen Allophone in der Stellung vor dem Nasal / n / erscheinen in vielen Mundarten des Jiddischen. Im WAJ bilden sie ein wichtiges und auffallendes Charakteristikum des Vokalismus, wo jedem oralen Vokal des Systems ein nasaliertes Allophon entsprechen kann, vgl. z.B. ttftMyD [më(t)J] < dt. Mensch # EPyD [mej] < dt. Messing. Dies läßt sich durch den langen Kontakt mit den koterritorialen polnischen Mundarten erklären, in denen Nasalität eine bedeutungsunterscheidende Funktion hat. Die günstigste lautliche Umgebung für die Nasalierung eines Vokals ist seine Stellung vor einer Konsonantengruppe: Nasal + Reibelaut.13 Im WAJ wird oft vor einfachem Nasal / n / nasaliert, unabhängig von der Vokalquantität des Vokals. Das bewirkt die Übertragung der distinktiven Längeopposition auch auf die nasalierten Allophone, vgl. z.B. das Wortpaar |ND |'-D [mä: mä] < dt. mein Mann. Steht der nasalierte Vokal vor dem Nasal / n / im Wortauslaut vor einem konsonantischen Anlaut oder vor einer Sprechpause, so bewirkt die Nasalierung des Vokals den Nasalschwund, vgl. j^DIp^HN [arâ:kimë], dt. hereinkommen, oder Dip [kirn arä:] < dt. komm herein. Im WAJ läßt sich eine starke Tendenz zu Phonologisierung der Nasalitätsopposition beobachten. Wortpaare, die an den phonologischen Minimalpaarstatus rücken, wie z.B. pD3*B [pïsk] < poln. Pinsk (eine Stadt) # pD'B [pisk] < poln. pysk ,Schnauze' sind im WAJ nicht selten. Mindestens in einem Fall haben wir es mit einer echten Nasalitätsopposition zu tun, die infolge des Schlußkonsonantenabfalls bei Präfixen in Zusammensetzungen des Typs: jltflSN [u:tne] vollziehen' < dt. abtun # [ü:tiie] ,kleiden, anziehen' < dt. antun entstanden ist. Es handelt sich dabei um Minimalpaare bei einer Reihe von präfigierten Verben, in denen die Nasalität des Präfixvokals bedeutungunterscheidende Funktion übernimmt, vgl. /on-/ [ü:] < dt. an- # /op-/ [u:] < dt. ab-. Nach der starken Tendenz zur Vereinfachung oder sogar zur Elision der Schlußkonsonanz, scheint im WAJ die Nasalität die bedeutungsunterscheidende Funktion zu übernehmen. Inwieweit diese Opposition symmetrisch ist, kann anhand des kleinen WAJ-Korpus nicht festgestellt werden. Trotzdem können wir die Nasalität als Grundlage einer distinktiven Opposition im WAJ postulieren.

1.2. Das Phoneminventar des WAJ Nach dem oben Gesagten können wir also das phonologische System des WAJ wie folgt darstellen: 13

Vgl. op. cit. S. 19.

III.

66 Vokalsystem,

des

(l\l) l\l Iii

Vokalismus

WAJ lui (lui)

Ιε\Ι (Iti) ΙεΙ

loi /o:/ (loi) Ιο\Ι

lai /a:/ (lai) la\l I m W A J g i b t es d e m n a c h 13 m o n o p h t h o n g i s c h e V o k a l p h o n e m e , die n a c h f o l g e n d e n d i s t i n k t i v e n M e r k m a l e n klassifiziert w e r d e n können: 1. Vertikale

Zungenlage:

- Hohe: /i, i, u / - Mittlere: / ε , o, o:/ - Tiefe: / a , a : / 2. Honzontale

Zungenlage:

- Vorderzunge: /i, ε / - Zentrale: / ï , a, a : / - Hinterzunge: / u , o, o:/ 3.

Quantität:14

- Kurzvokale: /i, u, ϊ, ε, o, a / - Langvokale: /o:, a : / Qualität: - g e s c h l o s s e n e / g e s p a n n t e Vokale: /i, u / - o f f e n e / u n g e s p a n n t e Vokale: / ϊ , ε, o, ( a ) / 5.

Nasalität:15

- orale Vokale: /i, ï, u, ε, o, o:, a, a : / - nasale Vokale: /i, ü, έ, δ, à / A u ß e r d e n 13 M o n o p h t h o n g e n gibt es drei artikulatorisch s t e i g e n d e D i p h t h o n g e , deren erstes Glied einer der drei nicht h o h e n Vokale / ε , o, a / u n d d a s 14

15

Wie schon oben gesagt, das Merkmal Quantität ist distinktiv nur bei zwei Lautpaaren der Reihe /'a/ und /o/, für die restlichen Laute ist das nur ein phonetisches Merkmal, das weiter differenziert werden kann, z.B. sind die geschlossenen Vokale /i, u/ mittellang, gegenüber den kurzen, offenen /ί, ε, 0, a/. Auch die Qualität geschlossen/gespannt # offen/ungespannt ist hier kein distinktives Merkmal, sondern eine phonologisch irrelevante, phonetische Eigenschaft. Da die Nasalierung im Vokalismus des WAJ eine jüngere und wie es scheint noch nicht völlig etablierte phonologische Erscheinung ist, über deren systemhaften Charakter anhand des kleineren WAJ-Korpus in diesem Forschungstand nicht entschieden werden kann, werden im weiteren die nasalierten Laute, wie in der Jiddistik bisher angenommen, als Allophone zu Grundvokalen betrachtet. Trotzdem scheint es der Autorin bei der synchronen Beschreibung des WAJ sehr wichtig zu sein, die Tendenz zur Phonologisierung der Nasalität in Form des distinktiven Merkmals darzustellen, woraus sich eine gewisse Inkonsequenz der Darstellung ergeben mag, deren sich die Autorin bewußt ist.

1. Vokale der

67

Haupttonsilbe

folgende ein halbkonsonantisches / i / ist, das üblicherweise in der Transliteration durch ein < j > bzw. wiedergegeben wird. Daraus ist es ersichtlich, daß nicht alle artikulatorischen und akustischen Merkmale im Sinne phonologischer Distinktivität proportional im Vokalsystem des WAJ verwendet sind. Daraus ergeben sich vom synchronen Standpunkt her sog. Systemlücken. So gibt es z.B. im WAJ keine phonologisch relevante, d.h. bedeutungsunterscheidende Opposition zwischen / ε / und /ε:/, die symmetrisch zu / o / und /o:/ wäre, und es gibt keine, latent mögliche, Qualitätsopposition / u / # / o / als quasi parallel zu ¡\¡ # / ι / u.ä. Das phonologische Vokalsystem des WAJ ist also vom synchronen Standpunkt her auf keinen Fall symmetrisch und homogen. Mit Hilfe der Diachronie kann man aber gewisse Regularitäten bei seiner Konstituierung nachvollziehen. An dieser Stelle darf vermerkt werden, daß z.B. die Langvokale der beiden Oppositionen des WAJ historisch auf die mhd. hohen Längen /î/, /iu/ und / û / zurückgehen und in diesem Sinne, vom diachronen Standpunkt aus, durchaus systematisch sind,16 vgl. MHD NHD StJ WAJ

/Î/ /ei/ /aj/ /a:/

/iu/ /eu/ /aj/ /a:/

/û/ /au/ /oj/ /o:/

wìp [vi:ρ] Weib /vajb/ /va:b/

liute [ly:t] Leute /lajt/ /la:t/

krût [kru:t] Kraut /krojt/ /kro:t/

Ahnlich lassen sich z.B. die Irregularitäten bei der Distribution der geschlossenen und offenen Vokale im Vokalsystem des WAJ durch Einfluß des koterritorialen Polnisch erklären, was oben gezeigt wurde. Wir können also zusammenfassend feststellen, daß das WAJ Vokalsystem als Resultat des linguistischen Synkretismus der slawischen und germanischen Determinate entstanden ist, in dem sich der Fusionscharakter des Jiddischen ausdrücklich manifestiert.

1.3. Die Allophone des WAJ Teilweise als Ergebnis der Wirkung der im vorigen Kapitel beschriebenen prosodischen und koartikulatorischen Prinzipien, hat das WAJ auf der Ebene der phonetischen Varianten eine Fülle von Allophonen entwickelt, die im weiteren besprochen werden. Da die Nasalierung im Vokalismus des WAJ eine besondere Stellung einnimmt, indem sie stellungsbedingte Allophone zu allen (wie es scheint bis auf

16

Zur diachronen Entwicklung der beiden Langvokale des ZJ /a:/ und /o:/, die historisch auf die protojiddischen Vokale 14 und U4 zurückgehen gibt es zahlreiche Fachliteratur, vgl. z.B. Prilutski (1920), Gutman (1926), Herzog (1968), Jacobs (1990), LCAAJ (1992).

68

III.

Vokalismus

/ï/) Grund vokalen produziert, wird im weiteren davon ausgegangen, daß jedem oralen Phonem ein nasales Allophon entspricht. Die Regeln zur Distribution der nasalen Allophone und ihre distinktive Funktion wurden oben im Paragraph zur Nasalität diskutiert. Diese Bemerkungen können ihre Anwendung bei der Beschreibung von einzelnen Allophonen finden und werden im einzelnen nicht noch mal wiederholt.

1.3.1. Die /¡/-Allophone ( < P J 12,3; U2,3 ) Dieses Phonem geht historisch auf die 12,3 und U2,3 des jiddischen Protovokalismus17 zurück. Das Hauptallophon ist vorn, hoch, breit, geschlossen, gespannt und mittellang, wie in den Wörtern: ^ > [Ii.ρ] ,lieb', Ί Ϊ Π Γ Ο > [bri.do] ,Bru/üder'. Neben dem Hauptallophon treten zwei wichtige phonetische Varianten auf, die unter folgenden lautlichen Bedingungen entstehen. a. „Uberdehnung": der mittellange geschlossene /i/-Laut kann im Wortauslaut vor Konsonant zur vollen Länge [i:] bis zum Triphthong [i je] gedehnt werden, vgl. z.B. töDITyi > [gizi ¡ εχί] < dt. gesucht, mtflttf > [stiieb] < dt. Stube, ptfl > [tijen] < dt. tun. Das Auftreten des überlangen Diphthongs vor dem velaren / r / geht jedoch auf Kosten seiner Vokalisierung, vgl. > [dije] < dt. dir mit dem totalen [r]-Schwund. Eine ähnliche Erscheinung findet übrigens beim Phonem / u / statt, vgl. unten. b. Diphthongierung: darüber hinaus gibt es gelegentlich emphatische Diphthongierung in den Wörtern mit starkem Satzakzent, wo /i/-Laut als steigender Diphthong /ej/, manchmal sogar /oj/ realisiert werden kann, vgl. z.B. das Personalpronomen der 3. Prs. maskulinum, Sg. Ü'N > [ejm] ,ihm', wo /i/ zu einem Diphthong [ej] wird oder das Präfix /iber/ ,über' im Wort ptoyj'iyD'N > [ojbegetne] ,übergetan', wo das /i/ zu einem ebenfalls steigenden, aber qualitativ unterschiedlichen Diphthong [oj] wurde.18

1.3.2. Die /ï/-Allophone (< P J II, Ul) Das Phonem geht historisch auf die Kurzvokale II, und Ul des protojiddischen (PJ) zurück. Die Karte 34 im LCAAJ zeigt in der Gegend um Warschau einen 17

Die vorliegende Abhandlung befaßt sich zwar mit einer synchronen Deskription des WAJ, in diesem Fall wird aber ¿in die in der modernen Jiddistik üblichen Methode der diachronen Identifizierung der mundartlich unterschiedlichen Vokale nach dem Kode des jidddischen Protovokalismus nicht verzichtet. Die Kennzeichnung in dieser Publikation richtet sich durchgehend nach der des LCAAJ, vgl. LCAAJ (1992: llff.).

18

Vgl. eine ähnliche Erscheinung, aber in prävokalischer Stellung in Varietäten des nordöstlicheren Jiddischen, aufgelistet im LCAAJ (1992: 29).

1. Vokale der

Haupttonsilbe

69

Phonemzusammenfall, in dem die Reihen 11,2,3 und Ul,2,3 synchron als ¡ \ ¡ erscheinen. Manche Entwicklungen aus dem WAJ-Korpus unterstützen diese Tendenz, übrigens nur in den Fällen, in denen die distinktive Funktion nicht gefährdet ist, vgl. die folgenden Allophone. a. Qualitätswechsel nach dem Abfall der Schlußkonsonanten: Wenn in einsilbigen Wörtern, solchen wie ix ,ich', bin ,bin', iz ,ist' u.a. aus satzphonetischen Gründen der Schlußkonsonant elidiert wird (z.B. vor konsonantischem Anlaut des folgenden Wortes) kommt es zum Qualitätswechsel: Der kurze, offene, ungespannte Vokal / ï / verwandelt sich in der reduzierten Form in einen ebenfalls kurzen, aber gespannten und geschlossenen /¡/-Laut vgl. z.B.: PN > [iz] ,ist' aber PN > [erj givejn] ,er ist gewesen', J ' I > [bin] ,bin' aber p N S y i > [bi jffuun] ,bin gefahren'. Diese interessante Erscheinung läßt sich vielleicht auch dadurch erklären, daß der phonetische Gehalt des ¡i¡Phonems von geringerem distinktiven Wert ist (vgl. oben). Wenn also nach dem Schlußkonsonatenausfall die auf einen bzw. zwei Laute reduzierten einsilbigen Funktionswörter im Redefluß zu verschwinden drohen, wird durch den Qualitätswechsel des Stammvokals zu /i / eine stärkere phonetische Markierung erzielt.

1.3.3. Die /u/-Allophone (< A2,3) Diachron entsprechen dem Phonem / u / des WAJ die protojiddischen Vokale A2,3. Die historische Entwicklung dieses Phonems bestimmt die Hauptisophone des Ostjiddischen, die es in die u- und o-Dialekte scheidet.19 Das Hauptallophon setzt sich aus folgenden phonetisch relevanten Merkmalen zusammen: Es ist hoch, hinten, gespannt/geschlossen und mittellang, z.B. in INtfl >[tu.k] ,Tag', J D N 1 > [bu.be] < sl. ,Oma', ΠΠΒΦΟ > [mijpu.xe] < hebr. ,Familie'. Anders als sein Vorderzungenpendant geht das /u/-Phonem in keine distinktive Opposition in bezug auf den Spannungsgrad der Artikulationsorgane ein, d.h. nach dem Merkmal gespannt/geschlossen. Selbst als freie Variante scheint das Allophon / ε / im WAJ völlig abwesend zu sein. Dagegen gibt es unter seinen phonetischen Varianten eine starke Tendenz zur Dehnung und Diphthongierung. a. Dehnungserscheinungen: Ähnlich wie bei /i/, entwickelte das mittellange, geschlossene /u./ eine Reihe von gedehnten stellungsbedingten Allophonen [u:], [ue], [uue]. Als besonders günstig für die Dehnung erweist sich die Stellung vor 19

S. Karte Nr. 3 im LCAAJ (1992: 52). Dieses Klassifizierungsprinzip der Ostjiddischen Maa. schlug als erster Birnbaum (1918: 16) vor. Er führte auch die Bezeichnungen uund o-Dialekt ein, um die politisch komplizierteren geographischen Bezeichnungen im damaligen Osteuropa zu vermeiden, dazu vgl. Katz (1983: 1020).

70

III.

Vokalismus

Dentalen /d, t, s, z, n, 1/ während die Labialen und Velaren keine Länge zulassen,20 vgl. WAJ p * 6 [lurdn] < dt. .laden' gegenüber |3NT [zugn] < dt. sagen. Als dehnungsbegünstigend erweist sich auch der Wortauslaut, in dem selbst vor den „kürzenden" Konsonanten das /u/-Allophon länger zu sein scheint, vgl. [tu.g] < dt. ,Tag'. Im Wortauslaut vor Dentalen erscheint im WAJ oft ein überlanger (dreimoriger) Triphthong [uue] mit einem halbkonsonantischen [u] in der Mitte, vgl. tflNtflEP [ftuuet] oder ÍNÜ [ηιΐϋεζ]. Für das WAJ könnte man also eine Reihe von lautlichen Umgebungen bestimmen, die eine graduelle Dehnung des geschlossenen und gespannten /u/-Phonems bewirken: 1. Nicht wortfinale Stellung vor Labial oder Velar ergibt ein kurzes [u] z.B. |1NT [zugn]. 2. Wortfinale Stellung vor Labial oder Velar ergibt ein mittellanges [u.] z.B. 3Ntfl [tu.g]. 3. Nicht wortfinale Stellung vor Dental ergibt ein langes [u:] z.B. [lu:dn]. 4. In der wortfinalen Stellung vor Dental wird die Dehnung bis zur Diphthongierung geführt, so daß ein überlanger Diphthong, eigentlich Triphthong [uue] entsteht, z.B. TN3 [nuuez]. Auf diese Weise entsteht eine Art Dehnungskontinuum der /u/-Allophone, die aber alle im Bereich des selben Archiphonems / U / bleiben und in keinerlei distinktive Opposition eingehen.21 Unter den lautlichen Umgebungen, die eine Diphthongierung des / u / > zum Tripthtong [uue] bedingen, wird oft auch der Wortauslaut vor velaren /r / und /x/ genannt. 22 Im WAJ-Korpus scheint die Uberdehnung vor [x] nicht belegt zu sein. Das Auftreten des Triphthongs [uue] vor einem velaren [r] im Wortauslaut wie im Wort IN 1 [juue] < dt. Jahr, unterscheidet sich jedoch von der obengenannten Dehnung vor Dental und läßt sich, meines Erachtens, durch die Vokalisierung des finalen [r] nach Vokal erklären. 23 Nach der Vokalisierung des [r] entstehen nebeneinander zwei Vokale, die durch den Halbkonsonanten [u] oder [j] getrennt werden. Die Klangfarbe des Halbkonsonanten, dessen Funktion es ist, den im Jiddischen unverträglichen Hiatus zu tilgen, richtet sich 20

21

22 23

Vom diachronen Standpunkt her betrachtet Birnbaum (1923) und nach ihm Herzog (1965), und Jakobs (1992) das Auftreten eines kurzen (aber geschlossenen!) [u]-AUophons vor Labialen und Velaren als Kürzung des historisch langen [u:] Phonems. Dagegen scheint die graduelle Dehnbarkeit (s. weiter das Dehnungskontinuum) des / u / Phonems zu sprechen. Vgl. dagegen die von Herzog (1965) und im LCAAJ (1992) (der Systemhaftigkeit des Vokalinventars im ZJ halber?) postulierte Opposition /stru:fn/ < dt. strafen ~ /slufn/ < schlafen. Vgl. LCAAJ (1992: 25). Jacobs (1990: 83f.) differenziert hier zwischen: Dehnung, die er als „Drawl before: d, t, s, ζ, η, 1 + word boundry" definiert und etwas, weis er Brechung nennt vgl. „Breaking before r, χ in the same syllable. "

1. Vokale der

Haupttonsilbe

71

dabei nach der Artikulationsstelle des davorstehenden Vokals. Und so verlangt der Stammvokal /i/ als Hiatustrenner einen [jJ-Laut, während / u / den Halbkonsonanten [u] bevorzugt, vgl. T D [mije] < dt. mir, gegenüber "ΊΝΠ, [huue] < dt. Haar. Auf diese Weise ergibt sich im Allophonsystem des WAJ eine symmetrische Entwicklung in bezug auf die hohen, geschlossenen Vokale /i/ und /u/. Beide können graduell gedehnt werden, um in der Stellung vor Konsonant im Wortauslaut die Länge eines überlangen, dreimorigen Diphthongs (Triphthong) zu erreichen. Die ideale Symmetrie wird jedoch gestört durch die lautlichen Restriktionen für die /u/-Dehnung (nur vor Dental und /x/-Laut), während die /i/ Dehnung keine derartigen Begrenzungen kennt. An das Ergebnis der Maximaldehnung im Wortauslaut, den Triphthong, gleicht sich lautlich die Sonderentwicklung vor /r/-Auslaut an, in der [r] vokalisiert wird. Genetisch handelt es sich also um unterschiedliche Erscheinungen, die aber phonetisch zusammenfallen, vgl. / i / + K + Wortauslaut > [¡¡ε] + Κ, z.B. StJ /bux/ > [biisx] < dt. Buch, / i / + / r / + Wortauslaut > [ίίε], z.B. StJ /gvir/ > [gviie] < hebr. T 2 3 ,ein reicher Mensch' / u / + dK/x + Wortauslaut > [uue] + dK/x z.B. StJ /stot/ > [tjuuet] < dt. Stadt / u / + / r / + Wortauslaut > [UUE], z.B. StJ /klor/ > [k'l'uuo(/a)] < dt. klar. Es sei dabei nochmals wiederholt, daß die Vokalquantität bei den hohen Vokalen des WAJ keine distinktive Funktion hat, und daß es sich bei den langen oder überlangen Realisierungen der Vokale / i / und / u / lediglich um freie, phonetische Varianten handelt, die aber für das volkstümliche Warschauer Jiddisch in den obengenannten Stellungen sehr charakteristisch sind.

1.3.4. Die /e/-Allophone (< E l ) Grundsätzlich geht das /e/-Phonem auf das kurze protojiddische El zurück. Im WAJ kommt zusätzlich das historische II hinzu, das vor / x / und / r / gesenkt wurde, wie z.B. im Wort tflD^ [text] < dt. Licht. Das Hauptphonem ist ein mittlerer Vorderzungenvokal mit kurzer Quantität und offener, ungespannter Qualität, z.B. in t9^J?ll [vslt] < dt. Welt, ΠΟΝ [tmis] < hebr.,Wahrheit', "[JDyj [ηεόεχ] < slaw, neboha, nieboga ,gottverlassener Mensch'. Das Phonem / ε / hat im WAJ keine langen Allophone. Eine Uberdehnung, wie bei den hohen Vokalen, führt gleichzeitig zur Entstehung eines Diphthongs /ε]/· In einer geschlossenen Silbe, besonders vor /I/ kann das / ε / in Richtung / ï / gehoben werden, so daß die Opposition

[νεΙάε] < dt. Wälder #

72

III.

Vokalismus

[vflds] < dt. wilder aufgehoben werden kann.24 Im Allgemeinen scheint das Phonem / ε / im WAJ gering belastet zu sein.

1.3.5. Die /o/-Allophone (< O l ) Das Hauptphonem geht historisch auf das protojiddische Ol zurück. Es ist ein offener und kurzer mittlerer Hinterzungenvokal [o] von ungespannter Qualität und geringer Lippenrundung, wie z.B. in den folgenden Wörtern SNp [kop] < dt. Kopf, HD [sod] < hebr. ,Geheimnis', [motten] < poln. motac ,verwickeln, schwindeln'. Da das kurze /o/ im WAJ in der phonologischen Opposition mit einem langen /o:/ auf der einen und einem Diphthong /oj/ auf der anderen Seite steht, bleibt wenig Raum für freie phonetische Varianten des Hauptphonems, vgl. E9DKÌ1 [hos] < dt. (du) hast # ΠΠ [ho:s] < dt. Haus # ΗΠ [hojs] < dt. Hose. Historisch gesehen gehören die beiden kurzen, mittleren Phoneme /o/ und / ε / zu den Vokalen, die am wenigsten mundartliche Varianten besitzen.25 Unter synchronem Standpunkt kann man bei ihnen auch eine geringe Zahl der freien Allophone beobachten.

1.3.6. Die /o:/-Allophone (< U4) Diesem Phonem entspricht im protojiddischen Vokalsystem U4. Das Hauptallophon steht in Quantitätsopposition zum kurzen offenen [o]. Historisch handelt es sich um einen Diphthong, (der auf das mhd. / ü / zurückgeht), den das StJ beibehalten hat, und welcher im WAJ monophthongiert wurde,26 vgl. ΠΠ StJ 24

Diese Besonderheit beobachtet auch Bin-Nun (1973: 196) der unter seinen Beispielen auch die durch Schaechter (1986: 129f.) in der Jiddistik bekannt gewordene ma. Form [ite] < dt. alle. In diesem Zusammenhang führt Schaechter weiter Zusammensetzungen mit diesem Lexem an, darunter ^ND [ils mol] < dt. alle Mal ,immer' oder ,nacheinander, immer mehr' (S. 129 Anm. l).43a es sich in diesen Beispielen um eine isolierte Entwicklung von a > i handelt, ist es angemessen zu erwägen, ob wir in diesem Fall nicht eher mit einer kontaminierten Form zu tun haben, und zwar das poln. ile .wieviel' + dt. Mal, die durch eine Lehnübersetzung aus dem poln. ile razy ,immer' wörtl. „wieviel Mal", durch andere kontaminierte Adverbien des Typs wie z.B. jid. male vos < poln. malo co ,beinahe' wörtl. „klein weis" und schließlich durch Homophonie unterstützt wurde.

25

Bezüglich / o / < O l , vgl. LCAAJ (1992: 30) bezüglich / ε / < E l vgl. ibidem. S. 26.

26

Nach Herzog (1965: 183) ist das die am meisten komplexe historische Entwicklung im jiddischen Vokalismus. Herzog und nach ihm Jacobs (1990: 77 Fußnote 26) halten die völlig durchgeführte Monophthongierung, deren Ergebnis ein / o : / ist, für Systemzwang

1. Vokale der Haupttonsilbe

73

[hojs] > [ho:s] < dt. Haus. Im WAJ dominiert das monophthongische Allophon, mit einer leichten aber bemerkbaren Tendenz zur geschlossenen Qualität [o:], bei der die Lippenrundung jedoch kleiner ist als bei dem dt. geschlossenen /o/-Allophon, das mit einer Vorstülpung der Lippen artikuliert wird. Der monophthongierte Laut gilt in jedem Fall als das Primärmerkmal des WAJ. Dennoch findet man als freie Variante in der historischen Position von U4 auch den Diphthong [ou] vgl. z.B. (tflJJp'IN [o:x/ o:x/ ouxet] < dt. auch, oder D'HN [aro:s/ arous].27 Vom synchronen Standpunkt her läßt sich die unterschiedliche Realisierung des Phonems /o:/ sprachpragmatisch erklären. Während das [o:] in einer akzentuell neutralen Stellung vorkommt, erscheint es als ein Diphthong in markierter Tonstelle oder als emphatische Betonung.

1.3.7. Die /a/-Allophone (< Al; E l + / r / ) Das kurze zentrale und tiefe Phonem / a / geht grundsätzlich auf das protojiddische / A l / zurück z.B. p N D [maxn] < dt. machen, JJDND [mame] < poln. mama ,Mutter', Π2Γ0 [matse] < hebr. ungesäuertes Fladenbrot'. Im WAJ kommt diachron gesehen ein gesenktes / E l / in der Stellung vor /r/ dazu, vgl. [+ar(e)ne(n)] < dt. lernen.28 Außer den nasalierten, stellungsbedingten Allophonen, gibt es im WAJ kaum phonetische Varianten zu dem Hauptallophon. Synchron gesehen steht / a / am Anfang einer Reihe von

27

28

eines länge-unterscheidenden Vokalsystems. Ich halte es eher für eine Parallelentwicklung zur Monophthongierung von 14, da wie oben festgestellt wurde, weist das Vokalsystem von WAJ keine durchgehende Quantitätsopposition auf. Herzog (1965: 187) hält die Instabilität der Lautformen in der freien phonologischen Varianz für einen Beweis für das junge Alter der Diphthongierung: „The recency of the CY monophthongization is nowhere more apparent then in the inconsistent variation and distribution of [o, O, ou] - a state of affairs that is highly suggestive of a process to young to have achived stability". Im WAJ ist es in der Tat so, daß das lange /a:/-Phonem, das infolge einer Monophthongierung zustande kam, kein diphthongisches Allophon (mehr?) aufweist, während das Phonem /o:/ in dieser Hinsicht eine gewisse Instabilität zeigt. Die Tendenz zur Senkung der Vokale in der Position vor / r / ist zweifelsohne eine sprachuniversale Lautwandlung, die in vielen deutschen und auch jiddischen Maa. belegt ist, vgl. dazu insbesondere Bin-Nun (1973: 215) und LCAAJ (1992, Karte 10). Die Senkung / e / > / a / vor / r / ist dennoch im germanischen weniger verbreitet und Shmeruk (1964) rechnet diese Lautentwicklung (sowie ihre orthographische Kennzeichnung in der Schriftsprache) zu den bemerkenswerten Unterschiede zwischen dem West- und Ostjiddischen. In diesem Zusammenhang ist es angemessen hinzuweisen, daß die gleiche lautliche Gesetzmäßigkeit bei der Integrierung der deutschen Lehnwörtern in das koterritoriale Polnisch gilt, vgl. dt. wert > poln. wart, dt. kerben > poln. karbowaé dt. treffen > poln. trafic usw., dazu vgl. Kaestner (1939).

74

III.

Vokalismus

distinktiven Opponenten / a / # /&:/ # /aj/, was, wie im Falle von /o/, wenig Raum für freie Varietäten übrig läßt, vgl. unten.

1.3.8. Die /a:/-Allophone (< 14) Das lange, zentrale und tiefe Phonem /a:/ bildet unter diachronem Aspekt eine parallele Erscheinung zum Phonem /o:/. Es geht historisch auf einen Langvokal II zurück, das sich im StJ zum Diphthong / a j / entwickelte und im WAJ wieder monophthongiert wurde, z.B. Ü-Π StJ [vajp] > [va:p] < dt. Weib. Die Monophthongierung, die sich historisch grundsätzlich auf die germanische Komponente bezieht, wurde im WAJ auch auf einzelne Vokabeln der hebräischen Komponente übertragen, vgl. Hl^yD StJ [majse] > [ma:se] < hebr. ,Geschichte'. Es gibt - wie es scheint - keinen derartigen Einfluß auf die Lexeme der slawischen Komponente. 29 Synchron steht das /a:/ in einer distinktiven Längeopposition zum kurzen / a / auf der einen und einem Diphthong / a j / auf der anderen Seite, vgl. tflNT [zat] < dt. satt # [za:t] < dt. Seite # tfl"T [zajt] < dt. sät (Imp. Pl. von säen). Anders als bei dem parallelen, langen /o:/-Phonem läßt das WAJ keine diphthongierten phonetischen Varianten in dieser Stellung zu. Es gibt nämlich keine Ubergangsformen zwischen /a:/ und /aj/, welche in der Reihe der / o / Laute der Diphthong /ou/ annimmt. 30 Das monophthongierte Allophon /a:/ gehört zu den obligatorischen Charakteristika des WAJ, und seine Ersetzung durch den Diphthong [aj] bei einem Warschauer Muttersprachler weist auf Dialektmischung hin.

1.4. Die Diphthonge des WAJ Das WAJ besitzt drei artikulatorisch steigende Diphthonge, ¡t\/, /aj/, /oj/, die in distinktive Oppositionen mit den entsprechenden Monophthongen, die jeweils das erste Glied des Diphthongs ausmachen, eingehen. Dabei werden viele homophone Formen des StJ im WAJ lautlich differenziert, vgl.: p y ^ S t J /Isbm/ > /lebm/ < dt. neben # StJ /tebm/ > /tejbm/ < dt. leben D»11 StJ /vajz/ > /va:s / < dt. weis # StJ /vejs/ > /vajs/ < dt. ich weiß mtfl StJ /tojb/ > /to:p/ < dt. Taube # StJ /tojb/ > /tojp/ < dt. taub 29

30

Bin-Nun (1973: 307) behauptet eine solche Beeinflussung, bringt aber keine überzeugenden Beispiele an. In der jiddistischen historischen Sprachwissenschaft wird die Monophthongierung 14 > /a:/ für älter und gefestigter als die von U4 > /θ:/ gehalten, weis sich unter anderem im synchronen Mangel an Übergangsallophonen manifestiert.

1. Vokale der

75

Haupttonsilbe

Außer den echten Diphthongen mit distinktiver Punktion gibt es, wie oben diskutiert, diphthongische Allophone der hohen geschlossenen Vokale ¡ \ ¡ und /u/. Die überlangen, fallenden Diphthonge / ¡ ε / und /ue/ gehören lediglich zu positioneilen Allophonen und können somit nicht zu bedeutungsunterscheidenden Phonemen gerechnet werden. Dennoch bilden sie zusammen mit den steigenden, phonologischen Diphthongen /ej/, /aj/, /oj/ ein symmetrisches Gebilde im Vokalinventar des WAJ, zumal die steigenden Diphthonge ebenfalls positioneile triphthongische Varianten herausgebildet haben. Wir können also feststellen, daß das WAJ ein vollständiges System von Triphthongen besitzt, die als stellungsbedingte Varianten vorkommen. Daraus ergibt sich ein symmetrisches Bild im Diphthongen/Triphthongen Inventar des WAJ, vgl.: /Με/ l\l Ιε\ζΙ /ej/ Iti

lui /ϋϋε/ loi /oj/ /ojε/ lai /aj/ /aje/

1.4.1. Die /ej/-Allophone (< E2, E5) Grundsätzlich geht der Diphthong /ej/ auf das protojiddische E5 zurück. Historisch und phonetisch handelt es sich dabei um eine Uberdehnung eines offenen /^/-Lautes über /ε:/ bis zum Diphthong /ej/ vgl. z.B. ^ytflttf [ftejtl] < dt. Städtlein ,Schtetl', p}?^ [Isjbm].31 Es ist zu bemerken, daß dieses Phonem im WAJ nicht in Lexemen der hebräischen noch der slawischen Komponente vorkommt. Unter diachronem Standpunkt haben wir es also mit einer exklusiven germanischen Entwicklung zu tun. In der Stellung vor / r / im Silbenauslaut entwickelte der Diphthong eine überlange phonetische Variante [eje]. Dieser Triphthong ist infolge der Vokalisierung von / r / entstanden, dem sich zusätzlich ein Sproßvokal / ε / angeschlossen hat. 32 Das mittlere halbvokalische Element [j/i] hat somit die hiatustrennende Funktion übernommen, vgl. [veje] < dt. wer, T i y Q [fejet] < dt. Pferd. Wie oben erwähnt, fällt der Diphthong /ej/ lautlich mit einem emphatischen Allophon von /i/ zusammen, z.B. /ejm/ < dt. ihm. 31

32

An dieser Stelle darf bemerkt werden, daß slawophone Sprecher, die die Dehnung eines offenen, mittleren Vokals oder einen geschlossenen Vokal im Deutschen realisieren wollen, genau das gleiche Resultat wie im Jiddischen erreichen, d.h. einen Diphthong /ej/ oder /oj/. Das kann als Hinweis auf die Ähnlichkeit der Artikulationsbasis in beiden Sprachen gelten. Die Klangfarbe des Sproßvokals wird von unterschiedlichen Linguisten unterschiedlich bestimmt, vgl. z.B. Bin-Nun (1973: 244).

76

III. Vokalismus

1.4.2. Die /aj/-Allophone (< E2,3,4) Der Diphthong / a j / scheint im WAJ die höchste Frequenz unter allen Diphthongen zu haben. Er tritt auch in Lexemen aller Sprachkomponenten auf. Dies läßt sich durch den diachronen Zusammenfall von einer Reihe von Vokalen im ZJ, die im StJ immer noch unterschieden werden, erklären. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß die ei/ai -Isoglosse eine der wichtigsten Scheidungslinien in der ostjiddischen Dialektologie ist.33 Historisch geht also der Diphthong auf eine Serie von Langvokalen zurück, die in dem protojiddischen System unter /E2/ und /E3/ zusammengefaßt wurden z.B. in [fnaj] < dt. Schnee, py 1 ? [lajgji] < dt. legen, TD [bajs] < dt. böse usw. Hinzu kommt als historische Grundlage des Diphthongs ein diphthongisches Element /E4/, das auf das mhd. /ei/ zurückgeht z.B. in ptattf [ftajn] < dt. Stein. Die diphthongische Aussprache der Langvokale wurde auch auf die Lexeme der hebräischen und slawischen Komponente übertragen, vgl. z.B. "ΠΠ [xajdo] < hebr. Cheder ,religiöse Elementarschule', ΠΟΒ [pajsax] < hebr. ,Pesachfest', D y ^ ' ^ S [p+ajtsis] < poln. plecy ,Schulter', }Π"Τ [zajde] < slaw. djed/ poln. dziad. In der Stellung vor /r/ im Wortauslaut folgt dem Diphthong ein ungenetischer Sproßvokal /ε/. Dieser Sproßvokal erfüllt in der Stellung vor dem Sonanten /r/ die Funktion eines Gleitlautes und wird ähnlich wie bei /oj/ im StJ schriftlich markiert. Da ein Auslaut-/r/ in postvokalischer Stellung im WAJ vokalisiert und an den davorstehenden Vokal total assimiliert wird, erscheint in dieser Position ein triphthongisches Allophon /aje/, in dem der letzte vokalische Teil sich oft an das Hauptelement des Diphthongs angleicht und schließlich die Form /ajo/ oder sogar /aje/ annehmen kann, vgl. iy"E3 [faje] < dt. Feuer. Der Diphthong hat ein monophthongisches Allophon / a / in den (klitischen) Formen des Negativpronomens und der homophonen Richtungspräposition | " p [ka] < dt. kein, gen entwickelt.34

33

34

Vgl. LCAAJ (1992: 27): „The merger of E2,3 with E4 is criterial to the definition of all of EY. [...]. The realisation of the EY merger as aj is criterial for CY." Da es sich dabei, wie es scheint, um eine isolierte Form handelt, wäre es angemessen zu überprüfen, ob und inwieweit die homophonen Formen der im Altpolnischen und in den koterritorialen poln. Maa. verbreiteten Richtungspartikel poln. ka / kaj ,nach; wohin, wo', einen Einfluß auf die Entwicklung im WAJ hatten. Zu den poln. Formen vgl. Klemensiewicz/Lehr-Splawmski/Urbañczyk (1981: 477).

2. Unbetonte

Vokale

77

1.4.3. Die /oj/-Allophone (< 02,3 und 0 4 ) Dem Diphthong /oj/ liegen, wie den übrigen Dipthongen des WAJ, historische Längen des protojiddischen Vokalismus /02,3/ sowie das diphthongische Element /OA/ zugrunde, z.B. ÜTÜ [grojs] < dt. groß, tfl'163 [tojt] < dt. Tod, tot, D'Q [bojm] < dt. Baum. Der Diphthong /oj/ kommt auch in der hebräischen, und der slawischen lexikalischen Komponente vor, vgl. z.B. HÜD [moj/ε], hebr. Moses, Ί20Ν [ojtso] < hebr. ,Schatz', E/JP'lp [kojletj] < poln. kolacz ,eine Art Weißbrot', tfl'^S [plojt] < poln. plot ,Zaun'. Bemerkenswert ist, daß die Distribution des /oj/-Diphthongs im WAJ mit der Verteilung dieses Zwielautes im StJ, gegenüber der im NOJ, übereinstimmt. Ähnlich wie der Diphthong /ej/ hat der Diphthong /oj/ in der Stellung vor /r/ im Silbenauslaut, einen Triphthong /oj/ entwickelt, der infolge der Vokalisierung von /r/ zustande gekommen ist. Anders als bei /t\/ fand der Sproßvokal /ε/, der zwischen den Diphthong /oj/ und das Auslauts-/r/ eindringt, auch in der Schriftform des StJ ihren Ausdruck, vgl. ""IJJ'ltfl [toje/o] < dt. Tor. Der gleiche Sproßvokal begleitet den /oj/-Dipthong im WAJ auch in der Stellung vor /x/ im Auslaut, hier wird er übrigens orthographisch nicht mehr gekennzeichnet, vgl. -pin [xojex] < dt. hoch. Das WAJ hat darüber hinaus ein monophthongisches Allophon /o:/ entwickelt, das im Wortauslaut vorkommt, vgl. Ml [go:] < hebr. ,ein nicht-Jude', 'UJ?! [gino:] < dt. genau. Da Formen mit diesem Allophon nur im Wortauslaut vorzukommen scheinen, liegt es nahe, daß es sich bei der Wandlung /oj/ > /o/ um den Ausfall des schwächeren Diphthongteils in dieser Position handelt.

2. Unbetonte Vokale Die Beschreibung und Klassifizierung der unbetonten Vokale in den jiddischen Maa. stellt in der jiddistischen Forschung ein wichtiges Problem dar. Oft verwendet man zur Bezeichung der schwachtonigen Vokale den Terminus SchwaLaut, der stillschweigend oder pauschal mit dem in der Germanistik üblichen reduzierten / θ / identifiziert wird. Andere Forscher sprechen in diesem Zusammenhang eher von einem Indifferenzlaut35 der Schwachtonsilbe. Auf diese Weise wird der Schwachtonlaut strukturell durch seine Distribution, d.h. seine Stellung in einer unbetonten Silbe, und nicht phonetisch, d.h. durch seine akustisch-artikulatorischen Eigenschaften, definiert. Es wird also davon ausgegangen, daß es im Vokalsystem des Jiddischen einen Abschwächungslaut, 35

Vgl. z.B. Timm (1986: 215ff.).

78

III.

Vokalismus

genannt Schwa- oder Indifferenzlaut, gibt, dessen Qualität unbestimmbar oder irrelevant ist, weil er sich von den übrigen Vokalen durch seine Distribution in der unbetonten Silbe unterscheidet. Die jiddischen Maa. stellen jedoch in dieser Hinsicht ein sehr komplexes Bild dar, was in den Abhandlungen mancher deskriptiver Forscher zum Ausdruck kommt. In Bin-Nun's Monographie über das ostgalizische Jiddisch (1973), in Gutman's Deskription des Lodzer Jiddisch (1928), vor allem aber in Prilutski's dialektologischen Forschungen wird an mehreren Stellen die Vielfalt der Realisierungen und die Schwierigkeit ihrer systematischen Erfassung explizit angesprochen.36 Dabei ist nicht so sehr die Qualität der Schwachtonvokale unbestimmbar, wie viel mehr ihre Distribution innerhalb der Schwachtonstellung. Eine Regularität in der Verteilung der wohl differenzierten Schwachtonvokale / ε / und /o/, wie sie Jacobs (1990: 79) für einen Teil des ZJ festgestellt hat, findet z.B. im WAJ keine Bestätigung.37 Die Probleme bei der Bestimmung der Lautqualität auf der einen Seite und der systematischen Verteilung der Schwachtonvokale auf der anderen Seite sind wahrscheinlich eines der Gründe für die weitgehende Vereinfachung der Deskription des Vokalismus der unbetonten Silbe in den jiddischen Maa.38 Eine gewisse Rolle hat dabei mit Sicherheit die Übertragung der Verhältnisse des (Neuhoch-)Deutschen auf das Ostjiddische bei seiner Standardisierung gespielt. Infolge der sog. Abschwächung, eines in den germanischen Sprachen, wie es scheint, andauernden Reduktionsprozesses, kommt in den unbetonten Silben des NHD nur noch ein reduziertes /θ/ vor. Die Abschwächung hängt mit dem festen, dynamischen Initialakzent zusammen, der zugleich die Grundlage für die prosodische Differenzierung in Haupt- und Schwachtonsilben bildet. So wie das Schriftdeutsche hat das Schriftjiddische, und somit das StJ, in dieser Hinsicht nur ganz wenige Konzessionen gegenüber seinen Maa. gemacht. Tatsache ist aber, daß die jiddischen Maa., darunter das WAJ, in den schwachtonigen Silben eine Fülle von bunten Vokalen aufweisen.39 In diesem Zusam36

37

38

39

Bin-Nun (1973: 246) äußert sich darüber folgendermaßen: „Überdies lassen sich diese verschiedenen Laute [=Schwalaute] kaum erfassen, noch weniger schrifftlich fixieren . . . " Jacobs (1990: 79ff.) geht zwar phonologisch auch von einem Indifferenzlaut / θ / aus, phonetisch wird er dann aber doch weiter differenziert in eine [-ε] -Realisierung für den unbetonten Auslaut /-er/ und ein nicht [-ε] d.h. [r, 0, a] in jedem anderen vokalischen Auslaut. Die von Jacobs vorgeschlagene Verteilung haben zahlreiche Proben an Minimalpaaren mit den WAJ-Informanten leider nicht bestätigt. Vgl. LCAAJ (1992: 34), wo die unbetonten Vokale durchgehend durch ein / θ / wiedergegeben werden; Kiefer (1995) verwendet / θ / inkonsequent, z.B. für den Verbalauslaut / - e n / (vgl. z.B. S. 162). Vgl. z.B. Bin-Nun op. cit. „Die Schwalaute variieren überall sehr stark und sind häufig in den verschiedensten Nuancen anzutreffen." In diesem Zusammenhang wäre es angemessener, wenn schon überhaupt nötig, statt von einem Schwa-Laut von einer Reihe von „Schwach"-Lauten zu sprechen, die in den tonlosen Silben vorkommen.

2. Unbetonte

Vokale

79

menhang ist die germanistische Aufteilung der Silben in schwachtonige mit einem Reduktionslaut und haupttonige mit einem Vollvokal für das WAJ nicht angemessen. Im WAJ ist es meines Erachtens nicht nötig, neue Qualitäten für die unbetonten Vokale einzuführen, wie es manche Forscher für andere jiddische Maa. tun. 40 Im WAJ können alle Vokale als Schwachtonvokale (und zum Teil als Sproßvokale) vorkommen, jedoch werden die offenen [ι, ε, o, a] in dieser Punktion bevorzugt. Es sei dabei unterstrichen, daß in der Artikulation des WAJ-Vokalismus die Lippen fast inaktiv bleiben, so daß die phonemischen Unterschiede vor allem durch die unterschiedliche Zungenstellung erzielt werden. Die schwache Tätigkeit der Lippen bei der Artikulation der Vokale, und die demzufolge schwächere artikulatorische Ausprägung der offenen Vokale im WAJ, resultieren aus dem Mangel einer distinktiven Opposition zwischen runden und breiten Vokalen im System des Ostjiddischen, wie sie im Deutschen (und Westjiddischen) existiert. Dies sowie die hinzutretende akustische Markierung „unbetont" können dazu führen, daß die Laute (insbesondere für ein ungeschultes, d.h. nicht muttersprachliches Ohr) für eine deskriptive Identifizierung nur schwer zugänglich sind.41 Wie schon oben angesprochen, stellt, wie es scheint, die weitgehend verbreitete idiolektale als auch dialektale Inkonsequenz bei der Distribution der einzelnen schwachtonigen Phoneme, die oft wichtige lexikalische und grammatische Funktionen übernehmen, ein viel schwierigeres Problem dar. Der phonetische Auslaut [-ε] kann z.B. sowohl die Realisierung des grammatischen Morphems /-er/ als auch die des /-e/ wiedergeben. Dabei kommt es zur Neutralisierung einer sehr wichtigen grammatischen Opposition, zwischen adjektivischer Genusmarkierung maskulin und feminin, bei deren konsequenter Annahme der Umbau des ganzen grammatischen Systems postuliert werden müßte. Da sich aber bei der Verteilung dieser phonetischen Realisierungen keine Stabilität feststellen läßt, können bei diesem Stand der Forschung keine festen Regeln für den strukturellen Umbau (z.B. Aufgabe der Genusunterscheidung bei der Adjektivflexion) formuliert, sondern nur eine Tendenz in dieser Richtung angemerkt werden. Beim gegenwärtigen Forschungstand auf dem Gebiet der jiddistischen dialektologischen Phonologie läßt sich vielleicht die Vielfalt der bunten Vokale in den schwachtonigen Silben des WAJ sowie die Inkonsequenz bei ihrer Distribution am einfachsten durch den Einfluß des koterritorialen Polnisch erklären. 40

Vgl. z.B. Bin-Nun's schwachtoniges [o] in /avek/ und haupttoniges [a] wie z.B. in /alts/, die sich artikulatorisch voneinander nur darin unterscheiden, daß die unmittelbare lautliche Nachbarschaft sie beeinflußt. Die akustische Unterscheidung wird ja durch die Stellung „unbetont" vorausgesetzt, also zusätzliche Unterscheidung heilte ich für überflüssig.

41

Dieses Problem macht sich bei dem phonetischen Transkript bemerkbar, wo eine möglichst getreue prosodisch-phonetische Wiedergabe des Geredeten und nicht die orthographischphonologische Identifizierung angestrebt war.

80

III. Vokalismus

Dies macht sich besonders bei den Auslautvokalen bemerkbar. Da das Polnische einen mechanischen, penultimativen Wortakzent hat, gibt es im allgemeinen keine Differenzierung zwischen Haupt- und Schwachtonvokalen. Darüber hinaus können durch die ausgebaute Flexion im Polnischen in den Endsilben alle (bunten) Vokale auftreten. Das Polnische ist eine hochflektierte Sprache mit einer Vielfalt an vokalischen Flexionsendungen; dabei spielen die Nasale f%¡ = [ε] und /$,/ = [5] eine wichtige Rolle. In den polnischen Mundarten, sowie in der Umgangssprache, gibt es aber eine starke Tendenz zur Denasalierung der nasalen Auslautvokale, was auch zum Teil in der Orthoepik der Standardsprache sanktioniert wurde. So gehört die denasalierte Aussprache des [ε] im Auslaut zur Sprachnorm, vgl. poln. widzç siç ,ich sehe mich' > [vidze S'E] , lubiç tç wystawç ,ich liebe diese Ausstellung' > [lub'8 te vistave] usw. In einem Teil der poln. Maa., darunter in Masovien, wo Warschau liegt, bezieht sich die Denasalierung der Auslautvokale auch auf den Hinterzungennasal j\¡ = [5], deren Resultat als offenes [o] im Wortauslaut erscheint, vgl. poln. lubiq bawic siç pilkq noznq, ,sie haben es gern, mit dem Fußball zu spielen' > [lubio bavits' s'e pitko(m) no3no(m)].42 Auf diese Weise wird das koterritoriale, dialektale Polnisch durch die frequenten Auslautvokale [ε] und [o] gekennzeichnet. Das sind auch die zwei Vokale des WAJ, die im absoluten Auslaut oder vor konsonantischem Anlaut im WAJ am häufigsten vorkommen. Diese spezifische, dialektale Lautentwicklung ist zwar in der polnischen Stadtmundart Warschaus nicht zu beobachten, wohl aber in den angrenzenden Kleinstädten, aus denen sich die jüdische Bevölkerung Warschaus zusammensetzte. Da das Hauptvokalsystem des WAJ, wie wir schon oben gesehen haben, eine Tendenz zur Angleichung an das Phoneminventar des koterritorialen Polnisch aufweist, ist es durchaus legitim, einen lautlichen Einfluß der kontaktsprachlichen Umgebung auch auf den Auslautvokalismus des WAJ anzunehmen.

2.1. Vokale der Nachsilben43 Solange keine Distributionsregeln für die einzelnen bunten Vokale in der Schwachtonsilbe aufgestellt werden, ist es berechtigt, von einem Indifferenzvokal mit vielen allophonischen Realisierungen zu sprechen. Dennoch muß 42 43

Vgl. Dejna (1993: 194 und Karte 43). Im folgenden werden nur die Flexive und Derivative besprochen, die das lautliche Element /-e-/ haben (mit der Ausnahme von dem Pluralflexiv -im, der Vollständigkeit halber miteinbezogen wurde. Die übrigen Endsilben (meistens Derivative mit etymologischen bunten Vokalen) weichen in der WAJ Aussprache in meisten Fällen nicht vom der StJ ab.

2. Unbetonte Vokale

81

ausdrücklich unterstrichen werden, daß man die idiolektalen sowie innerdialektalen Schwankungen bei der Verteilung der einzelnen bunten Vokale als Indiz für den beginnenden Prozeß des Flexionsabbaus im WAJ ansehen müßte. Es handelt sich dabei um einen komplexen Lautwandel, der mit stellungsbedingter Elision von /r/ im Wortauslaut zusammenhängt. Dies bezieht sich insbesondere auf die gleiche Realisierung der Auslaute /e/ und /-er/, wie z.B. in der im WAJ Korpus belegten Wortgruppe /klebene leber/ ,Kalbsleber' als [kiejbene lejbe]. Eine andere wichtige Folge wäre der Formenzusammenfall der beiden bestimmten Artikel /der/ und /di/ nach dem /r/-Ausfall in eine klitische Form /de/ und damit die Neutralisierung einer wichtigen Genusopposition.44 Es sei nochmals daran erinnert, daß bei den Endsilben, die auf einen Konsonanten ausgehen, im allgemeinen zwei Realisierungen unterschieden werden: reduzierte und volle, was mit den Regeln der WAJ-Prosodie zusammenhängt, vgl. oben. Vor einem vokalischen Anlaut übernehmen die Schlußkonsonanten die Funktion des im WAJ obligatorischen Hiatustrenners und werden somit voll realisiert. Vor einer Sprechpause oder vor konsonantischem Anlaut wird der Auslautkonsonant normalerweise vokalisiert bzw. elidiert. Dabei wird sehr oft die Qualität des Endsilbenvokals umgefärbt. In bezug auf die soziolektalen Unterschiede bei der Realisierung der Endsilben läßt sich feststellen, daß die Aussprache der Endsilben, d.h. ihre schriftsprachliche vs. sprachökonomische Realisierung, eines der wichtigsten Kriterien zur Bestimmung der „Mundartlichkeit" eines Sprechers des WAJ ist. Es ist also ein dialektales Merkmal, das einem Durchschnittsprecher bewußt ist, und über welches er in einer konkreter Situation entscheiden kann. Daxaus erklärt sich auch die individuelle Inkonsequenz der Informanten des WAJ-Korpus bei Realisierung derselben Auslaute. Im folgenden begrenzen wir uns auf die Beschreibung der Haupttendenzen und die häufigsten allophonischen Realisierungen der Schwachtonvokale im WAJ.

2.1.1. Realisierung der Endung /-en/ 4 5 1. [-η ] / [-in] - volle Realisierung des Konsonanten vor einem vokalischen Anlaut, /genumen/ > [gisnimen/ïn] .genommen'; die Qualität des Vokals variiert zwischen einem offenen mittleren [-ε] und einem höheren offenen [ϊ]. 44 45

Zu einem ähnlichen Formenzusammenfall ist es im heutigen Niederländisch gekommen. Zum finalen [-n]-Schwund vgl. Prilutski (1937: 28-59), zur Nasalierung s. op. cit. besonders 33-38.

82

III.

Vokalismus

2. [-ε] - der Schlußkonsonant wird vor einem konsonantischen Anlaut elidiert; der Auslautvokal bekommt gegenüber dem in der vollen Realisierung der Endsilbe etwas verdumpfteren [ε] die Qualität eines offenen mittleren Vorderzungenvokals, vgl. /gezen/ > [giezejs] ,gesehen'. 3. [-ε] - nach dem Ausfall des Schlußkonsonanten überläßt der eliminierte Schlußnasal oft einen Nachklang im nasalierten Auslautvokal,46 z.B. /gestanen/ > [giejtans] ,gestanden'. 4. [-o] - der gleiche Laut wird mit hinterer Zungenlage realisiert, was qualitativ einen Vokal in Richtung der /o/-Laute ergibt. Da aber die Lippen in der Schwachtonstellung kaum tätig sind, haben wir es hier mit keinem klaren runden, mittleren und hinterem [o]-Laut zu tun, sondern eher mit einem (über)offenen nicht hohen Hinterzungenvokal, der leicht in ein in bezug auf die Lippenstellung neutrales / a / übergehen kann, vgl. /kumen/ > [kimo] ,kommen'. 5. [5] - manchmal läßt sich auch bei der Hinterzungen-Artikulation des Vokals ein leichtes Nachklingen des eliminierten Nasals bemerken, vgl. /kumen/ > [kimô] ,kommen'.

2.1.2. Realisierung der Endsilbe /-er/ 4 7 - vor vokalischem Anlaut wird der Schlußsonant / r / voll ausgesprochen, wobei das genetische [-r-] die Funktion eines Hiatustrenners übernimmt, z.B.: /zejer a sejner/ > [zsjE-ra-Jajno] ,ein sehr schöner'. 2. [-o] - im absoluten Auslaut, vor Sprechpause oder vor Konsonant im folgenden Anlaut wird der /r/-Laut vokalisiert und mit dem davorstehenden Vokal zusammengeschmolzen, was als Resultat die Qualität eines offenen, mittleren Hinterzungenvokals im Auslaut ergibt, vgl. z.B. /zixer/ > [zixo] ,sicher'. Die Qualität dieses Allophons scheint dabei viel klarer als bei der Endung /-en/ als ein echtes [o] ausgeprägt zu sein. 3. [-ε] - wird der /r/-Laut vor anlautendem Konsonant einfach elidiert, so ist der gebliebene Auslautvokal ein klarer mittlerer und offener Vorderzungenvokal, vgl. /mit der muter/ > [ητΐΐ-ίε mite] ,mit der Mutter', oder /vinter-vakatsjes/ > [vint£-vakatsj£s] ,Winterferien'. 1. [-8-Γ-]

46

47

Der LCAAJ verzeichnet die nasalierte Variante in dieser Position im ZJ, verwendet für sie aber konsequenterweise die Schwa-Notierung [θ] vgl. op. cit. S. 20. Rein phonetisch handelt es sich im allgemeinen bei der Aussprache des /r/-Lautes im WAJ um ein uvulares [r], manchmal sogar um ein frikatives gutturales [«]. Der Einfachheit der Transkription halber wurde eine einheitliche Notierung [r] eingeführt. Wenn die artikulatorische Differenz zwischen den /r/-Lauten von Relevanz ist, wird das durch die genaue IPA-Notierung vermerkt.

2. Unbetonte

Vokale

83

4. [-u] - dieser Auslautvokal kommt zustande als Ergebnis der Vokalisierung des hinteren [R]-Lauts in Richtung /u/-Laut und totaler Angleichung der beiden Laute in hebräischen Wörtern mit einem etymologischen /u/ im Auslaut, z.B. Ί Π Ό StJ [sider] > WAJ [sidu] »festliches Gebetbuch'.

2.1.3. Realisierung der Endung /-e/ 1. 0 - Apokope; vor einem vokalischen Anlaut wird sowohl das etymologische als auch das infolge des Schlußkonsonantenschwunds entstandene /-e/ apokopiert, vgl. die Regel der optimalen Silbenstruktur, z.B. /der tate arbet/ > [de tat-arbet] ,der Vater arbeitet', /men hot/ > [m-ot] ,man hat'. Auch vor einem folgenden homorganen Anlaut wird der vokalische /ε/-Auslaut elidiert, vgl. /der tate dertsejlt/ > [de ta-detsaj(l)t) ,der Vater erzählt', vgl. oben die Regel der Silbenökonomie. 2. [-ε] - der /-e/-Auslaut wird in der Stellung vor Konsonant voll als [ε] realisiert, unabhängig von der Herkunftssprache des Lexems, vgl. /di frume/ > [di frime] ,die fromme', /milxome/ > [milxume] ,der Krieg', /kacke/ > [kai'kie] ,Ente'. 3. [-i] - manchmal wird der unbetonte Auslautvokal ein wenig verdumpft, so daß er leicht in die artikulatorische Stellung des höheren, offenen Vorderzungen-Vokals [i] übergeht, dann werden die obigen Beispiele entsprechend als [difremi], [milxurm] realisiert. Wörter slawischen Ursprungs scheinen dieses Allophon nicht zuzulassen, wenn ein etymologisches /-a/ zugrunde liegt, also *[kaj£kï] ist nicht möglich.48 4. [-o] - die Endung /-e/ kann auch durch das offene, mittlere und hintere Allophon repräsentiert werden. Dies scheint besonders in den substantivischen Internationalismen der Fall zu sein, bezogen auf ein ursprüngliches /-a/ in der Entlehnungssprache, vgl. /grupe/ < poln. grupa > [grupo], /simpatje/ < poln. sympatia > [simpatjo].49 Nicht ohne Belang mag für die Verbreitung des [o]-Auslauts im gesprochenen WAJ auch die traditionelle, aschkenasiche Aussprache des liturgischen Hebräisch50 sein, in der die unbetonten Vokale voll realisiert werden. In dieser nur auf die sakrale Verwendung der heiligen Sprache begrenzten Aussprache 48

49

50

Vielleicht, weil der Auslaut / r / in der Originalsprache die morphologische Markierung Plural bedeutet, also poln. kaczka ,Ente' # kaczki ,Enten'. Dieses Beispiel deutet darauf hin, daß die Integration der aus dem Polnischen entlehnten Wörtern auf / - a / im WAJ nicht über den „klassischen" Abschwächungslaut / θ / geht, sondern auf einer Hebung der Zunge in Richtung des hinteren /o/-Lautes erfolgt, vgl. dazu neuere oder gelegentliche Entlehnungen im WAJ-Korpus z.B. poln. tesciowa > WAJ [tEfl'ovo] ,die Schwiegermutter'. Dazu vgl. u.a. Bin-Nun (1973: 301), Timm (1986: 343-352).

84

III. Vokalismus

wax der im WAJ charakteristische [-o]-Auslaut nicht unbekannt, denn dabei entspricht einem etymologischen /a/-Auslaut die Realisierung [-0], vgl. hebr. !13t3D [mata'na] > jid. [ma'tons] # liturgisches hebr. [ma'tono] ,Geschenk'.

2.1.4. Realisierung der Endsilbe /-es/ 1. [-es] - die Endung repräsentiert die beiden Pluralmorpheme der Substantive (hebräischen Ursprungs) auf ΓΤ1- und auf D^-, die lautlich in der Form [-es] zusammengefallen sind. Die grammatische Pluralkennzeichnung scheint von dem üblichen Konsonantenschwund im Wortauslaut vor Konsonant verschont geblieben zu sein, so daß die Endung immer voll realisiert wird. Der Vokal erscheint, wie in der Endung /-en/, in zwei allophonischen Varianten. Der offene [-e]-Laut wie z.B. in ΠΥΤΤΙΝ hebr. /otijot/ > jid. [ojsijes] Buchstaben', /'podloges/ < poln. pod'logi > ['podlogies] ,Fußböden' scheint das Grundallophon im WAJ zu sein. 2. [-is] - das zum Teil schriftsprachlich unterstützte /ε/ kann aber auch in Richtung [1] verdumpft werden. Besonders häufig kommt das Allophon [î] in Entlehnungen aus dem Slawischen vor, in denen ihm ein identischer Laut zugrunde liegt, vgl. /plejtses/ ,Schulter, Rücken' > [plajteïs] < poln. plecy, oder /vontses/ ,Schnurrbart' > [vôfeïs] < poln. w^sy.

2.1.5. Realisierung der Endsilbe /-im/ 1. [-im] - die Endung repräsentiert den Plural der Maskulina auf D*-, der sich mit wenigen Ausnahmen auf Lexeme der semitischen Komponente bezieht. Auch dieses Pluralmorphem beleibt intakt vor einem konsonantischen Anlaut. Das Hauptallophon ist der hohe, mittlere und offene Laut [1], z.B. Ο'ΕΗΠ /xadosim/ > [hadujïm] ,Monate'. 2. [-επί] - eine weitere Öffnung des Hochvokals [ï] verwandelt ihn phonetisch in den Laut [ε], der - wie wir gesehen haben - öfter in einer freien Variation mit [Ξ] in der Schwachtonsilbe steht. Besonders günstig für die Öffnung scheint dabei die Umgebung von einem [-r] in der Stammsilbe zu sein, vgl. ΟΠΊΠ /xadojrim/ > [xadojrem] ,die Zimmer'.

2.1.6. Realisierung der Endsilbe /-ele/ 1. [-a+ε] - wir haben es hier mit zwei schwachtonigen Lauten zu tun. Der erste Laut wurde vor einem hinteren [+] verdunkelt, während der Auslaut vokal die

85

2. Unbetonte Vokale

Qualität eines offenen mittleren Vorderzungenvokals bewahrt, vgl. /mejdele/ > [majda+ε] ,Mädchen'.

2.1.7. Realisierung der Endsilbe /-(e)lex/ 1. [-a+ax] - gegenüber dem StJ tritt im ZJ eine Verdunkelung der Vokalqualität in der pluralischen Diminutivendung auf, z.B. /mejdelex/ > [majda+ax] ,Mädchen, (PI.)'. Die Verdunkelung des Vokals wurde durch zwei koartikulatorische Faktoren bewirkt, durch den davorstehenden, dunklen [+]-Laut, sowie durch den folgenden velaren /x/-Laut. In Wörtern, die den Plural auf /-er/ bilden, kommt hinzu vokalharmonische Angleichung der schwachtonigen Pluralendung /-er/ an den Hinterzungenvokal [a], vgl. /kinderlex/ > [kinda+ax] .Kinderchen'. Ahnlich wie die diminutive Pluralendung verhält sich lautlich die adjektivische Ableitungssilbe /-lex/, vgl. /kinstlex/ > [kinst+ax] ,künstlich'. Bei mehrsilbigen Wörtern und beim schnellen Sprechtempo fallen die beiden Wortbildungssilben zusammen; vgl. substantivisches /mencelex/ ,Leutchen' > [më£(a)4ax] # /menclex/ ,menschlich' > [mët[4ax]. 2. [-4ox] - neben der /a/-Variante tritt im WAJ die Endsilbe auch mit einem noch hinteren Allophon [o] auf, z.B. /frajlex/ > [fra:4ox]. Die Realisierung gilt als charakteristisches Merkmal des WAJ, was den Warschauer Muttersprachlern die Bezeichnung „varsever loxes" gegeben hat. 51 Auf diese Weise ergibt sich eine „kreisförmige" Entwicklungsrichtung der Vokalqualität gegenüber dem etymologischen dt. -lieh > StJ -lex > ZJ -lax > WAJ -lox. i

\

ε

o

\

/ a

2.2. Vokale der Vorsilben In den unbetonten Präfixen kommen im WAJ - wie es scheint - nur die drei bunten Vokale [a, ε, ί] vor und ihre Aussprache weicht nicht wesentlich von der StJ ab. Im Gegensatz zu den Endsilben handelt es sich bei den Vorsilben ausschließlich um Derivative. Vielleicht deswegen ist die Vokalverteilung in ihnen festgelegt und bleibt auch individuell bei den Informanten konstant. 51

Vgl. Prilutski, Anm. (1912a: 28).

86

III. Vokalismus

2.2.1. Realisierung der Vorsilbe /ge-/ 1. [gi-]/ [gie-] - charakteristisch für das WAJ ist die palatalisierte Aussprache der beiden velaren Explosive /k/ und /g/ vor einem Vorderzungenvokal.52 Der Vokal in der Vorsilbe /ge-/ nach dem palatalisierten /g/ wird meisten als ein weniger offener [-s]-Laut realisiert, der bis zu einem hohen [i] reichen kann. 2. [¡¡- ] - nicht selten wird die Palatalisierung von [g] bis zu seiner Vokalisierung geführt, was nicht ohne Wirkung für den folgenden Schwachtonvokal bleibt. Der etymologische /e/-Laut lehnt sich koartikulatorisch an den Halbvokal [j] an und erscheint als geschlossenes, hohes [i], vgl. /er iz gekumen/ > [ri jikimo] ,er ist gekommen'. 2.2.2. Realisierung der Vorsilbe /der-/ [da-] - der phonetische Übergang von /der-/ > /da-/ läßt sich leicht durch die Senkung des mittleren [ε] vor /-r/ und die totale Assimilation des /r/ erklären. Dieser Lautwandel wurde zusätzlich durch den /a/-Vokal in den übrigen untrennbaren Präfixen /ant-/, /ba-/ /fa(r)-/, sowie durch das im Jiddischen häufige protetische /a/, z.B. in /avek/ unterstützt. Hinzu kommt auch der Formenzusammenfall mit dem slawischen homophonen Präfix do-, das in ostslawischen Sprachen als [da-] realisiert wird.53 Folgt der Vorsilbe [da-] ein vokalischer Anlaut, so wird der /-r/-Auslaut als Hiatustrenner aktiviert, vgl. /dertsejln/ > [dateajln] ,erzählen' aber /derendikn/ > [darendikn] ,beendigen'.

2.2.3. Realisierung der Vorsilbe /tse-/ [tsï-] - es handelt sich dabei um einen Formenzusammenfall der Vorsilbe /tse-/ [ts-] < dt. zer-, und des trennbaren Präfix /tsu-/ [tsi-] < dt. zu-, der im WAJ 52 53

Die Palatalisierung wird dabei durch ein nachfolgendes [i] phonetisch gekennzeichnet. Dieses Präfix stellt einen interessanten Fall vor, in dem der Zusammenfall der germanischen Silbe dt. er- > bair. der- und des poln. do- auf Grund ihrer Homophonie, interessante Folgen für Lexeme aus beiden Komponentensprachen haben kann, die die Eigenständigkeit des Jiddischen sehr gut veranschaulichen können. So geht das jid. derbakn ,zu Ende backen; durchbacken' offensichtlich auf das gleichbedeutende poln. dopiec und nicht auf ein dt. „er-backen" zurück. Auf der anderen Seite, erscheint das poln. dokuczac ,nagen' als Lehnwort im Jidd. in der schwankenden Form als integriertes polnisches Lexem dokuën oder aber als eine präfigierte jid. Ableitung (von einem nicht existierenden Verb *kucen) derkucn. Die in beiden Fällen, bei derbakn und derkuön vorkommende „falsche" Segmentierung veranschaulicht den Systemzwang des Jiddischen gegenüber seiner Komponentensprachen; weitere Beispiele dazu s. bei Geller (1994: 82f.).

2. Unbetonte

Vokale

87

aufgrund der Homophonie zustande gekommen ist. Die Folge derartiger Konvergenz ist, daß Lexeme wie /tserlegn/ ,zerlegen' und /tsulegn/ ,hinzufügen' im WAJ als Homophone zu betrachten sind.

2.3. Der Sproßvokal (Svarabhaktivokal) Da im WAJ das Auslauts-/-r/ vokalisiert bzw. elidiert wird, betrachten wir, anders als Bin-Nun (1973: 244), die Herausbildung eines Vokals nach Diphthong vor auslautendem /-r/ nicht als Sproßvokal, sondern als eine vokalische Realisierung von /-r/, vgl. jid. /ber / ,Bär' > [bieis], jid. /gor / ,gar' > [guua] (vgl. auch oben unter Diphthongen). Unter dem Terminus Sproßvokal fassen wir hier also nur einen ungenetischen Vokal auf, dessen Aufgabe es ist, eine bestimmte Konsonantenfolge aufzulösen und artikulatorisch durch einen Gleitlaut zu vereinfachen. Wie bei den übrigen schwachtonigen Vokalen, erscheint der Sproßvokal im WAJ nicht als ein einheitliches [θ] sondern in unterschiedlicher qualitativer Form. Seine Klangfarbe richtet sich dabei oft nach der lautlichen Umgebung: Steht er vor dem velaren /x/-Laut, so wird er durch einen Hinterzungenvokal [o] oder [a] repräsentiert, in allen übrigen Fällen kann es als [ε] oder [i] erscheinen. Für die Verteilung der Sproßvokale gelten für das WAJ im Allgemeinen die gleichen Regeln wie für die übrigen Maa.,54 dabei hat das WAJ eine stärkere Vorliebe zur Verwendung des Sproßvokals als das StJ. Als besonders günstig erweist sich dabei die lautliche Umgebung von /x/, z.B. /milx/ > [mrfox],Milch' und /r/, z.B. /varmes/ > [vareims] ,Mittagessen'. Die im LCAAJ (1992: 24) zusammengefaßte allgemeine Regel für den „automatischen" Einschub eines epenthetischen Vokals umfaßt die Stellungen als „Konsonantengruppe mit /l, r, n, j / als dem ersten Element", die im Wort- (oder Morphem)auslaut steht, vgl.: /1/+ Κ z.B. /elf/ > [εΙεί]; / r / + Nasal z.B. /lernen/ > [+arenen] ,lernen'; / r / + Κ z.B. /barg/ > [barak] ,Berg'; / n / + Κ z.B. /finf/ > [ftnef] ,fünf ; / j / + / x / z.B. /ojx/ > [ojax] ,auch'; / j / + Κ (selten) /hojf/ > [hojef] ,Hof usw. Während sich die Klangfarbe des Sproßvokals üblicherweise koartikulatorisch an den folgenden Konsonanten angleicht, hängt seine Quantität vom Sprechtempo ab. Weder die Qualität noch die Quantität des Sproßvokals sind aber von phonologischem Belang. Die nicht distinktive, sondern „pragmatische" Funktion des Sproßvokals (Erleichterung der Artikulation) ist dem WAJ Sprachteilhaber bewußt und die „Regeln" seiner Anwendung werden im Sprachgebrauch den prosodischen Regeln unterworfen.

54

Dazu vgl. Bin-Nun (1973: 244-246), Timm (1986: 232-235), LCAAJ (1992: 23f.).

IV. Konsonantismus

1. Einführung Im Vergleich zu den Vokalen weichen die Konsonanten des WAJ vom StJ Lautsystem, dessen Grundlage das Nordostjiddische bildet, in geringerem Maße ab. Gegenüber dem Vokalismus stellt der Konsonantismus im Jiddischen übrigens ein umfangreicheres und komplizierteres System dax, so daß Jiddisch sicherlich zu den Konsonantensprachen gerechnet werden kann.1 Das relativ ausgebaute Konsonantensystem verdankt das Jiddische seinem Fusionscharakter, hauptsächlich seinen beiden nicht germanischen Komponentensprachen.2 Vom Hebräisch-Aramäischen und vor allem vom Slawischen sind ins Jiddisch sowohl neue Phoneme als auch ihre Kombinationen eingegangen. Dadurch ist im Jiddischen nicht nur ein selbständiges Konsonantensystem entstanden, sondern es haben sich auch besondere phonotaktische Regeln der Konsonantenverknüpfungen und ihrer Distribution durchgesetzt. Dieses Lautsystem deckt sich mit keinem der entsprechenden Systeme seiner Determinatensprachen und stellt somit eine eigenständige Entwicklung des Ostjiddischen dar.3 Unter anderem verfügt das Jiddische über neue lautliche Oppositionen, die seiner germanischen Determinantsprache unbekannt sind. So wurde, z.B. im 1

2

3

Typologisch kann man Sprachen mit reichem Konsonantismus und weniger ausgebautem Vokalismus als „Konsonantensprachen" (z.B. die slawischen Sprachen) bezeichnen, gegenüber den „Vokalsprachen", wo das Vokalsystem komplizierter ist als das der Konsonanten. In bezug auf das Jiddische bemerkt Weissberg (1988: 82): „Das Standardjidd. weist fünf Vokale gegen einundzwanzig Konsonanten auf, ohne die Palatalisierungen, Konsonantenhäufungen und Varianten mitzurechnen, [es ist] eine ,konsonantenfreundliche' Sprache." In dieser typologischen Hinsicht lehnt sich das (Ost)Jiddische offensichtlich an seine slawische Umgebung an und unterscheidet sich somit vom Deutschen und seinen Mundarten. Der Mischcharakter des phonetischen Systems war schon den ersten Phonetikern des Jiddischen klar, vgl. z.B. Ch. Tschemerinski (1913: 48): „Bazunders grojs iz di bedejtung fun fonetik in aza sprax vi jidis, vos iz gemist fun dejtc, hebreis, un tejlvejz, slavis. Di fersejdene klangen fun alerlej fremde spraxen hoben, farsteht zix, g e m u ζ t bajten zix, ojsglajxn zix unter ejn klangen-sistem, lojt feste klolim fun judiser fonetik. " [Zitat in der Tansliteration der Originalorthographie vom Autor], Sehr oft trifft man unberechtigte Verallgemeinerungen, die den Konsonantismus des StJ dem des StD gleich stellen, vgl. z.B. Dyhr/Zint (1988). In einer Abhandlung zum Lubliner Jiddisch, also einer wie das WAJ städtischen Mundart des Zentraljiddischen, steht eine auf einer stereotypen Aufnahme ruhende Feststellung: „Weil der Konsonantismus mit Hinblick auf Inventar und Distribution dem deutschen sehr ähnlich ist, werden im folgenden nur solche Fälle erwähnt, die i m Kontrast z u m Stdt. o d e r S t j . s t e h e n . " (S. 155).

2. Klassifizierung der Konsonanten nach Artikulationsart und

Artikulationsstelle

89

Bereich der dentalen und alveolaren Obstruenten das System um eine Reihe von Phonemen mit der Markierung ,stimmhaft' gegenüber dem Deutschen vervollständigt, wodurch die folgenden neuen Oppositionen entstanden sind: r o w [[abes] ,Schabat' # Dyiim [¿abes] ,Frösche' P N I [gants] ,ganz' # Π3Ν3 [gandz] ,die Gans'. Trotz des Verlustes der labialen Affrikate /ßf/ im Konsonanteninventar sind die Affrikaten im Jiddischen stärker vertreten als im Deutschen. Darüber hinaus ist eine neue Opposition im Bereich der palatalen Laute entstanden, einer Phonemkategorie, die dem Deutschen ebenfalls fremd ist, vgl. z.B. 13 ytflNtfl [tati nu] ,Na, Vater' # nyt3KM [tatijiu] .Väterchen'. Die Einführung der palatalisierten Konsonanten in vielen ostjid. Mundarten hat jedoch in keinem Fall zu einem symmetrischen System der harten und weichen Konsonanten geführt, wie es in den slawischen Koterritorialsprachen der Fall ist, woher diese Laute stammen. Im allgemeinen werden die Konsonanten des WAJ nach folgenden artikulatorischen und akustischen Kriterien klassifiziert: a. Artikulationsart (bzw. Uberwindungsmodus) b. Artikulationsstelle c. Sonorität (Beteiligung der Stimmlippen) d Palatalität

2. Klassifizierung der Konsonanten nach Artikulationsart (bzw. Uberwindungsmodus) und Artikulationsstelle Die Klassifizierung der jiddischen Konsonanten im Hinblick auf die Artikulationsart bzw. den Uberwindungsmodus weicht nicht wesentlich von den drei Komponentensprachen des Jiddischen ab. Die Differenzierung der Artikulationsstellen ist im Jiddischen jedoch komplexer und vollständiger im alveolaren Bereich als im Hebräischen und im Deutschen. Auch in dieser Hinsicht gleicht sich das WAJ seiner koterritorialen Sprache, dem Polnischen, an. Wie es scheint, geht der Ausbau des alveolaren Bereichs auf Kosten der velaren Laute. Phonetisch und funktional werden die Konsonanten des WAJ allgemein in die Kategorie der Obstruenten und Sonanten aufgeteilt. Die Klasse der Obstruenten unterteilt man weiter in Verschlußlaute (Plosive): /ρ, b, t, d, k, g,/ und Engelaute (Frikative): /f, v, s, z, J, 3, j, x/ sowie ihre Kombinationen, die Affrikaten /te, (fe, Jj Unter den Sonanten unterscheidet man die Nasale /m, n, ji/ und Liquiden Λ +, r/.

90

IV.

Konsonantismus

Die folgende Tabelle stellt die Hauptphoneme des WAJ dar, wichtigere Allophone stehen in den Klammern. Das Konsonantensystem

—^Art.stelle labial Art.art Plosive b Ρ f Frikative V Affrikaten Liquiden Nasale m

im WAJ

alveolar

dental

palatal

t, t' d

k, (k')9. (9)

s

ζ

I

3

IS

dz

1

Φ

I. (r) η

velar / (pharyngal)

4

j

X. (h)

(κ)

(Γ)

R

Ρ

(α)

2.1. Die Verschlußlaute Es gibt im WAJ drei Paare der Verschlußlaute, die sich lediglich durch die Beteiligung der Stimmlippen bei ihrer Artikulation unterscheiden: die sth. /b, d, g/ und die stl. /p, t, k/. Sie bilden ein symmetrisches System mit Ausnutzung der Artikulationsstellen: labial, dental und velar. Im Gegensatz zur germanistischen Tradition ist eine weitere Unterscheidung der Plosive nach Artikulationsstärke in schwache Lenes und starke Fortes im WAJ überflüssig, denn die Lenes werden grundsätzlich stimmhaft und die Fortes stimmlos realisiert.4 Das Kriterium der Artikulationsstärke ist in bezug auf den jid. Konsonantismus auch deshalb unangebracht, weil im Jiddischen keine Aspirierung der stimmlosen Explosive /p, t, k/ auftritt. Sie werden also mit ungespannten Sprechorganen artikuliert. Es ist tatsächlich die Stellung der Glottis, die die relevante Opposition zwischen /pakn/ ,packen' # /bakn/ ,backen'; /tales/ ,Gebetschal' # /dales/ ,Mißgeschick; Armut', /kejt/ ,Kette' # /gejt/ ,er geht' aufrechterhält. Das Fehlen der Aspirierung und des Knacklauts ist neben dem Ausbau der Affrikaten- und Palataloppositionen einer der wichtigsten Unterschiede im Konsonantenbereich, der das Jiddische von seiner germanischen Determinantsprache entfernt. 5 4

5

Die Abweichungen von dieser allgemeinen Regel im Wortschatz hebr. Abstammung werden unten diskutiert. Bin-Nun (1973: 333) schreibt zwar die „Unbehauchtheit der Fortes" den Verhältnissen im Mhd. zu, er fügt jedoch gleichzeitig hinzu: „höchst wahrscheinlich spielt aber dabei auch das Sl.[awische] eine gewisse Rolle."

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsart

und

Artikulationsstelle

91

2.1.1. Schwund der Dentale im Wortauslaut In der schwachtonigen Stellung, d.h. in klitischen Formen sowie bei Konsonantenhäufung an der Wortgrenze, kommt es oft zur Elision des Auslautkonsonanten. Der Schwund des dentalen Verschlußlautes im Wortauslaut ist, z.B. bei /un/ < dt. und im StJ lexikalisiert. Die gleiche Erscheinung kommt in vielen jid. Maa. bei der Negationspartikel /nist/ vor, die fast ausschließlich als [níj1] realisiert wird. Zur Aussprachenorm wird im WAJ auch die Elision des Dentalsuffixes /-t/ in der Verbalendung der 2. Prs. Sg. /-st/, vgl. /vest esn/ ,wirst essen' > [vesssn]. Das verbale Dentalsuffix schwindet auch, wenn es einem anderen Obstruenten folgt, vgl. /xob gekojft a vogn/ ,(ich) habe gekauft einen (Pferde)Wagen' > [xo jikojf^a vugn], /er maxt epes/ ,er macht etwas' > [ejs max epis]. Diese Entwicklung läßt sich auch als Folge der im WAJ angestrebten prosodischen Regel der optimalen Silbenstruktur (s. weiter) interpretieren.

2.1.2. Ungenetisches [-(ε/it] im Wortauslaut Auch das StJ kennt zahlreiche Beispiele für die umgekehrte Erscheinung, wo im Wortauslaut ein ungenetisches /-t/ vorkommt, z.B. /lignt/ < dt. Lügen, /najert/ > dt. nur, /demlt(s)/ < dt. damals. Manchmal erscheint ein ungenetisches /-t-/ im Wortinnern, z.B. /mestn/ < dt. messen.6 Das WAJ weist darüber hinaus eine starke Tendenz zum Anhängen eines ungenetischen Dentalsuffixes im Wortauslaut mancher Adverbien auf. Es handelt sich dabei um eine Erscheinung, die in vielen jiddischen Maa. vorkommt und auch dem Altjiddischen nicht fremd war,7 aber sicherlich nicht mit der Regularität vorkam, in der sie im Ostjiddischen zu beobachten ist. Das ungenetische Dentalsuffix [-t] kommt im WAJ u. a. in folgenden Adverbien vor: /dervajl/ ,derweil', /alejn/ ,allein', /amol/ ,einmal; ein Mal', /fundanen/ ,νοη dannen', /ojx/ ,auch', /dernox/ ,danach', die entsprechend als [devait], [a+ajnet], [amu4et], [findanet], [ojxet], [danuxet] realisiert werden. Es ist charakteristisch, daß das ungenetische Suffix /-et/ hauptsächlich nach dentalen Sonorlauten oder nach dem velaren /χ/ vorkommt. Formen wie *[nuxdomot] < /nox dem/ ,nach dem' oder *[mejet] < /mer/ ,mehr' sind im WAJ nicht anzutreffen. Die Distribution nach einem dentalen Sonorlaut /n/ oder /I/ erinnert an den Einschub von /-d-/ in den Verkleinerungsformen der Substantive auf Nasal, um 6

7

In diesem Zusammenhang wird manchmal als Beispiel für das ungenetische /-t-/ das jid. fundestwegn ,trotzdem' angeführt, vgl. z.B. Weissberg (1988: 103). Meines Erachtens handelt es sich aber bei dieser Form um eine Kontamination der homophonen Formen von dt: desto weniger 4- dt. deswegen. Vgl. dazu Timm (1986: 324f.).

92

IV.

Konsonantismus

die beiden Halböffnungslaute zu dissimilieren, vgl. /stejn/ ,Stein' > /stejndl/, /korn/ > [korndl] usw.8 Das Anhängen einer zusätzlichen Silbe in einer Mundart, die sonst sehr stark dazu tendiert, Wortformen zu kürzen, scheint vom lautlich-pragmatischen Standpunkt her unmotiviert zu sein. Außer, wenn wir annehmen, daß es sich dabei um sog. rhythmische Gründe handelt. Diese der allgemeinen lautlichen Tendenz entgegengesetzte Erscheinung ließe sich meines Erachtens morphologisch (und diachronisch) wohl als Wortartmarkierung erklären. Wie oben unterstrichen wurde, kommt die zusätzliche Silbe am Wortauslaut der Adverbien hinzu, einer Wortart, die im Nhd. nicht mehr morphologisch markiert wird.9 Im Jiddischen aber, in Anlehnung an das Mhd. und das Slawische, gibt es eine bemerkbare Tendenz zu einer deutlichen, obwohl nicht systematischen Aussonderung der Wortklasse Adverb. Das geschieht durch bestimmte syntaktische und morphologische Mittel, vgl. z.B. /blind/ ,blind' Adj. gegenüber /blinderhejt/ ,blind' Adv.10 Wir dürfen also in Betracht ziehen, daß die bestimmten Adverbien im WAJ angehängte ungenetische Nachsilbe /-et/ zum Teil ein Resultat des Systemzwangs ist, in dem sich die Tendenz zur morphologischen Markierung der Wortart Adverb manifestiert.

2.2. Die Engelaute Die Engelaute des WAJ bilden vier symmetrische Paare der stimmlosen und stimmhaften Konsonanten, die entsprechend im labio-dentalen, dentalen, alveolaren und velaren Bereich artikuliert werden. Dazu kommt im Subsystem der Engelaute des WAJ der sth. palatale Laut /j/, der eine Sonderstellung als Halbkonsonant einnimmt, vgl. sth. /v, z, 3, R/ {/]/) sti. /f, s, ;, x/. Ahnlich wie die Verschlußlaute werden Engelaute im WAJ üblicherweise schlaff artikuliert, so daß die Unterscheidung in Fortes und Lenes überflüssig ist. Die folgenden Oppositionen beruhen ausschließlich auf der Stellung der Glottis bei Realisierung der einzelnen Engelaute, vgl. /vil/ ,er will' # /fil/ ,vieP, /a zax/ ,eine Sache' # /a sax/ ,viel (< hebr.)', / a i er/ ,so daß er' # /asur/ ,Assyrien', /rirn/ ,rühren' # /rixn/ ,riechen'. 8

9 10

Zu der Punktion von /-d-/ als Gleitlaut in der Gruppe /-n+d+l-/ und seiner Parallelen in den süddeutschen Maa. vgl. Bin-Nun (1973: 336f.). Vgl. die Gruppe der sog. Adjektiv-Adverbien im Nhd., z.B. eng (Adj./Adv.). Zur Wortbildung der jid. Adverbien durch Suffigierung s. Mark (1978: 350ff.). Nicht ohne Einfluß auf die starke Tendenz zur morphologischen Differenzierung bleibt die obligatorische Adverbialmarkierung im koterritorialen Poln., vgl. slepy ,blind' Adj. = jid. blind, slepo ,blind' Adv. = jid. blinderhejt.

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsart

und

Artikulationsstelle

93

2.2.1. Das Fehlen des Hauchlautes im WAJ Gegenüber dem StJ fehlt im Konsonanteninventar des WAJ der pharyngaJe Hauchlaut [h]. Seine Distribution im modernen Jiddisch ist auf Wort und Morphemanlaut begrenzt, wo er in den meisten ostjid. Mundarten elidiert wird. 11 Der [h]-Schwund tritt vereinzelt auch in den Mundarten auf, die nicht auf dem tatsächlichen Gebiet der [h]-elidierenden Sprachen liegen sowie im StJ, vgl. jid. /arojs/ < dt. heraus. Der [h]-Schwund im gesprochenen StJ betrifft im gleichen Maße auch die hebräischen Lehnwörter, vgl., z.B. Π ^ Π - E f t O [roJa|Jone] ,Neues Jahr', ΪΠΠ-}'}? [ej|nore] ,böses Auge; böser Spruch'. Im WAJ sowie in vielen anderen Maa. tritt der Schwund regelmäßig in den schwachtonigen oder klitischen Formen der Funktionswörter auf [h-] ein, z.B. /men hot/ ,man hat' > [m-ot], /mir hobn/ ,wir haben' > [mir-ubm], /hinter undz/ ,hinter uns' > [inter-indz]. Darüber hinaus wird vielfach die Opposition zwischen einem velaren [χ] und einem pharyngalen [h-] im WAJ aufgehoben. Entweder verschwindet das [h] im Anlaut oder es gleicht sich dem [x]-Laut an und fällt mit ihm zusammen. Es lassen sich also im WAJ zwei Entwicklungen beobachten: [h]-Schwund und [h]-Zusammenfall.

2.2.1.1. [h]-Schwund Das WAJ tendiert stark zur Elision des Spiranten [h-], und zwar nicht nur in den klitischen Formen der Funktionswörter, sondern auch in den autosemantischen Formen, vgl. /hundert un tsen/ ,hundertundzehn' > [indetintsejn], /in harten/ ,im harten' > [in-artn], /tsi vet hajnt/ ,ob wird heute ...' > [tsi-t-a:nt], /got vet helfn/ ,Gott wird helfen' > [got-et-elfn]. Dabei unterliegt der durch den [h-] Ausfall entstandene vokalische Anlaut der Regel der optimalen Silbenstruktur, vgl. /fun historje/ ,νοη (der) Geschichte' > [fu-nistorje], /di historie/ ,die Geschichte' > [di-stoije] sowie der Regel der obligatorischen Hiatustilgung /gehajsn/ ,geheissen' > [gajsn]. Einen interessanten Fall stellt in diesem Zusammenhang die Entwicklung des frequenten Partizip Perfekts gehat vom Verb hobn ,haben' dar. Nach dem [h]-Schwund entsteht eine Hiatusstelle, die nach den prosodischen Regeln des WAJ behoben werden muß. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen: 11

Der [h]-Schwund in großen Teilen des Ostjiddischen gilt als ein Beispiel der Auswirkung der koterritorialen Sprachen, die diesen Laut nicht kennen. Zur Stellung des [h] in jid. Mundarten sowie zur Bibliographie zu diesem Thema s. LCAAJ (1992: 41). Eine genaue Besprechung der Entwicklung des [h-] im Jiddischen gegenüber dem Deutschen findet sich bei Bin-Nun (1973: 374, 377).

94

IV.

Konsonantismus

a. durch die Reduplikation des anlautenden Konsonanten [g] vgl. /gehat/ > /geat/ > /gegat/; b. durch den Zusammenfall der beiden Hiatusvokale zugunsten des Stammvokals vgl. /gehat/ > /geat/ > /gat/; c. durch Metathese , vgl. /gehat/ > /geat/ > /egat/. Anders als in den östlicheren jiddischen Mundarten, die eine regelmäßige [h]Elision aufweisen, kommt es im WAJ nicht zu einer hyperkorrekten, d.h. falschen Wiederherstellung des [h]-Lautes.12 Da es jedoch durch den [h]-Schwund zum Formenzusammenfall mancher relevanten Wörter kommen kann, z.B. /inter/ ,hinter' = /inter/ ,unter' wird die Artikulation von [h] manchmal in den velaren Bereich verlagert und frikativiert, um den Unterschied wiederherzustellen. Auf diese Weise fällt [h] mit dem Frikativ [x] zusammen. 2.2.1.2. Der Zusammenfall von [x] und [h] Es muß vorweggenommen werden, daß sich die Laute im velaren und gutturalen Bereich im WAJ anders aufteilen lassen als im Deutschen. Der Frikativ [x] wird nämlich schwächer artikuliert als der dt. Ach-Laut und bildet somit nicht wie im Deutschen eine Fortis, sondern eine stimmlose Lenis. Dagegen zeigt das uvulare [R] eine starke Tendenz zur Frikation und Aspiration im velaren Bereich, woraus sich eine neue phonetische Variante [u] entwickelt hat, die mit dem [x] konkurriert. Dabei ist die Opposition zwischen dem velaren Reibelaut [x] und dem gutturalen Spiranten [h] im WAJ nicht belastet. Die Konsequenz daraus ist ein Phonemzusammenfall.13 Der Weg zur freien Ersetzung des etymologischen [h] durch ein artikulationsschwaches (Lenis) [x], was durch viele Beispiele im Korpus belegt ist, vgl. z.B. /historje/ ,Geschichte; Historie' /hejst/ ,heißt', /hebrejis/ ,hebräisch' > [xistorje], [xejst], [xebrejfj], mag über die Stufe der totalen Angleichung der beiden Laute gehen, vgl. ix hob [ix hob] > [xob].14 12 13

14

Vgl. Bin-Nun op.cit. 377. Boroxov (1913: 73-74) stellt in seinem kritischen Artikel zu Tschemerinski (1913) sein eigenes Phonemsystem des Jiddischen dar. Die beiden Laute /Π/ = [h] und Π/ = [x] unterscheidet er akustisch fälschlicherweise als: /Π/ = [h] stimmhaft [sie!] (Lenis) und /Π/ = [x] stimmlos (Fortis) stellt sie aber artikulatorisch im Bereich der gutturalen Laute dar. In einer Anmerkung (Nr. 1) differenziert er zwar die Laute nach ihrer Artikulationsstelle weiter: /Π/ als „velar-laringal" gegenüber dem /!"!/ als „rein-laringal", es bleibt aber ein Indiz, daß die beiden Laute für sein Ohr ähnlich geklungen haben müssen. Da beide Laute stimmlos sind, und die Artikulationsstelle von / h / im velar-pharyngalen Bereich streng genommen nicht lokalisierbar ist, kann die Lenisierung von [x] und die leichte Prikativierung von [h] leicht zum phonetischen Zusammenfall beider Laute führen. Auf der anderen Seite stellt dieser Phonemzusammenfall auch eine Parallele zum identischen Prozeß im koterritorialen Polnisch dar, wo die beiden Laute ebenfalls nur noch

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsart

und

Artikulationsstelle

95

Zusammenfassend können wir sagen, daß die Laute [h] und [x] im WAJ keine Phoneme, sondern freie Allophone eines Archiphonems /H/ sind, das zusätzlich durch ein Nullallophon realisiert werden kann.

2.2.2. Opposition der Frikative im velaren Bereich Die Opposition /x/ # /R/ im WAJ beruht auf einer für die Mundart typischen frikativen Realisierung des /r/-Phonems. Wie es scheint, ist die Opposition der Frikative im velaren Bereich als Folge des Schwunds des /h/-Phonems vom System des WAJ entweder durch Ausfall oder durch Zusammenfall mit /x/ anzunehmen. Die daraus resultierende Lenisierung der Aussprache von /x/ auf der einen Seite und die Frikativierung der Artikulation von /r/ in manchen Stellungen auf der anderen Seite führten zur Aktivierung einer neuen phonologischen Opposition. In Mundarten mit harter, gutturaler Aussprache von /x/ gegenüber /h/ wird nämlich die Opposition /six/ ,Schuhe' [Jlx] # /sir/ ,Lied' [JiR] neutralisiert.15 Im WAJ wurde durch die Opposition /dax/ ,Dach' [dax] # /dar/ ,dürr' [daR] das System der Frikative vervollständigt. Wo die beiden Laute dagegen in einer Konsonantengruppe zusammentreffen, kommt es zu ihrer Totalassimilation, vgl /durx/ ,durch' > [dux].

2.2.3. Der /j/-Laut Der /j/-Laut im Jiddischen gehört phonetisch und artikulatorisch eigentlich nicht in die Kategorie der Frikative, weil er „ohne Reibegeräusch" gesprochen wird.16 Er kann also nach seinen phonetischen Eigenschaften und zum Teil nach seiner Distribution als zweites Glied der jiddischen Diphthonge, als Halbvokal klassifiziert werden. Seine Sonderstellung im System der Frikative beruht außerdem daxauf, daß er im Gegensatz zum Standarddeutschen kein phonologisches Paar mit dem homorganen stl. [ç] bildet. etymologisch durch die Rechtschreibung aufrechterhalten bleiben, während die Aussprache seit langem zusammengefallen ist, vgl. poln. herbata [xerbata], Da das WAJ eine starke Ähnlichkeit zur polnischen Artikulationsbasis aufweist, ist die Wirkung der Koterritorialsprache bei diesem Phonemzusammenfall ebenfalls als ein Hauptfaktor anzunehmen. 15

16

Ausführlich zur Aufhebung der Opposition im „Litwischen Jiddisch" vgl. Gutman (1928: 110). In seinem Beitrag zu Konsonantn-asimilatsje in zats schreibt er die Neutralisierung der Opposition in Minimalpaaren des Typs: /stem/ # /stexn/ oder /¡x bet/ # /ir bet/ dem Einfluß der ostslawischen Sprachen zu, wo sich eine besondere Variante des velaren / χ / aus / g / entwickelt hatte. Zum halbvokalischen Charakter von [)/ s. Bin-Nun (1978: 337f.).

96

IV.

Konsonantismus

Funktional geht der Laut aber im Jiddischen in relevante Oppositionen mit anderen Obstruenten ein und wird auf Grund dessen der Kategorie der Konsonanten zugerechnet, vgl. z.B. /jogn/ jagen' [jugq] > /zogn/ ,sagen' [zugq], /hojxn/ ,hohen; lauten' [xojxn], /horxn/ ,horchen' [xoRxn], darüber hinaus im WAJ: /jid/ ,Jude' [jid] # /gut/ ,gut' [git].

2.2.3.1. Ein ungenetisches /]/ durch Jotierung Das Vorkommen eines ungenetischen /j/ vor einem vokalischen Anlaut ist eine charakteristische Erscheinung vieler slawischer Mundarten, die ihren Eingang auch in die jiddischen Mundarten gefunden hat. 17 Im WAJ kommt es nur vor dem /ï/-Anlaut zur Jotierung. Wörter wie /ix/ ,ich', /undz/ ,uns', /Israel/ ,Israel' u.a. können in der emphatischen Stellung im WAJ als [jix], [jindz], [¡isruuel] realisiert werden. Die charakteristische WAJ-Form des Personalpronomens der 1. Prs. Sg. [jax] ist übrigens eher als Kontamination der entsprechenden poln. Form ja , und des jid. ix [(j)ix] und nicht als phonetische Entwicklung derselben infolge der Jotierung anzusehen.

2.3. Affrikaten Ahnlich wie im StJ bildet das Inventar von Affrikaten im WAJ ein symmetrisches phonologisches Subsystem, in dem jeweils zwei sth. und zwei stl. Laute unterschieden werden. Die Affrikaten des WAJ werden im dentalen und alveolaren Bereich gebildet: sti. / t e j y sth. / & dj/ Während /fe/ sowohl in der germanischen als auch in der hebräischen und /t[/ zum Teil auch der germanischen Komponente vorkommen, vgl. /matee/ < hebr. H2£D ,Matze; ungesäuerte Brot', /kaits/ < ,Katze', /kvetën/ < quetschen, nimmt man oft an, daß ihre sth. Entsprechungen mit den Lehnwörtern des Slawischen ins Jiddische Eingang gefunden haben.18 Tatsache aber ist, daß es nur selten vorkommt, daß der Originallaut des slaw. Lehnworts im Jid. beibehalten wird, vgl. z.B. poln. plecy [plçta] > jid. [plejtse] ,Schultern' gegenüber poln. wqsy [väsi] > jid. [vontsss] ,Schnurrbart', poln. balamucic [ba+amutgitgj > jid. [balamutfen] ,täuschen; betrügen', poln. bt^dzic [b+òdjittg] > jid. [blonden] ,sich verirren'. Auf der anderen Seite verläuft 17

18

Vgl. die unterschiedliche Aussprache des Wortes B T als [idlj] oder [jidlj] in verschiedenen jid. Maa., vgl. dazu die Angaben des LCAAJ (1992: 41, Karte 67). Vgl. z.B. Weissberg (1988: 116ff.).

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsart

und

Artikulationsstelle

97

die Integration der slawischen Affrikaten in verschiedenen jid. Maa. und Perioden unterschiedlich.19 Diese Alternationen gehen auch teilweise auf die unterschiedlichen slaw. Herkunftssprachen zurück, vgl. [plod'jen] < russ. plod'it' gegenüber [ρ+οφεη] < poln. plodzic ,zeugen'.20 Auf dieser Grundlage haben sich unterschiedliche Varianten der jid. Affrikaten entwickelt. Die Vielfalt der Quellen und der Varianten von Affrikaten ist die Ursache dafür, daß Minimalpaare innerhalb ihres Subsystems kaum vorhanden sind. Tortzdem gelten sie als Phoneme, weil sie als Oppositionsglieder mit anderen Konsonaten auftreten können, vgl. /blondje/ ,ich irre' # /blonde/ ,(die) blonde'. Im WAJ werden auch die Affrikaten (wie alle anderen Sibilanten) in Anlehnung an das koterritoriale Polnisch palatalisiert. Auf diese Weise nehmen sie eine mittlere Stellung zwischen den poln. weichen und harten Affrikaten ein, vgl. poln. dzialka ,Platz, Garten' [d£a+ka] > WAJ [dj'a+k'e]. Im StJ hat sich eine Tendenz zur Zuordnung der slawischen Affrikaten im Rahmen des symmetrischen viergliedrigen Affrikatensystems durchgesetzt. Die entscheidende Rolle spielt dabei das phonetische Merkmal der Stimmhaftigkeit und Palatalität des Originallautes. Die schwache phonologische Belastung und große allophonische Varianz des Affrikatensystems, führen jedoch in diesem Fall zu einer Inkonsequenz, die im WAJ beseitigt worden ist. Zum Beispiel integriert das StJ in der Entlehnung aus dem Poln. jypDNEftfl ,schmatzen'< poln. ciamkac die palatale Affrikate [tg] als einen harten alveolaren Laut, [tfl vgl. entsprechend [tjamken]. Die gleiche Affrikate begegnet in dem Wort JJllNp'ttftfl ,interessant; neugierig' < poln. ciekawe als ein palatalisiertes alveolares Allophon, vgl. entsprechend [tfikave]. Beide Laute werden im WAJ gleich als palatalisierte Affrikaten realisiert.

2.4. Sonorlaute Das Subsystem der Sonorlaute im WAJ setzt sich aus drei Liquiden /I, +, r/ und drei Nasalen /m, η, ji/ zusammen. Im großen und ganzen zeichnen sich die Sonorlaute im WAJ durch stellungsbedingte und freie phonetische Varianten aus. Aufgrund der Zwischenstellung der Sonorlaute im Lautsystem als Halböffnungslaute können ihre Allophone sowohl den Obstruenten als auch den 19

20

Vgl. z.B. die Formen bei Harkavy (1928), der versucht, die Originallaute, d.h. die tatsächlichen palatalen Affrikaten, in die Orthographie einzuführen (und damit die tatsächliche Aussprache wiederzugeben?). Den Wörterbucheintrag ,wild' < poln. dziki [dgik(i)] verweist er auf pTI, das der Originalaussprache der Affrikate näher kommt. Zum Problem der Integration der Slawismen im Jid. s. Geller (1994: HOff.).

98

IV.

Konsonantismus

Halbvokalen zugerechnet werden.21 Außer dem Vibrant /r/ sind die übrigen Sonorlaute silbenbildend, vgl. /sisj/ ,Schüssel', /bojdm/ ,Boden', /lojfn/ Raufen'.

2.4.1. Die Nasale Im Hinblick auf die Artikulation und Funktion der Nasale /m/ und /n/ unterscheidet sich das WAJ wesentlich weder von der Mehrheit der jid. Maa. noch vom StJ. Außer ihrer etymologischen konsonantischen Punktion treten sie also im WAJ als Silbenträger sowie Gleitlaute auf. Der dentale Nasal alterniert mit dem labialen in entsprechender koartikulatorisch gerechtfertigter Umgebungen oder zum Zweck der Dissimilation. Und so tritt der dentale Nasal vor oder nach einem Labial als /m/ auf, vgl. /ojvn/ „Ofen" > [ojvm], /lipn/ ,Lippen' > [lipm]. Zum Zweck der Dissimilation und dadurch zur Aufrechterhaltung einer wichtigen syntaktischen Punktion, verwandelt sich der Flektiv /-en/ in sein Allomorph /-em/, wenn der Stammauslaut eines Adjektivs auf einen dentalen Nasal ausgeht, vgl. z.B. /frum-en/ ,frommen/frommem', aber /sejnem/ ,schönen/schönem'. Im WAJ kommt der velare Nasal /η/ lediglich als stellungsbedingte phonetische Variante vor, die in der Position vor oder nach den velaren Plosiven /g/ und /k/ mit einem palatalen Nasal /ji/ konkurriert. Außer der Palatalitätsopposition von /n/ # /ji/ (dazu s. unten) besteht der wichtigste Unterschied zwischen dem WAJ und der Standardsprache in dem Nasalschwund sowohl in der klitischen als auch haupttonigen Stellung.

2.4.1.1. /n/-Schwund durch Nasalierung des Vokals Der Nasalschwund in der haupttonigen Stellung erfolgt in den meisten Fällen durch die Übernahme des Nasals in den davorstehenden Vokal. Dadurch wird der Vokal nasaliert und zusätzlich gedehnt, vgl. z.B. /dajn/ ,dajn' > [da:], /hajnt/ ,heute' > [hä:t], /onsrajbn/ aufschreiben' > [ü:Jra:bm], /frajnt/ ,Freund' > [frä:t], /arajn/ ,herein' > [ara:]. Die Nasalierung des Vokals wird bei verschiedenen Sprechern unterschiedlich genau durchgeführt, so daß sich in manchen Fällen ein leichter Nachklang von /n/ bemerken läßt. 21

Die Sonorlaute in verschiedenen Maa. des ZJ wurden ausführlich in Prilutski Der jidiser Konsonantizm. Band I, (erste helft), Warschau 1917 untersucht. Er stellt dort sehr genau das Inventar der Allophone und ihre detaillierte Distribution u. a. in Warschau und den angrenzenden Ortschaften zusammen.

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsart

und

Artikulationsstelle

99

2.4.1.2. /n/-Schwund in der schwachtonigen Stellung Man unterscheidet hier zwei Fälle: den Nasalschwund in den klitischen Wortformen und in der unbetonten Endung /-en/. Die Reduktion des Auslautnasals in den klitischen Wortformen bezieht sich meistens auf Synsemantika, z.B. /kejn/ ,kein, gen' > [ka], /men/ ,man' > [mi/ε], /sojn/ ,schon' > [foj] / [Ji], /gevejn/ ,gewesen' > [g/jivej]. Wird ein autosemantisches Wort mit einem Schluß-/-n/ einem anderen klitisch angehängt, so kann auch ein Nasalschwund vorkommen, vgl. z.B. ['mä: ma/à] < / majn man/ ,mein Mann', mit dem Akzent auf das erste Wort. Der Verlust des Schlußnasals in der Endung /-en/ verläuft im WAJ systematisch. Ahnlich wie beim /-r/-Schwund wird der gebliebene schwachtonige Auslautvokal umgefärbt und erscheint als sehr offenes /-ε/ oder /-o/, 22 vgl. /kumen/ ,kommen' > [k'imo], /tsezamen/ ,zusammen' > [tsizamo], /genumen/ genommen' > [g/jinimo]. In manchen Fällen überlagern sich beide Erscheinungen: Zuerst verliert das Hilfsverb /zenen/ ,sind' den Schlußnasal in der Verbalendung /-en/ > [ζεη] und danach verliert es seinen Stammnasal, wenn es im Satz als klitische Form vorkommt, vgl. z.B. /zenen mir/ ,sind wir' >[ζεηηε]. Hier kann übrigens auch Haplologie (Silbenökonomie) vorliegen, was im Kapitel zur Prosodie ausführlich diskutiert wurde.

2.4.2. Die Lateralen Die Unterscheidung der beiden lateralen Phoneme, eines hellen, dentalen /I/ und eines dunklen labio-velaren /+/ im WAJ beruht auf dem Minimalpaar /k4adke/ ,Brücke' # /klatke/ ,Käfig'. Beide Phoneme kommen dort in gleicher Umgebung, d.h. vor einem hinteren Vokal, vor. Diese Opposition scheint aber zusammen mit den beiden Lehnwörtern aus dem Poln. übernommen worden zu sein, vgl. entsprechend poln. kladka # klatka. In den meisten Fällen handelt es sich aber um stellungsbedingte oder sogar freie Allophone. Grundsätzlich kennt das WAJ drei laterale Allophone: das prädorsal-alveolare („helle") [I], seine palatalisierte Variante [Γ] und das labio-velare [+], das oft vokalisiert wird. Die drei Varianten werden entsprechend der Klangfarbe des umgebenden Vokals bzw. Konsonanten folgendermaßen verteilt: - das helle /I/ in der Umgebung von vorderen Vokalen, z.B. /kelber/ ,Kälber' - das dunkle /+/ in der Umgebung von hinteren Vokalen, vgl. /ka+b/ ,Kalb' - das palatalisierte [Γ] in der Verbindung mit einem Velar /klug/ ,klug' [k'l'uk']. 22

Zum wahrscheinlichen Einfluß des koterritorialen Poln. auf die Klangfarbe der bunten Auslautvokale im WAJ vgl. das Kapitel zum Vokalismus.

100

IV.

Konsonantismus

Außer den durch das System bevorzugten Regeln zur Distribution von lateralen Allophonen kommt es vielfach zur individuellen Alternation zwischen allen drei Varianten. Das Wort ,klappen' konnte im WAJ realisiert werden: - als [k'l'apm] nach der Regel der Palataliserung in Verbindung mit einem Velar oder aber in Anlehnung an das homophone und zum Teil synonyme /xl'apn/ < poln. chlapaé,plätschern; (eine Ohrfeige) klatschen' - als [k+apm] nach der Distributionsregel vor dunklem Vokal [a] oder aber in Anlehnung an das homophone und synonyme poln. klapac ,klappern'. - als [klapm] in Anlehnung an die Stellung vor einem Vorderzungenvokal in der alternierenden Form /der klep/ und dem entsprechenden poln. klepac ,klopfen'. Das illustriert die inner- und außersprachlichen Gründe der anzutreffenden Alternationen bei der Realisierung der /L/-Allophone auch innerhalb einer Mundart. Diese Instabilität der Distribution der Lateralen im WAJ läßt sich jedoch am besten als Dialektmischung erklären, der die Verhältnisse in den koterritorialen slaw. Sprachen und Maa. zugrundeliegen.

2.4.2.1. Die Vokalisierung von Lateralen Außer den allgemeinen Regeln und Fällen der Palatalisierung von Lateralen in der Konsonantenverbindung mit Velaren, die im Paragraph zur Palatalität (s.u.) angeführt wurden, gelten für das WAJ weitere Lautentwicklungen. Die lateralen stellungsbedingten Allophone werden vor einem Konsonanten entsprechend ihrer vokalischen Umgebung vokalisiert. 23 Und zwar geht der palatale /I/-Laut vor einem Vorderzungenvokal in den Halbvokal / j / und vor dem Hinterzungenvokal in den Halbvokal / u / über, vgl. /ka+b/ > [kaup] # /kelber/ > [k'eibe], /zoln/ ,sollen' [zoun] # /zelner/ ,(< Söllner) Soldaten' [ζεϊηε]. 23

Es handelt sich um eine sprachökonomische, d.h. sprecherleichternde Erscheinung, die in vielen Sprachen, historisch auch im Polnischen, vorkommt. Deshalb überrascht nicht, daß eine Paralellerscheinung auch in den oberdeutschen Mundarten vorliegt, dazu vgl. Haas (1983: l l l l f f . ) . Haas unternimmt eine eingehende Untersuchung des Phänomens der Vokalisierung auch von anderen Sonanten in den deutschen Mundarten. Interessant ist dabei die soziolinguistische Wertung dieser mundartlichen Eigenschaft: „Während sich die n-Vokalisierung überall auf dem Rückzug befindet, ist im Beiirischen und Schweizerdeutschen heute eine Expansion der 1-Vokalisierung festzustellen, obwohl die konsonantischen Formen noch immer als gepflegter gelten.[...] Im Gegensatz dazu hat die r-Vokalisierung in jüngster Zeit durch das Wörterbuch der deutschen Aussprache [...] hochsprachliche Sanktion erfahren." Da bei der Entwicklung des Jiddischen keine derartigen normierenden Eingriffe stattfanden, werden beide Vokalisierungsprozesse für gleichwertig als Sprecherleichterungen gehalten.

2. Klassifizierung

der Konsonanten

nach Artikulationsari

und

Artikulationsstelle

101

Im Extremfall führt die Vokalisierung zur Totalassimilation, d.h. zum Schwund des etymologischen /I/, vgl. /zolst/ ,du sollst' > /zoust/ > /zost/. Hier liegt die gleiche Entwicklung wie im Konjugationspaxadigma des Hilfsverbs /vein/ (< mhd. wein) ,werden' vor, das in das StJ eingegangen ist, vgl. /vel, vest, vet/ ,ich werde, du wirst, er wird'. 24

2.4.3. Der / r / - L a u t In den jid. Maa. unterscheidet man grundsätzlich zwei Arten der /r/-Artikulation, die apiko-postdentale, das sog. gerollte [r], und das uvulare [R]. In beiden Fällen handelt es sich um Vibranten. Darüber hinaus gibt es Mundarten, in denen das uvulare /r/ in einen Frikativ übergeht und auf diese Weise mit dem Velaren /x/ im Hinblick auf die Artikulationsweise zusammenfällt. 25 Die zwei Varianten der /r/-Artikulation kann man verallgemeinernd als palatale und velare bezeichnen. Auf diese Weise wird die Parallele zu den dentalen und velaren Varianten des Laterals /I/ geschaffen. Anders als bei den Lateralen jedoch stehen diese beiden phonetischen /r/- Varianten in keiner relevanten Opposition zueinander, sondern werden zur Markierung der Mundaxtzugehörigkeit genutzt. 26 Das WAJ wird im allgemeinen durch das Zäpfchen-/r/ charakterisiert, das vielfach auch frikativ realisiert werden kann. 27 Dadurch, daß die Aussprache des Spiranten /x/ im WAJ lenisiert wurde, gehört es nicht zu den Mundarten mit /r/- und /x/-Zusammenfall, was oben dargelegt wurde. Außer der parallelen Ausnutzung der Artikulationstellen zur Realisierung der Varianten gibt es noch eine andere Eigenschaft, die die beiden Liquiden im Jiddischen miteinander verbindet: die Tendenz, in bestimmten Umgebungen vokalisiert zu werden. Da der /r-/-Laut historisch ein frequenter Bestandteil vieler grammatischer Flektive (z.B. Adjektivdeklination, Pluralbildung usw.) und lexikalischer Ableitungssilben ist, die normalerweise in unbetonter Stellung vorkommen, ist es angemessen, seine Allophone in ihrer schwach- und haupttonigen Distribution getrennt zu betrachten. 24 25

26

27

Diese Formen sind auch bei Schaechter (1986: 345) belegt. Den artikulatorischen Vorgang dieses Phonemzusammenfalls beschreibt ausführlich Viler (1924: 29, 32). Zur Schibboleth-Funktion der /r/-Aussprache in verschiedenen jiddischen Maa. vgl. BinNun (1973: Anm 1 auf S. 342). Eine durchaus andere, nämlich ästhetische Einschätzung der beiden /r/-Arten gibt Prilutski (1917: 1). Dort behauptet er auch, daß das palatale, gerollte, „reine" /r/, „mir hern kimat in ale fun pojlis-jidisn dialektn", offensichtlich bezieht sich das nicht auf das WAJ. Der Einfachheit halber verwenden wir im weiteren sowie in den phonetischen Transkripten der Textproben in bezug auf das WAJ die graphische Repräsentanz [r].

102

IV.

Konsonantismus

2.4.3.1. /r/-Allophone in haupttoniger Stellung Das / r / wird normalerweise im Wortanlaut sowie nach kurzem Vokal im Wortinnern als Vibrant realisiert, vgl. /redn/ ,reden' [redn], /arbet/ ,Arbeit' [arbet], /barg/ ,Berg' [bark']. Es färbt dabei regelmäßig die Klangfarbe eines vorderen Stammvokals in Richtung /a/, z.B. /lernen/ ,lehren, lernen' > f+annen], vgl. dazu das StJ /harbst/ gegenüber dt. Herbst. Anders verhält sich das /r/ im Wortauslaut, dort wird es normalerweise vokalisiert. Wir unterscheiden dabei die Stellung vor Hinterzungen- und Vorderzungenvokalen sowie vor Kurz - und Langvokalen. Nach den beiden langen Vokalen des WAJ /a:/ und /o:/ wird der /r/Laut total assimiliert und fällt mit dem vorausgehenden Vokal zusammen, vgl. /pojer/ ,Bauer' > [po:], /tajer/ ,teuer' > [ta:]. Das geschieht aber nicht vor den entsprechenden Kurzvokalen, vgl. /nar/ ,Narr' > [nar] und /nor/ ,nur' > [nor]. Steht der /r/-Laut vor einem /u/, so wird er zum Halbvokal /u/, und je nach emphatischer Stellung fällt er mit ihm zusammen oder bildet mit dem vorausgehenden Vokal einen Triphthong, vgl. /a por jor(n)/ ,ein paar Jahre' > [a puue juus] / [a pu: ju:] Die Stellung vor einem Vorderzungenvokal / e / oder /¡/ führt zur Vokalisierung von /r/ zum Halbvokal / j / und zur Dehnung des Stammvokals zu einem Diphthong, vgl. /papir/ ,Papier' > [papije], /aher/ ,hierher' > [axeje]. Dabei variiert die Klangfarbe des auslautenden Triphthongteils im WAJ von [ε] über [o] zu [a].28 Die Vokalisierung von /r/ mit Dehnung des vorderen Stammvokals tritt auch in der Verbindung von /r/ + Dental im Auslaut ein, vgl. /fert/ ,Pferd' > [fejet], /du herst/ ,du hörst/ > [di xEjes(t)], /erst/ ,erst' > [sjef].29 Das / - r / im haupttonigen Auslaut wird wiederhergestellt, wenn ihm ein Wort mit vokalischem Anlaut folgt. Er übt dann die hiatusüberbrückende Funktion aus, vgl. /in ojer arajn/ ,ins Ohr' > [inoje-r-arä:].30

2.4.3.2. /r/-Schwund in schwachtoniger Stellung Im WAJ übt der /r/-Laut keine silbentragende Funktion aus, wie das in manchen NOJ-Mundarten der Fall ist; vgl. [vilr] < /vil er/ ,will er', [estr] < /est er/ ,ißt er'. 31 Statt dessen schwindet der /r/-Laut in der unbetonten Silbe /-er/ im 28

29

30 31

Prilutski (1917: 30) faßt das folgendermaßen zusammen: „opfalndik, arojsfalndik tsi blojz farlirendik in gevixt tsit der /r/ ojs dem / e / a) in eje, b) eja, c) aje, d) ejo." Diese Form wurde im WAJ lexikalisiert und tritt in der Bedeutung jetzt' auf, vgl. 2. Textprobe. Auch Prilutski (1917: 31) verzeichnet diese Form im ZJ in derselben Bedeutung. S. dazu das Kapitel zu prosodischen Regeln im WAJ in diesem Buch. Weitere Beispiele s. Prilutski op. cit. S. 3.

3. Sonorität

103

Wortauslaut. Dabei färbt er die Klangfarbe des vorausgehenden schwachtonigen Vokals um, so daß der Auslaut [-0] die Funktion der etymologischen Nachsilbe /-er/ übernimmt, vgl. z.B. /bruder/ ,Bruder' > [brido], /soxer/ ,Händler' > [sojxo], /kinder/ ,kinder' > [kindo], /guter/ ,guter' > [gito]. Der /r/-Laut wird dabei nicht wiederhergestellt, wenn ihm ein weiterer konsonantischer Flektiv oder Derivativ folgt, z.B. /kinderlex/ > [kindolox], /bruders/ „des Bruders' > [bridos], /srajbers/ ,die Schreiber; die Schriftsteller' > [[ra:bos].32 Im WAJ wird der ausgefallene /r/-Auslaut aktiviert als Hiatustrenner, wenn er an der Wortgrenze auf einen vokalischen Anlaut stößt, z.B. /efser anander ovnt/ vielleicht ein anderer Abend' > [sfjer^anandsr^ovnt] oder aber [efjanand-o-vnt] (s. unter Haplologie). Auch die schwachtonigen Silben /der-/ und /far-/ werden vom /r/-Schwund betroffen. Die Klangfarbe des Vokals wird dabei zu / a / umgefärbt, vgl. /farbrenen/ ,verbrennen' > [fabrene], /derlejbn/ ,erleben' > [da+ajbm]. Auf diese Weise entstehen im WAJ drei systematische Wortbildungssilben /ba-/, /da-/, /fa-/. In der klitischen Stellung verliert auch die Präposition /far/ ,vor; für' das /r/, vgl. das typisch Warschauerische [favuue] < /far vos/ ,warum'.

3. Sonorität Nach der Beteiligung der Stimmlippen bei der Artikulation von Konsonanten unterscheidet man im WAJ stimmhafte und stimmlose Konsonanten. Das heißt, daß der Stimmverlust eines sth. Obstruents, z.B. durch Auslautverhärtung oder Koartikulation im WAJ grundsätzlich zum Übergang in die Klasse der stl. Laute führt und nicht nur zur Desonorierung der Lenes, wie es oft im Standarddeutschen der Fall ist, vgl. dt. schwach > [fvax]. Ein anderer Unterschied gegenüber dem deutschen Konsonantensystem ist die Unterscheidung des stl. / s / und sth. / z / im Wortanlaut. Daraus ergibt sich eine wichtige phonologische Opposition im Jiddischen, vgl. ^NT Ν /a zax/ ,eine Sache' < dt. d. gl. # ^D Κ /a sax/ ,viel' < dt. unbestimmter Artikel + hebr. d. gl.; pNT /zok/ ,Socke' < dt. d. gl. # pND /sok/ ,Saft' < poln. sok ,d. gl.'. Im WAJ wird diese Opposition durch bestimmte vokalische Zusammenfälle 32

Neben zahlreichen Beispielen aus dem WAJ liefert Prilutski eine soziolinguistische Einschätzung zur Verteilung dieses dialektalen Primärmerkmals des WAJ. Er macht die folgende Bemerkung: „dem / o / hern mir: bam varsever gebirtiken xojmen [=Volksmasse], ba der varsever-gebirtiker inteligents, vos redt vejnik jidis, ba di varsever gebirtike kinder. Ba dem varsever-gebirtiken mitelklas, vos redt stendik jidis zenen glajxberextikt tsvej formen: mit / o / un mit / a / (zogar mit / ε / ) . Di erste hem mir in stark aktsentuirten, in emfatisen gesprex, di tsvejte in sneln redn, in di logissvaxer batonte tejlen fun zats." Prilutski op. cit. S. 8.

104

IV.

Konsonantismus

noch stärker belastet, und die Minimalpaare umfassen außer den Elementen verschiedener Komponenten auch die der germanischen allein, vgl. p " T /zajdn/ ,dem/den Opa' < poln. dziad ,Großvater' # p - ' D /sajdn/ ,es sei denn' < dt. ,d. gl'., "T /zaj/ ,sie' < dt. sie # '-'D /saj/ ,irgend-' < dt. sei.33

3.1. Die Distribution der stimmlosen und stimmhaften Obstruenten 3.1.1. Die Desonorierung (Stimmverlust) Ahnlich wie im StJ gehen im WAJ im absoluten Auslaut, d.h. vor Sprechpause, die sth. Explosive /b-/, /-d/, /g-/ in ihre stl. Entsprechungen /p-./, /-t/, /k-/ über; vgl. /lib/ ,lieb' > [lip], /fajnd/ ,feind (haben)' > [fa:nt], /tog/ ,Tag' > [tuk]. Die Auslautverhärtung bezieht sich jedoch nur in geringerem Maße auf die Spiranten /z/, /v/, /$/ die in den meisten Fällen in dieser Stellung keinen Stimmverlust aufweisen, vgl. z.B. /biz/ ,bis' > [biz], /briv/ ,Brief > [briv].34 Desonoriert werden auch stimmhafte Konsonanten in einer im Hinblick auf Stimmhaftigkeit uneinheitlichen Lautverbindung im Wortanlaut. Das Auftreten einer Obstruentenverbindung im Wortanlaut unterliegt im Jiddischen einer phonotaktischen Regel, nach der in der Initialstellung nur die Reihenfolgen: Kl + Kl, Kh+ Kh oder aber Kl + Kh vorkommen.35 Im WAJ beobachtet man eine Tendenz zur Vereinheitlichung der anlautenden Konsonanz, so daß die ersten beiden Reihenfolgen bevorzugt werden. Diese Tendenz erklärt die Tatsache, daß bei der Desonorierung im Wortanlaut beide Richtungen der Angleichung gelten können. Durch die im WAJ üblichere regressive Assimilation verliert der erste stimmhafte Konsonant seine Stimmhaftigkeit und geht in die Klasse der stl. Konsonanten über, daraus entsteht eine stimmlose Konsonantenverknüpfung, vgl. /bsure/ ,Nachricht' (< hebr. ÌT"I1ÉD ,d. gl.') > [psire], /zkejne/ ,alte Frau' (< hebr. HÎpî) > [skajne]. 33

Die jid. Wendung /saj vi saj/ ,auf jeden Fall' und ihre Ableitungen /saj vu/ .irgendwo', /saj ver/ ,irgend jemand' stellen einen interessanten Fall der Lehnübersetzung aus dem Polnischen dar. Sie gehen nämlich auf die entsprechenden poln. Wendungen (bqdz) jak bqdz, gdzie bqdz, kto bqdz usw. zurück, wo bqdz, der Imperativ Sg. des Verbs byc ,sein' die Funktion einer verstärkenden Partikel bildet. Die jiddische Partikel /saj/ < dt. sei ist offensichtlich eine Parallelform zum poln. bqdz, die Reihenfolge der Wörter im Jiddischen deutet jedoch auf eine Kontamination mit den mhd. swer < so wer ,wer auch immer' swas < so was ,was auch immer' hin.

34

Vgl. z.B. Birnbaum (1979: 211). Kl = stimmloser Konsonant, Kh = stimmhafter Konsonant. Zu phonotaktischen Lautverbindungen im Wortanlaut behauptet Bin-Nun (1973: 332): „Anlautende Konsonantenverbindungen [...] können bei der j.[iddischer] Artikulationsart nur die Reihenfolge Fortis+Lenis einnehmen." Dies scheint auch durch die von Birnbaum (1979: 222f.) zusammengestellten Konsonantenverbindungen bestätigt zu sein.

35

3. Sonorität

105

Die Vereinheitlichung der anlautenden Konsonantenverbindung in bezug auf ihre Sonorität kann auch durch die im Jid. weniger verbreitete progressive Assimilation erzielt werden, z.B. /kvitl/ ,Quittung' > [kfitl], /kvas/ ,Säure; Kwaß' (< poln. kwas ,d. gl.') > [kfas], /kvutse/ ,Gruppe' (< hebr. ÌTCDp ,d. gl.') > [kfttee], /tvue/ .Getreide' ( [kfil], /kvas/ ,Säure; Kwaß' (< poln. kwas ,d. gl.') > [kfas] manifestiert, mit den phonetischen Regeln der determinierenden Sprachen mitgebracht werden, in denen die progressive Desonorierung in dieser Stellung obligatorisch ist.37 Durch Analogie wurde diese Regel auf die hebräische Komponente übertragen. Zum anderen jedoch wurde ihre konsequente Durchsetzung durch den alternierenden Charakter der hebräischen Komponente gestört. Der betreffende, etymologisch konstante Konsonant ändert je nach Wortform seine phonotaktische Stellung, wobei entweder die Desonorierung als unmotiviert nicht zugelassen wird, wie z.B. in der stimmhaften Umgebung des Wurzelkonsonanten < 3 > [v] im Sg. H i p /kejver/ [kejver] ,Grab', oder aber sie kann in der postkonsonantischen stimmlosen Stellung z.B. im PI. Ο Ή ΐ ρ /kvorim/ [kfurcm] ,Gräber' begünstigt werden. Die etymologische, Identifizierung ist in solchen Fällen primär gegenüber der Sprachökonomie. Auf diese Weise entsteht die Form [kyunm] mit stimmloser Lenis [v], die eine Art Überbrückung zwischen dem etymologischen [v] und dem phonetischen [f] darstellt. Ist dagegen die Stellung des betreffenden Konsonanten in der gleichen Konsonantengruppe, wie im oben genannten Beispiel Sg. H2COp /kvutse/ ,Gruppe' und PI. ΓΤΙ2£Πρ /kvutses/ ,Gruppen' relativ konstant, so ist 36

Das ist der einzige Fall, in dem die Unterscheidung der Fortes und Lenes im Jiddischen von Belang wäre, denn in diesem Fall handelt sich in der Tat um eine stimmlose Lenis, also eigentlich [scjule]. In der Hochlautung des Jiddischen ergibt sich dadurch eine relevante phonologische Opposition: vgl. Π^'ΒΠ [tfils] ,Gebet' # Π1?' [tyile] ,rituelles Eintauchen', im WAJ wird diese Opposition zugunsten von [tfile] neutralisiert.

37

Während in der Hochlautung des Deutschen in der diskutierten Stellung eine stl. Lenis steht, vgl. z.B. dt. zwölf [tsvœlf], Quelle [kvsla], gehen die etymologischen Lenes im Polnischen in echte Fortes über, vgl. kwiat [kfjat] ,Blume', twarz [tfaj] .Gesicht'; zur progressiven Desonorierung im Anlaut im poln. vgl. z.B. Wierzchowska (1980: 125), Dejna (1993: 242).

106

IV.

Konsonantismus

die Form mit homogenem stl. Konsonantismus der ganzen Lautverbindung zu erwarten, also [kfufee]/[kfub8s].38 Ein anderer Grund für die Schwankungen in der phonetischen Realisierung der anlautenden Konsonantengruppe Kl+Kh im WAJ ist die herrschende Regel der regressiven Assimilation in bezug auf die Sonorität der Obstruenten. In diesem Zusammenhang ist die Angleichung von Kh zu Kl, wie wir sie in den oben diskutierten Beispielen dargestellt haben, eher ein Ausnahmefall der progressiven Assimilation, der übrigens seine Parallele auch im sonst regressiv assimilierenden koterritorialen Polnisch hat. 39 Ein anderer Sonderfall der progressiven Desonorierung kommt in der Enklise der Pronomina auf [z] vor, d.h. /zix/, /zi,/ /zej/ mit dem dentalen Auslaut der Verbalform, vgl. /vet zix/ ,er wird sich' > [veteax], /git zej/ ,gib/gebt ihnen' [g'itsej].40 Sonst wird die Distribution der sth. und stl. Konsonanten durch die Regel der regressiven Angleichung in bezug auf die Stimmhaftigkeit bestimmt.

3.1.2. Regel der regressiven Angleichung Außer den oben diskutierten Sonderfällen des progressiven Stimmverlusts, dominiert im WAJ die Tendenz zur regressiven Assimilation in bezug auf die Stimmhaftigkeit. Die allgemeine Regel heißt also: Steht ein sth. Obstruent /b, d, g, ν, z, 3/ vor einem stl., so wird er desonoriert, vgl. /lejbt/ ,lebt' > [lejpt], /badxn/ (< }Π*Ώ) ,Hochzeitsspaßmacher' > [batxn], /zogt/ ,sagt' > [zukt], /davke/ ,eben' (< hebr. N p l H ) > [dafk'e], /zkejne/ ,alte Frau' (< hebr. PI3pT) > [skajns], /stru2ke/ ,Wächterin' (poln. strózka) > [strtjk'e]. Im allgemeinen ist die oben formulierte Regel symmetrisch, dh. stl. Obstruente werden vor sth. Konsonanz, außer im Wortanlaut, sonoriert, vgl. z.B. /hesbn/ ,Rechnung' (< hebr. ]ΏΕ?Π) > [xe3bm], /hekdes/ ,Krankenhaus' (< hebr. ΕΓίρΠ) > [(h)egdij] usw. Die Wirkung der regressiven Assimilation im WAJ bezieht sich nicht nur auf die Konsonantenhäufungen innerhalb der Worteinheiten, sondern auch auf die Verhältnisse an der Wort- und Morphemgrenze, das ist im Satzsandhi: vgl. 38

39

40

Das etymologisch zusammenhängende f H ' p /kibets/ ,Kollektiv' mit sth. intervokalischen / b / übt offensichtlich keinen Einfluß auf die totale ,Fortisierung' in Π ¥ Ώ ρ [kfufejE] aus, weil er nicht unmittelbar zum Deklinationsparadigma dieses Wortes gehört. Zur regressiven Assimilation im Poln., besonders im Vergleich mit dem Dt. vgl. Prçdota (1979: 136f.). Birnbaum (1979: 212) verallgemeinert die Regel der progressiven Desonorierung auf jeden Anlaut mit [z], vgl. „Unvoicing through progressive assimilation is general with [ζ]." Im WJK finden sich jedoch hauptsächlich Beispiele für die enklitischen Formen der Synsemantika auf [z].

3. Sonorität

107

z.B. /a tog far der naxt/ ,ein Tag vor der Nacht' > [a tuk fadi naxt] gegenüber /tog un naxt/ ,Tag und Nacht' > [tugi naxt]. Aus dem letzten Beispiel geht hervor, daß in dieser Stellung nicht nur an sth. Obstruenten, sondern an alle sth. Laute, dh. auch an Vokale, angeglichen wird. In diesem Zusammenhang muß festgestellt werden, daß die in der bisherigen Literatur zum Satzsandhi im WAJ postulierte Reihenfolge Kl +Kh/V in dem hier untersuchten WJK wenig Bestätigung findet.41 In diesem Fall können wir mit einigen Einschränkungen die Regel der regressiven Assimilation verallgemeinern und feststellen, daß im WAJ an der Wortund Morphemgrenze vor einem sth. Konsonanten oder einem Vokal ein sth. Obstruent steht. Folglich werden die stl. Obstruenten /p, t, k, f, s, J, J[/ in dieser Stellung sonoriert und erscheinen entsprechend als /b, d, g, v, z, 3, ä*,/, und die sth. Obstruenten bewahren ihre Stimmhaftigkeit auch im Wortauslaut, z.B. /opgebn/ ,abgeben' > [obgem], /mit der/ ,mit der' > [ίτικίε], /aveklojfn/ ,weglaufen' > [aveg+ojfm], /darf gejn/ ,muß gehen' > [dav gajnj, /vos ze/ ,was denn' > [vu(z)3e], /stru2 gejt/ ,der Wächter geht' > [stri3 gajt], /xoc 2abe/ ,wenn auch Frosch' > [xodj abe]. Dabei muß bemerkt werden, daß homorgane Konsonanz an der Wortgrenze obligatorisch total assimiliert wird, also /vos 2e/ im WAJ als > [vu3e] realisiert wird. Darüber hinaus werden an der Wortgrenze entstehende Konsonatenhäufungen nach der Regel der optimalen Silbenstruktur oft auf Einzelkonsonanz reduziert, z.B. /muz men zajn/ ,muß man sein' > ['mïmezà]. Drüber hinaus läßt sich im WAJ eine allgemeine Tendenz zur Sonorierung der stl. Obstruenten auch in intervokalischer Stellung beobachten, vgl. z.B. /umetum/ ,um und um' > [ïmedïm], /gefirt/ .geführt' > [gvijet] (mit Vokalisierung von [r]). Neben der regelmäßigen Form [zukts] < /zugt er/ ,sagt er' läßt sich oft [zugdo] hören. 41

T. Gutman, Autor einer Beschreibung der phonetischen Verhältnisse im Lodzer Jiddisch, bezweifelt die Existenz der regressiven Sonorierung an der Wortgrenze im ZJ, indem er schreibt: „Tsi mir farmogen in der jidiser sprax a gebit fun der [...] kategorie (d.h. aza, vu me volt ojsgeredt groja asires *grojzasires, volt nox erst gedarft ojsgefunen vern. Mir iz dos nist bakant un es lejgt zix nist ojfn sejxl, az aza ojssprax zol zajn benimtse, vajl dafke dos gebit, vos fait tsunojf mit dorem-majrevdikn tejí fun pojlis, der doremdiker tejí fun pojlis jidis, ken nist di dersajnung fun stimik-vern" Gutman (1928: 109). Bin-Nun (1974: 330ff.) liefert dagegen zahlreiche Beispiele des regressiven Stimmverlusts an der Wort grenze. Die Tendenz im WAJ geht im allgemeinen in die, von Bin-Nun für seine ostgalizische Ma. dargestellte Richtung. Das steht im Gegensatz zu den im koterritorialen Poln. herrschenden Verhältnissen im Satzsandhi, die auf dem Gebiet des Poln. nicht einheitlich sind und eine wichtige Isoglosse bilden, vgl dazu. z.B. Prçdota (op.cit. Tabellen auf S. 138). Einen Versuch der diachronen Erklärung der Sonoritätsverhältnisse im Wort- und Satzsandhi im modernen Ostjiddisch, darunter der Rolle des Polnischen, unternimmt King (1980: 404).

108

IV.

Konsonantismus

Aus der Darstellung der Distribution der sth. und stl. Konsonanten geht hervor, daß das WAJ eine sonorierende Sprache ist. Das heißt, daß im WAJ die sth. Konsonaten mit höherer Frequenz vorkommen als die stl., was den allgemeinen Eindruck einer klanghaften Sprache macht.

4. Palatalität In der Phonetik unterscheidet man im allgemeinen palatale und palatalisierte Konsonanten. Diese Differenzierung bezieht sich nicht so sehr auf die unterschiedliche Artikulation der Laute, bei denen „zur Grund-Artikulation noch gleichzeitig der mittlere Teil des Zungenrückens teilnimmt, indem er sich gegen die vordere Hälfte des harten Gaumens hebt", 42 sondern viel mehr auf ihre Stellung im gesamten System. In diesem Zusammenhang sind die palatalen Konsonanten diejenigen, die keine andere Artikulation haben können außer der mediodorsal-palatalen sog. „weichen".43 Im Gegensatz dazu tritt bei den palatalisierten Konsonanten die Verschiebung der Artikulation in Richtung mediodorsal-(prä)palatal zusätzlich zu ihrer „harten" Artikulation auf, wodurch eine weiche Resonanz entsteht, vgl. z.B. im Poln. synu [sinu] ,Oh, Sohn' - hart, sinus ,Sinus' [s'inus] - palatalisiert („erweicht"), sine ,bläulich' [eine] - palatal. Die palatalisierten Konsonanten kommen in vielen Sprachen als stellungsbedingte Varianten meistens vor /¡/ vor. Nur in wenigen Sprachen gehen sie aber in phonologische Oppositionen ein. In den slawischen Sprachen können sowohl palatalisierte, z.B. im Russischen /brat/ der Bruder [brat] # /brat'/ [brat'] Rehmen', als auch palatale, z.B. poln. /lecç/ ,ich fliege' [letee] # /(w) lecie/ ,(im) Sommer' [letge], relevante Oppositionen bilden. Im WAJ kommen vereinzelt beide Arten der Palatalitätsopposition vor. Die Anwesenheit der palatalisierten Konsonanten ist ein charakteristisches Merkmal vieler ostjid. Maa. und geht offensichtlich auf die slawischen Koterritorialsprachen zurück. Nicht in jeder Ma. wurden sie aber phonologisiert. Trotzdem verleihen die weichen Konsonanten (neben den unaspirierten Konsonanten, den anderen charakteristischen Merkmalen der Artikulationsbasis, z.B. den kurzen offenen Vokalen und dem fehlenden harten Einsatz) dem Ostjiddischen den Klang seiner koterritorialen slawischen Sprachen. 42

43

Lewandowski, T. Linguistisches Wörterbuch. Quelle und Meyer, Heidelberg 1975, (Bd. 2, S. 465). Zur Unterscheidung der palatalen und palatalisierten Konsonanten im Poln. vgl. Dluska (1981: 108f.).

4-

Palatalität

109

4.1. Palatalisierung der Dentale Im Gegensatz zu den slawischen Sprachen kommen die erweichten Konsonanten des Jiddischen als Varianten mancher Explosive und Sonanten im dentalen und velaren Bereich vor und bilden auf diese Weise kein symmetrisches System mit der Reihe der nicht palatalisierten, harten Konsonanten. Dies erklärt die Tatsache, daß die phonologische Belastung des Kontrastes zwischen weichen und harten Konsonanten auch im WAJ gegenüber den anderen phonologisch relevanten Oppositionen gering zu sein scheint.44 In der Tat lassen sich die phonologischen Oppositionen nur im Bereich mancher dentaler Laute nachweisen. Außer der oben erwähnten Opposition von hartem /n/· und weichen /ji/Nasal, werden phonologisch hartes und weiches /t/ sowie /I/ unterschieden; vgl. die folgenden Minimalpaare: ì y r S /binen/ .Bienen' # p n /bijiien/ ,Gebäude', jy'tflND /mot'En/,dem/ den Motje (Kosename für Mordechaj)' # jytflND /moten/ ,aufwickeln; verwirren' < poln. motac, J?ptflN,l?p /kTatk'e/ ,Käfig' < poln. klatka # ypHN^p /k-f/latk'e/ [kup'ja:m].54 Die Kontraktionen im WAJ unterscheiden sich von den mhd. dadurch, daß die neue Form keinen langen Stammvokal aufweist, sondern im Gegenteil der Vokal vielfach ebenfalls verschliffen wird, vgl. /geven/ > [gin] neben der starken Form [jevej], /zenen/ ,wir/sie sind' > [zin] neben stark [zajne], /gegebn/ > [gejm], /gegangen/ > [gan] neben [jejaji], /gelegn/ ,gelegen' > ßelejji] usw. Aus den angeführten Beispielen geht hervor, daß Kontraktionen im WAJ in allen Klassen der sth. Konsonanten möglich sind. Darüber hinaus ist es zu erwägen, ob sich die kontrahierten Formen auf andere im WAJ auftretenden Kurzformen der Verben durch Analogie ausgewirkt haben. Vielfach kommt das Partizip Perfekt häufiger Verben ohne die Vorsilbe /ge-/ vor, z.B. /er iz gekumen / > [ri kirne], /er hot genumen/ > [rot nime]. Die Auswirkung derartiger phonetischer Erscheinungen auf das grammatische System des WAJ wird im Kapitel zur Prosodie diskutiert.

53

54

Zu Kontraktionen im Mhd. s. z.B. Paul/Wiehl/Grosse (1989: 136ff.), hier werden auf S. 138 die Formen mhd. gist, git für nhd. gibst, gibt als Beispiele angegeben. Sie kommen auch im literarischen Polnisch vor und gelten dann für archaische Formen, vgl. czlowiek ,der Mensch' > czlek.

V. Prosodie

0. Vorbemerkung Die im weiteren angeführten Beispiele, die sich auf den Textteil beziehen, werden mit der Sprecherkennung (BA:, WI:) und der Zeilennummer versehen.1 Diese Beispiele werden der Lesbarkeit wegen gewöhnlich in vereinfachter Transkription (Transliteration) wiedergegeben und nicht wie in dem phonetischen Transkript in genauer IPA-Umschrift; sie stehen dann in / / schrägen Klammern. Nur wenn die genaue Wiedergabe der Aussprache wesentlich für das diskutierte Problem ist, wird die IPA-Umschrift verwendet; die Beispiele stehen dann in [ ] eckigen Klammern. Die standardjiddischen Beispiele werden kursiv ohne Klammern geschrieben. Die anderssprachigen Beispiele werden, außer den üblichen linguistischen Sprachkennungen (dt., poln., russ., ukr., brus., engl., hebr., franz., lat. usw.) nicht besonders gekennzeichnet.

1. Bestimmung des Untersuchungsfelds der Prosodie 1.1. Segmentelle Satzphonetik Im folgenden wird Prosodie weit verstanden als die Lehre von allen suprasegmentalen Mitteln, die zur Gliederung des Redeflusses dienen. Außer dem Wortakzent wird dabei besonderer Wert auf die Erscheinungen der segmenteilen Satzphonetik gelegt, ein Gebiet der Phonetik, das im allgemeinen bei der Beschreibung der lautlichen Struktur von Sprachen vernachlässigt wird. Während die Beschreibung der Lautsysteme hauptsächlich auf den isolierten Lexikoneinheiten basiert, befaßt sich die segmentelle Satzphonetik mit den Wortverbänden, bei denen Laute auf eine andere Weise artikuliert werden als in den Einzelwörtern. Da treten lautliche Erscheinungen sprachökonomischer Natur auf, bei denen Laute sich gegenseitig in Koartikulation beeinflussen und verzahnen sowie auf bestimmte Fokuspunkte hin gesteuert werden.2 Die dabei auftretenden Veränderungen der Lautstruktur der Wörter im Redefluß gegenüber den einzelnen Lexikoneinheiten, die sich durch Reduktionen, Verschleifungen, Kontraktionen, Elisionen, Assimilationen u.a. manifestieren, 1

2

Zusätzlich kommen im Text Beispiele aus dem hier nicht publizierten WAJ-Korpus vor, die die Sprecherkennungen ZA:, ZI:, PI: haben. Vgl. dazu ausführlich Köhler (1977: 207).

116

V. Prosodie

sind keineswegs regellos und lassen sich taxonomisch darstellen. Dabei folgen diese Veränderungen strikten artikulatorischen, linguistischen und situativen Bedingungen. Da es sich hauptsächlich um sprachökonomische Erscheinungen handelt, haben sie zum Teil einen sprachuniversellen, teils aber einen sprach- und dialektspezifischen Charakter. 3 Neben dem Lautsystem ist gerade die Kenntnis der Segmentierungsregeln einer Sprache oder Mundart die Voraussetzung für die sprachliche Dekodierung des lautlichen Kontinuums im Redeablauf, d.h. für die Verständigung. Somit bildet dieser Teil der Prosodie eine unentbehrliche Vervollständigung der Deskription der lautlichen Struktur des WAJ. Die infolge der Korpusanalyse ermittelten prosodischen Regelmäßigkeiten für das WAJ stellen den ersten Versuch einer Taxonomie der Segmentierungsregeln einer jiddischen Mundart dar.

1.2. Grenzsignale Bekanntlich verfügt jede Sprache über besondere Grenzsignale, welche die Identifizierung ihrer Spracheinheiten erleichtern. In der Schrift sind es Leerstellen zwischen den Wörtern, aber auch sich wiederholende grammatische und lexikalische Formanten oder Funktionswörter sowie Satzzeichen. Sie stellen gegenüber dem Lexikon einer Sprache ein geringeres und vor allem geschlossenes System von leicht erkennbaren Elementen dar. Dank der Anwendung von solchen „operationeilen" Mitteln kann der Sprachbenutzer die kleineren, d.h. Morpheme, Wörter oder größeren Einheiten, wie Satzglieder oder Gliedsätze, identifizieren, was eine Bedingung der einwandfreien sprachlichen Kommunikation ist. Die gesprochene Sprache bedient sich zu diesem Zweck der sogenannten suprasegmentalen Mittel, also Einheiten, die sich im Gegensatz zu den segmentalen Elementen der Sprache, linear nicht aufgliedern lassen. Man nennt sie prosodische Mittel. Zu den üblichsten Grenzsignalen gehört der Wortakzent, der entweder durch den Luftdruck (dynamischer Akzent) oder durch die Tonhöhe (musikalischer Akzent) gebildet werden kann sowie die Intonation, die Satzmelodie. Ein Grenzsignal kann aber auch ein akustisches Signal sein (z.B. Aspiration) oder ein artikulatorisches Merkmal (z.B. Glottisschlag), ein besonderer Laut oder aber eine bestimmte, strukturelle Lautfolge. Das üblichste Grenzsignal der gesprochenen Sprache ist jedoch der Wortakzent. Wenn er auf eine bestimmte Silbe im Wort festgelegt ist, wie z.B. im Polnischen auf die vorletzte, im Französischen auf die letzte, im Tschechischen auf die erste, gewährleistet der mechanische, feste Akzent eine rhythmische Aufteilung des Redeflusses der Sprechtakte, unabhängig vom Sprechtempo. 3

Kohler op. cit. S. 208.

1. Bestimmung

des Untersuchungsfelds

der

Prosodie

117

1.2.1. Akzent Die Akzentverhältnisse im Jiddischen sind, obwohl im gewissen Sinne regelmäßig, nicht mechanisch festgelegt, und somit nicht ausreichend, um die Grenzsignalfunktion allein zu übernehmen. Ahnlich ist es übrigens im Deutschen, wo der Akzent im Normalfall auf die Wurzelsilbe, die in den meisten Fällen zugleich die Initialsilbe ist, festgelegt ist. Von dieser logischen Akzentsetzung - immer auf die semantisch wichtigste (Wurzel)Silbe bezogen - gibt es jedoch im Deutschen zahlreiche Ausnahmen. Zum einen gibt es den Initialakzent der sog. trennbaren Verbalpräfixe, z.B. an-, auf-, ein- usw., der auf die nominalen Ableitungen übertragen wird, z.B. 'angeben > 'Angabe, 'angeberisch . Zum anderen existiert aber auch der Finalakzent der fremdsprachigen Suffixe, z.B. -ant, -eñe, -ieren usw. Im großen und ganzen ist die Menge der mehrsilbigen deutschen Wörter, die den Akzent auf einer anderen als der Initial- und/oder der Wurzelsilbe haben, zu bedeutend, als daß der Akzent zuverlässig allein als Grenzsignal bestimmt werden könnte.

1.2.2. Fehlen des Glottisschlags im Jiddischen Als weiteres Mittel gilt im Deutschen ein besonderes artikulatorisches Mittel, das die Morphemgrenzen zusätzlich kennzeichnet. Das ist der Glottisschlag, der auch „Knacklaut" [?] oder harter Einsatz genannt wird. Es ist ein kaum hörbarer Laut, der durch das plötzliche Aufschlagen der Glottis entsteht. Dieser Laut wird orthographisch nicht gekennzeichnet, obwohl er eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben kann, vgl.: dt. [fe'raizn] verreisen || [fe'Vaizn] vereisen. Dem Knacklaut vor allem verdankt das gesprochene Deutsch den Eindruck einer wohlsegmentierten Sprache mit deutlich hörbaren Sprecheinheiten, solchen wie Silben, Morpheme und Wörter. 4 Einer der größten lautlichen Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem modernen Jiddisch ist das totale Fehlen des harten Einsatzes in dem letzteren. 5 Dieser Mangel hat gravierende Folgen nicht nur für die unterschiedlichen Mittel und Methoden der akustischen Grenzsignalisierung, sondern konsequenterweise ebenso für die Morphologie und Syntax des Ostjidddischen, was im weiteren ausführlich angesprochen wird. 4 5

Zur Grenzsignalfunktion des Glottisschlags [?] im Deutschen vgl. Kohler op. cit. S. 108f. Diesen wichtigen Unterschied zwischen dem Deutschen und dem ZJ stellt Gutman (1926) fest, indem er schreibt: „Der trask oder kejl-ojfrejs treft zix bederx klal nist, d. h. die verter ,bindn zix tsunojf. [...] punkt azoj vi af frantsejz[is] un englis ober anders vi af dajc." S. 385.

118

V. Prosodie

1.3. Diskrepanz zwischen dem phonetischen und dem grammatischen Wort Die mit Hilfe prosodischer Mittel gewonnenen Segmente der gesprochenen Sprache (d.h. die prosodischen Einheiten), wie Sprechsilben, Pro- und Enklitika, zusammengezogene Wortgruppen und größere Intonationseinheiten sind nur selten identisch mit den Lexikoneinheiten der geschriebenen Sprache. Die Diskrepanz zwischen Sprechlaut und Buchstabe, Sprechsilbe und Morphem, einem phonetischen und einem grammatischen Wort, im allgemeinen zwischen Aussprache und (Recht)schreibung resultiert unter anderem daraus, daß die Schriftsprache viele redundante Informationen mitliefern muß, um die Vieldeutigkeit möglichst zuverlässig auszuschließen. Die gesprochene Sprache dagegen verfügt über zusätzliche Mittel zur Vereinheitlichung dessen, was in den meisten Fällen nach dem Prinzip der Sprachökonomie mit geringstem Aufwand und geringer Redundanz gesagt wird. Außer den prosodischen Mitteln kann der Text im direkten Kommunikationsablauf durch Mimik, Gestikulation, Körperbewegung und schließlich durch direktes Nachfragen verdeutlicht werden. Alle diese zusätzlichen Mittel und Möglichkeiten, die beim Sprechakt auftreten können, müssen bei der Betrachtung, Beschreibung und Bewertung der gesprochenen Variante einer Sprache mitberücksichtigt werden.

2. Wortakzent 2.1. Ursachen der Differenzierung des Wortakzents im Jiddischen Im Hinblick auf den Wortakzent weicht das WAJ nicht wesentlich vom Standardjiddischen (SJ) ab. Im allgemeinen unterscheidet man im Jiddischen den Hauptakzent und den Schwachton, das heißt faktisches Fehlen des Akzents. Der Hauptakzent ist exspiratorisch und dynamisch mit sehr starker Tendenz zur Abschwächung, Synkopierung und Silbenreduktion6 innerhalb eines Wortes sowie zur Anziehung der semantisch weniger relevanten Wortelemente an die Haupttonträger. Dadurch entstehen im Satz zahlreiche Klitika, d.h. schwachtonige Formen von unterschiedlichen Funktionswörtern und Partikeln. 7 Im allgemeinen gibt es in der jiddistischen Literatur die Tendenz, den Wortakzent im Jiddischen als festen Wurzel- und/oder Initialakzent seiner germanischen Komponente mit bestimmten Akzentverschiebungsregeln zu charakteri6 7

Vgl.: „The Rule of Post-Tonic Reduction" ausführlich diskutiert in Jacobs (1990: 146ff.). Die Pro- und Enkliseregeln werden ausführlich im folgenden Kapitel besprochen.

2.

Wortakzent

119

sieren. 8 Diese zusätzlichen Betonungsregeln sind übrigens nur diachron bestimmbar und beziehen sich auf einen Teil des slawischen Wortschatzes, vor allem aber auf das Lexikon der semitischen Komponente im Jiddischen. 9 Auf der anderen Seite liefert die moderne Sprache eine ganze Reihe von Fällen, die den Wortakzent im Jiddischen unter synchronlinguistischem Aspekt eher als frei und unbestimmbar charakterisieren lassen. Diese deskriptive Behauptung unterstützen die folgenden Wörter mit unterschiedlichem Hauptton, z.B. 'rozinkes, mispoxe, tele'gram oder die Wortpaare, z.B.: 'kupe || k'upe, 'maze II mu'zej.10 In der Tat betrifft die Erstsilbenbetonung den größten Teil des jiddischen Lexikons, das hauptsächlich aus germanischstämmigen Wörtern und nur zu einem geringeren Teil aus slawischen und semitischen Wörtern besteht. Im übrigen sind jedoch die Akzentverhältnisse im Jiddischen viel komplizierter, als daß man sie pauschal mit dem Wurzelakzent einer seiner determinierenden Sprachen, zum Beispiel des Deutschen, gleichsetzen kann. Die nicht seltenen Akzentunterschiede und -Verschiebungen innerhalb der nicht germanischen Komponenten, die sogar einzelne Flexionsparadigmen betreffen, deuten darauf hin, daß sich ein wesentlicher Teil des jiddischen Wortschatzes der pauschalen Annahme über den Wurzel-/Initialakzent entzieht. Die Akzentverschiebung bezieht sich auf die semitischstämmigen Wörter, wie z.B. 'xasene, 'ganef, 'xejder mit Initialakzent gegenüber av'ejre, ke'daj, ga'novim Pl., xad'orim PI. usw. mit dem Akzent auf der zweiten Silbe. Ahnliches findet man in den slawischstämmigen Wörtern des Standardjiddischen, z.B.: 'podlege, 'podkeve, 'smetane, 'lopete, gegenüber andersdialektalen, pod'loge, pod'kove, sme'tane, lo'pate, oder panjiddischen po'rondkes, tsi'kave, po'tcontek usw. Auch in der romanischen Komponente gibt es Beispiele für die Akzentuierung auf einer anderen als der Initial- oder Wurzelsilbe, vgl. fa'cejle. Einen interessanten Erklärungsvorschlag dieser verwickelten Akzentverhältnisse im Jiddischen, gestützt sowohl auf historische als auch auf soziolinguistische Prinzipien, unternimmt Jakobson (1958: 210f.). Im weiteren folgen wir seiner allgemeinen Perspektive, welche die Akzentsetzung von Herkunft und Alter des Wortes abhängig macht. Er unterscheidet drei Schichten im jiddischen Wortschatz, die sich durch unterschiedliche Betonungverhältnisse charakterisieren lassen. 8

Vgl. u.a. Zaretski (1929: 301): „In jidis ober hot der aktsent gants feste gezetsn ..."; Katz (1987a: 35): „Word stress (usually high in isolation) is bound to the root syllable, which is most frequently the first"; Jacobs (1990: 137): „For Yiddish itself let us consider a system of fixed stress. "

9

Zu Akzentverhältnissen in der slawischen Komponente des Jiddischen s. vor allem Jakobson (1958) und Green (1969); zur semitischen Komponente s. vor allem Leibel (1965), Jacobs (1990). Beispiele entnommen Green (1969: 216) und U. Weinreich (1954: 2).

10

120

V. Prosodie

2.1.1. Germanischer Erbwortschatz und (ältere) integrierte Slawismen Es handelt sich dabei um Wörter mit dem Akzent auf der ersten Silbe: Diese Gruppe machen alle einfachen, d.h. nicht zusammengesetzten Wörter (Simplicia) aus, die das Jiddische vom Germanischen geerbt hatte sowie (frühere) Entlehnungen aus dem Slawischen, die als fester Bestandteil des jiddischen Wortschatzes integriert wurden. Nach diesem Konzept wurde der ursprüngliche Initialakzent der germanischen Komponente im modernen Jiddisch weitergetragen. Bei der slawischen Komponente jedoch handelt es sich nicht um eine einfache, d.h. per analogiam Übertragung der germanischen Akzentverhältnisse. Bei den meisten Elementen des Wortschatzes war der Wurzelakzent tatsächlich präsent und hätte durch den quantitativen Systemzwang auf die slawischen Neuentlehnungen übergehen können. Man muß aber dabei auch die Akzentverhältnisse der Herkunftssprachen der Slawismen im Auge behalten. Der Hauptteil der älteren slawischen Entlehnungen entstammt dem Tschechischen und Polnischen. Das sind die zwei Sprachen, die in der Zeit der ersten Begegnung mit dem Jiddischen ebenfalls einen festen Initialakzent hatten, 11 der zusätzlich, gegenüber dem deutschen logischen Wurzelakzent, mechanisch, d.h. ausnahmslos, war. Das Tschechische und einige südliche Mundarten des Polnischen bewahren den Initialakzent bis heute, während das Polnische ab dem 15. Jahrhundert zur mechanischen, penultimativen Betonung übergeht. Diese markante prosodische Änderung korreliert übrigens mit dem Verlust der Vokalquantität im Polnischen. Für Jakobson, besonders aber für Green (1969), geht die Erstsilbenbetonung der (drei- und mehrsilbigen, denn bei den zweisilbigen kann man nicht entscheiden, ob es sich um den initialen oder penultimativen Akzent handelt) Slawismen im Jiddischen direkt auf den ursprünglichen tschechischen und altpolnischen Anfangsakzent zurück. Dabei waren die Jiddischsprecher konservativer als ihre koterritorialen Polnischsprecher bei Beibehaltung des Anfangsakzents der entlehnten Polonismen, weil er zusätzlich durch den mitgebrachten germanischen Akzent unterstützt wurde. 12 Dieser Konservatismus wurde zu einem wichtigen Faktor für die Akzentverschiebung bei vielen neueren Entlehnungen aus den ostslawischen Sprachen mit freiem, unbestimmbarem Akzent, z.B. jid. 'kropeve < ukr. kro'pywa, jid. 'recene < br. hra'cany, auch Jahrhunderte danach, als der 11 12

Vgl. insbesondere die chronologische Tabelle des Kontaktes bei Green (1969: 221). Green (1969: 224) „Thus it would seem that whether the Jews spoke Yiddish or Polish, they stressed the tri- and polysyllabic words in the same way - the harmony between Old Polish and Yiddish stress perhaps exercised a conservative influence, slowing the change in the Jewish stress of Polish words. The path for Polonisms into Yiddish was probably not through the Polish of gentiles but in the inevitable integration in Jewish bilingual speech. "

2. Wortakzent

121

Anfangsakzent im Standardpolnischen gegen dem penultimativen getauscht worden war. Auf diese konservative Einstellung der Jiddischsprecher gegenüber der historischen Initialbetonung der Polonismen und später anderer Slawismen geht auch die Tatsache zurück, daß sich in dem mit dem Polnischen koterritorialen Zentraljiddisch viel mehr Slawismen mit Anfangsbetonung finden als in den östlicheren jiddischen Mundarten, d.h. dem Nordostjiddischen und dem Südostjiddischen. Es ist also nicht in erster Linie, wie man oft annimmt, die unmittelbare arealinguistische Nachbarschaft des Zentraljiddischen mit dem Deutschen, die für die Festigung des Initialakzents in den nicht-germanischen Komponenten in dieser Mundart verantwortlich ist, sondern eher die Beibehaltung der altpolnischen Akzentverhältnisse.

2.1.2. Hebräisch-aramäischer Wortschatz Es handelt sich um Wörter mit dem Akzent auf der vorletzten Silbe, dem penultimativen Akzent. Vom diachronen Standpunkt her ist es auffallend, daß die Hebräismen weder den gemeinsamen germanisch-westslawischen Initialakzent des Jiddischen, noch ihren ursprünglichen Finalakzent aufweisen. Der vorherrschende Akzenttyp dieser lexikalischen Gruppe ist die penultimative Betonung, vgl. ma'tone ,Geschenk', re'sime ,Liste', je'ruse ,Erbteil'. Der Akzent ist mechanisch und wird je nach der Zahl der Silben in Flexions- und Derivationsformen (im Gegensatz zum germanischen Wurzelakzent) auf die vorletzte Silbe verschoben, vgl. 'talmid > tal'mide f., tal'midim PI. ,Schüler', 'jontev > jom'tojvim PI. ,Festtag', je'ruse ,Erbteil' > 'jarsen ,erben'.13 Nur in wenigen Fällen weicht der Wortakzent von diesem Modell ab, vgl. 'xasene ,Hochzeit', 'xaneke ,Channuka', ke'daj ,es lohnt', je'rid Jahrmarkt'. 14 Die Begründung für die Aussonderung der hebräischen Komponente durch eine unterschiedliche Akzentfestlegung sieht Jakobson in einer besonderen Einstellung der Jiddischsprecher zu der heiligen Sprache ihrer Religion im Gegensatz zur übernommenen Redeweise des Gastlandes. Der gleiche soziolinguistische Faktor liegt übrigens der Beibehaltung der traditionellen hebräischen Orthographie der Hebräismen im geschriebenen Jiddisch zugrunde.15 Die Ak13

Vgl. aber auch eine mögliche dreisilbige Ableitung

14

Zu den diachronisch begründeten Gesetzen der Akzentverschiebung in der semitischen Komponente des Jiddischen s. u.a. Leibel (1965: 70) und Jacobs (1990: 136ff.). Die häufig im Jiddischen vorkommenden zweisilbigen Funktionswörter (meistens Adverbien und Konjunktionen) hebräischer Herkunft mit Finalakzent, solche wie z.B. bi'frat, besas, lemoj, lesof sind zusammengesetzte klitische Formen, bestehend aus einer schwachtonigen Präposition (die erste Silbe) und dem ihr folgenden starktonigen Hauptwort. Vgl. Jakobson (1958: 212).

15

'jarsenen ,erben' mit dem

Initialakzent!

122

V. Prosodie

zentverschiebung gegenüber der traditionellen finalen Betonung des Hebräischen erklärt Jakobson als komplexe Verschiebung der prosodischen Verhältnisse in einer Sprache infolge des Verlustes der Vokalquantität, was eine Parallele u.a. in der Entwicklungsgeschichte des Polnischen hat. 16

2.1.3. Internationalismen und slawische Fremdwörter Es handelt sich um Wörter, die den Wortakzent der Herkunftssprache beibehalten haben, vgl. ins'pektsje < poln. ins'pekcja, geo'grafije < poln. geo'grafia, fa'brike < poln. fab'ryka, samo'var < russ. samo'var, mu'zej < russ. mu'zjej, kul'tur < dt. Kul'tur, apa'rat < dt. Appa'rat. Im allgemeinen handelt es sich also um jüngeres, entlehntes Wortgut, das den Integrationsprozeß noch nicht durchgemacht hat und im Bewußtsein der Sprecher immer noch den Status eines Fremdwortes hat.

2.2. Der Wortakzent im WAJ Das prosodische Kriterium der Akzentsetzung erweist sich als besonders wichtig bei der Bestimmung des Integrationsgrades der unzähligen Slawismen des modernen Ostjiddischen. Nach der phonetischen Verschriftung der Fremdwörter im jiddischen Alphabet kann man in vielen Fällen nicht feststellen, ob es sich um einen dialektalen Regionalismus, gelegentliche Zitation, ein Fremdwort oder ein in das Lexikon einverleibtes jiddisches Wort slawischer Herkunft handelt. Im ostjiddischen Sprachgebiet nimmt die Tendenz zum Initialakzent der Slawismen ostwärts ab. 17 Das bedeutet, daß in unterschiedlichen ostjiddischen Mundarten die gleichen Slawismen anders akzentuiert werden können und das Akzentkriterium in dieser Hinsicht nicht zuverlässig anwendbar ist. Anders verhält es sich im ZJ, wo die Zahl der Slawismen mit Initialakzent überwiegt und Wörter mit einem anderen als Anfangsakzent als Regionalismen, Fremdwörter oder Zitationen empfunden werden. Dieses Merkmal gilt auch für das WAJ, wo außer einer Reihe von standardjiddischen Slawismen 16 17

Ibidem: 213. Green (1969: 239): „Migrations eastward to the Ukraine and Belorussia brought Jews in contact with languages that do not distinguish short and long vowels, whose system of stress are free and unpredictable. One effect of this contact was that Yiddish itself lost the distinctive difference of phonemic vowel length: another was that Yiddish developed a pattern of unpredictable stress in the dialects to the east. Prom a synchronic point of view, the differences among the Yiddish dialects, then, ¿ire a matter of degree. CY has a large inventory of Slavisms initially stressed but not wholly so; the other dialects manifest a considerably greater degree of unpredictability. "

2.

Wortakzent

123

Wörter mit Anfangsbetonung vorkommen, die oft in den gängigen, jiddischen Wörterbüchern nicht verzeichnet sind. Trotzdem spricht ihre Anfangsbetonung für den Status integrierter jiddischer Wörter slawischer Herkunft, vgl. z.B. 'sirevotke ,Molke'< poln. ser'watka, 'otrembes ,Schrot'< poln. ot'rçby, 'zapzenges < poln. za'przçgi, 'mordeven zix < poln. mor'dowac siç, 'ulitsa < u'lica. Das letzte Beispiel stellt einen Sonderfall dar, im dem die prosodische der morphologischen Integration, nach der 'ulitse zu erwarten wäre, vorausgeht. Außer den integrierten Slawismen mit Anfangsbetonung gibt es auch eine ganze Reihe von Entlehnungen, die den ursprünglichen Akzent beibehalten haben. Es handelt sich dabei um Wörter, die in bestimmtem Grade die Integration in das phonetische und morphologische System des Jiddischen durchgemacht haben. Solche Wörter haben den Status von Fremdwörtern und gehören in die dritte Gruppe der Jakobson'schen Aufteilung, vgl. z.B.: do'robjen < poln. do'robic, za'topjen < poln. za'topic, la'panke < poln. la'panka, po'dobne < poln. po'dobny, stra'zakes < poln. stra'zacy, sto'dole < poln. sto'dola, ko'latsje < poln. ko'lacja, na'zeken < poln. na'rzekac, piont'kove < poln. pi^t'kowe, pse'vodnik < poln. prze'wodnik, kole'zankes < poln. kole'zanki, ko'lejke < poln. ko'lejka, po'pravjen < poln. po'prawic. Zusätzlich gibt es in der gesprochenen Sprache, besonders der bilingualen Sprecher, gelegentliche fremdsprachliche Wörter oder ganze Passagen, die als beabsichtigte Zitationen oder unbewußter Kodewechsel angesehen werden müssen (ausführlich darüber s. Kap. II).

2.3. Funktion des Wortakzents Der Hauptton im Jiddischen ist auf der morphologischen Ebene phonologisch nicht belastet, und im allgemeinen erfüllt er keine bedeutungsunterscheidende Funktion, 18 wie es im Deutschen der Fall ist: 'August (Vorname) || Au'gust (Monat), über'setzen (in andere Sprache) || 'übersetzen (z.B. ans andere Ufer) u.a. Anders verhält es sich auf der syntaktischen Ebene. Wegen der phonetischen Verhältnisse im Vokalsystem des WAJ (s. unten) treten in der gesprochenen Sprache sehr häufig homophone Formen auf, vgl. z.B. jid. 12C, > WAJ [fei]. In den meisten Fällen wird die Mehrdeutigkeit solcher Formen durch ihre syntaktische Position oder den semantischen Kontext aufgehoben. Treten jedoch Homophone im Satz nebeneinander auf, die differenziert werden müssen, so wird die bedeutungsunterscheidende Funktion des Wortakzents aktiviert, vgl. (WI: 231) /git-a gaj 'tsi fei-'me/ < git a 18

Vgl. U. Weinreich (1954: 2): „The distinguishing value of stress within the morpheme is almost nil; differently stated there are practically no pairs of morphemes which are distinguished by nothing except the place of stress. "

124

V. Prosodie

gej tsu (tsugejen) tsu mir. Die erste Form ist das staxktonige Konverb des Verbs 'tsugejn mit dem ursprünglichen Vollvokal /i/, während die proklitisch angehängte Präposition den zentralen Vokal [i] hat. In solchen Fällen wird die eine Form gewöhnlich schwachtonig und klitisch und die andere starktonig mit einem volltonigen Vokal realisiert. Analysieren wir die weiteren Beispiele aus unserem Korpus: (WI: 113) /iz-a'duKX doxn... do di vaisi/ < iz adurx durx di vajsl. Die erste von den beiden durr-Formen ist ein Konverb (trennbar zusammengesetztes Präfix) im Verb a'durxzajn. Es trägt den Hauptton und hat den ursprünglichen Vollvokalismus beibehalten. Die darauf folgende schwachtonige enklitische Präposition dura; weist die Vokalsenkung /u/ > /o/ vor /x/ auf sowie die totale Assimilation des /x/ und des uvular ausgesprochenen /r/ > [x].19 (WI: 208) /¡-do 'duu-a Jtejtl/ < iz do do a steil, hier bleibt das klitische Konverb vom zusammengesetzten Verb 'dozajn unbetont im Satz. Es behält aber, ähnlich wie im vorigen Beispiel, den ursprünglichen Vokal / o / bei. Das unmittelbar darauf folgende lokale Adverb weist den mundartlichen Vokal / u / auf, der durch den Hauptton und enklitische Kontraktion mit dem folgenden vokalisch anlautenden unbestimmten Artikel zu /uua/ diphthongiert wird. Diese okkasionelle Diphthongierung im WAJ nennen wir emphatische Diphthongierung (dazu s. unten). Aus den obigen Beispielen geht hervor, daß der Wortakzent allein keine Unterscheidungsfunktion ausüben kann. Er ist aber für die starktonigen und schwachtonigen Formen im Satz verantwortlich, die sich ihrerseits hauptsächlich durch den Vokal unterscheiden. Darüber, welche Form im Satz der Haupttonträger ist, entscheidet ihre semantische Relevanz. Es lassen sich dabei einige Regeln aufstellen. So hat das Konverb den Vorrang vor der Präposition und das Adverb wiederum Vorrang vor dem Konverb.

3. Prinzipien der jiddischen Satzphonetik Ein auffallendes Charakteristikum des gesprochenen Jiddisch ist die Verschmelzung von Wort grenzen im kontinuierlichen Redefluß. Die Ausprägung dieser Eigenschaft, die den Sprechvarianten vieler Sprachen eigen ist, hängt selbstverständlich von Sprechtempo und -situation ab. 20 Im Durchschnittsfall ist das Sprechtempo der Warschauer Mundartsprecher ziemlich schnell. Das ist 19 20

Zur Totalassimilation der beiden Laute vgl. Jakobson (1958: 217). Diese Prozesse werden in der allgemeinen Linguistik unter dem Terminus Schnellsprechregeln zusammengefaßt, vgl. dazu z.B. eine entsprechende Studie zur Wiener Stadtsprache bei Dressler/Leodolter/Chromec (1976).

3. Prinzipien

der jiddischen

Satzphonetik

125

einer der Gründe dafür, daß im WAJ die Wortkontraktionen besonders stark ausgeprägt sind. Das wiederum erweckt den Eindruck, daß die gesprochene Sprache schwer segmentierbar und somit für den uneingeweihten Hörer kaum verständlich ist. Unter anderem dieser, übrigens sehr oberflächlichen Betrachtung verdankt das WAJ den schlechten Ruf einer rohen, ungepflegten und somit unschönen Mundart. 21 Das WAJ verfügt wohl, wie jede gesprochene Sprache, über eigene Grenzsignale und prosodische Techniken zur Aufgliederung des Redeflusses, deren Kenntnis den Mundartsprechern die einwandfreie Verständigung mit ihren Mitsprechern gewährleistet. In der Tat könnten aber folgende Äußerungen eines echten Warschauer Mundartsprechers einem Außenseiter als nichts bedeutende Lautketten vorkommen, vgl.: [Va:bo tep'raismox] = vajber tserajst mix! (Ausruf eines Straßenhändlers), [xlax'zun] = ix vel ajx zugn, [dusï Jina'zax, vusïteï'nïj"...] = dos iz sojn a zax, vos vet zix nist (iberhazern), [xo'li] = ix xob lib. Trotz der unter Laien verbreiteten Meinung über „Grammatik(alitäts)losigkeit" des WAJ, welche die obigen Beispiele zu unterstützen scheinen, lassen sich derartige Verschmelzungen und Kontraktionen auf eine systemhafte Weise erklären und taxonomisch einordnen. Mehr noch, es gibt eine Reihe von Lexikoneinheiten, die nach dem selben Prinzip entstanden sind, und die in das heutige Standardjiddisch Eingang gefunden haben, vgl.: im irtse ha-sem > [mirtjesem] > 'mircem sabes tsu-naxt > [fa'bejs'tsenaxt] > 'spejsenaxt *inem stajn gezogt > [mi'Jtajinzokt] > mi'stajns gezogt Derartige Kontraktionen von zwei oder sogar mehreren Wörtern unterliegen bestimmten sprachökonomischen und (ko)artikulatorischen Gesetzen, die auf die Pragmatik des direkten Sprechaktes, das schnelle Sprechtempo sowie auf ein natürliches Bestreben nach dem geringsten Aufwand der gesprochenen Sprache zurückgehen. Im WAJ läßt sich die folgende Taxonomie satzphonetischer Gesetzmäßigkeiten feststellen: 1. Optimale Silbenstruktur 2. Obligatorische Hiatusvermeidung 3. Grenzsilbenökonomie (Haplologie) 21

Vgl. Kapitel I, Anm. 76.

126

V.

Prosodie

Diese regelmäßigen satzphonetischen Erscheinungen sprachökonomischen Charakters sind gleichzeitig wichtige Mittel der Redesegmentierung. Als Resultat ihrer Wirkung kommen zwei weitere Erscheinungen vor: 4. Morphem- und Silbengrenzenverlagerung 5. Diasystem der Synsemantika Zusammen wirken sich diese lautlichen Veränderungen bedeutend auf die Morphosyntax des WAJ aus und steuern somit die Entwicklungsrichtung der Mundart.

3.1. Die optimale Silbenstruktur Außer dem Wortakzent scheint das wichtigste Verfahren zur Segmentierung der prosodischen Einheiten im WAJ das Bestreben nach der optimalen Silbenstruktur zu sein. Nach dieser Regel wird der Redefluß in Silben aufgeteilt, die den konsonantischen Anlaut und vokalischen Auslaut, d.h. die Struktur KV-KV, bevorzugen. Dabei hat die Tendenz zum konsonantischen Anlaut, wie es scheint, Vorrang vor der Regel der offenen Silbe. Dies geschieht sehr oft auf Kosten der Wortstruktur, die dabei entsprechend „zugeschnitten" wird. Beispielsweise wird der orthographische Satz: er iz geven in Kroke ,Er war/ist in Krakau gewesen' im WAJ prosodisch in folgende Silben aufgeteilt: /r-i| ge|Ve| n-i| 'kru|ke/, von denen alle die Struktur: konsonantischer Anlaut und vokalischer Auslaut anstreben. Dabei verliert das Personalpronomen den vokalischen Anlaut am Satzanfang, das Hilfsverb /iz/ wird vor einem konsonantischen Anlaut auf /-i/ reduziert und dem vorangehenden auf einen Konsonanten reduzierten Pronomen enklitisch angehängt. Der konsonantische Auslaut von /geven/ wird vor dem vokalischen Anlaut der Präposition /in/ beibehalten. Die Präposition verliert dagegen ihren konsonantischen Auslaut vor dem folgenden Konsonanten. Auf diese Weise entsteht, zusätzlich durch Metathese unterstützt, eine im Lexikon des Jiddischen nicht vorhandene Einheit „ni" [ni], die aber im Kontext ohne weiteres als ,in' identifiziert wird. Ein ähnlicher Prozeß, gegründet auf dem Gesetz der optimalen Silbenstruktur, liegt bei der halbstandardisierten Form se für es zugrunde.22 Wie es scheint, handelt es sich in diesem Fall nicht nur um eine einfache Metathese, deren Aufgabe es ist, den konsonantischen Anlaut und vokalischen Auslaut herzustellen. Die umgestellte Form /se/ [si] < es ist nämlich homophon mit der Kontraktion der häufig vorkommenden Folge es iz, die nach der obengenannten Regel auf [SÍ] reduziert wurde, vgl.: /SÌ kumt/ < es kumt, /si gekumen/ < es iz gekumen. Die unterschiedliche Distribution dieser Formen gewährleistet ihre Identifizierung in der Tiefenstruktur. Die Sache wird aber zusätzlich durch eine 22

Vgl. Schaechter (1986: 16).

3. Prinzipien der jiddischen

Satzphonetik

127

Parallelform im koterritorialen Polnisch kompliziert. Im Polnischen wird der emphatische Dativ poln. sobie ,sich' in der Umgangssprache sehr oft zu einer mit dem Jiddischen homophonen Form poln. / s e / abgeschwächt. Da dieser spezielle Dativ im Jiddischen auch sehr oft vorkommt, 23 sind Konstruktionen wie jid. se kumt ,es kommt' und poln. se idzie ,er kommt einfach', zwar nicht identisch in ihrer Bedeutung, aber in bestimmtem Kontext doch sehr ähnlich. Wie man leicht erkennen kann, hat das prosodische Gesetz der optimalen Silbenstruktur im gesprochenen WAJ Vorrang vor der morphologischen Segmentierung. So kann ein Wort abhängig von seiner unmittelbaren lautlichen Umgebung unterschiedlich realisiert werden. Es handelt sich dabei nicht um die Unterscheidung der stark- und schwachtonigen Formen, sondern um die Regel der optimalen Silbenstruktur. Vgl. die lautliche Realisierung des Pronomens und des Hilfsverbs bei unterschiedlicher Wortfolge: er iz geven > /ri geven/, iz er geven > /ze geven/, ix bin > /i-bin/, bin ix > /bin-ax/ u.a. Das Pronomen /er/ wird je nach Stellung entweder auf den Vokal / e / oder auf den Konsonanten /r/ reduziert, ähnlich das Hilfsverb /iz/. Auf diese Weise entstehen sehr oft prosodische Einheiten, die mit den morphologischen nicht übereinstimmen, 24 vgl. (WI: 003) /efse rete repe zugn/ < efser vet er epes zogn,vielleicht wird er etwas sagen'. In diesem Beispiel wird der Laut /r/ aus der Auslautsilbe /-er/, die vor einem konsonantischen Anlaut oder einer Sprechpause vokalisch als [-ε] oder [-o] realisiert wird, zum konsonantischen Anlaut der folgenden prosodischen Einheit. Wo zwei homorgane Laute an der Wortgrenze zusammentreffen, wie in unserem Beispiel /epes zugn/, werden sie total assimiliert und so verteilt, daß ein konsonantischer Anlaut entsteht. Kommt mehrfache Konsonanz an der Wortgrenze vor, so wird sie gewöhnlich auf einen Konsonanten reduziert, vgl. (WI: 094) /ves-esn/ < vest esn, (ZA: 181) /vajs nis favus/ < vejst nist farvos. Die Spuren des prosodischen Systemzwangs nach konsonantischem Anlaut, zu dem es eine Tendenz nicht nur im WAJ gibt, finden wir übrigens auch in der Standardsprache. Harkavy (1928) listet einige Wörter mit einem ungenetischen n-Anlaut auf, die infolge der prosodischen „falschen" Segmentierung Eingang in die allgemeine Sprache gefunden haben, obwohl sie für den Autor als Sub23 24

Vgl. bei Schaechter (1986: 206) „der spilevdiker dativ". Es handelt sich dabei um ein größeres Problem des Definierens und der Differenzierung zwischen prosodischen Einheiten („stress construction", „phonic word") und ihren orthographischen Entsprechungen („grammatic word") im Jiddischen, worüber sich U. Weinreich (1954) folgendermaßen geäußert hat: „One major research problem concerns the correspondence between phonic words, defined in terms of stress and possible juncture [...] and words defined grammatically, semantically, or otherwise. (...) the detailed analysis of the congruence and non-congruence of phonic and grammatical words in Yiddish has not yet been meide ..." S. 16-17.

128

V. Prosodie

standardformen gelten, vgl. novnt < /gut|n ovnt/ ,guten Abend', dann aber auch selbständig im Kompositum novnt-stern ,Abendstern', nam ,Amme' < /a|n am/, noi ,Ahle' < /a|n ol/, na'vejre ,Sünde' < /a|n 'avejre/ (< hebr. avara), nedizne ,ein Abschiedstip' < */a|n otjezne/ (< poln. na odjezdne wörtl. ,auf die Abfahrt'). 25 Aus den obigen Beispielen geht deutlich hervor, daß in der gesprochenen Sprache die prosodische Segmentierung Vorrang vor der morphologischen und der etymologischen hat. Dabei lernen wir, welche Konsequenzen die Regel der optimalen Silbenstruktur für das Lexikon haben kann. Daß es sich dabei um ein kraftvolles Gesetz handelt, wird noch einmal an einem Beispiel illustriert: (WI: 316) /aza| mi .... |aza |mi |no|re/ < aza min... aza min nore ,eine Art ... eine Art (Fuchs-)Bau'. Das Auslaut-[n] von min ,Art' wird prosodisch nach dem Prinzip der optimalen Silbenstruktur und dem Prinzip der totalen Angleichung homorganer Laute dem folgenden Wort angegliedert. Der Sprecher antizipiert dies, indem er den Auslautnasal selbst im Anakoluth verzögert, um ihn der nächsten prosodischen Einheit proklitisch anzuschließen. Die Tendenz zur Bevorzugung der optimalen Silbenstruktur ist eine sprachuniversale Erscheinung, die auch in anderen Sprachen vorkommt. Im dialektalen Jiddisch, wo die üblichen Grenzsignale fehlen,26 scheint die Silbenstruktur KV-KV die Grenzsignalfunktion zu erfüllen. Als Folge wird im Jiddischen der Redefluß mechanisch und nicht, wie im Deutschen, logisch, d.h. nach den etymologischen Wort- und Morphemgrenzen, segmentiert. Im dialektalen und umgangssprachlichen Deutsch kommt es ebenfalls zu Wortkontraktionen, aber auch dann werden in der Regel die Morphemgrenzen prosodisch gekennzeichnet, vgl. dt. haben wir > ['ham|va], er hat > [e|'hat], jid. hoben mir > ['ho|rm], er hot > ['rot]. Die Hauptursache der unterschiedlichen prosodischen Segmentierung im Deutschen und Jiddischen liegt im Fehlen solcher grenzsignalisierenden phonetischen Charakteristika im Jiddischen wie die Aspirierung der Explosivlaute, die Auslautverhärtung an der Wort- und Morphemgrenze, vor allem aber im Fehlen 25

26

Auf das Problem der richtigen, d.h. etymologischen Segmentierung bei den jiddischsprachigen Schülern macht Zaretski (1929: 284) aufmerksam: „Ven me kempt in sul kegn dem often grajz tsu srajbn ,a najzn, a narbet' oder farkert ,an umer, ein est' darf men apeliren nist tsum geher (es hert zix nist ,a nejzn' nist ,an ejzn' nor ,anejzn') nor tsu der gramatiser oder leksiser natur fun vort ... ." Diese Eigenschaft des Jiddischen ist auch anderen Linguisten aufgefallen, vgl. dazu besonders U. Weinreich (1954: 10): „It turns out that the phonetic characteristics of phonemes near possible boundaries between stress constructions are in Yiddish exceedingly ill defined. Aspiration of stops, for example, is rare even sentence initially; glottal stops before initial vowels are entirely sporadic [...] unvoicing of word-final consonants does not take place in the standard language."

3. Prinzipien

der jiddischen

Satzphonetik

129

des harten vokalischen Einsatzes vor vokalischem Einlaut. 27 Sie wurden durch das obengenannte Prinzip, nach dem eine Silbenstruktur mit konsonantischem Anlaut und vokalischem Auslaut angestrebt wird, ersetzt. Spuren dieser Struktur sehen wir auch in der standardjiddischen Rechtschreibung, wo solche Kurzformen wie ΜΝΠ'Ί ,r'hot < er hot' T'N'D ,s'iz < es iz', x'vel < ix wel', welche die tatsächliche Aussprache wiedergeben, nicht nur dem informellen Schreibstil vorbehalten sind.28

3.2. Hiatustilgung Eine Konsequenz der oben diskutierten Regel der optimalen Silbenstruktur ist das Vermeiden des Hiatus, d.h. des Zusammentreffens zweier Vokale an der Silben- oder Wortgrenze. In der Standardsprache manifestiert sich das durch die Unterscheidung der beiden stellungsbedingten Varianten des unbestimmten Artikels / a / und /an/. In der gesprochenen Sprache geschieht das am häufigsten durch die volle artikulatorische Realisierung der Auslautkonsonanten, die dann als Hiatustrenner vor einem vokalischen Anlaut fungieren. Im WAJ wird nämlich üblicherweise der auslautende Konsonant in einer isolierten Position, vor konsonantischem Anlaut oder vor einer Sprechpause, nicht realisiert, vgl. dos iz g even > /dus-i geven/ ,das ist gewesen', ix hob gekojft < /ji-xo jikojf/ ,ich habe gekauft', (a)vos? [no] und im, > [mm, nejm] in der zentraljiddischen Mundart belegt sind. In unserem Korpus vgl. (BA: 043) /un me hot si-nis gelost nim/ < me hot sojn nist gelost im, (ZA: 347) /ot zi no gezugt/ < hot zi ir gezogt.32 Auch hier muß zusätzlich mit dem Einfluß des koterritorialen Polnischen gerechnet werden, denn auch dort haben die entsprechenden Pronomina stellungsbedingte Varianten mit anlautenden ungenetischen /n-/, vgl. poln. jego/niego = jid. im/nim ,ihm', poln. jej/niej = jid. ir/no ,ihr'. 33 Prilutski (1937:104 u. passim) führt für das ZJ eine ganze Reihe von Formen mit hyperkorrekt eingeschobenem /-N-/ an, z.B. /tsi-N-izame/ < tsuzamen ,zusammen', /ba-N-azame/ < bajzamen ,beisammen'. Übrigens geht er davon aus, daß die Form /azamen/ primär war, und daß das /-n-/ als ungenetischer Hiatusvermeider eingeschoben wurde. Sie kann aber auch als Folge falscher Segmentierung aus den obigen Formen sekundär entstanden sein, was die im Jiddischen zahlreichen Formen mit protetischen /a-/-Anlaut, solche wie azelxe, aza, anit, ajo, avos usw., zusätzlich unterstützen könnte. Eine gewisse Angst vor derartigen „unkorrekten", weil (historisch) unmotivierten Formen mit einem ungenetischen /n-/-Anlaut mag auf der anderen Seite der Grund für hyperkorrekte Vermeidung des Gleitlautes sein, auch in den Fällen, wo die Grammatik besondere Mittel zur Verfügung stellt. Im folgenden Beispiel benutzt die Sprecherin vor einem Substantiv mit vokalischem Anlaut 30

31

32 33

Dieses Beispiel aus dem WAJ stammt aus Prilutski (1937: 109), wo er weitere Belege auch für substantivische Verwendung der Neuschöpfung anbringt. Zu der Tabu-Verwendung des jid. xlebn nach dem poln. Muster niech skonam vgl. Geller (1994: 109). Zahlreiche weitere Beispiele s. bei Prilutski (1937: 103). Ausführlich darüber s. Geller „Germanocentric vs. Slavocentric Approach to Yiddish" in Proceedings of the Twelfth World Congress of Jewish Studies, Jerusalem 1997, in print.

132

V. Prosodie

den unbestimmten Artikel / a / statt sein Allomorph /an/, das hiatustrennende Funktion hat, vgl. (ZA: 283) /efse s'iz geven a Instinkt/ < efser es iz geven an instinkt vielleicht war es ein Instinkt'. Auf der anderen Seite kommt es manchmal zur hyperkorrekten Hiatusbehebung. An einer Stelle, wo keine Vokale zusammentreffen, wird ein ungenetischer Konsonant vor dem vokalischen Anlaut eingeschoben, vgl. (WL 099) /bin-D-antlofn/ < bin antlofn ,ich bin entlaufen'. Dieser Fall erinnert zum Teil an das ungenetische [d], das als Gleitlaut die beiden Sonanten / n / und /I/ in diminutiven Formen auf /-n/ trennt, vgl. kern > kerndl. Als Hiatustrenner kommen im WA J auch andere Konsonanten als die beiden Sonanten der Flexions- und Derivationssilben vor. Einen interessanten Fall stellt die Form des frequenten Partizips Perfekt des Verbs hobn dar. Die Form /gegat/ < gehat entstand durch die Reduplikation des anlautenden Konsonanten, nachdem durch den mundartlichen [h]-Ausfall eine Hiatusstelle entstand. 34 Die Stufen der Entwicklung können wir also wie folgt rekonstruieren: dt. gehat > stjid. gehat > ostjid. *geat > WAJ gegat. Die Reduplikation ist ein sprachuniversales grammatisches Mittel, das in vielen Sprachen Verwendung findet, vgl. z.B. dt. gegangen. Zusammenfassend kann man feststellen, daß der Hiatus im gesprochenen WAJ eine unerwünschte Erscheinung ist. Er wird sowohl durch genetische als auch ungenetische Trennlaute behoben. Die häufigste Form der Hiatustilgung ist eine mit der Liaison im Französischen und anderen Sprachen vergleichbare „Bindung eines vokalisch auslautenden Wortes mit einem vokalisch anlautenden durch die Aussprache eines sonst im Wortauslaut stummen Konsonanten". 35 Dabei kommt es zur Silbengrenzverschiebung entsprechend dem Gesetz der optimalen Silbenstruktur, so daß der Hiatustrenner zum Anlautkonsonanten der folgenden Silbe wird. Dies wiederum eröffnet neue Möglichkeiten für die Wortneuschöpfung und hat letzten Endes Konsequenzen für die Wortschatzstruktur im Jiddischen.

3.3. Grenzsilbenökonomie (Haplologie) Ein anderes wichtiges sprachökonomisches Gesetz des gesprochenen WAJ ist die Regel der Nichtwiederholung gleichlautender Silben. Die Vereinfachung zweier gleich oder ähnlich klingenden Laute oder Silben, die aufeinanderstoßen, ist auch unter dem Namen Haplologie bekannt. So wie es in der jiddischen Orthographie keine Doppelkonsonanz gibt und in der Orthoepie totale Angleichung homorganer Konsonanten gilt, werden auch homophone Silben oder Laute in unmittelbarer Nachbarschaft vereinfacht. Das Prinzip der Silbenökonomie 34

35

Für das Lodzer Jiddisch führt Gutman die Form ,gat' an als Resultat des [h-]-Schwundes, vgl. Gutman (1926: 386). Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini. Leipzig 1985, S. 141.

4- Diasystem der Synsemantika

133

beruht also darauf, daß die Auslautsilbe und die gleichlautende Anlautsilbe der folgenden prosodischen Einheit nur einmal realisiert werden. Aus diesem Prinzip lassen sich Alternationen zwischen den oben diskutierten Formen mit Hiatustilgung durch ungenetische Konsonanz wie, z.B. in /ba-R-ints/ ,bei uns', /geGat/ ,gehat' und entsprechenden gekürzten Formen /bints/, /gat/ erklären. Das Prinzip der Haplologie bezieht sich sowohl auf das Wortinnere als auch auf die Morphem- und Wortgrenze. So wird zum Beispiel das dreisilbige stjid. gegangen im WAJ auf zwei Silben /gegan/ oder sogar nur auf eine Silbe /gan/ reduziert, vgl. /fabagane/ < farbajgegangen und genumen > /genim/. Darüber hinaus führt Prilutski (1937: 64) für das WAJ /gej/ < gegebn, /avegej/ < avekgegebn an. Genauso wird im WAJ an der Wortgrenze kontrahiert, z.B. (WI: 123) vemen men hot (getrofn) < /vej-min-ot/ ,wen man hat (getroffen)'. Auf diese Weise sind neue prosodische Einheiten wie zenen mir > /'zemi/, hoben mir > /'(h)omi/, sojn nist > /si'ms/ und viele andere entstanden, die in der gesprochenen Sprache im ständigen Gebrauch sind. Auch in diesem Fall sind Formen, die auf dieses Prinzip zurückgehen, in das Standardjiddische eingedrungen. Das in der Standardsprache lexikalisierte fa'ran < far'handen ,vorhanden' ist infolge der Silbenökonomie entstanden, vgl. /farhanden/ wird nach [h]-Ausfall zu /faranden/. Nachdem [d] sich dem vorausgehenden homorganen Nasal [n] total angleicht, kommt es zum Aufeinanderstoßen von zwei lautlich ähnlichen Silben > */fa|ran|en|/, die nach dem Gesetz der Silbenökonomie nur einmal realisiert werden. In seiner neuen, zuerst lautlichen und schließlich auch schriftlichen Gestalt verliert die Neuschöpfung faran ihre ursprüngliche prädikative Distribution als Teil des Syntagmas s 'iz faran ,es ist vorhanden' und bürgert sich als selbständiges, (defektives) Verb mit der Bedeutung ,es gibt' in das jiddische Lexikon ein. Das Prinzip der Silbenökonomie gilt auch für ganze Wörterreihen, die unter Umständen um einige Silben gekürzt werden können. Vgl. die folgenden Beispiele zi hot gezejen zejer sejn ,sie hat gesehen sehr schön' > (PI: 092) /zot ge-zeje sajn/ eine Reihe von acht Silben wurde auf fünf reduziert; ober er hot ,aber er hat' > (ZA: 023) /obo-rot/ eine Folge von neun Lauten wurde um ein Drittel gekürzt.

4. Diasystem der Synsemantika 4.1. Starke und schwache Formen Die Regel der Silbenökonomie erstreckt sich übrigens auch auf Fälle, in denen nicht nur homophone Silben zusammentreffen. Die Tendenz zur Abschwächung oder Reduktion der im Gesprächskontext entbehrlichen Elemente ist im WAJ

134

V. Prosodie

sehr stark verbreitet. 36 Die redundanten Elemente sind im allgemeinen Funktionswörter, solche wie Artikel, Pronomina, Hilfsverben, Präpositionen, Konjunktionen, besonders häufig vorkommende Adverbien sowie andere Partikel. Die Funktionswörter sind in erster Linie Träger grammatischer und nicht semantischer Informationen. Im Hinblick auf ihren direkten Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit sind sie, gegenüber dem Zeit-, Ding-, Eigenschaftsund Umstandswort semantisch irrelevant oder sogar leer. Deshalb werden die ersten in der Linguistik Autosemantika und die letzteren Synsemantika, d.h. (bedeutungs)leere Wörter genannt. Dem Haupt- und Schwachton auf der Wortebene entsprechen auf der satzphonetischen Ebene starke und schwache Formen, aus denen sich eine prosodische Einheit, d.h. der Sprechtakt, zusammensetzt. Da die Synsemantika keinen semantisch-referenziellen Wert in bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit haben, erscheinen sie normalerweise als schwachtonige Formen. Sehr oft bekommen sie aber im konkreten Sprechakt den sog. emphatischen Akzent, der zur Unterstreichung oder zur Gegenüberstellung dient, vgl. ,nicht du sondern e r ' , ,nicht auf sondern aus ' usw. Je nach der Stellung im Sprechtakt, als Haupttonoder Schwachtonträger, können die synsematischen Funktionswörter in starker, d.h. volltoniger, oder schwacher, dann meistens auch zugleich klitischer Form, erscheinen. Ahnlich wie im Fall der anderen, oben diskutierten sprachökonomischen Gesetzmäßigkeiten findet auch das Diasystem der schwachen und starken Formen von Synsemantika ihren Ausdruck im Standardjiddischen.

4.1.1. P r o n o m i n a im W A J Die Pronomina als obligatorische Begleiter der persönlichen Verbalformen scheinen vom Standpunkt der germanistischen Satzphonetik aus, eine Sonderstellung einzunehmen. Auf der einen Seite werden sie in der Schwachtonstellung satzphonetisch reduziert und zugleich durch „potenzierte Endungen" gestützt. 3 7 36

Die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung war Prilutski (1937: 71) bewußt, wenn er Folgendes feststellt: „Opfal fun / η / nox kurtsn vokal in proklitiser zilb - in pojlis-jidisn [...] ken gestelt vern in farbindung mit dem algemejnem gezets fun der jidiser spraxantviklung vegn redutsirung fun umbatonter zilb (di redutsirung ken zajn a rejn-kvantitative, oder ojx a kvalitative un dergejt oftmol biz farsvindung fun vokal oder afile fun konsonant oder fun der gantzer zilb)."

37

Vgl. dazu M ciak (1983: 1174); er erwähnt drei Tendenzen, die bei der Entwicklung der (alt)germanischen Pronomina auftreten, die auch für das moderne Jiddische zutreffen: „(1) Verallgemeinerung einer der beiden satzphonetisch bedingten Doppelformen [...] (2) [...] Formenausgleich, etwa die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Dativ und Akkusativ [...] (3) Stützung stark reduzierter und deshalb besonders gefährdeter Formen, z.B. durch

4- Diasystem der

135

Synsemantika

Im gesprochenen Jiddisch treten die Personalpronomina nicht obligatorisch auf, u m so mehr sind sie durch die totale Reduktion gefährdet. Es gibt folgende standardisierte Kurzformen der Pronomina in der jiddischen Schriftsprache: s'iz < es iz, r'hot < er hot, x'vel < ix ve/.38 Demgegenüber läßt sich im WAJ ein vollständiges Paradigma der schwachen und starken Personalpronomina aufstellen, vgl.: Subjektfall

starke Form

schwache

Form

ix du er zi es mir/undz ir/ets zej

[jax]. [¡εχ], [ijBx], ßix], [ejx] [di], [dije] [eje] [zi:] [es] [mije] / D¡nte] [ije] / [ete] [zaj]

[-x], [i-], [εχ], [ax], [οχ], [ϊχ] [ti], [-t], [d-] [-e(r)], [r-], [-0] [zi], [zi], [ζ-] [s-], [si], [se] [me], [ma], [mi] / [inte], [ins], [i(r)] / [-ts] [ze], [zi], [z-]

casus obliqui

starke Form

schwache

mir/mix dir/dix im ir/zi es/im undz ajx/enk zej

[mije] / [mijex] [dije] / [dijex] [ejm], [jim] [ije] / [zi] [es] [jints] [a:x] / [eqk] [zaj]

[mi], [me], [ma] / [mex], [mo(x)] [di], [de], [da] / [dex] [im], [em], [nim] [i(r)], [no] / [ze], [is], [-s] / [im], [em] [(i)nfe] / [ins] [ax] [ze], [zi]

Form

Im WAJ kann m a n also von einem strukturellen Diasystem der Pronomina sprechen, die unterschiedliche prosodische und manchmal auch lexikalische Varianten für die Haupt- und die Schwachtonposition entwickelt haben. 3 9 Dabei handelt es sich meistens nicht u m eine zweigliedrige Opposition, sondern eher u m eine Skala von Ubergansgsformen. Im allgemeinen gilt aber eine Aufteilung in volle und schwache (klitische) Formen. Im Personalpronomen der 1. Prs. Sg. N. stehen beispielsweise den folgenden schwachtonigen Varianten /i-, -x, ex/ die starktonigen Formen /¡ex, jax, jix, ijex/ gegenüber. Ein stdjid. /ix/ erscheint in diesem Zusammenhang als neutrale, d.h. unmarkierte Form, die im gesprochenen WAJ äußerst selten vorkommt. 38 39

Vgl. Schaechter (1986: 23). Ausführlicher vgl. dazu Geller, E. Germanocentric vs. Slavocentric Approach to Yiddish In: Proceedings of the 12 th World Congress of Jewish Studies. Jerusalem 1997 (in print).

136

V. Prosodie

Je nach Kontext, Intention des Sprechers oder Stellung im Satz werden volltonige, starke und schwachtonige Formen verwendet. Im Jiddischen unterliegt die Distribution der starken und schwachen Formen keinen so strikten Regeln wie, z.B. im Polnischen. Während das schwache Pronomen poln. ciç als Antwort auf die Frage „Wen siehst du? " im Polnischen als ungrammatisch gilt, hat das Jiddische in dieser Position eine kontextoder sprecherbedingte Wahl. Dem Standarddeutschen dagegen steht in dieser Funktion nur die Tonstärke oder -höhe zur Verfügung. Vgl.: poln. Widzç ciç! Kogo widzisz? Ciebie!/*Ciç! WAJ x'ze dix! vejmin zistí? dijex!/dix! dt. Ich seh' dich! Wen siehst du? Dich!/ Prilutski (1937: 114) unterscheidet gegenüber dem volltonigen Pronomen 3. Prs. Sg. D. f. ir einige schwachtonige, enklitische Formen [o], [a] und [ε] und gegenüber dem volltonigen Pronomen 3. Prs. Sg. m A./D. [ejm] schwachtoniges [im]. Alle diese Formen (außer ir ) erscheinen auf Grund des Hiatusgesetzes oft mit einem ungenetischen /n-/ im Anlaut. Auch Birnbaum (1979: 247ff.) unterscheidet in seiner neu bearbeiteten jiddischen Grammatik zwei Paradigmen, das der starken und das der schwachen Personalpronomina. Wie schon oben erwähnt wurde, kennt das WAJ außer den Kurzformen der Personalpronomina auch schwachtonige Varianten anderer Funktionswörter. Im folgenden werden einige der am häufigsten auftretenden schwachtonigen Formen aufgelistet. Der stjid. Form folgt eine starke in der Opposition zu der schwachen Form des WAJ. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß es sich um keine binäre Opposition handelt, sondern daß zwischen den beiden Extremformen normalerweise mehrere Varianten nebeneinander stehen. Fragepronomina: farvos ,warum' /farvues/ # /favo/, vos ,was' /vues/ # /vo/ vemen ,wen/weim' /vejmin/ # /vim/, vu ,wo' /vije/ # /v(i)/, tsi ,ob' /tsi/ # /to/. Artikel: der ,der' /deje/ # /di/, dos ,das' /dues/ # /di(s)/, di ,die' /di/ # /di/, kejn ,kein' /kajen/ # /ka/. Konjunktionen: un ,und' /in/ # /¡/ az ,daß; als' /az/ # /a/, vorem ,deshalb' /vorem/ # /vun/, kejn ,gen, nach' /ken/ # /ka/. Adverbien: sojn ,schon' /sojn/ # /si/, tsuerst ,zuerst' /tsimejstn/tsinanejs/ # /tsejs/, erst ,erst; jetzt' /erst/ # /es/, ojx ,auch' /ojxet/ojex/ # /ox/, nit ,nicht' /nite/ # /ni/, nist ,nicht' /nist/ # /nis/, u.a.

4.1.2. Hilfsverben Die zweite Kategorie der Synsemantika, die im WAJ vollständige Paradigmen der starken und schwachen Formen hat, sind die Hilfsverben. Einige schwache

4· Diasystem

der

Synsemantika

137

Formen der Hilfsverben werden auch im StJ akzeptiert, vgl. ix'l < ix vel ,ich werde', er't < er vet ,er wird', mir'ln / mir'n < mir vein ,wir werden'. Die folgenden schwachen Personalformen des Hilfsverben hobn ,haben' und zajn ,sein' kommen im gesprochenen WAJ vor:

(ix) (du) (er, zi, es) (mir, ints) (ir, ets) (zej)

hobn

zajn

[xo] [os(t)] [ot] [om] [ot] [om]

[bi] [bis] Η [ζε/ζεηε] [zet] [ζε/ζεηε]

Eine interessante Erscheinung, die bei dieser prosodischen Reduktion vorkommt, ist der qualitative Wechsel des Vokals der Kurzformen. Dabei handelt es sich nicht immer um Vokalreduktion, was bei der Abschwächung zu erwarten wäre. Beim Verlust des Endkonsonaten wird zum Beispiel der hohe, zentrale Vokal [i] zu einem hohen, vorderen [i], vgl. [bin] > [bi] ,bin', [iz] > [i] ,ist', [ix] > [i] ,ich', [in] > [i] ,und'. Dabei kommt es zu einem Formenzusammenfall: Die drei Formen /ix/, /iz/ und /un/, die klitisch als [i] realisiert werden, kann man nur noch durch ihre unterschiedliche Distribution im Satz unterscheiden. Auch Vergangenheitspartizipien von frequenten Verben besitzen im WAJ ihre schwache Formen, vgl. gehat ,gehabt' > /gat/, gevejn ,gewesen' > /gevej/, gekumen gekommen' > /kirn/, gegangen ,gegangen' > /gane/, gegebn ,gegeben' > /gejm/, ongehojbn ,angehoben, angefangen' > /ugojm/ u.a.

4.2. Klitische Formen Die Tendenz zur Pro- und Enklise ist unmittelbar mit dem dynamischen Wortakzent und der Regel der optimalen Silbenstruktur im Jiddischen verbunden. Die Synsemantika sind durch ihre sekundäre Stellung für die unmittelbare Kommunikation besonders stark der Wirkung der sprachökonomischen Gesetze in der gesprochenen Sprache ausgesetzt. Außer im besonderen sprachlichen Kontext, wenn sie zum Kontrast betont werden, sind sie gewöhnlich keine Haupttonträger. Die Funktionswörter werden daher lautlich stark reduziert und als unbetonte Silben einem haupttonigen Wort angegliedert. Die reduzierten, schwachtonigen prosodischen Partikel heißen klitische Formen oder kurz Klitika.40 Die Klitika können sich mit dem voreingehenden oder dem darauffolgenden volltonigen 40

Der erste Linguist, der den Terminus Klitika („clitics") in bezug auf das Jiddische verwendet hat, war U. Weinreich (1954: 27).

138

V. Prosodie

Wort zu einer prosodischen Akzenteinheit verbinden. Im ersten Fall entsteht Enklise, z.B. /'mitn/ < mit + (de)m, /'ote/ < hot +er, /irt/ < ir vet, /'jixo/ < ix hob usw., im letzteren Proklise, z.B. /xgej/ < ix gej, /riz/ < er iz, /skumt/ < es kumt, /ka'mol/ < kejn mol. Im StJ werden Präpositionen mit dem folgenden maskulinen bestimmten Artikel dem (casus obliqui) regelmäßig kontrahiert, wodurch Formen mit dem enklitischen Artikel in der Schriftsprache obligatorisch vorkommen: vgl. mitn < mit + dem, funem < fun +dem, afn < ojf + dem usw. Durch ihre frequente Verwendung werden diese prosodischen Segmente nicht mehr als Verschmelzungen begriffen und schließlich lexikalisiert, so daß sie auch vor femininen Substantiven auftreten, z.B. *afn gas statt af der gas ,auf der Gasse', oder *farn sul statt far der sul ,für die/vor der Synagoge/Schule'. Die Erscheinung der Pro- und Enklise existiert praktisch in der gesprochenen Form jeder Sprache. Die Sprachen unterscheiden sich nur durch den Grad der Zulassung von derartigen Formen in ihrer Standardvariante. Die klitischen Formen der Synsemantika üben in der dt. Umgangssprache bis auf einige Verschmelzungen keine grammatische Funktion aus. 41 Das MHD sowie die heutigen Mundarten des Deutschen haben, z.B. eine viel größere Zahl der klitischen Formen als das heutige Standarddeutsche geduldet. In der deutschen Schriftsprache werden lediglich Verschmelzungen von Artikel und Präposition zugelassen. Das Englische dagegen erkennt klitische Formen vieler Hilfsverben und Pronomina als Standard an. Im Niederländischen, Französischen und Polnischen, um nur einige wenige Sprachen zu nennen, ist die Distribution der schwach- und starktonigen Pronomina festgelegt und darf nicht ohne Folgen für die Grammatikalität getauscht werden. Auch das Standardjiddische läßt, wie oben gezeigt wurde, einige unbetonte Pronomina zu, darunter das enklitisch angehängte /du/, vgl. bistu, zogstu usw.42

4.2.1. Klitische verbal-pronominale Schmelzformen In den meisten Fällen bilden die schwachen Verbalformen zusammen mit den schwachen Präpositionalformen klitische Verschmelzungen, die auf der satzphonetischen Ebene den Wert einer prosodischen Einheit haben. Die lautliche Struktur der Klitika verändert sich staxk je nach der Reihenfolge der Elemente, was durch die Regel der optimalen Silbenstruktur gesteuert wird. Der Tonträger 41

42

Kohler (1977: 220ff.) listet z.B. für das gesprochene Deutsch die starken und schwachen Formen der Funktionswörter auf. Zum Teil fallen sie lautlich mit denen des Jiddischen zusammen, trotzdem ist das System im WAJ umfangreicher und vor allem regelmäßiger in seiner Distribution. Das letzte Beispiel illustriert übrigens sehr gut, wie die meisten der sog. Personalendungen bei der Verbalflexion vieler Sprachen entstanden sind.

4- Diasystem

der

139

Synsemantika

wechselt dabei von der Präposition zum Hilfsverb - gemäß dem für die germanische Komponente bevorzugten Initialakzent, vgl. ['jixo] < ix hob # ['xobax] < hob ix. Die folgende Tabelle stellt die Paradigmen der Verschmelzungen von hobn und zajn mit vor- und nachgestelltem klitischen Personalpronomen (PP) zusammen. PP+hobn [jixo] [dijos] [rot] [zot] [sot] [miróme / intsome] [rot/tot] [zom]

hobn+PP [xobax] [osti] [oto] [obi] [otis] [ome / omentsj [otije / otite] [omze]

PP+zajn [jibi] [dibis] [ri] [ziz] [si] [mirzn] [irzet] [zazene]

zajn+PP [bînax] [bís(t)] [izo] [izi] [izes] [zerne] [zetije] [zeze]

Diese für das WAJ sehr charakteristischen Formen sind oft Bestandteile fester Verbalsyntagmen, auf die im nächsten Paragraphen eingegangen wird. 4.3. Homophonie der jiddischen und polnischen Formen Bei der prosodischen Umgestaltung der Funktionswörter, so wie sie oben dargestellt wurde, darf übrigens mit der unterstützenden Rolle des koterritorialen Polnischen gerechnet werden. Manche Formen stimmen in der lautlichen Form und in der Bedeutung mit den homophonen Formen des Polnischen überein, vgl. WAJ /i/ un = poln. i ,und'; WAJ /jax/ ix = poln. ja ,ich' WAJ /nim/ im < poln. nim ,ihm', WAJ /si/ sojn, = poln. juz /jus/ ,schon', WAJ /ka/ kejn = poln. ku, dial. ka(j) ,wohin; nach' usw. Besonders auffallend ist dabei die homophone Parallele im Bereich der Personalpronomina, vgl.:43 StJ ix mir (1. Sg. D.) mir (1. Pl. N.) du im ir 43

Deutsch IM [mi:e] [vi:b / dial. mi:e] [du] / [ta] [i:m] / [am] Ν

WAJ [jax] [mije / mi] [me / mi] [di / ti] [nim] [no]

Polnisch Da] [m'(p)je/mi] [mi]

M [pim] m

In diesem Zusammenhang ist die Frage des slawischen Substrats besonders frappierend, denn gerade auf dem Gebiet der Pronomina kann die Substratsprache durchschimmern, vgl. Maat (1983: 1177): „Pronominale Sonderformen können schließlich auch auf Substratwirkung beruhen, Relikte eines vërdrângten Dialekts sein, die dann ihrerseits einzelne Formen im Pronominalsystem der überlegenen Mundart verdrängt und ersetzt haben."

140

V. Prosodie

5. Morphem- und Silbengrenzenverlagerung Es kommt sehr oft vor, daß mehrere klitische Punktionswörter in einem Syntagma nebeneinander stehen. Am häufigsten sind es Pronomina und Hilfsverben oder Präpositionen und Artikel, die manchmal zusätzlich durch einen ungenetischen Hiatusvermeider getrennt werden, vgl. /riz/ < er iz ,er ist', /barints/ < baj undz ,bei uns', /tsinim/ < tsu im ,zu ihm'. In diesen Fällen verbinden sich mehrere klitische Kurzformen zu einer prosodischen Einheit, die einen grammatikalisch funktionalen Wert hat. Diese meist auf eine bis drei Silben reduzierten „Funktionssyntagmen" verhalten sich im Satz wie selbständige Funktionswörter. Dabei sind die Wortund Morphemgrenzen gewöhnlich nur noch aus dem Kontext zu erschließen, denn die einzelnen Bestandteile der auf diese Weise entstandenen prosodischen Funktionssyntagmen können zum Teil nur auf einen einzigen Laut reduziert werden. Im WAJ sind derartige kontrahierten Syntagmen sehr prägnant, vgl. z.B. [x'lax] < ix vel ajx, ich werde euch', ['xomox] < ix hob mix ,ich habe mich', ['zotep] < zi hot zi ,sie hat sie', ['rotepx] < er hot zix ,er hat sich', [du'si] < dos iz ,das ist', ['jixoka] < ix hob kejn ,ich habe kein(e/n), [metepx] < men vet zix ,man wird sich', [metax] < me vet ajx ,man wird euch', [motsax] < me hot zix ,man hat sich', [vija'rot] < vi/vu er hot ,wie/wo er hat', [a'si] < az es iz ,daß/als es ist', [zostum] < zolst hobn ,sollst du haben' u.a. 44 Die Neuschöpfungen richten sich in ihrem satzphonetischen Aufbau meistens nach den Gesetzen der optimalen Silbenstruktur, der Hiatustilgung und der Silbenökonomie, die - wie wir oben gesehen haben - Priorität über die morphologische und etymologische Segmentierung haben. Dadurch kommt es zur Verschmelzung oder zur Verschiebung von Wort- und Morphemgrenzen. Gemeinsam mit der starken Tendenz zur maximalen Beseitigung redundanter Teile des Redeflusses muß dies verständlicherweise zur weitgehenden Mehrdeutigkeit der Kurzformen im WAJ geführt haben. Zum Beispiel erlaubt die folgende Silbensequenz (WI: 129) /vuzomox giekient.../ mehrere Interpretationsmöglichkeiten: 1. vo(s) z(ej h)o(bm) mix gekent ,die welche mich gekannt haben'; 2. vos (h)o(t) m(en) o(j)x gekent ,welche hat man (=habe ich) auch gekannt'; 3. vos (h)o(b)m (mix n)ox gekent ,welche haben mich noch gekannt'. Auch wenn sich die drei angeführten Interpretationen grammatisch voneinander unterscheiden, weichen die semantischen Mitteilungen in allen drei Fällen nicht wesentlich voneinander ab, und somit wird die Kommunikation gewährleistet. Manchmal kommen die charakteristischen mundartlichen Lautwandlungen im Vokalismus und Konsonatismus sowie gelegentliche durch Koartikulation 44

In Prilutskis Sammlungen befinden sich unzählige solcher Formen, die er prosodisch zu verschriftlichen verstand, vgl. z.B. Prilutski (1937: 83 u. passim).

5. Morphem-

und

Sübengrenzenverlagerung

141

bewirkte Angleichungen oder ungenetische Laute hinzu, die die eindeutige Segmentierung des Redeflusses zusätzlich erschweren. Dies alles führt dazu, daß die Redeweise eines richtigen Warschauer Mundartsprechers einem andersdialektalen Jiddischsprecher unverständlich vorkommen kann. Im folgenden wollen wir eine verschmolzene Kurzform analysieren, um die Gesetzmäßigkeiten, welche zu ihrer Entstehung geführt haben, noch einmal zusammenfassend zu veranschaulichen: /zejix, tate.../ < /zujix/ < /zugix/ < zug ix, tate ... ,sage ich, Vater ...' (WI: 054) 1. Das schwachtonige Personalpronomen der 1. Prs. Sg. /ix/ erscheint in der Inversion, nach dem konsonantischen Auslaut der Verbalform mit einem Vokal /¡-/ im Anlaut und mit dem Konsonant /-x/ im Auslaut vor einer Sprechpause (Einführung der indirekten Rede). 2. Das schwachtonige Pronomen /ix/ wird enklitisch dem starktonigen Verb angegliedert, wodurch eine prosodische Akzenteinheit entsteht, welche die optimale Silbenstruktur KV-KV(K vor Sprechpause) aufweist. 3. Das velaxe, stimmhafte / g / des Wortstammes wird dem folgenden vorderen, hohen /¡/ im Hinblick auf die Artikulationsstelle und -weise angeglichen, so daß infolge dieser Mouillierung ein ¡\¡ in intervokalischer Stellung entsteht, vgl. */zujix/. 4. Der volltonige hohe, hintere Stammvokal /-u-/ wird unter dem Einfluß der beiden folgenden palatalen Laute / j / und /i/ im Hinblick auf die Artikulationsstelle angeglichen, d.h. nach vorne in Richtung /\/ verschoben, so daß ein vorderer geschlossener Vokal / e / entsteht. Das stellungsbedingte palatale Allophon [e] repräsentiert hier das etymologische stjidd. /o/, das im WAJ regelmäßig als / u / realisiert wird. Da es sich beim Übergang vom Stammvokal WAJ /zug/ > /zej/ um ein gelegentliches Allophon handelt, das infolge der Koartikulation in einem klitischen Verbalsyntagma entstanden ist, ist seine Qualität nicht stabil, wodurch er sehr wohl bis auf /i/ gehoben werden kann. Im Endeffekt entsteht eine sprachökonomisch motivierte prosodische Einheit, die aber einer anderen enklitischen Form lautlich sehr nahe steht und mit ihr verwechselt werden kann, vgl. nämlich: (WI: 095) /zol za:n azoj, zijex / < /zejex/ < /ze-j-ex/ < /zej ex/ < ze(j) ix ,sehe ich'. (WI: 054) /zejix, tate.../ < /zijex/ < /zejix/ < /zujix/ < /zugix/ < zug ix ,sage ich'. Im zweiten Beispiel ist es nicht eindeutig, um welches Verb es sich handelt. Auch wenn die Kurzformen /zejix/ ,sage ich' und /zijex/ ,sehe ich' sich auf verschiedene Verben beziehen, spielt es für den Kontext, in dem sie beinahe identisch realisiert werden, keine entscheidende Rolle. Im zweiten Beispiel kann also für beide Varianten entschieden werden, ohne daß die kommunikative Mitteilung gefährdet wird.

142

V.

Prosodie

Die klitischen Verbalsyntagmen müssen im Grunde genommen als selbständige prosodische Einheiten der Oberflächenstruktur des WAJ erlernt werden, um die Verständlichkeit der Mundaxt zu ermöglichen. Sie werden nämlich als prosodische Einheiten in schnellem Tempo produziert. Ihre morphologische Struktur ist ohne Kontext nicht überschaubar und somit wird die Dekodierung und Segmentierung auf der Ebene der Tiefenstruktur beträchtlich erschwert.

6. Folgen der satzphonetischen Prosodiegesetze für die Morphosyntax des WAJ 6.1. Synthetisierung der Sprachstruktur Die klitische Eingliederung des Personalpronomens in die Verbalform, z.B. /zeme/ < zenen mir, des unbestimmten Artikels in das Substantiv, z.B. /navejre/ < an avejre sowie die Verschmelzung des Hilfsverbs mit dem Pronomen, z.B. /mirn/ < mir vein, oder des bestimmten Artikels mit der Präposition, z.B. /mitn/ < mit dem, führen zur Wort- und Morphemgrenzenverwischung und zum Schwund der schwachtonigen Funktionseinheiten. Dies erschwert die eindeutige Segmentierung und Identifizierung der Funktionssyntagmen und führt bei den Sprechern zu rein homophon-assoziativer (volksetymologischer) Segmentierung und Identifizierung der Bestandteile derartiger prosodischen Gefüge. Da die einzelnen Bestandteile sehr oft auf einen einzigen Laut reduziert werden, gehen sie bei der erneut zugunsten anderer rekonstruierten Einheiten hergestellten Segmentierung verloren. Zum Beispiel geht im folgenden Satz (WI: 98) /favisti gojm (dis vejgele)?/ < farvos (hos)tu gehojbm (dos vejgele) ? ,warum hast du gehoben ...' das Hilfsverb host nach der Regel der Silbenökonomie verloren. Ähnlich ist es im Satz (WI: 144) /ha:zen gievorn alts fabrent/ < hajz(er zen)en gevorn alts farbrent ,Häuser wurden alle verbrant', wo das reduzierte Hilfsverb zugunsten der Pluralendung interpretiert wird. Im folgenden Beispiel (WI: 112) /bïnox gegangen/ kann das erste Segment gehalten werden: 1. für das klitische Personalpronomen /(bin) ix/ entsprechend dem Gesetz der optimalen Silbenstruktur 2. für das Adverb /(bin) nox/ oder 3. für die schwachtonige Form eines anderen Adverbs /(bin) ox/ < ojx(et). Der Schwund der schwachtonigen Funktionswörter durch Verschmelzungen in den prosodischen Einheiten führt zur fortschreitenden Synthetisierung der Sprache. Auf diese Weise entstehen im Sprachbewußtsein der Sprecher neue morphosyntaktische Modelle, in denen, z.B. das temporale Hilfsverb, das Personalpronomen oder der Artikel als segmentale Träger grammatischer Kategorien im Satz ausgelassen werden können, ohne daß die Grammatikalität oder der Sinn der mündlichen Äußerung dabei verzerrt wird. Dadurch wird ein Weg zur

6. Folgen der satzphonetischen

Prosodiegesetze

für die Morphosyntax

des WAJ

143

Restrukturierung der Sprache gebahnt. Dabei ist es nicht überraschend, daß der Sprachwandel in eine Richtung geht, in der das WAJ dem koterritorialen Polnisch strukturell immer mehr angeglichen wird. Im gesprochenen WAJ werden neben den Sätzen mit klitischen Funktionssyntagmen Sätze produziert, in denen das elidierte Funktionswort keine lautliche oder prosodische Spur mehr hinterläßt. In diesen Fällen kann man nicht eindeutig entscheiden, ob das Funktionswort radikal reduziert oder einfach bewußt ausgelassen wurde. Bei der Betrachtung der Entwicklungstendenzen des gesprochenen WAJ darf man die Rolle des im WAJ andauernd wirkenden strukturellen Modells des Polnischen nicht außer acht lassen. Die Parallelen zwischen den neu entstandenen morphosyntaktischen Strukturen im WAJ und dem Polnischen sind nicht zu übersehen.

6.1.1. Auslassung des Artikels Das Standardjiddische anerkennt die Auslassung des bestimmten Artikels in präpositionalen Konstruktionen mit lokalem Charakter als Norm, also in solchen, die auf die Frage wo? oder wohin? antworten, vgl. in/fun stodt, in/fun dorf, in/lebn/fun park. U. Weinreich (1949) spricht in diesen Fällen von „idiomatischen" Wendungen,45 also solchen, die sich der systematischen Analyse entziehen. Die Auslassung des Artikels im Jiddischen hat in dieser Position einen systemhaften Charakter und läßt sich nicht mit idiomatischen Äußerungen des Typs deutsch zu Hause vergleichen. Shmeruk (1964) weist auf die Auslassung des Artikels in derartigen Konstruktionen hin, und bewertet es als eines der wesentlichen sprachlichen Charakteristika des Ostjiddischen gegenüber dem Westjiddischen.46 Das WAJ verhält sich in dieser Hinsicht wie die Standardsprache. Der Artikel fehlt obligatorisch nach den lokalen Präpositionen in ,in', fun ,νοη', lehn,neben', tsu , z u ' , u s w . , v g l . ( W I : 0 2 2 ) / t s ï militer/, ( P I : 0 1 5 ) / i n stib/, ( B A : 0 5 8 ) / f i n o j v n /

u.a. Darüber hinaus kann aber der bestimmte Artikel auch in solchen Fällen ausgelassen werden, wo er sonst einen festen Platz hat, vgl. (WI: 144) hajzer zenen gevorn alts farbrent, gantse stot ,die Häuser wurden alle verbrannt, die ganze Stadt' oder (BA: 188) ix hob lib lejbn, [...] ix hob lib mencn ,ich liebe deus Leben, ich liebe die Menschen'. Manchmal kommt es zur Verwechslung der beiden Artikel, vgl.: (BA: 240) er hot geholfn ale, nor a brider nis, ,er hat allen (Menschen) geholfen, nur dem 45

46

Weinreich, U. (1949) Seitennummer zitiert nach der Ausgabe aus dem Jahre 1981: 57, 325. Vgl. Shmeruk (1964) bringt folgendes Beispiel aus Cene Uren an: wjid. verfen in das fajer # ostjid. varfn in fajer.

144

V. Prosodie

Bruder nicht / nur *einem Bruder nicht'. Der unbestimmte Artikel steht in einer Position, wo nur der bestimmte zu erwarten wäre, sonst bekommt der Satz eine andere Bedeutung, vgl. ,er hat allen (seinen Brüdern) geholfen, nur einem Bruder (hat er) nicht (geholfen)'. Als klitische Formen fallen oft die bestimmten Artikel des Jiddischen, der, die, dos in eine Reduktionsform [d] oder [di] zusammen. Da der bestimmte Artikel in den meisten Fällen der Genusmarker des Substantivs ist, trägt ein derartiger Formenzusammenfall zusätzlich zur ohnehin verbreiteten Genusverwechslung im Jiddischen bei. All das Obengesagte weist darauf hin, daß die Position des Artikels im WAJ gegenüber dem Standardjiddischen, insbesondere aber dem deutschen Modell stark erschüttert worden ist. Zum einen ist dies gewiß die Folge der prosodischen Tendenz zur Reduktion der redundanten Funktionswörter und der Kontraktion der homophonen Silben, zum anderen kann bei dieser Entwicklung im WAJ sein andauernder Kontakt mit dem Polnischen mitgewirkt haben. Bekanntlich kennt das Standardpolnische, das wie das Deutsche und Jiddische im Sg. über drei Genera verfügt, den Artikel weder als besondere Wortart noch als Genusmarker des Substantivs. In der Umgangssprache werden jedoch, ähnlich wie im Deutschen und Jiddischen, die Demonstrativpronomina poln. ten, ta, to ,der, die, das' in der Funktion des bestimmten Artikels und das Numerale jeden, jedna, jedno ,ein(er), eine, ein(s)' mit der Distribution des unbestimmten Artikels verwendet, vgl. poln. Widzialam jeden dom. Ten dorn mi siç podobat ,Ich sah ein Haus. Das Haus hat mir gut gefallen'. Der Gebrauch der artikelfähigen Wörter ist in der polnischen Umgangssprache, wie oben erläutert, sehr verbreitet, aber keineswegs obligatorisch, so daß die folgenden Sätze ohne die artikelartigen Elemente durchaus korrekt sind und sogar gehobener wirken, vgl. poln. Widzialam dom. Dom mi siç podobal. Eine ähnliche Tendenz kann man im WAJ beobachten, wo die Regeln der Artikelsetzung gegenüber dem germanischen Muster viel lockerer sind. Die Parallele zum Polnischen scheint noch auffallender zu sein, wenn man die artikellosen Präpositionalverbindungen in allen drei Sprachen miteinander vergleicht, vgl. poln. /spracy/ ζ pracy || jid. /fi'narbet/ < fun arbet || ,νοη der Arbeit'. Im Polnischen ist es der Kasus Lokativus, der die Frage wo/wohin beantwortet. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um proklitische Präpositionalkonstruktionen, in denen die Präposition dem folgenden Substantiv im Lokativus so dicht angegliedert ist, daß sie sich ihm phonetisch angleicht, vgl. poln. /fkasie/ < w kasie ,in/an der Kasse', poln. /spiekarni/ < ζ piekarni ,aus der Bäckerei' usw. Oft sind die Präpositionen dann auch Haupttonträger, vgl. poln. 'na wies, ,aufs 'Land', poln. 'na wsi ,auf dem 'Lande', poln. 'na dwór ,nach draußen;' wörtl. ,auf den 'Hof. Derartige Konstruktionen erinnern tatsächlich an idiomatisierte Wendungen und können daher kaum durch andere Funktions- oder Bestimmungswörter geteilt werden. Die dichte

6. Folgen der satzphonetischen

Prosodiegesetze für die Morphosyntax

des WAJ

145

prosodische Verbindung der Lokativuskonstruktionen im Polnischen mag, im Gegensatz zum Deutschen, als Modell für das Ausstoßen des bestimmten Artikels in den entsprechenden Konstruktionen im Jiddischen gegolten haben, vgl.: dt. jid. poln.

in der Stadt, in stot, w miescie,

im Dorf, von der Schule in dorf, fun sul we wsi, ze szkoly

Die infolge der Verschmelzung zu synthetischen Formen gewordenen Verbindungen von einer Präposition und dem Artikel dem, des Typs /afn/ < ,auf dem', /bam/ < ,bei dem' haben gewiß zur Verbreitung dieser Tendenz beigetragen.

6.1.2. Auslassung des Possessivpronomens In diesem Zusammenhang wollen wir auf eine andere charakteristische Erscheinung im WAJ eingehen. Die Distribution des Possessivpronomens als Substantivbegleiter hängt zwar nicht unmittelbar mit den Verschmelzungsprozessen zusammen, sie stellt aber eine Parallele zu den oben diskutierten Erscheinungen dar. Vergleicht man die folgenden Beispiele mit den entsprechenden im Deutschen und Polnischen, so wird klar, daß das Possessivpronomen im Jiddischen eine ganz andere Distribution als im Deutschen hat und sich diesbezüglich an das Polnische anlehnt, vgl.: j i d . /mitn man un mit-i kinder/ (BA: 119)

dt. mit dem (= meinem) man und mit den (— meinen) Kindern poln. ζ mçzem i (ζ) dziecmi jid. /bin ix antlofn tsuzamen mit-a kind/ (BA: 003)

dt. bin ich entlaufen zusammen mit einem (= meinem) Kind poln. ucieklam razem ζ dzieckiem. jid. /der bruder hot mix tsugenumen/ (BA: 019)

dt. der (= mein) Bruder hatte mich zu sich genommen poln. brat mnie wzi^l (do siebie) Während es im Deutschen, ähnlich wie in den anderen germanischen Sprachen, einen klaren Unterschied zwischen dem bestimmten oder unbestimmten Artikel gegenüber dem Possessivpronomen als Substantivbegleiter gibt, wird

146

V.

Prosodie

diese Opposition im Jiddischen neutralisiert. Dies geschieht offensichtlich in Anlehnung an das Nullmorphem, das in dieser Position im Polnischen vorkommt, in dem der Kontext allein über die possessive Zuordnung des Substantivs entscheiden muß. Im Jiddischen steht in dieser Position zwar meistens entweder ein bestimmter oder ein unbestimmter Artikel, sie werden aber als schwache Formen entweder dem Substantiv oder der Präposition klitisch angegliedert, so daß taktisch eine prosodische Einheit entsteht, die eine Parallele zur polnischen Nullposition darstellt.

6.1.3. Auslassung des Personalpronomens Das Personalpronomen wird der prosodischen Reduktion und Kontraktion in Pro- und Enklise besonders stark ausgesetzt. Dadurch kann es soweit umgestaltet werden, daß es mit der Verbalform spurlos verschmilzt. Die Form /zen/ zum Beispiel vereinigt das proklitisch stehende Pronomen 3. Prs. PI. /zej/ mit dem homophonen Anlaut des Hilfsverbs /zenen/, dessen letzte Silbe auch als Resultat der Haplologie reduziert wurde. Ahnliches passiert mit dem Personalpronomen 3. Prs. Sg. m. in der Proklise /rot/ < er hot. Durch die frikative Aussprache von / r / als /not/ kann es u.U. mit dem velaren Reibelaut / x / verwechselt werden, das wiederum mit dem anlautenden / h / getauscht werden kann. Die mundartlich interne Lautentwicklung / h / > / x / > /tf/ führt dazu, daß [not] als /hot/ interpretiert werden kann. 47 Dabei geht das Personalpronomen völlig verloren. Das gleiche Phänomen findet man bei der Kurzform /xo/ < ix hob , wo der Anlaut / x / als freie Variante mit dem etymologischen / h / des Verbs hobn im WAJ ausgetauscht werden kann. Im WAJ und in vielen anderen jiddischen Mundarten 48 fehlt aber vielfach das Personalpronomen auch dort, wo es phonetisch mit einem anderen Wort nicht total assimilieren und verschmelzen konnte, vgl. (WI: 035) /bin gevorn fertsin/ < ix bin gevorn fertsn ,ich wurde vierzehn', (ZA: 099) /bederexklal iz nist gevezn/ < bederexklal s'iz nist gevezn ,im allgemeinen gab es nicht', (BA: 080) /ot gevust/ < er hot gevust ,er hat gewußt'. Auch in diesem Fall steht das WAJ quantitativ dem Polnischen näher als dem gesprochenen Deutsch, wo derartige Elisionen allerdings auch vorkommen können. Im Polnischen kommt das Personalpronomen in der neutralen Stellung 47

Die Opposition zwischen dem durch den Zusammenfall mit / h / lenisierten / x / und dem uvularen / R / wird im WAJ zwar gegenüber dem „litwischen" Jiddisch normalerweise aufrechterhalten, aber durch den Mischcharakter des WAJ (Zuwanderung von Litwakes nach Warschau) oft gefährdet; vgl. Jakobson (1958: 217) /iR-bet/ kann sowohl als ix bet, cils auch ir bet interpretiert werden.

48

Vgl. Kiefer (1995).

6. Folgen der satzphonetischen

Prosodiegesetze

für die Morphosyntax

des WAJ

147

nie vor, während es im Deutschen wie in den anderen germanischen Sprachen ein ständiger Begleiter des Verbum finitum ist. Darüber hinaus gibt es andere sprachliche Indizien dafür, daß gerade im Bereich der (Personal)pronomina der Einfluß des Polnischen besonders stark war. Zu erwähnen sind: 1. homophone Formen, z.B. jid. /jax/ || poln. ja; 2. Entstehung allomorpher Formen mit anlautendem /n-/, z.B. jid. /nim/ || poln. nim; 3. das Einheitsreflexivpronomen jid. zix 11 siç; 4. das Diasystem der starken und schwachen Pronomina. Ein besonders interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Entstehung der auf dem ganzen Gebiet des ZJ vorkommenden Form der 1. Prs. PI. mit dem enklitisch angegliederten Personalpronomen mir. Formen wie mir/ints zenmir 'wir sind' mir/ints homir sind in Anlehnung an das poln. (my) jestesmy ,wir sind', (my) mamy ,wir haben' entstanden, wo das Personalpronomen für die 1. Prs. PI. my ,wir' enklitisch in der Verbalform wiederholt wird, also wörtlich ,wir sindwir'.49 Während im Polnischen, wie bereits gesagt, das Personalpronomen die Verbalform in der Regel nicht begleitet, kann die Tautologie der Ubergangsform mir zenenmir im ZJ aufgehoben werden, indem anstelle des Nominativs mir der oblique Kasus ints eintritt. Als Endergebnis entstehen Formen des Typs ints zemir, bei dem die alte germanische Flexionsendung /-en/ mit der neuen /-mir/ laut dem Gesetz der Silbenökonomie zu /ζε(ηε)ιτιε/ verschmilzt. Im übrigen zeigt dieses Beispiel zwei entgegengesetzte Tendenzen, die bei der jiddischen Sprachentwicklung konkurrieren. Die eine, (mir) zemir, neigt zu mehr synthetischer Flexion und äußert sich in der enklitischen Verschmelzung des Personalpronomens mit der Verbalform - mit der möglichen Auslassung des Personalpronomens. Die andere, ints zemir, stellt den analytischen Flexionstyp durch die Ersetzung des tautologisch gewordenen Pronomens mir im Nominativ durch seinen weniger belasteten und mehr ausgeprägten casus obliqus ints her. Daneben existieren aber auch die ursprünglichen Formen mit dem pleonastisch vorgestellten /mir/, das in beiden Fällen als Personalpronomen und Verbalendung schwachtonig als [mi] oder [me]) realisiert wird. In dieser Form fallen beide Klitika, sowohl mit dem poln. Pronomen und der Verbalendung my als auch mit dem jid. Indefinitpronomen /me/ < men zusammen und können daher von den Sprechern als eines der beiden identifiziert werden. Die prosodische Konstruktion /mexome/ konnte also entweder als. 1. /mir-homir/ < mir hobn mir ,wir haben' oder aber als 2. /me-ho-me/ < men hot mir segmentiert und 49

Prilutski (1924) diskutiert sehr ausführlich die Entstehung der „originellen" mundartlichen Form, ohne jedoch auf die offensichtliche Parallele mit dem Polnischen hinzuweisen. Er führt zahlreiche Beispiele auch aus der Schriftsprache an, vgl. ibidem S. 14.

148

V. Prosodie

interpretiert werden.50 Ein aus Prilutski (1924: 16) entnommener Beispielsatz / m e keme(r) zex kejnmol nist ferglajxn/ ändert nur im geringeren Maße seine Bedeutung, wenn man ihn als 1. mir kenen(mir) zix kejnmol nist farglajxn ,wir dürfen uns/einander niemals vergleichen' oder 2. me ken zix kejnmol nist farglajxn ,man darf sich niemals vergleichen' versteht. Die Verwendung der 1. Prs. PI. (wie z.B. im Hebräischen oder Französischen) oder der 3. Prs. Sg. (wie z.B. im Deutschen oder Polnischen) für die sog. unpersönlichen Formen, oder für Äußerungen von allgemeinem Charakter sind in vielen Fällen pragmatisch synonym. Der prosodisch-lautliche Formenzusammenfall wird also im mundartlichen Jiddisch zusätzlich durch Bedeutungszusammenfall unterstützt. In Anlehnung an die Form / m e hot mir/ und die Form /ïnts homer/ ist eine kontaminierte Konstruktion mit dem Personalpronomen der 1. Pers. PI. in den casus obliqui + Verbum finitum in der 3. Prs. Sg. + das Indefinitpronomen men entstanden, vgl. z.B. /ïnts hot men/ in der Bedeutung ,wir haben'. 51 Durch die Neutralisierung der Opposition zwischen Subjektfall /mir/ und Objektfall / ï n t s / und aufgrund der freien Wortstellung im Jiddischen ergeben sich grammatisch doppeldeutige Formen. Je nach dem, ob /ints/ als Objekt oder Subjekt des Satzes verstanden wird, bekommen wir z.B. /ints farstejt-men/ ,wir verstehen', oder aber /ints farstejt men/ ,man versteht uns'. Diese Mehrdeutigkeit wurde durch die Fixierung der Wortstellung aufgehoben, was die von Prilutski angebrachten Beispiele zu beweisen scheinen. Zusammenfassend kann man die Entwicklung der mundartlichen Verbalformen für die 1. Prs. PI. als einen sehr komplexen Prozeß darstellen, der durch die Prosodieregeln ausgelöst, durch ein fremdsprachiges Modell angeregt und durch den Systemzwang korrigiert wurde, vgl. mir hobn > hobn mir > mir homir > ints homir / me homer > men hot mir > men hot ints > ints hot men.

6.1.4. Auslassung des Hilfsverbs Die sprachökonomische Tendenz zu klitischen Formen und zur Beseitigung redundanter Satzteile führt nicht nur zum Verlust des Personalpronomens, sondern sehr oft auch zum Schwund des Hilfsverbs. In den meisten Fällen sind davon die temporalen Hilfsverben hoben, zajn und vein betroffen. Die finiten Verbformen dieser Verben werden entweder total an die Form des Pronomens angeglichen, vgl. Prilutski (1924:43) /me-n kirne/ < mir vein kumen ,wir werden 50

51

Prilutski (1924) gibt einige Beispiele aus der Schriftsprache mit men an, z.B. „oj vej mir, men vel mer dox ale starbn" S. 16, das er aber für einen Druckfehler hält, vgl. ibidem Anm. 12 S. 44. Vgl. Prilutski (1924: 29ff.).

6. Folgen der satzphonetischen

Prosodiegesetze

für die Morphosyntax

des WAJ

149

kommen', oder aber sie verschwinden samt dem Pronomen, vgl. (ZA: 047) /majn mispoxe gevejzn/ < majn mispoxe iz gevejzn ,meine Familie ist gewesen/war', (WI: 0 4 8 ) /gegange mit di stifmamen/ < ix b i n gegangen

mit

der

stifmamen

,ich bin gegangen/ging mit der/meiner Schwiegermutter'. Diese morphosyntaktische Konstruktion, die im Vergangenheitstempus nach der Elision des Hilfsverbs entsteht, bildet eine parallele Form zu entsprechenden Syntagmen im Polnischen.52 Dabei steht das Vollverb, in diesem Fall das partizip perfekt gewöhnlich am Satzanfang, was dem narrativen Stil des Jiddischen entspricht. Das könnte aber auch auf die Elision des davorstehenden Hilfsverbs hindeuten. Vergleichen wir die folgenden WAJ-Beispiele mit seinen polnischen und deutschen Entsprechungen: jid. gevejzn, du vojnt er, arajngekimen (WI: 009) poln. byl, tu mieszka, weszli. dt. *gewesen, da wohnt er, hereingekommen'. 'Er war da, dort wohnt er, sie sind hereingegangen' jid. gevejn a xusid, gekent gut lernen (BA: 231) poln. byl chasydem, mögt dobrze uczyc (siç) dt. *gewesen ein Chassid, gekonnt gut lernen 'Er wax ein Chassid, und er konnte gut lernen' Bei der Entstehung und Verbreitung dieser elliptischen Formen im mundartlichen Jiddisch kann man oft nicht entscheiden, welche die ursprüngliche Anregung war - das sprachökonomische Streben nach der Kurzform oder das fremdsprachliche Modell des koterritorialen Polnisch. Sicherlich haben beide Faktoren im Zusammenspiel auf die gegenwärtige Struktur des WAJ eingewirkt.

52

Auf die Parallelen im jiddischen und polnischen Verbalsystem, u.a. zum Komplex der elliptischen Vergangenheitsformen, bin ich ausführlich in Geller (1999: 75ff.) eingegangen. Vgl. dazu auch Taube (1982).

Zusammenfassung

Die vorliegende Abhandlung ist in erster Linie aus einem „konservierenden und antiquarischen" Interesse entstanden. 1 Außer der für dialektale Forschung üblichen Anregung, die aus der Diskrepanz zwischen geschriebener Kultursprache und der Mundart resultiert, 2 tritt im Falle des Warschauer Jiddisch der gegenwärtig beobachtete Untergang dieser Mundart hinzu. Dies erklärt den ausgebauten Teil zur Geschichte und Soziologie der jiddischen Sprachgemeinschaft in Warschau und zur Methodologie der korpusgestützten Analyse. Die beiden einführenden Kapitel werden der eigentlichen Deskription der lautlichen Struktur des WAJ vorausgeschickt. Auch wenn die vorliegende Publikation im Sinne der traditionellen Dialektologie nur die unterste, die sprachphonologische Ebene umfaßt, erhebt sie den Anspruch der bis heute einzigen Monographie zum Warschauer Jiddisch. Dabei wird nur indirekt auf die methodologischen Probleme bei der Bestimmung und Beschreibung einer Stadtmundart als Untersuchungsfeld im Rahmen der allgemeinen Sprachwissenschaft eingegangen. Die bisherigen Beobachtungen und Feststellungen der Soziolinguistik zur Heterogenität der Stadtmundart 3 auf der einen sowie der Uneinheitlichkeit der Kookkurrenzen von lautlichen Prozessen in den erhobenen Daten 4 auf der anderen Seite und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei ihrer Deskription treffen im allgemeinen für das WAJ zu. Speziell für das WAJ tritt die linguistische und soziale Adstrat- und Substratwirkung des koterritorialen Polnisch hinzu, mit dem das Jiddische das Areal der Stadt Warschau zu teilen hatte. Die daxgestellte deskriptive Lautstruktur des WAJ stützt sich hauptsächlich auf das im Kapitel zur Methodologie beschriebene Korpus. Die angestrebte strukturelle Deskription setzt zwangsläufig ein idealisiertes Modell des Lautsystems des WAJ voraus. Das bezieht sich insbesondere auf die beiden strukturellphonemischen Kapitel zum Vokalismus und zum Konsonatismus. Eine m.E. wichtige und interessante Ergänzung der statischen Lautverhältnisse, wie sie in der Form der beiden phonologischen Lautsysteme dargestellt wurden, bildet das Kapitel zur Prosodie, in dem prozeßphonologische Fragen der Satzphonetik im Mittelpunkt stehen. Auch sie lassen sich, wie wir gesehen haben, paradig1

2 3 4

Auf die Tradition der „konservierenden und spracherhaltenden" Tendenzen in der Dialektologieforschung geht z.B. Löffler (1974: 16) ein. Vgl. Radtke (1976: 38). Vgl. Radtke op. cit 44. Vgl. Dressler/Leodolter/Chromec (1976: 73): „Allerdings zeigen Tonbandaufnahmen nie einheitliche Kookkurrenzen ... ."

Zusammenfassung

151

matisch daxstellen. Die Gesetzmäßigkeiten der lautlichen Erscheinungen der jiddischen Satzphonetik üben einen umstrukturierenden Einfluß auf die Morphosyntax des WAJ. Dies wurde an zahlreichen Beispielen aus der Paradigmatik und Syntagmatik des Jiddischen gezeigt. Die Erkenntnis dieser Prozesse hat einen sprachuniversellen Charakter, und die Möglichkeit, sie anhand des WAJ systematisch zu verfolgen, macht aus dem Jiddsichen ein besonders dankbares und ausschlaggebendes „linguistisches Labor". Alle drei Modelle der Lautsysteme im WAJ, das vokalische, das konsonantische und das prosodische, stellen ein durchaus symmetrisches und geordnetes strukturelles Gebilde dar. Dies widerspricht der verbreiteten „impressionistischen" Meinung über den „grammatiklosen Charakter" des polnischen Jiddisch (= des Zentraljiddischen), zu dem das WAJ zählt. Die Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Analyse der Mundart zeigen, daß der Minderwertigkeitskomplex der Warschauer Jiddisch-Sprecher gegenüber dem nor dostjiddischen (dem „litauischen") Dialekt grundlos war.5 Mehr noch, was die Standardsprache auf eine randomisierte Weise zuläßt (z.B. Enklise oder Ellipse des Personalpronomens in der 2. Prs. Sg.), macht im WAJ ein systematisches Paradigma aus. Die scheinbaren Lücken im Lautsystem, wie z.B. die Quantitätsoppositionen im Vokalsystem, lassen sich entweder sprachintern oder aber sprachhistorisch erklären. Das konnte wegen des angestrebten deskriptiven Charakters der vorliegenden Abhandlung nur ansatzweise angesprochen werden. Die hier angewandte Untersuchungsmethode stützt sich im allgemeinen auf die Grundsätze der strukturellen Dialektologie6 mit dem Vorbehalt aller Schwierigkeiten, die sich aus der Materialerhebung des Warschauer Jiddisch im besonderen und der Materialauswertung einer Stadtmundart im allgemeinen ergeben.7 Da die untersuchte Warschauer Mundart schon im Moment ihrer Aufzeichnung zum Zwecke der Deskription im Aussterben begriffen war, müssen viele der hier vorgebrachten Feststellungen lediglich als potentielle Entwicklungstendenzen angesehen werden. Es wurden dabei hauptsächlich die Entwicklungstendenzen der Warschauer Mundart hervorgehoben, die sich von denen des

5

Eine interessante Diskussion über die angebliche Überlegenheit des „litwischen" Jiddisch gegenüber dem „pojlischen" Jiddisch befindet sich in Fishman (Hg. 1981); vgl. S. 667: „An orthodox writer (1897-1945) complains that speakers of the ,central' dialect employ the ,northern' dialect out of snobbishness and out of an erroneous impression that the latter is somehow ,better', .nicer', ,purer', .richer', etc. The editor [B.] declares him to be .absolutely right'."

6

Vgl. die Systematisierung der dialektologischen Ansätze nach Putschke (1974: 329). Zur Fragestellung der Stadtsprachenforschung s. eine Studiensammlung von Viereck (Hg. 1976), vor allem den Aufsatz „Stadtsprache" S. 51-70.

7

152

Zusammenfassung

sog. standardjiddischen Systems unterscheiden.8 Im großen und ganzen illustrieren aber die lautlichen Prozesse und ihre Folgen für die morphologische und syntaktische Struktur im WAJ die allgemeinen Tendenzen der gesprochenen jiddischen Sprache in ihren zentral- und südostjiddischen mundartlichen Varietäten.9 In diesem Sinne darf man z.B. die beobachtete Tendenz zur Synthetisierung im WAJ verstehen, die wichtige Folgen für die ganze Struktur der Sprache und ihre typologische Zuordnung haben könnte. Die meßbaren Anzeichen dieses Prozesses im WAJ lassen sich zum Teil sowohl aus den lautlichen und satzphonetischprosodischen Gesetzmäßigkeiten als auch aus dem Einfluß des koterritorialen Polnisch erklären. Trotz des methodologischen Widerspruchs schienen mir daher bei der Deskription der Lautstruktur des WAJ zahlreiche Exkurse in die kontrastive Betrachtung der beschriebenen linguistischen Daten und Entwicklungstendenzen in bezug auf seine beiden Determinatsprachen, Deutsch und Polnisch, interessant und zum Teil auch unentbehrlich zu sein.10 Der Zweck dieses kontrastiven Vergleichs war unter anderem, bestimmte stereotype Aussagen über das ZJ 8

9

10

Zu dem umstrittenen Terminus Standardjiddisch s. u.a. Schaechter (1969), Birnbaum (1979), Hutton (1993). S. Birnbaum, Autor der ersten (ost)jiddischen Grammatik (1915), bestreitet gänzlich die Existenz einer Standard(aus)sprache und kritisiert scharf den Versuch einer arbiträren Auferlegung eines Standards diesbezüglich, indem er schreibt: „There is no standard pronunciación in Yiddish. However the members and friends of the YIVO Institute for Jewish Research, New York, have strong views on the subject. [...] The originell proponents of this ,standard' were speakers of the Northern dialect and so, without further ado and without discussing the matter or giving any reasons, they decided that their own pronunciation was the .standard'. However the man in the street know nothing about it. If he happens to be a Southerner [in unserer Terminologie ein Zentralund Südostjiddischsprecher, E.G.] he does not exchange his reach phonemic system for the meager one of the Northern dialect." [Hervorhebung durch Kursive von E.G.], aus Birnbaum (1979: 100). Viele der von mir aufgrund der Korpusanalyse festgestellten Erscheinungen, wie z.B. das Diasystem der Pronomina oder die Grenzsilbenökonomie, kommen gelegentlich u.a. in den Abhandlungen von Gutman (1926), Bin-Nun (1974), Bimabaum (1979), Schaechter (1986) vor, werden jedoch nie als strukturell relevante und paradigmatische Prozesse identifiziert. Vgl. dazu Radtke op.cit. S. 35: „Der strukturelle Ansatz geht gewissermaßen in zwei Etappen vor, indem zunächst - synchronisch - die Struktur eines bestimmten Sprachsystems zum Zeitpunkt Τ deskribiert wird, während in einem zweiten - diachronischen - Schritt der Frage nachgegangen wird, wie ein solches System entstanden ist." Da die meisten bisherigen dialektologischen Abhandlungen zu jiddischen Maa. sich auf das diachrone Prinzip stützen, indem die Lautentwicklungen im Jiddischen mit dem Weinreichschen Projiddischen Vokalsystem bzw. sogar direkt mit dem MHD verglichen werden, tritt an seine Stelle als der von Radtke postulierte zweite Schritt der kontrastive Vergleich mit den Determinantsprachen. Dies stellt in diesem Zusammenhang eine methodologische Neuerung innerhalb der jiddischen Dialektforschung dar.

Zusammenfassung

153

zu entkräften, die teils vom areallinguistischen, teils vom germanozentrischen Standpunkt der früheren Jiddischforschung aus formuliert wurden.11 Als Vervollständigung der kontrastiven Exkurse befinden sich im Textteil des Buchs Textproben der originalen Warschauer Mundart mit einem polnischen und einem deutschen Paralleltext, die als Ausgangsbasis für eingehende Studien zu einer deutsch-jiddisch-polnischen Kontrastivgrammatik dienen könnten. Eine weitreichende gründliche und umfassende Anwendung dieser kontrastiven Vergleichsmethode am Beispiel des WAJ wäre über den Rahmen der vorliegenden Abhandlung hinausgegangen. Sie darf aber als Desiderat für weitere Studien auf diesem Gebiet betrachtet werden, die helfen würden, die problematische Frage der genetischen und der typologischen Zugehörigkeit des Jiddischen zu klären.

11

Gutmein (1928: 110) z.B. schreibt in bezug auf das Satzsandhi in den jiddischen Dialekten: „Arum un arum megn mir zogn, az di fonetik fun litvisn jidis iz a mer mizrax-slavise, di fun pojlisn jidis a mer germanise."

Warschauer

Jiddisch - 1. Textprobe

Informanten: Ehepaar B. (Sie - BA:, Er - BI:) Auftiahmeort und -zeit: Warszawa 1983 Interviewerin: Ewa Geller (E.G.)

Motto: zaj ζ ε η ε giefuyn un mije ζ ε η ε gsblibm du.

* n p ^ n j n lyjyî T D JIN p N è y a lyjyi "τ Sie sind gefahren und wir sind geblieben da. Oni pojechali, a mysmy zostali tu. Informantin: BA: Zeile 269

Zur Verschriftungs- und Übertragungsmethode der sog. Paralleltexte s. Kap. II.

156

Warschauer

Orthographischer jiddischer Paralleltext

Deutscher Paralleltext

1

ItflDpO'-m jiN

BA: Bis zum

jrn .yttHNIl

gewesen in Warschau. Zusammen mit den Eltern mit

i m pytaby η m o jyDNîir

2

.nnsüD π

der Familie h. 3

ι

ρκ jynyi -ρκ pn -in»

neununddreißigsten Jahr bin ich 2

Jiddisch

In neununddreißigstem Jahr,

,ΊΝ1 jtODp'O'-m |ΊΝ ρ

Ι'Ν

3

,Ο'ΤΊΝ Î'N Π0Π70 Η jyil

wenn der Kriege ist

pira jy^yî

aus [gebrochen], wenn die

H jyn

Τ « pn . y e n w i p p ρ-ηκ

Deutschen sind schon

Ν tana jyDNìir |6ντϊ93Ν

ein [marschiert] gen Waxschau,

,-irp

bin ich entlaufen zusammen mit einem Kind. 4

Getroffen habe ich in Luckp1

^ r b

zwei Brüder. 5

m n y . . . m r t nyr-'N

Kommunist, ist er heraus gleich

n y T'N ,t3D'31DNp ν jynyi

vom Gefängnis h und einer ist

fw , n o ' s n p s y ò i ΟΊΊΝ

derd+p

Front.

p N s y i τ ο lyjyì nyuyerc

zusammen auf [die] Krim, weil

π

genommen ... gen Krim.

5

jynyi γν nyr-'N .IflJNnS τ

Später sind wir gefahren die Politischen ... hat man

1

4

.ny-p-Q "na:

Einer hat ... er ist gewesen ein

gewesen and+p 6

ρκ 7 N ηΝΠ jSNntflyi

β

, α η ρ ηηκ jyoNnr }yo μνπ . . . .•Hp ρ ρ . . .

ytm^s jyouyi

Ukr. Luck/poln. Luck - Stadt in der Westukraine, ca. 66 km von der polnischen Grenze; eine der ältesten Städte in Wolhynien und historisch ein wichtiges jüdisches Zentrum; gehörte 1920-39 zu Polen; im II. Weltkrieg unter sowjetischer (1939-41), danach deutscher Besatzung (bis 1944); in den ersten Kriegsmonaten ein Zufluchts- und später Deportationsort vieler Juden und Polen.

1. Textprobe, Informantin

157

BA

Phonetisches Transkript des Originaltextes 1

BA: biz na:nïdra:sikstn juuE

Polnischer Paralleltext

1

bïn-ox gievejn in varfe.

BA: Do trzydziestego dziewi^tego roku bytam w Warszawie.

2

tsïzame mi-dì eitern, mi-di

2

Razem ζ rodzicami, ζ rodzing,.

3

W trzydziestym dziewi^tym

mifpux8. 3

i-na:nidra:sikstn juue, νεη dï mi4xum-ïz aro:s, veri di dojtJ"'n

roku, kiedy wojnab wyfimcMcij],

ζεηι fin-arâ ka varf ε, bin-ax

kiedy Niemcy -w[kroczylij]

antlofn tsuzamen mit-a kint.

Warszawy, ucieklam razem

dod

ζ dzieckiem.

4

giBtrofn ob-ax in 4ubk tevaj

4

bride. 5

111

ajno

Spotkaiam w Lucku1 dwóch braci.

j a t . . . ej-i g¡8V8jn a

5

Jeden . . . on byl komunist^,,

komunist, iz-Er-aro:s g'l'a:x fin

wy[szeáíj] zaraz ζ

tfisB, n-ajne gievejn ofn front.

a jeden byl na fronde.

fpejtE ζε-mi giefuun tsuzamen

Pózniej pojechalismy razem na

af knm, va di politif ε . . .

Krym, poniewaz politycznych

ot-min gienimen . . . ka knm.

. . . zabierano . . . nad Krym.

wiçzieniah,

® ejner - mit charakteristischer Warschauer Färbung der Endung /-er/ in Richtung [o].

158

Warschauer

DEUTSCHER

7

PARALLELTEXT

r p N j-'IN f l "pN

Ich bin gefahren nachd 2

Jevpatorije . 8

Bis zum einundvierzigsten Jahr,

,τκ· p D p ^ n y s ρκ ρ * jrn

wenn der KHegb ist

... 0 Ί Ί Ν w

... Nund+p, hat man evakuiert die Mütterp mit den Kindern ... von der Fabrik, wo ich habe Bin gefahren von Ort zum Ort.

β

Π 0 Γ 6 0 H lyil n M Ó o n tfl'D

π » T p w i y iyo m n

,11 ..

9

. . . - I j n r p H tt'D DyDND η κ π y n in , ρ η ί Ν Β π

gearbeitet. 10

7

.'ynwDNBiiy'

aus[gebrochen] ... mit Rußland. 9

Jiddisch

ps

.tflym^yi Dir b i n p s pNÊya pn

10

.BINτ 11 Das ist, ich bin gewesen in

PS j y n y j PN - ρ κ . r a ΟΝΠ

Krasnodar, im d Kaukasus,

,ÎNpïlNp PN , Ί Ν Ί ^ Ο Ν Ί ρ

Stalingrad. 12

11

.ίνίϊγ^ΝΒΟ

In Stalingrad ich habe mir

η κ π f ' N ί ν ί ι ^ Ν Μ Ο ρκ

bereitetd+p ein bißchen Sorgenh.

BEN Ν TASFCAYAR-NN T D

12

.nm 13 Wenn died+p Front hat sich zuriickgezogend+p ... wir ... wenn man hat gewolltd sind wir gewesen Juden - bei den

"['Τ Ε3ΝΠ » » H S ... τ ο

jyn

13

... t f l p n y n y t o r n

,^ΒΊΝηνι m n

y o jyn

Π »N - | T ' jyiiyi T D jy^yt

Deutschen. 14 Dort sind wir gewesen Polen.

ìyiiyi TD jyayr Ρ - Κ Π •ìpN^NE)

2

Russ. Jevpatorija - Stadt auf der Krim in der Nähe von Simferopol.

I4

1. Textprobe, Informantin BA

159

PHONETISCHES TRANSKRIPT

POLNISCHER PARALLELTEXT

7

ix bi-narä on . . . jsfpotorojE.

7

Ja dostalam

siç do¡ ... 2

Jewpatoroji . 8

9

biz-n-ajηîfsrtsikstn12 juuE, νεη

8

D o czterdziestego pierwszego

dï ιτΐϊχιΐΓτιε iz aro:s... mit

roku, kiedy wojnah

rus4ant.

. . . ζ Rosjq,.

. . . nu, ot-me svakijst di mames mit kindE . . .

9 ftnd^

wy[buchia,i],

. . . No, ewakuowano matki ζ dziecmi . . . ζ tej fabryki, gdzie

fabrik vi-xo giarbet.

ja pracowalam.

10

bip giefuun fin oret tsim ort.31

10

Jezdziiam ζ miejsca na miejsce.

11

du-z, εχ bin gievejn in

11

To jest, bylam w Krasnodarze, nad Kaukazie, [w] Stalingradzie.

krasnodar, in kaukas, Stalingrad. 12

in Stalingrad i-x m-ä-jexapt a

12

sobie

bis+ tsuuss.

13

νεη de front ofe-ix integiErsjk't 13

14

W Stalingradzie

13

napytalam^+v

biedyb.

G d yfrontsiç od d suwal . . . my

. . . mijs . . . νε-m-ot gtedorfn

. . . kiedy trzeba bylo bylismy

ζεπιε gi8V8jn jidn, ba-di dojtfn.

Zydami, u Niemców.

dortn zsms gi8V8jn polakn.

1 4 Tam bylismy Polakami.

® Silbenökonomie: Gäbe es nicht die Monophthongierung von [aj] in najn > [na:n], könnte man durch die Silbengrenzverschmelzung zwischen bizn ajn... und biz(n) najn... im WAJ nicht unterscheiden. ® Kasuszusammenfall nach Präposition ist ein typisches Merkmal des WAJ. Vgl. Wolf (1969). ® Der Sproßvokal [ε] nach / r / vor Konsonant kommt nur in der Tonstellung vor, vgl. die beiden Realisierungen desselben Wortes in volltoniger [oret] und klitischer [fefm-ort] Stellung in demselben Satz. ® „Starkes" Partizip Perfekt vom Verb dor/τι .dürfen' - bei der Sprecherin kommt nur diese Form vor.

160

Warschauer

DEUTSCHER.

15 16

JIDDISCHER

PARALLELTEXT

Jiddisch

PARALLELTEXT

Man ist geworden verschickt

tap'cnNS pNiiyi r a . . . y o

nachd+ρ ... Sibirien. Kasachstan.

.JNBDDNÎNp .Ί'Π'Ο η'ΙΝ . . .

Aber das hat gerettetd+p

das

β ν π DNi nynN

Leben. 17

Hunger ist um und um gewesen.

18

Gewesen bin ich mit einem

i5 ιβ

ONT Mynyttt>ny:

.jynys d i n d i n m nyinn 17 . i r p ν mo ρ iyny:i i s

Kind. 19

*]'D mrt n y - i r o nyn 19

Der Bruder hat mich zu [sich] genommen.

20

Der Mann hat mich ver... er ist gewesen in Lager.

21

•lyouyair

ny ...Né -pò tflNn }nd nyn 20 n y i ì ò ρκ jynya r a

Ich habe KORRIGIERT IHRE

KORRIGIERT ,ΠΝΠ

WARSCHAUER

21

IHRE WARSCHAUER

AUSSPRACHE „ijech" nicht

AUSSPRACHE

"jy

„ich"... 22

BI: „Jach".

23

BA: „Jach" bin gewesen krank

:'n

p»rip iyny3 ρ η χ .D'S J1S m Ν η » κ

and, aWd einer Rose vom d Fuß. 24

In [der] KolchoseT bin ich krank

p l ì O p "['Ν p

Und so bin ich gelegen auf der Statiorip ... von ... and der

24

•pwiya ΊΤΝ p a

25

Wolga. Vierundzwanzig Tage. 26

Mein Kind hat sich mich gefragt: Mama, obp wird heute etwas sein zu essen?

η'ΐΝ p y b y i y * ρ π

23

TNO^Np f N

geworden. 25

» a ... p s ... y^NMD p^wir

22

ρ κ ΎΒ

π

.yibm .3ytfl

"f'D "]'Τ ΒΝΠ n r p j'-D tayn ' r ,yDND :t33ynsya ?|oy i r f-'T D y s y t a r n

26

1. Textprobe, Informantin PHONETISCHES

15

161

BA POLNISCHER

TRANSKRIPT

m r m . . . giEvorn f a j i k ' t . . . af

15

sibijE. kazaxstan.

PARALLELTEXT

Zostalo siç zeslanym... na Syberiç. Kazachstan.

16

3b8 dus-ot gi8ratiV8t-is lejbm.

16

Ale to [u]ratowalod+p zycie.

17

hïpg'ie-r-ïz ïmetim gievejn.

17

Glód wszçdzied byl.

18

gtevEjn bin-ax mit-a kint'. 18

Bylam ζ dzieckiem.

19

Brat mnie zabral.

20

M^z mnie . . . on byl w lagrze.

21

Ja bylam POPRAWIA

19 20

d8 brid-ot ms tsigtenims. de man ot πιε f a . . . εε g¡8V8jzn in +ag¡8.

21 je-xo, KORRIGIERT IHRE WARSCHAUER

WYMOWÇ NA

AUSSPRACHE ijex nij* \εχ ...

DIALEKTALNE „jo" nie Ja"...

22

Bl: jax.

22

BI: „jo".

23

BA: ijax bin gievejn krajik' of,

23

BA: „Jo" by lain chora na, na

of-a rojs fin fis. 24

ïn ko4xoz bin-εχ krajik'

rôzç, nad nodze. 24

W kolchozie zachorowaíamd.

25

I tak lezalam na stacji . . . przy

gievorn. 25

n-azoj bin-ax gielsjgji af di statsje . . . fin . . . ba-di vo4gte.

Woldze. Dwadziescia cztery dni.

firinfevanbik tejk'. 26

ma: kint' ots-ix ma giefrejgt,

26

Moje dziecko siç mnie pytalo:

mame tsï-t a:n1® ερεβ zâ:

mamo, czyp bçdzie dzis eos do

te-esn?

jedzenia?

® hajnt - [h]-Verlust im Wort- und Morphemauslaut.

162

Warschauer

DEUTSCHER

27

JIDDISCHER

PARALLELTEXT

Große Hitze, alsod wenn man

β ν π j y o jyn m

,ρπ yo'na

27

.Mia jynya

gewesen gut. Weil vor allemh habe ich

T N 1ΝΠ .bs D-np

gerettetd+p das Leben mir und

nvp

Hungrig sind wir um und um

28

T D py*? d n i tsynytflNnya

dem Kind. 29

PARALLELTEXT

ρ ϋ ΓΝ .tflp'EHNB H31N

hat uns verschickt, ist schon 28

Jiddisch

o y n pN

DitayoiN τ ο lyayt p n y a a i n

gewesen.

29

.jynya

30

Und alle haben gehungert.

31

Aber dort ist [es] gewesen still.

.bm

32

Es hat {nicht }gegebend+p keine

.tfl-iyuinyi p N n y ^ N pN

30

jynya γ ν μ ί ν ί n y n x

31

. o y n o N n p p jynya i s s n m

32

Bomben. 33

Und alle haben gehungert.

34

Ich habe nicht gelitten «ils

.myaainya pNn y"?N pN 33 ybn jts'bya t«¡ra ΠΝΠ T N 34

Jüdische [Frau]. 35

.y^H''

Ich bin gewesen gleich mit allen. 69'D τ - ^ i j w y 3 ρ

36

Und das ist gewesen leichterd.

37

Nund+ρ in Stalingrad habe ich mich getroffen mit meinem

38

.nyaana lynya m

35

own p u

T N ^ΝΠ ΤΝΊ33'^Ν650 pN ,13 37

Mann.

•|ND p-'D tö'D pN-itsya

Man hat ihn herausgelassen

tflTN^yao'nN d ' n β ν π y o jyn

ist gewesen ... mit Wanda

ynaNii w o . . . jynya m

4

Wasilewska und Sikorski , wenn sie sind ... geworden vieled+h befreit.

t d 38

1

vom Lager, in der Zeit, wenn es 3

36

ny-i px nyax ? p s oy

pN ^Nponyb'DNii • · • IV^T "Τ jyn / p p D I N p ' D . μ » ί & ν ο η ο ν pNiiya

Wanda Wasilewska (1905-1964) - polnische Kommunistin; seit 1940 tätig in der Sowjetunion; 1943 Mitbegründerin des prostalinistischen Bundes Polnischer Patrioten (poln. Zwi^zek Patriotów Polskich) in der Sowjetunion. Wtadyslaw Sikorski (1881-1943) - seit September 1939 Ministerpräsident der polnischen Exilregierung in Prankreich und danach in Großbritannien. Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Kriegs 1941 nahm Sikorski diplomatische Verhandlungen mit Stalin

BA

163

PHONETISCHES TRANSKRIPT

P O L N I S C H E R PARALLELTEXT

1. Textprobe, Informantin

27

grojsE hits, ιζ νεη m-ot inte

27

fafik't', i-fojn gtevejn git'.

28

29

va:l' kojdm, ko4 ob-ax

Wielka gorçczka, wiçcd kiedy ñas zeslano, juz bylo dobrze.

28

Poniewaz przede wszystkimh

girativ8t-ís tejbm, mijer-in-im

['ìi]ratowalamd+p

kint'.

i dziecku.

hijng'isng' z8-mïimdïm

ra

29

Glodne bylysmy

ja

zycie sobie

wszçdzied.

gievEjn. 30

in a4-om giehi/ig'iEt.

30

I wszyscy glodowali.

31

ob8 dort-i gievEj ffel.

31

Ale tam bylo cicho.

32

ιζ nif g¡8V8j ka bombas.

32

Nie bylo zadnych bomb.

33

in a4-om giehipg'iet.

33

I wszyscy glodowali.

34

Ξχ-om151 nïf gielïtn a+ss® jidife.

34

Ja nie cierpialam jako Zydówkad.

35

i-bip-ji g'l'a:x rmt-a48.

35

Ja bylam równa ze wszystkimi.

36

ïn dus-i giEvejn gieripg'iE.

36

I to bylo latwiejsze.

37

nu, ïn Stalingrad ox mox

37

No, w Stalingradzie spotkalam

gtetrofn mît mâ: man.

38

m-ot im aro:sgtelostfan4a:gie,

siç ζ moim mçzem.

38

Wypuszczono go ζ lagru, w tym

in di tsa:t, νεη s-i gtevejn . . .

czasie, kiedy bylo . . . ζ Wandq.

mit vande vas'itevskten i

Wasilewskç,3 i ζ Sikorskim4,

s'ikorkten, νεη zaj ζεηεη . . .

kiedy oni byli . . . zostalo wielub

gevorn a sax bafra:t.

u d wolnionych.

® umetum - Sonorierung des Explosivlautes in intervokalischer Stellung. ® ix hob niât . . . - [hob] > [om] Assimilation des Verschlußlauts an den folgenden anlautenden Nasal. ® alts ,als' - Sproßvokal nach / l / vor Konsonant; eine mundartliche Form belegt bei Harkavy (1928).

Warschauer

164 DEUTSCHER

39

40

JIDDISCHER

PARALLELTEXT

PARALLELTEXT

jy^yr jyDNîir Ύ Π Ό η ' ΐ κ

Ind+ρ Sibirien zusammen sind wir gewesen ein bißchen.

. b o ' a ν j y n y i "ra

Und später hat man ihn

D'N j y o ΒΝΠ n y t s y s t y pN

Mann, in „Trudarmje"5. Nach längerer Zeit hat man

39

4O

l'N ,|ND i'-D . l y o i a y a i *

tue [tsrik'], und in der Verbindung mit nachfolgendem [I] z.B. > [g'l'a:x], dazu vgl. (LCAAJ 1992: 40). Diese Palatalisierungen werden im phonetischen Transkript durch ['] gekennzeichnet. ® Velare [x]-Aussprache eines etymologischen [h]. Die Laute [h] und [x] bilden im WAJ keine phonologische Opposition, sondern sind Varianten eines Archiphonems / H / , das zusätzlich durch ein Nullallophon repräsentiert werden kann, z.B. in {5ΝΠ J?D> [m-ot]. ® D m [r] wird in der postvokalischen Tonstellung vokalisiert und in der Regel dem vorausgehenden Volai singeglichen, wodurch ein Langvokal entsteht vgl. > [gu:]. Hier aber bekommt das [r] den halbkonsonantischen Wert [u], da es zwischen zwei Vokalen steht, denn im Auslaut wird noch ein ungenetisches [ε] angehängt. Dadurch entsteht ein überlanger Diphthong (Triphthong) [uue], der akustisch mit dem gedehntem WAJ [u] z.B. in tSNBEf > [ftuu8t] zusammenfällt. ® Die Flexionsendung /-er/ wird hier als [-ε] realisiert, somit fällt sie mit der femininen Endung / - e / > [-ε] zusammen; normalerweise erscheint jedoch das Auslaut / - r / vor vokalischem Anlaut als Hiatustrenner; vgl. dazu Anm. 7. ® [i] repräsentiert hier als klitische Form das Hilfsverb ΓΝ. Interessant ist dabei der Qualitätswechsel bei dem Vokal nach Schwund des Auslautkonsonanten vgl. [iz] > [i]; ähnliches passiert beim Hilfsverb vgl. [bin] > [bi]. ® gevejn > St J geven / gevezn - schwachtonige einsilbige Form mit Konsonantenverlust im Wortauslaut und Synkope im Präfix.

218

Warschauer

DEUTSCHER

3

PARALLELTEXT

Und noch ... außerh dem man wird etwas gewahr werden,

JIDDISCHER

Jiddisch

PARALLELTEXT

y o ,Djn ΡΠΝ

pN

, p y n - m i y i o y s y toyn

wie es ist [gewesen] vord

,ίνρ t n y - m n β ό γ ν

hundert Jahren, vord

t n » j y r pN t n j n u n m»d

hundertundzehn Jahren, vord hundert Jahren {zurück}.

3

. p m r ί ν ' tnjrwin

oy

,ρηι*

p w o y s y n y tayn - i e S n

Vielleichth wird er etwas

.Π31Ν

sagen uns. 4

[Man] hat sich zusammen