Westjiddisch in der Schweiz und Südwestdeutschland: Tonaufnahmen und Texte zum Surbtaler und Hegauer Jiddisch 9783110935523, 9783484731042

West Yiddish dialects have hardly been documented at all as they were abandoned almost everywhere at an early stage in f

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Westjiddisch in der Schweiz und Südwestdeutschland: Tonaufnahmen und Texte zum Surbtaler und Hegauer Jiddisch
 9783110935523, 9783484731042

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
1. Einleitung
1.1 Westjiddisch im hochalemannischen Gebiet
1.2 Zur Sprachsituation
1.3 Zur Einschätzung der Materialien
1.4 Entstehung und Geschichte der Tonaufnahmen
1.5 Zur vorliegenden Edition
2 Aufnahmen aus Endingen
2.1 Ein Purim in Endingen
2.2 Ein Sabbat im Surbtal
2.3 Feiertag auf dem Land
2.4 Pessach in Endingen zu Vorväter-Zeiten
2.5 Sabbat in Endingen
2.6 Den Mond segnen
2.7 Socher-Feier, Beschneidung und Haulegrasch
2.8 Beschneidung und Torawickelband
2.9 Abholung aus dem Wochenbett
2.10 Hochzeit
2.11 Hochzeit und Beerdigung
2.12 Bräuche beim Ableben
2.13 Sliches gehen
2.14 Taschlich machen
2.15 Kapores machen
2.16 Aufrufe versteigern vor Simchat Tora
2.17 Simchat Tora im alten Endingen
2.18 Hutzelweggen (Rezept)
2.19 Ein Geist an Chanukka
2.20 In der Mikwa
2.21 Kauletsch (Rezept)
2.22 Synagoge schmücken für das Wochenfest
2.23 Gerichte vor und nach Tischo Beow
2.24 Endinger Gerichte
2.25 Viehhandel im Aargau
2.26 Viehmarkt in Brugg
2.27 Viehhandel im Welschland
2.28 Viehhandel im Neuenburger Jura
2.29 Pferdehändlergespräch
2.30 Schalet (Interview mit Uriel Weinreich)
2.31 Lexikalische Befragung (LCAAJ-Interview)
2.32 Purim-Verslein
2.33 Socher-Feier
2.34 Kalt Schabbes
2.35 Spinnholz
2.36 Befragung zur Viehterminologie
2.37 Einem geschenkten Gaul
2.38 Der Synagogenrufer
2.39 Schaile und Scheinchen
2.40 Keine Maschine
2.41 Da fehlt nur noch der Sarg
2.42 Dein Maul suche ich
2.43 Eine gute Stunde
2.44 Der gestorbene Vater
2.45 Sprichwörter und Redensarten
2.46 Wenn ich auch kein Surbtaler bin
2.47 Kugel (Rezept)
2.48 Aufrufe versteigern in der Badener Synagoge
2.49 Aufrufe versteigern in der alten Zürcher Synagoge
2.50 Jiddische Wörter im Wirtshaus von Endingen
2.51 Der Strassenwischer
3 Aufnahmen aus Lengnau
3.1 Über den Dialekt der Juden
3.2 Über die Viehhändlersprache
3.3 Christen sprechen "Jiddisch"
4 Aufnahmen aus Gailingen
4.1 Der Provisionsreisende
4.2 Schema beni!
4.3 Vier Woche lang vor Purem (Ausschnitt)
4.4 Aron, du irrst dich! (Ausschnitt)
4.5 Purim in Gailingen
4.6 Sprache der Juden und Christen (LCAAJ-Interview)
4.7 Jiddische Wörter im Dialekt der Christen
4.8 Kommunikation zwischen Juden und Christen
5 Aufnahmen aus Randegg
5.1 Ein Gespräch zwischen der Faie und der Gutel
5.2 Wer sprach noch Jiddisch?
5.3 Das Monatsanfangsgeld einziehen
5.4 Sprache der Juden, Sprache der Christen
5.5 Juttale
5.6 Offenbach
6 Vergleiche
6.1 Endingen (Guggenheim-Grünberg 1966)
6.2 Endingen (Guggenheim-Grünberg 1966)
6.3 Gailingen (Guggenheim-Grünberg 1961a)
7 Zitierte Materialien
7.1 Literaturverzeichnis
7.2 Zitierte veröffentlichte Tonträger

Citation preview

Beihefte zum Language and Culture Atlas of Ashkenazic

Jewry

Band 4

Herausgegeben von Marvin Herzog, Ulrike Kiefer, Robert Neumann, Wolfgang Putschke und Andrew Sunshine

Jürg Fleischer

Westjiddisch in der Schweiz und Südwestdeutschland Tonaufnahmen und Texte zum Surbtaler und Hegauer Jiddisch

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

F ü r M a r i o n Sanft

Buch mit zwei CDs Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-73104-4 © Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2005 http.V/www.niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Abkürzungen 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5

IX XIII

Einleitung 1 Westjiddisch im hochalemannischen Gebiet 1 Westj iddisch und Südwestj iddisch 1 Die koterritorialen Varietäten: Hochalemannisch 5 Geschichtlicher Hintergrund und demographische Entwicklung...9 Jüdisches Leben in den untersuchten Gemeinden 12 Zur Sprachsituation 16 Die Varietäten jidif-daitf und loifdti dkhaudef. 17 Aufgabe des Westjiddischen 21 Kontakte mit der christlichen Bevölkerung 25 Einfluss deutscher Varietäten auf das Westjiddische 26 Westjiddische Merkmale im Deutsch der Juden 30 Gegen das Westjiddische gerichtete Einstellungen 31 Einflüsse auf die deutschen Varietäten der Christen 35 Nachahmung und sprachliche Adaption bei Christen 38 Zur Einschätzung der Materialien 40 Entstehung und Geschichte der Tonaufnahmen 43 Zürcher Aufnahmen 1949/1950 46 Zürcher Aufnahmen der 1950er und 1960er Jahre 49 Zürcher Aufnahmen der 1980er Jahre 51 Zürcher Aufnahmen 2004 52 Aufnahmen von Uriel Weinreich und dem LCAAJ 52 Weitere Aufnahmen 54 Zur vorliegenden Edition 54 Aufnahmen der vorliegenden Arbeit: Auswahlkriterien 54 Zur Anordnung der transkribierten Texte 55 Zur verwendeten Transkription 56 Mögliche Beeinflussungen der Transkription 64 Zu den Übersetzungen und Anmerkungen 65

VI 1.5.6 1.5.7

Angaben bei den einzelnen Texten Zur technischen Bearbeitung der Aufnahmen

70 71

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.16 2.17 2.18 2.19 2.20 2.21 2.22 2.23 2.24 2.25 2.26 2.27 2.28 2.29 2.30 2.31 2.32 2.33 2.34 2.35 2.36

Aufnahmen aus Endingen Ein Purim in Endingen Ein Sabbat im Surbtal Feiertag auf dem Land Pessach in Endingen zu Vorväter-Zeiten Sabbat in Endingen Den Mond segnen Socher-Feier, Beschneidung und Haulegrasch Beschneidung und Torawickelband Abholung aus dem Wochenbett Hochzeit Hochzeit und Beerdigung Bräuche beim Ableben Sliches gehen Taschlich machen Kapores machen Aufrufe versteigern vor Simchat Tora Simchat Tora im alten Endingen Hutzelweggen (Rezept) Ein Geist an Chanukka InderMikwa Kauletsch (Rezept) Synagoge schmücken für das Wochenfest Gerichte vor und nach Tischo Beow Endinger Gerichte Viehhandel im Aargau Viehmarkt in Brugg Viehhandel im Welschland Viehhandel im Neuenburger Jura Pferdehändlergespräch Schalet (Interview mit Uriel Weinreich) Lexikalische Befragung (LCAAJ-Interview) Purim-Verslein Socher-Feier Kalt Schabbes Spinnholz Befragung zur Viehterminologie

73 73 80 98 104 122 126 129 136 138 139 141 145 150 152 153 155 159 166 169 171 173 175 177 178 180 183 185 187 188 204 206 210 212 213 215 217

VII 2.37 2.38 2.39 2.40 2.41 2.42 2.43 2.44 2.45 2.46 2.47 2.48 2.49 2.50 2.51

Einem geschenkten Gaul Der Synagogenrufer Schaile und Scheinchen Keine Maschine Da fehlt nur noch der Sarg Dein Maul suche ich Eine gute Stunde Der gestorbene Vater Sprichwörter und Redensarten Wenn ich auch kein Surbtaler bin Kugel (Rezept) Aufrufe versteigern in der Badener Synagoge Aufrufe versteigern in der alten Zürcher Synagoge Jiddische Wörter im Wirtshaus von Endingen Der Strassenwischer

220 221 223 225 226 228 229 230 231 236 237 239 241 243 245

3 3.1 3.2 3.3

Aufnahmen aus Lengnau Über den Dialekt der Juden Über die Viehhändlersprache Christen sprechen "Jiddisch"

247 247 248 249

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8

Aufnahmen aus Gailingen Der Provisionsreisende Der Provisionsreisende (Tonaufnahme) Der Provisionsreisende! (Manuskript) Schema beni! Vier Woche lang vor Purem (Ausschnitt) Aron, du irrst dich! (Ausschnitt) Purim in Gailingen Sprache der Juden und Christen (LCAAJ-Interview) Jiddische Wörter im Dialekt der Christen Kommunikation zwischen Juden und Christen

251 251 251 257 260 270 272 277 281 283 286

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Aufnahmen aus Randegg Ein Gespräch zwischen der Faie und der Gutel Wer sprach noch Jiddisch? Das Monatsanfangsgeld einziehen Sprache der Juden, Sprache der Christen Juttale Offenbach

289 289 295 296 298 300 302

VIII 6 6.1. 6.2. 6.3.

Vergleiche Endingen (Guggenheim-Grünberg 1966) Endingen (Guggenheim-Grünberg 1966) Gailingen (Guggenheim-Grünberg 1961a)

305 305 308 3 09

7 7.1 7.2

Zitierte Materialien Literaturverzeichnis Zitierte veröffentlichte Tonträger

313 313 327

Vorwort

Das Westjiddische ist wesentlich weniger gut erforscht als das Ostjiddische. Zwar ist die ältere Überlieferung des Jiddischen insgesamt westjiddisch (und entsprechend werden darunter auch häufig nur diese älteren schriftlichen Zeugnisse verstanden), doch für das 19. und 20. Jahrhundert gibt es nur wenige Quellen, unter anderem, weil die westjiddischen Dialekte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgegeben wurden. Diese Situation bringt es mit sich, dass die Vorstellungen über das gesprochene Westjiddisch (und die daraus gezogenen theoretischen Schlüsse) weit auseinander gehen (können). Dabei ist das Westjiddische für die jiddische Linguistik von besonderem Interesse, weil es die Möglichkeit bietet, Jiddisch in einer nichtslavischen, deutschen Umgebung zu beobachten. Die vorliegende Arbeit bietet Transkriptionen von Tonaufnahmen aus vier Ortschaften in der Schweiz und Südwestdeutschland - einem Gebiet, in dem das Westjiddische zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen Regionen noch ziemlich lebendig war. Über zwei Drittel des Materials - der grösste Teil davon geht auf die Initiative von Florence Guggenheim zurück und stammt aus den 1950er und 1960er J a h r e n stammen aus der schweizerischen Ortschaft Endingen. Die veröffentlichten Ausschnitte sind als Tondokumente auf den Begleit-CDs enthalten, insgesamt werden über zwei Stunden Tonmaterial zugänglich gemacht. Zur Textsammlung ist auch eine Grammatik der hier dokumentierten Dialekte in Arbeit. Der Zweck wäre erreicht, wenn die dargebotenen Materialien dazu beitrügen, unser Bild vom Westjiddischen zu konkretisieren. Die Arbeit hätte ohne die Unterstützung zahlreicher Institutionen und Personen nicht zustande kommen können: Der Stiftung Kredit zur Förderung des akademischen Nachwuchses der Universität Zürich danke ich für ein einjähriges Stipendium für angehende Forschende, das es mir ermöglichte, an der Columbia University und am YIVO Institute for Jewish Research in New York meine Kenntnisse in und über Jiddisch zu erweitern und an den genannten Institutionen mit den dort vorhandenen Materialien zu arbeiten.

χ Für die Einwilligung, mit den in ihrer Obhut befindlichen Tonaufnahmen zu arbeiten und Ausschnitte hieraus auf den Begleit-CDs zu veröffentlichen, danke ich Ralph Weingarten (Leiter des Florence Guggenheim-Archivs Zürich), Rudolf Schwarzenbach (Kommissionspräsident des Phonogrammarchivs der Universität Zürich), Marvin I. Herzog (Chefredaktor des LCAAJ) und Jean Ashton (Leiter der Rare Book & Manuscript Library, Butler Library, Columbia University New York), Johannes Inama (bis Ende 2003 Direktor des Jüdischen Museums Hohenems) und Jules Friesländer (Niederuzwil). Michael Bollag (Basel), dem einzigen Informanten, den ich selbst befragen konnte, danke ich für die (mit einigen Ausschnitten in dieser Sammlung vertretenen) Interviews und die erteilten Auskünfte. Für zahlreiche Hinweise, unter anderem auch für Ratschläge zur schlussendlich verwendeten Transkription aus ostjiddischer Perspektive, danke ich Paul Glasser (YIVO Institute for Jewish Research, New York). Hans-Peter Schifferle (Schweizerdeutsches Wörterbuch, Zürich) danke ich für seine Kommentare zur Transkription sowie für die Besprechung zahlreicher transkriptioneller Problemfälle. Er gab seine Kommentare als Kenner und Sprecher der hochalemannischen Dialekte des Surbtals ab. Besonders herzlich bedanken möchte ich mich bei Beatrice S. Weinreich (New York). Nicht nur machte sie mir bereitwillig das Manuskript eines Vortrages zugänglich, in dem sie selbst und ihr Mann Uriel 1950 am YIVO über ihre Exkursion ins Surbtal berichteten; die Unterhaltung mit ihr zeigte mir auch vorher unbekannte Aspekte über den Austausch zwischen der Zürcher Dialektologie und der in New York um Uriel Weinreich entstehenden linguistischen Schule in den 1950er und 1960er Jahren auf. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die "Beihefte zum Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry"\ Andrew Sunshine danke ich für die Unterstützung in New York, Ulrike Kiefer für die intensive jiddistische Betreuung dieser Arbeit und Robert Neumann für die Hilfestellung bei Aspekten der Datenverarbeitung. Zahlreiche weitere Personen haben mich durch ihre Fragen, Informationen, Hinweise und andere Hilfestellungen unterstützt: Marion Aptroot (Universität Düsseldorf), Jules Bloch (Israelitische Kultusgemeinde Endingen), Johannes L. Brosi (ehemals University of Oxford), Barbara Bucher (Rüschlikon), Jeremy Dauber (Columbia University New York), Yvonne Domhardt (Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich), Joshua A. Fishman (Yeshiva University New York), Aili Flint

XI (Columbia University New York), Thomas Gadmer (Universität Zürich), Elvira Glaser (Universität Zürich), Eva Maria Hesche (Jüdisches Museum Hohenems), Uri Horesh (University of Pennsylvania), Neil G. Jacobs (Ohio State University), Ane Kleine (Universität Trier), William Labov (University of Pennsylvania), Steven M. Lowenstein (University of Judaism, Los Angeles), Pio Pellizzari (Fonoteca Nazionale Svizzera, Lugano), Ellen F. Prince (University of Pennsylvania), Benjamin Sadock (Columbia University New York), Jerrold M. Sadock (University of Chicago), Stefan Schmid (Universität Zürich), Monika Schötschel (Universität Hamburg), Roman Sigg (Universität Zürich), Astrid Starck (Universite de Haute Alsace Mulhouse, Universität Basel), Moshe Taube (Hebrew University of Jerusalem), Daniel Weiss (Universität Zürich). Moni und meiner Familie danke ich für den Rest.

Zürich, im Frühling 2004

Jürg Fleischer

Abkürzungen

alem. arab. DWA aram. Du. f. Fem. F1GA franz. Gen. hebr. ICZ Inf. ipf. ital. JMH lat. LCAAJ m. n. Nom. Part. PAZ pf. PI. Prät. SDS Sgst. subst. superl. sw. westjid.

alemannisch arabisch Deutscher Wortatlas aramäisch Dual (bei hebräischen Nominalformen) feminin Femininum Florence Guggenheim-Archiv (Zürich) französisch Genitiv hebräisch Israelitische Cultusgemeinde Zürich Informant(in) Imperfekt (bei hebräischen Verbalformen) italienisch Jüdisches Museum Hohenems lateinisch Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry maskulin neutrum Nominativ Partizip Phonogrammarchiv der Universität Zürich Perfekt (bei hebräischen Verbalformen) Plural Präteritum Sprachatlas der deutschen Schweiz Singular stark (Adjektiv) substantiviert Superlativ schwach (Adjektiv) westjiddisch

1

Einleitung

1.1 1.1.1

Westjiddisch im hochalemannischen Gebiet Westjiddisch und Südwestjiddisch

Das Westjiddische wurde in den meisten Gegenden seines ursprünglichen Verbreitungsgebietes relativ früh aufgegeben. Sein Status im Vergleich zum Ostjiddischen im 20. Jahrhundert kann folgendermassen charakterisiert werden: On the eve of the Second World War, the status of Yiddish in most of Western Europe was hardly comparable to that of Yiddish in Eastern Europe. Eastern Yiddish was the living idiom of nearly 7 million Jews in Eastern Europe alone, and of over 10.5 million world wide. It had, moreover, become a vehicle for intense literary creativity. Western Yiddish, on the other hand, had been almost extinguished in the face of the penetration of both regional and Standard German into the Ashkenazic communities, and remained an everyday idiom only in a few areas on the western and eastern fringes of the German language area. (LCAAJ 1:10)

Für die Zeit um 1900 unterscheidet Guggenheim-Grünberg (1964: 74-75, 76 (Karte), Guggenheim-Grünberg 1973: 9, 29 (Karte 1)) für den Südwesten des ehemaligen jiddischen Sprachgebietes zwischen einer jiddischen Vollmundart, einer jiddischen Mischmundart und Resten von Jiddisch. Die jiddische Vollmundart war zu diesem Zeitpunkt nur noch in der Schweiz, im Eisass und in benachbarten Gegenden in Südwestdeutschland anzutreffen. Die jiddische Mischmundart, die als "ein stark durch das Hochdeutsche (auf oberdeutschem Gebiet) oder durch die landschaftliche Umgangssprache (mitteldeutsches Gebiet) beeinflusstes Jiddisch" (Guggenheim-Grünberg 1964: 74-75) charakterisiert wird, war in einigen weiteren, teilweise angrenzenden Gebieten verbreitet, ansonsten waren nur noch Reste von Jiddisch vorhanden. Heute ist das Westjiddische weitgehend ausgestorben; am längsten wurde es wahr-

2 scheinlich noch im Eisass gesprochen (nach mündlicher Auskunft von Astrid Starck, Mulhouse und Basel, soll es sogar noch am Anfang des 21. Jahrhunderts einige wenige Sprecher dieser Varietät geben). Selbst in diesen Gebieten war das Westjiddische allerdings bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rückzug begriffen: "Nur in kleinen jüdischen Landgemeinden erhielt sich die jiddische Mundart noch längere Zeit, insbesondere bei älteren, aus einfachem Milieu stammenden Leuten." (Guggenheim-Grünberg 1973: 9; vgl. Guggenheim-Grünberg 1964: 74). Allen erhaltenen und dokumentierten westjiddischen Dialekten kommt deshalb grosse Bedeutung zu, handelt es sich doch beinahe um den einzigen verbliebenen Zugang zum gesprochenen Westjiddischen. Zwar sind auch für manche Gegenden, in denen keine westjiddischen Dialekte in einem sprachwissenschaftlichen Rahmen dokumentiert wurden, schriftliche Dokumente v.a. aus dem 19. Jahrhundert vorhanden, die teilweise recht aufschlussreiche Erkenntnisse erlauben, wie Max Weinreich ([1953] 1958) beispielhaft in Bezug auf ein historisches Phonem, den Vokal E4 = mhd. ei, aufgezeigt hat. Doch ist klar, dass die Erforschung des gesprochenen Westjiddischen den unmittelbarsten Zugang erlaubt und deshalb gegenüber der Untersuchung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Quellen Vorteile bietet, wie Max Weinreich ([1953] 1958: 162) ausführt. Als ab 1950 der in der Schweiz gesprochene westjiddische Dialekt, das Surbtaler Jiddisch, durch die Publikationen von Florence Guggenheim-Grünberg (1898-1988) allgemein bekannt wurde, erregte dies "in der jüdischen Fachwelt einiges Aufsehen" (Guggenheim-Grünberg 1966: 3). Ohne Florence Guggenheims Arbeiten wäre heute die Forschung zum südwestlichen Westjiddischen kaum denkbar (zu einer Würdigung und Charakterisierung ihres Werkes vgl. die Nachrufe von Althaus 1989, Brosi 1990b und Schläpfer 1994). Neben Arbeiten zur Sprache der Juden in der Schweiz und im übrigen ehemaligen westjiddischen Sprachgebiet verfasste sie auch zahlreiche Artikel und Monographien zur Ethnographie der Juden, zur Sprache der Juden im Mittelalter und zum Judentum in der Schweiz generell und edierte das bis heute massgebende Werk zur Geschichte der Juden in der Schweiz (Weldler-Steinberg 1966, 1970). Florence Guggenheim hatte schon früh festgestellt, dass es sich beim Surbtaler Jiddischen um "ein sehr gut erhaltenes, ausgeprägtes W e s t j i d d i s c h " (Guggenheim-Grünberg 1950: 5) handelte. Schon vor dem Wirken Florence Guggenheims gab es gewisse Bemühungen um die Dokumentation des Surbtaler Jiddischen, doch ist es zum grössten Teil das Verdienst dieser Zürcher Forscherin, dass Surbtaler Jiddisch - zum

3 letztmöglichen Zeitpunkt - relativ ausfuhrlich dokumentiert wurde. Sie begann etwa ab 1950, systematisch Material zum Surbtaler Jiddischen und darüber hinaus zu weiteren westjiddischen Dialekten, v.a. in Südwestdeutschland und im Eisass, zu sammeln, und publizierte zahlreiche Artikel und Monographien hierzu. Besonders wertvoll sind die Tonaufnahmen, die dank ihrer Initiative entstanden und bis jetzt nur zu einem kleinen Teil veröffentlicht sind; der grösste Teil der in der vorliegenden Arbeit veröffentlichten Transkriptionen geht auf solche Aufnahmen zurück. Im Rahmen ihrer Forschungen stellte Florence Guggenheim fest, dass die südwestliche Ecke des ursprünglichen westjiddischen Sprachgebietes einstmals eine von den anstossenden jiddischen Sprachlandschaften deutlich abgetrennte Einheit gewesen ist. Sie unterschied sich von ihnen nicht nur durch anderslautende Dialektformen, sondern auch durch verschiedenartige Bräuche (Minhagim). (Guggenheim-Grünberg 1973: 9)

Dieses Gebiet "fallt im grossen Ganzen zusammen mit dem gesamtalemannischen Sprachgebiet, unter Einschluss des schwäbischen"; Guggenheim-Grünberg (1973: 9) bezeichnet es als "südwestliches Randgebiet des Westjiddischen". Katz (1983: 1026-1028) verwendet für dasselbe Gebiet den kürzeren Terminus Südwestjiddisch, der auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Neben den Arbeiten Florence Guggenheims (vgl. 7.1) 1 wurde Surbtaler Jiddisch 1950 von Uriel und Beatrice Weinreich (die 1949-1950 für ein Jahr in der Schweiz weilten; vgl. 1.4.5) in zwei bisher unpublizierten Arbeiten kurz behandelt (Uriel Weinreich 1950, Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich 1950). Thommen (1987, 1992, 1994) befasst sich mit der 1946 entstandenen jiddischen Aufnahme des Sprachatlasses der deutschen Schweiz (vgl. Hotzenköcherle 1962a: 90, 1962b: 99, Trüb 2003: 39) und bietet eine historische Phonologie aufgrund dieser Materialien. Südwestjiddisch, unter Einbezug beispielsweise auch der elsässischen Dialekte, ist von Brosi (1990a) charakterisiert worden; Brosi (1990a) bietet ebenfalls eine historische Phonologie, wobei für den Vokalismus das in der Jiddistik übliche System nach Max Weinreich (1960; 1973, 2: 321-382, 4:

Ein ziemlich vollständiges Verzeichnis der Arbeiten Florence Guggenheims, das neben den wissenschaftlichen Artikeln und Monographien auch ihre zahlreichen Zeitungsartikel verzeichnet, findet sich in Beiträge zur Geschichte und Volkskunde der Juden in der Schweiz 12: 40-46 (die Arbeiten zum Surbtaler und Westjiddischen sind auf den Seiten 43 bis 44 aufgeführt).

4 364-384 = 1980: 658-718; vgl. LCAAJ 1: 11-12, Kiefer 1995: 18-21) zur Anwendung kommt. In der vorliegenden Arbeit sind Materialien aus vier verschiedenen Orten des südwestjiddischen Sprachgebietes vertreten: Endingen, Lengnau, Gailingen und Randegg. Die schweizerischen Ortschaften Endingen und Lengnau gehören zum Surbtal im Nordwesten des Kantons Aargau; sie liegen zwischen den Ortschaften Baden und Zurzach, im Nordwesten von Zürich und im Osten von Basel. Lengnau liegt ca. 20 km nordwestlich von Zürich, Endingen liegt ca. 3 km nordwestlich von Lengnau. Die deutschen Ortschaften Gailingen und Randegg liegen im Hegau, im Süden von Baden.2 Gailingen befindet sich ca. 10 km östlich der schweizerischen Stadt Schaffhausen; das Dorf liegt am rechten Ufer des Rheins, gegenüber der schweizerischen Ortschaft Diessenhofen. Auf drei Seiten ist die Ortschaft vom Gebiet des Kantons Schaffhausen umschlossen, nur im Norden befindet sich auf deutschem Gebiet der (heute administrativ zu Gottmadingen gehörende) Nachbarort Randegg, von Gailingen allerdings durch den Gailinger Berg getrennt. Auf der Karte auf Seite 5 ist die geographische Lage der untersuchten Orte mit runden gefüllten Symbolen markiert (mit viereckigen gefüllten Symbolen sind ausserdem zur besseren Orientierung einige grössere Orte im Gebiet vermerkt; die Landesgrenze ist mit einer breiten Schraffur hervorgehoben, auf Schweizer Seite sind mit feinen Linien ausserdem die Kantonsgrenzen eingezeichnet). Die genannten Orte liegen alle im hochalemannischen Sprachgebiet (vgl. 1.1.2), auf das sich die vorliegende Arbeit beschränkt. Vor dem Holocaust existierten im hochalemannischen Gebiet noch weitere ländliche jüdische Gemeinden: Im Hegau ist beispielsweise Wangen zu nennen, im österreichischen Vorarlberg Hohenems. In den Werken der Schriftsteller Jacob Picard (1883-1967) und Wilhelm Frey (1833-1909) Die deutsche Landschaft Baden hat nichts zu tun mit der Grafschaft Baden auf dem Gebiet der nachmaligen Schweizerischen Eidgenossenschaft. Das deutsche Baden, welches seit 1952 zusammen mit Württemberg das Bundesland Baden-Württemberg bildet, bis dahin aber ein eigenes Bundesland gewesen war, war bis 1798 eine Grafschaft, deren Kerngebiete das Kraichgau, das nördliche Breisgau und ein Gebiet nahe Lörrach waren. Zu dieser Zeit bestand also keine direkte Grenze mit der schweizerischen Grafschaft Baden (die ihren Namen von der Ortschaft gleichen Namens bezieht). Erst nach 1798 erwarb das deutsche Baden weitere Gebiete im Süden, die vorher zu Österreich gehört hatten. Zu dieser Zeit wurde auch die Grafschaft Baden in der Schweiz in den 1803 gegründeten Kanton Aargau integriert.

5 finden sich beispielsweise immer wieder verstreute Wörter aus den jiddischen Dialekten dieser Ortschaften. Meines Wissens existiert jedoch, von derartigen Quellen abgesehen, praktisch kein Material zu den rezenten gesprochenen westjiddischen Mundarten anderer Ortschaften im hochalemannischen Gebiet als zu Endingen, Lengnau, Gailingen und Randegg, zumindest nicht in Form von Tonaufhahmen.

1.1.2

Die koterritorialen Varietäten: Hochalemannisch

Seit dem bahnbrechenden Aufsatz "Säbesdiker losn in Yiddish: a problem of linguistic affinity" (Uriel Weinreich 1952), in dem anhand von parallelen Phonemzusammenfällen slavischer und ostjiddischer Dialekte

6 nachgewiesen wird, dass die Mechanismen der Interferenz auf der Ebene der Dialekte sich dahingehend auswirken können, dass koterritoriale Dialekte verschiedener Sprachen dieselbe lokale Entwicklung teilen, sich aber genau in dieser von jeweils nahe verwandten Varietäten unterscheiden, ist unbestritten, dass Sprachkontaktphänomene auch in dialektologische Forschungen fruchtbar einbezogen werden können. Spezifisch für das Westjiddische hat Hutterer (1969: 5) betont, dass eine noch engere Koordination der Erforschung der jiddischen und koterritorialen deutschen Varietäten angebracht sei als beim Ostjiddischen und den koterritorialen slavischen Varietäten. Das Untersuchungsgebiet der vorliegenden Arbeit wurde so gewählt, dass es aufgrund der koterritorialen Dialekte definiert werden kann: Alle vier untersuchten Ortschaften liegen im hochalemannischen Sprachgebiet. Die Abgrenzung des Hochalemannischen gegen Norden verläuft ungefähr parallel zur Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz, doch fallt sie nicht mit der Landesgrenze zusammen. Zwar weist Seidelmann (1989: 69) nach, dass die in der älteren Literatur geäusserte Meinung, die Staatsgrenze bilde "keinerlei Lautscheide", nicht ganz richtig sein kann; in neuerer Zeit "beobachten wir den sukzessiven Aufbau einer Dialektscheide entlang der politischen Rheingrenze" (Seidelmann 1989: 68). Speziell für den nordöstlichen Aargau und den benachbarten südbadischen Raum Waldshut konstatiert jedoch Schifferle (1995: 242), "dass ich weder lautliche noch morphologische noch lexikalische Einheiten benennen könnte, von denen ich mit Sicherheit annehmen dürfte, sie hätten auf der Staatsgrenze - sagen wir einmal: vor nicht allzu langer Zeit - eine Isoglosse gebildet." Bei den parallel zur Landesgrenze verlaufenden Isoglossen handelt es sich um vergleichsweise junge Phänomene. Die Grenze der für das Hochalemannische als konstitutiv erachteten Merkmale verläuft durchweg nördlich des Rheins (im Fall des rechtsrheinischen Kantons Schaffhausen allerdings gelegentlich parallel zur Landesgrenze). Die koterritorialen hochalemannischen Basisdialekte sind vom Westjiddischen sprachlich recht verschieden, was sich vielleicht auf die Erhaltung des Westjiddischen insgesamt (vgl. 1.3), auf jeden Fall aber für die Frage der Abgrenzung von deutschen und jiddischen Formen im gegebenen Korpus als vorteilhaft erweist (beispielsweise wurden die frühneuhochdeutsche Diphthongierung und Monophthongierung in den meisten hochdeutschen Mundarten und auch im Westjiddischen durchgeführt, nicht jedoch im Alemannischen). Insbesondere ist das Hochalemannische in Bezug auf zwei lautliche Phänomene vom

7 Westjiddischen klar unterschieden, in denen das Westjiddische und das Niederalemannische (wozu u.a. die meisten Mundarten des Eisass und Badens gehören; zu diesen Gebieten existiert vergleichsweise viel westjiddisches Material) miteinander übereinstimmen: Das Niederalemannische wird nämlich nach Wiesinger (1983: 832; vgl. Schirmunski 1962: 205) vom Hochalemannischen durch die Behandlung der mittelhochdeutschen gerundeten Vorderzungenvokale abgegrenzt; das Niederalemannische hat (wie die meisten hochdeutschen Dialekte und das Westjiddische) die mittelhochdeutschen gerundeten Vorderzungenvokale entrundet, während die entsprechenden Vokale im Hochalemannischen erhalten bleiben (vgl. niederalem. und westjid. ibar 'über' gegenüber hochalem. ybar). Ein ähnliches Muster zeigt auch die Behandlung von anlautendem germ. *k-\ Während dieser Laut in den meisten niederalemannischen Dialekten, aber auch in den hier näher betrachteten südwestjiddischen Mundarten als aspiriertes /k h / erscheint (vgl. Schirmunski 1962: 297, Wiesinger 1983: 833), liegt im Hochalemannischen stattdessen verschobenes /x/ vor (vgl. niederalem. und westjid. khind 'Kind' gegenüber hochalem. xind). In Bezug auf die koterritorialen Basisdialekte bestehen zwischen den hochalemannischen Mundarten des schweizerischen Surbtals und denjenigen des deutschen Hegaus keine sehr grossen Unterschiede. In Bezug auf die soziolinguistische Situation der mit dem Westjiddischen koterritorialen deutschen Varietäten ist dies jedoch der Fall. Die soziolinguistische Situation in der deutschsprachigen Schweiz (vgl. z.B. Schwarzenbach 1969, Ris 1979, Ammon 1995: 283-300, Rash [1998] 2002, Haas 2000: 81-88) war eines der vier Beispiele, die Ferguson (1959) zur Definition des Diglossiebegriffs verwendete. Auch bei Hudson (2002), der jüngsten grösseren Arbeit zu diesem in der soziolinguistischen Diskussion umstrittenen Begriff, gilt die deutschsprachige Schweiz nach wie vor als prototypischer Fall fur Diglossie. Das konstitutive Merkmal der Diglossie in der deutschsprachigen Schweiz ist, dass Dialekt und Standard komplementär verteilt sind und von ein und demselben Sprecher in Abhängigkeit von der kommunikativen Situation verwendet werden. Eine Variante der hochdeutschen Standardsprache, die recht ähnlich, aber nicht identisch mit den Standardvarietäten der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs ist (und meist als Schweizerhochdeutsch bezeichnet wird), wird für die formale Kommunikation verwendet (dazu gehört der grösste Teil der schriftlichen Kommunikation, ausserdem formale mündliche Situationen; beispielsweise ist Hochdeutsch die schulische Instruktionssprache in höheren Klassen), wogegen "Schweizerdeutsch" -

8 also die Dialekte, die freilich untereinander recht unterschiedlich sind - in allen informellen Situationen verwendet wird. Dialekt und Standard sind komplementär verteilt, jeder Sprecher verfugt über zwei verschiedene Register, die je nach Situation zum Tragen kommen. Die Diglossie-Situation war allerdings nicht immer so klar ausgeprägt; zwischen 1890 und 1914 breitete sich die neuhochdeutsche Standardsprache zuungunsten des Schweizerdeutschen aus, vor allem in der Stadt Zürich, und es sah so aus, als würden die Dialekte - zunächst in den höheren sozialen Schichten - zugunsten der Standardsprache verschwinden, wie dies in anderen Gebieten des deutschen Sprachraums ja bereits der Fall war (vgl. Schwarzenbach 1969: 128). Diese Entwicklung brach aber mit dem Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Zeit ab. Für Südwestdeutschland gilt eine gänzlich andere Distribution der Varietäten. Während in der deutschsprachigen Schweiz eine klare Funktionsaufteilung zwischen Dialekt und Standardsprache besteht und die beiden Varietäten klar voneinander abgrenzbar sind, existiert in Südwestdeutschland ein Kontinuum zwischen Dialekt und Standard; für den südwestdeutschen Bereich unterscheidet Ruoff (1973: 48) zwischen Grundmundart, Ortsmundart, Umgangssprache und Hochsprache. Zwischen der sozialen Stellung einer Person und der von ihr in informellen Situationen gesprochenen Varietät besteht eine klare Korrelation (vgl. Ruoff 1973: 192). Dialekt spricht vor allem die immobile ältere ländliche Bevölkerung, von vielen sozialen Gruppen wird dagegen eher die Umgangssprache oder die Hochsprache als informelles Register verwendet. Somit besteht eine von der deutschsprachigen Schweiz recht verschiedene soziolinguistische Situation, wie dies Schifferle (1995; vgl. besonders 239-243) in einem Vergleich des nordöstlichen Aargaus mit dem benachbarten südbadischen Raum Waldshut aufgezeigt hat. Die linguistische Auswirkung der soziolinguistischen Situation auf die grundsätzlich den schweizerischen sehr nahen hochalemannischen Dialekte in Südbaden ist eindeutig; es existieren zahlreiche "nördliche Neuerungen im Kontaktbereich mit höheren Varietäten (Standard-, Umgangssprache)" (Schifferle 1995: 215-216), die sich aber, wie bereits eingangs erwähnt, nicht über die Landesgrenze hinaus verbreiten. Ähnliches ist auch bereits von Seidelmann (1989) festgestellt worden.

9 1.1.3

Geschichtlicher Hintergrund und demographische Entwicklung

Die untersuchten westjiddischen Dialekte wurden in vier Dörfern gesprochen, die im weiteren Kontext des Landjudentums betrachtet werden müssen; dies war in Süd- und Westdeutschland (und das gilt auch für die Schweiz) "bis etwa 1850 die absolut vorherrschende Lebensform der Juden überhaupt" (Richarz 1992: 11; vgl. Richarz 1997: 1). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in einer Periode, die in Westeuropa unter anderem durch eine Veränderung des ökonomischen Systems in der Folge von Industrialisierung und Urbanisierung (und der damit verbundenen Landflucht) gekennzeichnet ist, erhielten die Juden in den untersuchten Gebieten die Niederlassungsfreiheit. Die Landflucht und Urbanisierung, Entwicklungen, von denen die jüdische Landbevölkerung wesentlich stärker betroffen war als die christliche (vgl. Lowenstein [1976] 1992: 23, [1980] 1992: 143), sowie die Gewährung der Niederlassungsfreiheit führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem weitgehenden Zusammenbruch des Landjudentums. Die beiden schweizerischen jüdischen Gemeinden, Endingen und Lengnau, entstanden im 16. Jahrhundert. In der Alten Eidgenossenschaft war den Juden, nachdem sie im 15. Jahrhundert aus den Städten vertrieben worden waren, der Aufenthalt nur in den Untertanengebieten gestattet, so in der Grafschaft Baden, im Thurgau und im Rheintal (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 17-20, Armbruster 1992: 38). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Juden auch aus dem Thurgau und dem Rheintal vertrieben; sie flüchteten teilweise in die Grafschaft Baden. Dort durften sie sich zunächst im gesamten Gebiet niederlassen, doch waren die Dörfer Endingen und Lengnau im Surbtal besonders günstig gelegen, nämlich zwischen Zurzach, das damals eine bekannte Messe, und Baden, das im 18. Jahrhundert einer der bekanntesten Badeorte Europas war. Im Jahr 1776 wurde das Aufenthaltsrecht auf diese beiden Orte beschränkt; ab nun durften Juden in dem Gebiet, das 1848 zur modernen Schweizerischen Eidgenossenschaft wurde, also praktisch nur in diesen beiden Dörfern wohnen. Die uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit erhielten die schweizerischen Juden auf Bundesebene erst im Jahr 1866 (vgl. Weldler-Steinberg 1970, besonders 133-147), einige Kantone waren allerdings vorangegangen (Bern 1846, Genf 1857, Zürich 1862; vgl. Weldler-Steinberg 1970: 218, 231, 205-206). Da die ökonomische Situation der Surbtaler Juden vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr schlecht war (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 112-120), begann bereits vor der Emanzipation, mit dieser aber noch in verstärktem

10 Ausmass, die Abwanderung aus Endingen und Lengnau. Diese Entwicklung kann anhand der Bevölkerungsstatistik der beiden Gemeinden deutlich gezeigt werden, wie Tabelle 1 veranschaulicht. 1837

1850

1870

1880

1900

1910

1920

1930

1941

1950

Endingen

890

990

747

455

263

170

80

52

31

15

Lengnau

562

525

376

206

110

93

73

56

125

8

Tabelle 1: Anzahl jüdischer Einwohner in Endingen und Lengnau 3

Aus Tabelle 1 geht hervor, dass die jüdischen Einwohner in Endingen absolut gesehen immer zahlreicher waren als in Lengnau.4 Das gilt auch, wenn die Zahlen jüdischer mit der Anzahl christlicher Bewohner in den beiden Dörfern verglichen werden: 1837, als Lengnau die grösste Anzahl jüdischer Einwohner hatte, machte die jüdische Bevölkerung weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung dieses Dorfes aus (die damals 1781 Einwohner betrug; vgl. Schifferle 1995: 38). In Endingen dagegen betrug der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung in diesem Jahr leicht mehr als die Hälfte (Gesamtbevölkerung 1837: 1764; vgl. Schifferle 1995: 38, Weibel 1998: 311). Auch begann der Rückgang in Lengnau etwas früher als in Endingen, das 1850 den höchsten Stand der jüdischen Bevölkerung erreichte. Im Jahr 1880 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Endingen immer noch etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, in Lengnau dagegen bereits weniger als ein Sechstel; 1920 war die jüdische Bevölkerung in beiden Gemeinden auf unter 10% der Gesamtbevölkerung gesunken. Die jüdische Bevölkerung der beiden Gemeinden hatte einerseits in anderen dörflichen Gemeinden Individualniederlassungen begründet (beispielsweise konnten sich Händler nach 1866 ohne Probleme in der Nähe ihrer Kundschaft niederlassen), war aber andererseits in städtische Zentren gezogen, und zwar zunächst vor allem in die nahe gelegene Kleinstadt Baden, danach auch in grössere, weiter entfernte Städte (vgl. Wildi 1998: 49-54).

3

Zahlen in Tabelle 1 nach Weldler-Steinberg (1970: 179), Schifferle (1995: 40), Weibel (1998: 311).

4

Die relativ hohen Zahlen in Lengnau im 20. Jahrhundert erklären sich zum grossen Teil durch das 1903 eröffnete Altersasyl (vgl. 1.1.4), das über längere Zeit das einzige jüdische Altersheim in der Schweiz war (vgl. WeldlerSteinberg 1970: 179).

11 In Baden hatten, wie in der Schweiz, in den mittelalterlichen Städten grössere jüdische Populationen bestanden, die jedoch vertrieben worden waren. Die ländlichen Gemeinden im Hegau entstanden im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert, es besteht keine schlüssig belegte Kontinuität dieser Gemeinden mit früheren jüdischen Siedlungen im Gebiet (vgl. Roming 2004: 293-295). Besonders Gailingen war relativ verkehrsgünstig gelegen, seine Attraktivität für jüdische Händler "beruhte nicht zuletzt auf der eigentümlichen Grenzlage des Ortes am Hochrhein, unweit eines so bedeutenden Handelsplatzes wie Schaffhausen" (Roming 1997: 270). Gerade in Südbaden hielt sich das traditionelle ländliche jüdische Leben relativ lang (vgl. Lowenstein [1980] 1992: 147). Auch in Baden begann allerdings der Wegzug aus den ländlichen Gemeinden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachdem 1862 die Niederlassungsfreiheit gewährt worden war (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 17). Nach Roming (2004: 320) fällt der stärkste Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Gailingen zusammen mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Die demographische Entwicklung ist in Tabelle 2 veranschaulicht. 1825 Gailingen Randegg

596 289

1834 -

194

1843 672 -

1849 -

351

1852

1858

1875

1900

1925

1933

913

996

704

663

375

314

225

179

79

62

-

315

Tabelle 2: Anzahl jüdischer Einwohner in Gailingen und Randegg 5

Tabelle 2 zeigt, dass Gailingen im betrachteten Zeitraum 1858 die höchste jüdische Bevölkerungszahl hatte. Im Jahr 1825 machten die Juden knapp die Hälfte der Bevölkerung in dieser Ortschaft aus, in den Jahren 1843, 1852 und 1858 bestand eine geringe jüdische Bevölkerungsmehrheit (nach Hundsnurscher / Taddey 1968: 99 betrug die christliche Bevölkerung 652, 910 bzw. 982 in diesen Jahren; vgl. Guggenheim-Grünberg 1961a: 7). Vor der vollständigen Emanzipation war Gailingen die drittgrösste jüdische Gemeinde Badens (nach Mannheim und Karlsruhe), Randegg stand an siebter Stelle (vgl. Roming 1992: 93, 1997: 271, 2004: 320). Mit der Emanzipation begann die Bevölkerungszahl aber zu sinken, und zwar nicht nur absolut, sondern auch relativ: 1875 und 1900 machte der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung noch ca.

5

Zahlen in Tabelle 2 nach Hundsnurscher / Taddey (1968: 99-100, 239-240) und Moos (1986: 36).

12

40% aus, 1925 nur noch ca. ein Viertel. Zur Zeit der Weimarer Republik war Gailingen immerhin noch die einzige Gemeinde Badens mit weniger als 2000 Einwohnern insgesamt, die noch über 150 Juden zählte (vgl. Lowenstein 1997: 228, mit Fussnote 22). Mit der Emanzipation zogen die Juden u.a. nach Konstanz, Mannheim, Amerika - vor allem aber in die Schweiz, und zwar vorwiegend nach Diessenhofen und Zürich (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 99, Girres 2004) - mit den schweizerischen Juden hatten seit jeher enge Verbindungen bestanden. Die Entwicklung in Randegg verlief ziemlich parallel zu derjenigen Gailingens, der Rückgang setzte aber etwas früher ein. Auch war in Randegg die jüdische Bevölkerung in absoluten und relativen Zahlen niemals so hoch gewesen wie in Gailingen.

1.1.4

Jüdisches Leben in den untersuchten Gemeinden

Die traditionellen Beschäftigungen der Surbtaler Juden waren auf Geldgeschäfte, den Viehhandel, das Hausierergeschäft, den Markthandel und die Vermittlung im Liegenschaftshandel beschränkt (vgl. WeidlerSteinberg 1966: 33). Nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Mehrzahl der Surbtaler Juden Hausierer (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 112). Der Aktionsradius beispielsweise von Hausierern oder Viehhändlern war wesentlich grösser als derjenige der weniger mobilen christlichen Bevölkerung (die im 19. Jahrhundert noch zum grössten Teil in der Landwirtschaft tätig war); beispielsweise kehrten viele Händler nur über Sabbat zu ihren Familien zurück. Die jüdischen Gemeinden des Surbtals hatten eigene Schulen, in denen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert der Hauptakzent nicht auf profanem Wissen, sondern auf der Vermittlung traditioneller jüdischer Bildung lag; deutsche Bildungsfächer wurden zunächst nicht unterrichtet (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 148-151). 1813 ordnete die Regierung an, dass die Judengemeinden deutsche Schulen einzurichten hätten (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 154). Die modernen Schulen stiessen allerdings bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bei einem Grossteil der Bevölkerung auf Widerstand, weil ihrer Ansicht nach die traditionelle religiöse Bildung in ihnen zu kurz kam (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 188). Die jüdischen Schulkorporationen bestanden bis ins späte 19. Jahrhundert hinein und wurden in Lengnau 1894, in Endingen 1896 mit den christlichen Dorfschulen vereinigt (vgl. Weldler-Steinberg 1970: 196).

13 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts spielte sich in den Surbtaler Gemeinden ein Kulturkampf zwischen konservativ und reformerisch Gesinnten ab (vgl. Weldler-Steinberg 1966: 200), der teilweise auch recht unschöne Züge annahm (und beispielsweise zur Amtsenthebung des Rabbiners Leopold Wyler führte, vgl. 1.2.6). Trotz dem deutlichen Bevölkerungsrückgang wurde 1903 das Altersasyl, das damals einzige jüdische Altersheim in der Schweiz, in Lengnau eingeweiht. Dass diese Institution ausgerechnet in Lengnau gebaut wurde (und nicht etwa in Endingen, das damals noch über eine stärkere jüdische Bevölkerung verfugte, oder etwa in Zürich, wo die jüdische Bevölkerung zu dieser Zeit bereits wesentlich grösser war), ist bis zu einem gewissen Grad eine künstliche Entwicklung: Das Altersheim war u.a. mit einer grossen Spende der "Copper Guggenheims" in Philadelphia und New York gebaut worden (deren bekannteste Exponenten sind heute Peggy Guggenheim und Solomon R. Guggenheim, Mäzen des nach ihm benannten Museums in New York). Diese Familie stammt ursprünglich aus Lengnau. Sie hatte ihre Spende an die Bedingung geknüpft, dass das Altersheim in ihrer Heimatgemeinde erbaut werde (vgl. Dreyfus 1924). Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Abwanderung wirkte sich in den Surbtaler Gemeinden insofern verstärkt aus, als die in den Gemeinden verbliebenen Juden wesentlich weniger finanzkräftig waren als die abgewanderten (vgl. Weldler-Steinberg 1970: 175). Mit der Abwanderung hörten die jüdischen Gemeinden von Endingen und Lengnau im Verlauf des 20. Jahrhunderts praktisch auf zu existieren. Die Synagogen und der jüdische Friedhof wurden zwar renoviert (und 1993 mit dem Aargauer Heimatschutzpreis ausgezeichnet), aber heute gibt es in den Orten praktisch keine jüdische Bevölkerung mehr. In den Synagogen finden hie und da Hochzeiten und an Feiertagen Gottesdienste statt, aber die einzigen noch regulär als solche funktionierenden jüdischen Institutionen sind das jüdische Altersheim (das heute freilich ohne nichtjüdische Bewohner seine Bettenzahl nicht mehr auslasten könnte) und der zwischen den beiden Gemeinden gelegene jüdische Friedhof. Zum Zusammenleben mit der christlichen Ortsbevölkerung ist zu bemerken, dass vor der Emanzipation trotz der räumlichen Nähe die Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung relativ gering waren. In Bezug auf die Surbtaler Juden vor der Emanzipation heisst es: Bis dahin lebten sie inmitten der nichtjüdischen Dorfbevölkerung ein Sonderdasein, bedingt einerseits durch ihre bürgerliche und politische Ausnahmestellung, anderseits durch ihre konfessionelle Eigenart, welche in einer

14 eigenen Sprache und Kultur ihren Ausdruck fand. (Guggenheim-Grünberg

1966: 4) Im 19. Jahrhundert, meist in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Emanzipation, kam es manchmal zu Spannungen zwischen christlicher und jüdischer Bevölkerung, beispielsweise im Jahr 1861. Damals versuchte der Kanton Aargau, die jüdischen Gemeinden zu Ortsgemeinden zu erheben. Dies hätte bedeutet, dass ihnen ein eigenes Gemeindeterritorium zugeteilt worden wäre, welches ihnen vom Territorium der christlichen Gemeinden hätte abgetreten werden müssen (vgl. Weldler-Steinberg 1970: 92-94, Weibel 1998: 332-333). Diese Idee stiess auf den erbitterten Widerstand der christlichen Endinger und Lengnauer, Es kam zu Sachbeschädigungen an jüdischen Häusern und Körperverletzungen durch Steinwürfe; die Krawalle hörten erst auf, als der Kantonsrat wieder von seinem Plan abrückte. Die traditionellen Berufe der Gailinger und Randegger Juden lagen wie im Surbtal im Bereich des Handels, unter anderem im Viehhandel (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 99, 240; Schmid 1988: 69). Gailingen war auch die Hauptstadt des Rabbinischen Bezirks, zu dem unter anderem die Gemeinden von Randegg, Wangen, Konstanz und Diessenhofen gehörten. Es bestanden viele soziale Aktivitäten jüdischer Vereine. 1891 wurde ein jüdisches Krankenhaus und 1898 ein jüdisches Altersheim, gebaut (vgl. Hahn 1988: 90, Roming 2004: 355-363); in letzterem gab es Bewohner aus ganz Baden (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 101). Gailingen hatte von 1870 bis 1884 einen jüdischen Bürgermeister, den ersten in ganz Deutschland (vgl. Rosenthal 1927: 376-377; Hundsnurscher / Taddey 1968: 19, 101; Hahn 1988: 305). Im 19. Jahrhundert war Gailingen die grösste und wichtigste ländliche jüdische Gemeinde in Baden und wahrscheinlich in ganz Deutschland (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 98). Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Gailingen eine ziemlich traditionelle Gemeinde, die für das Landjudentum als repräsentativ gelten konnte. Im Vergleich zu anderen ländlichen jüdischen Gemeinden, die in dieser Zeit in grosser Zahl aufgelöst wurden (vgl. Lowenstein [1980] 1992: 147, Hahn 1988: 28), florierte Gailingen. Dass es sich vor allem bei Gailingen auch im 20. Jahrhundert noch um eine vergleichsweise blühende jüdische Gemeinde handelte, kann im Vergleich mit der jüdischen Gemeinde von Worblingen illustriert werden. Die Ortschaft Worblingen, die wie Gailingen und Randegg im Hegau liegt, hatte ursprünglich eine sehr ähnlich strukturierte jüdische Gemeinde wie diese beiden Ortschaften, aber um 1925 gab es in

15

dieser Ortschaft keine jüdische Bevölkerung mehr. Die jüdische Gemeinde war bereits 1901 aufgelöst worden (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 164). In Gailingen bestand wie in Endingen und Lengnau ursprünglich eine eigene jüdische Schule, die jedoch 1877 mit der christlichen zu einer Simultanschule vereinigt wurde (vgl. Roming 2004: 350). Die jüdische Bevölkerung von Gailingen (wie auch von Randegg und den anderen Gemeinden im Hegau) war weitgehend orthodox (vgl. Sauer 1986: 29, Schmid 1988: 38-42). 6 Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist, dass noch 1925, als die Residenz des Bezirksrabbiners von Gailingen nach Konstanz verlegt wurde (Konstanz verfugte damals über eine wesentlich grössere jüdische Bevölkerung, die eher liberal orientiert war; ein gewisses Zeugnis darüber bietet der Text in 5.1), Gailingen und Randegg darauf beharrten, wieder einen orthodoxen Rabbiner zu bekommen. Diesem Wunsch wurde 1927 auch entsprochen (vgl. Hundsnurscher / Taddey 1968: 164). In einer aus dem gleichen Jahr stammenden Charakterisierung (die praktisch wörtlich, allerdings ohne Quellenangabe, auch bei Hundsnurscher / Taddey 1968: 100 abgedruckt ist) wird Gailingen als freilich einer vergangenen Epoche angehörendes - Modell einer ländlichen jüdischen Gemeinde gesehen: Die Blütezeit der jüdischen Gemeinde Gailingen fällt in das 19. Jahrhundert. [...] Die in einem kleinen Orte verhältnismäßig starke jüdische Bevölkerung schuf unter Führung bewährter Rabbiner, Lehrer und weitsichtiger Bürger ein musterhaftes Gemeindeleben mit allen Einrichtungen für religiöse, geistige und Wohlfahrtsbedürfnisse, die auch anderwärts als nachahmenswert befunden wurden. Das Zusammenleben in großer Zahl begünstigte nicht nur die Erhaltung überlieferter Bräuche (Purimfeier u.a.), sondern erzeugte auch Heimatstolz, ein starkes jüdisches Bewußtsein [...] (Rosenthal 1927: 164)

6

Nach Lowenstein (1997: 224) war das südliche Baden im Vergleich zu anderen Landschaften Deutschlands weder besonders traditionell noch besonders säkularisiert, sondern "irgendwo zwischen den beiden Extremen zu finden"; dass aber Gailingen und Randegg innerhalb Südbadens sicher traditioneller als andere Gemeinde waren, liegt ausser Frage. Aufgrund von Erinnerungen christlicher und jüdischer Gailinger merkt übrigens Müller (2004: 407) an: "Die jüdischen Gemeinden von Gailingen und Randegg waren offenbar in Bezug auf die Einhaltung der religiösen Glaubensvorschriften sehr unterschiedlich. Dennoch stimmen beide Gemeinden darin überein, dass sie die aufkommende Liberalisierung ablehnten [...]."

16 In der Reichskristallnacht wurden die Synagogen von Gailingen und Randegg zerstört und die noch in den Gemeinden verbliebenen, meist älteren Juden am 22. Oktober 1940 zunächst nach Gurs in Südfrankreich und später in die Vernichtungslager deportiert. Von Berty FriesländerBloch, der wichtigsten Informantin zur jiddischen Mundart von Gailingen, ist ein Bericht über die Deportation abgedruckt in Friedrich / Schmieder-Friedrich (1981: 111-121) und Schmieder (2004: 451-453; vgl. auch Moos 1986: 149-152).

1.2

Zur Sprachsituation

Das soziolinguistische Verhalten der (jüdischen und christlichen) Bevölkerung eines Dorfes mit signifikanter jüdischer Bevölkerung war vermutlich wesentlich komplexer, als man aufgrund der Angaben in vielen älteren Arbeiten zum Westjiddischen vermuten würde (das gilt wahrscheinlich auch für die sprachlichen Auswirkungen auf das Westjiddische). Zur soziolinguistischen Situation in einem solchen Dorf sind mit Ausnahme der Arbeiten von Matras (1989, 1991, 1996, 1997), der sowohl jüdische als auch christliche (ehemalige) Einwohner der Gemeinden Rexingen und Buttenhausen in Württemberg befragte, noch keine eingehenden Untersuchungen unternommen worden. Aufgrund des frühen Untergangs des Landjudentums in vielen Gebieten und vor allem wegen des Holocaust sind auch praktisch keine verlässlichen Daten vorhanden. Es gibt heute keine Sprecher der westjiddischen Mundarten der untersuchten Ortschaften mehr. Die meisten Informanten zum Surbtaler Jiddisch waren in den 1970er Jahren bereits verstorben (vgl. Guggenheim-Grünberg 1976: 3) und alle in der vorliegenden Arbeit dokumentierten Informanten, soweit es sich nicht um Sekundärsprecher 7 handelt,

Mit dem Terminus Sekundärsprecher bezeichne ich Informanten, die Westjiddisch nicht als Erstsprache erworben haben, aber noch einen gewissen Zugang zum Westjiddischen hatten, beispielsweise als Nachkommen von Primärsprechern. In mehreren Arbeiten verwendet Matras den Begriff des "authentischen Sekundärsprechers", womit Personen bezeichnet werden, "die die Sprache zwar nicht gebrauchten, jedoch Zeugen deren authentischen Gebrauchs gewesen sind und sie daher rekonstruieren können" (Matras 1997: 100). Im Unterschied zu Matras, der sich mit seinem Terminus hauptsächlich

17 sind vor 1900 geboren. Diese Ausgangslage bringt vor allem für die Rekonstruktion der soziolinguistischen Situation gewisse Schwierigkeiten mit sich, da hierzu praktisch keine systematisch erhobenen Daten vorliegen. Da ich die Sprachsituation der letzen Informanten auch nicht aus eigener Anschauung beurteilen kann (als 1974 Geborener hatte ich von einem Sekundärsprecher und Nachfahren von Sprechern abgesehen keine Möglichkeit mehr, Informanten selbst zu befragen), muss ich viele Details zur soziolinguistischen Situation erschliessen. Die in der Literatur und vor allem auch in den bisher unveröffentlichten Tonaufnahmen vorhandene anekdotische Evidenz reicht dazu aus, zahlreiche soziolinguistische Aspekte zu erhellen, es muss aber betont werden, dass die folgenden Angaben aufgrund der Quellenlage bis zu einem gewissen Grad fragmentarisch sind. Die von Fishman (1965) formulierten Grundfragen ("Who speaks what language to whom and when?") können aufgrund der vorhandenen Evidenz leider nicht eindeutig beantwortet werden.

1.2.1

Die Varietäten jidif-daitf

und lo:fdn dkhaudef

Neben dem eigentlichen westjiddischen Basisdialekt, der zumindest im Surbtal als jidif-daitf 'Jüdisch-Deutsch' bezeichnet wurde (vgl. Guggenheim-Grünberg 1950: 4, 1954a: 48, 1981: 46), existierte ein spezielles sondersprachliches Register, das als Markt- oder Handelssprache charakterisiert werden kann. Für die Surbtaler Juden ist die Sondersprache der Vieh- und Pferdehändler besonders gut dokumentiert (vgl. Guggenheim-Grünberg 1954a, 1966: 34-38, 1981); Vieh- und Pferdehandel war einer der Haupterwerbszweige der Surbtaler Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. 1.1.4): Die jüdischen Händler sprachen unter sich Jiddisch, und zwar einen Dialekt des Westjiddischen, wie alle Bewohner der Surbtaler "Judendörfer" Endingen und Lengnau und wie auch die Juden, die aus dem Auslande kamen. Dieses Westjiddische enthielt eine größere Anzahl von Ausdrücken, die von hebräischen Lexemen abgeleitet waren. Die Pferdehändler - wie in kleinerem

auf das sondersprachliche Wortgut bezieht (die eigentliche westjiddische Mundart konnte in seinem Untersuchungsgebiet nicht mehr dokumentiert werden), beziehe ich mich damit auch auf phonologische, morphologische und syntaktische Eigenschaften.

18 Umfange auch die Viehhändler - mischten nun viele besondere Fachausdrücke in ihr Jiddisch, die sie wiederum aus dem Hebräischen entlehnten. Sie schufen so mit der Zeit eine eigene Berufssprache, die den übrigen Juden nur schwer verständlich war, eine Art Geheimsprache, deren sie sich in Gegenwart von Nichtjuden bedienten. (Guggenheim-Grünberg 1981: 45; vgl. Guggenheim-Grünberg 1954a: 49)

Dieses sondersprachliche Register wird mit demselben Namen bezeichnet wie das Hebräische, nämlich als lo:fdn akhaudef wörtl. 'Sprache des Heiligen, Heilige Sprache' (vgl. Guggenheim-Grünberg 1950: 4, 1954a: 51, 1981: 46). Der linguistisch augenfälligste Unterschied zum eigentlichen westjiddischen Dialekt liegt darin, dass letzterer 2% bis 8% Hebraismen enthält, wogegen dieser Prozentsatz in der Pferdehändlersprache bei 22% bis 32% liegt. Ausserdem bestehen Unterschiede in Bezug auf die Wortartzugehörigkeit: während in der westjiddischen Mundart der überwiegende Anteil der Lexeme hebräischen Ursprungs, nämlich über 70%, Nomen sind, liegt dieser Anteil in der Pferdehändlersprache nur bei ca. 55%. Der Prozentsatz an anderen Wortarten ist hier bedeutend höher, die signifikantesten Unterschiede bestehen bei den Numeralia (vgl. Guggenheim-Grünberg 1976: 45-49, 1980, 1986). Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich (1950: 20) weisen daraufhin, dass im sondersprachlichen Register - mit Ausnahme der Viehterminologie die Hebraismen mehr oder weniger willkürlich eingesetzt werden können und auch nicht unbedingt stabil sein müssen. Ein derartiges sondersprachliches Register, das seinen Sinn darin hat, anwesende Uneingeweihte von den Inhalten eines Gespräches unter Eingeweihten auszuschliessen, war bis zu einem gewissen Grad auch unter Surbtaler Juden verbreitet, die nicht unbedingt Vieh- oder Pferdehändler waren, wenn sie in Gegenwart von Nichtjuden vertrauliche Bemerkungen austauschen wollten, ohne verstanden zu werden (vgl. Guggenheim-Grünberg 1954a: 51, Guggenheim-Grünberg 1981: 46). Im Fall der Surbtaler Juden besteht das Resultat der beschriebenen linguistischen Strategie darin, dass der westjiddische Dialekt wesentlich mehr und teilweise andersartige Hebraismen enthält, als dies im eigentlichen westjiddischen Dialekt der Fall wäre. Die genau gleiche Strategie ist auch im Ostjiddischen verbreitet (vgl. Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich 1950: 20, Max Weinreich 1973, 2: 319, 4: 362 = 1980: 657). Das Einfügen von Lexemen einer den Uneingeweihten nicht zugänglichen Quelle in den von der natürlicherweise gesprochenen Varietät bereitgestellten grammatischen Rahmen ist auch für andere

19 G e h e i m s p r a c h e n b e k a n n t (in d e r S c h w e i z u n d in v i e l e n G e g e n d e n Deutschlands ist etwa das Jenische zu nennen; vgl. Roth 2001, b e s o n d e r s 9 8 - 1 0 2 , 2 0 0 2 : 18). F ü r das F u n k t i o n i e r e n e i n e s g e h e i m s p r a c h l i c h e n R e g i s t e r s ist es o f f e n s i c h t l i c h k e i n e N o t w e n d i g k e i t , dass der S p r e c h e r e i n e w e s t j i d d i s c h e M u n d a r t als B a s i s v e r w e n d e n m u s s . D i e f ü r das Surbtal beschriebene Praxis ist auch f ü r Juden aus D e u t s c h l a n d bekannt: F ü r R e x i n g e n in W ü r t t e m b e r g w i r d ein s o n d e r s p r a c h l i c h e s Register n a m e n s Lekoudesch b e s c h r i e b e n (vgl. M a t r a s 1989, 1991, 1996, 1997), und verwandte sondersprachliche Register (mit ähnlichen Bezeichn u n g e n ) sind f ü r viele a n d e r e e h e m a l i g e J u d e n o r t e im S ü d w e s t e n des d e u t s c h e n S p r a c h g e b i e t e s b e k a n n t , b e i s p i e l s w e i s e f ü r das ostfränkische R a p p e n a u ( M e i s i n g e r 1900, 1901, 1902) o d e r f ü r das o s t f r ä n k i s c h e S c h o p f l o c h mit d e m b e n a c h b a r t e n s c h w ä b i s c h e n M ö n c h s r o t h (vgl. Philipp 1983, Shy 1990, K l e p s c h 1996), w o b e i diese V a r i e t ä t e n nicht u n b e d i n g t a u f j ü d i s c h e S p r e c h e r b e s c h r ä n k t sind. 8 M i t B e z u g a u f die L C A A J - I n f o r m a n t e n b e s c h r e i b t L o w e n s t e i n ( 1 9 6 9 : 17) e i n e " m a r k e t l a n g u a g e " , die meist losnakoudes g e n a n n t w u r d e , u n d berichtet darüber: "This " l a n g u a g e " w a s m a d e up primarily of w o r d s of H e b r e w origin in a German grammatical framework." ( L o w e n s t e i n 1 9 6 9 : 17; m e i n e Hervorhebung). Interessanterweise war dieses Register auch unter I n f o r m a n t e n verbreitet, die k e i n e K o m p e t e n z im W e s t j i d d i s c h e n hatten, s o n d e r n n u r e i n e d e u t s c h e V a r i e t ä t s p r a c h e n ; die P r a x i s , hebräische W ö r t e r in die üblicherweise g e s p r o c h e n e Varietät e i n z u f ü g e n , hat also in vielen Fällen länger überlebt als der eigentliche westjiddische Dialekt. W i e ich b e t o n t h a b e , sind die b e i d e n V a r i e t ä t e n - der e i g e n t l i c h e westjiddische Dialekt u n d das geheim- bzw. sondersprachliche R e g i s t e r konzeptuell voneinander unabhängig. A u f die g e n a u e U n t e r s c h e i d u n g der beiden Varietäten muss deshalb besonders genau und detailliert e i n g e g a n g e n w e r d e n , weil die V e r w e c h s l u n g der einen Varietät mit der a n d e r e n e i n i g e V e r w i r r u n g s t i f t e n k a n n . D i e s gilt s o w o h l f ü r d e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n Bereich 9 a l s a u c h f ü r d i e nichtwissenschaftliche

Für den Ort Siblingen im Kanton Schaffhausen ist eine unter (christlichen) Viehhändlern benutzte Geheimsprache bekannt, die Lakuutisch bzw. de lakuutisch Daberis genannt wird (vgl. Richli / Gallmann 2003: 226); sie muss heute als praktisch ausgestorben gelten und ist leider kaum dokumentiert. Für Gailingen wird berichtet, dass viele Nichtjuden auch laudisch-chaudisch beherrschen wollten (vgl. Schneble 2004: 477) Es könnte sich herausstellen, dass die mit Verve geführte, stark ideologisch gefärbte Diskussion um die Namen Westjiddisch vs. Jüdischdeutsch zum Teil

20 Wahrnehmung der beiden Varietäten: Es ist leicht einzusehen, dass bei einem nichtjüdischen Sprecher einer deutschen Varietät die eigentliche westjiddische Mundart viel weniger Aufmerksamkeit erregt als die Geheimsprache, die wesentlich mehr Hebraismen enthält. Diese kann von den mit den Gegebenheiten wenig Vertrauten als wesentlich typischer für die "jüdische Sprache" oder den "jüdischen Dialekt" angesehen werden als die eigentliche westjiddische Mundart, beziehungsweise kann fälschlicherweise - damit identifiziert werden: Es wird zuweilen die Meinung vertreten, das "Jidisch-Daitsch" der Surbtaler Juden sei eine Art Geheimsprache gewesen, eine künstliche Sprache, deren sich die Juden nur bedienten, um von den Nichtjuden nicht verstanden zu werden. Das mag in einem gewissen Sinne zutreffen fur die besondere "Fachsprache" der jüdischen Vieh- und Pferdehändler, keineswegs aber für den Dialekt der Juden als solchem. Dieser Dialekt ist eine natürlich gewachsene Sprache [...] (Guggenheim-Grünberg 1953: 206) Sondersprachliche Register unter Westjiddisch-Sprechern sind nicht unbedingt an die Geheimhaltungsfunktion gebunden: viele Dokumente, die bestimmte mit der Religion verbundene Praktiken beschreiben, sind für "Uneingeweihte" genauso wenig verständlich wie die Pferdehändlersprache, ohne dass die Unverständlichkeit in diesem Fall auf einen

auf die Vermischung und Identifizierung der beiden Varietäten miteinander zurückzuführen ist. Für dialektologische Untersuchungen halte ich die Sprachregelung für sinnvoll, die Matras (1991) implizit trifft: er verwendet westjiddisch für Varietäten, die in Bezug auf Phonologie und Grammatik mit keiner deutschen Varietät übereinstimmen, wobei er explizit darauf hinweist, dass dies für das Surbtal - im Gegensatz u.a. zu den von ihm untersuchten Ortschaften Rexingen und Buttenhausen - noch der Fall sei (vgl. Matras 1991: 269). Ansonsten aber "wurde das Westjiddisch in den deutsch-sprachigen Ländern allmählich zu einem Jüdischdeutsch - zu einer Stufe in einem Kontinuum sehr eng verwandter sprachlicher Register, von der Grundmundart bis zur Hochsprache" (Matras 1991: 269). Wenn Weinberg (1973, 1994) darauf besteht, die von ihm dokumentierte Varietät als "Jüdischdeutsch" zu bezeichnen, ist dies eine durchaus adäquate Bezeichnung für die Sprachsituation, die ihm selbst und seinen Informanten aus dem Nordwesten Deutschlands vertraut war - ohne dass damit für andere Zeiten und Regionen dieselbe Sprachsituation angenommen werden muss: Weinberg (1981: 278) konzediert selbst, "daß für gewisse Situationen Westjiddisch der treffendere Terminus ist" - wozu ich aufgrund der oben gemachten Überlegungen Surbtaler und Hegauer Jiddisch rechne.

21 expliziten Willen zum Geheimhalten von Informationen zurückzuführen wäre. Der Übergang vom eigentlichen westjiddischen Dialekt in sondersprachliche Register kann natürlich auch fliessend sein, beide Varietäten können ja von denselben Sprechern gesprochen werden. Bis zu einem gewissen Grad scheint die beschriebene linguistische Praxis auch einfach eine Art Gruppensprache gewesen zu sein: Many central European Jews who did not make use of this market language could nevertheless give their German a "Jewish flavor" by using specifically Jewish words or proverbs in their German speech. (Lowenstein 1969: 17-18)

Dieses "Jewish-flavored German" existiert zumindest in der Schweiz noch heute: Nachfahren alter Surbtaler Familien sprechen noch heute "Jiddisch"; damit ist das gemeint, was dann beispielsweise auf Zürichdeutsch als jydifi u:sdrykx 'jüdische Ausdrücke' umschrieben wird und nichts anderes ist als ein schweizerdeutscher Dialekt, der in der beschriebenen Art mit Hebraismen versehen ist; diese Varietät kann als jüdisches Schweizerdeutsch charakterisiert werden (vgl. z.B. 2.48). Auch hochdeutsche Texte können in der beschriebenen Weise mit Hebraismen "angereichert" werden, diese Varietät kann als "jüdisches Schweizerhochdeutsch" bezeichnet werden (vgl. z.B. 2.49). Die Verbindung zwischen solchen jüdischen Varietäten des Deutschen und dem Westjiddischen besteht nur darin, dass die Hebraismen im Westjiddischen aller Wahrscheinlichkeit nach die gleiche Form aufwiesen; in Bezug auf Phonologie und Grammatik hingegen haben solche Register mit dem Westjiddischen nichts zu tun.

1.2.2

Aufgabe des Westjiddischen

Über den genauen Ablauf der Aufgabe des Westjiddischen in seinem ehemaligen Verbreitungsgebiet ist (von der Verwendung des Westjiddischen in schriftlichen Dokumenten abgesehen; vgl. Lowenstein 1979) wenig Präzises bekannt. Das folgende Szenario scheint mir zumindest in Bezug auf die vier untersuchten Dörfer plausibel und ist durch zahlreiche Beobachtungen gestützt, doch vieles muss, da keine genauen Angaben vorhanden sind, spekulativ bleiben. Die Angaben zu den schriftlichen Dokumenten aus dem Surbtal beschränken sich auf die Untersuchung von Guggenheim-Grünberg (1953) zum Pinkas Guggenheim von Lengnau, der Eintragungen von 1750 bis 1834 enthält, und auf einige verstreute Bemerkungen in anderen

22 Arbeiten. Zum Surbtal existieren zahlreiche schriftliche Dokumente, die jedoch bis jetzt weder befriedigend ediert noch ausgewertet sind (Gemeindebücher, Mohelbücher, Privatdokumente). Diese Dokumente könnten allenfalls das im Folgenden gezeichnete Bild vervollständigen oder korrigieren. Für den Pinkas Guggenheim von Lengnau weist Guggenheim-Grünberg (1953: 205-206) nach, dass die niedergeschriebene Sprache (die immer mit hebräischen Buchstaben wiedergegeben wird) sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr dem Standarddeutschen annähert. Es handelt sich also je länger je weniger um geschriebenes Westjiddisch; dieses wurde im 19. Jahrhundert weitgehend aufgegeben, was auch auf andere Dokumente zuzutreffen scheint. Inwieweit staatlicher Druck dabei eine Rolle spielte, bliebe zu untersuchen: Die Surbtaler Juden wurden 1824 von der Aargauer Regierung aufgefordert, ihre Protokollbücher in deutscher Sprache und Schrift zu halten (vgl. Guggenheim-Grünberg 1965: 148-149), doch scheint die Aufgabe des geschriebenen Westjiddischen schon vorher begonnen zu haben.10 Das Surbtaler Jiddische wurde zunächst mit allen Juden im Dorf sowie mit Juden aus anderen ländlichen Gegenden gesprochen. Es ist denkbar, dass Westjiddisch in vormoderner Zeit auch in der Kommunikation mit Christen verwendet wurde, denn Surbtaler Jiddisch und Hochalemannisch sind, wenn im Surbtaler Jiddischen keine Lexeme hebräischen Ursprungs verwendet werden, gegenseitig weitgehend verständlich. Ebenso denkbar ist allerdings, dass es in den näher betrachteten jüdischen Gemeinden von Anfang an zahlreiche Personen gab, die auch Kompetenz in deutschen Varietäten hatten und diese beispielsweise mit christlichen Kunden sprachen. So gibt es einen Bericht aus dem späten 18. Jahrhundert, aus

10

Die Aargauer Regierung dürfte sich vor allem am verwendeten Alphabet gestört haben: Einem nichtjüdischen Beamten des 19. Jahrhunderts war das hebräische Alphabet kaum zugänglich, unabhängig davon, ob die damit verschriftete Sprache Hebräisch, Jiddisch oder Deutsch war. Die oben beschriebene Annäherung an die Normen der neuhochdeutschen Standardsprache unter Beibehaltung des hebräischen Alphabets, die mit dem verwendeten Alphabet selbst keinen direkten Zusammenhang hat, beginnt schon vor der zitierten Aufforderung - und ausserdem ist sie in einem Dokument zu beobachten, an dem ausserhalb der jüdischen Gemeinde kein direktes Interesse bestand. Dies legt nahe, dass offizieller Druck beim Übergang von Westjiddisch zu Neuhochdeutsch in schriftlichen Dokumenten nicht die entscheidende Rolle spielte.

23 dem erschlossen werden kann, dass die Surbtaler Juden schon damals deutsche Varietäten verwendeten (vgl. 1.2.4). Vielleicht galt dies vorab für die Männer: Während die Frauen weitgehend im Dorf blieben, hatten beispielsweise Händler einen weiten Aktionsradius; es ist sehr wahrscheinlich, dass sie mit ihrer christlichen Kundschaft deutsche Varietäten sprachen. Das entscheidende Kriterium zur Aufgabe des Westjiddischen war mit Sicherheit der Wegzug aus den traditionellen ländlichen jüdischen Gemeinden. In Bezug auf den jiddischen Dialekt von Endingen hält Guggenheim fest: "Es ist nur der bis um 1910 noch ansehnlichen Zahl ansässiger Endinger Juden zu verdanken, wenn ihre jiddische Sprache, deren sie sich untereinander bedienten, sich so lange erhalten hat." (Guggenheim-Grünberg 1966: 4). In Lengnau, wo die jüdische Bevölkerung nie so zahlreich gewesen war wie in Endingen und das sich auch schneller entvölkerte (vgl. 1.1.3), wurde das Jiddische früher als in Endingen aufgegeben; das einzige Tondokument dieser Mundart ist eine 1934 vom Phonogrammarchiv der Universität Zürich eingespielte Aufnahme (vgl. 1.4.1). Mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Wegzug veränderte sich die Stellung des Surbtaler Jiddischen wesentlich: die Wegziehenden waren zwar noch kompetente Sprecher des Surbtaler Jiddischen, doch verwendeten sie es an den neuen Wohnorten, in einer weitgehend nichtjüdischen Umgebung, sicher wesentlich weniger häufig als im dörflichen Kontext. In gewissen Familien wurde es teilweise noch recht lange tradiert (insbesondere scheint dies bei Vieh- und Pferdehändlern der Fall zu sein: hier wirkte sich das sondersprachliche Register positiv auf den Erhalt des Surbtaler Jiddischen aus). Eine gewisse Sonderstellung könnte ausserdem die Kleinstadt Baden gehabt haben; sie war das früheste Ziel der Auswanderung im 19. Jahrhundert (vgl. 1.1.3), und es könnte sein, dass in der dort entstehenden jüdischen Gemeinde, die sich am Anfang praktisch ausschliesslich aus Surbtaler Juden rekrutierte, das Westjiddische noch recht lange gesprochen wurde." Es gibt Berichte darüber, dass das Surbtaler Jiddische von den im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geborenen Surbtaler Juden nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben wurde (vgl. Thommen 1992: 89, 1994: 21). 11

Ein 1925 in Baden geborener Informant (vgl. 2.4) meint, dass noch sein Vater das Westjiddische durchaus beherrschte, obwohl bereits dessen Grossvater aus dem Surbtal nach Baden gezogen war. Allerdings könnte fiir die Erhaltung in diesem Fall auch der Beruf ausschlaggebend sein, handelt es sich doch um den Sohn eines Viehhändlers.

24 Mit dem Wegzug und der sprachlichen Assimilation an die neue nichtjüdische Umgebung wurden die Domänen des Westjiddischen wesentlich eingeschränkt: Es wurde fast nur noch als Sprache unter (nicht mehr am Geburtsort wohnenden) Juden der älteren Generation gesprochen (diese Situation gilt für die allermeisten der in der vorliegenden Arbeit dokumentierten Informanten; vgl. Guggenheim-Grünberg 1966: 4). Die wenigen in den Dörfern verbliebenen Juden verwendeten das Westjiddische immer weniger häufig: Da sie immer mehr zu einer verschwindend kleinen Minderheit wurden, verlor das Westjiddische an Bedeutung. Auch von Juden, die noch in den Dörfern verblieben, wird berichtet, dass das Westjiddische nur noch von der älteren Generation untereinander gesprochen wurde, aber nicht mehr mit den Kindern (vgl. Thommen 1987: 3, 1992: 89, 1994: 23). Die bisher vorgenommene Charakterisierung bezieht sich vor allem auf die externen Faktoren zum Surbtaler Jiddischen. In Bezug auf das Surbtaler Jiddische selbst scheint es so zu sein, dass es bis zu seinem völligen Verschwinden in einer vom Schweizerdeutschen relativ wenig beeinflussten Form erhalten blieb, aber dann relativ plötzlich nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben wurde.12 Für Gailingen und Randegg kann ich aufgrund der vorhandenen Materialien weniger genaue Angaben machen. 13 Im Gegensatz zu den 12

13

Gegen dieses Szenario spricht allerdings die Tatsache, dass die Sprache der ältesten Tonaufnahme von 1934, die einen Informanten festhält, der zeitlebens in Lengnau wohnte, "stärkeren schw[eizerdeutschen] Einfluß zeigt als diejenige von in Zürich wohnhaften Endinger Sprechern" (Guggenheim-Grünberg 1966: 5, Fussnote 5). Als mögliche Erklärung könnte hier angeführt werden, dass die Situation in Lengnau von der in Endingen generell verschieden war, wofür es aufgrund der unterschiedlich schnellen Abwanderung gewisse Argumente gibt (vgl. 1.1.3), oder dass Sprecher, die nicht mehr an ihrem Geburtsort wohnen und sich im Laufe ihres Lebens zu einem gewissen Zeitpunkt an eine neue Sprachsituation anpassen mussten, den Dialekt ihrer Kindheit eher unverändert bewahren als Informanten, die zeitlebens an ihrem Geburtsort blieben (dies legt eine Angabe in Guggenheim-Grünberg 1973: 12 nahe; vgl. 1.3). Da keine Materialien von Endinger Sprechern, die zeitlebens in Endingen wohnhaft waren, oder von Lengnauer Sprechern, die aus Lengnau fortgezogen sind, existieren, kann die Frage nicht endgültig beantwortet werden. Bei Weiss (1896: 129) heisst es: "Fast gar kein jüdisch-deutscher Ausdruck ist im Seekreis bekannt, wo bis vor etwa 30 Jahren Wangen, Worblingen, Geilingen und Randegg die einzigen 4 Gemeinden mit jüdischer Bevölkerung

25 Endinger Materialien scheint in Gailingen eine stärkere Beeinflussung durch deutsche Varietäten stattgefunden zu haben. Den Prozess der Aufgabe des Westjiddischen beschreibt Guggenheim-Grünberg (1961a) folgendermassen (ihre Angaben beruhen zu einem grossen Teil auf den Erzählungen der wichtigsten Informantin, die in 1.2.3 zitiert werden): In Gailingen, als einer größeren, abseits vom großen Verkehr liegenden, kompakten jüdischen Siedlung, hat sich das Westjiddische verhältnismäßig lange rein erhalten bis etwa in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. [...] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte dann rasch eine immer mehr um sich greifende Durchdringung des Gailinger Jiddischen mit Ausdrücken und Lautformen des Schriftdeutschen und deutscher Dialekte ein. Dies führte dazu, daß schon die um 1880 geborene Generation kaum mehr reines Jiddisch sprach. Wie die Sprecherin erzählt, bemühte man sich, seine Sprache zu "verfeinern" und zu "vervollkommnen", d.h. sich nach Möglichkeit die deutsche Hochsprache anzueignen [...] Anderseits wurde der Kontakt mit der nichtjüdischen Bevölkerung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer enger. Die Juden bedienten sich mehr und mehr des örtlichen schaffhauserischen Dialektes, was die Einfuhrung von schaffhauserischen Formen und Ausdrücken in die jiddische Mundart zur Folge hatte. (Guggenheim-Grünberg 1961a:10-l 1)

1.2.3

Kontakte mit der christlichen Bevölkerung

Im zuletzt angeführten Zitat wird auf einen weiteren Aspekt zur Beurteilung der Sprachsituation hingewiesen: Vor der Emanzipation waren trotz der räumlichen Nähe die Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung relativ gering, wie in 1.1.4 bereits zitiert lebten die Surbtaler Juden vor der Emanzipation "inmitten der nichtjüdischen Dorfbevölkerung ein Sonderdasein" (Guggenheim-Grünberg 1966: 4). Die nach der Emanzipation engeren Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung in den Judendörfern können sich auch auf die soziolinguistische Situation und auf das Westjiddische selbst ausgewirkt

waren [...]". Angesichts der noch im 20. Jahrhundert gesammelten Materialien aus Gailingen und Randegg kann dieser Bericht kaum den Tatsachen entsprechen (bei Weiss 1896 finden sich leider keine Angaben, wie er zu seiner Einschätzung gekommen ist), er könnte aber illustrieren, dass schon damals das Westjiddische auf dem Rückzug war.

26 haben. Nach Auffassung der wichtigsten Informantin für die jiddische Mundart von Gailingen hat sich die Sprachsituation im Verlauf ihres Lebens verändert. Sie beschreibt dies (in Guggenheims hochdeutscher Übersetzung) folgendermassen: Unsere Sprache hat sich mit der Zeit ein bißchen verfeinert, teilweise, weil die Jungens, auch viel Mädels, rausgekommen sind in die Welt, und es hat für nobel und gebildet gegolten, wenn man auch die Sprache angenommen hat, wo man war. Zum Beispiel ein Frankfurter Dialekt war ganz etwas besonders Feines und Nobles. Nur wir Mädels, wir haben nicht so fort dürfen, wir haben müssen lernen kochen und sticken und nähen und haben unsere Sprache halt nicht können so vervollkommnen. Aber mit der Zeit, und hauptsächlich nach dem ersten Weltkrieg, hat sich das alles doch gegeben. Man hat sich mehr angeschlossen an die Christen, man hat miteinander Theatervereine gegründet, Tanzstunden genommen und so hat sich die Sprache, die "Sprooch", halt doch ein bißchen rausgeschält aus dem Jiddischen. (Guggenheim-Grünberg 1961a:

17-18) Zwar ist unklar, inwieweit diese Sprecherbeurteilung tatsächlich einer exakten Beobachtung entspricht; aber dass die Kontakte mit den Christen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert immer intensiver wurden, ist sicher richtig.

1.2.4

Einfluss deutscher Varietäten auf das Westjiddische

In gewisser Hinsicht ist der Einfluss des Deutschen auf das Westjiddische offensichtlich: Das Westjiddische wurde schlussendlich aufgegeben, und an seiner Stelle wurde das Deutsche zur Erstsprache der Juden in den Gebieten, in denen das Westjiddische einstmals verbreitet gewesen war. Dieser Prozess kann als eine sprachliche Assimilation an die christliche Bevölkerung (bzw. an gewisse Schichten der christlichen Bevölkerung) angesehen werden. Leider ist über den Ablauf dieses Prozesses wenig Genaues bekannt. Grundsätzlich sind verschiedene Szenarien denkbar, nämlich dass das Westjiddische in einer weitgehend archaischen Form bis zu einem gewissen Zeitpunkt gesprochen, aber nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben wurde, oder dass mehr und mehr deutsche Formen in das Westjiddische der Sprecher eindrangen, bis es dann vom Deutschen nicht mehr zu unterscheiden war. Bei diesen Szenarien handelt es sich um verschiedene Mechanismen, die sich aber nicht unbedingt gegenseitig ausschliessen; es ist denkbar, dass verschiedene Familien oder

27 Individuen das Westjiddische eher auf die eine Weise aufgegeben haben, aber auch durch die andere nicht unbeeinflusst blieben (der Wohnort kann ebenfalls eine Rolle spielen: abgewanderte Familien scheinen eher abrupt aufgehört zu haben, Westjiddisch zu sprechen, während die in den ländlichen Gemeinden verbliebenen eher deutsche Formen in ihr Westjiddisch einführten; vgl. 1.2.2). Der Unterschied in der sprachlichen Assimilation der Juden in der Deutschschweiz verglichen mit Juden in Deutschland liegt darin, dass in Deutschland anstelle des Westjiddischen relativ standardnahe Register zur Erstsprache der Juden wurden, wohingegen in der Schweiz alemannische Dialekte diese Funktion übernahmen. Für Rexingen und Buttenhausen in Württemberg weist Matras (1997: 103) auf die "für die jüdische Mundart typische Orientierung an die Sprache der regionalen, städtischen Mittelschicht" hin, und macht an einer anderen Stelle in Bezug auf die Sprecher folgende Angaben: Sie bildeten also hinsichtlich ihrer sozialen Stellung an den jeweiligen Orten eine Mittelschicht, die sich an der städtischen Mittelschicht orientierte. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Sprache der Juden sich von der Grundmundart der jeweiligen Gemeinden deutlich unterschied und von befragten Personen heute als "nobler" bis hin zu "Hochsprache" charakterisiert wird. (Matras 1991: 268)

Eine solche Orientierung hin zu Varietäten, die über mehr Prestige verfügen als der Basisdialekt, kann für Gailingen klar festgestellt werden (vgl. 1.2.3). Die deutschen Varietäten, die die Gailinger Juden sprachen, waren allem Anschein nach nicht die hochalemannischen Basis-Dialekte: Eine 103-jährige Gailingerin sagte mir in Bezug auf die Sprache der Juden: "Juden sprachen nicht so Dialekte." Diese Behauptung wurde in weiteren Gesprächen bestätigt. (Müller 2004: 404)

Auch aus der Aussage einer in der vorliegenden Arbeit dokumentierten nichtjüdischen Informantin aus Randegg kann eine entsprechende Orientierung herausgelesen werden (vgl. 5.4). Eine andere Situation gilt dagegen für die deutschsprachige Schweiz: Aufgrund des dort herrschenden diglossischen Musters ist das Sprechen eines Dialektes in allen sozialen Schichten üblich, während in Deutschland der Dialektgebrauch eng an die soziale Stellung gekoppelt ist (vgl. 1.1.2). Natürlich beherrschten die Surbtaler Juden ab einem gewissen Zeitpunkt auch das Standarddeutsche in der für die deutschsprachige Schweiz üblichen Weise, doch wurde es nicht zu ihrer in informellen

28 Situationen gesprochenen Varietät; in vielen Gegenden Deutschlands dagegen übernahmen standardnahe Varietäten (Umgangssprache oder die regionale Form der Standardsprache) diese Rolle. Aufgrund dieser Ausgangslage können sich die verschiedenen deutschen Varietäten je nach Land verschieden auf das Westjiddische auswirken. In der Schweiz sind es die alemannischen Dialekte, die sich am direktesten im Westjiddischen manifestieren. Auch hochdeutsche Elemente sind festzustellen (unter anderem immer wieder in Aufnahmen, für die zuvor schriftliche Vorlagen verfasst worden waren), doch können sie recht einfach identifiziert werden; meist handelt es sich dabei um zitatartige Einschübe, die beispielsweise zur Hervorhebung dienen, es handelt sich somit um eine Art funktional motiviertes Code-Switching. Bei den Hegauer Materialien ist die Situation etwas anders: hier finden sich häufig Formen, die gewisse Elemente des Jiddischen behalten, aber in anderer Beziehung dem Standard angeglichen sind. Es entsteht also eine Form, die Elemente beider Varietäten vereinigt und in dieser Mischung eine Art umgangssprachliches Register konstituiert, das dem umgangssprachlichen Register der Christen recht ähnlich ist, aber einige Elemente des Westjiddischen beibehält, wo sich ansonsten die deutschen Dialekte in ähnlicher Weise auswirken. Hochdeutsche Elemente können in wesentlich weniger Fällen ohne weiteres identifiziert werden. Daneben finden sich allerdings auch hier Einflüsse der alemannischen Dialekte (die zum Zeitpunkt der Sozialisation der Hegauer Informanten noch ziemlich archaisch und allgemein verbreitet waren).14 Diese Angaben zu den Surbtaler und Hegauer Informanten können mit weiteren Beobachtungen zusammengebracht werden; Lowenstein (1969: 17) spricht in Bezug auf die Informanten des LCAAJ von einem "process of dilution by German", und Guggenheim beschreibt die in vielen Gebieten festgestellte "Mischmundart" als "ein stark durch das Hochdeut-

14

Bei den aus Deutschland stammenden Informanten wird die Situation dadurch verkompliziert, dass sie zum Zeitpunkt der Aufnahmen allesamt nicht nur ausserhalb ihrer Heimatgemeinde, sondern auch ausserhalb ihres Heimatlandes lebten (und zwar in der Schweiz oder in New York; teilweise waren sie vor dem Holocaust geflohen, teilweise waren sie schon früher weggezogen). Sie leben deshalb in einer völlig anderen soziolinguistischen Situation als zum Zeitpunkt ihrer Sozialisation. Für die in der Schweiz lebenden Informanten muss man deshalb mit Erscheinungen rechnen, die aufgrund des DiglossieMusters erklärt werden können, obwohl dies nicht unbedingt zum soziolinguistischen Verhalten der Informanten in ihren Heimatgemeinden gehörte.

29 sehe (auf oberdeutschem Gebiet) oder durch die landschaftliche Umgangssprache (mitteldeutsches Gebiet) beeinflusstes Jiddisch" (Guggenheim-Grünberg 1964: 74-75). In der vorliegenden Publikation kann diese Form besonders deutlich bei einem Informanten aus Gailingen festgestellt werden (vgl. 4.5). In der deutschsprachigen Schweiz können deutsche Einflüsse auf das Westjiddische ebenfalls festgestellt werden, doch handelt es sich hier viel eher um Einflüsse des Dialektes, weniger der Hochsprache. Abgesehen von einigen Fällen von habitualisierten Interferenzen scheint es sich dabei häufig eher - in der Terminologie von Uriel Weinreich (1953: 11) - um spontane Interferenzen zu handeln, die im System des Surbtaler Jiddischen nicht allgemein üblich sind. Das Surbtaler Jiddische scheint über einen langen Zeitraum vom Deutschen vergleichsweise wenig beeinflusst, dann aber nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben worden zu sein: In der Forschung, aber auch von heute lebenden Nachkommen, wird berichtet, dass die Generation der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts geborenen Surbtaler Juden zu ihren Kindern nur wenig oder gar ausdrücklich nicht Jiddisch gesprochen habe. Familiäre Umgangssprache sei der Dialekt der Nichtjuden der Umgebung gewesen, und die Eltern hätten höchstens untereinander das Jiddische benützt. (Thommen 1994: 21; vgl. Thommen 1992: 89)

Im 20. Jahrhundert verfugen die aus dem Surbtal stammenden Informanten allesamt über mehr als ein Register; in Bezug auf die Endinger Juden heisst es, dass sie sich des Jiddischen "untereinander bedienten" (Guggenheim-Grünberg 1966: 4), und in Bezug auf Lengnau wird für eine Informantin, die im Jahr 1946 im Rahmen der Aufnahmen für den Sprachatlas der Deutschen Schweiz dokumentiert wurde, festgehalten: "Zu ihren Kindern hat sie nie Jüdisch gesprochen." (SDS Protokoll AG 18J, Personalblatt, Frage 2 [Original in Stenographie]; vgl. Thommen 1994: 23). In Bezug auf die Surbtaler Juden ist für das späte 18. Jahrhundert dokumentiert, dass es zumindest gewisse Personen gegeben hat, die neben dem Westjiddischen auch andere Register beherrschten. In einem Reisebericht aus dieser Zeit heisst es: Jhre jüdisch deutsche Sprache redten sie unter sich, sehr verständlich hingegen mit uns. (Maurer 1794: 184) 15

15

Bei diesem Zitat ist nicht ganz klar, was mit der Bezeichnung jüdisch deutsche Sprache gemeint ist: Abgesehen von den Hebraismen sind Surbtaler

30 In einigen Tonaufnahmen lässt sich bei Schweizer Informanten CodeSwitching beobachten (vgl. z.B. 2.33, 2.34). Westjiddisch und Schweizerdeutsch sind in diesen Fällen meist klar zu unterscheiden - von Fällen abgesehen, wo sich das Westjiddische auf die schweizerdeutsche Varietät eines Westjiddisch-Sprechers in einer Art und Weise auswirkt, die zu für das Schweizerdeutsche atypischen Strukturen führt (vgl. 1.2.5). Allerdings stellt sich natürlich die Frage, ob die in den Tonaufnahmen festgehaltenen Sprecher und Sprachverwendungssituationen repräsentativ sind (vgl. 1.3).

1.2.5

Westjiddische Merkmale im Deutsch der Juden

In wenigen Fällen lassen sich in den deutschen Varietäten der Juden Besonderheiten feststellen, die auf das Westjiddische zurückgeführt werden können. So wird die hochalemannische Varietät des Jiddischinformanten des Sprachatlasses der Deutschen Schweiz im Aufnahmeprotokoll als "ein Schweizerdeutsch, das stark vom Vokalismus des Jüdischen beeinflusst ist" (SDS Protokoll AG 18J, Personalblatt, Frage 4 [Original in Stenographie]) charakterisiert; allerdings scheinen die Einflüsse nicht so stark gewesen zu sein, dass diese Varietät nicht als Schweizerdeutsch empfunden worden wäre; der Explorator bemerkt auch: "es mutet eher ostschweizerisch als aargauerisch an" (SDS Protokoll AG 18J, Personalblatt, Frage 4 [Original in Stenographie]).16 Ausserdem heisst es: "Übrigens schwankt der Vokalismus ihres "Schweizerdeutschen" sehr stark" (SDS Protokoll AG 18J, Personalblatt, Frage 4

Jiddisch und Hochalemannisch gegenseitig weitgehend verständlich. Es ist deshalb möglich, dass sich in dieser Stelle die Bezeichnung jüdisch deutsche Sprache eher auf das geheimsprachliche Register bezieht (vgl. 1.2.1), das ja gerade für Uneingeweihte unverständlich sein soll. Auf jeden Fall geht aus der Stelle aber hervor, dass auch schon im späten 18. Jahrhundert gewisse Surbtaler Juden über mehr als ein Register verfugten. 16

Diese Einschätzung ist wahrscheinlich darauf zurückzufuhren, dass /a/ im Surbtaler Jiddischen und im schweizerdeutschen Dialekt dieser Informantin als helles [a] realisiert wird, wogegen in vielen schweizerdeutschen Mundarten [Α] bzw. [D] vorliegt - mit Ausnahme unter anderem gewisser Gebiete der Ostschweiz (vgl. die Karte in SDS 1: 11; die Karte weist auch das Surbtaler Jiddische aus, dessen Form - zusammen mit einigen Orten u.a. der Kantone Schaffhausen und Thurgau - als "(sehr) helles a" charakterisiert wird).

31 [Original in Stenographie]). In 2.47 wird eine schweizerdeutsche Varietät dokumentiert, in der sich auch ein syntaktisches Merkmal findet, das auf das Westjiddische zurückgeht; allerdings ist unklar, inwieweit durch dieses Zeugnis eine stabilisierte Varietät dokumentiert wird. Aufgrund der im Korpus der Tonaufnahmen vorhandenen Sequenzen auf Schweizerdeutsch, in der Umgangssprache (bei Informanten aus dem Hegau) und auf Hochdeutsch gewinnt man allerdings in den meisten Fällen den Eindruck, dass sich diese deutschen Varietäten der Juden nicht von den entsprechenden deutschen Varietäten christlicher Sprecher unterscheiden. Es könnte allerdings gut möglich sein, dass dieser Zustand erst für das 20. Jahrhundert gilt, als die Informanten, deren Muttersprache durchaus noch das Westjiddische war, sukzessive dem Deutschen derart häufig und dem Westjiddischen derart selten ausgesetzt waren, dass eine deutsche Varietät zu ihrer Erstsprache wurde; im 19. Jahrhundert könnte es sich anders verhalten haben (vgl. 1.3).

1.2.6

Gegen das Westjiddische gerichtete Einstellungen

Ein Faktor, der sich auf die Aufgabe des Westjiddischen ausgewirkt haben kann, ist die Einstellung gegenüber dieser Varietät. Die in den Tonaufnahmen dokumentierten Informanten hatten zwar eine durchaus positive, auch sentimentale Einstellung gegenüber ihrem jidif-daitf, das sie durchgehend als einer vergangenen Epoche angehörend empfanden. Eine solche Einstellung wurde aber sicher nicht von allen Sprechern des Westjiddischen geteilt und galt sicher nicht für alle Schichten und Epochen gleichermassen. Im 18. und 19. Jahrhundert war das Westjiddische in vielen (und besonders in den führenden) Kreisen des Judentums im deutschsprachigen Gebiet äusserst negativ konnotiert und wurde teilweise aktiv bekämpft. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird gern im Wirken von Moses Mendelssohn (1729-1786) in Berlin und der mit ihm verbundenen Bewegung der jüdischen Aufklärung gesehen. Diese Verbindung stellt sicher eine Verkürzung dar, aber zumindest bezüglich der ungefähren Zeit der Aufgabe in gewissen Schichten und hinsichtlich des geographischen Rückzugs (das Westjiddische verschwand zuerst aus dem Zentrum des deutschsprachigen Gebietes und hielt sich in den peripheren Gebieten länger) ist sie nicht ganz unangebracht. Ob wirklich ein ursächlicher Zusammenhang besteht, kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden, bedarf aber der weiteren Untersuchung. In den hier betrachteten, allesamt weitab von grösseren

32 städtischen Zentren liegenden Orten wurde der von den jüdischen Aufklärern lancierte "Kampf gegen den Jargon" aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit derselben Verve geführt wie anderswo. Dennoch finden sich auch im Surbtal und im Hegau Spuren davon, wie anhand der folgenden Zeugnisse gezeigt werden kann. Im Jahr 1862 forderte Augustin Keller (1805-1883), einer der christlichen Befürworter der Judenemanzipation im Aargau, die Juden dazu auf, mit der Emanzipation einige der Züge aufzugeben, die sie von ihren christlichen Nachbarn trennten - neben den Speisegesetzen und dem Sabbat statt des Sonntags als Ruhetag auch "ihr absonderliches Idiom" (zit. nach Weldler-Steinberg 1970: 101; vgl. Guggenheim-Grünberg 1950: 14, 1966: 3). Bereits 1850 nimmt Leopold Wyler (1805-1857), damals Rabbiner in Endingen, für sich in Anspruch, dass er den unsinnigen Aberglauben mit dem alten jüdischen Jargon von der Kanzel vertrieben habe und an ihre Stelle im Geiste der Bibel und Israels Weisen eine lautere, verständlichere Lehre und Sprache setzte [...] (zit. nach GuggenheimGrünberg 1950: 13)

Der Begriff Jargon, der in diesem Zitat fällt, ist verräterisch, denn damit wurde das Westjiddische typischerweise von jüdischen Aufklärern benannt. Die Bezeichnung wurde von Gelehrten des 18. Jahrhunderts geprägt und kann unter anderem in einem Brief von Moses Mendelssohn gefunden werden (vgl. Max Weinreich 1973, 1: 327, 3: 340 = 1980: 321). Der aus Endingen stammende Leopold Wyler war von 1835 bis 1852 Rabbiner in Endingen (vgl. Weldler-Steinberg 1970: 196, 200); während seiner Ausbildung in Frankfurt am Main kam er in Kontakt mit dem Gedankengut der jüdischen Aufklärung, deren Ideale er in seiner Heimatgemeinde in die Praxis umsetzen wollte (vgl. Weldler-Steinberg 1970: 173-175). In Endingen stiessen seine reformerischen Aktivitäten (die sich nicht auf den Kampf gegen den "Jargon" beschränkten) auf starke Opposition und führten schlussendlich zu seiner Amtsenthebung. Das Verschwinden des Surbtaler Jiddischen über ein Jahrhundert später ist sicher nicht allein solchen reformerischen Aktivitäten zuzuschreiben. Aber in gewissen Kreisen existierte eine klar negative Einstellung gegenüber dem Surbtaler Jiddischen, die noch in den 1980er Jahren festgestellt werden konnte, als es bereits praktisch keine Sprecher mehr gab:

33 Die Geringschätzung der jiddischen Sprache zeigt sich noch heute darin, dass sie Nachkommen von Surbtaler Juden - durchaus in abwertender Absicht als "Jargon" bezeichnen. (Thommen 1994: 21; vgl. auch 1992: 89) A u c h für die b a d i s c h e n G e m e i n d e n gab es Aktivitäten, die auf die A u s m e r z u n g des Westjiddischen hinauslaufen sollten. In e i n e m Erlass, der den sogenannten der Grossherzoglich

jüdisch-deutschen Badische

Oberrath

Dialekt

betr. betitelt ist und den

der Israelitischen

Schulkonferenz

im Jahr 1834 herausgab, wird das Westjiddische als "entarteter s o g e nannter jüdisch-deutscher Dialekt" (zit. nach Toury 1972: 3 1 2 ) bezeichnet; dieser wird folgendermassen beschrieben: Er karakterisirt sich unter andern durch unrichtige, zum Theil widerliche Aussprache und Betonung, unrichtige Konstruktionen, Untermischung von verdorbenen hebräischen Wörtern, wodurch die heilige Sprache nur entwürdigt und nicht selten Stoff zu Argwohn gegeben wird, und einen, ganz dem Geiste und den ausdrücklichen Verboten der Isr. Religion zuwiderlaufenden, häufigen Gebrauch von Schwüren, Betheuerungen pp. (zit. nach Toury 1972: 312) In B e z u g

auf die V e r b r e i t u n g

des westjiddischen

Dialektes

wird

festgestellt: "nur bei einem Theile der untern Klassen hat sich solcher noch erhalten." 17 Es soll mit Entschiedenheit weiter g e g e n ihn vorgegangen werden: Sämtliche Rabbiner, Bezirks-Synagogen und Synagogenräthe werden daher aufgefordert, demselben, bei jeder Veranlassung in ihrem Wirkungskreise, auf jede Weise entgegen zu wirken. Vorzüglich aber werden die Schullehrer ermahnt, bei dem Jugendunterrichte, nach allen Kräften dahin zu wirken, dass der Gebrauch jener korrupten Redensarten der heranwachsenden Generation in und ausser der Schule ganz fremd bleibe, (zit. nach Toury 1972: 313) W e n i g e Jahre nach 1834 wurde der jüdische Lehrer v o n Gailingen zur B e f o l g u n g des Erlasses ermahnt. Im Jahr 1858 beschwerten sich einige Gailinger Juden, dass in der Schule

17

immer noch der jüdisch-deutsche

Dies ist eher eine programmatische Aussage als eine empirische Beobachtung; ich vermute, dass zu dieser Zeit, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die allermeisten Juden Badens noch über Kompetenz im Westjiddischen verfügten (eventuell aber verleugneten), abgesehen vielleicht von einer dünnen städtischen Elite. Man vergleiche dazu die unten zitierten Aussagen des Gailinger Schulvorstandes.

34 Dialekt verbreitet

sei, w e s h a l b

sie ihre K i n d e r

in die S c h u l e

nach

D i e s s e n h o f e n schickten ( v g l . R o m i n g 2004: 348-349). D e r Schulvorstand nahm zu diesem V o r f a l l w i e f o l g t Stellung: Ob es ein Gewinn sei, den jüdisch deutschen Dialekt gegen den schweizerischen, wie er allgemein und auch v[on] den Lehrern in Dießenhofen gesprochen wird, auszutauschen, kann der Schulvorstand nicht absehen. Wenn aber unter jenem Dialekte sogar die moralische und bürgerliche Bildung nothleidet, so hilft der Besuch der Dießenhofener Schule doch nicht, indem das elterliche Haus wieder verdirbt, was jene gut gemacht. Es ist uns keine israel. Gemeinde bekannt, in welcher die Verordnung Großh. Oberraths der Jsraeliten v. 4. April 1834 den jüdisch deutschen Dialekt verdrängt hätte. Solche Verordnungen sind leichter zu geben, als auszuführen, (zit. nach Roming 2004: 349) 18 Dass der Erlass v o n

1834 zumindest k e i n e durchschlagende

Wirkung

hatte und der " J a r g o n " auch noch über dreissig Jahre später w o h l recht weit

verbreitet

w a r , kann auch

aus einer

Schulordnung

von

1870

herausgelesen werden, in der sich der f o l g e n d e Paragraph findet: Auch in Abwesenheit des Lehrers und besonders auf der Straße haben sich die Kinder einer reinen deutschen Sprache zu bedienen und sich sorgfältig des jüdischen Jargons zu enthalten, (zit. nach Roming 2004: 348-349) A u f g r u n d der angeführten D o k u m e n t e lässt sich für G a i l i n g e n festhalten, dass der Erlass v o n 1834 a l l e m A n s c h e i n nach, w i e der Schulvorstand aussagt, eine beschränkte A u s w i r k u n g hatte. A b e r dass e i n e n e g a t i v e Einstellung g e g e n ü b e r d e m " J a r g o n " auch bis zu g e w i s s e n j ü d i s c h e n K r e i s e n in G a i l i n g e n gedrungen war, geht aus den zitierten D o k u m e n t e n klar hervor.

18

Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit die Einstellungen gegenüber dem "jüdischen Dialekt" und dem (christlichen) deutschen Dialekt parallel waren. In Bezug auf den Streitfall von 1858 ist jedenfalls interessant festzuhalten, dass der hochalemannische Dialekt von Diessenhofen in der Beurteilung des jüdischen Schulvorstandes von Gailingen nicht unbedingt besser wegkommt als der westjiddische Dialekt von Gailingen - was auch die Position eines christlichen Bezirksschulvisitators ist: "Durch Besuch der Schule in Dießenhofen werden die Schüler an besserer Sprache nichts gewinnen, da dort der ebenso wenig gute und empfehlenswerte Schweizerdialekt herrscht." (zit. nach Roming 2004: 349).

35 1.2.7

Einflüsse auf die deutschen Varietäten der Christen

Neben allfälligen Merkmalen des Westjiddischen, die sich in den deutschen Varietäten der Juden erhalten haben (vgl. 1.2.5), sind Einflüsse des Westjiddischen auf das Deutsche der Christen festgestellt worden. Vom Lexikalischen abgesehen gibt es einen Hinweis darauf, dass sich der Kontakt mit dem Westjiddischen auf die Intonation ausgewirkt habe: Auf die Frage, ob das Jiddische einen Einfluss auf die einheimische Mundart gehabt habe, ist mehrfach auf die "singende Sprechweise" hingewiesen worden, die man bei alten Endingern noch hie und da hören könne; sie ist allerdings nirgends näher charakterisiert oder demonstriert worden. (Schifferle 1995: 40)

Bei der "singenden Sprechweise" handelt es sich um ein Phänomen, das empirisch nicht überprüft werden konnte, wie Schifferle (1995: 40) ausführt. Es ist also unklar, ob hinter dieser Sprechereinschätzung tatsächlich eine Sprachkontaktserscheinung steht oder ob es sich eher um eine Mutmassung handelt. Dagegen sind lexikalische Einflüsse auf die Varietäten der Christen zweifelsfrei festgestellt worden. Schon in einer 1814 bis 1817 entstandenen Wortschatzsammlung der Mundart von Zurzach finden sich Wörter, die diese Mundart aus dem Jiddischen, mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem benachbarten Surbtal, übernommen hat (vgl. Schifferle 2004: 535). Und im Rahmen eines noch auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Versuchs zur Dokumentation des Surbtaler Jiddischen heisst es: Ich habe nämlich eine große Anzahl der Wörter, welche in dem sog. Judendeutsch vorkommen, gesammelt. Die Heimat dieser Wörter sind (in der Schweiz) die beiden aargauischen Gemeinden Oberendingen und Lengnau. Ich weiß nun zwar wohl, daß diese Wörter nicht den schweizerischen Israeliten allein eigentümlich [sind] und also mit dem schweizerdeutschen Dialecte nichts zu thun haben. Aber es hat sich, wenn auch nur eine kleine Anzahl, in den Dialect der umwohnenden Orte besonders, tere Kreise sich eingeschlichen

einige aber auch in entfern-

[...] (zit. nach Bigler 1985: 17; Hervorhebung

J. F.; Wiederholung des sich: sie)

Westjiddische, meist auf das Hebräische zurückgehende Lexeme in der Kompetenz christlicher Bewohner der Judendörfer sind mehrfach behandelt worden; diese blieben in vielen Fällen auch noch erhalten, nachdem die jüdische Bevölkerung in den betreffenden Orten verschwunden war (vgl. etwa Matras 1989, 1991, 1996, 1997, Philipp 1983, Shy

36 1990, Klepsch 1996). Diese Lexeme verbreiteten sich auch über die eigentlichen Judendörfer hinaus: Die Zusammenstellung von Stern (2000) zum jiddischen Lehnwortschatz in deutschen Dialekten enthält über 450 Basislemmata (vgl. Stern 2000: 1), wobei als ländliche Entlehnungszentren Orte im Südwesten des deutschen Sprachgebietes dominieren (vgl. Stern 2000: 17-18). Für Endingen konnte ein recht umfangreiches populäres Wörterbuch veröffentlicht werden (Bollag / Weibel 1995), dessen Lemmata zu einem gewissen Teil von einem christlichen Bewohner des Dorfes gesammelt wurden (vgl. 1.5.5, besonders Fussnote 39). Auch für die Hegauer Gemeinden berichtet Schneble (1986: 87, 2004: 477), dass die Christen zahlreiche Ausdrücke von den Juden übernommen hatten; die kurzen populären Berichte sind von einer recht langen Wortliste begleitet, die offensichtlich den Wissensstand eines christlichen Bewohners wiedergibt (vgl. Schneble 1986: 88-98, 2004: 478-487). Es ist auch bekannt, dass die nichtjüdischen Gailinger zahlreiche von den Juden übernommene Worte verwendeten (vgl. Guggenheim-Grünberg 1961a: 10), was in der Nazizeit unterdrückt wurde (vgl. dazu auch 4.7): Die Gailinger Nichtjuden haben ihrerseits in ihrer Umgangssprache noch in den dreißiger Jahren einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz an jiddischen Ausdrücken verwendet; dies hat unter dem nationalsozialistischen Regime dazu geführt, daß den christlichen Kindern in der Schule der Gebrauch solcher Ausdrücke streng verboten und unter Strafe gestellt wurde. (GuggenheimGrünberg 1961a: 11)

Über die Verwendung der über das Westjiddische vermittelten Lexeme in der Varietät der Christen gibt es keine genauen Angaben (es handelt sich fast ausschliesslich um Hebraismen; die im Westjiddischen wesentlich weniger zahlreichen Romanismen wurden aber teilweise in der gleichen Weise entlehnt). Während vielleicht viele dieser Lexeme eher stilneutral verwendet wurden und den Sprechern die Herkunft in manchen Fällen vielleicht nicht einmal bewusst war (vgl. die Sprechereinschätzung in 4.7), scheint in gewissen Fällen vor allem das Interesse an möglichen kryptischen Funktionen ausschlaggebend gewesen zu sein. Die Verwendung von Hebraismen hatte also dieselbe Funktion wie auch das sondersprachliche Register bei den Juden (vgl. 1.2.1).19 Guggenheim19

In Bezug auf Rexingen und Buttenhausen in Württemberg wird festgehalten: "Ähnliche diskursive Rekonstruktionsstrategien bei Juden und Nicht-Juden aus ehemaligen "Judendörfern" deuten darauf hin, daß in der letzten Generati-

37 Grünberg (1981: 46, Fussnote 13) berichtet beispielsweise, dass christliche Endinger im Militärdienst untereinander "Jiddisch" sprachen, um nicht verstanden zu werden, und ein analoges Beispiel, das noch einmal die Nähe des jüdischen und christlichen sondersprachlichen Registers zeigt, wird im folgenden Zitat angeführt: Unter jüdischen Jugendlichen aus dem Surbtal ist auch der Brauch aufgekommen, durch Einfügung von willkürlich gewählten hebräischen Ausdrücken ihr Jiddisch zu ihrer "Geheimsprache" zu machen, die aber bald auch von christlichen Kameraden übernommen wurde. (Guggenheim-Grünberg 1981:46) Ähnliches wird auch für Gailingen berichtet (in der folgenden Beschreibung wird der in 1.2.1 beschriebene Irrtum begangen, dass das Jiddische mit dem sondersprachlichen Wortgut gleichgesetzt wird; dass es vor allem um Lexeme geht, "die mit der ortsüblichen Sprach vermischt wurden", geht aus Beschreibung klar hervor): Im Verlauf der Jahrhunderte des Zusammenlebens ist das Jiddisch für die Nichtjuden zu einer zweiten Sprache geworden. Wenn sich dieses Wissen auch nur auf Einzelausdrücke beschränkte, konnten, mit der ortsüblichen Sprache vermischt, doch Satzgebilde geschaffen werden, die für andere ohne Jiddisch-Kenntnise nicht verständlich waren. (Schneble 2004: 478) Eine solchen geheimsprachlichen Verwendungen sehr ähnliche Übernahme, die allerdings nicht auf lokale Mundarten beschränkt ist, ist auch für den Bereich des Viehhandels bekannt. Christliche Viehhändler konnten über eine gewisse Kompetenz in der sondersprachlichen Varietät ihrer jüdischen Kollegen verfügen (vgl. auch Matras 1991: 271, Schneble 2004: 477; Guggenheim-Grünberg 1954: 49-50 erwähnt dasselbe Phänomen für Pferdehändler): Die Viehhändlersprache diente dem Zweck, Informationen über Preise, Qualität und Gattung der Tiere nur einem kleinen Kreis zugänglich zu halten. Man konnte Informationen austauschen, ohne dass Bauern oder Wirte etwas verstanden. Christliche Viehhändler waren, soweit dies die Interview-Dokumentation belegt, auch mit diesen Ausdrücken vertraut. Eine nichtjüdische Auskunftsperson aus dem Berner Seeland meinte, dass die Kenntnis der jiddischen Viehhändlersprache notwendig gewesen sei, um das Geschäft betreiben zu können. (Kaufmann 1988: 100) on des Zusammenlebens beide Gruppen sich dieses Wortarsenals in ähnlicher Weise bedienten." (Matras 1991: 287).

38

In diesem (aus einer historischen Untersuchung stammenden) Zitat wird eine gute Beschreibung des Funktionierens der Viehhändlersprache gegeben, allerdings begeht auch Kaufmann (1988) den (in 1.2.1 beschriebenen) Irrtum, dass er die Viehhändlersprache mit dem Westjiddischen gleichsetzt. 20 Wie das Zitat zeigt (und wie auch von der Funktion dieser Varietät nahe liegt) geht es essentiell um "Ausdrücke" aus dem Bereich des Viehhandels; daraus erklärt sich die irrtümliche Bezeichnung der "jiddischen Viehhändlersprache" (Kaufmann 1988:

100).

1.2.8

Nachahmung und sprachliche Adaption bei Christen

Viele christliche Einwohner der sollen über eine gewisse aktive Kompetenz in der Varietät der Juden verfügt haben, doch ist die Evidenz zu diesem Phänomen fraglich. Zunächst einmal sind für das Surbtal Neckverse dokumentiert, die unter anderem mit einer Nachahmung der Mundart der Juden operieren: In den "Untersuchungsakten des Bezirksgerichts Zurzach über die in der Gemeinde Oberendingen am 28. Oktober und 5. November 1861 stattgehabten Excesse gegen die Juden" (vgl. 1.1.4) wird berichtet, dass zwei an den Krawallen beteiligte Christen ein Lied sangen, und zwar "die Sprache der Juden nachahmend" (zit. nach Weibel 1998: 340). Ein ähnliches Beispiel, das auf dieselben Ereignisse zurückgeht, ist die "Judenpredigt", die Johann Blum, dem Anführer der Krawalle von 1861, zugeschrieben wird (vgl. Weibel 1998: 343-346). Auch ein 1925 in Baden geborener Informant berichtet über einen Strassenwischer, der den Juden jeweils in diffamierender Absicht "jüdische Brocken" nachgerufen habe (vgl. 2.51). Im Florence Guggenheim-Archiv sind Tonaufnahmen solcher Texte vorhanden (unter anderem auch Fragmente aus der Judenpredigt), da sie jedoch für die Kenntnis des Westjiddischen wenig erbringen, wurden keine entsprechenden Beispiele in die vorliegende Sammlung aufgenommen. Bei solchen Texten handelt sich um gut- bis bösartige Nachahmungen, von denen es unwahrscheinlich ist, dass die Christen sie in der täglichen, unmarkierten Kommunikation mit den Juden verwendeten. Die Imitationen sind nicht immer sehr adäquat (was aber auch nicht unbedingt intendiert ist). 20

"Ist das Westjiddische mit der Viehhändlersprache Weitgehend schon [...]" (Kaufmann 1988: 98-99).

gleichzusetzen?

39 Umgekehrt hielten die Weinreichs bei ihrer kurzen Exkursion die Varietät der "Jiddisch" sprechenden Christen für veritables Jiddisch: do, oyfn veg in shul, hobn mir zikh getrofn mit a kristlekhn poyer fun dorf, dem gevezenem brivn-treger, un ven er hot zikh opgeshtelt oyf a minut redn mit undz, hot er geredt nit oyf zayn heymishn shveytserdaytsh, nor take oyf yidish. men hot undz dertseylt, az a sakh fun di goyim flegn redn mit yidn oyf yidish, un teyl kenen nokh haynt. (Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich 1950:

5) Tatsächlich gibt es auch Evidenz dafür, dass sich die Christen in gewissen Situationen an die Varietät der Juden anpassten: aus Lengnau wird von einer Verkäuferin berichtet, die sich sprachlich an die jüdische Kundin anpasst (vgl. 3.3). Hierbei würde es sich nicht um blosse Nachahmung, sondern um adressatenbezogenes Code-Switching handeln, in einem solchen Fall war das "Jiddisch" der Christen wohl näher am tatsächlichen Surbtaler Jiddischen. Dies könnte erklären, weshalb die Weinreichs im oben reportierten Fall die Sprache des Briefträgers durchaus für authentisch hielten. Für Gailingen gibt es nur wenig Evidenz zu diesem Phänomen; bekannt ist, dass die christlichen Gailinger in ihre Mundart zahlreiche Lehnwörter aus dem Jiddischen integriert hatten (vgl. 1.2.7) und diese dann sicher auch in der Kommunikation mit Juden verwendeten (wobei unklar ist, ob sie darüber hinaus phonologische oder grammatische Adaptationen vornahmen). Klar scheint allerdings zu sein, dass hier "Jiddisch" im Mund der Christen, "wenn sie es übertrieben haben", von den Juden als verletzend bis antisemitisch empfunden wurde (vgl. die Einschätzung in 4.7). Von einem christlichen Gailinger stammt folgende Aussage (die sich allerdings auch spezifisch auf das sondersprachliche Wortgut beziehen könnte - leider geht aus dem Kontext nicht hervor, was mit "Jiddisch" gemeint ist): Jiddisch haben wir fast so gut gesprochen wie die jüdische Bevölkerung, obwohl, man musste es sich stehlen, sie haben's einem nicht angeboten, einem zu lernen. Nein, nein, ich glaub', sie haben's noch nicht einmal so gerne gehabt. Aber sie konnten ja auch nichts machen, dass man's nicht lernt, nicht? (Müller 2004: 404)

In der Terminologie von Trudgill (1986: 12) würde es sich bei den oben angesprochenen Neckversen eher um imitation handeln, bei dem in 3.3 beschriebenen sprachlichen Verhalten dagegen um accomodation, das heisst um eine Anpassung an die Varietät des Kommunikationspartners in

40 Bezug auf gewisse Phänomene. Ein davon getrenntes Phänomen stellt die Übernahme sondersprachlicher Lexik dar.

1.3

Zur Einschätzung der Materialien

Surbtaler Jiddisch gilt - im Vergleich zu anderen (Überresten von) westjiddischen Dialekten - als sehr konservativ und auch gut erhalten: Bereits Uriel Weinreich (1950: 1) war der Meinung, dass Surbtaler Jiddisch (und einige weitere, bis ins 20. Jahrhundert erhaltene und dokumentierte westjiddische Dialekte) "ausserordentlich wertvoll als einzige Quellen für die Erforschung des gesprochenen Westjiddischen" seien; Surbtaler Jiddisch (wie es in der SDS-Aufnahme dokumentiert ist) hat laut Uriel Weinreich (1950: 1) "die Entwicklung der Sprache seit dem 17. oder 18. Jahrhundert scheinbar nicht mitgemacht". Nach Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich (1950: 17) liegt dies neben anderen Gründen daran, dass Hochalemannisch linguistisch vom Westjiddischen stärker unterschieden sei als die meisten anderen hochdeutschen Dialekte, wodurch einem Übergang zwischen den beiden Varietäten höhere Barrieren als in vielen anderen Gebieten entgegen stünden; diese Auffassung findet sich auch bei Guggenheim-Grünberg (1950: 8, 1966: 4, 1973: 9-10). Wahrscheinlich ist allerdings, dass neben diesem internen Faktor auch noch die soziolinguistische Situation der koterritorialen Sprache berücksichtigt werden muss: diese ist, wie in 1.1.2 erläutert, in der deutschsprachigen Schweiz grundlegend verschieden von anderen Gebieten des deutschen Sprachraumes. Der Vergleich mit den Gailinger Materialien legt vielleicht sogar eher nahe, dass die externen Faktoren für die Erhaltung ausschlaggebender waren (vgl. Fleischer 2004: 95-96): schliesslich sind die koterritorialen Dialekte des Surbtaler wie Gailinger Jiddischen voneinander wenig verschieden, dennoch ist Gailinger Jiddisch in der dokumentierten Form weniger archaisch als Surbtaler Jiddisch (nach Guggenheim-Grünberg 1961a: 9 beträgt der Unterschied ein ganzes Jahrhundert). Allerdings lässt die Tatsache, dass der einzige Text zur jiddischen Mundart von Randegg (vgl. 5.1) recht nahe bei den Surbtaler Materialien steht, das Bild wieder etwas anders aussehen. Da die Datensituation zum Hegau wesentlich schlechter ist als zum Surbtal, kann die Frage kaum definitiv geklärt werden (vgl. Fleischer 2004: 96). Obwohl also Surbtaler Jiddisch relativ konservativ erscheint, ist in Bezug auf den Erhaltungszustand der dokumentierten Materialien eine

41 grundsätzliche Überlegung angebracht: Es ist gut möglich, dass Westjiddisch im frühen 19. Jahrhundert vom Hochalemannischen noch wesentlich stärker unterschieden war als die später dokumentierten westjiddischen Zeugnisse; im 19. Jahrhundert nahm der Kontakt mit der christlichen Bevölkerung zu - auch in den ländlichen jüdischen Gemeinden selbst (vgl. 1.1.4, 1.2.3). Deshalb ist es gut möglich, dass im frühen 19. Jahrhundert die Unterschiede noch grösser waren. Da aus dieser Zeit aber nur schriftliche Dokumente vorliegen, die wiederum ihre eigenen Probleme haben (phonologische Interpretation der in hebräischer Schrift abgefassten Quellen, Feststellung der Supraregionalität des geschriebenen Westjiddischen, Einflüsse des Standarddeutschen in der schriftsprachlichen Sphäre, etc.), ist eine einfache Antwort auf diese Frage im gegebenen Rahmen nicht möglich (würde aber eine eingehendere Untersuchung verlohnen). Die Einschätzung gewisser dokumentierter Sprecher bereitet Probleme. Die ältesten und verlässlichsten Surbtaler Informanten sind noch vor 1890 geboren und in Endingen aufgewachsen, aber im Erwachsenenalter aus Endingen weggezogen. Bei diesen Informanten ist Surbtaler Jiddisch die zuerst erworbene Muttersprache, in der zumindest die familiäre und innerjüdische Kommunikation zur Zeit ihrer Kindheit ablief (über den Zeitpunkt des Erwerbs des Schweizerdeutschen kann aus den vorhandenen Informationen nichts ausgesagt werden; es ist durchaus denkbar, dass dies erst relativ spät geschah, existierte doch in Endingen bis 1896 eine eigene jüdische Primarschule; vgl. 1.1.4). Bei einem 1910 in Endingen geborenen und aufgewachsenen Informanten geht leider aus den vorhandenen Informationen nicht hervor, ob er Surbtaler Jiddisch noch als erste Sprache auf natürlichem Weg erworben hat; seine Erstsprache zum Zeitpunkt der Aufnahmen ist eindeutig Schweizerdeutsch, und ausser (wohl tradierten) Anekdoten sind von ihm keine westjiddischen Äusserungen dokumentiert (vgl. 2.35, 2.41). Ein Spezialfall liegt bei Henri Guggenheim, Florence Guggenheims Mann, vor (vgl. 2.29, 2.31). Dieser Informant, wiewohl aus einer alten Endinger Familie stammend, ist in Zürich geboren und aufgewachsen, erwarb aber noch Westjiddisch (allerdings ist nicht klar, ob als erste, also noch vor dem Zürichdeutschen erworbene Sprache), wobei die Tatsache, dass er in seinem Beruf die Pferdehändlersprache benutzte, sicher zur Erhaltung beitrug. Ein 1925 in Baden geborener und aufgewachsener Informant schliesslich, der einzige, den ich selbst interviewen konnte, ist ganz klar nur noch als Sekundärsprecher anzusehen: Er erwarb als Erstsprache Schweizerdeutsch, hatte aber über seinen Vater, der Viehhändler in Baden war, noch einen

42 gewissen Zugang zum Jiddischen (vgl. 2.4). Er verfugt über zahlreiche tradierte Anekdoten und Sprichwörter, deren Sprache im Vergleich mit älteren Materialien zum Teil noch relativ authentisch ist, doch daneben finden sich auch zahlreiche schweizerdeutsche (sowie elsässisch-jiddische und ostjiddische) Elemente (vgl. 2.42-2.45). Dass auch sekundär erworbenes oder vielleicht bloss imitiertes Westjiddisch zumindest bei gewissen Informanten so authentisch wirken kann, dass es von der Sprache der vor 1890 geborenen Endinger Informanten kaum zu unterscheiden ist, zeigt das Beispiel eines 1881 geborenen Zürcher Informanten (vgl. 2.46). Die von christlichen Surbtalern stammenden Zeugnisse können nicht als authentische Quelle eingestuft werden: Die wenigen von Lengnauer Informanten tradierten Sätze, die im Prinzip als authentische Wiedergabe intendiert sind, entsprechen in mehreren Punkten nicht dem Surbtaler Jiddischen (vgl. 3.1-3.3). das gilt noch verstärkt für die von der vorliegenden Sammlung ausgeschlossenen Nachahmungen aus Endingen. Die Materialien aus Gailingen stammen insgesamt von nur drei jüdischen Informanten. Bei der Sprache von Berty Friesländer-Bloch (die 1896 geboren und damit vergleichsweise jung ist), handelt es sich um "ein weitgehend durch das Hochdeutsche beeinflußtes Jiddisch, das auch Einflüsse des von den Gailinger Nichtjuden gesprochenen schaffhauserischen Dialektes sowie vereinzelte gesamtschweizerdeutsche Anklänge ausweist" (Guggenheim-Grünberg 1961a: 11). Ein zweiter Informant ist zwar eine Generation älter, doch finden sich bei ihm noch mehr Übergänge zum Deutschen. Leider geht aus der Dokumentation nicht hervor, welche Varietät er als Muttersprache erworben hat, und bedauerlicherweise ist er als Informant aus mancherlei Gründen wenig geeignet (vgl. 4.5). Bei der 1904 geborenen LCAAJ-Informantin schliesslich besteht kein Zweifel daran, dass sie keine eigentliche Sprecherin der westjiddischen Mundart ist (vgl. 4.6). Aus Randegg ist nur eine einzige jüdische Informantin dokumentiert; ein von ihr stammender längerer Text (vgl. 5.1) wirkt im Vergleich zu den Surbtaler Materialien ziemlich authentisch - dennoch ist die Informantin nach ihren eigenen Angaben keine eigentliche Sprecherin: Sie erwarb Westjiddisch bloss sekundär (vgl. 5.2). Das Westjiddisch, wie es in den Tonaufnahmen festgehalten ist, ist in vielerlei Hinsicht nicht "natürlich". Auf die in manchen Fällen verzerrende Aufnahmetechnik wird unten (vgl. 1.4.1) hingewiesen; ausserdem muss betont werden, dass die Informanten zum Zeitpunkt der Aufnahme nur noch mit einem sehr engen Kreis von Personen Westjiddisch sprachen

43 - wenn überhaupt; obwohl das Westjiddische durchaus ihre Muttersprache ist, ist es zum Zeitpunkt der Aufnahme längst nicht mehr ihre Erstsprache. Vieles von dem, was die Informanten (vor allem bei vorbereitetem, reflektiertem Sprechen) von sich geben, mag deshalb eher einer Rekonstruktion des Westjiddischen, wie es in der Zeit ihrer Sozialisation gesprochen wurde, näher kommen. Auch die Dynamik zwischen Befrager(in) und Befragten ist zu berücksichtigen: Die Informanten möchten die (eventuell vermeintliche) Erwartungshaltung nicht enttäuschen und antworten oft so, wie sie meinen, dass man es hören möchte. Die Interview-Situation wirkt sich in einigen Fällen auch in einer gewissen Mikrofon-Befangenheit aus: die Informanten fühlen sich in der formalen, quasi öffentlichen Situation nicht recht wohl und kommen nicht in natürliches, spontanes Sprechen hinein. Bei Schweizer Informanten könnte das gelegentliche Übergehen in die Standardsprache, die in der Diglossie-Situation formalen Situationen vorbehalten ist (vgl. 1.1.2), auf dieses Phänomen zurückzuführen sein. Die meisten Informanten leben zum Zeitpunkt der Tonaufnahmen nicht mehr in ihren Heimatdörfern. Dies scheint ein Nachteil zu sein. Doch wurde das Westjiddische im Fall von Sprechern, die am Ort ihrer Geburt verblieben sind, eher weniger gut bewahrt als bei Informanten, die beispielsweise seit Jahrzehnten in Zürich leben: Nach meinen persönlichen Erfahrungen sind solche Gewährsleute, die seit Jahrzehnten in einer "fremdsprachigen" Umgebung leben, wertvoller als jüngere oder auch ältere Leute, welche noch bis vor kurzem an den betreffenden Orten gewohnt und ihre Umgangssprache weitgehend an diejenige ihrer christlichen Umgebung angeglichen haben. (Guggenheim-Grünberg 1973: 12; vgl. Guggenheim-Grünberg 1966: 5)

1.4

Entstehung und Geschichte der Tonaufnahmen

Die in der vorliegenden Arbeit zugänglich gemachten (Ausschnitte von) Tonaufnahmen sind als Tondokumente bis auf fünf Ausnahmen 21 bisher 21 Dabei handelt es sich um zwei der ältesten Aufnahmen, "Simchat Tora im alten Endingen" (vgl. 2.17) und um das "Pferdehändlergespräch" (vgl. 2.29), die als Aufnahmen ZA 150 und ZA 151 des Phonogrammarchivs der Universität Zürich 1950 als Schellackplatten in einer kleinen Auflage veröffentlicht

44 unveröffentlicht. Bis auf vier Ausnahmen 22 sind bisher auch zu keinen der in der vorliegenden Arbeit angeführten Tonaufnahmen Transkriptionen veröffentlicht worden. In 1.4.1 bis 1.4.4 werden diejenigen Tonaufnahmen charakterisiert, die aufgrund der Initiative von Florence Guggenheim und des Phonogrammarchivs entstanden sind; in 1.4.5 geht es um Aufnahmen, die auf die Initiative von Uriel Weinreich und dem von ihm begründeten LCAAJ zurückgehen, in 1.4.6 werden einige wenige weitere Aufnahmen charakterisiert. Die Originale zu den in 1.4.1 bis 1.4.4 beschriebenen Aufnahmen befinden sich heute zum grösseren Teil im Florence Guggenheim-Archiv (Zürich), der übrige Teil befindet sich im Phonogrammarchiv der Universität Zürich. Die westjiddischen Plattenaufnahmen und Tondrahtaufnahmen des Phonogrammarchivs der Universität Zürich wurden im Juli 2002 bzw. Januar 2004 von der Fonoteca Nazionale Svizzera, Lugano, auf DAT übertragen.23 Sie sind somit digital zugänglich und auf einem zeitgemässen Speichermedium gesichert. Die westjiddischen Tonbandaufnahmen, die im Phonogrammarchiv der Universität Zürich

wurden. Die Platte war bald vergriffen, ab einem gewissen Zeitpunkt konnten Kopien dieser beiden Aufnahmen auf Audiokassette beim Florence Guggenheim-Archiv bezogen werden (vgl. Guggenheim-Grünberg 1981: 47). Eine Neuedition erweist sich unter diesen Umständen als sinnvoll. Ausserdem sind drei Ausschnitte, die in Guggenheim-Grünberg (1961a) bzw. GuggenheimGrünberg (1966) transkribiert sind, als Tonaufnahmen bereits veröffentlicht (allerdings in einer gemasterten Version), sie werden in der vorliegenden Arbeit im Original wiedergegeben, um die Bearbeitung der Tonaufnahmen für die Veröffentlichung in Guggenheim-Grünberg (1961a, 1966) zu illustrieren und um einen Vergleich der Transkriptionssysteme zu ermöglichen (vgl. 6.16.3). 22

Dabei handelt es sich um das Pferdehändlergespräch (vgl. 2.29), zu dem bereits Transkriptionen in Guggenheim-Grünberg (1954a) und GuggenheimGrünberg (1981) veröffentlicht sind, sowie um die Ausschnitte, die zum Vergleichen der Transkriptionssysteme herangezogen werden (vgl. 6.1-6.3). 23

Bei den Plattenaufnahmen handelt es sich um ZA 150 und ZA 151. Die in 1.4.1 beschriebene matrizierte Aufnahme des Florence Guggenheim-Archivs, die dieselbe Aufnahme wie die im Phonogrammarchiv aufgefundene Tondrahtaufnahme enthält, wurde im Dezember 2003 ebenfalls von der Fonoteca Nazionale Svizzera digitalisiert.

45 aufbewahrt werden, 24 wurden von mir im Januar 2002 auf DAT übertragen. Auch die westjiddische Passagen enthaltenden Tonaufnahmen des Florence Guggenheim-Archivs, bei denen es sich vor allem um Tonbandaufnahmen, aber auch um einige Audiokassetten handelt, wurden von mir von März bis Juli 2002 auf DAT übertragen. Zu den Aufnahmen existiert im Florence Guggenheim-Archiv ein handschriftliches Verzeichnis, das die Informationen, die sich auf den Bandschachteln finden, zusammenfasst. Ein von mir angefertigtes Verzeichnis der übertragenen Aufnahmen (mit einem Teil der Informationen aus dem handschriftlichen Verzeichnis von Florence Guggenheim) befindet sich im Florence Guggenheim-Archiv; eine Kopie davon ist auch im Phonogrammarchiv der Universität Zürich vorhanden. Die Originale der in 1.4.5 beschriebenen Tonaufnahmen von Uriel Weinreich und dem LCAAJ befinden sich heute an der Columbia University in New York in der Sammlung des LCAAJ in der Rare Book & Manuscript Library, Butler Library. Von zwei dieser Aufnahmen schickte Uriel Weinreich Kopien auf Tonband an Florence Guggenheim; diese frühen Bandkopien befinden sich heute im Florence GuggenheimArchiv (Zürich).25 Die in 1.4.6 beschriebenen Aufnahmen befinden sich in Privatbesitz; das Phonogrammarchiv der Universität Zürich besitzt von ihnen Kopien auf DAT. 24

25

Dabei handelt es sich um Β 101, Β 102, Β 103, Β 106, Β 107, Β 108. Bei den Signaturen handelt es sich um diejenigen des Florence Guggenheim-Archivs, die sechs Tonbänder wurden zunächst von Florence Guggenheim aufbewahrt, doch am 15. Januar 1980 an das Phonogrammarchiv der Universität Zürich geschickt, wobei im Begleitschreiben darum ersucht wurde, "dass diese Bänder - im Gegensatz zu den in "Surbtaler Jiddisch" [= GuggenheimGrünberg 1966] veröffentlichten Auszügen - nur mit Erlaubnis der Leitung des Florence Guggenheim-Archives benützt werden dürfen", was in der Empfangsbestätigung vom 17. Januar 1980 zugesichert wurde. Bei Β 101, Β 102 und Β 103 handelt es sich um die Originalaufnahmen (sie waren seinerzeit mit dem Revox-Tonbandgerät des Phonogrammarchivs aufgenommen worden; wahrscheinlich deshalb wurden hier die Originale dem Phonogrammarchiv übergeben), bei Β 106, Β 107 und Β 108 dagegen um Bandkopien der Originalaufnahmen (die mit Florence Guggenheims persönlichem Tonbandgerät aufgezeichnet worden waren). Die Originale dieser Aufnahmen verblieben im Florence Guggenheim-Archiv (von Β 101, Β 102 und Β 103 verblieben dort ebenfalls Bandkopien). Von der ersten beschriebenen Aufnahme, der Tondrahtaufnahme aus dem Jahr 1950, war leider nur diese Bandkopie zugänglich (vgl. 2.30).

46 1.4.1

Zürcher Aufnahmen 1949/1950

Florence Guggenheim, auf deren Initiative der grösste Teil der in der vorliegenden Arbeit transkribierten Aufnahmen zurückgeht (vgl. 1.1.1), hatte schon früh die Idee, Surbtaler Jiddisch in Tonaufnahmen festzuhalten: An der Schweizerischen Landesausstellung von 1939 führte das Phonogrammarchiv der Universität Zürich die verschiedenartigsten Schweizer Mundarten auf Sprechplatten dem Publikum vor. Damals kam mir zuerst der Gedanke, den aussterbenden Dialekt der Endinger und Lengnauer Juden, der mir von meiner eigenen Familie her vertraut war, einmal auf Schallplatten aufzunehmen, damit er für spätere Generationen erhalten bleibe. (Guggenheim-Grünberg 1966: 3; vgl. Guggenheim-Grünberg 1950: 3) Zur Ausführung gelangte dieser Plan erst zehn Jahre später: 1949 nahm Florence Guggenheim Kontakt mit dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich auf. Diese Institution, die die Aufgabe hat, Dialekte und andere Varietäten der vier Landessprachen der Schweiz in Tonaufnahmen festzuhalten, hatte bereits 1934 eine erste Tonaufnahme mit einem Sprecher der jiddischen Mundart von Lengnau realisiert (vgl. Guggenheim-Grünberg 1966: 3, 28), 26 und war nun und in den darauf folgenden Jahren an der Unterstützung von Florence Guggenheims Ansinnen interessiert. Laut dem "Bericht über den Gang der Arbeiten am Phonogrammarchiv der Universität Zürich im Berichtsjahr 1950" wurde die erste gemeinsame Aufnahmeaktion in jenem Jahr durchgeführt: Das Archiv benützte eine sich bietende Gelegenheit, gute Aufnahmen der jüdischen Mundart des Aargauer Surbtales zu gewinnen: Frau Dr. F. Guggenheim, Zürich, wandte sich an uns mit der Bitte, ihr bei der Untersuchung der Sprache der Endinger und Lengnauer Juden mit Schallaufnahmen behilflich zu sein. Im Sinne unserer Zweckbestimmung, alle in unserem Lande zu 26

Diese erste Aufnahme wurde realisiert, als die Mundarten des Kantons Aargau in Tonaufnahmen festgehalten werden sollten. In den ältesten Beständen des 1909 gegründeten Phonogrammarchivs ist gerade dieser Kanton unterrepräsentiert (vgl. Fleischer / Gadmer 2002: 45). In einem Brief eines Lehrers aus Lengnau, der zur Vermittlung geeigneter Gewährspersonen angeschrieben worden war, wurde dem Phonogrammarchiv mitgeteilt, dass der Dialekt der jüdischen Einwohner von dem der christlichen stark abweiche, was im Phonogrammarchiv Interesse an einer Aufnahme erweckte.

47 hörenden Dialekte festzuhalten und so der Nachwelt zugänglich zu machen, willigten wir gerne ein: Es wurden zunächst 7 Sprecher aus Endingen sowohl auf Stahldraht als auch auf Schallfolien aufgenommen. Zwei der besten Texte, worunter ein Gespräch, wurden auf eine doppelseitige Wachsplatte aufgenommen und matriziert. Bei den beiden matrizierten Texten handelt es sich u m die A u f n a h m e n Z A 150 und Z A 151 des Phonogrammarchivs der Universität Zürich (vgl. 6.2). D a s Matrizierungsdatum v o n Z A 150 und Z A 151 ist der 17. 11. 1950. D i e nicht matrizierten S c h a l l f o l i e n und Tondrahtspulen, 2 7

von

denen im Zitat die R e d e ist, konnte ich trotz intensiver S u c h e nicht ausfindig machen; sie scheinen sich weder im Phonogrammarchiv noch im Florence Guggenheim-Archiv zu befinden. Im Florence GuggenheimA r c h i v konnte ich n o c h eine weitere matrizierte A u f n a h m e ausfindig

27

Im Phonogrammarchiv der Universität Zürich konnte ich eine Tondraht-Spule ausfindig machen, die westjiddische Aufnahmen enthält. Sie ist angeschrieben mit "Endingen 10. I. 1950" und trägt keine Signatur. Sie enthält insgesamt vier verschiedene Aufnahmen, und zwar die Texte "Simches Thore im alten Endinge" (vgl. 2.17), das Pferdehändlergespräch (vgl. 2.29), das Gedicht "Ein Schabbes im alten Endingen" (vgl. 2.2) sowie einen Text eines elsässischen Sprechers (dieser Text ist ähnlich, aber nicht identisch mit der ersten Hälfte des Textes 11 in Guggenheim-Grünberg 1966: 45-49). Bei den drei Surbtaler Aufnahmen handelt es sich um die oben genannten Texte, jedoch in anderen Versionen. Die Aufnahmen, die Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich (1950: 1-2, 13-15, 19) erwähnen, scheinen damit zum Teil identisch zu sein: Die in diesem unveröffentlichten Vortrag gegebene Transkription des Textes "Simches Thore im alten Endinge" entspricht textuell ziemlich genau den Versionen dieser Aufnahme, wogegen das Pferdehändlergespräch starke Abweichungen von der bei Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich (1950) gegebenen Transkription aufweist. Die Weinreichs machten sich mit ihrem eigenen, aus Amerika mitgebrachten Tondraht-Gerät Kopien von Aufnahmen in Zürich; sie erwähnen explizit, dass die Kopien von einer Platte gemacht wurden (vgl. Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich 1950: 13). Da es sich aufgrund der erwähnten textuellen Differenzen aber nicht um ZA 150 und ZA 151 handeln kann, muss das heissen, dass es auch Plattenaufnahmen gab, die mit den erwähnten Tondraht-Aufnahmen identisch sind. Da ZA 150 und ZA 151 die "definitiven", matrizierten Versionen sind, sind die Tondrahtaufnahmen sicherlich älter, eventuell sind sie bereits im Jahr 1949 entstanden. Als ab November 1950 die definitiven, matrizierten Aufnahmen ZA 150 und ZA 151 vorhanden waren, waren die Weinreichs bereits wieder in New York, was erklärt, weshalb sie die älteren Versionen transkribierten.

48 machen, sie ist identisch mit der Tondrahtaufnahme des Gedichtes "Ein 28

Schabbes im alten Endingen" (vgl. Fussnote 27, 2.2). Diese ältesten Aufnahmen kamen in der Weise zustande, dass die Informanten vor der eigentlichen Tonaufnahme schriftliche Texte verfassten, die dann abgelesen oder auswendig in die Aufnahmeapparatur gesprochen wurden. Das aus heutiger Sicht seltsam anmutende Aufnahmeverfahren mittels vorbereiteter, schriftlich fixierter Texte erklärt sich unter anderem dadurch, dass unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg das Herstellen von Tonaufnahmen in der Schweiz noch vergleichsweise teuer und kompliziert war, und dass man in die auf einer 78er Platte zur Verfügung stehende relativ kurze Spielzeit möglichst viele lexikalisch und grammatisch interessante Phänomene hineinpacken wollte. Die frühen Aufnahmen sind deshalb von natürlicher, spontan gesprochener Sprache sehr weit entfernt, was sich angesichts der Sprachsituation des Westjiddischen zum Zeitpunkt der Aufnahme allerdings auch vorteilhaft auswirken kann (die Sprecher bemühen sich, die sonst vielleicht zahlreicheren Interferenzen aus dem Schweizerdeutschen zu minimieren, was vielleicht nicht unbedingt ihrem natürlicherweise gesprochenen Westjiddisch entspricht, aber möglicherweise einen ursprünglicheren Zustand rekonstruiert). Die zu diesen Aufnahmen erhaltenen schriftlichen Versionen (die auch zu einigen späteren Aufnahmen existieren) sind 28

Die im Jahresbericht genannte Zahl von sieben Sprechern ist nicht nachvollziehbar. Guggenheim-Grünberg (1950: 3) spricht von Sprechplatten von "vier verschiedenen Sprechern", was mit den aufgefundenen Aufnahmen übereinstimmt: auf ZA 150, einer Erzählung, ist ein Sprecher festgehalten, auf ZA 151, einem Gespräch, deren zwei, und auf der dritten Aufnahme, die im Phonogrammarchiv auf der in Fussnote 27 beschriebenen Drahtspule und im Florence Guggenheim-Archiv auf einer matrizierten Platte vorhanden ist, wiederum einer, woraus sich die Zahl vier ergibt (Guggenheim-Grünberg 1954: 48, mit Fussnote 6, erwähnt nur noch ZA 150 und ZA 151). Auch Guggenheim-Grünberg (1973: 14) vermerkt im Verzeichnis ihrer Informanten nur bei vier Personen, dass im Jahr 1949 Tonaufnahmen mit ihnen realisiert wurden, und zwar stimmen diese mit den auf den drei Aufnahmen dokumentierten Personen überein. Allerdings konnte ich nicht herausfinden, weshalb Guggenheim-Grünberg (1973) als Jahr 1949 nennt (auch GuggenheimGrünberg 1950: 3 schreibt, dass die Dokumentationsarbeit "voriges Jahr" begann, doch muss sich dieses Datum natürlich nicht auf den Zeitpunkt der Tonaufnahmen beziehen). Laut den Jahresberichten des Phonogrammarchivs der Universität Zürich wurden die ersten Aufnahmen erst 1950 realisiert (der Bericht über das Jahr 1949 erwähnt keine jiddischen Aufnahmen).

49 ebenfalls interessante Zeugnisse: Die von den Informanten gewählten Graphien erlauben in einigen Fällen phonologische Rückschlüsse und werden, wo vorhanden, in der vorliegenden Arbeit ebenfalls zugänglich gemacht.

1.4.2

Zürcher Aufnahmen der 1950er und 1960er Jahre

Eine Ausweitung der Aufnahmeaktivitäten geschah mit dem Aufkommen des Tonbandes ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre: Dieses war einfacher in der Handhabung und bot auch wesentlich mehr Speicherplatz als frühere Techniken, sodass längere Sequenzen problemlos aufgezeichnet werden konnten. Florence Guggenheim dokumentierte zahlreiche weitere Sprecher des Westjiddischen, zunächst mit dem Apparat des Phonogrammarchivs der Universität Zürich, dann mit einem eigenen Apparat.29 Neben einer Fortsetzung des bisherigen Aufnahmeverfahrens (vorbereitete Texte, die durch Ablesen oder auswendiges Vortragen in das Aufnahmegerät gesprochen werden) wurden nun auch freiere Texte aufgezeichnet, unter anderem auch (wenngleich inszenierte) Gespräche von Informanten untereinander. Neben diesen Aufnahmen kam seit 1956 noch ein weiterer Typ hinzu: ab diesem Zeitpunkt nahm Florence Guggenheim anhand eines von ihr ausgearbeiteten Questionnaires Befragungen von Informanten zu dialektgeographisch und ethnographisch interessanten Phänomenen vor, die schlussendlich in der Publikation des Atlasses Jiddisch auf alemannischem Sprachgebiet resultierten (Guggenheim-Grünberg 1973; vgl. dort Seite 10, der Questionnaire ist auf den Seiten 142-146 abgedruckt). In vielen Fällen führte Florence Guggenheim anhand dieses Fragebogens mündliche Befragungen mit den Informanten durch, die auch auf Tonband aufgezeichnet wurden. In diesen Tonaufnahmen geht es oft um das Abfragen einzelner Lexeme, die für gewisse lautliche oder wortgeographische Entwicklungen repräsentativ oder mit dem Brauchtum verbunden sind, doch finden sich darin auch immer wieder längere 29

Es kann nicht genau eruiert werden, ab welchem Zeitpunkt Florence Guggenheim Aufnahmen mit ihrem eigenen Gerät machte: GuggenheimGrünberg (1966: 3) nennt das Jahr 1951, doch die ältesten Tonbandaufnahmen im Florence Guggenheim-Archiv und im Phonogrammarchiv der Universität Zürich stammen aus dem Jahr 1957. Wahrscheinlich handelt es sich also bei dem Datum 1951 um einen Druckfehler oder um eine Verwechslung.

50 westjiddische Sequenzen; ausserdem gab Florence Guggenheim den Informanten manchmal (beispielsweise nach dem Abschluss des eigentlichen Interviews) Gelegenheit, eine längere, zusammenhängende Sequenz in den Apparat zu sprechen. Eine Sonderstellung nehmen die Aufnahmen von Berty FriesländerBloch, der wichtigsten Informantin für Gailingen, ein: Diese Informantin trat schon vor dem Holocaust als Autorin in Erscheinung. Sie spielte eine wichtige Rolle im kulturellen Leben Gailingens und verfasste zahlreiche Texte in Deutsch und Gailinger Jiddisch (Jules Friesländer, der Sohn dieser Informantin, besitzt zahlreiche Manuskripte, einige Texte befinden sich auch im Florence Guggenheim-Archiv; diese schriftlichen Dokumente sind bis jetzt weder ediert noch ausgewertet). Florence Guggenheim zeichnete mehrere dieser Texte auf Tonband auf (vgl. 4.1, 4.2, 4.4). Auch diese Art von Tonaufnahmen (bei der es sich im Prinzip um abgelesene bzw. auswendig vorgetragene Mundartliteratur handelt) ist sehr weit von spontan gesprochener Sprache entfernt, doch sind die Aufnahmen unter anderem auch deshalb besonders wertvoll, weil sie für die lautliche Interpretation der Graphien in den schriftlich fixierten Texten einen entscheidenden Anhaltspunkt geben können. Schliesslich konnte Florence Guggenheim, die zwar selbst keine Sprecherin des Surbtaler Jiddischen, aber mit vielen Sprechern verwandtschaftlich und freundschaftlich verbunden war, manchmal auch Gelegenheitsaufnahmen aufzeichnen, beispielsweise bei festlichen Anlässen oder Einladungen. Der Inhalt solcher Aufnahmen kann sehr verschieden sein (beispielsweise handelt es sich um Befragungen in der oben beschriebenen Weise, oder die Informanten erzählen Anekdoten, Begebenheiten aus ihrem Leben, Erinnerungen an das jüdische Leben in ihrem Heimatdorf etc.). Bei vielen Tonbandaufnahmen war Florence Guggenheims Mann Henri Guggenheim-Grünberg (1887-1969) anwesend, der Pferdehändler und ein Sprecher des in dieser Berufsgruppe üblichen sondersprachlichen Registers war. Henri Guggenheim spielte bei vielen von Florence Guggenheims Aufnahmen eine wichtige Rolle. Abgesehen davon, dass er bei manchen Aufnahmen als "Techniker" fungierte, griff er manchmal auch selbst in die Aufnahmen ein. In Bezug auf die oben beschriebenen Atlas-Befragungen wird seine Rolle folgendermassen charakterisiert: Alle mündlichen Befragungen wurden von der Verfasserin vorgenommen, sehr oft auch auf Tonband aufgezeichnet. Dabei kamen optimale Bedingungen dadurch zustande, dass ein guter Jiddisch-Sprecher (H.G.) jeweils zugegen

51 war, der eine Atmosphäre der Vertraulichkeit schuf und dem Informanten half, seine Scheu zu überwinden, ihm gewissermassen "die Zunge löste", sodass ein Abgleiten in die - sonst zwischen Befrager und Informant gebräuchliche - nichtjüdische Umgangssprache vermieden werden konnte. (Guggenheim-Grünberg 1973: 12) Die meisten der von Florence Guggenheim veranlassten Aufnahmen stammen aus den 1950er und 1960er Jahren und kamen in der beschriebenen Weise zustande, "mit weitgehender und tatkräftiger Unterstützung durch den technischen Leiter des Phonogrammarchivs, Dr. Rudolf Brunner" (Guggenheim-Grünberg 1966: 3). 1961 wurde die Transkription zu einer Aufnahme aus Gailingen veröffentlicht (Guggenheim-Grünberg 1961a). Diese Aufnahme wurde zwar an das damalige "Deutsche Spracharchiv" in Münster weitergegeben (sie gehörte als eine ehemals in Deutschland gesprochene Mundart nicht zum engsten Sammelbereich des Phonogrammarchivs), war aber mit dem Apparat des Phonogrammarchivs der Universität Zürich aufgezeichnet worden (vgl. Guggenheim-Grünberg 1961a: 6). Eine Auswahl mit Ausschnitten aus elf Aufnahmen, die auf Florence Guggenheims Initiative zustande gekommen waren, sowie mit einer Transkription der 1934 vom Phonogrammarchiv realisierten ältesten Aufnahme, wurden 1965 als Schallplatten ZJM 1 und ZJM 2 des Phonogrammarchivs der Universität Zürich veröffentlicht, begleitet von einem Textheft (Guggenheim-Grünberg 1966), in dem die Ausschnitte transkribiert, übersetzt und kommentiert sind. Die 1965 auf Schallplatten publizierten Tonaufnahmen wurden im Jahr 2000 vom Phonogrammarchiv auf CD neu herausgegeben.

1.4.3

Zürcher Aufnahmen der 1980er Jahre

Im Florence Guggenheim-Archiv befinden sich neben Tonbandaufnahmen noch einige wenige Aufnahmen auf Audiokassetten aus den frühen 1980er Jahren, die teilweise von Florence Guggenheim selbst realisiert wurden, teilweise aber auch von anderen Personen an sie geschickt wurden. Die Audiokassette war noch einfacher zu handhaben als das Tonband (wenngleich die Tonqualität meist schlechter war), doch als diese neue Technik allgemein verbreitet war, gab es praktisch keine Sprecher der dokumentierten Varietäten mehr. Bei den auf Audiokassette eingespielten Aufnahmen handelt es sich um sekundäre Evidenz zum

52 Westjiddischen (Anekdoten eines Sekundärsprechers, Imitationen der oder Erinnerungen zur Sprache der Juden von christlichen Informanten).

1.4.4

Zürcher Aufnahmen 2004

Im Januar und Februar 2004 konnte ich für das Phonogrammarchiv der Universität Zürich Tonaufnahmen mit einem im Jahr 1925 in Baden geborenen Sekundärsprecher realisieren. Die Aufnahmen wurden mit einem portablen DAT-Aufnahmegerät in einem Altersheim in Basel realisiert. Der Informant ist Mitautor des populären Wörterbuchs Bollag / Weibel (1995) und hat selbst zahlreiche Gedichte zu den jüdischen Festtagen im alten Surbtal verfasst (vgl. 2.4). Aufgrund der Angaben zu den Informanten in den Arbeiten von Florence Guggenheim und aufgrund von zahlreichen Unterhaltungen mit Nachfahren von Sprechern war ich davon ausgegangen, dass Surbtaler Jiddisch gänzlich ausgestorben war. Dieses Bild wird durch den 2004 interviewten Informanten nicht grundsätzlich geändert: seine Erstsprache ist eindeutig Schweizerdeutsch. Dennoch finden sich in seinem Repertoire beispielsweise tradierte Anekdoten, die mit älteren Materialien verglichen werden können, daneben allerdings auch weniger authentische Elemente enthalten (vgl. 2.42-2.45). Ausserdem erhielt ich aus den Unterhaltungen mit diesem Informanten zahlreiche Hinweise zur soziolinguistischen Situation.

1.4.5

Aufnahmen von Uriel Weinreich und dem LCAAJ

Drei auf Tonaufnahmen festgehaltene Quellen zum Westjiddischen im hochalemannischen Gebiet gehen auf die Initiative Uriel Weinreichs (1926-1967) und des von ihm begründeten Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry (LCAAJ) zurück. Bei seinem Forschungsaufenthalt in Zürich 1949-1950, der die Erforschung von Sprachkontakt anhand der in der Schweiz gesprochenen Sprachen zum Ziel hatte (Teile der Resultate wurden in Uriel Weinreich 1953 veröffentlicht), lernte Uriel Weinreich auch Florence Guggenheim kennen. Bei einer gemeinsamen Exkursion ins Surbtal, die in Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich (1950) beschrieben ist, wurde ein Interview mit einer Sprecherin im Altersasyl Lengnau mit einem von den Weinreichs aus Amerika mitgebrachten Tondrahtgerät aufgezeichnet (vgl. Beatrice Weinreich / Uriel Weinreich 1950: 6, LCAAJ 2: 6). Obwohl diese erste Aufnahme noch in keinem direkten

53 Zusammenhang mit dem späteren LCAAJ steht (zwar trug sich Uriel Weinreich schon 1950 mit dem Gedanken an ein Atlasprojekt,30 doch zur eigentlichen Lancierung des Projektes kam es erst 1959-1960; vgl. LCAAJ 1: VIII), ähnelt sie in Rahmen und Charakter der Befragung für den LCAAJ oder für Guggenheims (1973) Atlas Jiddisch auf alemannischem Sprachgebiet. Die Ausarbeitung der Questionnaires für den LCAAJ zieht sich über mehrere Jahre hin, weshalb nicht bei allen Informanten dieselben Fragen erhoben wurden. Ausserdem wurde für das Westjiddische aufgrund der Tatsache, dass aus vielen Gebieten keine verlässlichen Informanten mehr gefunden werden konnten, ein wesentlich kürzerer Fragebogen verwendet als für das Ostjiddische (vgl. LCAAJ 2: 6). Alle Befragungen für den LCAAJ wurden auf Tonband aufgezeichnet, sie fanden von 1959 bis 1972 statt, eine einzige Befragung wurde noch 1974 vorgenommen (vgl. LCAAJ 2: 5). Die Arbeit am Western Questionnaire begann nach 1962 (vgl. LCAAJ 2: 6). Aus dem hochalemannischen Sprachgebiet sind zwei Ortspunkte in den LCAAJ aufgenommen worden, nämlich Endingen (Ortspunkt 47084) und Gailingen (Ortspunkt 47086). Die Befragung zu Endingen wurde am 11. und 12. August 1960 in Zürich durchgeführt, also bevor die definitive Fassung des Western Questionnaire vorlag. Damals weilte Uriel Weinreich für kurze Zeit erneut in der Schweiz. Uriel Weinreich interviewte Florence Guggenheims Mann Henri Guggenheim (vgl. 1.42), der hier als Informant diente; das Interview fand in der Wohnung der Guggenheims statt. Es handelt sich um eines der wenigen LCAAJ-Interviews, die nicht mit Emigranten, sondern am Geburtsort des Informanten, in diesem Fall in Zürich, durchgeführt wurden (vgl. 2.31). Das Interview zu Gailingen wurde am 9. Juli 1966 in New York mit einer Emigrantin aus Gailingen als Hauptinformantin und ihrem ebenfalls aus Gailingen stammenden Mann durchgeführt. Befrager ist Steven Lowenstein, der sehr viele LCAAJ-Befragungen mit Informanten aus

30

Nach Auskunft von Beatrice Weinreich (persönliches Gespräch, 9. 1. 2003) hatte Uriel Weinreich die Schweiz und insbesondere Zürich unter anderem deshalb als Destination seines Forschungsaufenthaltes gewählt, weil dort mit dem Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, dem Sprachatlas der Deutschen Schweiz und dem Volkskundeatlas der Schweiz Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sprach- und Kulturatlanten geleistet wurde. Jakob Jud, Rudolf Hotzenköcherle und Richard Weiss, die Mitbegründer der genannten Atlanten, nehmen denn auch in den Acknowledgements von Uriel Weinreich (1953: x) eine prominente Stelle ein.

54 Deutschland durchführte und von 1964 bis 1972/1973 am LCAAJ beschäftigt war (vgl. LCAAJ 2: 6, LCAAJ 3:3, Lowenstein 1969).

1.4.6

Weitere Aufnahmen

Jules Friesländer, der Sohn von Berty Friesländer-Bloch, der wichtigsten Informantin aus Gailingen (vgl. 1.4.2), besitzt mehrere Aufnahmen seiner Mutter auf Audiokassetten. Diese enthalten teilweise auch einige wenige westjiddische Passagen. Ein Ausschnitt aus einer derartigen Aufnahme ist in der vorliegenden Arbeit vertreten (vgl. 4.3). Das Jüdische Museum Hohenems führte am 26. März 1996 unter der Leitung von Eva Grabherr und in Absprache mit Hugh Denman Tonaufnahmen mit Michael Bollag, dem 1925 geborenen Informanten durch, den ich im Januar und Februar 2004 interviewte. Bei dieser Aufnahme, die in einem Tonstudio entstanden ist, liest Michael Bollag eigene Gedichte sowie Beispielsätze aus dem Wörterbuch von Bollag / Weibel (1995), dessen Mitautor er ist, vor.

1.5

Zur vorliegenden Edition

1.5.1

Aufnahmen der vorliegenden Arbeit: Auswahlkriterien

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann aus Platzgründen nicht das gesamte in Tonaufnahmen festgehaltene Korpus zu den westjiddischen Dialekten der vier untersuchten Orte zugänglich gemacht werden. Die Kriterien, nach denen die veröffentlichten Ausschnitte ausgewählt wurden, werden im Folgenden erläutert. Viele der Tonaufnahmen eignen sich nur bedingt zur Veröffentlichung. In formalisierten Interviews, wie sie z.B. auch in den LCAAJBefragungen vorliegen (vgl. dazu Kiefer 1995: 3), werden oft einzelne Begriffe erfragt, wobei Interviewer wie Interviewte vorwiegend deutsche Varietäten sprechen und nur die erfragten Lexeme für das Westjiddische stehen. Solche Aufnahmen sind - da die Lexeme durch die einschlägigen Wörterbücher und Atlanten inzwischen meist dokumentiert sind (unter anderem durch Guggenheim-Grünberg 1973 und Guggenheim-Grünberg 1976) - weniger interessant als längere Sequenzen spontan gesprochener Texte, die insbesondere auch die Syntax des Westjiddischen in adäquate-

55 rer Weise wiedergeben als Befragungen. Solche Zeugnisse habe ich deshalb bei der Auswahl bevorzugt. Da es sich bei den dokumentierten Informanten um die letzte Generation von Sprechern handelt und da es beträchtliche individuelle Unterschiede gibt, erachtete ich es für sinnvoll, möglichst von jedem dokumentierten Sprecher mindestens einen Ausschnitt zugänglich zu machen. Dies gilt auch für Informanten, die für die beschriebenen Arten der Dokumentation weniger gut geeignet waren. Über die soziolinguistische Situation in einer ländlichen Gemeinde mit signifikanter jüdischer Bevölkerung und über das soziolinguistische Verhalten von Westjiddisch-Sprechern ist wenig Präzises bekannt (vgl. 1.2). Daher habe ich bevorzugt auch Ausschnitte aufgenommen, die (unabhängig von der Varietät) Informationen über die soziolinguistische Situation des Westjiddischen enthalten. Unter diesem Gesichtspunkt sind einige Aufnahmen von nichtjüdischen Informanten, die in ihrer Jugend Zugang zum Westjiddischen hatten, eingeschlossen worden; sie illustrieren ausserdem die alemannischen Mundarten bzw. vom Alemannischen stark beeinflussten Umgangssprachen der christlichen Bevölkerung. Schliesslich hielt ich es in einigen Fällen, wo entsprechendes Material zur Verfügung stand, für sinnvoll, neben dem Westjiddischen auch die deutschen Varietäten der Westjiddisch-Sprecher oder Sekundärsprecher mit einzubeziehen. Sie erlauben einen direkten Vergleich mit dem Westjiddischen derselben Informanten.

1.5.2

Zur Anordnung der transkribierten Texte

Das oberste Kriterium zur Einteilung der einzelnen Aufnahmen ist der Ort. In den folgenden Kapiteln werden die Aufnahmen zu den ausgewählten Belegorten präsentiert: in Kapitel 2 zu Endingen, in 3 zu Lengnau, in 4 zu Gailingen und in 5 zu Randegg. In Kapitel 6 werden drei kurze Ausschnitte wiedergegeben, die bereits in Guggenheim-Grünberg (1961a, 1966) transkribiert sind, zu Vergleichszwecken wiedergegeben. In den Kapiteln 2 bis 5 (von denen das Kapitel 2 mit Aufnahmen aus Endingen bei weitem das grösste ist) machen (wo vorhanden) Texte in gebundener Rede den Anfang (2.1-2.4, 4.1-4.3). Danach folgen Texte erzählenden oder beschreibenden Inhalts, die vorbereitet oder auch ziemlich spontan sein können (2.5-2.29, 4.4-4.5, 5.1). Darauf folgen Ausschnitte aus Interviews (2.30-2.36, 4.6-4.7, 5.2). Es schliessen Anekdoten, Sprichwörter und ähnliches an (2.37-2.46, 5.3), gefolgt von

56 Aufnahmen, die spezifisch die deutschen Varietäten der jüdischen Sprecher dokumentieren (2.47-2.51). Den Abschluss bilden jeweils Aufnahmen von nichtjüdischen Sprechern, die das Jiddische wiedergeben oder über das Jiddische berichten (3.1-3.3, 4.8, 5.3-5.6). Es versteht sich von selbst, dass zwischen den Einteilungskriterien mannigfache Übergänge bestehen. Innerhalb der einzelnen Gruppen war ich bestrebt, inhaltlich zusammengehörige Texte zusammenzustellen, aber auch Texte vom selben Sprecher möglichst beieinander zu belassen.

1.5.3

Zur verwendeten Transkription

Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Transkription richtet sich (auch in der Wahl der Zeichen) nach dem System der IPA aus; sie ist weit bzw. phonologisch. Da die Aufnahmen auf den CDs zugänglich sind, können phonetische Fragestellungen anhand von ihnen näher untersucht werden. Einige Besonderheiten der Transkription werden in diesem Abschnitt ausgewiesen. In den dokumentierten westjiddischen Dialekten gibt es (wie auch in den koterritorialen hochalemannischen Dialekten) keine stimmhaften Plosive (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 106); bei den mit b, d und g bezeichneten Phonemen handelt es sich um die Lenis-Varianten der entsprechenden stimmlosen Fortis-Plosive /p/, /t/, /k/; b, d und g stehen also für [b], [d] und [g]. Das Phonem /k/ wird vor Vokalen in betonter Silbe aspiriert realisiert (z.B. khats 'Katze'; vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 101). Im Prinzip handelt es sich bei dieser Aspiration um eine rein allophonische Erscheinung, doch da sie phonetisch ziemlich auffallig ist und da sich das Surbtaler Jiddische in Bezug auf dieses Phänomen vom Hochalemannischen unterscheidet (und Entlehnungen aus dem Hochalemannischen allenfalls nicht angepasst werden), wird die Aspiration in der Transkription bezeichnet. Bei den Fortis-Plosiven besteht eine gewisse Tendenz zur Lenisierung, wobei je nach Phonem unterschiedliche Positionen betroffen sind (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 96, 98, 101); in Bezug auf dieses Phänomen folge ich dem Höreindruck, was bedeutet, dass auch beim selben Sprecher und beim selben Lexem Schwankungen zwischen Fortis- und Lenis-Plosiv in der Transkription auftreten können. Bei den mit p f , ts und tf bezeichneten Verbindungen handelt es sich um Affrikaten; die velare Affrikate kx kommt im Hochalemannischen und selten auch in westjiddischen Sequenzen vor.

57 Wie die Plosive sind auch die Frikative (falls es sich bei den mit υ und j bezeichneten Phonemen nicht um Frikative handelt; vgl. unten) immer stimmlos; die mit ζ und ν bezeichneten Phoneme stehen für [z] und [v]. Da phonologisch nur in wenigen Positionen eine Opposition zwischen den Lenis-Frikativen /z, v/ und den entsprechenden Fortis-Frikativen /s, ff besteht, werden in den Positionen, in denen keine Opposition besteht, jeweils nur die Zeichen für die Fortis-Frikative verwendet, obwohl z.B. im Anlaut rein phonetisch der Lenis-Frikativ gerechtfertigt wäre. In der Transkription erscheint ζ somit nur inlautend nach Vokal und auslautend nach langem Vokal (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 99), und ν nur inlautend nach Vokal (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 96-97); in allen anderen Positionen erscheinen nur s und f . Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Frikative in gewissen Positionen, beispielsweise im Anlaut, phonetisch eher als Lenis-Frikative (Guggenheim-Grünberg 1958 spricht häufig von Halbfortes) realisiert werden: so steht in der Transkription beispielsweise anlautendes f- für [3]. Der Unterschied zwischen Fortis- und Lenis-Obstruenten äussert sich, vor allem in gewissen Positionen, durch eine längere Realisierung der Fortis-Obstruenten (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 96, 99); diese Erscheinung wird in der Transkription nicht eigens bezeichnet. Die Nasale m und η werden im Auslaut nach kurzem Konsonanten gelängt realisiert (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958; 103, 104); da diese Längung allophonisch ist, wird sie in der Transkription nicht bezeichnet. In wenigen Fällen konnten dagegen auch gelängte Nasale in anderen Kontexten (z.B. intervokalisch) festgestellt werden; in diesem Fall wird die Längung durch Verdoppelung des entsprechenden Zeichens wiedergegeben, wenn sie phonetisch besonders auffällig ist. In einigen Fällen wird ausserdem /l/ gelängt realisiert; auch hier wird diese Längung in der Transkription bezeichnet, wo sie phonetisch besonders auffallig ist. Für die behandelten westjiddischen Dialekte charakteristisch ist der alveopalatale Frikativ /q/; historisch entspricht dieses Phonem in den meisten Fällen dem deutschen i'c/j-Laut [ς] (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 100).31 Es existieren sowohl Minimalpaare mit /j"/ als auch mit /x/: /reqt/ 'recht' vs. /reJV 'Rest', /laict/ 'leicht' vs. /laij"t/ 'Leiste' (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 100); /minxa/ 'Nachmittagsgebet' vs. 31

Nach Guggenheim-Grünberg (1966: 7) ist dieser Laut "fast nur" in Lexemen der deutschen Komponente vertreten; tatsächlich kommt f auch in einigen wenigen Lexemen hebräischen Ursprungs vor, vgl. z.B. fidic 'vermittelte Ehe'.

58 /minQa/ 'München', /horga/ 'hören' vs. /borxas'kounom/ 'Priestersegen' (vgl. Guggenheim-Grünberg 1958: 100, LCAAJ 1: 39). Bei manchen Sprechern (v.a. aus dem Hegau) tritt gelegentlich auch der palatale Frikativ [9] auf, der dem Hochdeutschen entspricht (vgl. GuggenheimGrünberg 1961a: 16, Fussnote 1). Nach Guggenheim-Grünberg (1958: 100) wird /