Wahrgenommene Individualität: Eine Theologie der Lebensführung 9783666670176, 9783525670170, 9783647670171

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Wahrgenommene Individualität: Eine Theologie der Lebensführung
 9783666670176, 9783525670170, 9783647670171

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Edition Wege zum Menschen Herausgegeben vom Redaktionskreis der Zeitschrift „Wege zum Menschen“ Christiane Burbach, Wilfried Engemann, Jörn Halbe, Klaus Kießling, Hermann Steinkamp, Anne M. Steinmeier und Heribert Wahl Band 3

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Jochen Schmidt

Wahrgenommene Individualität Eine Theologie der Lebensführung

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Anna

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Inhalt

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Einleitung

13

Kapitel 1: Christliche Religion und die Lebensführung des Individuums

13 16 21

1. Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion 2. Geschöpfliche Freiheit 3. Schwierige Selbstverwirklichung

29

Kapitel 2: Übungen der Wahrnehmung

29 31 39

1. Achtung und Nächstenliebe 2. Liebe und Individualität 3. Die Verbindlichkeit der Achtung

44

Kapitel 3: Verwirkte Freiheit

44 50 67

1. Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten 2. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung 3. Organische Verlogenheit und Ideologie

72

Kapitel 4: Bedrückende Blicke

72 75 81

1. Scham 2. Leiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung 3. Das Bild, das wir abgeben

91

Kapitel 5: Vergebung

98

Literatur

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Namensregister

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Sachregister Inhalt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Einleitung

„Was für eine Chimäre ist der Mensch? Was für eine Novität, was für ein Monstrum, was für ein Chaos, was für ein Hort von Wider­sprüchen, was für ein Wunder? Richter über alle Dinge, einfältiger Erdenwurm, Hüter der Wahrheit, Kloake der Ungewissheit und des Irrtums, Ruhm und Abschaum des Weltalls.“1 In kräftigen Farben malt Blaise Pascal die Extreme menschlicher Existenz. Seine überragende theologische Leistung besteht darin, dass er seine Sicht auf die Größe und das Elend des Menschen nicht lediglich dogmatistisch behauptet, sondern durch feinsinnige Beobachtung der Menschenseele im Lichte der christlichen Tradition konkretisiert. Insofern sind seine Pensées  – jedenfalls der Intention nach – Vorbild für das theologische Nachdenken über Herausforderungen der Lebensführung: als Versuch, im Horizont der christlichen Tradition Klarheit zu gewinnen über Dinge, die Menschen in ihrem alltäglichen personalen Leben und Er­leben beschäftigen. Personales Leben besteht nicht ausschließlich, aber wesentlich aus Prozessen der Wahrnehmung von Individualität. Auf der einen Seite nehmen Personen die Möglichkeiten wahr, die ihre eigene Individualität ihnen bietet, auf der anderen Seite leben Individuen mit anderen Individuen zusammen, die ihrerseits angemessen wahrgenommen werden wollen und sollen. Die Wahrnehmung von Individualität als Herausforderung alltäglicher Lebensführung drängt sich im Zuge von historischen Individualisierungsprozessen mehr und mehr in den Vordergrund, ohne dass im selben Maße erkennbar wäre, wie diese Herausforderung sinnvoll angenommen werden kann. Wie individuelle Freiheit gestaltet werden kann, kann die individualisierte Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht sagen, nur dass sie dies zu tun hätten. Während 1 Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, übers. v. Ulrich Kunzmann, hg. v. Jean Robert Armogathe, Stuttgart 2010, 89 (Frg. 131 [Lafuma]/434 [Brunschvicg], Übers. geändert). Einleitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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der Mensch im Zuge von Individualisierungsprozessen aus traditionalen Bindungen entlassen wird, treten neue Zwänge auf.2 Der Mensch ist genötigt, sich selbst als Planungsbüro für seinen eigenen Lebensweg zu verstehen, und dies wird nunmehr in derselben Weise von ihm erwartet, wie in traditionalen Gesellschaften die Erfüllung etablierter Rollen erwartet worden war.3 Individualisierungsprozesse mag man denn auch wahlweise als Befreiung des Menschen zelebrieren oder als Überforderung des Menschen und als Ursache der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts beklagen.4 Nur rückgängig machen lassen sie sich nicht. Manche Vertreter postmodernen Denkens mögen es sich zum Ziel setzen, das Individuum zu Grabe zu tragen.5 Ihre Toterklärung durch die Postmoderne hat die Idee des Individuums weitgehend unbeschadet überstanden, auch wenn das Denken der Differenz in der Tradition Friedrich Nietzsches mit Nachdruck daran erinnert, dass Individuen fragil sind, unabgeschlossen im Sinne von fortwährend im Werden begriffen und in einem radikalen Sinne angewiesen auf andere Individuen.6 Individualisierung ernst zu nehmen führt nicht oder jedenfalls nicht notwendigerweise zu einer Idealisierung eines isolierten und selbstmächtigen Einzelnen, sondern lediglich zu der Einsicht, dass für das Nachdenken über Fragen der Lebensführung die Perspektive der ersten Person unhintergehbar ist. Der Theologie obliegt es zu fragen, was christliche Religion zu diesem Nachdenken des Menschen über sein Leben beitragen kann, und dieser Aufgabe sehen sich die hier vorgelegten Überlegungen verpflichtet.7 Betont sei gleich zu Beginn, dass 2 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 51986, 211 ff. 3 Vgl. ebd., 217; Hans-Martin Schönherr-Mann, Sartre. Philosophie als Lebensform, München 2005, 42. 4 Vgl. Wilhelm Gräb, Die religiöse Konstitution der Individualität, in: ders./ Lars Charbonnier (Hgg.), Individualität. Genese und Konzeption einer Leitkategorie humaner Selbstdeutung, Berlin 2012, 132–150. 5 Vgl. etwa Mark C. Taylor, Erring. A Postmodern A/Theology, Chicago 1984. 6 Vgl. Gianni Vattimo, Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, übers. v. Sonja Puntscher Riekmann, Wien 22005 (Edition Passagen 10). 7 Wenn im Folgenden von „Religion“ und „Theologie“ die Rede ist, dann ist in erster Linie an die christliche Religion und Theologie gedacht. Ob 10 

Einleitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

diese Konzentration auf das Individuum keinem Individualismus und schon gar keinem Isolationismus das Wort reden will. Das Nachdenken des Menschen über sich selbst hat nichts mit einer Selbstbegaffung des einsamen Individuums zu tun. Reflexion, das Auf-sich-Zurückkommen im Denken, ist kein weltabgewandtes Wühlen in der Seele, sondern Selbstwahrnehmung des Menschen im Horizont stattgehabten Welterlebens. Der über sich Reflektierende, so beschrieb Heidegger es einmal, bricht sich an etwas in der Welt (re-flectere), von wo aus ein Licht auf den Reflektierenden zurückfällt.8 Das Wechselspiel von Selbstsein und Miteinandersein, sowohl im Gelingen als auch im Misslingen von Lebensvollzügen, ist ein Leitmotiv all dessen, was im Folgenden entwickelt wird. Als Individuum zu leben bedeutet zunächst einmal, als einzelner Mensch etwas mit dem eigenen Leben anzufangen. Anfangenkönnen ist die Fähigkeit des Menschen, die eigene geschöpfliche Freiheit zur selbstbestimmten Lebensführung zu ergreifen. Individuelle Lebensführung gelingt, wenn ein Mensch eine Form für sein Leben findet, die dem entspricht, woran ihm liegt, und die denjenigen Menschen entspricht, an denen ihm liegt (Kapitel 1). Das Miteinander von Menschen gelingt, wenn sie einander so anblicken, dass sie ein Gefühl dafür gewinnen, in welcher je besonderen Art und Weise der jeweils andere Mensch sich eine Gestalt für sein Leben sucht und findet (Kapitel 2). Selbstsein und Gemeinschaft gelingen, wenn Individualität – eigene und fremde – wahrgenommen wird. Neben der Möglichkeit des Gelingens steht die Möglichkeit manifesten Scheiterns von Freiheit. Denn die Bedingungen des Gelingens der Lebensführung sind in hohem Maße fragil. Freiheit kann allzu leicht in Unfreiheit umschlagen. Die christliche Rede von der Sünde verleiht dieser Erfahrung einen bestimmten Ausdruck. Erfahrungen des Misslingens individueller Lebensvollzüge sind zwar gewiss nicht einfach mit dem gleichzusetzen, was in der christlichen Tradition als Sünde gilt. und inwieweit das Gesagte auch aus der Perspektive anderer Religionen und ihren Theologien Zustimmung finden kann, wäre im Einzelnen zu diskutieren. 8 Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Abt. II: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 1975, 226. Einleitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Wohl aber weist die Struktur dessen, was in der christlichen Rede Sünde genannt wird, signifikante Ähnlichkeiten mit der Struktur von Phänomenen der Selbsttäuschung und der Scham auf: Hier wie dort geht Freiheit unwillentlich, aber doch nicht unverschuldet verloren. Der Mensch scheitert unwillentlich, aber nicht unverschuldet an seiner individuellen Freiheit, wenn er in Unaufrichtigkeit, Selbsttäuschung und Verlogenheit erstarrt. Freiheit wird von außen zerstört, wenn Menschen unter den entwertenden Blicken anderer in Scham verfallen, wenn ein Mensch einem anderen durch seinen beschämenden Blick im äußersten Fall das Recht aberkennt, je dieses Individuum zu sein. Hier wie dort stehen Menschen neben sich, leben Menschen aneinander vorbei, gegen ihren eigentlichen Willen, jedoch nicht ohne ihr Zutun. Die christliche Rede von der Sünde kann so zur Erschließung von Deformationen individueller und gemeinschaftlicher Existenz beitragen (Kapitel 3 und 4). Dabei darf jedoch nie aus den Augen verloren werden, dass die Rede von der Sünde ihren Sinn nicht in der Diskreditierung des Menschen hat, sondern im Horizont der Hoffnung auf Vergebung – der Vergebung, die einen neuen Anfang eröffnet, indem sie den Menschen, so er nicht gut dasteht, von Neuem aufrichtet (Kapitel 5). Die Freiheit des Menschen, seine Verantwortung zur Wahrnehmung der Möglichkeiten und der Wirklichkeit seiner eigenen Individualität und der seines Nächsten, das Misslingen des Selbstseins im Scheitern an der eigenen Freiheit und schließlich die Hoffnung darauf, dass Menschen von ihren existentiellen Irrtümern und Verfehlungen erlöst werden können, bilden den Takt der folgenden Miniatur einer Theologie der Lebensführung.*9

* Christine Abel, Ann-Kathrin Armbruster, Anna Lina Becker, Jonathan Frommann, Christian Kettner, Martin Leutzsch und Rebecca Meier haben das Manuskript in verschiedenen Stadien seiner Entstehung durchgearbeitet. Ich danke allen Genannten herzlich für zahlreiche wichtige Hinweise und Anregungen. Jonathan Frommann, Christian Kettner und Jens Matthes danke ich überdies für die Anfertigung des Namens- und des Sachregisters. 12 

Einleitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

Kapitel 1: Christliche Religion und die Lebensführung des Individuums

1. Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion „Die moderne Idee der Freiheit“, so Peter Strasser, „besagt, dass der Mensch das Wesen ist, das kein Wesen hat.“1 Strasser stellt sich hier in eine lange Tradition des Nachdenkens über den Menschen, der zufolge der Mensch wesentlich unbestimmt ist und sich durch nichts so deutlich auszeichnet wie durch die Offenheit seines Daseins in der Welt.2 Wäre das In-der-Welt-Sein des Menschen nicht unbestimmt, dann gäbe es überhaupt kein Handeln, weil es keine Freiheit gäbe.3 Instinktgesteuerte Lebewesen – einmal angenommen, dass es so etwas tatsächlich gibt – handeln nicht, sondern bewegen ihre Gliedmaßen genau so, wie ihre Instinkte bzw. Triebe es ihnen vorschreiben. Ein solches Lebe­wesen scheint der Mensch nicht zu sein. Der Mensch ist wesentlich frei und wesentlich unbestimmt, da nicht von anderwärts her festgelegt ist, wie er zu leben hat. Ob der Unterschied zwischen Tier und Mensch qualitativ oder quantitativ zu bestimmen ist, ändert daran grundsätzlich nichts. Auch wenn in klassischen Entwürfen der philosophischen Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts der Unterschied von Tier und Mensch überzeichnet worden sein mag, und auch wenn die Willensfreiheit des Menschen von verschiedenen Seiten hinterfragt bzw. relativiert wird, bleibt doch die Beobachtung zutreffend, dass der Mensch sich durch ein hohes Maß an Offenheit und Unbestimmtheit auszeichnet, was 1 Peter Strasser, Über Selbstachtung, Paderborn/München 2009, 145. 2 Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, hg. v. Manfred S. Frings, Bonn 182010. 3 Vgl. Heidrun Hesse, Unbestimmtheit in der Orientierung zum Handeln. „Anwenden“ in Technik und Praxis, in: Werner Stegmaier (Hg.), Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt am Main 2005, 155–177, 155. Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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für Tiere wohl zumindest nicht in gleicher Weise gilt. Im Zuge von spätmodernen Individualisierungsprozessen verschärft sich die Unbestimmtheit und damit die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen, weil gesellschaftliche Institutionen, die in früheren Zeiten einmal Sinn garantierten, an Verbindlichkeit verlieren. Dies gilt auch für die Religion. Niklas Luhmann mag das anders sehen, wenn er schreibt: „Religion garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinns gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmte.“4 Mit einer solchen Erwartung aber wird Religion hoffnungslos überfordert. Weder ist aller Sinn bestimmt, noch gibt es etwas innerhalb der Grenzen unserer Welt, das mich annehmen ließe, aller Sinn sei bestimmbar. Sowohl die Religionstheorie als auch die Theologie sollten sich, wenn sie Herausforderungen alltäglicher Lebensführung in den Blick nehmen, auf solche Aussagen beschränken, die an der Wirklichkeit unserer Lebenswelt nicht zerschellen müssen. Theologie sollte im Horizont der christlichen Tradition zu einem tieferen Verstehen der Herausforderungen individueller Lebensführung beitragen – und nicht etwa die christliche Tradition als Antidot gegen die Nebenwirkungen kultureller Individualisierungsprozesse anpreisen. Theologie und Religion garantieren keine Bestimmbarkeit allen Sinns. Die christliche Religion kennt zwar Redeweisen, die im Angesicht von überwältigenden, vormaligen Sinn in Frage stellenden Erfahrungen Sinn neu entstehen lassen und so zu neuer Orientierung verhelfen können, dies jedoch eben nicht in der Weise, dass der sich in religiöser Erfahrung einstellende Sinn dem Dasein des Menschen eine ultimative Bestimmtheit verleihen würde. Überhaupt verstellt die Rhetorik der Letztgültigkeit eher den Blick auf den inneren Sinn religiöser Praxis, als dass sie helfen würde, Religion angemessen wahrzunehmen. Die christliche Religion ist eine Art und Weise, dem Erleben von Unbestimmbarem Ausdruck zu verleihen, etwa in der Klage oder im Lob, die den Takt des Psalters bilden.5 Religiöse Menschen haben eine Ah4 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt am Main 2002, 127. 5 Vgl. Claus Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 62011; Walter Brueggemann, The Psalms and the Life of Faith, hg. v. Patrick D. Miller, Minneapolis 1995. 14 

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nung, nach welchen Worten sie greifen können, wenn sie mit Unsäglichem zu tun bekommen.6 Die sich im Rückgriff auf die religiöse Tradition einstellende sprachliche Bearbeitung des Erlebens von Unbestimmbarem führt indes nicht notwendigerweise dazu, dass Unbestimmbares in einen Horizont letztgültiger Bestimmtheit gerückt würde. Vielmehr lässt sprachliche Bearbeitung einen stimmigen Ausdruck für das Erleben finden. Ein stimmiger Ausdruck ist keine letztgültige Deutung, sondern eine Sprachlösung, mit der wir einstweilen weiterleben können, mit der wir arbeiten, genauer: die Arbeit am Sinn des Erlebten fortsetzen können. Religion verortet also nicht Unbestimmbares in einem letztgültigen Sinnhorizont, indem sie Bestimmbarkeit garantiert. Religion setzt vielmehr die sprachliche Arbeit am Sinn des Erlebten erneut in Gang, wenn die Arbeit am Sinn ins Stocken gerät, weil das, was ein Mensch erlebt, ihm die Sprache verschlägt, sei es im Leid oder im Glück. Mit unsäglichem Elend, aber auch mit unbeschreiblichem Glück können Orientierungsprobleme einhergehen. Orientierungsprobleme treten auf, wenn uns für neue Situationen die Orientierungskompetenz fehlt, etwa weil wir – im Guten oder im Schlechten  – überwältigt werden von dem, was uns widerfährt. Religion ist nicht die Bereitstellung von neuer Orientierung, sondern Religion ist die Bereitstellung eines Raumes, innerhalb dessen Arbeit an der Neuorientierung angesichts des Fraglichwerdens vormaliger Orientierung geleistet werden kann. Nicht ein Sinnreservoire, sondern ein Sprachrepertoire hält die Religion vor.7 Der Sinn sprachlicher Zeichen ist weder vollkommen bestimmt noch vollkommen unbestimmt. Christliche Religion hat einen bestimmten Takt, eine bestimmte Grammatik, einen bestimmten Wortschatz. Grammatik, Lexikon und Stil der Religion imprägnieren die Arbeit an der Neuorientierung in einer bestimmten Art und Weise. Der Ertrag religiös imprägnierter Arbeit an der Selbstorientierung ist jedoch grundsätzlich offen. Religion schreibt nicht vor, welchen Sinn Ereignisse haben, 6 Vgl. Jochen Schmidt, Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens, Tübingen 2011 (RPT 58), 140 ff. 7 Vgl. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion?, in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004, 12–31, 26.  Unbestimmtheit, Orientierung und christliche Religion © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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nicht einmal, ob sie überhaupt einen Sinn haben. Unglück kann als gottgewollt, schier absurdes Glück als integriertes Moment der Geschichte eines Menschen mit Gott erscheinen. Unglück kann aber auch als Riss im Leben bleiben und Glück desintegriert in das Leben hineinragen wie aus einer anderen Welt. Religion schreibt nicht vor, was Erfahrungen bedeuten, sondern er­öffnet einen Raum, innerhalb dessen Menschen im Zuge des Hörens auf und des Nachdenkens über die christliche Tradition an ihrer Selbstorientierung im Leben arbeiten. Glauben bedeutet, in diesem Raum zu bleiben und sich an dem ‚festzumachen‘,8 was in diesem Raum erfahren wird, und an den als verbindlich erlebten Deutungen festzuhalten, die sich im Zuge religiöser Praxis einstellen.9 Religiös zu sein bedeutet, in den durch die Religion eröffneten Deutungsräumen eine Bleibe zu finden. Religion eröffnet die Möglichkeit bestimmter Deutungen von Erfahrungen in der Welt, etwa die Deutung der Freiheit als geschöpfliche Gabe, die Deutung der Ambivalenzen und des Verwirktseins von Freiheit als Erfahrung mit Sünde und die Deutung der Erlösung aus fulminanten Verstrickungen als Gabe der Vergebung. Die Art von Theologie, der sich dieser Essay verpflichtet sieht, ist eine Theorie der Arbeit am Sinn von Erfahrungen, die der Mensch im Zuge seiner Lebensführung mit sich selbst und mit anderen Menschen macht, und zwar näherhin eine Arbeit am Sinn von Erfahrungen, die sich im Horizont der christlichen Tradition vollzieht und daher religiös imprägniert ist.

2. Geschöpfliche Freiheit Religiöse Praxis überführt die Unbestimmtheit des Menschen nicht in einen Horizont letzter Bestimmtheit, sondern stellt die Arbeit am Sinn von Erfahrungen mit Unbestimmtem in einen re8 Das hebräische Verb ’aman (glauben) bedeutet in der grammatischen Form des Hiphil „sich festmachen“. 9 Vgl. Jochen Schmidt, Schwacher Irrationalismus. Theologie als Wissenschaft, in: ders./Heiko Schulz (Hgg.), Religion und Irrationalität. Historisch-Systematische Perspektiven, Tübingen 2013 (RPT 71), 255–266, v. a. 262 ff. 16 

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ligiösen Horizont. Mit der Unbestimmtheit seines Daseins hat der Mensch so oder so zu leben. Nun hat die für das Dasein des Menschen konstitutive Unbestimmtheit eine eminent positive Rückseite. Da die Bestimmung des Menschen nicht festgelegt ist, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass dem Menschen die Verantwortung für seine Lebensführung abgenommen wäre, ist der Mensch zur Selbstsetzung, oder vorsichtiger, zum Sich-Entwerfen bestimmt. Die Bestimmung des Menschen erscheint dann als Bestimmung zur freiheitlichen Selbstsetzung. Diese Vorstellung hat sich in verschiedenen, zunächst vor allem in christlichen Traditionen artikuliert. Origenes meint, der Mensch habe die durch seine Freiheit gemachte Natur.10 Gregor von Nyssa zufolge sind wir „gewissermaßen unsere eigenen Väter, indem wir uns selbst zeugen nach unserem Willen und aus eigenem Entschluss uns bilden nach dem Bild unseres Wollens“11. Nikolaus von Cusa meint, so wie Gott allmächtiger Schöpfer sei, sei der Mensch „eingeschränkter Ursprung der Schöpfung seiner Ordnung.12 „[W]ie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen […].“13 Prominent ist die Fortführung dieser Tradition 10 Vgl. Origenes, Commentarii in epistulam ad Romanos. Liber Septimus, Liber Octavus. Römerbriefkommentar. Siebtes und achtes Buch, lateinisch-deutsch, übers. u. eingel. v. Theresia Heither OSB, Freiburg im Breisgau 1994 (Fontes Christiani 2,4), 287 ff. (RomCom VIII,11); dazu: Theo Kobusch, Die Würde des Menschen  – ein Erbe der christlichen Philosophie, in: Rolf Gröschner/Stephan Kirste/Oliver Lembcke (Hgg.), Des Menschen Würde. Entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, Tübingen 2008 (Politika), 235–250. Origenes denkt hier allerdings in erster Linie an die Freiheit zum Guten oder zum Schlechten, zur Tugend oder zur Begierde. 11 Gregor von Nyssa, Der Aufstieg des Moses, übers. u. eingel. v. Manfred Blum, Freiburg im Breisgau 1963 (Sophia 4), 52 (Gregor von Nyssa, Opera, Bd. 7/1: Gregorii Nysseni De vita Moysis, hg. v. Herbert Musurillo, Leiden/New York 1991, S. 34 Z. 10 ff.); dazu: Theo Kobusch, Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie, 240; zur Freiheit als Signum der Gottebenbildlichkeit des Menschen bei Gregor von Nyssa vgl. Ulrich Volp, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der alten Kirche, Leiden/Boston 2006 (VigChr.S 81), 177. 12 Nikolaus von Kues, Mutmaßungen, lateinisch-deutsch, hg. v. Josef Koch u. Winfried Happ, Hamburg 1971, 173 (de coniecturis 14). 13 Nikolaus von Kues, Über den Beryll, lateinisch-deutsch, hg. v. Karl Bormann, Hamburg 42002, 9 (de beryllo 6). Geschöpfliche Freiheit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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beim Renaissancephilosophen Pico della Mirandola. Die Würde des Menschen, so Pico, liegt gerade in dessen Unbestimmtsein, nämlich darin, dass der Mensch „Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart“ ist.14 „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen“, so lässt Pico Gott sein Geschöpf anreden, „auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du aber wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen Willen, den ich dir überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“15 Es obliegt also in Picos Augen dem Menschen als geschöpflich-schöpferischem Ebenbild des Schöpfergottes, zu sein, was er sein will.16 Diese Offenheit und Unbestimmtheit lässt eine konstruktive Unruhe in das Sein des Menschen einziehen – eine Unruhe, die Pico nun anders als etwa Augustin positiv beurteilt.17 Es obliegt dem Menschen zu entdecken, welches Leben seiner eigenen Individualität entspricht, was das Menschsein für ihn bedeutet.18 In diesem Sinne spricht Friedrich N ­ ietzsche  – die Tradition Picos säkularisiert fortführend – vom Menschen als dem „noch nicht festgestellte[n] Thier“19. 14 Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen, lateinisch-deutsch, hg. v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997, 7: „indiscretae opus imaginis.“ 15 Ebd., 9.  16 Vgl. ebd., 12.  17 Vgl. Ernst Cassirer, „Über die Würde des Menschen“ von Pico della Mirandola, in: Agora. Eine humanistische Schriftenreihe 5 (1959), 48–61, 56. 18 Vgl. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 72011, v. a. 38. 19 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, hg. v. Giorgio Collin u. Mazzino Montinari, München 1999, 9–243, 81 (§ 62); ders., Nachgelassene Fragmente 1884–1885. Kritische Studien­ausgabe, Bd. 11, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 21988, 125 18 

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Wesentlich ungebunden ist der Mensch, und deshalb muss er sich selbst Gestalt, oder in Nietzsches Begrifflichkeit: Stil geben. „Eins ist Noth. – Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstle­ rischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran.“20 Man achte auf den Wortlaut dieser Formulierungen. Dem eigenen Leben Stil zu geben ist kein Akt weltentrückter Spontaneität, als könnte der Mensch in das gewählte Selbst einfach hineinspringen. Selbstgestaltung ist ein mühsamer Aufstieg des Menschen zur Höhe seiner eigenen Möglichkeiten. „[W]er einst fliegen lernen will, der muss erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: – man erfliegt das Fliegen nicht!“21 Wie ein Bildhauer muss der Mensch sein Selbst in ge­ duldiger Arbeit freischlagen.22 Weil der Mensch nicht von außen bestimmt ist, muss er sich selbst bestimmen und in gewisser Weise auch selbst erschaffen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch sein Bedingtsein einfach überspringen oder in Kunst auflösen könnte,23 auch wenn ­Nietzsche das gelegentlich suggeriert. Die schöpferische Freiheit des Menschen entfaltet sich innerhalb der Grenzen geschöpflicher Freiheit. Un(NF-1884,25[428]); ders., Nachgelassene Fragmente 1885–1887. Kritische Studienausgabe, Bd. 12, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 21988, 72 (NF-1885,2[13]). 20 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, 343– 651, 530 (Nr. 290). 21 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1999, 244 (III Vom Geist der Schwere § 2). 22 Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882. Kritische Studienausgabe, Bd. 9, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 21988, 361 (NF-1880,7[213]): „[…] [U]ns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufgabe! Immer die eines Bild­ hauers!“ 23 Vgl. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998, 74 f. Geschöpfliche Freiheit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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bestimmtheit nötigt zur Selbstentfaltung, aber diese Selbstentfaltung ist den Bedingungen unterworfen, unter denen ein Mensch zu leben hat. Der Mensch steht nie an einer Stunde null: Anfangenkönnen ist zwischen Freiheit und Bedingtsein eingespannt. Der Mensch wird hineingeboren in ein Netzwerk von Beziehungen. Ehe der Mensch irgendetwas anfangen kann, hat sein Leben bereits angefangen; ehe er sein Leben gestalten kann, hat sein Leben bereits eine erste Gestalt und Prägung erhalten, die er annehmen oder ablehnen, aber eben nicht umgehen kann. Zugleich ist der Mensch das Wesen, das einen eigenen Anfang setzen kann. Der Mensch wird zwar immer in eine Geschichte hineingeboren, die bereits für ihn begonnen hat, aber er webt eben seine eigenen Fäden in das Geflecht aus Beziehungen, in dem er aufwächst.24 Wenn etwas angefangen wird, dann hat es paradoxerweise immer bereits angefangen. Im Midrasch wird erzählt, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, das Alef, führe eine Klage darüber, dass die Tora nicht mit ihm, dem Alef, beginne, sondern mit dem zweiten Buchstaben des Alphabets, dem Bet: „Im Anfang (ber’ēŝīt) schuf Gott Himmel und Erde.“ Hiergegen lässt der Midrasch das Alef protestieren: „Herr der Welt! Ich bin der erste Buchstabe, und du hast deine Welt nicht mit mir erschaffen!?“25 In diesem Kommentar zum ersten Schöpfungsbericht artikuliert sich die fundamentale Einsicht, dass wir uns beim Beginn nicht am Anfang befinden, dass wir keinen Zugriff auf einen aller­ersten ursprünglichen Anfang haben, weil immer schon etwas angefangen hat, wenn wir etwas beginnen. „Das Von-vorn-Anfangen ist unser Schicksal. Mit jeder eigenen Tat nehmen wir uns etwas heraus, das tatsächlich schon lange angefangen hat. Für jedes Indi24 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 72008, 226. 25 Midrasch Bereschit Rabba Par. I., Cap. I,1 (Der Midrasch Bereschit Rabba, das ist die haggadische Auslegung der Genesis. übertr. v. August Wünsche, mit einer Einleitung von F.[J.] Fürst. Noten u. Verbesserungen v. J. Fürst u. O. Straschun, u. Varianten v. M. Grünwald, Leipzig 1880 [Nachdr. 1993] (Bibliotheca Rabbinica 1), 5), dazu: Jürgen Ebach, Die Bibel beginnt mit „b“. Vielfalt ohne Beliebigkeit, in: ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, NeukirchenVluyn 1997, 85–114, v. a. 90 f.; Günter Bader, Volksklage, in: ders., Buchstabenpredigten. Aus der Bonner Universitätskirche (1995–2007), Rheinbach 2009, 34–37, 34 f. 20 

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viduum ist alles irgendwann das erste Mal: die ersten Zähne, die erste Reise, der erste Kuß. Irgendwann fängt man auch selbst zu denken an. Doch was man denkt, ist in der Regel schon milliardenfach von anderen gedacht.“26 Wir haben keinen Zugang zu einem reinen, ersten Anfang oder Ursprung, und doch fangen wir Dinge an. Darin, dass wir anfangen können, liegt unsere Freiheit und Verantwortung. Wenn ein Mensch zur Welt kommt, findet er sich auf der Bühne des Lebens vor, auf der ein Stück im Gang ist, das er noch nicht kennt.27 Und doch: Der Mensch wehrt sich dagegen, nur bedingt zu sein; er geht davon aus, dass er inmitten seiner Bedingtheit etwas anfangen kann. Handeln, überhaupt das eigene Leben führen, bedeutet, sich in einem Beziehungsgewebe bereits vorzufinden, und zugleich an dieser jeweiligen Stelle, an der man sich vorfindet, etwas Neues anzufangen und das Beziehungsgewebe weiterzuflechten, indem man als Co-Autor der eigenen Lebensgeschichte eigene Geschichten hervorbringt.28 Womit ich etwas anfangen kann und womit nicht, darüber verfüge ich nicht, denn ich kann nur sehr bedingt darüber entscheiden, was mich bewegt und berührt und was mich kalt lässt. Aber ob und wie ich etwas anfange, was ich mit mir anfange, das entscheide ich sehr wohl.

3. Schwierige Selbstverwirklichung Nun mag diese Rede davon, dass wir etwas mit uns anfangen, recht vage und gefällig klingen. Nehmen wir uns daher einen spröden und umstrittenen Ausdruck vor, der dazu nötigt, genauer zu entfalten, was es bedeutet, etwas mit sich anzufangen. In der 26 Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, 13. 27 Vgl. Jerome S. Bruner, Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns, Heidelberg 1997, 51 f. Zur Vorgeschichte dieses Bildes in der Stoa vgl. Epiktet, Handbüchlein der Moral. Griechisch/deutsch, hg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart 2001, 25 (ench. 17). 28 Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, übers. v. Jean Greisch, München 1996, 198; Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002, 285. Schwierige Selbstverwirklichung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Rede von der Selbstverwirklichung artikuliert sich das Bestreben, dass ein Mensch eine stimmige Gestalt für sein Leben findet, allerdings stellt der Ausdruck Selbstverwirklichung vor erhebliche denkerische und existentielle Herausforderungen. Grundsätzlich bedeutet Selbstverwirklichung „die wesensadäquate Entfaltung oder Aktualisierung von Anlagen.“29 Nun lässt sich auf verschiedene Weise von diesem Vorgang der Entfaltung oder Aktualisierung von Anlagen sprechen, und die Vorstellungen, was dem Wesen des oder eines Menschen adäquat sei, gehen weit auseinander. Gemeint sein können die Anlagen des Menschen überhaupt oder die je individuellen Anlagen je eines einzelnen Menschen; die Entfaltung dieser Anlagen kann als automatischer oder als selektiver und kreativer Prozess gedacht werden. In der Tradition Platons, Aristoteles’ und Hegels wird Selbstverwirklichung universalistisch verstanden: Selbstverwirklichung meint hier die Verwirklichung der universalen Bestimmung des Menschen, die jedem Menschen in seinen Anlagen mitgegeben ist. Bei Aristoteles manifestiert sich diese Selbstverwirklichung im gelungenen Dasein (eudaimonia),30 in dem das Vernunftvermögen und damit gleichsam die Idee des Menschen überhaupt verwirklicht wird.31 Die Maßstäbe dieses Gelingens setzt das Individuum demnach nicht, es findet sie immer bereits als Mitgift vor, die es durch Einübung zu kultivieren gilt. Anders verhält es sich mit der psychologisch geprägten Tradition, etwa bei Carl Gustav Jung, Erich Fromm und Carl Rogers.32 Hier meint Selbstverwirklichung, dass der Mensch sein individuelles, je einzigartiges Selbst verwirklicht. Wenn der Mensch das Wesen ist, das kein Wesen hat, dann bedeutet Selbstverwirklichung, dass der Mensch sein Wesen zugleich entdeckt 29 Gerd Gerhardt, Art.  Selbstverwirklichung, in: HWP 9 (1995), 556–560, 556; vgl. Dagmar Fenner, Das gute Leben, Berlin/New York 2007, 91 ff. 30 Vgl. zur Übersetzung von eudaimonia als „gelungenem Dasein“ Anselm Winfried Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, Freiburg im Breisgau 1982 (Reihe Praktische Philosophie 14), 138 f. 31 Vgl. Gerd Gerhardt, Kritik des Moralverständnisses. Entwickelt am Leitfaden einer Rekonstruktion von ‚Selbstverwirklichung‘ und ‚Vollkommenheit‘, Bonn 1989, v. a. 110. 32 Vgl. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, in: ders., Gesamtausgabe. In zwölf Bänden, Bd.  1:  Analytische Sozialpsychologie, hg. v. Rainer Funk, Stuttgart/München 1999, 217–392, v. a. 279, 367 f., 374. 22 

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und in Freiheit bestimmt. In diesem letzteren Sinn ist der Begriff Selbstverwirklichung seit den 1970er Jahren zu einem gesellschaftspolitischen Schlagwort geworden. Jetzt sind es die individuellen Anlagen, die verwirklicht werden sollen, und nicht die jedem Menschen gleichen Anlagen. Als wesensadäquat gilt folglich dasjenige, was dem individuellen Wesen einer einzigartigen Person entspricht. Die Verwirklichung des individuellen Selbst wird angestrebt gerade im Gegenüber zu den Erwartungen, die die Gesellschaft an ihre Mitglieder richtet. Ein in dieser Weise motiviertes Streben nach Selbstverwirklichung hat dann gerade von Seiten prominenter Theologinnen und Theologen teils leidenschaftliche Kritik auf sich gezogen.33 Der Ruf nach Selbstverwirklichung wird als Aufruf zur Selbstermächtigung angesehen. Eberhard Jüngel und Wolfhart Pannenberg sind gar der Auffassung, das auf die Ganzheit des eigenen Seins gerichtete Streben nach Selbstverwirklichung sei Inbegriff der Sünde, nämlich des Willens, zu sein wie Gott.34 Es gelte, das Leben als Gabe zu empfangen, anstatt selbstmächtig über das eigene Leben zu verfügen.35 Ideengeschichtlich gesehen mag es durchaus zutreffen, dass am Ursprung des Aufstiegs der Selbstverwirklichung zur prägenden Idee der abendländischen Kultur eine Autonomi-

33 Vgl. Christiane Tietz, Art. Selbstverwirklichung, in: RGG4 7 (2004), 1175– 1176, 1176; Michael Beintker, Selbstverwirklichung in der Spannung von humanwissenschaftlicher Anthropologie und Rechtfertigungslehre, in: ders., Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundungen, Tübingen 1998, 80–94. 34 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, v. a. 227; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992, 244; ders., Der menschliche Mensch. Die Bedeutung der reformatorischen Unterscheidung der Person von ihren Werken für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990 (BEvTh 107), 194–213, 199, 212. 35 Vgl. Reiner Preul, „Bestimmung des Menschen“ – wie lässt sich heute darüber reden?, in: Christian Polke/Frank Martin Brunn/Alexander Dietz/ Sibylle Rolf/Anja Siebert (Hgg.), Niemand ist eine Insel. Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik, Berlin 2011 (TBT 156), 487–508, 496 f. Schwierige Selbstverwirklichung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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sierung des Subjekts liegt.36 Und Freiheit hat in der Tat, wie noch deutlicher werden wird, einen ambivalenten Charakter. Die exklusive Alternative zwischen Selbstmächtigkeit und einem Leben aus Glauben wird allerdings dem nicht gerecht, was Selbstverwirklichung bedeuten kann. Dass Selbstverwirklichung glücken darf, kann für den religiösen Menschen gerade eine Erfahrung unverfügbarer göttlicher Gnade sein. Nuancierter ist die Problemanzeige Gerhard Ebelings, in der deutlich wird, was Selbstverwirklichung zu denken aufgibt: „Was im gewöhnlichen Verständnis mit dem Schlagwort Selbstverwirklichung gemeint ist, bleibt oft hinter dem Streben nach Selbstentfaltung durch harte Bildungsarbeit weit zurück und begnügt sich mit dem Traum eines möglichst ungehemmten Sichauslebens. Aber gerade dann, wenn der Gedanke der Selbstverwirklichung streng und anspruchsvoll gefaßt wird, führt er in ein unauflösliches Dilemma. Wann hätte der Mensch je sich selbst verwirklicht? Auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit, auf dem Kulminationspunkt seiner beruflichen Laufbahn, auf dem Gipfel des Glücks? Es wäre eine törichte Illusion, für die Gebrechlichkeit und Flüchtigkeit solcher Lebensmomente den Begriff der Vollendung in Anspruch zu nehmen.“37 Trivial ist offensichtlich die Vorstellung, Selbstverwirklichung bestünde darin, dass der Mensch sich verwirklicht, indem er seine Umweltgebundenheit und Abhängigkeit von sich weist und sich der Übernahme einer Rolle in der Gesellschaft kategorisch verweigert. Wer sich von seiner Umwelt losreißt, zerstört die Bedingungen, unter denen er sich zu verwirklichen hätte.38 Wenn der Mensch etwas mit sich anfängt, dann tut er das immer unter den Bedingungen, in denen er sich vorfindet, in dem sozialen Umfeld, in dem er lebt. Eine positive Freiheit zur Selbstverwirklichung kann nicht darin bestehen, dass der Mensch die Gegebenheiten seiner Existenz überwindet, so als wären diese Gegebenheiten bloß Hindernisse, die der Entfaltung seiner selbst im 36 Vgl. Magnus Schlette, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt am Main 2013, 186. 37 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Dritter Teil: Der Glaube an Gott den Vollender der Welt, Tübingen 31993, 37 f. 38 Vgl. Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge, Mass. 1991, 35. 24 

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Wege stünden. Anspruchsvoll verstanden wäre der Begriff Selbstverwirklichung, wenn in ihm durchdacht würde, was genau im Menschen geschieht, wenn er sich verwirklicht, und worin ein Maßstab für das Gelingen von Selbstverwirklichung bestehen könnte. Ebeling spricht – hierin ganz ähnlich wie Nietzsche – von einer harten Bildungsarbeit. An dieser Stelle entsteht allerdings ein weiteres gravierendes Problem. Selbstverwirklichung scheint, so Gerhard Ebeling, etwas zu sein, das sich möglicherweise nicht erreichen lässt, weil Augenblicke vermeintlichen Gelingens der Selbstverwirklichung flüchtig sind, weil sich kaum sagen lässt, wann der Mensch sich denn verwirklicht habe. Also nochmals: Wie lässt sich Selbstverwirklichung denken, wenn mit dem Ausdruck mehr gemeint sein soll als lediglich ein Sich-Losreißen von der Umwelt, mehr als ein Verneinen der Gegebenheiten der Existenz? Worauf zielt diese Bildungsarbeit am Selbst, von der Nietzsche und Ebeling auf je ihre Weise sprechen? Selbstverwirklichung ist Verwirklichung des Selbst durch das Selbst. Offensichtlich ist es jedoch nicht leicht, sich das vorzustellen. Denn das Selbst nimmt im Vorgang der Selbstverwirklichung zwei Rollen ein, die augenscheinlich miteinander kollidieren. Das Selbst ist sowohl Subjekt als auch erst noch zu verwirklichendes Objekt der Selbstverwirklichung. Selbstverwirklichung ist zum einen eine Verwirklichung, die durch das Selbst als Subjekt vollzogen wird; im Zuge der Selbstverwirklichung wird jedoch zum anderen das Selbst überhaupt erst noch verwirklicht. Selbstverwirklichung scheint demnach zirkulär zu sein. Denn einerseits muss das Selbst am Anfang des Vorgangs der Selbstverwirklichung bereits da sein, wenn es als Subjekt des Vorgangs der Selbstverwirklichung auftreten soll. Auf der anderen Seite wird das Selbst durch die Selbstverwirklichung als Produkt dieses Vorgangs überhaupt erst hervorgebracht, denn es wird ja erst verwirklicht. Wie aber kann das Selbst bereits vor der Selbstverwirklichung da sein, wenn es doch erst im Zuge seiner Selbstverwirklichung wirklich wird? Wenn das Selbst erst noch verwirklicht werden soll, dann scheint darin zumindest implizit das bereits jetzt in welcher Weise auch immer daseiende, aber seiner Verwirklichung noch harrende Selbst abgewertet zu werden. Es scheint, dass das Selbst des nach Selbstverwirklichung strebenden Menschen nur der Möglichkeit nach existiert, als ein unwirkSchwierige Selbstverwirklichung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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liches, uneigentliches Selbst, dessen eigentliche Verwirklichung eben noch aussteht.39 So treibt der Versuch, den Gedanken einer Freiheit des Menschen zu sich selbst im Horizont des Begriffs Selbstverwirklichung genauer zu entfalten, das Denken in die Enge. Auf der Suche nach einem Ausweg findet sich vielleicht ein tieferes Verständnis dessen, was es bedeutet, dass Menschen etwas mit sich anfangen. Ich orientiere mich an Überlegungen des US-amerikanischen Moralphilosophen Alan Gewirth. Unsere Natur, so Gewirth, gibt uns diffuse, unbestimmte Kräfte mit auf den Weg. Während einige stärker sein mögen als andere, können wir uns entscheiden, welche wir verwirklichen möchten und welche nicht.40 Selbstverwirklichung wird demnach vollzogen, wenn die tiefsten Bedürfnisse und die nach unserem eigenen Urteil besten oder wichtigsten Anlagen unserer selbst erfüllt werden. Der Mensch urteilt und wählt in Freiheit, welchen seiner Wünsche in Bezug auf sich selbst er in welcher Weise tätig nachgeht, und auf diese Weise macht der Mensch sich zu dem, was er ist. Es wäre absurd zu erwarten, dass in der Selbstverwirklichung alle Anlagen und Möglichkeiten des Selbst verwirklicht würden, und es wäre gleichzeitig unbefriedigend, Selbstverwirklichung als einen automatischen Vorgang zu denken, in dem das in einem Menschen Angelegte zum Austrag kommt wie der Keim in einer wachsenden Pflanze. Sinn macht Selbstverwirklichung nur, wenn man sie als selektiven Vorgang denkt.41 Der Mensch wählt nicht einfach sich selbst, wie Kierkegaard augenscheinlich meinte,42 sondern der Mensch

39 Vgl. Dieter Thomä, Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a. M. 32003, 275 ff. 40 Vgl. Alan Gewirth, Self-Fulfillment, Princeton 1998, 13 ff. 41 Vgl. Hans Krämer, Selbstverwirklichung, in: Günther Bien (Hg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, 21–43, 29.  42 Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder. Teil I und II, übers. v. Heinrich Fauteck, hg. v. Hermann Diem u. Walter Rest, München 2005; vgl. gegen diese Lesart Kierkegaards Karin Pulmer, Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierke­gaards „Entweder-Oder“, Frankfurt am Main 1982 (Deutsche Sprache und Literatur 527); Achim Kinter, Rezeption und Existenz. Untersuchungen zu Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1991 (Texte und Untersuchungen zur Ger26 

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entscheidet sich, bestimmten Wünschen in Bezug auf sich selbst nachzugehen und anderen nicht. Bei dieser Entscheidung für und gegen bestimmte Wünsche handelt es sich um eine Entscheidung auf zweiter Ebene. Gewirth greift hier auf das Modell hierarchischen Wünschens zurück, das zwischen einem Wunsch auf der einen Seite und dem Willen (bzw. der „Volition zweiter Ordnung“) auf der anderen Seite unterscheidet.43 Ein Wunsch richtet sich auf etwas, das in einem jeweiligen Augenblick begehrt wird, eine Volition zweiter Ordnung ist der Wille, eine bestimmte Art von Person zu sein oder eine bestimmte Art von Leben zu führen. Inhalt einer Volition zweiter Ordnung ist also etwa ein Selbstentwurf, eine Vorstellung davon, als was für ein Selbst jemand leben möchte. Eine solche Vorstellung entsteht selbstverständlich nicht aus dem Nichts, sondern ist inspiriert von vorfindlichen Lebensentwürfen, die wir uns aneignen, indem wir sie auf je unsere individuelle Art und Weise weiterdenken und im Zuge unserer Selbstverwirklichung ständig weiterentwickeln. Gelingendes Selbstsein bedeutet, dass wir unsere Freiheit, etwas anzufangen, ergreifen, indem wir im Horizont eines Selbstentwurfs an uns bzw. auf uns hin arbeiten.44 Gelingen beinhaltet dabei nicht, dass alles im Leben nach einem umgreifenden Plan verläuft, oder dass alles Ungeplante einem jeweils neuen Plan unterworfen wird. Eine solche totalitäre Vorstellung von gelingendem Leben, in der das einsame, selbstmächtige Ich über alles in seinem Leben zu verfügen und jedem Ereignis seinen festen Platz zuzuweisen hat, könnte in der Tat zu einer Tyrannei entarten, wie manche Kritiker des Strebens nach Selbstverwirklichung befürchten.45 Dass sich alles einem Lebens- und Selbstentwurf fügen soll, ist in der Vorstellung von gelingendem Leben keineswegs impliziert. Zum Gelingen gemanistik und Skandinavistik 26); Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, Berlin/New York 2006 (KSMS 14). 43 Vgl. Harry G. Frankfurt, Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: ders., Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. Monika Betzler u. Barbara Guckes, Berlin 2001 (Polis), 65–83. 44 Vgl. Dagmar Fenner, Das gute Leben, 98; Annemarie Pieper, Glückssache. Die Kunst gut zu leben, München 2003, 27 f. 45 Vgl. Gunda Schneider, Überlegungen zur Identität des Sünders, in: NZSTh 20 (1978), 237–252; Gunda Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002. Schwierige Selbstverwirklichung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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hört nicht nur das Erfülltwerden von Erwartungen, sondern gerade auch das Überraschtwerden von unerwarteten Entwicklungen und Ereignissen.46 Keineswegs also entwertet derjenige seine eigene Gegenwart, der nach Selbstverwirklichung strebt. Gelingendes Selbstsein bedeutet, dass wir uns in dem, was sich aus unserem Anfangen  – mitunter überraschenderweise  – entwickelt, wiedererkennen und ständig neu zu verstehen lernen. Demgegenüber ist die Erfahrung, dass wir uns in dem, was aus uns geworden ist, nicht wiederzuerkennen vermögen, eine Erfahrung der Selbstverfehlung,47 die sich darin artikuliert, dass wir über einen Ausschnitt unseres eigenen Lebens sagen: ‚das bin doch nicht ich‘. Leidvoll erfahren wird die Selbstverfehlung, wenn sie Beziehungen zwischen Menschen scheitern lässt,48 so wie auch im Positiven das Streben nach der Selbstverwirklichung des Individuums alles andere als solipsistisch ist. Gelingendes Selbstsein und gelingendes Miteinandersein, das Wahrnehmen der eigenen Individualität und die Wahrnehmung der Individualität des anderen sind im Guten und im Schlechten aufs Engste verwoben, wie im Folgenden deutlich werden soll.

46 Vgl. Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt am Main 1999, v.a 112 ff. 47 S. u. Kap. 3. 48 S. u. Kap. 4. 28 

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Kapitel 2: Übungen der Wahrnehmung

1. Achtung und Nächstenliebe „Denke und handle so, dass dir niemals die Achtung vor dir selber verloren gehe.“1 Der berühmte Philosoph und Psychologe aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende Wilhelm Wundt spielt hier nicht nur der Form nach auf Kants kategorischen Imperativ an. Er bewegt sich auch gedanklich im Sog der Kant’schen Moralphilosophie, deren Kraftzentrum in der Fähigkeit des Menschen liegt, das vor dem Forum der Vernunft als richtig Erkannte zu tun. Die Selbstachtung und die Achtung des anderen sind bei Kant auf das Engste miteinander verbunden, beide entspringen der vernünftigen Einsicht in das moralisch Gute.2 Aus Achtung vor uns selbst, die wir uns von unserer Vernunft leiten lassen können, handeln wir gegenüber uns und gegenüber dem anderen Menschen so, wie es uns und dem anderen als Vernunftwesen gebührt. Wir nehmen den anderen so ernst wie uns selbst, und wir nehmen den anderen in die Pflicht wie uns selbst, indem wir vom anderen erwarten, dass er sich und jedem, der ihn dazu auffordert, auf­ richtig Rechenschaft gibt über die Gründe, aus denen er handelt, über die Maxime seines Willens, von der er sich leiten lässt. Aus Achtung erwarten wir von uns selbst und vom anderen, dass wir voreinander zu uns, zu unseren Empfindungen und Überzeugungen, und zueinander stehen. Unsere bejahende Haltung uns selbst gegenüber bliebe blass, wenn sie nicht im achtungsvollen Umgang mit anderen Menschen zur Geltung käme.3 Aus Achtung vor uns selbst und vor dem anderen tragen wir Sorge für das Wohlbehaltensein und Wohlergehen unserer selbst und unserer Mit1 Wilhelm Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 1886, 478. 2 Vgl. Thomas E. Hill, Self-Respect Reconsidered, in: Robin S. Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, 117–124. 3 Vgl. Falk Bornmüller, Selbstachtung. Anspruch und normative Geltung affirmativer Selbstverhältnisse, Berlin/Boston 2012, 228 ff. Achtung und Nächstenliebe © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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menschen. In Kants Moral der Achtung findet das biblische Gebot der Nächstenliebe eine bestechende Fortschreibung.4 Bestechend nicht nur, weil Selbstachtung und die Achtung des anderen aufs Engste verbunden sind, so wie ja auch Selbstliebe und Nächstenliebe in einem engen Zusammenhang stehen, sondern auch, weil beide ausnahmslos und unbedingt gefordert werden können – so wie die Nächstenliebe auch die Feindesliebe mit einschließt.5 Ob wir eine innere Neigung zur Achtung oder gar Sympathie gegenüber dem zu achtenden Menschen verspüren – ob uns danach ist, dem Feind mit Nächstenliebe zu begegnen  –, spielt keine Rolle. Achtung gilt aus Sicht der Kant’schen Moralphilosophie jedem Menschen als einem beliebigen Exemplar der vernunftbegabten Gattung Mensch, der als solcher Würde zukommt, Gefühle hin oder her. Nicht das andere Individuum, sondern die Menschheit in der Person des anderen Menschen ist Gegenstand der Achtung.6 Und so ist auch jedem Menschen mit jenem tätigen Wohlwollen zu begegnen, das Kant als Übersetzung der Nächstenliebe versteht: „Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander, man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst.“7 Praktische Nächstenliebe manifestiert sich in Taten zum Wohle des anderen Menschen. Motiviert sind diese Taten der praktischen Nächstenliebe durch die von der Vernunft gebotene Achtung des anderen Menschen, nicht durch das, was Kant pathologische, d. h. emotional empfundene Liebe nennt. Denn „es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden blos auf Befehl

4 Die Nächstenliebe nimmt im Judentum und dann im Christentum einen besonderen Stellenwert ein, dies gilt freilich auch für andere religiöse Traditionen. Vgl. die Textbeispiele aus den Altägyptischen Weisheitslehren, der chinesischen Ethik und dem Koran in Otfried Höffe (Hg.), Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, München 52012, 31 (Nr. 5), 53 (Nr. 31) und 63 (Nr. 39). 5 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Bernd Kraft u. Dieter Schönecker, Hamburg 1999, 18 (AA IV 399). 6 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd.  2:  Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, hg. v. Bernd Ludwig, Hamburg 22008, 74 (AA VI 435). 7 Ebd., 96 (AA VI 450 f.). 30 

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zu lieben“8, wohl aber steht es in des Menschen Vermögen, kraft seiner Vernunft die moralischen Ansprüche des anderen Menschen anzuerkennen. Bei Kant sind Achtung und Nächstenliebe dem guten Willen und der Vernunft freibleibend von den Kursschwankungen der Empfindungen stets und gegenüber jedem Menschen in gleicher Weise erschwinglich. Jemanden zu achten bedeutet zu erkennen und tätig anzuerkennen, dass dem anderen Menschen als einem Repräsentanten der vernunftbegabten Menschheit Achtung gebührt. Bestechend daran ist, dass Achtung niemandem verwehrt werden kann, unbefriedigend ist, dass Achtung nichts mit der je einzelnen Person als einzigartiger Person zu tun haben kann. Unbefriedigend ist dies jedenfalls dann, wenn ein Mensch um je seinetwillen, um seiner Besonderheit willen geachtet zu werden wünscht und nicht allein aus dem Grund, dass er ein Exemplar der Gattung Mensch ist. Allzu genau, so Kant, sollen Menschen einander gar nicht in ihrer je individuellen Besonderheit zu sehen bekommen: „Man muß sich seinem besten Freunde nicht so entdecken, als man natürlich ist und sich kennt, denn sonst würde das ekelhaft sein.“9 Im Anschluss an Kant, aber zugleich über Kant hinausgehend möchte ich vorschlagen, Achtung und Nächstenliebe als Übungen der Wahrnehmung der je besonderen Würde des anderen Individuums zu beschreiben.

2. Liebe und Individualität Das Miteinander von Menschen gelingt, wenn Menschen einander wirklich wahrzunehmen vermögen. Achtung gründet in dem, was Iris Murdoch als wirkliches Hinschauen bezeichnet.10 Was aber sehen wir, wenn wir einen anderen Menschen wahrnehmen, wenn wir wirklich zu ihm hinschauen und auf ihn achten? Sehen wir ein Individuum in seiner Einzigartigkeit, oder 8 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Horst D. Brandt u. Heiner Klemme, Hamburg 2003, 112 (AA V 83). 9 Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hg. v. Gerd Gerhardt, Frankfurt am Main 1990, 222. 10 Vgl. Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, London 2010, 76. Liebe und Individualität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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sehen wir durch die individuelle Gestalt des Menschen hindurch auf das wahre Wesen des Menschen, das sich in verschiedenen Individuen verschieden manifestiert?11 Wie bereits angedeutet erscheint mir die Annahme, dass Achtung dem Menschen als Exemplar der Gattung Mensch gilt, unzureichend zu sein. Wir wollen als Individuen wahrgenommen werden und nicht als Exemplare einer Gattung, und wenn wir anderen Menschen begegnen und Achtung für sie empfinden, dann achten wir den anderen Menschen in seiner Einzigartigkeit. Wenn wir einen Menschen achten, dann sehen wir ein Individuum, das sein Leben gestaltet, und wir fühlen Achtung vor der einzigartigen Würde dieses Individuums, vor der je besonderen Art und Weise, in der ein Mensch das für sich tut, was jeder Mensch tut  – das eigene Leben gestalten, etwas mit sich anfangen.12 Indem ein Mensch sich gestaltet, verwirklicht er einen universellen Wert, nämlich eben den Wert der Freiheit zum individuellen Selbstsein. Aber nicht dieser universelle Wert ruft in uns das Gefühl der Achtung hervor, sondern die Art und Weise, wie je dieses Individuum diesen universellen Wert verwirklicht. Es ist die einzigartige empirische Gestalt des anderen Menschen, die uns zu einem Gefühl der Achtung nötigt, und nicht der universelle Wert, der sich in dieser Gestalt abformt. Würde in diesem Sinn des Wortes kommt dem jeweiligen Menschen in seiner Einzigartigkeit zu  – nicht also weil der Mensch sich selbst dem vernünftig einsehbaren universalen Gesetz kraft einer selbstbestimmten Entscheidung unterwirft, sondern weil er auf einzigartige Art und Weise seine individuelle Gestalt fortwährend sucht, verfehlt und schließlich doch findet, weil er sich kraft seiner geschöpflich-schöpferischen Freiheit seinen eigenen, stimmigen Ausdruck verleiht. Die besondere Herausforderung besteht in der eingeschränkten Wahrnehmbarkeit, in der Nicht-Augenfälligkeit der so beschriebenen Würde des anderen Menschen. Der Stil einer Lebens11 Im Sinne der zweiten Möglichkeit argumentiert J. David Velleman, Liebe als moralisches Gefühl, in: Axel Honneth/Beate Rössler (Hgg.), Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt am Main 2009, 60–104, 93. 12 Vgl. Robin S.  Dillon, Respect and Care. Toward Moral Integration, in:­ Canadian Journal of Philosophy 22 (1992), 105–132, 116 ff. 32 

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führung ist nicht augenfällig. Achtung bedeutet, von der Gestalt des anderen Menschen überrascht zu werden. Dass ein Mensch seinen eigenen Stil ausbildet, seinen Takt findet, ein kulturell gegebenes Lebensmuster aufgreift und doch mit seiner ganz eigenen Signatur versieht, ist nicht augenfällig. Selten stoßen wir unmittelbar auf die je besondere Gestalt eines Gegenübers, wir stoßen vielmehr auf Funktionen und Rollen, die die Menschen ausüben und einnehmen. Das Einnehmen von sozialen Rollen dürfte im Zusammenleben unvermeidlich sein, es sind aber nicht diese Rollen (allein), die einen Menschen würdevoll werden lassen, sondern die spezifische Art und Weise, in der ein Mensch im Zuge seiner Selbstverwirklichung seine Rolle ausfüllt, eine Rolle, in die der Mensch passt, die ihn jedoch zugleich nicht vollständig absorbiert, sondern die es ihm erlaubt, ihr seine Signatur zu verleihen. Die Signatur, der individuelle Takt der Selbstverwirklichung von Individuen, ist feiner als jede angestrengte Selbstinszenierung, und um ihr gewahr zu werden, bedarf es Zeit und Aufmerksamkeit. Wahrnehmung von Würde stellt sich im Zuge der Begegnung mit einer anderen Person ein. Es gibt indes keinen erschöpfenden Kriterienkatalog für achtbare Eigenschaften, der es dem Wahrnehmenden ermöglichen würde, die einzigartige Würde eines Individuums zu identifizieren. Daher ist es nicht so, als würden im Akt der Wahrnehmung der Würde des anderen Menschen Tugenden oder Errungenschaften identifiziert, die zur Klasse der als achtbar bereits intersubjektiv anerkannten Eigenschaften gehören. Vielmehr lernt der Wahrnehmende im Angesicht der Lebensführung des anderen Individuums eine eigene Art kennen, eine vielleicht ganz leise, aber doch beispiellose und würdevolle Kunst des Selbstseins. Nichts an dem Gesagten ist avantgardistisch. Die Suche nach dem eigenen Stil huldigt keinem Ästhetizismus, auch wenn es bei Friedrich Nietzsche und Michel Foucault zuweilen so scheinen mag. Ein eigener Ausdruck sollte stimmig und authentisch, muss aber keineswegs originell sein. Selbstgestaltung ist nicht dem Künstler vorbehalten, überhaupt die zur Zeit sehr populäre Rede von der Lebenskunst, so berechtigt ihre Anliegen auch sein mögen, überstilisiert jedenfalls der Tendenz nach einen ganz und gar alltäglichen Vorgang. Jeder Mensch verleiht seinem Leben einen eigenen Stil, auch wenn der Mensch in diesem Unterfangen Liebe und Individualität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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auf erhebliche innere und äußere Widerstände stößt.13 Und auch die Entscheidung zu einer nahezu vollständigen Selbsthingabe an eine kulturell geprägte soziale Rolle ist ein Akt der Selbstgestaltung, insofern es sich um eine initial freie Entscheidung handelt.14 Jemanden als Individuum achten zu lernen beinhaltet, etwas darüber zu lernen, was Achtung bedeuten kann. Denn die eigene Vorstellung von dem, was Achtung und Selbstsein bedeuten können, wird im Akt der Achtung, im Ereignis der Wahrnehmung von Würde erweitert. Menschen reifen, wenn sie achten: Die Erfahrung, ein je bestimmtes Individuum zu achten, geht in den Erfahrungsschatz des Achtung empfindenden Menschen ein. Oftmals wird gegen das Nachdenken über das Individuum und über das Selbsterleben des Menschen der Vorwurf erhoben, wer sich auf das Selbst und das Streben nach Selbstverwirklichung konzentriere, blende die Sozialität des Menschen aus.15 Diesem Vorwurf liegt eine problematische Verkürzung dessen zugrunde, was Selbstsein bedeutet. Selbstsein ist gerade nicht das Gegenteil des Mitseins mit anderen. Es gibt mich nicht ohne meine Umwelt, und wenn soziales Dasein gelingt, dann verändere ich auch die Menschen, die mein soziales Umfeld bilden.16 Ein Gespräch, das Menschen führen, setzt sich, wenn es substantiell ist, ein Leben lang fort, sei es im tatsächlichen Austausch, sei es im inneren Dialog.17 Achtung verändert das Selbst des Menschen, denn der 13 Vgl. Volker Neumann, Menschenwürde und psychische Krankheit, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung 76 (1993), 276–288. 14 Vgl. Andreas Luckner, Wie es ist, man selbst zu sein, in: Thomas Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit, Berlin 22007, 149–168, v. a. 156; Hans-Martin Schönherr-Mann, Sartre, 53. 15 Vgl. Robert Neelly Bellah, Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life. With a New Preface, Berkeley 2008, v. a. 79 f.; Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, Hamburg 1995. 16 Vgl. Amélie Oksenberg Rorty, Die Historizität psychischer Haltungen. Lieb’ ist Liebe nicht, die nicht Wandel eingeht, wenn sie Wandel findet, in: Dieter Thomä (Hg.), Analytische Philosophie der Liebe, Paderborn 2000 (Ethica), 175–193, 182. 17 Vgl. Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: ders., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, übers. v. Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 2009, 11–66, 20, mit Verweis auf Michail Bachtin. 34 

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Achtende lernt etwas darüber, was individuelles Selbstsein bedeuten kann. Achtung berührt den Menschen, das hat sie mit der roman­ tischen Liebe gemeinsam. Gleichwohl sind Achtung und Liebe unterscheidbar. Im Erfahren von Achtung wird der Mensch über die Grenzen dessen hinausgeführt, was er sich unter Achtung hätte vorstellen können, ehe er diese Erfahrung gemacht hat. Jede konkrete Erfahrung von Achtung gesellt sich zu anderen, strukturell ähnlichen Erfahrungen, so dass die Gesamtheit der Anschauungen des Achtung empfindenden Menschen sich im Ereignis der Achtung weitet. Anders bei der Liebe. Wer liebt, wird zwar ebenfalls über die Grenzen seiner vormals gehegten Anschauungen hinausgeführt und verändert sich und seine Wahrnehmung, weil er liebt und im Lichte des geliebten anderen Menschen die Welt und sich selbst anders zu sehen lernt. Dies jedoch nicht in der Weise, dass die Erfahrung der Liebe zum vormaligen Erfahrungsschatz einfach nur kumulativ hinzutreten würde. Die sich im Lieben einstellende Sinnerfahrung komplementiert und weitet nicht nur einfach den Blick auf die Welt, sondern wirkt zumindest potentiell auf alle vormals gehegten Anschauungen und Bewertungen zurück – sei es, dass alles in der Welt nun in einem neuen, kräftigen Licht erscheint, sei es, dass die Welt verblasst und alles in ihr fraglich oder gar nichtig wird, wenn die Geliebte, wenn der Geliebte fehlt.18 Gerade im Scheitern der Liebe, in der Erfahrung des Verlusts des geliebten Menschen zeigt sich, dass in der Liebe der geliebte Mensch in seiner Einzigartigkeit (nicht in seiner Durchsichtigkeit für das Wesen des Menschen überhaupt) den Sinn des gesamten Seins gleichsam absorbiert und in sich konzentriert, wenn der geliebte Mensch dem Liebenden alles be-deutet, mit Bedeutung versieht. Der Unterschied zwischen Achtung und romantischer Liebe liegt nicht im Gegenstand der Wahrnehmung, auf den diese Gefühle sich richten; Achtung und Liebe richten sich immer nur auf Individuen. Der Unterschied zwischen Achtung und Liebe besteht darin, dass die Liebe ungleich tiefer in das Selbstverständnis eines Menschen eindringt als die Achtung. Liebe kann daher zum radikalen Sinnverlust führen, wenn das Liebesverhältnis misslingt oder Liebende getrennt werden. Das 18 Vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 435. Liebe und Individualität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Hohelied hat Recht, Liebe ist stark wie der Tod.19 Achtung kann zu einer Veränderung des Selbst führen, wenn der Mensch im Zuge des Lernens von Achtung reift. Anders als die Liebe kann die Achtung jedoch wohl kaum zu einem Selbstverlust des Menschen führen. Achtung und romantische Liebe sind mit Blick auf das Achtung oder Liebe empfindende Subjekt unterscheidbare Arten und Weisen, ein anderes Individuum wahrzunehmen. Die Wahrnehmung der Würde des anderen Menschen als Individuum lässt sich letztlich kaum einklagen, da sie sich immer erst in der konkreten Begegnung einstellt. Wohl aber ist es dem Menschen möglich, sich auf die Wahrnehmung der Gestalt des anderen Menschen vorzubereiten: nämlich indem er sich um die Wahrnehmung seiner selbst kümmert. Wer sich selbst achtet, vertieft sein Verständnis dafür, was es heißt, ein Individuum zu sein; Übung der Selbstwahrnehmung ist Übung der Wahrnehmung von Individualität und insofern immer auch Übung der Achtung des anderen Individuums. Das Gefühl für die Würde des anderen Individuums hat dieselbe Wurzel wie das Gefühl für die eigene individuelle Würde. Wer in aller Aufrichtigkeit und mit aller Aufmerksamkeit auf seine eigenen Versuche und Verirrungen schaut, wer sich selbst in all seiner Ambivalenz zu sehen und zu achten lernt, bildet zugleich seine Fähigkeit aus, andere Menschen in je ihrer individuellen Besonderheit wahrzunehmen und zu achten. Sehenkönnen (im metaphorischen Sinne)  ist kein Schicksal. Sehen  – und sich vom Gesehenen berühren lassen  – ist eine Praxis, die man lernen muss und üben kann, insbesondere an sich selbst. Wer selbst keine Schmerzen kennt, kann für die Schmerzen anderer kaum Empathie empfinden, und wer sich selbst nicht als einzigartiges Individuum achtet, das sein Selbst wahrnimmt und gestaltet, wird kaum in der Lage sein, ein anderes Individuum zu achten, das dasselbe tut, nur eben auf je seine einzigartige Weise. Empathie spannt sich zwischen Ähnlichkeit und 19 Hld. 8,6; vgl. Augustinus, Über die Psalmen, hg. v. Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 31996 (Christliche Meister 20), 280 (en. Ps. 121,12; CChr. SL 40, 1812,11–14, Übers. geändert): „Die Liebe ist stark wie der Tod. Und weil die Liebe selbst tötet, was wir waren, auf dass wir sein mögen, was wir nicht waren, richtet sie in uns einen gewissen Tod an“ („[…] Ualida est sicut mors dilectio. et quia ipsa caritas occidit quod fuimus, ut simus quod non eramus, facit in nobis quamdam mortem dilectio“). 36 

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Unähnlichkeit auf. Wie es aus der Perspektive des anderen ist, ein Selbst zu sein, kann ich letztlich nicht erfassen, weil ich die Welt nicht mit den Augen des anderen sehen kann. Dass der andere die Welt anders sieht als ich, ist paradoxerweise ein zentrales Moment der Empathie. Empathie beruht immer auf Ähnlichkeit, auf der Annahme, dass ich ähnlich empfinden würde, wenn ich mich in der Situation des anderen befinden würde, zugleich aber misslingt Empathie, wenn die irreduzible Andersartigkeit des anderen Menschen aus dem Blick gerät.20 Empathie zu lernen bedeutet ein Gespür für die Eigenart und Andersartigkeit des anderen Menschen einzuüben. Ich kann die Perspektive des anderen Menschen nicht übernehmen, wohl aber kann ich lernen, die Idiosynkrasien, die besonderen Empfindlichkeiten und Verletzlichkeiten des anderen zu achten und wertzuschätzen, indem ich meine eigenen Besonderheiten und Idiosynkrasien wahrzunehmen und zu achten lerne als das, was meine Individualität ausmacht. Und indem ich wiederum die Besonderheit und Einzigartigkeit des anderen Menschen wahrnehme und achte, bestätige ich den anderen Menschen in seiner Selbstachtung – nicht nur, aber gerade dann, wenn die Selbstachtung des anderen in sich fragil oder durch äußere krisenhafte Umstände gefährdet ist.21 Sigmund Freud mag das jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe als höchst problematisch empfunden haben, weil man niemanden nötigen könne, einen anderen zu lieben, dem man nicht bereits mit Zuneigung gegenübersteht.22 Bei Kant wird dieses Problem dadurch gelöst, dass Nächstenliebe als Wohltun gedeutet wird. Bei Augustin und Kierkegaard wird Nächstenliebe theologisch egalisiert: jedem Menschen als Geschöpf Gottes gelte die gleiche Liebe, der Mensch wird nicht um seiner selbst willen geliebt, sondern um Gottes willen (diligendus est propter deum).23 20 Vgl. Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt am Main 2009, v. a. 72. 21 Vgl. Ralf Stoecker, Selbstachtung und Menschenwürde, in: Studia philo­ sophica 63 (2004), 107–119, 117. 22 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe, Bd.  9: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt am Main 71989, 197‒270, 239 f. (Kap. 5). 23 Augustinus, Die christliche Bildung, hg. v. Karla Pollmann, Stuttgart 2002, 34 (doctr. Chr. 1,28; Simonetti 50,8), 185. Liebe und Individualität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Augustin meint gar, wenn wir den anderen Menschen nicht ausschließlich um Gottes willen lieben, dann hassen wir ihn in Wahrheit.24 Der Nächste, den zu lieben der Christ aufgefordert wird, ist in Kierkegaards Augen gerade kein Individuum, er ist „unendlich davon entfernt, nur ein einziger Mensch zu sein, denn der Nächste sind alle Menschen.“25 Auf diese Weise lässt sich die Forderung der Nächstenliebe an jeden Menschen richten, aber mit der Erfahrung von Liebe in Nahbeziehungen hat das dann nur noch wenig zu tun, jedenfalls sofern wir darauf hoffen, dass die Liebe, mit der wir von unseren Lieben geliebt werden, nicht gleich-gültig ist.26 Nächstenliebe, die nicht dem anderen Individuum in dessen Einzigartigkeit gilt, ist blind, weil sie je diesen Menschen nicht sieht; ein Gebot der Nächstenliebe, dem keinerlei Praxis entspricht, ist leer, weil Nächstenliebe nicht geübt werden kann, wenn sie allein und ausschließlich darin besteht, vom Anblick eines anderen Menschen berührt zu werden. Einen Ausweg aus dieser Aporie könnte ein Verständnis der Nächstenliebe weisen, das das Gebot der Nächstenliebe als Aufforderung zur Übung der Selbst- und Fremdwahrnehmung versteht. Die Übung und Ausbildung der Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung vertieft die Fähigkeit zur Wahrnehmung des einzigartigen anderen Individuums. Versteht man das Gebot der Nächstenliebe als Aufforderung zur Übung der Wahrnehmung, dann lässt sich zwischen der Univer24 Sermo 336,4 (PL 38, 1472, 29–33); „Jenen [d. h. Gott] sollen wir um seiner selbst willen lieben, und uns in ihm, jedoch um seinetwillen […]. Wenn wir uns um etwas anderen willen lieben, hassen wir uns in Wahrheit vielmehr, als dass wir uns lieben (ipsum amemus propter ipsum, et nos in ipso, tamen propter ipsum […]. propter aliud si nos diligimus, odimus potius quam diligimus.)“ Dazu: Raymond F. Canning, The Unity of Love for God and Neighbour in St. Augustine, Heverlee-Leuven 1993, 10 f., 104 f. 25 Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd.  19:  Der Liebe Tun. Etliche Christliche Erwägungen in Form von Reden, übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf 1954, 63. 26 Vgl. die – gewiss überspitzten – Bemerkungen bei Rush Rhees, Discus­ sions of Simone Weil, hg. v. D. Z. Phillips unter Mitarbeit v. Mario von der Ruhr, Albany 1999 (Simone Weil Studies), 113: „The relation of man and woman. The relation of parent and child. Relations without which there would be no love. Relations in which love goes deep and breaks people. I do not think these are ever considered in religion. Christ never considers them. The love of one’s neighbor, of which he speaks, is the love of a stranger in distress, who will never be seen again.“ 38 

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salität und Partikularität der Nächstenliebe vermitteln: Nächstenliebe im vollen Sinn des Wortes gründet auf einem Empfinden für das andere Individuum, einer Wahrnehmung von dessen Eigenarten und besonderen Bedürfnissen. Eine solche Wahrnehmung lässt sich nicht verordnen, wohl aber ist es dem Menschen aufgetragen, an seiner Fähigkeit zur Wahrnehmung von Individualität zu arbeiten, seiner eigenen und der des anderen. Der Glaubende wird aufgefordert, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst – seinen Nächsten, der Geschöpf ist wie er selbst.27 Positive Pflichten bzw. Handlungsnormen lassen sich aus einer solchen Ethik der Achtung und der Nächstenliebe kaum ableiten. Die unbedingte Verbindlichkeit der Achtung ist jedoch auf einem anderen Weg geltend zu machen, nämlich über den Umweg negativer Pflichten. Verbindlich ist das Gebot der Achtung des anderen Menschen, insoweit unter allen Umständen die moralische Forderung erhoben werden kann und muss, dass jegliche Form von Missachtung unterbleibe.

3. Die Verbindlichkeit der Achtung „Ich bin nicht verbunden“, so Kant auf den letzten Seiten seiner Tugendlehre, „Andere (bloß als Menschen betrachtet) zu verehren, d. h. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt (revere legem), und dieses, nicht aber andere Menschen zu verehren (reverentia adversus hominem) oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen Andere, welche, als die ihnen ursprünglich schuldige Achtung (observantia debita), von jedem gefordert werden kann.“28 Die von allen Menschen zu fordernde Achtung des anderen Menschen bloß als Menschen ist in Kants Augen eine negative Pflicht, 27 Lev. 19,18.33 f. Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen: „liebe deinen Genossen/dir gleich.“ Vgl. Andreas Schüle, „Denn er ist wie Du“. Zur Übersetzung und Verständnis des alttestamentlichen Liebesgebots Lev 19,18, in: ZAW 113 (2001), 515–534. 28 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 116 (AA VI 467 f.). Die Verbindlichkeit der Achtung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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insofern aus ihr das Verbot der Missachtung des anderen Menschen folgt. Missachtet wird der andere Mensch etwa durch üble Nachrede oder durch Verhöhnung. Diesen Gedanken Kants, dass die Achtung vor der Würde des anderen Menschen eine negative Pflicht ist, möchte ich im Folgenden radikalisieren: Die Pflicht zur Achtung ist die negative Pflicht des Menschen, missachtende Handlungen zu unterlassen. Menschen werden missachtet, wenn ihre Ansprüche auf Selbstdeutung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung tätig untergraben und unterwandert werden, etwa wenn mit ihnen so verfahren wird, als seien ihre individuellen Auffassungen, ihre Präferenzen, ihre Bemühungen, ihre Leidenschaft, ihre Zeit, ihre Phantasien, ihre Bedürfnisse, ihre individuelle Empfindlichkeit, Überempfindlichkeit und Verletzlichkeit grundsätzlich wertlos und lächerlich, als fielen ihre Belange nicht ins Gewicht.29 Die Würde eines Menschen wird missachtet, wenn ihm eine Daseinsform aufgenötigt wird, in der seine Möglichkeiten zur Selbstachtung und zur Selbstgestaltung durch äußere Zwänge unterbunden oder seine Freiheit zum Selbstausdruck durch Entblößung oder Stigmatisierung hintertrieben werden, sei es durch einen aggressiven Angriff auf die Integrität seiner Person oder durch öffentliche, beschämende Bloßstellung. Entwürdigung ist die Behandlung eines Menschen, in der dieser zur vertretbaren Größe herabgewürdigt, zum Ding degradiert wird.30 Herabwürdigend ist ein Umgang mit einer Person, durch den ihre Individualität unterdrückt und ihr positives Verständnis ihrer selbst verletzt wird. Wer einen Menschen achtet, sieht die individuelle Besonderheit in diesem Menschen. Wer einen Menschen missachtet, sieht durch den anderen Menschen hindurch, so als wäre dieser nicht da, so dass der andere Mensch der Möglichkeit beraubt wird, auf sich, auf seine individuellen Belange und auf seine einzigartige Persönlichkeit aufmerksam zu machen.31 Missachtung und Entwürdigung sind schwerwiegende Vergehen, 29 Vgl. Peter Schaber, Menschenwürde, Stuttgart 2012, 57. 30 Vgl. Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts 81 (1956), 117–157, 127. 31 Vgl. Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, 11 ff.; Ralph Ellison, Der unsichtbare Mann, übers. v. Georg Goyert, Reinbek bei Hamburg 1998. 40 

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weil Menschen durch das Erleiden von Missachtung in ihrer Selbstachtung Schaden nehmen können. So wie Selbstachtung durch erfahrene Anerkennung gewonnen wird, kann das Erleiden von Missachtung die Identität einer ganzen Person zum Einsturz bringen.32 Die Erfahrung der Missachtung – an anderen oder an einem selbst, in der Geschichte oder in der eigenen Gegenwart – führt uns ex negativo das Recht des Menschen auf Achtung vor Augen. Das Gefühl der Empörung im Angesicht von Entwürdigung und das Gefühl der Achtung im Angesicht von Würde sind gleichursprünglich: In der Empörung wie in der Achtung regt sich ein Gefühl für das dem Menschen eignende, ihm Würde verleihende Vermögen zur Selbstgestaltung. Aus Em­pörung protestieren wir gegen den Zustand des Unterbundenseins dieses Vermögens, auf dessen Angelegtsein im konkreten entwürdigten Menschen wir gerade durch das Gefühl der Empörung gestoßen werden.33 In der Achtung von Würde ergreift uns ein Gewahrwerden dessen, dass und wie dieses Vermögen jeweils realisiert wird. Die Empörung über die Entwürdigung und die Achtung der Würde des Menschen sind jeweils moralische Gefühle, die der Anblick eines überwiegend in Freiheit oder in Unfreiheit geführten, überwiegend selbstgestalteten oder fremdbestimmten Lebens in uns auslöst. In der negativen Brechung, im Verbot der Beschädigung der Würde des Menschen, kennt Achtung universale Forderungen, deren Geltung nicht durch die begrenzte Wahrnehmbarkeit und Wahrnehmungsfähigkeit von Individuum relativiert wird und nicht durch die ‚Historizität‘ und Wandelbarkeit des Gefühls der Achtung. Es gibt also einen starken, universalen 32 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994, 212 f. 33 Menschenwürde hängt nicht von der Verwirklichung beim konkreten Menschen ab, sie ist auch dem Menschen zuzusprechen, der sie nur einer abstrakten Möglichkeit nach hat und/oder einmal hatte. Vgl. Arnd Pollmann, Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte 4 (2010), 26–47; Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, 125. Dies schließt komatöse und geistig behinderte Menschen ein. Vgl. hierzu auch Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zur liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001, 65, Anm. 65; Martin Seel, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main 1996, 215 f. Die Verbindlichkeit der Achtung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Sinn von Achtung in negativer Brechung: Weil Menschen leidensfähig sind, dürfen sie nicht missachtet werden.34 Positiv formuliert: Jeder Mensch hat das Recht auf den Schutz des Freiraums seiner Würdedarstellung.35 Dieser Gedanke, dass die Achtung vor der Würde des Menschen im Verbot der Missachtung eine universale Ausdrucksform hat, geht auf Arbeiten des US-Amerikanischen Pragmatisten ­R ichard Rorty und des israelischen politischen Philosophen Avishai Margalit zurück. Margalit versucht, die normativen ­ Grundlagen einer „anständigen Gesellschaft“ zu klären. Eine anständige Gesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen. Unter Demütigung fallen „alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen.“36 Demütigung, so Margalit, ist eine „Ausdehnung der Grausamkeit vom physischen in den psychischen Bereich“37. Weil Grausamkeit das schlimmste Übel ist und die Vermeidung von Grausamkeit das höchste moralische Gebot, kann die Vermeidung von Demütigung ihrerseits als ein unbedingtes moralisches Gebot gelten, 34 Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (UN-Resolution 217 A [III] der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948) argumentiert im zweiten Teilsatz ihrer Präambel ex negativo: „[…] [D]a die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen […], verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte […].“ Dazu: Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 112 f. Das Bundesverfassungsgericht kommentiert Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen.“ Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd.  1, hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 1952, 104 (19.12.[19]51). 35 Vgl. Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ernst Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hgg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen, säkulare Gestalt, christliches Verständnis, Stuttgart 1987, 295–314, v. a. 299. 36 Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, übers. v. Fritz Stern, Frankfurt am Main 1999, 23. Als Grund der Selbstachtung gilt bei Margalit allerdings explizit nicht die Individualität des Menschen. Vgl. ebd., 68, 86 f. 37 Ebd., 108 f. 42 

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das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf.38 Margalit begründet also implizit das Verbot der Demütigung mit dem minimalmoralischen Prinzip neminem laedere – niemandem schaden.39 Die Beschädigung der physischen und seelischen Integrität des Menschen kennt viele Gestalten. Manche schreien zum Himmel, manche sind leise und im Verborgenen wirksam. Auf den ersten Blick kaum oder überhaupt nicht erkennbar sind mitunter die Verletzungen personaler Integrität, die Menschen einander und sich selbst in Verlogenheit, Selbsttäuschung und Beschämung zufügen. Dass Menschen ihre Freiheit zur Selbstgestaltung und ihre Fähigkeit, die Freiheitsvollzüge anderer zu achten, verlieren, und zwar gegen ihren Willen, aber nicht ohne ihr Zutun, ist eine Erfahrung, die in der christlichen Tradition als Erfahrung der Sünde gedeutet wird.

38 Vgl. Hans Joas, Die Politik der Würde und die Sakralität der Person, in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004, 130–142, 134. 39 Vgl. Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet u. hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Bd. 3: Kleine Schriften, Darmstadt 2004, ­632–815, 663 [II § 6].744 [III § 16]: „Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva“ (verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst); ebd., 766 (III § 19): „Nichts empört so im tiefsten Grunde unser moralisches Gefühl wie Grausamkeit.“ Vgl. allerdings auch Nietzsches beißende ­K ritik an diesem Prinzip: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 106 f. (§ 186). Die Verbindlichkeit der Achtung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Kapitel 3: Verwirkte Freiheit

1. Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten In den ersten Zeilen dieses Essays wurde angedeutet, dass hier von der Größe und vom Elend des Menschen die Rede sein soll, vom Ge- und Misslingen der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung. Das manifeste Misslingen des Selbstseins, die notorische Verfehlung des dem Menschen zugedachten guten Lebens verbindet sich in der christlichen Tradition mit dem Begriff Sünde.1 Das für den Menschen vorgesehene gute Leben besteht, so hatte ich versucht zu zeigen, darin, dass der Mensch sich und den jeweils anderen Menschen in seiner eigenen und in dessen Einzigartigkeit wahrnimmt und achtet, dem anderen Menschen und sich selbst mit Achtsamkeit, Fürsorge und Liebe begegnet. Sünde ist durch Acht- und Lieblosigkeit verwirktes gutes Leben,2 in Paul Tillichs Worten: „Trennung des Lebens vom Leben“, und insofern Sünde gegen die gute Schöpfung Gottes.3 Während nun die antike Frage nach dem guten Leben in der neueren Philosophie eine breite Renaissance erlebt, ist das Wort Sünde als Ausdruck für die Verfehlung des Guten in der Gegenwart nahezu unverständlich geworden.4 „Kaum etwas ist heute so unpassend, wie wenn man von der Sünde spricht“5. Unzugänglich geworden ist die Rede von der Sünde nicht nur, weil sie sich als 1 Vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 42012, 473, 477. 2 Ähnlich Hartmut Rosenau, Hamartiologische Vorüberlegungen zur Einführung, in: Wilfried Härle (Hg.), Sünde, Leipzig 2008 (MThSt 20), 1–14, 4, mit Verweis auf Wilfried Härle und Paul Tillich. 3 Vgl. Marjorie Suchocki, The Fall to Violence. Original Sin in Relational Theology, New York 1995; Paul Tillich, Dennoch bejaht, in: ders., In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden, Berlin 1975, 144–153, v. a. 148; Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Berlin 41987, 52 ff. 4 Vgl. Sigrid Brandt, Sünde. Ein Definitionsversuch, in: Sigrid Brandt/Marjorie H. Suchocki/Michael Welker (Hgg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn 22005, 13–34. 5 Max Josef Suda, Die Ethik Martin Luthers, Göttingen 2006, 15.  44 

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Erklärungsmodell für kritische Selbsterfahrungen des Menschen augenscheinlich erübrigt hat. Die Rede von der Sünde wird nicht nur als obsolet empfunden, sondern als inadäquat und anstößig, weil und insofern sie moralisiert und stigmatisiert.6 Die Rede von Sünde moralisiert, wenn die Kritik an Verhaltensweisen, die einer bestimmten Moralvorstellung widersprechen, dadurch aufgeladen wird, dass die kritisierten Verhaltensweisen zur Auflehnung gegen Gott stilisiert werden.7 Moralvorstellungen, auch diejenigen biblischer Autoren, sind Teil einer jeweiligen geschichtlich gewachsenen Kultur. Eine verantwortliche Rede von der Sünde hat daher jeden biblizistischen und moralistischen Transfer gesellschaftlicher Normen vergangener Epochen in die Gegenwart zu vermeiden. Ferner: Die Rede von Sünde stigmatisiert, wenn der Mensch als gänzlich unfähig zum Guten dargestellt wird. Wegen solcher Moralisierungen und Stigmatisierungen zählt Herbert Schnädelbach die christliche Lehre von der Erbsünde zu den sieben Geburtsfehlern einer altgewordenen Religion.8 Die Rede von der Sünde, so Schnädelbach, entwürdigt den Menschen. Dieser Vorwurf entbehrt nicht jeder Grundlage, jedenfalls dann, wenn die Hamartiologie jede Bemühung des Menschen um das Gute als Ausdruck gottloser Selbstgerechtigkeit denunziert. Es gilt daher, den bleibend bedeutsamen, daseinserschließenden Sinn der Rede von der Sünde aus den stigmatisierenden und moralisierenden Verzerrun­gen zu bergen. Der Sinn der Rede von der Sünde besteht darin, die innere Zerrissenheit zur Sprache zu bringen, die Menschen in sich vorfin6 Vgl. zur theologisch bzw. hamartiologisch begründeten Kritik von Moralisierung Michael Roth, Willensfreiheit? Ein theologischer Essay zu Schuld und Sünde, Selbstgerechtigkeit und Skeptischer Ethik, Rheinbach 2011; Rochus Leonhardt, Zur gegenwärtigen Aktualität der christlichen Sündenlehre, in: ders. (Hg.), Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive, Leipzig 2010, 177–204, 178. 7 Vgl. Wilhelm Gräb, Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde, in: ders./Martin Laube (Hgg.), Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde, Rehburg-Loccum 2008 (Loccumer Protokolle 11/08), 11–29, v. a. 25 f. 8 Vgl. Herbert Schnädelbach, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer altgewordenen Religion, in: ders. (Hg.), Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt am Main 2009, 153–173. Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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den. Diese Zerrissenheit hat besonders Luther in den Mittelpunkt seiner Auslegung von Röm  7 gestellt. Mag sein, dass die Lesart von Röm 7, in deren Tradition Luther sich mit seiner Auslegung des Römerbriefs bewegt, dieser (Selbst?-)Betrachtung des Paulus viel mehr Gewicht beimisst, als das Denken des Paulus nahe­legen würde.9 Die zunehmende Fokussierung auf das Innenleben des Menschen ist ein Erbe besonders der Augustin’schen und später der Luther’schen Deutungen des Christentums. ­Paulus selbst sah nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie das Innere des Menschen, sondern den gesamten Kosmos als von der unheilvollen Macht der Sünde durchdrungen an.10 Überdies ist keineswegs eindeutig, ob das Ich in Röm 7 sich auf Paulus selbst, auf den Christen oder auf den alten Adam bezieht – vieles spricht wohl für letzteres.11 Für große Denker der christlichen Tradition ist es indes gerade das Nachdenken über das aktuelle Ich des Menschen, über das innere Erleben des weiterhin Sünder bleibenden Christen, in dem die Sprengkraft der paulinischen Rede von der Sünde in Röm 7 liegt.12 Martin Luther sieht in Röm 7 den Ausdruck der inneren Zerrissenheit des Menschen, der danach strebt, seine Lebenswirklichkeit vom Wohlgefallen am Guten durchdrungen sein zu lassen, und der daran leidet, dass er genau dies nicht kann: „‚Er will etwas anderes als er tut‘, das bedeutet doch, er hat Wohlgefallen am Guten und einen Willen, der, weil er durch den Geist der Liebe aus9 Vgl. Krister Stendahl, Paul and the Introspective Conscience of the West, in: Harvard Theological Review 56 (1963), 199–215. 10 Vgl. Paula Fredriksen, Sin. The Early History of an Idea, Princeton 2012, v. a. 35 ff. 11 Vgl. die Übersicht über diese Diskussion bei Thomas Söding, Der Mensch im Widerspruch (Röm 7), in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 371–374. 12 Luther verweist auf Augustinus, Gegen zwei pelagianische Briefe, übers. v. Dionysius Morick OSA., in: ders., Schriften gegen die Pelagianer, Bd.  3, hg. v. Sebastian Knopp, Würzburg 1977, 283–408, 295 f. (c. ep. Pel. 1,10,17; CSEL 60, 439,3 ff.); Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), Bd. 2, hg. u. übers. v. Martin Hofmann, Darmstadt 1960, 23 (WA 56, 339,5 ff.). Augustin selbst vertrat jedoch in früheren Schriften eine gegenteilige Auffassung, vgl. Augustinus, Sankt Augustinus – Der Lehrer der Gnade. Gesamtausgabe seiner antipelagianischen Schriften, Bd. 3: An Simplicianus zwei Bücher über verschiedene Fragen, eingel., übertr. u. erläutert v. Thomas Gerhard Ring OSA, Würzburg 1991, 61 (Simpl. 1,1,4; CChr.SL 44,10,70 f.). 46 

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gegossen ist, willig ist zum Guten, und einen Hass wider das Böse, und dennoch kann er […] diesen Willen nicht ganz erfüllen und vollbringen.“13 Der Mensch kann sein Streben nach dem Guten mit seinem tätigen In-der-Welt-Sein nicht in Einklang bringen, weil er in sich auf einen Widerstand stößt, den er nicht überwinden kann. Und so tut er gerade nicht das Gute, das er eigentlich will. Das Erfüllen und Vollbringen des Guten wäre Luthers Römerbriefauslegung nach ein Tun des Guten aus gutem Willen, ein Zusammenstimmen von guter Handlungsabsicht und guter vollzogener Handlung. Fatal ist eben: Der Mensch kann von sich aus diesen Einklang von Absicht und Handlung nicht herstellen. Als Sünder erfährt sich der Mensch, wenn er merkwürdig neben sich steht und erkennen muss, dass er im tätigen Leben nicht der ist, der er sein wollte, dass er nicht wirklich tut, was in seinen eigenen Augen gut wäre – sei es, weil seine guten Absichten zu schwach sind, um im gelebten Leben zum Tragen zu kommen, sei es, dass seine guten Absichten von einer radikalen und destruktiven Selbstsucht unterwandert werden.14 Im vergeblichen Streben nach dem Guten findet der Mensch sich auf seinen inneren Missklang zurückgeworfen, und dieser Konflikt drückt seine Persönlichkeit regelrecht zusammen, der Mensch ist verkrümmt in sich selbst.15 Sünde bedeutet in dieser Traditionslinie, in der so unterschiedliche Denker wie Paulus, Luther, Kant oder Tillich stehen: Der Mensch will das Gute, aber er vollbringt es nicht – sei es, weil er eigentlich bzw. vermeintlich das Gute zu tun beabsichtigt, aber eine schlechte Handlung vollzieht, sei es, weil er eine gute Handlung vollzieht, aber aus einem schlechten, nämlich selbstsüch13 Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), Bd.  2, 29 (WA 56, 342,13–16); vgl. auch ders., Über die Unfreiheit des Willens, in: ders., Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Bd. 1: Glaube und Leben, hg. v. Wilfried Härle, Johannes Schilling und Günther Wartenberg unter Mitarbeit v. Michael Beyer, Leipzig 2006, 219–661, 649 (WA 18, 783,3–6); dazu: Hermann Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7, Tübingen 2004 (WUNT 164), 28, Anm. 63. 14 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003, 34 ff. (AA VI 29 ff.). 15 Vgl. etwa Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), Bd. 2, 63 (WA 56, 356,4 f.): „[Scriptura] hominem describit incuruatum in se adeo […].“ Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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tigen Grund.16 Nicht die Selbstbezogenheit oder die Selbstsucht als solche scheint vor diesem Hintergrund der eigentliche Anknüpfungspunkt für eine Rede von der Sünde in der Gegenwart zu sein, sondern das innere Gespaltensein der Person. Anknüpfungspunkt für eine Rede von der Sünde in der Gegenwart wäre dann die Zerrissenheit des Menschen zwischen seiner Selbstsucht und Verschlossenheit auf der einen und seiner Empathie- und Liebesfähigkeit auf der anderen Seite – die Zerrissenheit zwischen dem, was ein Mensch eigentlich sein wollen würde, und dem, was er gegen seinen Willen, aber nicht ohne sein Zutun tatsächlich ist. Die Lehre von der Sünde erschließt einen inneren Zwiespalt, in dem Menschen sich vorfinden, ein Zwiespalt indes, den der Mensch zugleich erleidet und verschuldet. Nicht in Sinnlichkeit, Selbstsucht oder Unfreiheit als solchen besteht die Sünde, sondern darin, dass der Mensch in einen Zwiespalt der beschriebenen Art getrieben werden kann, weil er nicht frei über sich verfügt. Eine in der Gegenwart verantwortete theologische Rede vom misslingenden Leben steht vor der Aufgabe, lebensweltliche Erfahrungen innerer Zerrissenheit aufzuspüren und im Lichte der christlichen Rede von der Sünde zu deuten. Selbsttäuschung und Scham sind Phänomene unserer Lebenswirklichkeit, an denen sich zeigen lässt, was es bedeutet, dass Menschen gegen ihren Willen, aber nicht ohne ihr Zutun an sich selbst und aneinander vorbeileben. Der Mensch ist für dieses Misslingen verantwortlich, zugleich aber widerfährt es ihm, so wie der Mensch als Sünder für sein Sündersein Verantwortung trägt und sich doch als Opfer dessen erfährt, was die Sünde bewirkt. Sünde changiert zwischen Verantwortung und Schicksal, zwischen Tat, Schuld und Verhängnis, zwischen Freiheit und Zwang.17 Ich bin an dem, was in der Sünde geschieht, als moralisches Subjekt verantwortlich be16 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, v. a. 37 (AA VI 30 f.). 17 Vgl. Dorothee Sölle, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart 1971, 92; Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Berlin 81987, 54; Günter Röhser, Metaphorik und Perso­nifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia, Tübingen 1987 (WUNT 25), v. a. 118, 127; ders., Paulus und die Herrschaft der Sünde, in: ZNW 103 (2012), 84–110, 96; Hermann Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit, 185. 48 

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teiligt. Andernfalls würden wir von der Sünde als einer gänzlich eigenständigen Macht sprechen und nicht davon, dass wir Sünder sind. Aber ich bin kein Souverän über das, was in der Sünde geschieht. Andernfalls würden wir einfach nur von Verfehlungen sprechen und nicht von Sünde als einer transsubjektiven Größe.18 Ich bin für das, was die Sünde tut, mitverantwortlich, und doch reden wir ja gerade von der Sünde als von einer Macht, weil ich von etwas mir Unerklärlichem hingerissen werde, das ich ‚eigentlich‘ nicht will, das sich unbemerkt meiner selbst bemächtigt und erst dann zutage tritt, wenn seine destruktive Dynamik längst am Werke ist. Dieses ‚etwas‘ nistet in Strukturen unserer Lebenswelt, die den Menschen verbiegen, etwa in ideologisch verzerrtem Denken, in Selbsttäuschungen, in Scham und Beschämung. Ideologien können sich im Stillen des Denkens von Menschen bemächtigen. Selbsttäuschungen sind für den, der sich täuscht, mitunter kaum zu durchschauen. Scham und Beschämung können eine Eigendynamik entwickeln, die das Miteinander von Menschen viel tiefer deformiert, als man ahnen würde. Und dies verbindet diese Phänomene mit dem, was in der christlichen Tradition Sünde genannt wird.19 Das im Folgenden skizzierte Verständnis von Sünde setzt bei einer individuellen Erfahrung ein, ohne dabei privatistisch zu sein:20 Die Selbstverfehlung des Individuums, so soll deutlich werden, konkretisiert sich in ihren zerstörerischen Auswirkungen auf das Miteinander.21 18 Dazu vgl. Rudolf Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: ders. (Hg.), Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 198–209, 209; Hartmut Rosenau, Der Mensch zwischen Wollen und Können. Theologische Reflexionen im Anschluß an Röm 7,14–25, in: Philosophische Vierteljahresschrift 65 (1990), 1–30, 15.  19 So deutet etwa Röhser die „Macht“ der Sünde als „Eigendynamik menschlicher Tatverfehlungen“, wobei er betont, dass Paulus selbst die Sünde nicht als „Macht“ (δύναμις oder ἐξουσία) bezeichnet. Vgl. Günter Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, v. a. 30 f., 142, 144, 164, 180; ders., Paulus und die Herrschaft der Sünde, v. a. 93 ff. Von der Eigendynamik der Sünde spricht auch Wilfried Härle, Dogmatik, 504. 20 Vgl. die m. E. berechtigte Kritik an einem privatistischen Sündenverständnis bei Dorothee Sölle, Politische Theologie, 90 ff. 21 Vgl. Gerhard Ebeling, Der Mensch als Sünder, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3: Begriffsuntersuchungen, Textinterpretationen, Wirkungsgeschicht­ liches, Tübingen 1985, 74–107, v. a. 106 mit Bezug auf Ideologie. Sünde als unwillentliches Verfehlen des Guten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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2. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung Alle Sünde kann man Lüge nennen, meint Augustin im vierzehnten seiner Bücher über den Gottesstaat;22 vom Teufel, dem Vater der Lüge, habe die Sünde ihren Ausgang genommen.23 Die Sünde lässt den Menschen in einen Widerstreit gegen sich selbst stürzen, indem sie ihn sich täuschen lässt. Entmythologisierend von Sünde zu reden bedeutet, alltägliche Phänomene zerstörerischer Täuschung und Verwirrung ausfindig zu machen und deren Strukturen mit der Struktur der Sünde zusammenzuschauen. In Betracht kommen etwa Phänomene der Selbsttäuschung,24 d. h. der sich wohl typischerweise im Rückblick einstellenden Erkenntnis, dass wir einen bestimmten Sachverhalt klar hätten erkennen können und müssen, während wir jedoch verheerenderweise so gedacht und gehandelt haben, als sei uns dieser Sachverhalt verschlossen gewesen. Selbsttäuschung ist ein Zustand, in dem wir nicht wahrhaben wollen, was doch eigentlich allzu offensichtlich ist. Erfahrungen der Selbsttäuschung, eigener und fremder, sind durch eine eigenartige Undeutlichkeit gekennzeichnet. Wenn wir jemanden erleben, der in einer Selbsttäuschung verfangen ist, dann möchten wir ihn oder sie wohl zuweilen angehen: ‚Willst Du nicht sehen oder kannst Du nicht sehen, was doch so offenkundig ist‘, und wenn wir unsere Selbsttäuschungen durchschauen und auf uns zurückschauen, die wir in diesen Selbsttäuschungen zu unserem eigenen Schaden vollständig gefangen waren, richten wir möglicherweise ähnliche Fragen an unser früheres Ich. Das philo­ sophische und psychologische Nachdenken über die Selbsttäu22 Augustinus, Vom Gottesstaat, übers. v. Wilhelm Thimme, eingel. u. kommentiert v. Carl Andresen, München 2007, 160 (civ. Dei 14.4; CChr.SL 47, 418,18 f.: „unde non frustra dici potest omne peccatum esse mendacium“). 23 Ebd., 159 (civ. Dei 14,3; CChr.SL 47, 418,61: „mendacii pater“ in Anspielung an Joh 8,44); dazu: Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont, Tübingen 1993 (BHTh 86), 60 ff.; vgl. ferner zu Sünde und Lüge bzw. Betrug Günter Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, 115 ff.; Wilfried Härle, Ethik, Berlin 2011, 437. 24 Vgl. Günter Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, 118: „Der Betrug der Sünde kann somit letztlich als ein Selbstbetrug interpretiert werden […]“. 50 

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schung ist mit dieser Undeutlichkeit verschieden umgegangen. Immanuel Kant meint, wer sich täuscht, der will sich in Wahrheit täuschen lassen. Sigmund Freud hingegen beschreibt Selbsttäuschung als einen Vorgang, den der Menschen erleidet und dem er wehrlos ausgeliefert ist. Jean-Paul Sartre und Max Scheler wiederum haben beide ein feines Gespür für das Kippen oder Hinübergleiten des Menschen in den Zustand der Selbsttäuschung. Sartres und Schelers Beschreibungen der Selbsttäuschung werden sich daher als besonders fruchtbar erweisen. Beginnen wir jedoch mit einem Blick auf Kant. Kant meint, der Mensch sei letztlich im vollen Umfang für jede Selbsttäuschung verantwortlich. Den Ausdruck Selbsttäuschung verwendet Kant in seinem gesamten Werk nur fünf Mal und stets in einem unspezifischen Sinn, aber der Sache nach kommt er an mehreren wichtigen Stellen auf die Selbsttäuschung bzw. die „innere Lüge“ zu sprechen, auf die echte Moralität unterwandernde „Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen“25. Die innere Lüge ist in Kants Augen „[d]ie größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst“26. Denn durch die innere Lüge verletzt der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person, weil diese Würde eben in der Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst besteht, in der Aufrichtigkeit gegenüber den Gründen, aus denen jemand handelt.27 Unaufrichtigkeit ist ein Verstoß gegen das erste Gebot aller Pflichten des Menschen gegen sich selbst:28 25 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 48 (AA VI 38). 26 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 67 (AA VI 429). 27 Ähnlich streng urteilt bereits Platon. Platon, Kratylos, in: ders., Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. 3: Phaidon – Das Gastmahl – Kratylos. bearb. v. Dietrich Kurz, griechischer Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 62011, 395–575, 535 (krat. 428d): „Denn von sich selbst hintergangen (ἐξαπατᾶσθαι) zu werden, ist doch das allerärgste. Denn wenn der Betrüger auch nicht auf ein Weilchen sich entfernt, sondern immer bei der Hand ist, wie sollte das nicht schrecklich sein?“ 28 So bezeichnet Kant in Anspielung an Joh 8,44 die Lüge auch als den „eigentliche[n] faule[n] Fleck in der menschlichen Natur.“ Immanuel Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, hg. v. d. Preussischen Akademie der WissenschafSelbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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„Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst, nicht nach deiner physischen Vollkommenheit […], sondern nach der moralischen, in Beziehung auf deine Pflicht – das Herz – ob es gut oder böse sei […].“29 Der Mensch als moralisches Wesen ist verpflichtet, eine Höllenfahrt der Selbsterkenntnis zu unternehmen, um die ursprüngliche, aber verschüttete Anlage zum Guten in sich zu bergen.30 Auf dieser Reise hat der Mensch den Widerstand zu überwinden, den die Selbsttäuschung leistet – ein Widerstand allerdings, der eine gewaltige Macht ausüben kann. Es gibt, so Kant, eine Tücke im Herzen des Menschen, welche sich darin auswirken kann, dass der Mensch sich im Hinblick auf seine wahren Motive, seine gute oder böse Gesinnung, selbst betrügt.31 Dies ist es, was Selbsttäuschung in Kants Augen verwerflich sein lässt. Im Prinzip kann die Selbsttäuschung durchaus auch positive Wirkungen haben. Kant meint, der Hang des Menschen zur Selbsttäuschung sei dem Menschen von der Natur weislich eingepflanzt, weil der Schein des Guten, etwa gespielte Tugendhaftigkeit und Sittsamkeit, doch nach und nach zu einer wirklichen Gesinnung der Tugend hinleiten könnte. Wer einen Menschen mimt, der Achtung verdient, wird vielleicht tatsächlich noch ein solcher werden, wenn das Spiel mit Verstellungen einmal aufhört, Spiel zu sein: wenn das vormals lediglich Imitierte und Gespielte schließlich in Wirklichkeit vollzogen wird.32 Selbsttäuschung kann eine ten [=AA VIII], Königsberg 1912, 411–422, 422. Vgl. auch ders., Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 8: Metaphyik der Sitten, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 81989, 635–643. 29 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 81 (AA VI 441). 30 Vgl. ebd., 82 (AA VI 441). Vgl. zu diesem literarischen Motiv Johann Georg Hamann, Kreuzzüge des Philologen, in: ders., Sämtliche Werke, Bd.  2:  Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik (1758–1763), hg. v. Josef Nadler, Freiburg im Breisgau 1950, 113–246, 164: „[…] und nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt uns den Weg zur Ver­ götterung.“ 31 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 47 (AA VI 38). 32 Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: ders., Werkausgabe, Bd.  12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Tlbd. 2, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1978, 397–690, 445 (AA VII 153). 52 

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self-fulfilling prophecy sein. Wir reden uns ein, dass etwas doch sinnvoll sei und gelingen könnte, und empfangen aus solcher Auto­suggestion oder Selbstmanipulation einen Antrieb zum konstruktiven Handeln.33 Über seine eigene Gesinnung jedoch, über die Moralität oder Immoralität seiner Motive und Handlungen darf der Mensch sich, so meint Kant, unter keinen Umständen täuschen. Er hat die unbedingte Pflicht, den Schleier, mit dem er aus Eigenliebe seine moralischen Gebrechen verdeckt, ohne Verschonen abzureißen.34 Dass es nicht einfach ist, dem verwerflichen Selbstbetrug hinsichtlich der eigenen Gesinnung zu entgehen, da die Tiefen des Herzens unergründlich sind, räumt Kant durchaus ein.35 „[M]an täuscht sich nirgends leichter als in dem, was die gute Meinung von sich begünstigt.“36 Kant deutet daher auch an, dass die antiken Stoiker, für deren Vernunftenthusiasmus er ansonsten viel Sympathie hat, besagte Tücke im Herzen des Menschen nicht hinreichend ernst genommen hätten. Die Stoiker meinten, Menschen könnten sich selbst tugendhaft machen, indem sie das Gute in sich fördern und das Schlechte bekämpfen. Kant wendet ein, dass die wackeren Männer der stoischen Schule, wie er sie mit unüberhörbarer Ironie nennt, ihren eigentlichen Feind verkannt hätten. Der eigentliche Feind der Tugend sei nicht der Mangel an Disziplin und Vernunftorientierung, also nicht ein Getäuschtwerden aus Unvorsichtigkeit und Nachlässigkeit. Wirklich bedrohlich für den Menschen seien nicht die Nachlässigkeit oder Disziplinlosigkeit, sondern, so Kant, „ein gleichsam unsichtbarer, sich hinter Vernunft verbergender Feind, der darum desto gefährlicher ist“, der „mit seelenverderbenden Grundsätzen die Gesinnung insgeheim unter33 Vgl. Amélie Oksenberg Rorty, The Deceptive Self. Liars, Layers, and Lairs, in: Brian P. McLaughlin/Amélie Rorty (Hgg.), Perspectives on Self-Deception, Berkeley 1988, 11–28, v. a. 17.  34 Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, 445 (AA VII 153). 35 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd.  2:  Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 89 (AA VI 447). 36 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 88 (AA VI 68). Vgl. zum – in Kants Augen verwerflichen – „Tugendstolz“ bzw. zur arrogantia moralis ders., Metaphysik der Sitten, Bd. 2: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 75 (AA VI 435). Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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gräbt.“37 Kant räumt also durchaus ein, dass es so etwas gibt wie eine fatale Selbsttäuschung, in der eine Macht im Menschen wirkt, die sich hinter der Vernunft verbirgt, die insgeheim die gute Gesinnung untergräbt und so zu einer maliziösen, nicht nur der Nachlässigkeit geschuldeten inneren Täuschung des Menschen über sich selbst führt. Die bedrückende Erfahrung, dass ein eigentlich guter Wille sich eben nicht in guten Taten verwirklicht, bringt Kant hier äußerst feinfühlig zum Ausdruck: Unser Urteilsvermögen ist getrübt durch unser Bestreben, unser moralisches Selbstwertgefühl zu steigern, so dass wir dieses Bestreben un­willentlich, aber doch von Eigenliebe getrieben, über unsere eigene praktische Vernunft stellen. Die Folge ist eine elementare Arroganz, durch die unsere Fähigkeit, das Recht anderer Personen und Perspektiven gelten zu lassen, beeinträchtigt wird.38 Steht also die Macht der Selbsttäuschung Kant deutlich vor Augen, so kann er schließlich doch nicht eingestehen, dass diese Macht unüberwindlich sein könnte. Denn die Vorstellung, der Mensch werde wie durch einen übermächtigen Feind getäuscht, lässt sich nicht mit der von Kant so rigoros propagierten Verantwortlichkeit des Menschen vereinbaren. Wer getäuscht wird, so behauptet Kant daher schließlich, ist im Geheimen einverstanden damit, wie ihm geschieht. „Es darf also nicht befremden, wenn ein Apostel diesen unsichtbaren, nur durch seine Wirkungen auf uns kennbaren, die Grundsätze verderbenden Feind, als außer uns, und zwar als bösen Geist vorstellig macht: ‚Wir haben nicht mit Fleisch und Blut (den natürlichen Neigungen), sondern mit Fürsten und Gewaltigen – mit bösen Geistern zu kämpfen.‘ […] [Ü]brigens ist es für uns einerlei, ob wir den Verführer bloß in uns selbst, oder auch außer uns setzen, weil die Schuld uns im letzteren Falle um nichts minder trifft, als im ersteren, als die wir von ihm nicht verführt werden würden, wenn wir mit ihm

37 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 73 f. (AA VI 57). 38 So die überzeugende Rekonstruktion bei Robin S.  Dillon, Zu Arroganz und Selbstachtung bei Kant, in: Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar 2005, 51–75. 54 

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nicht im geheimen Einverständnisse wären.“39 Ob der Mensch durch eine äußere Macht verführt wird, oder ob der Ursprung der Selbsttäuschung innerhalb des Menschen zu suchen wäre, macht in Kants Augen letztlich keinen Unterschied. Denn der Mensch trägt allein die Verantwortung für sein Handeln und für seine Gesinnung, und wenn wir verführt werden, dann ist das niemandem außer uns selbst zur Last zu legen. Daher meint Kant: Wer sich täuschen lässt, ist insgeheim einverstanden mit dem, wie ihm geschieht. Denn dass die innere Stimme im Menschen, sein Gewissen und sein Empfinden für sein wahrhaftes Sein jemals ganz betäubt wären, ist für Kant schlechterdings undenkbar, so wie er sich auch nicht vorstellen kann, dass der Mensch jemals die Stimme des inneren Richters in sich zum Schweigen bringen könne.40 Der Mensch kann die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis zu einem erfolgreichen Ende bringen, weil er soll, und wenn er auf halbem Wege stehen bleibt, ist das allein ihm selbst zur Last zu legen. Kant erwartet viel, vielleicht zu viel vom Menschen. Er überschätzt die Fähigkeit des Menschen, Illusionen und Ideologien, in denen er sich verheddert hat, abzuschütteln, und erkennt infolgedessen letztlich nicht an, dass der Selbsttäuschung ein destruk­ tives Poten­tial dazu innewohnt, die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen nachhaltig zu beschädigen, und zwar in einem solchen Maß, dass der Mensch sich und den anderen Menschen nicht mehr sehen kann, dass er nicht mehr zu erkennen vermag, was für ihn selbst und für den anderen gut wäre. Einen Kontrapunkt zu Kants Hochschätzung des Vermögens des Menschen als eines Wesens, das zumindest grundsätzlich fähig ist, sich zur Moralität aufzuschwingen, stellt Sigmund Freuds Theorie des Unbewussten dar.41 Die Seele des Menschen, so Freud, ist modular organisiert, d. h. sie besteht aus verschiedenen

39 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 77 f. (AA VI 59 f.). Kant zitiert Eph 6,12. 40 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Bd.  2:  Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 78 (AA VI 438). 41 Vgl. Sigmund Freud, Die Verdrängung (1915), in: ders., Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main 102010, 103–118; ders., Das Unbewußte (1915), in: ders., Studienausgabe, Bd.  3:  Psychologie des Unbewußten, Frankfurt am Main 102010, 119–173. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Teilbereichen, die in Widerspruch zueinander treten können. Die Verdrängung von triebhaften, mit Normen konfligierenden Bewusstseinsinhalten ist ein Vorgang, der zu einer Selbsttäuschung führt. Der Mensch verdrängt unliebsame Bewusstseinsinhalte oder Informationen in das Unbewusste und hindert sie daran, in das Bewusstsein aufzusteigen. Ein Teil der Seele steht wie ein Wächter vor der Tür des Unbewussten, an der Schwelle zwischen Bewusstem und Unbewusstem.42 Nun hat Sartre zurecht gegen Freuds Theorie der Selbsttäuschung eingewandt, dass sich hier auf einer höheren Ebene das Paradox der Selbsttäuschung wiederhole. Wenn die Wächterinstanz unliebsame Bewusstseinsinhalte zurückweise, wisse der Mensch doch um letztere. Diese Konsequenz lässt sich vermeiden, wenn man das Modell Freuds nur leicht variiert. Dieser Wächter weist die unliebsamen, verdrängten Bewusstseinsinhalte ab, ohne seinerseits eigentlich mit dem Bewusstsein in direktem Kontakt zu stehen. Der sich so täuschende Mensch vergisst irgendwann, dass er sich täuscht, wenn er die unliebsamen Bewusstseinsinhalte abweist, ohne dies überhaupt noch zu bemerken, er verliert gleichsam diesen Wächter, der am Durchgang zwischen Unbewusstem und Bewusstem Wache steht und nunmehr selbständig agiert, aus den Augen.43 Während also der Mensch in Kants Augen für die Selbsttäuschung uneingeschränkt verantwortlich ist, sieht Freud den Menschen im Wesentlichen als Opfer der Selbsttäuschung. Auch Freud räumt ein, dass der Mensch am Entstehen der Selbsttäuschung beteiligt ist, aber dieser Aspekt ist von relativ geringerem Gewicht gegenüber der Eigenwirksamkeit der Selbsttäuschung.44 Tatsächlich, so scheint mir, schwebt die Selbsttäuschung zwischen dem Extrem der uneingeschränkten Verantwortlichkeit (Kant) auf der einen und dem des wehrlosen Ausgeliefertseins

42 Vgl. Sigmund Freud, Die Verdrängung (1915), 113. 43 So erweitert David Pears im Angesicht der Kritik Sartres an Freud des letzteren Theorie der Selbsttäuschung. David Pears, The Goals and Strategies of Self-Deception, in: Jon Elster (Hg.), The Multiple Self, Cambridge/New York 1986 (Studies in Rationality and Social Change), 59–77; dazu: Kathi Beier, Selbsttäuschung, Berlin/New York 2010, 75. 44 Vgl. v. a. Dieter Sturma, Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität, Paderborn 1997, 227 ff. 56 

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(Freud) auf der anderen Seite. Selbsttäuschung meint zum einen mehr als bloß einen Zustand oder ein Ereignis von der Art ‚ich habe mich getäuscht.‘ Wenn ich einer Sinnestäuschung unterliege, dann sage ich, ich habe mich getäuscht oder geirrt. Das Substantiv Selbsttäuschung umfasst jedoch mehr als bloßes SichTäuschen, mehr als einen bloßen Irrtum. Wer sich irrt und sich in diesem Sinne täuscht, etwa weil er einer Sinnestäuschung zum Opfer fällt, weicht der Wahrheit nicht bewusst aus. Im Substantiv Selbsttäuschung hingegen schwingt ein Moment der Verantwortung und der Wahl mit.45 Das Selbst ist an der Selbsttäuschung intentional beteiligt, es ersinnt Mittel und Wege, die Falschheit der eigenen Überzeugung nicht anerkennen zu müssen.46 Dies betont Kant zu Recht, wenn er darüber auch die andere, schicksalshafte Seite der Selbsttäuschung unterschlägt. Dass ich uneingeschränkt Täter und nicht auch Opfer eines Vorgangs der Selbsttäuschung bin, ist nicht denkbar. Ich kann mich nicht im klaren Bewusstsein täuschen wollen. Ich kann nicht der durch nichts getrübten Überzeugung sein, dass x der Fall ist und mir selbst zugleich erfolgreich einreden, dass x nicht der Fall ist. Ich kann einen anderen Menschen belügen, das heißt, ich kann einem anderen Menschen etwas vortäuschen, von dem ich mit Sicherheit weiß, dass es die Unwahrheit ist. Wer lügt, weiß, dass er die Unwahrheit sagt.47 Auf diese Weise kann ich mich aber nicht selbst belügen. Wüsste ich von meiner eigenen Absicht, mich selbst zu täuschen, dann 45 Vgl. Mary R. Haight, A Study of Self-Deception, Brighton/Sussex/Atlantic Highlands, N. J. 1980, 3: „an air of responsibility of choice“. 46 Vgl. Kathi Beier, Selbsttäuschung, 27.  47 Vgl. Augustinus, Über die Lüge, in: ders., Opera, Bd. 50: Die Lügenschriften: De mendacio – Contra mendacium – Contra Priscillianistas. Über die Lüge – Gegen die Lüge – Priszillianisten, hg. v. Alfons Staedele, Johannes Brachtendorf u. Volker Henning Drecoll unter Mitarbeit v. Mirjam Kudella, Paderborn 2013, 59–149, 63 f. (mend. 3; CSEL 41, 415,5 ff.): „Daher lügt einer, der etwas anderes im Sinn hat, als er durch Worte oder sonstige Äußerungen zum Ausdruck bringt. […] Die Schuld des Lügners […] besteht in der Täuschungsabsicht.“ Diese Definition der Lüge findet sich bereits bei Sallust. Vgl. Gaius Sallustius Crispus, De coniuratione Catilinae/Die Verschwörung des Catilina. Lateinisch und deutsch, hg. v. Karl Büchner, Stuttgart 1991, 17 (Catil. 10,5) „aliud clausum in pectore, aliud in lingua promptum habere“; dazu: Alfons Fürst, Art. Lüge (Täuschung), in: RAC 23 (2009), 620–645, 622 f. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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könnte die Selbsttäuschung niemals gelingen. Selbsttäuschung steht anders als das unmögliche Konstrukt „Selbstlüge“ und anders als der banale Irrtum in einer Spannung von Täterschaft und Opfersein.48 Selbsttäuschung ist ganz ohne Erleiden, ganz ohne Verhängnis, ganz ohne ein Unterwandertwerden des Menschen nicht sinnvoll zu denken. In der Selbsttäuschung unterläuft jemandem ein Fehler, aber zur Selbsttäuschung bedarf es einer Bereitschaft dazu, den Fehler gewähren zu lassen. Dies ist es ja, was Kant meint, wenn er schreibt, die Tücke der Selbsttäuschung vermöchte uns nicht zu überlisten, wenn wir uns nicht im geheimen Einverständnis damit befänden, dass dies geschieht. Nur zieht Kant hieraus eine zu weit reichende Schlussfolgerung: Bei Kant ist der Mensch letztlich gegenüber der Macht der Selbsttäuschung souverän. Kant unterschätzt die Hinterlist der Selbsttäuschung, die Möglichkeit, dass ein Mensch sich in seiner Selbsttäuschung verhängnisvollerweise verliert, ohne dass er das in dieser Weise wollte, auch wenn er eine Mitschuld trägt an dem, was mit ihm geschieht. Freud hingegen betont den Widerfahrnischarakter der Selbsttäuschung, blendet aber darüber die Verantwortlichkeit des Selbsttäuschers aus, indem er unsere Selbsttäuschungen als Irrtümer deutet, die auf Verdrängungsmechanismen zurückgehen, die sich wie von selbst gänzlich ohne unsere willentliche Beteiligung vollziehen. Beiden, Kant und Freud, entgeht daher die eigentliche Komplexität der Selbsttäuschung, weil Freud zu wenig und Kant zu viel vom Menschen erwartet. Die Komplexität der Selbsttäuschung besteht darin, dass Schuld und Verhängnis sich in einer eigentümlichen Schwebe befinden, und dies teilt die Selbsttäuschung mit der Sünde, insofern Sünde bedeutet, dass der Mensch gegen seinen Willen, aber nicht ohne sein Zutun das für ihn gute Leben verfehlt.

48 Anders William Dalton Wood, Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall. The Secret Instinct, Oxford 2013 (Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology), v. a. 153 ff.: Wood plädiert dafür, Selbsttäuschung im starken Sinn des Wortes als verantwortliche und bewusste Selbstlüge zu deuten. Dazu: Jochen Schmidt, Rez. William Dalton Wood, Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall. The Secret Instinct (Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology), Oxford: Oxford University Press 2013, erscheint in ThLZ 140 (2015), im Druck. 58 

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Was in der Selbsttäuschung geschieht, kann der Mensch kaum vermeiden, und doch ist er dafür verantwortlich.49 Der Mensch gleitet in eine Selbsttäuschung ab. Wenn Menschen abgleiten, dann geschieht das nicht ohne ihr Zutun, aber doch gegen ihren eigentlichen Willen. Den Vorgang des Abgleitens in die Selbst­ täuschung beschreibt unnachahmlich Jean-Paul Sartre als Abgleiten in die Unaufrichtigkeit (mauvaise foi). Die Möglichkeit der Unaufrichtigkeit, so Sartre, ist in der Konstitution des Menschen impliziert. Der Mensch ist durch eine Spannung von Faktizität und Transzendenz konstituiert. Mit Faktizität meint Sartre das, was wir eben faktisch gerade sind, also das An-Sich unserer jeweiligen konkreten Existenz, unsere leibliche, psychographische, soziokulturelle usw. Bedingtheit. Das An-Sich ist das, was es ist.50 Wer ganz in diesem An-Sich aufgeht, erleidet jene tiefe Sinn­ losigkeit, die Sartre in seinem Roman Der Ekel beschreibt.51 Transzendenz ist unsere Fähigkeit, uns reflektierend von dem zu distanzieren, was wir faktisch gerade sind, sei es im Entwurf von zukünftigen Handlungsmöglichkeiten, im Tagtraum oder einfach dadurch, dass wir unsere Faktizität in das Licht bestimmter Deutungshorizonte stellen. Transzendenz ist das Für-Sich der Existenz des Menschen, der Akt, in dem ich dem Sein Bedeutungen für mich zuspreche, und zwar Bedeutungen, die das Sein eben als an sich nicht hat. Freiheit ist gerade die Freiheit des Menschen dazu, sich von Vorgegebenem abzustoßen, es zu ‚nichten‘, Urheber

49 Die Leugnung der eigenen Verantwortlichkeit ist ihrerseits eine Form der Selbsttäuschung, insofern die Person sich über ihre eigene Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln hinwegtäuscht. Vgl. Robin S. Dillon, How to Lose Your Self-Respect, in: American Philosophical Quarterly 29 (1992), 125–139, 130. Fatalerweise verliert die Person auf diese Weise tatsächlich ihre Freiheit. Vgl. Elisabeth Gräb-Schmidt, Sündenerkenntnis als Erschlossenheit des Daseins. Zur anthropologischen und philosophischen Deutungsleistung des protestantischen Sündenbegriffs, in: Wilfried Härle (Hg.), Sünde, Leipzig 2008 (MThSt 20), 75–106, 86 ff. 50 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Philosophische Schriften, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1993, 1055. 51 Vgl. Jean-Paul Sartre, Der Ekel. Roman, übers. v. Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1995. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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seiner selbst zu sein;52 insofern ist der Mensch das, was er nicht ist, und nicht das, was er ist. Faktizität und Transzendenz müssen indes koordiniert werden.53 Es kann hilfreich und notwendig sein, dass ich mein Jetzt-Sosein reflektierend, deutend, vielleicht gar träumend und visionär überschreite, weil sich auf diese Weise Möglichkeiten meines Selbstseins eröffnen. Diese Möglichkeiten müssen aber in einer Art und Weise ergriffen werden, die zwischen Faktizität und Transzendenz, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit vermittelt. Ich kann mir wünschen und kann in der Phantasie vorwegnehmen, dass Dinge anders wären oder anders werden, als sie es jetzt – in Wahrheit – sind. Insoweit ist es sinnvoll, vielleicht sogar für das Gelingen personalen Lebens unabdingbar, dass ich die Faktizität meines Seins transzendiere. Und es ist keineswegs unvernünftig, dass ich mich meinen Wünschen verschreibe, dass ich commitments eingehe.54 Der ungesicherte, ja sogar noch der illusorische Glaube des Menschen an sich selbst und an den anderen kann eine überaus konstruktive Wirkung haben.55 Aber ich muss dieses Transzendieren im Wunsch doch eben immer mit der Faktizität vermitteln, also mit den Grenzen, die der Verwirklichung meiner Wünsche faktisch auferlegt sind,56 und zugleich im Blick behalten, dass jede freiheitliche Selbstsetzung den Charakter einer Setzung hat, für die ich voll verantwortlich bin. Transzendenz darf nicht zur Faktizität, Faktizität nicht zur Transzendenz erklärt werden, und genau das geschieht in Ver52 Vgl. Annemarie Pieper, Freiheit als Selbstinitiation (753–833), in: Bernard N. Schumacher (Hg.), Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Berlin 2003, 195–210, v. a. 199. 53 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 135. 54 Vgl. William James, Der Wille zum Glauben, in: ders., Essays über Glaube und Ethik. ausgew. v. Ralph Barton Perry, übers. v. Wilhelm Flöttmann, Gütersloh 1948, 40–67; Adam Morton, Partisanship, in: Brian P. McLaughlin/Amélie Rorty (Hgg.), Perspectives on Self-Deception, Berkeley 1988, 170–182, 175: „Desire should influence belief.“ 55 Amélie Oksenberg Rorty, User-Friendly Self-Deception. A Traveler’s Manual, in: Clancy W. Martin (Hg.), The Philosophy of Deception, Oxford/ New York 2009, 244–259, 253f: „The Benefits of Self-Deception“. 56 Vgl. ähnlich Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. 24/25: Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1954, 32 ff. (1.C.3.b.α: „Die Verzweiflung der Möglichkeit ist der Notwendigkeit zu ermangeln“); Dagmar Fenner, Das Gute Leben, 97. 60 

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haltensweisen der Unaufrichtigkeit.57 In Sartres Augen ist Freiheit daher in hohem Maße ambivalent: Freiheit gibt es nur, weil es Unbestimmtheit gibt, weil der Mensch in der Faktizität nicht aufgeht.58 Gäbe es keine Unbestimmtheit, wäre unser Jetzt-Sosein nicht offen für Transzendenz, dann wäre das Sein vollkommen undurchdringlich. Freiheit besteht darin, dass wir zum Sein in einen freien Bezug treten können. Wir können das Sein nicht verändern, wohl aber haben wir die Freiheit, uns zu entscheiden, wie wir uns zu unserem Dasein verhalten wollen.59 Wenn wir das tun, dann reißen wir uns von der Welt, ja von uns selbst los, daher meint Sartre, die menschliche Realität sei ein „Losreißen von sich selbst“60. Eben dies ist auch der Grund, warum die Unaufrichtigkeit nicht nur eine Deformation des Menschen ist, sondern aus der Möglichkeit der Freiheit, aus der Konstitution des Menschen selbst entspringt. Die Freiheit des Menschen, in der etwa Pico della Mirandola einen Reflex der Gottebenbildlichkeit des Menschen sah, ist genau dasjenige, was die Möglichkeit zur Sünde schafft.61 Unaufrichtigkeit geht aus der Freiheit des Menschen hervor, sich deutend zur Wirklichkeit zu verhalten, und dasjenige, was in einem jeweiligen Augenblick der Fall ist, deutend und wünschend zu überschreiten, sich von der Welt loszureißen. In der Fähigkeit des Menschen zur Sinngebung ist seine Fähigkeit zur Lüge und zur Selbsttäuschung notwendigerweise inbegriffen. Wenn alle Dinge in der Welt uns ihre Be­deutung unwiderstehlich aufzwingen würden, wären wir unfähig, uns zu den Dingen in der Welt frei zu verhalten. Es ist ein we­sentlicher Bestandteil unserer Freiheit, verschiedene Deutungen eines Sachverhalts zu entwickeln und im Diskurs zu ver­treten. Diese Freiheit zur Deutung der Welt und unserer selbst ist jedoch zugleich Bedingung der Möglichkeit von Unaufrichtigkeit.62 Denn fatalerweise reißt der 57 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 135, 149. 58 S. o. Abschn. 1.1. 59 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, v. a. 787 ff. 60 Vgl. ebd., 85. 61 Vgl. zu Sartres und Picos Freiheitsbegriff im Vergleich Walter Andreas Euler, „Pia philosophia“ et „docta religio“. Theologie und Religion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, München 1998, 105. 62 Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, 39: „Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft.“ Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Mensch sich in der Unaufrichtigkeit kraft seiner Freiheit mitunter so gründlich von seiner Faktizität los, dass er den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, dass Transzendenz zur Faktizität wird, anstatt sich an dieser konstruktiv zu reiben. Der Unaufrichtige ist gleichsam out of touch. „[D]urch die Transzendenz entgehe ich allem, was ich bin. […] Ich bin auf einer Ebene, auf der mich kein Vorwurf treffen kann, denn das, was ich wirklich bin, ist meine Transzendenz; ich fliehe vor mir, ich entwische mir, ich lasse meine Lumpen in den Händen des Kritikers zurück.“63 Sartre erläutert dies an einem anschaulichen Beispiel: Man denke sich eine Frau, die zu einer ersten Verabredung gegangen ist. Die Absichten des Mannes, den sie trifft, kennt sie ganz genau. Sie genießt es, begehrt zu werden, aber sie möchte nicht leiblich, jedenfalls von diesem Mann nicht leiblich, sondern nur als Person begehrt werden, und sie deutet beharrlich seine Avancen und Komplimente als Komplimente an sich als Person. Schließlich ergreift der Mann ihre Hand, so dass die Frau sich eigentlich entscheiden müsste: „diese Hand preisgeben heißt von sich aus dem Flirt zustimmen, sich engagieren. Sie zurückziehen heißt diese unklare und in­ stabile Harmonie zerstören.“ Sartre kommentiert diese imaginäre Situation: „Man weiß, was nun geschieht: die junge Frau gibt ihre Hand preis, aber sie merkt nicht, dass sie sie preisgibt. Sie merkt es nicht, weil es sich zufällig fügt, dass sie in diesem Augenblick ganz Geist ist. Sie reißt ihren Gesprächspartner zu den höchsten Regionen der Gefühlsspekulation mit, sie spricht vom Leben, von ihrem Leben, sie zeigt sich unter ihrem wesentlichen Aspekt: eine Person, ein Bewusstsein. Und inzwischen ist die Scheidung von Körper und Seele vollbracht; die Hand ruht inert zwischen den warmen Händen ihres Partners: weder zustimmend noch widerstrebend – ein Ding.“64 Zwar gibt es Signale, die eine andere Deutung der Situation nahe legen als jene, die die oder der Unauf­ richtige sich selbst einredet. Gegen die Fraglichkeit der vom Wunsch geleiteten Wirklichkeitskonstruktion wehrt sich der Unaufrichtige jedoch erfolgreich, indem er sich in den Gedanken flüchtet, dass es ohnehin keine abschließende Gewissheit gibt, und darauf verzichtet, sich zu verdeutlichen und vor Augen zu 63 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 136; vgl. a. a. O., 150. 64 Ebd., 134. 62 

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führen, was er ahnt, jedoch nicht anerkennen möchte. Weil es keine abschließende Gewissheit gibt, so beruhigt man sich, ist es legitim, auch jene Überzeugungen gelten zu lassen, die auf wackligen Füßen stehen. Sartres flirtende Protagonistin verharrt beim unaufrichtigen Glauben, sie sei geistig und nicht körperlich präsent, weil auch die gegenteilige Deutung ihrer Situation keine abschließende Gewissheit beanspruchen kann. Es wäre ja immerhin möglich, dass das Zusammensein mit dem Mann tatsächlich eine durch und durch geistige und nicht eine auch oder in erster Linie leiblich bzw. sexuell codierte Be­gegnung wäre. Und ‚immerhin möglich‘ ist genug für den, der etwas unbedingt für wahr halten will.65 Unaufrichtigkeit entscheidet sich, nicht zu viel Beweiskraft zu verlangen, auch dort befriedigt zu sein, wo sie nicht vollkommen überzeugt ist, und die Beweiskraft der Indizien für die Wahrheit, die anzuerkennen unangenehm oder schmerzhaft wäre, unterzubewerten.66 Und eben hier, so wäre zu ergänzen, liegt dasjenige, was die Unauf­richtigkeit von der Transzendenz im Sinne Sartres als solcher unterscheidet: In der Transzendenz verleiht der Mensch der vor­f indlichen Wirklichkeit, mit der er sich konfrontiert sieht, kraft seiner Freiheit zur produktiven Deutung einen bestimmten Sinn, wohl wissend, dass er dies tut. In der Unaufrichtigkeit kämpft der Mensch dagegen, mit der Wirklichkeit – sei es die vorfindliche empirische Wirklichkeit oder die Wirklichkeit seiner Freiheit  – überhaupt noch konfrontiert zu werden, er kämpft also dagegen, seine Deutung als Deutung sehen zu müssen. Unaufrichtigkeit bedeutet, dass der Mensch seine eigene Weltwahrnehmung obstruiert, anstatt sich in Freiheit angesichts der vorfindlichen und in ihrem An-Sich zunächst ernst genommenen und dann  ‚genichteten‘ Wirklichkeit selbst zu wählen. Transzendenz bedeutet, dass wir die Freiheit haben, unsere Wirklichkeit produktiv zu deuten, jedoch so, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass wir dies tun; Unaufrichtigkeit bedeutet, dass wir 65 Vgl. Ronald E. Santoni, „Unaufrichtigkeit“. Klärung eines Begriffs in Das Sein und das Nichts, in: Bernard N. Schumacher (Hg.), Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Berlin 2003, 63–84, 72. 66 Vgl. Donald Davidson, Deception and Division, in: Jon Elster (Hg.), The Multiple Self, Cambridge/New York 1986 (Studies in Rationality and ocial Change), 79–92, 80 ff.; Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 155. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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diese Freiheit missbrauchen, um vor unserer Wirklichkeit zu entfliehen, indem wir unsere Verantwortung für den Gebrauch unserer Freiheit zurückweisen. Sartre betont, dass dieser gesamte Vorgang des Abgleitens in die Unaufrichtigkeit sich spontan vollzieht und nicht (in Gänze) willentlich gesteuert wird: „Man lässt sich unaufrichtig werden, so wie man einschläft, und man ist unaufrichtig, so wie man träumt.“67 Und doch geschieht dies nicht ohne das Zutun, nicht ohne eine ursprüngliche Entscheidung des Menschen, der in die Selbsttäuschung abgleitet:68 An irgendeinem Punkt geht der Mensch einen Schritt in die Selbsttäuschung hinein, gerade indem er sich dazu entscheidet, sich selbst nicht zu genau Rechenschaft abzulegen über Dinge, die ihm unangenehm sind. Sowohl das Einschlafen als auch das Gleiten in die Selbst­ täuschung können nur ‚gelingen‘, wenn über das, was geschieht, nicht zu viel reflektiert wird.69 Die Reflexion zu unterlassen, die Beweiskraft von Indizien, die gegen seine unzutreffende Überzeugung sprechen, systematisch unterzubewerten, geht auf eine Entscheidung zurück. Aber diese Entscheidung wird in Unkenntnis des Umfangs ihrer Folgen getroffen, nämlich in Unkenntnis jener schicksalshaften, destruktiven Eigendynamik der Selbst­ täuschung, der sie Tor und Tür öffnet, jener Dynamik, die dazu führt, dass der Selbsttäuscher schließlich den Zugang zu jenen Bewusstseinsinhalten verliert, die er nicht sehen wollte. Sartres Diskussion der Selbsttäuschung und deren Voraussetzungen mögen zuweilen apodiktisch und schematisch erscheinen, sein Freiheitspathos überpointiert. Dass der Mensch entweder gänzlich und immer frei oder überhaupt nicht frei sein soll,70 leuchtet nicht ein. Eine absolut freie Wahl, die in keiner Weise durch persönliche Präferenzen umrahmt wird, wäre „ein ausdehnungsloser Punkt, ein Sprung ins Leere.“71 Dies eingestanden 67 Ebd., 155 f. 68 Vgl. Raphael Demos, On Lying to Oneself, in: Journal of Philosophy 57 (1960), 588–595, 589. 69 Vgl. Herbert Fingarette, Self-Deception. With  a New Chapter, Berkeley 2000, 98. 70 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 766. 71 Charles Taylor, Was ist menschliches Handeln?, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, übers. v. Hermann Kocyba, Frankfurt am Main 1992, 9–51, 38. 64 

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bleibt Sartres Beschreibung der Selbsttäuschung doch zumindest in Teilen bestechend. Bestechend ist seine Beschreibung des Hinabgleitens des Menschen in die Unaufrichtigkeit, das teils gewollt ist und teils einfach geschieht. Ich erinnere noch einmal an meine Beschreibung der Sünde. Sünde ist jene verhängnisvolle Kraft, durch die der Wille des Menschen unterwandert wird, ohne dass er wirklich wüsste, wie ihm geschieht, so dass er sich gegen seinen Willen, aber nicht ohne sein Zutun selbst verfehlt. Diese innere Spaltung zwischen dem, was ein Mensch ‚eigentlich‘ beabsichtigt, und dem, was er tatsächlich durch eigenes Zutun selbst erwirkt, kennzeichnet sowohl die Sünde als auch die Selbsttäuschung: Leben misslingt gegen den Willen, aber nicht ohne das Zutun des Menschen. Der Mensch ist verantwortlich und trägt Schuld, und doch ist dieser Vorgang verhängnisvoll, weil der Mensch nicht wollte, dass es soweit kommt, weil er dies nicht hat kommen sehen, weil er letztlich nicht wusste, was er tut, weil ihm die Tragweite seiner Selbsttäuschung erst im Rückblick deutlich wird. Selbsttäuschung, so hatte ich eingangs erwähnt, wirft logische Probleme auf, denn der, der täuscht, und der, der getäuscht wird, sind dieselbe Person. Lösbar ist dieses Paradox auf der phänomenalen Ebene, wenn man sich das Abgleiten in die Unauf­ richtigkeit als graduellen Prozess vorstellt.72 Selbsttäuschung gewinnt sukzessive an Macht über die Person, je tiefer die Person sich in die unaufrichtigen Vorstellungen hineinbegibt. Und weil der Übergang in diese Unaufrichtigkeit leise ist und unbemerkt bleibt, kennt der Unaufrichtige keinen Weg zurück, ja er weiß nicht einmal, welchen Weg er gegangen bzw. hinabgeglitten ist. Der Unaufrichtige verläuft sich in seiner Unaufrichtigkeit, er ist in dem, was ihm geschieht, Täter und Opfer zugleich. Eine Person zu sein bedeutet, aus Gründen zu handeln und bereit zu sein, sich selbst und anderen über diese Gründe Auskunft und Rechenschaft zu geben. Selbsttäuschung ‚funktioniert‘ nur, weil der Mensch die Freiheit dazu hat, den Vorgang abzubrechen, in dem er sich und seine Gründe befragt, und weil der Mensch Erinnerungslücken produzieren kann, die ihn vergessen lassen, dass

72 Vgl. auch William Dalton Wood, Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall, v. a. 196. Selbsttäuschung als Zerrbild der Freiheit zur Selbstdeutung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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er diesen Verzicht geleistet hat.73 Die Folge ist eine partielle moralische Taubheit, die der Mensch dann aus eigener Kraft nicht mehr überwinden kann. Zur personalen Freiheit gehört faktisch, dass der Mensch die Zerstörung seiner personalen Integrität betreiben kann. Ich behaupte: Kein Mensch will das, aber Menschen tun das, ohne recht zu wissen, was sie da tun, und ohne es wissen zu wollen. Sünde ist jene verhängnisvolle Kraft, die den Menschen sich selbst als verantwortliche Person sukzessive vergessen lässt, ohne dass er wirklich wüsste, aber eben auch ohne dass der Mensch wahrhaben will, wie ihm geschieht.74 Sünde obstruiert die Selbst- und Fremdwahrnehmung und damit die Be­ dingungen der Möglichkeit gelingenden Selbst- und Miteinanderseins. Während Selbstverwirklichung ein Vorgang ist, im Zuge dessen ein Mensch sich im Lichte seiner Möglichkeit immer besser zu verstehen und zu gestalten lernt,75 ist Selbsttäuschung ein Vorgang, im Zuge dessen ein Mensch den Kontakt zu sich und zu seinen tatsächlichen Möglichkeiten sukzessive verliert. Selbsttäuschung deformiert die Person. Die Folgen der Selbsttäuschung für den Selbsttäuscher mögen zwar von außen gesehen unscheinbar sein. Mit Lebenslügen – wie auch mit anderen Verstößen gegen Pflichten gegenüber sich selbst – lässt sich mitunter jedenfalls dem äußeren Anschein nach gut leben. Verheerend können indes die Folgen gesellschaftlich etablierter, zur Ideologie geronnener Selbsttäuschung sein. 73 Vgl. Martin Löw-Beer, Selbsttäuschung. Philosophische Analyse eines psychischen Phänomens, Freiburg im Breisgau 1990, v. a. 71. 74 Vgl. Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd.  1: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen 21982, 365 (§ 15.A. I.2.e: „Sünde als Selbsttäuschung“): „Der Sünder will die Sünde nicht wahrhaben. Würde er sie wahrnehmen und wahrhaben, wäre er schon nicht mehr im eigentlichen Sinne Sünder.“ Vgl. Martin Luther, WA 55/2, 269 (1. Psalmenvorlesung 1513/15): „Tunc fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus, quia tales coram Deo sumus.“ Dazu: Volker Leppin, Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Luther, in: Wilfried Härle (Hg.), Sünde, Leipzig 2008 (MThSt 20), 45–73, 67. Vgl. auch Martin Laube, Die Unbegreiflichkeit der Sünde, in: NZSTh 49 (2007), 1–23, 10, mit Verweis auf Julius Müller; Christine Axt-Piscalar, Art. Sünde, in: TRT 3 (2008), 1135–1139, 1135: „Es gehört nämlich zur Wirkmacht der S.[ünde], dass sie über sich selbst täuscht.“ Vgl. 1. Joh 1,8 ff. 75 S. o. Abschn. 1.3. 66 

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3. Organische Verlogenheit und Ideologie In der organischen Verlogenheit, also jener Selbsttäuschung, die dem Menschen gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen ist, wird der verlogene Mensch Opfer seiner eigenen Selbsttäuschung. Dies unterscheidet die organische Verlogenheit von der bewussten Lüge, und dasselbe gilt für das ideologische Denken: Beides, Ideologie und Verlogenheit, sind Formen fulminanter, autonom gewordener Unaufrichtigkeit, systematischer und automatischer Obstruktion von Wahrhaftigkeit. Anders als bei der gewöhnlichen Lüge findet die Fälschung bei der organischen Verlogenheit bereits in der Wahrnehmung selbst statt. Es ist nicht so, als würde der verlogene Mensch die Welt erst zutreffend wahrnehmen und dann verfälschen, wenn er lügt. Es ist auch nicht so, als würde der Ideologe die Welt verzerrt wahrnehmen wollen. Vielmehr ist das ganze Wahrnehmen und Denken des verlogenen Menschen und des Ideologen von einer fundamentalen Unaufrichtigkeit durchsetzt, die ihrerseits gar nicht mehr ins Bewusstsein vordringen kann. „Wer ‚verlogen‘ ist, braucht nicht mehr zu lügen! Was beim konstitutiv Ehrlichen die bewußte Fälschung leistet, das leistet bei ihm schon der tendenziöse unwillkürliche Automatismus der Erinnerungs-, der Vorstellungs- und Gefühlsbildung. An der Bewußtseinsperipherie kann dabei die biederste, ehrlichste Gesinnung herrschen.“76 Schuld und Verhängnis greifen auch hier ineinander: Das Leugnen der unbequemen Wirklichkeit, das Verdrängen des Bildes der eigenen Tat, ist zunächst als Akt der Verlogenheit schuldhaft. Es wirkt jedoch in einer verhängnisvollen Art und Weise fort; es setzt sich fest, wenn die Lüge dem verlogenen Subjekt gleichsam zur zweiten Natur wird. Der Mensch, der eine unangenehme Einsicht verdrängt, indem er jede Verantwortung für eine Tat abstreitet oder eine fadenscheinige Weltsicht errichtet, die seine offensichtliche Verfehlung rechtfertigt, verliert 76 Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, hg. v. Manfred S.  Frings, Frankfurt am Main 22004, 33 f.; dazu: Michael Roth, Was ist ein Moralist? Überlegungen zum moralischen Bullshit und seiner Vermeidung, in: ders./Jochen Schmidt (Hgg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Leipzig 2008, 195–224, 215. Organische Verlogenheit und Ideologie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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das Wissen um seine eigene Verlogenheit und beginnt, die Welt im Horizont seiner Lüge zu erleben, er glaubt selbst, was er den anderen vorlügt. Wer verlogen ist, verbirgt die Wahrheit seines Seins und seines Tuns vor anderen; wem seine Verlogenheit verhängnisvollerweise zur organischen Verlogenheit geworden ist, dem verbirgt sich sein eigenes Wesen, sowohl seine Schuld als auch seine Freiheit. Ist ein Mensch erst einmal organisch verlogen, dann hat er somit die Freiheit, indem er sie verleugnet, auch tatsächlich verloren. Denn nun ist die erlogene Weltdeutung, gemäß derer der Mensch keine Freiheit hatte, sich anders als falsch zu verhalten, zu seiner Wirklichkeit organischer Verlogenheit geworden. Damit aber verliert der Mensch seine Integrität, er büßt die Fähigkeit ein, für sich Verantwortung zu übernehmen.77 Verheerend ist die Verlogenheit, weil sich in ihr ein Automatismus der Wahrnehmung einstellt, der sich seinerseits (zunächst) der Wahrnehmung entzieht.78 Während eine bewusste Lüge konstruiert werden muss, also einen Aufbauprozess durchläuft, vollzieht sich die Weltdeutung des organisch Verlogenen – wie auch die des ideologisch Verblendeten – von selbst. Die Fälschung erfolgt automatisch, also nicht durch eine interpretative Um­arbeitung der Wirklichkeit. Sie stellt sich bereits „auf dem Weg der Erlebnisse zum Bewußtsein“ ein, d. h. bevor  die Erlebnisse das Bewusstsein überhaupt erreicht haben. Die Welt zu verstehen braucht immer Zeit. Menschen zu verstehen braucht wohl unendlich viel Zeit. Einem anderen Menschen achtungsvoll gegen­überzustehen, nötigt uns zu der Einsicht, dass wir den anderen Menschen nicht unseren Erwartungen und Kategorien unterwerfen können, sondern vielmehr vom anderen Menschen

77 Vgl. Gabriele Taylor, Shame, Integrity, and Self-Respect, in: Robin S. Dillon (Hg.), Dignity, Character, and Self-Respect, New York 1995, 157–178, 165. 78 Vgl. Mark Chen/John A. Bargh, Nonconscious Behavioral Confirmation Processes:  The Self-Fulfilling Consequences of Automatic Stereotype Activation, in: Journal of Experimental Social Psychology 33 (1997), 541–560; John F. Dovidio/Kerry Kawakami/Craig Johnson/Brenda Johnson/Adaiah Howard, On the Nature of Prejudice. Automatic and Controlled Processes, in: Journal of Experimental Social Psychology 33 (1997), ­510–540. 68 

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zuallererst lernen müssten, was es für je diesen Menschen bedeutet, er selbst zu sein.79 Achtung ist eine historische, interaktive Haltung,80 die im Zuge von Begegnungen zwischen Personen entsteht, die ihr Leben führen. Verlogenes und ideologisches Denken hingegen laufen automatisch ab, das Ergebnis steht immer bereits im Vorhinein unabänderlich fest. Der Ideologe weiß immer schon, was er vom anderen und von allen Dingen in der Welt zu halten hat. Verlogenheit ist ein ‚Denken‘ ohne jegliche Arbeit, automatisches Einsortieren aller Wahrnehmungsgegenstände in die verzerrte und erlogene Weltsicht, in der der verlogene Mensch sich verfangen hat. Die Zeit, die aufgewendet werden müsste, damit Lern- und Verstehensprozesse ablaufen können, ist in den Auto­matismen der Verlogenheit und der Ideologie gleichsam eingezogen.81 Der Verlogene und der Ideologe glauben an die Welt, die sie konstruiert haben, und alles, was sie wahrnehmen, erhält automatisch den Sinn der Bestätigung ihrer Weltsicht. Verlogenheit und Ideologie umschiffen die Unsicherheiten geschichtlichen Daseins und nehmen die ergebnisoffene Arbeit am Verstehen des eigenen Selbst und des anderen Menschen nicht auf sich. Die Verstrickung des Menschen in seine Selbsttäuschung ist nicht nur im Hinblick auf den betroffenen Menschen selbst beklagenswert, der an der Wahrheit seiner selbst und der seiner Mitmenschen vorbeilebt, weil er unfähig ist, sich und den anderen wahrzunehmen. Ideologie im Sinne einer kollektiven Selbsttäuschung trägt eine erhebliche Mitschuld an immensen gesellschaftlichen Übeln.82 „Der Hauptfeind moralischer Vorzüglichkeit“, so Iris Murdoch, „ist die persönliche Phantasie: das Gewebe aus Selbstverherrlichung und tröstenden Wunschträumen, das uns

79 S. o. Abschn. 2.2. 80 Vgl. zu diesem Begriff Amélie Oksenberg Rorty, Die Historizität psychischer Haltungen, 176 ff. 81 Vgl. zur Zeitlosigkeit des automatischen Verstehens Jochen Schmidt, Klage, 141; Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt am Main 2000, 49. 82 Ich verwende den Ausdruck „Ideologie“ in einem kritischen bzw. negativen, nicht in einem deskriptiven Sinne. Vgl. zu dieser Unterscheidung Raymond Geuss, Die Idee einer kritischen Theorie, Königstein 1983 (Philosophie 8), 13 ff., 22 ff. Organische Verlogenheit und Ideologie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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daran hindert, zu sehen, was dort draußen ist.“83 Interpersonelle Arroganz, d. h. eine Haltung, die den anderen als minder­wertig ansieht,84 ist die Wurzel furchtbarer Gräueltaten. Schlimmste Verbrechen wurden von Menschen begangen, die augenscheinlich von keinerlei dämonischem Trieb oder dergleichen besessen waren, sondern deren moralische Urteilskraft verwirrt, ja verschüttet war. Prominent sind die Beobachtungen Hannah Arendts zu Adolf Eichmann, dessen Gräueltaten ihrer Wahrnehmung nach nicht aus einer diabolischen Gesinnung hervorgingen, sondern aus „systematischer Verlogenheit, Dummheit und Selbsttäuschung, aus der Gewohnheit, sich selbst zu betrügen.“85 Arendts Bild von Eichmann erscheint aus heutiger Sicht korrekturbedürftig, da sie die inzwischen von Bettina Stangneth ausgewerteten Sassen-Bänder nicht berücksichtigen konnte.86 Dass jedoch naive Autoritätsgläubigkeit und eine ideologisch verzerrte und verkümmerte Wahrnehmung der Welt und des anderen Menschen verheerende Folgen haben, wurde durch soziologische Studien vielfach bestätigt.87 Aversive Rassisten (arversive racists) wissen nicht einmal selbst, dass ihr Verhalten durch rassistische Werturteile mitgesteuert wird.88 Die Wirkweise der Ideologie ist der Wirk83 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, 57 (Übers. J. S.); vgl. dies., The Sublime and the Good, in: dies., Existentialists and Mystics. Writings on Philosophy and Literature, hg. v. Peter J. Conradi, New York 1999, 205– 220, 216. 84 Vgl. Robin S. Dillon, Zu Arroganz und Selbstachtung bei Kant, 56. 85 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Bana­ lität des Bösen, übers. v. Brigitte Granzow, m. einem einl. Essay v. Hans Mommsen, München 42009, 229. 86 Vgl. Bettina Stangneth, Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich 2011. – Ein psychologisches Gutachten zu Adolf Eichmann weist auf schwere psychische Störungen hin, was man nach der Lektüre von Arendts Bericht nicht erwarten würde. Vgl. Istvan Kulcsar/Shoshanna Kulcsar/Lipot Szondi, Adolf Eichmann and the Third Reich, in: Ralph Slovenko (Hg.), Crime, Law and Corrections, Springfield 1966, 16–51. 87 Vgl. Philip Zimbardo, Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, übers. v. Karsten Petersen, Heidelberg 2008. 88 Vgl. John F. Dovidio/Samuel L. Gaertner, Aversive Racism and Selection Decisions: 1989 and 1999, in: Psychological Science 11 (2000), 319–323; Philip Zimbardo, Der Luzifer-Effekt; dazu: Jochen Schmidt, Ein Tun ohne Bild. Ideologie, Verlogenheit, Sünde und das Böse, in: Paul Fiddes/ders. 70 

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weise der Verlogenheit und der Selbsttäuschung strukturanalog, und auch faktisch bedingen Selbsttäuschung und Ideologie einander. Es schleichen sich Automatismen in die Wahrnehmung des Menschen ein, bis der Mensch die Ideologie für die Wahrheit hält und Rückfragen an diese Ideologie überhaupt nicht mehr zuzulassen vermag. Selbsttäuschungen können sich indes kaum entfalten, wenn die Umwelt sie nicht ratifiziert. Die Selbstverhältnisse innerhalb von Personen und die Verhältnisse zwischen diesen Personen interagieren – im Guten und im Schlechten: im Guten, wenn der Mensch an sich lernt, was Achtung individuellen Selbstseins bedeutet, im Schlechten, wenn der Mensch in Folge von Selbsttäuschung und Verlogenheit den Zugang zu sich selbst einbüßt und seine Autonomie an Automatismen der Wahrnehmung verliert, die im schlimmsten Fall die Gestalt menschenverachtender Ideologien annehmen können. Anfällig für ideologische Verblendungen sind besonders jene Menschen, deren Selbstbild beschädigt ist.89 Beschädigt wird das Bild, das ein Mensch von sich hat, auf vielerlei Arten und Weisen, durch seelische Misshandlungen, systematische Demütigungen oder durch weniger augenfällige, aber unter Umständen ebenfalls verheerende alltägliche Zurücksetzung und Beschämung  – dadurch, dass ein Menschen in einer Weise angesehen wird, die sein Ansehen untergräbt.90

(Hgg.), Rhetoriken des Bösen/The Rhetoric of Evil, Würzburg 2013 (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft 9), 255–269. 89 Vgl. Ervin Staub, Basic Human Needs, Altruism, And Aggression, in: Arthur G. Miller (Hg.), The Psychology of Good and Evil, New York 2005, 51–84; Raymond Battegay, Narzissmus und Objektbeziehungen. Über das Selbst zum Objekt, Bern 42008 (Psychoanalyse), 97 ff. („Einer Ideologie verfallen als Folge narzisstischer Fusion mit einem Objekt“). 90 Zum Zusammenhang von Selbsttäuschung und Scham vgl. Martha­ Craven Nussbaum, Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law, Princeton 2006, 206. Organische Verlogenheit und Ideologie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Kapitel 4: Bedrückende Blicke

Einen Menschen anzusehen ist ein bedeutsamer Akt der zwischenmenschlichen Kommunikation, ja des Menschseins überhaupt. Dies gilt im Guten und im Schlechten. Es gilt dann, wenn Menschen vom Anblick des anderen ergriffen und erschüttert sind,1 wenn Begegnungen gelingen und Blicke von Achtung oder gar Liebe sprechen. Es gilt aber auch dann, wenn Blicke vernichtend sind. Vernichtend sind Blicke, die degradieren, entwerten und beschämen.2 Selbsttäuschung ist ein Vorgang, im Zuge dessen der Mensch die Fähigkeit zur adäquaten Selbstwahrnehmung verliert; Beschämung ist ein Vorgang, im Zuge dessen der Mensch die Souveränität über sich selbst, über seine Selbstdarstellung einbüßt. Sowohl in der Selbsttäuschung als auch in Scham und Beschämung wirkt eine Dynamik, die Daseinsvollzüge gegen den Willen, aber nicht ohne das Zutun der Betroffenen misslingen lässt. Diese verheerende Eigendynamik verbindet Selbsttäuschung und Scham mit jener destruktiven Kraft, die in der christlichen Tradition Sünde genannt wird.3

1. Scham Wenn wir von Scham reden, dann können wir den Akzent sehr verschieden setzen.4 Wir können den Akzent auf die moralische Dimension der Scham setzen, d. h. auf den Normenverstoß, der in der Scham empfunden wird, oder auf die intersubjektive Dimension der Scham. Ein Satz wie ‚du solltest dich schämen‘, ist 1 S. o. Abschn. 2.1 f. 2 S. o. Abschn. 2.3. 3 S. o. Abschn. 3.1. 4 Nicht diskutiert wird hier die Frage nach der kulturellen Variabilität der Scham. Hierzu nur eine Bemerkung: Die These Norbert Elias’, dass Scham ein Produkt des Zivilisationsprozesses sei, kann als durch die Arbei­ 72 

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ein Appell an die moralische Selbstachtung der Person. Gemeint ist mit diesem Satz ja nicht ‚Du solltest dich vor mir schämen, vor den Augen eines anderen schämen‘, sondern ‚Du solltest dich vor deinen eigenen Augen schämen.‘ Als moralisches Gefühl, als Sichschämen über etwas ist Scham ein Gefühl von Schuld gegenüber dem inneren oder fremden (oder verinnerlichten) moralischen Gesetz.5 Scham als moralisches Gefühl ist ein Gefühl des Kompromittiertseins der eigenen moralischen Souveränität, ein Gefühl für die Verletzung der Selbstachtung in Folge einer moralischen Selbstbeschädigung.6 Nun hat Scham aber auch noch eine andere Dimension. Scham kann eine Entwertung des Selbst durch den Blick des anderen bedeuten. Das unmittelbare Zeichen der Scham ist, dass der Mensch, der sich schämt, errötet. Zum Erröten macht Charles Darwin eine bemerkenswerte Beobachtung: Wir erröten nicht, weil das Bewusstsein einer Verfehlung, also unser Gewissen uns quält, sondern weil der Blick eines anderen Menschen, der um unsere Verfehlung weiß oder wissen könnte, auf uns ruht: „Es ist nicht das Bewusztsein, welches ein Erröthen hervorruft; denn ein Mensch kann aufrichtig irgend einen un­ bedeutenden in der Einsamkeit begangenen Fehler bereuen, oder er kann die schärfsten Gewissensbisse wegen eines nicht entdeckten Verbrechens fühlen, und doch wird er nicht erröthen […]. Es ist nicht das Gefühl der Schuld, sondern der Gedanke, dasz Andre uns für schuldig halten oder wissen, dasz wir Schuld haben, was uns das Gesicht roth macht. Ein Mensch kann sich durch und durch beschämt fühlen, dasz er eine kleine Unwahrheit gesagt hat, ohne zu erröthen; aber wenn er auch nur vermuthet, dasz er entdeckt ist, wird er augenblicklich erröthen, besonders wenn er von irgend Jemandem entdeckt wird, den er verehrt.“7 Am Phänomen ten von Hans Peter Duerr wiederlegt gelten. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersu­ chungen, Frankfurt am Main 221997; Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham, Frankfurt am Main 42002. 5 Vgl. Maria-Sibylla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin 2012, 70 ff.; Michael L. Morgan, On Shame, New York 2008. 6 Zur Selbstachtung s. o. Abschn. 2.1. 7 Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren (1877), Bremen 32010, 304. Scham © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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des Errötens will Darwin festmachen, dass die Scham ein Gefühl dafür ist, vor den Augen der anderen beschämt zu werden. Er­ röten ist eine Reaktion darauf, wie wir uns dem Blick des anderen darstellen.8 Diese Beobachtung Darwins legt nahe, dass der Impetus der Scham vom Blick des anderen ausgeht und nicht vom moralischen Empfinden des Menschen. Für eine solche Deutung der Scham spricht auch eine Szene aus Les Confessions, der – jedenfalls dem Anspruch des Autors nach – schonungslosen Autobiographie Jean-Jacques Rousseaus. Rousseau berichtet, dass er in dem Hause, in dem er zu jener Zeit tätig gewesen war, ein schmuckes Band entwendet hatte, das dann unter seinen Habseligkeiten aufgefunden wurde. Er wird zur Rede gestellt: „Man wollte wissen, woher ich es genommen. Ich verwirrte mich, stotterte, und schließlich brachte ich errötend heraus, Marion [die Köchin der Hausdame] habe es mir geschenkt. […] Man rief sie herbei […]. Sie kam, und man zeigte ihr das Band, ich beschuldigte sie frech, sie wurde bestürzt und warf mir einen Blick zu, der den Teufel hätte entwaffnen müssen, dem mein wildes Herz jedoch widerstand. Sie leugnete endlich mit Festigkeit, aber ohne Leidenschaft.“9 Das Ergebnis des Vorfalls ist, dass kurzerhand beide entlassen werden, Marion und Jean-Jacques Rousseau, weil die Schuldfrage nicht geklärt werden kann. An der Gewissenslast trägt Rousseau sein Leben lang, und die Sehnsucht, sich von ihr zu befreien, trägt erheblich dazu bei, dass er sich die Geschichte seines Lebens in Les Confessions von der Seele schreibt.10 Nun erzählt Rousseau, dass sich zweierlei Schamgefühle in ihm regten und miteinander rangen: seine Scham vor sich selbst und die Angst vor der Schande, Angst davor, durch die Blicke der anderen beschämt zu werden.11 Beide Gefühle sind stark, aber Rousseaus Scham vor den Augen 8 Vgl. a. a. O., 308. 9 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, übers. v. Ernst Hardt, Frankfurt am Main 2007, 141 f. 10 Vgl. ebd., 143. 11 Das englische Wort shame kann bzw. konnte zugleich Schande bedeuten, so nennt das Oxford English Dictionary als eine (allerdings obsolete) Bedeutung von shame: „What is morally disgraceful or dishonourable; baseness in conduct or behaviour. to do shame, to do something disgraceful or wicked.“ John Andrew Simpson/Edmund Weiner, Oxford English Dictionary, Bd. 15, Oxford 21989, 162. 74 

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der anderen ist stärker als seine Scham vor sich selbst: „Als sie dann aber herbeigerufen wurde, zerriss mir ihr Anblick das Herz, aber die Gegenwart so vieler Menschen war stärker als meine Reue. Die Strafe fürchtete ich wenig, ich fürchtete nur die Schande, diese aber mehr als den Tod, mehr als das Verbrechen, mehr als alles auf der Welt. Ich hätte mich vergraben, mitten in die Erde hinabsinken mögen; die unbesiegliche Scham war stärker als alles, die Scham allein verlieh mir Schamlosigkeit, und je verbrecherischer ich handelte, desto beharrlicher machte mich die Angst, es einzugestehen: mich erfüllte nur das Entsetzen, erkannt und öffentlich als Dieb, Lügner und Verleumder gekennzeichnet zu werden; vollkommene Verwirrung raubte mir die Möglichkeit zu jedem anderen Gefühl.“12 Es ist die Angst vor dem Urteil der Leute, die Rousseau lähmt; es ist die Entwertung durch die Augen der anderen, vor der Menschen so große Angst haben, dass sie es paradoxerweise vorziehen, zwischenmenschliche Beziehungen zu opfern, nur um sich dieser Angst nicht stellen zu müssen. Die Scham verleiht Rousseau Schamlosigkeit, d. h. die Angst vor der beschämenden Selbstoffenbarung sitzt so tief, dass er sich so verhält, als wäre er schamlos. Nicht der Verstoß gegen die eigenen Wertvorstellungen, sondern der entwertende Blick des anderen lässt den Menschen in Scham versinken. Den Blicken anderer sind wir in einer fundamentalen Weise ausgeliefert, weil wir leiblich existieren.

2. Leiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung Scham ist das Gefühl dafür, dass wir eine Außenseite haben und dass eine Außensicht auf uns möglich ist, gegen die wir uns kaum effektiv zur Wehr setzen können. Hier, in der seelischen und leiblichen Verletzlichkeit, im Wissen um unser fundamentales Ausgeliefertsein liegt der eigentliche Ursprung der Scham, und nicht in der Moralität.13 Scham ist in der Konstitution des Menschen 12 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, 144. 13 Vgl. Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart 2005, 227 ff.; Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013, 168. Leiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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verankert, in der Verletzlichkeit, die mit seiner Leiblichkeit einhergeht. Der Mensch, so Helmuth Plessner, hat einen Leib und ist zugleich ein Leib. Einen Leib haben bedeutet: Ich kann mich zu mir und mit meinem Leib verhalten, ich habe innerhalb gewisser Grenzen das Sagen über meinen Leib und kann ihn für meine Vorhaben in der Welt in den Dienst nehmen. Ein Leib sein bedeutet: Mein Leib macht mir Vorgaben, wie ich lebe, Vorgaben, gegenüber denen ich letztlich machtlos bin. Alles, was ich tun und eben auch sein kann, ist an die Grenzen gebunden, die mein Leib mir vorgibt, und mein Erleben der Welt und meiner selbst ist immer (zumindest) mitbestimmt durch meine physis. Dies gilt auch und gerade für den Ausdruck, den ich mir selbst verleihe. Die Expressivität des Menschen, also sein Sich-Ausdrücken, ist in diese Polarität von Leib-Haben und Leib-Sein eingesenkt.14 An dem einen Ende dieser Polarität steht die Repräsentation eines seelischen Gehalts in konventionellen Zeichen: Ich kann einem Menschen sagen, dass ich diesen Menschen mag oder liebe. Ich kann meinen Sprechapparat verwenden, um meinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen, kann meinen Leib Ausdruckszeichen werden lassen, etwa indem ich nach alter Sitte auf die Knie gehe, wenn ich einen Heiratsantrag mache, und kann die Intensität meines Selbstausdrucks nach meinem Wunsch temperieren. Weil und insofern wir einen Leib haben, können wir unseren Gedanken und Empfindungen kraft unseres Leibes Ausdruck verleihen, wenn wir wollen und wie wir wollen. An dem anderen Ende dieser Polarität steht die leibliche Äußerung eines seelischen Gehalts, der sich an der Leibesoberfläche abformt. Weil und in­sofern wir Leib sind, kann unser Leib auch ohne oder gegen unseren Willen Ausdruckszeichen werden. Wenn mir etwa der Anblick eines bestimmten anderen Menschen im wahrsten Sinn des Wortes sichtbar die Sprache verschlägt, oder wenn ich in dem Augenblick, in dem ich einen Menschen sehe, den ich sehr mag, erröte, oder wenn meine Augen leuchten, oder wenn meine Augen gerade nicht leuchten, dann kommt zum Tragen, dass mein Leib 14 Vgl. Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur, hg. v. Günter Dux, Frankfurt am Main 2003, 201–387. 76 

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für mich sprechen und über mein Inneres nach außen Mitteilungen machen kann, ob ich will oder nicht. In der unwillkürlichen leiblichen Äußerung eines seelischen Gehaltes teilt mein Leib mich mit, anstatt dass ich mich kraft meines Leibes mitteilen würde. Aus diesem Grund ist Scham mit Nacktheit konnotiert, denn nackt sind wir der Unverfügbarkeit und Lesbarkeit unserer Außenseite in gesteigertem Maße ausgesetzt. Wenn ein Mensch aus Scham errötet, geschieht etwas, das für das Wesen und nicht nur für das Erscheinen der Scham in höchstem Maße bezeichnend ist: Die Außenseite unseres Leibes wird beredt. Unser Inneres wird an der Außenseite unseres Leibes ablesbar, und wir sind dem Gelesenwerden durch andere, dem Durchschautwerden, auch der Entwertung durch andere letzten Endes schutzlos ausgeliefert. Wir können nicht einmal verhindern, dass andere Menschen richtige und falsche Schlüsse aus unserer Erscheinung ziehen. Scham ist ein Gefühl dafür, dass wir eine Außenseite haben, über deren Beredsamkeit wir nur sehr bedingt, und, was entscheidend ist: über deren Interpretierbarkeit wir gar nicht verfügen. Beide Aspekte – die Beredsamkeit und die Interpretierbarkeit unserer Außenseite – gehören zusammen: Die beschämenden Blicke des anderen gehen uns unter die Haut, weil sie auf unsere existentielle Verletzlichkeit treffen, die wiederum darin gründet, dass unser Inneres sich auch gegen unseren Willen an unserem Äußeren abformen kann, dass unsere Selbstdarstellung einer notorischen Bedrohung ausgesetzt ist. Weil Scham ein Gefühl dafür ist, dass wir auch gegen unseren Willen lesbar sind, senken Menschen ihren Blick, wenn sie nicht wollen, dass jemand sieht, wie ihre Augen leuchten. Was nicht hilft, wenn man zugleich hold errötet. Und aus demselben Grund weichen Menschen den Blicken ihres Gegenübers aus, wenn sie nicht wollen, dass ihr Gegenüber die Verhärtung und Verkühlung ihrer Gefühle sieht oder den Zorn, der in ihnen brodelt. Was nicht wirklich hilft, denn DenBlicken-Ausweichen ist selbst ein zwar mehrdeutiges, aber doch deutliches Zeichen, denn es zeigt, dass jemand seinem Gegenüber etwas nicht mitteilen möchte. Scham ist also ein Gefühl dafür, dass der Mensch gegen seinen Willen sichtbar und lesbar ist und gelesen wird. Das Symptom für die Scham – Erröten – und der Gegenstand der Scham – als Leib dem Blick des anderen akut in einer besonderen Weise ausgesetzt sein – stehen in einer AnaLeiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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logie des Seins (analogia entis) zueinander: In der Art des Erscheinens der Scham manifestiert sich der Inhalt der Scham. Wenn wir sagen, dass wir im Boden versinken wollten vor Scham, dann meinen wir ja, dass wir aufhören möchten, in unserer leiblichen Präsenz den Blicken der anderen ausgesetzt zu sein. An der Leiblichkeit lässt sich demonstrieren, wie Beschämung wirkt. Das bedeutet aber nicht, dass Scham im beschriebenen Sinne mit Körperscham identisch wäre. Vielmehr manifestiert sich in der Körperscham exemplarisch mein grundlegendes, über mein Verhältnis zu meinem konkreten Leib hinausgehendes Ausgeliefertsein an das Bild, das der andere sich von mir macht, an seine Verachtung oder auch an seine aufdringliche Bewunderung, denen gegenüber ich mich kaum wirksam immunisieren kann, ohne meine Personalität aufzugeben. Ich habe es nicht in der Hand, was für ein Bild ich abgebe, und vor allem habe ich es nicht in der Hand, was für ein Bild der andere sich von mir macht. Der Ursprung der Scham liegt in diesem Ausgeliefertsein an den Blick und an das Urteil des anderen, in der existentiellen Verletzlichkeit des Menschen gegenüber der Beschämung durch andere. Unsere Verletzlichkeit ist nicht sündhaft, sie ist Bestandteil unseres Personseins-in-Beziehungen. Wohl aber prädisponiert unsere Verletzlichkeit uns dazu, die Scham übermächtig werden zu lassen, gerade wenn wir uns ihrer Macht entziehen wollen. Diesen genuin sozialen Aspekt der Scham verkennt etwa Augustin in seinen ansonsten überaus feinfühligen Bemerkungen zur Scham, die er im Zusammenhang seiner Auslegung der Paradieserzählung vorträgt. Scham gilt Augustin als Strafe für die ungezügelte Lust des Menschen, die den Leib des Menschen zeichnet wie ein Stigma. Vor dem Vorfall im Paradies war Nacktheit nicht beschämend, weil die Menschen über ihre Leiber herrschten. Fortpflanzung war ohne Erregung möglich. Dass sein Leib im Sexuellen nicht seinen Befehlen gehorcht wie in allen anderen Lebensvollzügen, erscheint Augustin geradezu beschämend und widerlich,15 so wie es ihm auch absurd erscheint, dass der Mensch nicht in 15 Vgl. Augustinus, Über den Wortlaut der Genesis. De Genesi ad litteram libri duodecim. Der grosse Genesiskommentar in zwölf Büchern, Bd. 2: Buch VII bis XII, hg. v. Carl Johann Perl, Paderborn 1961–1964, v. a. 103 (Gn. litt. 9,10,18; CSEL 28/1, 279,22 ff.). 78 

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derselben Weise über die Ausrichtung seines Willen verfügen kann wie über die Bewegungen seiner Gliedmaßen.16 Sexuelle Erregbarkeit unterwandert die Freiheit des Menschen.17 Augustin meint, die unbeherrschbare Beredsamkeit des Leibes sei die eigentliche Folge des Sündenfalls, und hierin sieht er den Grund für die Scham der ersten beiden Menschen ob ihres Nacktseins. „Wer aber,“ so Augustin, „der ein Freund der Weisheit und heiliger Wonnen ist und im Ehestand lebt, […] möchte nicht lieber, wenn es möglich wäre, ohne Wollust Kinder zeugen, so dass auch bei diesem Akte die hierzu erschaffenen Glieder, ebenso wie die übrigen Glieder bei den verschiedenen Verrichtungen, für die sie bestimmt sind, dem Geiste dienstbar wären und auf Willensgeheiß hin in Tätigkeit träten, aber nicht durch die Glut der Wollust angereizt wären […]. Mit Recht schämt man sich dieses Triebes sehr, und mit Recht werden die betreffenden Glieder, die sozusagen nach eigenem Gesetz und durchaus nicht nur nach unserer Willkür erregt oder nicht erregt werden, Schamteile genannt, was sie vor der Sünde des Menschen noch nicht waren. Denn, wie geschrieben steht, waren die Menschen zuerst nackt und schämten sich nicht. Nicht als wäre ihnen ihre Nacktheit unbekannt gewesen, aber sie war noch nicht schimpflich, weil die Wollust diese Glieder noch nicht wider Willen in Erregung versetzte […].“18 In Augustins Augen ist der Ungehorsam des sexuell 16 Vgl. Augustinus, Confessiones, hg. u. übers. v. Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009, 389 ff. (conf. 8,8,20–8,9,21; CChr.SL 27, 126,30 ff.). Die Vorstellung einer Zeugung ohne sexuelle Begierde findet sich auch bei Clemens von Alexandrien. Clemens von Alexandreia, Teppiche. Wissenschaftliche Darlegung entsprechend der wahren Philosophie (stromateis), Buch I–III, übers. v. Otto Stählin, München 1936 (BKV 26), 291 f. (strom. 3.7.58); dazu: Kyle Harper, From Shame to Sin. The Christian Transformation of Sexual Morality in Late Antiquity, Cambridge, Mass. 2013 (Revealing Antiquity), 112. 17 Vgl. Augustinus, Vom Gottesstaat, 123 (civ. Dei 13,13; CChr.SL 48, 395,1 ff.). 18 Ebd., 190 f. (civ. Dei 14,16 f.; CChr.SL 48, 439,10–439,8); vgl. ebd., 197 ff. (civ. Dei 14,21; CChr.SL 48, 443,1 ff.). Augustins Überlegungen zur Sexualität vor und nach dem Sündenfall variieren allerdings. Vgl. Augustinus, Das Gut der Ehe, übertr. v. Anton Maxsein, Würzburg 1994 (Sankt Augustinus. Der Seelsorger. Deutsche Gesamtausgabe seiner moraltheologischen Schriften), 1 f. (b. coniug. 2; CSEL 41, 188,10 ff. [Parthenogenese]); dazu: Jesse Couenhoven, Stricken by Sin, Cured by Christ. Agency, Necessity, and Culpability in Augustinian Theology, Oxford 2013, 34. Leiblichkeit, Verletzlichkeit und Beschämung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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erregten Leibes, seine unwillkürliche Beredsamkeit selbst Folge des ursprünglichen Ungehorsams der ersten Menschen gegen Gottes Gebot. Vor dem Sündenfall befahlen die ersten Menschen (bzw. befahl der erste Mann) den Zeugungsgliedern so souverän wie allen anderen Gliedmaßen auch, nach dem Sündenfall erleiden die Menschen einen nicht endenden Aufruhr als spiegelbildliche Strafe für ihren eigenen Aufruhr gegen Gott.19 Gegenstand der Scham ist der ursprüngliche Ungehorsam gegen Gott, für den der Mensch mit Ungehorsam bestraft wird. In der sexuellen Erregung erhebt der Leib sinnenfällig Anklage gegen die Sünde des Menschen überhaupt. Damit bildet Augustins Deutung der Paradieserzählung einen traurigen Höhepunkt christlicher Stigmatisierung der Leiblichkeit und der Sexualität des Menschen.20 Weil Augustin geradezu gebannt auf den sexuell empfindsamen Leib als Hort der Sündhaftigkeit starrt, entgeht ihm, dass es bei der Scham nicht um die destruktive Eigenwirksamkeit des sinnlich empfindenden Leibes geht, sondern um die destruktive Eigenwirksamkeit der Blicke, die zwischen Menschen hin- und hergehen, wenn sie sich ihres Ausgeliefertseins an ihre Lesbarkeit bewusst werden. In der Scham wird der Mensch sich dessen bewusst, dass er nicht Herr seiner eigenen Selbstdarstellung ist.21 Selbstdarstellung ist ein zentrales Moment des Selbstseins in Beziehungen. Wann immer Menschen interagieren, bringen sie ihr individuelles Selbstsein in einer bestimmten Art und Weise im Angesicht von anderen zur Darstellung. Das Gefühl der Achtung des anderen ist ein Gefühl dafür, in welcher einzigartigen Weise ein Mensch sich selbst Gestalt verleiht.22 Wahrnehmbar aber ist die Einzigartigkeit der anderen Person nur, wenn diese andere Person die Freiheit hat, sich selbst darzustellen, sich selbst Gestalt zu geben und Ausdruck zu verleihen.23 Scham ist ein Gefühl da19 Vgl. auch Augustinus, Über den Wortlaut der Genesis. De Genesi ad litteram libri duodecim, 103 (Gn. litt. 9,10,18; CSEL 28/1, 280,9 ff.). 20 Vgl. Uta Ranke-Heinemann, Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität, München 2012; Gerhard Schulze, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, Frankfurt am Main 2008, 35 ff. 21 Vgl. J. David Velleman, The Genesis of Shame, in: ders., Self to Self. Selected Essays, Cambridge/New York 2006, 45–69. 22 S. o. Kap. 2. 23 S. o. Kap. 1. 80 

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für, dass die Selbstdarstellung des Menschen unterwandert wird, weil das Selbst nicht souverän darüber verfügt, wie es sich vor den Augen anderer darstellt, etwa weil bestimmte Aspekte seiner Existenz unwillentlich entblößt oder gewaltsam bloßgestellt werden.24 Den Gedanken, die sich andere Menschen über uns machen, können wir uns so wenig entziehen wie den Blicken, die andere Menschen auf unsere leibliche Erscheinung richten. Entwürdigende Eingriffe in die Regie unserer Selbstdarstellung gefährden unsere soziale Existenz überhaupt.25 Diese Gefährdung geht mit der Macht einher, die von den Blicken der anderen ausgeht. „Wenn jemand seinen Nächsten öffentlich beschämt,“ heißt es im Babylonischen Talmud, „so ist es ebenso, als würde er Blut vergießen.“26 Worin aber gründet diese gewaltige Macht des beschämenden Blicks?

3. Das Bild, das wir abgeben Der Blick des anderen ist, so Jean-Paul Sartre, ein maßlos verstörendes Ereignis, weil er mich zum leblosen, wehrlosen Gegenstand degradiert. Die Szene, mit der Sartre das Schamgefühl darstellt, hat in der Philosophiegeschichte geradezu klassischen Rang erhalten: „Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier, aus Verdorbenheit so weit gekommen, mein Ohr an eine Tür zu legen, durch ein Schlüsselloch zu gucken.“27 In einem solchen Akt des Voyeurismus, so Sartre, gehe ich ganz und gar auf. Ich verliere mich an die Welt und vergesse mich selbst, ich sehe nicht, was ich tue, weil ich mich entscheide, es nicht sehen zu wollen.28 Diese 24 S. o. Abschn. 2.3. 25 Vgl. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 21974, 78. 26 Der Babylonische Talmud, Bd.  6: Sota, Gittin, Qiddušin, hg. v. Lazarus Goldschmidt, Berlin 31981, 634 (Baba Metzia IV,X, Fol. 58b). Vgl. zur Scham im Talmud Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Eschborn/Frankfurt am Main/Magdeburg 62010, 93 ff. 27 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 467. 28 Vgl. ebd., 468 f. Das Bild, das wir abgeben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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willentliche Selbstvergessenheit wird jäh durchbrochen: „Jetzt habe ich Schritte auf dem Flur gehört: man sieht mich.“29 In diesem Augenblick wird mir klar, dass ich als ein Objekt für andere existiere, dass der andere sich ein Bild von mir macht und mich auf dieses Bild festlegt. Dies ist der eigentliche Grund der Scham: Ich habe eine Außenseite, die den Blicken der anderen und ihren Deutungen und Festlegungen ausgeliefert ist.30 In der Scham erlebe ich, dass meine ‚Außenseite‘, das Bild, das ich abgebe, dem Blick des anderen schutzlos ausgeliefert ist. Der mich beschämende Blick des anderen reduziert mich auf das, was er von und in mir sieht, auf einen bestimmten Aspekt meiner selbst. Scham ist die Reaktion darauf, vom Blick des anderen fixiert zu werden, von einem Blick, der mich auf einen Ausschnitt meiner selbst reduziert – und der mich auf diese Weise tötet. „Der andere ist der Tod meiner Möglichkeiten, insofern ich diesen Tod als mitten in der Welt versteckt erlebe […]. So steckt in dem Zusammenzucken, das mich durchfährt, wenn ich den Blick des Andern erfasse, daß ich plötzlich eine subtile Entfremdung aller meiner Möglichkeiten erlebe […].“31 Dabei ist es gleichgültig, auf welchen Ausschnitt seiner selbst jemand reduziert wird. Scham überkommt einen Menschen, wenn ihm die Souveränität über seine Selbstdarstellung genommen wird, in welcher Weise auch immer. Auch Bewunderung kann Anlass zur Scham sein, wenn man für etwas Bestimmtes von bestimmten Personen nicht bewundert werden möchte. „Man kann sich“, so Bernard Williams, „für die Bewunderung schämen, die einem auf die falsche Weise von einem falschen Publikum zuteil wird.32 Wenn ich schön bin, dann werde ich im beschämenden, urteilenden Blick des Anderen 29 Ebd., 469. 30 Vgl. ebd., 473 f. Literarisch verdichtet sich die Erfahrung in den letzten Zeilen von Sartres Drama Geschlossene Gesellschaft: „Also das ist die Hölle. […] Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die anderen.“ Jean-Paul Sartre, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Theaterstücke, Bd. 3: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt, übers. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993, 59. 31 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 477. 32 Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wieder­ belebung antiker Begriffe der Moral, übers. v. Arthur Owen, Berlin 2000, 97. 82 

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reduziert auf die Arroganz und Eitelkeit, die mir unterstellt werden; wenn ich hässlich bin, werde ich reduziert auf das Gefühl sozialer Minderwertigkeit, unter dem ich vermutlich leide; wenn ich ehrgeizig bin, werde ich reduziert auf meine vermeintliche unbefriedigte Geltungssucht. Ich kann so oder so kein Wort der Klarstellung ergreifen, weil der andere sein Urteil gefällt hat über das Bild, das ich abgebe. Ohne mich anzuhören, urteilt der andere über dieses Bild, das ich unwillentlich abgebe, als ob ich tot wäre. „Bedeutet Leben die Offenheit des Immer-anders-Möglichen, bin ich nach dem Tod reduziert auf das, was tatsächlich gelebt, gesagt und getan wurde, und es sind die anderen, die das abschließende, nicht mehr zu revidierende Urteil fällen, dass ich ein Feigling war oder ein Held.“33 Der vergegenständlichend-beschämende Blick beraubt mich meiner Offenheit, meiner Freiheit, mich selbst zu deuten, mich selbst darzustellen und mich unerwartet zu verhalten. Fatal wird die Scham, wenn sie sich in den Blicken einnistet, die zwischen Menschen hin- und hergehen. Das Beschämtsein richte ich schließlich auf denjenigen zurück, der mich beschämt: Blicke verhärten sich dann gegenseitig, weil unrevidierbare Urteile befürchtet und vorsorglich gefällt werden. Da der andere mich verurteilen könnte, ziehe ich mich in ein inauthentisches, unaufrichtiges Selbst zurück.34 Aus demselben Grund entwerte ich vorsorglich den anderen und damit sein Urteil.35 Ich pariere das Vergegenständlichtwerden durch den Anderen, indem ich meinerseits den Anderen vergegenständliche. Scham ist reziprok:36 Sie entfaltet ihre Eigenwirksamkeit in der Wechselwirkung, die sich in den Blicken einnistet, mit denen Menschen einander begegnen, im „Teufelskreislauf von Scham und Verachtung“37, wie Léon Wurmser treffend formuliert. In Folge dieser Scham wenden sich Gesichter voneinander ab, um sich vor Ver33 Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main 2008, 201. 34 Vgl. Martha Craven Nussbaum, Hiding from humanity, 192 ff., 219 f. 35 Vgl. Jürgen Hengelbrock, Jean-Paul Sartre. Freiheit als Notwendigkeit. Einführung in das philosophische Werk, Freiburg im Breisgau 2004, 82; Léon Wurmser, Das Problem der Scham, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 13 (1981), 11–26, 24 f. 36 Vgl. Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 98. 37 Léon Wurmser, Die Maske der Scham, 305. Das Bild, das wir abgeben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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letzungen zu schützen, bis sie einander und sich selbst nicht mehr wieder­erkennen, nichts mehr aneinander finden und nichts mehr miteinander anfangen können. Anfangenkönnen ist Signum der Freiheit des Menschen überhaupt.38 In der Scham wird eben diese Freiheit kompromittiert. So wie die Selbsttäuschung meine Fähigkeit zur Wahrnehmung und damit meine Fähigkeit zur Selbstachtung und zur Achtung anderer untergräbt, so zerstört das mich beschämende und missachtende endgültige Urteil des anderen Menschen meine Freiheit, einen eigenen Anfang zu setzen, mein Selbst zu gestalten und darzustellen. Wie dieses Wechselspiel von Scham und Schamangst, von Beschämung und der Erwiderung von Beschämung, von wirklichem Erleiden von Missachtung und der dadurch evozierten traumatischen Angst sich zerstörerisch in einem Menschen einnisten kann, beschreibt Dostojewski in seiner Erzählung „Arme Leute“. Er schildert einen Beamten, der in der ständigen Angst vor Missachtung und Beschämung lebt, da er, wann immer er gesehen wird, damit rechnet, im Blick der anderen entwertet und erniedrigt zu werden. „Er, der Arme, hat an allem etwas auszusetzen; er sieht auch Gottes ganze Welt anders an, als es andere Menschen tun, und jedem Vorübergehenden wirft er einen schrägen Blick zu und schaut ängstlich und misstrauisch um sich und horcht auf jedes Wort, ob da nicht etwa über ihn gesprochen wird, zum Beispiel dass er so schlecht gekleidet sei.“39 Das Verheerende ist, dass der arme Mensch sich die Blicke nicht bloß einbildet. „Und woher weiß denn ein armer Mensch das alles und denkt sich all so etwas? Woher? Nun, aus Erfahrung! Er weiß zum Beispiel, dass da so ein Herr, der neben ihm geht, gleich in ein Restaurant hin­ eingehen wird und jetzt zu sich selbst sagt: ‚Was wird dieser Beamte, dieser Hungerleider, heute essen? Ich werde ein sauté aux papillotes essen und er vielleicht Grütze ohne Butter.‘“40 Es gibt die missachtenden Blicke tatsächlich, insoweit täuscht sich der arme Mensch keineswegs, seine Täuschung besteht allein darin, dass die Welt in seinen Augen aus nichts anderem mehr besteht denn 38 S. o. Kap. 1. 39 Fjodor Dostoevskij, Arme Leute. Roman, übers. v. Hermann Röhl, Frankfurt am Main/Leipzig 1997, 105 f. 40 Ebd., 106. 84 

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aus drohender Beschämung. Die tatsächliche Missachtung und Geringschätzung werden in der Phantasie des armen Menschen unendlich groß und vergiften seinen Blick auf die Welt mit alles durchdringender Angst und Misstrauen. Teils gründet seine Scham in dem Wissen darum, dass seine Armut Anlass zu missachtenden Blicken sein kann; teils ist seine Scham verursacht durch die Inflation der drohenden Beschämung in seiner Phanta­ sie.41 Und diese Eigendynamik der Scham lässt Scham in die Nähe der Sünde rücken. Vom Wirken der destruktiven Macht der Sünde ist zu reden, wenn Scham sich gegen den Willen, aber nicht ohne das Zutun der Beteiligten verselbständigt und die wechselseitige Wahrnehmung von Menschen unmöglich macht.42 Automatische Gedanken und Handlungen treten an die Stelle bewusster Interaktion, die Zeit, die zum Sich-Ausdrücken und Einander-Wahrnehmen aufzuwenden ist, wird gleichsam eingezogen, so wie in der Selbsttäuschung automatische Gedanken an die Stelle der reflektierten, sich an ihrem Gegenstand abarbeitenden Wahrnehmung treten. Werfen wir schließlich vor diesem Hintergrund erneut einen Blick auf den wohl bekanntesten Text zur Scham im westlichen Kulturraum: „Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so dass er einschlief. Und er nahm eine von seinen Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch; und Gott, der Herr, baute die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einer Frau, und er brachte sie zum Menschen. […] Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht. Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen? […] Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da 41 Vgl. zur Schamphantasie auch Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 96. 42 Tiedemann spricht von „sich selbst perpetuierende[n] Mechanismus“, den die Schamangst nach sich zieht. Vgl. Jens L. Tiedemann, Scham, Giessen 2013 (Analyse der Psyche und Psychotherapie 7), 94. Das Bild, das wir abgeben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zu­sammen und machten sich einen Schurz.“43 Infolge des sogenannten Sündenfalls ist jener Zustand zerstört, der vor diesem Vorfall herrschte. Vor dem Vorfall im Paradies konnten die beiden ersten Menschen einander ohne Scham nackt gegenüberstehen. Seit dem Vorfall im Paradies können die Menschen das nicht mehr, und sie fangen an, sich dem Blick des jeweils anderen zu entziehen.44 Der Text sagt auch nichts darüber, ob durch die Selbst­verhüllung jene Verunsicherung des Miteinanders aufgefangen werden kann, die sich nach dem Vorfall im Paradies eingestellt hat. Ist die Störung im Verhältnis zwischen Adam und Eva nunmehr aufgehoben, nachdem die beiden sich bekleidet haben? Die Bedeutungen, die die Wörter „bekleiden“ in der hebräischen Bibel annehmen können, lassen wohl zumindest Zweifel zu. Denn „Bekleiden“ kann seinerseits Teil  eines metaphorischen Ausdrucks von Scham und Schande sein.45 Friedhelm Hartenstein schlussfolgert aus diesem semantischen Befund, „dass das erste Menschenpaar wohl auch speziell insofern ‚nackt‘ ist, als sie sich nicht gegenseitig in ‚Schande‘ kleiden und sich durch Worte und Blicke mit Schmach ‚überziehen‘“46. Erst nachdem berichtet wird, dass die Menschen gewahr werden, dass sie nackt sind, ist davon die Rede, dass sie sich

43 Gen 2,21–3,7. 44 Klopfenstein meint, da bôš bereits im Qal sich schämen  heißt, lege die Form des Hitpolel nahe, dass es sich hier um eine reziproke Scham handele, zwar sage der Autor nicht direkt, dass Mann und Frau sich vorein­ ander schämten, dies sei aber in Gen 2,25; 3,7.10 impliziert. Vgl. Martin A. Klopfenstein, Scham und Schande nach dem Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu den hebräischen Wurzeln bôš, klm und hpr, Zürich 1972 (AThANT 62), 32 f. Vgl. auch Friedhelm Hartenstein, „Und sie erkannten, dass sie nackt waren…“ (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählungen, in: EvTh 65 (2005), 277–293, 286; Jack M. Sasson, welō’ yitbōšāšu and Its Implications, in: Biblica 66 (1985), 418–421, 420. 45 Vgl. Johannes Pedersen, Israel. Its life and culture, Atlanta 1991 (South Florida Studies in the History of Judaism 29); Friedhelm Hartenstein, „Und sie erkannten, dass sie nackt waren …“ (Gen 3,7), 288, mit Verweis auf Ps 35,26, 109,29; 132,18. 46 Ebd., 288. Benno Jacob, Das Buch Genesis, Stuttgart 2000, 101, übersetzt gar: „Und sie beschämten sich nicht.“ 86 

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vor Gott verstecken.47 Im Nachgang der Übertretung bedecken die beiden ersten Menschen ihre Blöße, da sie sich nun als Wesen wahrnehmen, die ungeschützt der Aufmerksamkeit der anderen ausgesetzt sind. Dieser Akt des Sich-Bedeckens aber ist selbst, so scheint mir die Erzählung nahzulegen, bereits beherrscht von der Scham – auch wenn später ein anderes Licht auf das Bekleiden fällt, da es heißt, Gott habe Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen gemacht.48 Sobald Scham und die Beschämung sich einmal in den Beziehungen der Menschen eingenistet haben, kontaminieren sie im schlimmsten Fall die Gemeinschaft und alles, was in dieser Gemeinschaft unternommen wird, folglich auch alles, was die Menschen der Verletzung und der Entblößung entgegensetzen wollen. „Die Nacktheit des unschuldigen Paares und die Scham, die der Verfehlung folgt, besagen den Umsturz jeder menschlichen Kommunikation, die fortan unter das Zeichen der Verkleidung gestellt ist.“49 Das Gespräch zwischen Gott und Mensch, das sich an diese Szene in Gen 3,8–13 anschließt, wird nun beherrscht von Ausreden, Schuldzuweisungen und Selbstrechtfertigungen.50 Jedes Wort, das klären soll, verletzt nur noch mehr, und die beiden ersten Menschen fallen in Isolation. Scham ist ein soziales Gefühl, das paradoxerweise als soziales Gefühl isoliert.51 Diese Isolation ist verhängnisvoll, wenn Menschen, die aus Angst vor beschämendem Vergegenständlichtwerden vorsorglich den jeweils anderen vergegenständlichen und beschämen, einander irgendwann überhaupt nicht mehr wirklich in die Augen sehen, wenn Menschen den Mut verlieren, ihr Unwohlsein 47 Gen 3,7 f.; dazu auch: Philipp Stoellger, Passion’s Performance On the Effects of Affects, in: Ingolf U. Dalferth/Michael Rodgers (Hgg.), Passion and Passivity, Tübingen 2011 (RPT 61), 185–207, 196. 48 Gen 3,21. Hier geht es allerdings wohl nicht um die Scham, sondern um den Schutz vor der Witterung, den die aus Laub selbstgemachten Kleider nicht gewähren konnten. Vgl. Josef Scharbert, Genesis, Würzburg 62005 (NEB.AT 1,1), 60. 49 Paul Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, übers. v. Maria Otto, Freiburg im Breisgau/München 32002, 281. 50 Vgl. Beate Ego, Adam und Eva im Judentum, in: Christfried Böttrich/ dies./Friedmann Eißler (Hgg.), Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2011, 11–78, 22.  51 Vgl. Sighard Neckel, Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt am Main 1991, 17.  Das Bild, das wir abgeben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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unter dem Blick des anderen zu thematisieren und zu fragen: ‚Wie schaust Du mich eigentlich an?‘ Die somit vorgeschlagene Deutung geht davon aus, dass in Genesis 3 von so etwas wie einem Sündenfall die Rede ist. Nun haben Exegeten emphatisch darauf hingewiesen, dass in Genesis 3 weder dem Wort noch der Sache nach von so etwas wie Sünde die Rede sei.52 In der Tradition Kants, Schillers und Hegels ließe sich die Paradieserzählung auch als Geschichte des Mündigwerdens des Menschen lesen, der sich aus der Behaglichkeit der Unmündigkeit losreißt und sich den Beschwerlichkeiten eines selbst verantworteten und somit irrtumsfähigen Lebens aussetzt, dem Preis der Freiheit und der Fähigkeit, selbst über Gut und Böse zu urteilen.53 Der Sündenfall erscheint so als Fall in die sekundäre Weltoffenheit.54 Tatsächlich suggeriert die Paradieserzählung nicht, dass die Erkenntnis von Gut und Böse selbst böse sei, aber etwas an der Art und Weise, wie Adam und Eva einander nach dem Vorfall im Paradies gegenüberstehen, führt zu einer Störung ihres Verhältnisses zueinander. Zu einer Störung der zwischenmenschlichen Beziehung führt nicht allein die Fähigkeit zum Urteilen, sondern der Strudel von wechselseitiger Verurteilung und Vorverurteilung, in den die beiden geraten, und in dessen Bann sie sich den Blicken des anderen entziehen. Nicht das Schamgefühl ist sündhaft, sondern die destruktive Dynamik, die das Schamgefühl nach sich ziehen kann. Das Schamgefühl selbst ist so wenig sündhaft wie die Sexualität oder die Leiblichkeit des Menschen. An der Scham als solche ist nicht einmal unbedingt etwas Schlechtes,55 und noch weniger ist Scham ein Kommentar zur Wirklichkeit des Menschen 52 Vgl. Jürgen Ebach, Dialektik der Aufklärung. „Der Text zur Bibelarbeit zum Kirchentag:  1. Mose 3 und darin die Losung des Kirchentags aus I. Mose 3,9 Mensch wo bist Du?“, in: Junge Kirche extra (2008), 2–10. 53 Vgl. Immanuel Kant, Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte, in: ders., Werkausgabe, Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 3, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 41982, 85–102. 54 Vgl. Odo Marquard, Felix Culpa. Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauss/ Wolfhart Pannenberg (Hgg.), Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981 (Poetik und Hermeneutik 9), 53–71, v. a. 71. 55 Vgl. Micha Hilgers, Scham. Gesichter eines Affekts, Göttingen 42012, 15 f. 88 

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oder ein Zeugnis der Sünde.56 Destruktiv wird die Scham, wenn sich die beschämenden Blicke verselbständigen. Die Erfahrung jener verhängnisvollen Eigendynamik, von der verzerrte Wahrnehmungen und verstörende Blicke erfasst werden können, artikuliert sich in der christlichen Tradition als Erfahrung der Macht der Sünde über den Menschen. Von Sünde ist zu sprechen, wenn das Schamgefühl sich stumm in der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Menschen einnistet und dann die Wahrnehmung trübt und verdüstert, bis die Menschen im schlimmsten Fall nichts mehr klar stellen können. Achtung und Liebe entstehen, wenn Menschen sich und einander wirklich ansehen. Der Mensch ist von Gott gemeint als ein Wesen, das dem anderen und sich selbst mit Achtung und Liebe begegnet. Die Erfahrung, dass das für den Menschen vorgesehene gute Leben verhindert wird, weil ihre Wahrnehmung getrübt und ihre Blicke verhärtet sind, deutet die christliche Tradition als Erfahrung der Sünde. Gegen ihren eigentlichen Willen, aber nicht ohne ihr Zutun verfangen Menschen sich in Selbsttäuschungen, ideologischen und verlogenen Denkstrukturen, in Scham und wechselseitiger Beschämung. Gegen die Sünde ist Moral letztlich machtlos. Denn zwar lässt sich das Gebot der Nächstenliebe als Forderung verstehen, dass Menschen an ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung arbeiten mögen.57 Auch ist gegen jede Missachtung und Entblößung des an56 Vgl. Alexandra Grund, Art.  Scham, in: Michael Fieger/Jutta Krispenz/ Jörg Lanckau (Hgg.), Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013, 347–349, 348; Klaas Huizing, Shame on you! Scham als Grundbegriff einer protestantischen Ethik, in: ZEE 57 (2013), 89–101, 91; anders Christina-Maria Bammel, Der Schambegriff als Kommentar zur Wirklichkeit des Menschen. Anthropologische Anmerkungen zu einem Phänomen des Fühlens in hamartiologischer Perspektive, in: BThZ 21 (2004), 192–205; dies., Aufgetane Augen – Aufgedecktes Angesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch, Gütersloh 2005 (Öffentliche Theologie 19), 210 ff. (vgl. allerdings auch a. a. O., 284 f. zur „schöpfungs- und versöhnungsdienlichen Dimension“ der Scham); Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bd. 3: Schöpfung und Fall, hg. v. Eberhard Bethge u. Martin Rüter, Gütersloh 22002, 117; Christoph Dohmen, Schöpfung und Tod. Die Entfaltung theologischer und anthropologischer Konzeptionen in Gen 2/3, Stuttgart 1996 (Stuttgarter Biblische Beiträge 35), 174 ff.; Wilfried Härle, Dogmatik, 499. 57 S. o. Abschn. 2.1 f. Das Bild, das wir abgeben © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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deren Menschen einzuschreiten.58 Jene alltägliche Entwertung jedoch, die sich in beschämenden Blicken vollzieht, befindet sich gleichsam unterhalb des Radars einer negativen Moralphilosophie, d. h. einer Moralphilosophie, die nicht formuliert, was zu tun, sondern was zu lassen ist.59 Sünde nistet sich in gesellschaftlichen Strukturen ein und entzieht sich so oftmals unserer Wahrnehmung. Aus dem verhängnisvollen Kreislauf von Selbsttäuschung, Verlogenheit und Scham führt im äußersten Fall kein Weg mehr heraus  – es sei denn, dass er durchbrochen und ein neuer Anfang ermöglicht wird. Etwa in der Vergebung.

58 S. o. Abschn. 2.3. 59 Vgl. Theodor Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, hg. v. Rolf Tiede­ mann, Frankfurt am Main 1973, 7–409, 281: „Moralische Fragen stellen sich bündig […] in Sätzen wie: Es soll nicht gefoltert werden […].“ 90 

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Kapitel 5: Vergebung

„Die Freiheit des Menschen“, so Peter Strasser, „besteht darin sagen zu können: Das bin nicht ich, nicht wirklich ich!“1 Freiheit bedeutet, dass wir auf uns selbst nicht festgelegt sind, dass wir etwas anfangen können, dass wir unseren eigenen Faden in ein Gewebe ‚schlagen‘, das wir nicht selbst gemacht haben.2 Diese Freiheit wird kompromittiert, wenn Menschen in der Selbsttäuschung und in der Scham die Möglichkeit zur vorbehaltlosen Selbstwahrnehmung einbüßen und das Vertrauen in ihre Selbstgestaltung und Selbstdarstellung verlieren, wenn das Vertrauen darauf verloren geht, dass man sich sehen lassen kann – sei es, weil Menschen übersehen werden, sei es, weil Menschen unter dem fixierenden Blick des anderen auf das reduziert werden, was von ihnen ohne oder gegen ihren Willen sichtbar geworden ist. Aber auch dann gibt es noch eine Freiheit, eben die Freiheit zu sagen, ‚das bin nicht ich, nicht wirklich ich‘, die Freiheit zur Anerkenntnis von Selbstmissverständnissen und Verfehlungen, zur Auflehnung gegen die eigenen Fehlhaltungen und zum Einspruch gegen eine verzerrte Wahrnehmung und Bewertung des eigenen Selbst durch andere. Einem Menschen diese Freiheit zu nehmen und ihn endgültig auf das zu reduzieren, was er gegen seinen Willen gewesen und geworden ist, ist gnadenlos. „‚So bin ich eben‘“, meint Robert Spaemann, „ist das Pendant zu dem erbarmungslosen ‚So bist du eben‘, mit dem der andere auf sein Sosein, das sich in seinem Verhalten gezeigt hat, festgenagelt und ihm die Möglichkeit genommen wird, sich als ein anderer zu zeigen: eine Möglichkeit, die durch Verzeihung eröffnet wird.“3 Gnade erlöst den Menschen 1 Peter Strasser, Über Selbstachtung, 144, mit Bezug auf die natürlichen Anlagen des Menschen. 2 S. o. Abschn. 1.1. 3 Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, Stuttgart 32006, 21. Verzeihung wird zugesprochen, indem der andere erwidert: „Nein, so bist Du nicht.“ Vgl. Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 52009, 248. Vergebung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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davon, derjenige sein zu müssen, zu dem er sich gegen seinen Willen, aber eben nicht ohne sein Zutun selbst gemacht hat. Vielleicht ist Dorothee Sölles Plädoyer für das Recht, ein Anderer zu werden, etwas zu vollmundig.4 Anderssein lässt sich nicht einklagen wie ein Grundrecht. Wohl aber dürfen – und ich meine, sollen – wir auch und gerade angesichts unseres Sünderseins auf die Möglichkeit des Andersseins hoffen. Die Wirklichkeit, in der diese Hoffnung gründet, ist die Wirklichkeit der Verzeihung bzw. der­ Vergebung. Zwischen den Ausdrücken vergeben und verzeihen lässt sich unterscheiden, wenngleich diese Ausdrücke in der Alltagssprache und auch in der philosophischen Fachsprache oftmals austauschbar verwendet werden.5 Versuchen wir dennoch, dem feinen Unterschied in der Semantik der beiden Ausdrücke nachzuspüren. Zeihen bedeutet ursprünglich: auf eine Schuld hinweisen. Verzeihen bedeutet folglich, auf eine Schuld nicht mehr hinzuweisen, auch: eine Schuld nicht mehr anzurechnen, auf das Zeihen bzw. das Bezichtigen zu verzichten.6 Wer verzeiht, verzichtet auf den moralischen Protest gegen dasjenige, das es zu verzeihen gilt, und gibt das eigene moralische Urteil auf. Ver-geben bedeutet ‚etwas falsch austeilen‘: jemandem etwas schenken, was man von ihm zu beanspruchen hat.7 Vergebung ist insofern eine Gabe in dem Sinn, den die dekonstruktivistische Philosophie herausgearbeitet hat: Gabe ist das Gegenteil von Geschenk, weil ein Geschenk in einem Kreislauf von Geschenk und Gegengeschenk, von do ut des, von Gefälligkeit und Pflicht zur Rückzahlung durch eine 4 Vgl. Dorothee Sölle/Peter Bichsel, Das Recht ein anderer zu werden. Dorothee Sölle und Peter Bichsel im Gespräch, in: dies., Teschuwa. Umkehr. Zwei Gespräche, Zürich 1989, 67–115, 71. Sölle tendiert denn auch dazu, Umkehr an die Stelle von Vergebung zu stellen. Vgl. dies., Das Recht, ein anderer zu werden. Theologische Texte, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart/ Berlin 1981, v. a. 162. 5 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, Mainz/Stuttgart 2006, 4, Anm. 2. Vgl. zur Unterscheidung von Vergeben und Verzeihen auch den Vorschlag von Mariano Crespo, Das Verzeihen. Eine philosophische Untersuchung, Heidelberg 2002, 52. 6 Vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, 566. 7 Vgl. Dudenredaktion, Duden, Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 42007, 252. 92 

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neue Gefälligkeit steht; die Gabe hingegen ist ein giving without return.8 Die Gabe ist ein Ereignis, das den Kreislauf von Pflichten, In­vestitionen und Schuld(en) durchbricht, wie eine ursprüngliche Hingabe aus Liebe ohne alle Berechnung. Vergebung als eine besondere Gestalt der Gabe gibt, was von dem zu beanspruchen wäre, dem vergeben wird, nämlich: dass dieser ein anderer wird – ein anderer als der, als der er sich in seiner Selbstverstrickung und Selbstverfehlung erwiesen hat. Vergebung gibt, dass der, der sich in seiner Verfehlung verirrt hat, in den Augen desjenigen, der vergibt, tatsächlich ein anderer wird, indem der Vergebende sagt: ‚Du bist nicht der, als der du dich in deiner Verfehlung erwiesen hast, ich sehe anders auf dich, ich sehe auf einen anderen Menschen in dir, auf den, der du eigentlich sein möchtest.‘ Vergebung befreit den Menschen nicht nur von den Folgen seiner Taten, sondern auch davon, als der Mensch angesehen werden zu müssen, zu dem er sich selbst gemacht hat. Vergebung ist möglich kraft der Gnade, die davon befreit, bei dem eigenen Sosein endgültig behaftet zu werden. Vergebung trennt zwischen dem, was jemand geworden ist, und dem, was er sein könnte. Diese Trennung, so Paul Ricœur, „bringt einen Akt des Vertrauens zum Ausdruck, einen Kredit, der den Erneuerungsmöglichkeiten des Selbst eingeräumt wird.“9 Vergebung ist ein Ereignis der Gabe ohne Austausch von Gütern, Guthaben, Gefälligkeiten und Verpflichtungen dazu, sich erkenntlich zu zeigen. Folglich gibt es keinen Ritus, keine Therapie oder Ökologie der Erinnerung, in der alle Beteiligten einen defi­ nierten Part zu spielen hätten.10 Insofern ist Vergebung ein Ereignis bedingungsloser Selbsthingabe, vergleichbar einer Selbsthingabe aus Liebe. Beide, Vergebung und Selbsthingabe, sind Ereignisse, die sich einstellen. Eine Ethik der Selbsthingabe und 8 Zu Derridas Verständnis der Gabe vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. v. Michael Wetzel, München 1993, 22 ff.; dazu: Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren, 68. 9 Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, hg. v. Hans-Dieter Gondek, München 2004 (Übergänge 50), 755. 10 Vgl. Jacques Derrida, Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, Interview mit Michel Wieviorka, in: Lettre International 48 (2000), 10–18, 10; Thomas Macho, Fragment über die Verzeihung, in: Zeitmitschrift 3 (1988), 135–143, 142. Vergebung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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eine Ethik der Vergebung würden den Menschen überfordern, wenn Vergebung und Hingabe eingeklagt werden würden. Vergebung ist dasjenige, auf dessen Empfang man sich nicht vorbereiten kann, das eben nur als reine Gabe empfangen werden kann. Anderssein kann man kaum vorbereiten, Andersseinkönnen ist eine Gabe. Ich kann nur empfangen, ein anderer werden zu dürfen, von dem erlöst zu werden, was ich willentlich oder unwillentlich aus mir gemacht habe. Die Erfahrung, aus der Begrenztheit des eigenen Personseins einmal entlassen zu werden, ist eine Erfahrung der Vergebung als eines transzendenten Ereignisses. Es ist unendlich schwer, ein anderer zu sein, weil das, was wir im Guten und im Schlechten geworden sind, unserem Dasein seinen Halt gibt. Die Bitte um Vergebung ist die Bitte darum, dass es trotz dieser Schwierigkeit möglich sein möge, dass wir andere werden. Wer so bittet, dem gilt die Verheißung, dass ihm gegeben wird – aber wer so bittet, empfängt nicht einfach schon dadurch, dass er bittet.11 Und wer so vergeben kann, der gibt, was er aus eigener Kraft allein niemals zu geben vermöchte. Vergebung in diesem Sinn ist eine Gabe, die Menschen zuteilwird.12 Unterschlägt man diesen Gabecharakter der Vergebung, dann verhaftet die Rede von der Vergebung uns bei unseren Möglichkeiten und Wünschen, anstatt dass ein wirklicher Neuanfang eröffnet wird. Vergebung ist das diametrale Gegenteil von Beschämung. Beschämung sagt: ‚Alles an dir ist wie diese Unzulänglichkeit, deren Zutagetreten in Wahrheit dich entblößt hat.‘ Der beschämende Blick ist ein vermeintliches Durchschauen und Verstehen des anderen. Vergebung ist demgegenüber nicht etwa ein angemessenes Verstehen, sondern etwas kategorial anderes als Verstehen. Vergeben und Verstehen sind grundverschiedene Akte. Alles verstehen ist nicht alles verzeihen, auch wenn der Volksmund es so 11 So allerdings wird die Logik des Gebets dargestellt bei Michael Theunissen, ho aiton lambanei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins, in: ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 321–377; dazu kritisch: Jochen Schmidt, Klage, 156, Anm. 171. 12 In der jüdisch-christlichen Tradition steht im Vordergrund, dass Gott den Menschen vergibt. Jedoch auch die zwischenmenschliche Vergebung ist von hoher Bedeutung – man denke nur an die Josefserzählung. John Barton, Understanding Old Testament Ethics. Approaches and Explorations, Louisville 2003, 7.  94 

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will.13 Wir verzeihen bzw. vergeben nicht, weil wir genauso gehandelt hätten wie der, der sich an uns schuldig gemacht hatte – in diesem Fall gäbe es kaum etwas zu verzeihen.14 Vergebung ist notwendig, gerade weil wir nicht nachempfinden konnten, wie der andere Mensch das tun konnte. Vergebung ist maßlos.15 Sie macht an den Grenzen des Verstehens und der empathischen Einführung nicht halt. Wir vergeben nicht, weil wir verstehen, sondern obwohl wir nicht verstehen16 – so wie wir auch gerade das bereuen, was wir nicht durch die lebensgeschichtliche Bedingtheit einer Verfehlung entschuldigen können.17 Vergebung ist Vergebung dessen, was nicht vergeben werden kann.18 Sie wird den Menschen zuteil, die im Augenblick der Verfehlung nicht wussten und vielleicht noch immer nicht wissen, was sie tun.19 Vergebung kann nur empfangen und nicht eingeklagt werden. Die Bitte um Vergebung ist nur möglich als offene Bitte, die keinen Anspruch darauf erhebt, gewährt zu werden, andern13 Vgl. Marco Iorio, Über den Gemeinspruch: „Alles verstehen heißt alles verzeihen“, in: Susanne Kaul/Lothar van Laak (Hgg.), Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007, 33–43, v. a. 40 ff. Zur literarischen Genese dieser Formel vgl. Hans Robert Jauss, Tout comprendre, c’est tout pardonner, in: ders., Wege des Verstehens, München 1994, 49–83. 14 Vgl. Aurel Kolnai, Forgiveness, in: Proceedings of the Aristotelian Society 74 (1973/1974), 91–106, v. a. 98. 15 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Ver­ zeihens, 39. 16 Vgl. Georg Simmel, Gesamtausgabe, Bd.  4: Einleitung in die Moral­ wissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Zweiter Band, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 31999, 224. 17 Vgl. Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main 2003, 363. 18 Vgl. Jacques Derrida, Das Jahrhundert der Vergebung, v. a. 11 ff. 19 Vgl. Lk 23,34; dazu: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 305; Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen, 249; Karin Scheiber, Vergebung. Eine systematisch-theologische Untersuchung, Tübingen 2006 (RPT 21), 65 ff.; Christoph Seibert, Versprechen und Verzeihen. Zwei Grundbegriffe unseres ethischen Selbstverständnisses, in: ZThK 109 (2012), 70–95, 89. Nietzsche allerdings meint, weil die Menschen nie wüssten, was sie tun, sei Vergebung unmöglich. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I  und II, Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Mon­tinari, München 1999, 582 (Teil II, Der Wanderer und sein Schatten § 68). Vergebung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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falls wäre Vergebung keine Gabe.20 Zur Vergebung, die immer ein freier Akt ist,21 kann niemand aufgefordert werden oder verpflichtet sein, sie wird erbeten im Bekenntnis der Verfehlungen: ‚So war ich, aber das war nicht ich, nicht wirklich ich, nun lass mich nicht derjenige sein, der so gewesen ist, nicht nur derjenige.‘22 Wenn diese Bitte aufrichtig gesprochen sein soll, kann dabei nicht verschwiegen werden, was wir erkannt und bekannt haben, wer wir denn gewesen sind. Vergebung bedeutet nicht, über etwas hinwegzusehen, Vergebung bedeutet auch nicht nur, den Menschen von seinen Taten freizusprechen, sondern Vergebung bedeutet, einen Menschen freizusprechen von dem, was er gegen seinen Willen war und nun nicht mehr sein möchte, und ihm so einen neuen Anfang zu ermöglichen. Menschen werden davon befreit, lediglich aufeinander reagieren zu können, wenn Verletzung und Reaktion, etwa Scham und Beschämung, wie notwendig aufeinander folgen. Vergebung unterbricht verhängnisvolle Automatismen, die sich durch Un-Taten – durch Taten, die jedes weitere Tun unmöglich machen  – unter Menschen einnisten.23 Ein neuer Anfang blendet die bisherige Geschichte nicht aus, sondern lässt es möglich werden, dass diese Geschichte eine unwahrscheinliche Wendung nimmt, dass sie unerwartet weitergeht, dass Menschen sich selbst und einander damit überraschen, anders sein zu können.24 Die hier vorgelegte Miniatur einer Theologie der Lebensführung kreist um die Frage, was es bedeutet, das eigene Leben als Individuum zu führen, etwas mit sich und dem anderen anfangen zu können. Theologie der Lebensführung im hier vorgeschlagenen Sinne fragt im Horizont der christlichen Tradition, wie wir uns selbst sehen, wie wir einander sehen, ob es denn möglich ist, 20 Vgl. Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 739. 21 Vgl. Aurel Kolnai, Forgiveness, 102; Christoph Seibert, Versprechen und Verzeihen, 87. 22 Ähnlich Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen, 248. 23 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 308. 24 Avishai Margalit ist gar der Auffassung, dass in der Möglichkeit zur Veränderung des eigenen Lebens die Achtung vor dem Menschen überhaupt begründet ist. Vgl. Avishai Margalit, Politik der Würde, 92. Ähnlich argumentiert Trudy Govier, Forgiveness and the Unforgivable, in: American Philosophical Quarterly 36 (1999), 59–75, v. a. 64 ff., 71. 96 

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dass wir so aufeinander und auf uns selbst blicken, dass wir ein Leben in Achtung und Liebe führen, einander aufrichten anstatt einander niederdrücken. Wenn die Wahrnehmung des anderen Menschen, wenn Achtung und Liebe augenscheinlich unmöglich geworden sind, weil Menschen sich in ihrer Selbstverfehlung verstrickt haben, dann müssten Menschen von sich erlöst werden durch die Vergebung all dessen, was sie gegen ihren Willen zum Schaden ihrer Selbst und ihres Nächsten gewesen sind. Er­lösen kann nur der gnädige Blick eines anderen, der unsere Verfehlungen ansehen kann, ohne von ihnen gebannt zu sein. Erlösend wäre ein Blick, der nicht allein achtsam und gastfreundlich ist gegenüber der je besonderen Gestalt des anderen in dessen eigener Art des Selbstseins – und das allein wäre nicht hoch genug zu loben –,25 sondern der den anderen Menschen der Achtung noch würdiger macht, als dieser es ist,26 der den Menschen ansieht als den, der er doch eigentlich sein wollte und noch sein könnte, indem der Blick, wenn es sein muss, schlussendlich doch noch mit voller Absicht von dem absieht, was jemand nun eben bis hierhin unwillentlich, aber nicht ohne sein Zutun, gewesen und nicht gewesen ist. Dass eingestandene Verfehlungen, Missachtungen und Beschämungen den Blicken nicht mehr bleischwer im Weg stehen, so dass die Sicht wieder frei werden kann für das, was wahrlich sehenswert wäre, dafür dankt Hiskia im Buch Jesaja, wenn er Gott lobt mit den Worten: „Alle meine Sünden wirfst Du hinter Deinen Rücken.“27

25 S. o. Kap. 1 und 2.  26 „Amor Dei non invenit sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili.“ („Die Liebe Gottes findet das Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten.“ Martin Luther, Heidelberger Disputation, These 28 [WA 1, 354,34 f.]). Dazu: Christiane Tietz, Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme, Göttingen 2005 (FsöTh 108), 142, dort weitere Literatur. 27 Jes 38,17. Vgl. zum Motiv des Bedeckens der Sünde aus Liebe bzw. Rücksicht Günter Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde, 84, mit Verweis auf Spr 10,12; 17,9; Ps 32,1; 1. Petr 4,8 u. a. Vergebung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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Literatur

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in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. 3: Phaidon – Das Gastmahl – Kratylos, Darmstadt 62011, 395–575. Plessner, Helmuth, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur, hg. v. Günter Dux, Frankfurt am Main 2003, 201–387. Pollmann, Arnd, Menschenwürde nach der Barbarei. Zu den Folgen eines gewaltsamen Umbruchs in der Geschichte der Menschenrechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte 4 (2010), 26–47. Preul, Reiner, „Bestimmung des Menschen“ – wie lässt sich heute darüber reden?, in: Christian Polke/Frank Martin Brunn/Alexander Dietz/ Sibylle Rolf/Anja Siebert (Hgg.), Niemand ist eine Insel. Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik, Berlin 2011, 487–508. Pulmer, Karin, Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards „Entweder-Oder“, Frankfurt am Main 1982 (Deutsche Sprache und Literatur 527). Ranke-Heinemann, Uta, Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität, München 2012. Rhees, Rush, Discussions of Simone Weil, hg. v. D. Z. Phillips unter Mitarbeit v. Mario von der Ruhr, Albany 1999 (Simone Weil Studies). Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, übers. v. Jean Greisch, München 1996. –, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, übers. v. Maria Otto, Freiburg im Breisgau/München 32002. –, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, hg. v. Hans-Dieter Gondek, München 2004 (Übergänge 50). Röhser, Günter, Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia, Tübingen 1987 (WUNT 25). –, Paulus und die Herrschaft der Sünde, in: ZNW 103 (2012), 84–110. Rorty, Amélie Oksenberg, The Deceptive Self. Liars, Layers, and Lairs, in: Brian P. McLaughlin/Amélie Rorty (Hgg.), Perspectives on SelfDeception, Berkeley 1988, 11–28. –, Die Historizität psychischer Haltungen. Lieb’ ist Liebe nicht, die nicht Wandel eingeht, wenn sie Wandel findet, in: Dieter Thomä (Hg.), Analytische Philosophie der Liebe, Paderborn 2000, 175–193. –, User-Friendly Self-Deception. A Traveler’s Manual, in: Clancy W. Martin (Hg.), The Philosophy of Deception, Oxford/New York 2009, 244–259. Rosenau, Hartmut, Der Mensch zwischen Wollen und Können. Theologische Reflexionen im Anschluß an Röm 7,14–25, in: Philosophische Vierteljahresschrift 65 (1990), 1–30. 108 

Literatur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

–, Hamartiologische Vorüberlegungen zur Einführung, in: Wilfried Härle (Hg.), Sünde, Leipzig 2008, 1–14. Roth, Michael, Was ist ein Moralist? Überlegungen zum moralischen Bullshit und seiner Vermeidung, in: ders./Jochen Schmidt (Hgg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Leipzig 2008, 195–224. –, Willensfreiheit? Ein theologischer Essay zu Schuld und Sünde, Selbstgerechtigkeit und Skeptischer Ethik, Rheinbach 2011. Rousseau, Jean-Jacques, Bekenntnisse, übers. v. Ernst Hardt, Frankfurt am Main 2007. Sallustius Crispus, Gaius, De coniuratione Catilinae/Die Verschwörung des Catilina. Lateinisch und deutsch, hg. v. Karl Büchner, Stuttgart 1991. Santoni, Ronald E., „Unaufrichtigkeit“. Klärung eines Begriffs in Das Sein und das Nichts, in: Bernard N. Schumacher (Hg.), Jean-Paul­ Sartre, Das Sein und das Nichts, Berlin 2003, 63–84. Sartre, Jean-Paul, Das Sein und das Nichts. Gesammelte Werke in Einzel­ ausgaben, Philosophische Schriften, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1993. –, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Theaterstücke, Bd.  3:  Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt, übers. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993. –, Der Ekel. Roman, übers. v. Uli Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1995. Sasson, Jack M., welō’ yitbōšāšu and Its Implications, in: Biblica 66 (1985), 418–421. Schaber, Peter, Menschenwürde, Stuttgart 2012. Scharbert, Josef, Genesis, Würzburg 62005 (NEB.AT 1,1). Scheiber, Karin, Vergebung. Eine systematisch-theologische Untersuchung, Tübingen 2006 (RPT 21). Scheler, Max, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt am Main 22004. –, Die Stellung des Menschen im Kosmos, hg. v. Manfred S.  Frings, Bonn 182010. Schlette, Magnus, Die Idee der Selbstverwirklichung. Zur Grammatik des modernen Individualismus, Frankfurt am Main 2013. Schmid, Wilhelm, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998. Schmidt, Jochen, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, Berlin/New York 2006 (KSMS 14). –, Klage. Überlegungen zur Linderung reflexiven Leidens, Tübingen 2011 (RPT 58). –, Ein Tun ohne Bild. Ideologie, Verlogenheit, Sünde und das Böse, in: Paul Fiddes/ders. (Hgg.), Rhetoriken des Bösen/The Rhetoric of Evil, Würzburg 2013, 255–269. Literatur © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525670170 — ISBN E-Book: 9783647670171

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–, Schwacher Irrationalismus. Theologie als Wissenschaft, in: ders./ Heiko Schulz (Hgg.), Religion und Irrationalität. Historisch-Systematische Perspektiven, Tübingen 2013, 255–266. –, Rez. William Dalton Wood, Blaise Pascal on Duplicity, Sin, and the Fall. The Secret Instinct (Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology), Oxford: Oxford University Press 2013, erscheint in: ThLZ 140 (2015), im Druck. Schnädelbach, Herbert, Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer altgewordenen Religion, in: ders. (Hg.), Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt am Main 2009, 153–173. Schneider, Gunda, Überlegungen zur Identität des Sünders, in: NZSTh 20 (1978), 237–252. Schneider-Flume, Gunda, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002. Schönherr-Mann, Hans-Martin, Sartre. Philosophie als Lebensform, München 2005. Schopenhauer, Arthur, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet u. hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Bd. 3: Kleine Schriften, Darmstadt 2004, 632–815. Schüle, Andreas, „Denn er ist wie Du“. Zur Übersetzung und Verständnis des alttestamentlichen Liebesgebots Lev 19,18, in: ZAW 113 (2001), 515–534. Schulze, Gerhard, Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, Frankfurt am Main 2008. Schürmann, Eva, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt am Main 2008. Seel, Martin, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main 1996. –, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt am Main 1999. Seibert, Christoph, Versprechen und Verzeihen. Zwei Grundbegriffe unseres ethischen Selbstverständnisses, in: ZThK 109 (2012), 70–95. Simmel, Georg, Gesamtausgabe, Bd.  4: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Zweiter Band, hg. v. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 31999. Simpson, John Andrew/Weiner, Edmund, Oxford English Dictionary, Bd. 15, Oxford 21989. Söding, Thomas, Der Mensch im Widerspruch (Röm 7), in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 371–374. Sölle, Dorothee, Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart 1971. –, Das Recht, ein anderer zu werden. Theologische Texte, erweiterte Neuausgabe, Stuttgart/Berlin 1981. 110 

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Namensregister

Adorno, Theodor  69, 90 Arendt, Hannah  20, 70, 95 f. Augustinus  36 f., 46, 50, 57, ­78–80 Axt-Piscalar, Christine  66 Bader, Günter  20 Bammel, Christina-Maria  89 Bargh, John A.  68 Barton, John  94 Battegay, Raymond  71 Beck, Ulrich  10 Beier, Kathi  56 f. Beintker, Michael  23 Bellah, Robert Neelly  34 Bichsel, Peter  92 Bieri, Peter  75, 95 Bonhoeffer, Dietrich  89 Bornmüller, Falk  29 Brandt, Sigrid  44 Breithaupt, Fritz  37 Brueggemann, Walter  14 Bruner, Jerome S. 21 Bultmann, Rudolf  48 f. Canning, Raymond F.  38 Cassirer, Ernst  18 Chen, Mark  68 Clemens von Alexandreia  79 Couenhoven, Jesse  79 Crespo, Mariano  92 Dalferth, Ingolf U.  87 Darwin, Charles  73 f. Davidson, Donald  63 Demos, Raphael  64

Derrida, Jacques  69, 93, 95 Dillon, Robin S. 29, 32, 54, 59, 68, 70 Dohmen, Christoph  89 Dostoevskij, Fjodor  84 Dovidio, John F.  68, 70 Duerr, Hans Peter  73 Dürig, Günter  40 f. Ebach, Jürgen  20, 88 Ebeling, Gerhard  24 f., 49, 66 Ego, Beate  87 Elias, Norbert  72 f. Ellison, Ralph  40 Epiktet 21 Euler, Walter Andreas  61 Fenner, Dagmar  22, 27, 60 Fingarette, Herbert  64 Frankfurt, Harry G.  27 Fredriksen, Paula  46 Freud, Sigmund  37, 51, 55–58 Fromm, Erich  22 Fürst, Alfons  57 Gaertner, Samuel L.  70 Gerhardt, Gerd  22, 31 Gerhardt, Volker  21 Geuss, Raymond  69 Gewirth, Alan  26 f. Giovanni Pico della Mirandola  18, 61 Govier, Trudy  96 Gräb, Wilhelm  10, 45 Gräb-Schmidt, Elisabeth  59 Gregor von Nyssa  17 Namensregister

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Grund, Alexandra  89

Kulcsar, Shoshanna  70

Habermas, Jürgen  41 Haight, Mary R.  57 Hamann, Johann Georg  52 Härle, Wilfried  44, 47, 49 f., 59, 66, 89 Harper, Kyle  79 Hartenstein, Friedhelm  86 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  22, 88 Heidegger, Martin  10 f., 34 Hengelbrock, Jürgen  83 Hesse, Heidrun  13 Hilgers, Micha  88 Hill, Thomas E.  29 Höffe, Otfried  30 Honneth, Axel  32, 40 f. Howard, Adaiah  68 Huizing, Klaas  89

Lasch, Christopher  34 Laube, Martin  45, 66 Leonhardt, Rochus  45 Leppin, Volker  66 Lichtenberger, Hermann  47 f. Lotter, Maria-Sibylla  73 Löw-Beer, Martin  66 Luckner, Andreas  34 Luhmann, Niklas  14, 81 Luther, Martin  44, 46 f., 49, 66, 97

Iorio, Marco  95 Jacob, Benno  86 James, William  60 Jauss, Hans Robert  88, 95 Joas, Hans  15, 42 f. Johnson, Brenda  68 Johnson, Craig  68 Jüngel, Eberhard  23, 35 Kant, Immanuel  29–31, 37, 39 f., 47 f., 51–58, 70, 88 Kawakami, Kerry  68 Kierkegaard, Søren  26 f., 37 f., 60 Kinter, Achim  26 Kleffmann, Tom  50 Klopfenstein, Martin A.  86 Kobusch, Theo  17 Kodalle, Klaus-Michael  92, 95 Kolnai, Aurel  95 f. Krämer, Hans  26 Kulcsar, Istvan  70 114 

Macho, Thomas  93 MacIntyre, Alasdair  21 Margalit, Avishai  42 f., 96 Marquard, Odo  88 Menke, Christoph  69 Morgan, Michael L.  73 Morton, Adam  60 Müller, Anselm Winfried  22 Müller, Julius  66 Murdoch, Iris  31, 69 f. Neckel, Sighard  87 Neumann, Volker  34 Nietzsche, Friedrich  10, 18 f., 25, 33, 43, 95, Nikolaus von Kues  17 Nussbaum, Martha Craven  71, 83 Origenes 17 Pannenberg, Wolfhart  23, 88 Pascal, Blaise  9, 58, 65 Pears, David  56 Pedersen, Johannes  86 Pieper, Annemarie  27, 60 Platon  22, 51 Plessner, Helmuth  76 Pollmann, Arnd  41

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Preul, Reiner  23 Pulmer, Karin  26 Ranke-Heinemann, Uta  80 Rhees, Rush  38 Ricœur, Paul  21, 87, 93, 96 Rogers, Carl R.  22 Röhser, Günter  48–50, 97 Rorty, Amélie Oksenberg  34, 53, 60, 69 Rosenau, Hartmut  44, 49 Roth, Michael  45, 67 Rousseau, Jean-Jacques  74 f. Sallustius, Gaius  57 Santoni, Ronald E.  63 Sartre, Jean-Paul  10, 34, 51, 56, 59–65, 81–83 Sasson, Jack M.  86 Schaber, Peter  40 Scharbert, Josef  87 Scheiber, Karin  95 Scheler, Max  13, 51, 67 Schiller, Friedrich  88 Schlette, Magnus  24 Schmid, Wilhelm  19 Schmidt, Jochen  15 f., 27, 58, 67, 69 f., 93 f. Schnädelbach, Herbert  45 Schneider-Flume, Gunda  27 Schönherr-Mann, Hans-Martin  10, 34 Schopenhauer, Arthur  43 Schüle, Andreas  39 Schulze, Gerhard  80 Schürmann, Eva  83 Seel, Martin  28, 41 Seibert, Christoph  95 f.

Simmel, Georg  95 Simpson, John Andrew  74 Söding, Thomas  46 Sölle, Dorothee  48 f., 92 Spaemann, Robert  42, 91, 95 f. Stangneth, Bettina  47, 70 Staub, Ervin  71 Stegmaier, Werner  13, 92 Stendahl, Krister  46 Stoecker, Ralf  37 Stoellger, Philipp  87 Strasser, Peter  13, 91 Sturma, Dieter  56 Suchocki, Marjorie  44 Suda, Max Josef  44 Szondi, Lipot  70 Taylor, Charles  18, 24, 34, 64 Taylor, Gabriele  68 Taylor, Mark C.  10 Theunissen, Michael  94 Thomä, Dieter  26, 34 Tiedemann, Jens L.  85 Tietz, Christiane  23, 97 Tillich, Paul  44, 47 f., 61 Velleman, J. David  32, 80 Volp, Ulrich  17 Weiner, Edmund  11 Westermann, Claus  14 Wetz, Franz Josef  75 Williams, Bernard  82 f., 85 Wood, William Dalton  58, 65 Wundt, Wilhelm  29 Wurmser, Léon  81, 83 Zimbardo, Philip  70

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Sachregister

Absicht  47, 57, 62, 97, s. a. Handlungsabsicht Achtsamkeit 44 Achtung  29–36, 39–42, 52, 69, 71 f., 80, 84, 89, 96 f., s. a. Hochachtung, Missachtung, Selbstachtung, Verachtung Anfang  12, 20 f., 84, 90, 96 – Neu- 94 Arroganz  54, 70, 83 Aufmerksamkeit  33, 36, 87 Aufrichtigkeit  36, 51, s. a. Unaufrichtigkeit Ausdruck/s  11, 14 f., 32 f., 76, 80 – -zeichen 76 Ausreden 87 Beschämung  43, 49, 71 f., 75, 78, 84 f., 87, 89, 94, 96 f., s. a. Scham Bewusstsein/s  56 f., 62, 67 f., 73 – -inhalte  56, 64 Beziehung/s  20, 28, 75, 78, 80, 87 f. – -gewebe 21 Blick  12, 35–37, 72–75, 77 f., ­80–86, 88–91, 94, 97 Böse, das  47, 88 Charakter  19, 24 Dasein  13 f., 17, 22, 34, 61, 69, 94 Demütigung  42 f., 71 Deutung/s  15 f., 46, 61–63, 82 – -räume 16 116 

Eigendynamik  49, 64, 72, 85, 89, s. a. Sünde Einzigartigkeit  31 f., 35, 37 f., 44, 80, s. a. Individuum Empathie  36 f. – -fähigkeit 48 Empörung  41 f. Entfremdung 82 Entscheidung  27, 32, 34, 64 Erfahrung  11, 14, 16, 24, 28, 34 f., 43, 48–50, 54, 84, 89, 94 – religiöse 14 Erlösung 16 Erregung, sexuelle  78–80 Erröten  73 f., 77 Ethik  30, 39, 93 f., s. a. Moral­ philosophie Existenz  9, 12, 24–26, 59, 81 Faktizität 59–62, s. a. Transzendenz Freiheit  9, 11–13, 16 f., 19–21, 23 f., 26 f., 32, 40 f., 43 f., 48, 50, 59, 61–66, 68, 79 f., 83 f., 88, 91 – Ambivalenz 16 – geschöpfliche  11, 16, 19, 32 Fürsorge 44 Gabe  16, 18, 23, 92–94, 96 Gefühl  11, 30, 32, 35 f., 41, 43, 73–75, 77, 80, 83, 87 – moralisches 73–75 Gelingen  11, 22, 25, 27, 60, s. a. Misslingen Gemeinschaft  11, 87

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Geschichte  16, 20 f., 41, 74, 88, 96 Geschöpf  18, 37, 39, s. a. Mensch Gesellschaft  9 f., 23 f., 34 ‒ anständige  42 Gesinnung  52–55, 67, 70 Gewissen  55, 73 f. Gewissheit  62 f. Glaube/n  16, 24 ‒ illusorischer  60 ‒ unaufrichtiger  63 Glück  15 f., 24, s. a. Leid, Unglück Gnade  24, 91, 93 Gott  16–18, 20, 23, 37 f., 44 f., 61, 80, 84 f., 87, 89, 94, 97 – -ebenbildlichkeit 61 Grausamkeit  42 f. Gründe  29, 51, 65 Gute, das  15, 17, 28 f., 44–47, 52 f., 71 f., 94, s. a. Leben Handlung/s  40, 47, 53, 85 – -absicht 47 – -möglichkeiten 59 Hochachtung 39, s. a. Achtung Hoffnung  12, 92 Ideologie  49, 55, 66 f., 69–71 Individualisierung/s 10 – -prozesse  9 f., 14 Individuum  10–13, 22, 28, ­30–34, 36, 38 f., 41, 49, 96, s. a. Einzigartigkeit Integrität  40, 43, 66, 68 Irrtum  9, 12, 57 f., s. a. Selbst­ täuschung, Täuschung Klage  14, 20, s. a. Lob Kunst  19, 33 Leben/s  10 f., 16, 18–24, 27 f., 32– 34, 41, 44, 47 f., 58, 60, 62, 65, 69, 74, 83, 88, 96 f.

– -führung  9–14, 16 f., 33, 44, 96, s. a. Theologie – gutes  44, 58, 89 – -lüge 66 – personales  9, 60 – -vollzüge  11, 78 – -wirklichkeit  46, 48 Leiblichkeit  75 f., 78, 80, 88 Leid 15, s. a. Glück Liebe  30 f., 35–38, 44, 46, 72, 89, 93, 97, s. a. Nächstenliebe – Gottes 97 Lob 14, s. a. Klage Lüge  50 f., 57, 61, 67 f., s. a. Selbsttäuschung, Lebenslüge – innere 51 Mensch passim, s. a. Geschöpf, Gottebenbildlichkeit – -heit  30 f., 42, 51 – Wesen des  32, 35 – -sein  18, 72 Missachtung  39–42, 84 f., 89, 97, s. a. Achtung Misslingen  11 f., 44, 48, s. a. Gelingen Misstrauen 85 Miteinandersein  11, 28, 66 Moral  30, 89 – -philosophie  29 f., 90, s. a. Ethik Moralität  51, 53, 55, 75 Nächstenliebe  29–31, 37–39, 89, s. a. Liebe Nacktheit  77–79, 87 Offenheit  13, 18, 83 Opfer  48, 56 f., 65, 67, s. a. Täter Orientierung/s 13–15, s. a. Selbst – -kompetenz 15 – -probleme 15 – Neu- 15 Sachregister

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Person  9 f., 23, 27, 30 f., 33, ­40–42, 48, 51, 54, 59, 62, 65 f., 69, 71, 73, 80, 82 Pflicht  29 f., 39 f., 51–53, 92 f. – gegenüber sich selbst  66 – negative  39 f. Phantasie  40, 60, 69, 85 Praxis  36, 38 – religiöse  14, 16 Religion/s  10 f., 13–16, 45 – -theorie 14 Rolle, soziale  33 f. Scham  12, 48 f., 71–75, 77–91, 96, s. a. Beschämung – -angst  84 f. – Körper- 78 – -losigkeit 75 Schande  74 f., 86 Schmerz 36 Schöpfung/s  17 f., 44 – -bericht 20 Schuld  48, 54, 57, 65, 67 f., 73, 92 f. – und Verhängnis  58 Sehen 36 Selbst  19, 22 f., 25–27, 34, 36 f., 57, 69, 73, 76, 81, 83 f., 91, 93, 97 – -achtung  29 f., 37, 40–42, 73, 84 – -beschädigung 73 – -bestimmung 40 – -betrug  50, 53 – -darstellung  72, 77, 80–82, 91 – -deutung  40, 50 – -entfaltung  20, 24 – -erkenntnis  52, 55 – -erleben 34 – -gestaltung  19, 33 f., 40 f., 43, 91 – -hingabe  34, 93 – -inszenierung 33 – -lüge 58, s. a. Selbsttäuschung 118 

– -manipulation 53 – -orientierung  15 f. – -sein  11 f., 27 f., 32–35, 44, 60, 71, 80, 97 – -setzung  17, 60 – -sucht  47 f. – -täuschung  12, 43, 48–52, 54– 59, 61, 64–67, 69–72, 84 f., 89– 91, s. a. Selbstlüge, Täuschung – -verantwortung 40 – -verfehlung  28, 49, 93, 97 – -verstrickung 93 – -verwirklichung  21–28, 33 f., 66 – -wertgefühl 54 Sexualität  79 f., 88 Sinn/es  12, 14–16, 35, 45, 63, 69 – -erfahrung 35 – -gebung 61 – -horizont 15 – -täuschung 57 Sorge 29 Sosein  60 f., 91, 93 Sprache 15 Stigmatisierung  40, 45, 80 Stil  15, 19, 32 f. Subjekt  24 f., 36, 48, 67 Sünde/n  11 f., 16, 23, 43–50, 58, 61, 65 f., 72, 79 f., 85, 88–90, 97 – -fall  79 f., 86, 88 – Eigendynamik  49, 64, 72, 85, 89 Täter  57, 65, s. a. Opfer Täuschung  50, 54, 84, s. a. Irrtum, Selbsttäuschung Theologie  10 f., 14, 16 – der Lebensführung  12, 96 Tod  36, 75, 82 f. Transzendenz 59–63, s. a. Faktizität Tugend  17, 33, 52 f. – -haftigkeit 52

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Übung  29, 31, 36, 38 Unaufrichtigkeit  12, 51, 59, ­61–65, 67, s. a. Aufrichtigkeit Unbestimmtheit  13 f., 16–18, 61, s. a. Bestimmtheit Unglück 16, s. a. Glück Unredlichkeit 51, s. a. Selbst­ täuschung Unruhe 18 Unwahrheit  57, 73, s. a. Wahrheit Verachtung  42, 78, 83, s. a. ­ Achtung Verantwortung  12, 17, 21, 48, 55, 57, 64, 67 f. Verfehlung  12, 44, 49, 67, 73, 87, 91, 93, 95–97, s. a. Selbst­ verfehlung Vergebung  12, 16, 90–97, s. a. Verzeihen Verletzlichkeit  37, 40, 75–78 Verlogenheit  12, 43, 67–71, 90 Vernunft  19, 29–31, 53 f. – -vermögen 22 – -wesen 29

Verstehen  14, 69, 94 f. Vertrauen  91, 93 Verzeihen 92, s. a. Vergebung Wahrheit  9, 38, 51, 57, 60, 63, 68 f., 71, 94, s. a. Unwahrheit Wahrnehmung/s  9, 12, 28 f., 31, 33–36, 38 f., 67 f., 70 f., 84 f., 89–91, 97 – -fähigkeit  41, 55 – Fremd- 38, 66, 89 – Selbst- 11, 36, 72, 91 Welt  11, 13 f., 16, 18, 20 f., 35, 37, 61, 67–70, 75 f., 81 f., 84 f. Wille/ns  12, 17 f., 23, 27, 29, 31, 43, 46–48, 54, 58 f., 65, 72, 76 f., 79, 85, 89, 91 f., 96 f. – -freiheit 13 Wirklichkeit  12, 14, 52, 60–64, 67 f., 88, 92 Würde  18, 30–34, 36, 40–42, 51 – -darstellung 42 Zwang  10, 40, 48

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