Heilsgegenwart: Eine Theologie der Psalmen 9783666538308, 3525538308, 3525538294, 9783525538302

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Heilsgegenwart: Eine Theologie der Psalmen
 9783666538308, 3525538308, 3525538294, 9783525538302

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VÖR

Herrn Professor Dr. Lothar Perlitt mit Zuneigung und Dank

HERMANN SPIECKERMANN

Heilsgegenwart Eine Theologie der Psalmen

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 148. Heft der ganzen Reihe

Für wertvolle Hilfe beim Korrekturlesen möchte ich Frau Brigitta Rotach und Herrn Martin Riwar herzlich danken

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Spieckermann, Hermann: Heilsgegenwart : eine Theologie der Psalmen / Hermann Spieckermann. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments ; H. 148) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. ISBN 3-525-53830-8 kart. ISBN 3-525-53829-4 Gewebe NE: GT Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des theologischen Fachbereichs der Universität Göttingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989 Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Garamond auf Digiset 200 Τ 2 Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt Das Problem I.

II.

Jahwe, d e r S c h ö p f e r u n d E r h a l t e r

21

1. 2. 3. 4.

21 50 60 73

Die gute Ordnung und ihr Herr: Ps 104 Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148 Gottes Herrlichkeit in Kosmos und Gesetz: Ps 19 Von der Erhaltung zur Schöpfung

Jahwe, d e r G o t t seines V o l k e s 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Heilsgeschichte und Tempelkult: die Lade Exodus und Tempelberg: Ex 15 Nationale Katastrophe und religiöse Depression: Ps 137 Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74 Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78 Heilvolle Vorzeit und Fülle der Heilszeit: Ps 114 Von der Unheilsgeschichte zur Heilsgeschichte

III. Jahwe, d e r H e r r seines H e i l i g t u m s 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Huldigung des himmlischen Hofstaates: Ps 29 Die Bedrohung der ewigen Königsherrschaft: Ps 93 Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48 Jahwe, der König der Ehren: Ps 24 Der König von Jahwes Ehren: Ps 21 Theologia gloriae

IV. J a h w e , mein K ö n i g u n d mein G o t t 1. 2. 3. 4. 5. V.

7

Der Der Der Der Des

königliche Mensch: Ps 8 heillose Mensch: Ps 22 begnadete Mensch: Ps 30 beheimatete Mensch: Ps 23 Menschen Gott

J a h w e - G e g e n w a r t u n d H e i l des N a m e n s

87 88 96 115 122 133 150 157 165 165 180 186 196 208 220 226 227 239 253 263 275 284

Literatur

293

Textrekonstruktionen

311

Stellenregister

336

Das Problem Aus welchen Wurzeln israelitischer Frömmigkeit und Theologie ist der Psalter erwachsen? Angesichts der Vielfalt situativer religiöser Äußerungen und theologischer Denkansätze im umfangreichen Psalmenkorpus könnte die Frage als töricht erscheinen. Traditionen von Schöpfung, (Heils-)Geschichte, Gesetz, Prophetie und Weisheit haben neben Königs- und Zionstheologischem sowie kultischem Gedankengut überhaupt ihre Spuren in den Psalmen hinterlassen, so daß man mit Fug und Recht behaupten könnte, es gebe im Psalter keine theologische Uberlieferung, die nicht auch anderwärts und in der Regel ursprünglicher im Alten Testament vertreten sei. Wer sich jedoch vorschnell mit dem Urteil über den Psalter als Sammelbecken unterschiedlicher theologischer Einflüsse aus anderen, vielleicht allen Bereichen des Alten Testaments zufriedengibt, ist leicht in seiner Ruhe zu stören. Wie im übrigen Alten Testament sachliches Ungleichgewicht und ursprüngliche Unabhängigkeit der verschiedenen Traditionen als notwendiger Ausgangspunkt jedes Erklärungsversuches längst erkannt worden sind, so hat auch im Psalter die Annahme gewichts- und geschichtslosen Nebeneinanders der Traditionen keine Wahrscheinlichkeit. Deshalb soll der Versuch unternommen werden, das theologische Zentrum der Psalmtheologie, die den Psalmen ursprünglich eigentümliche Frömmigkeit und theologische Denkweise aufzuspüren. Gefragt wird also einmal mehr nach der Theologie der Psalmen - hier in bescheidener und anspruchsvoller Weise zugleich. Bescheiden, weil nicht das Ziel verfolgt wird, die religiösen und theologischen Strukturen des Psalters in seiner Letztgestalt vollständig zu erfassen. Anspruchsvoll, weil der Versuch gewagt wird, den theologischen Kern des Psalters ausfindig zu machen und Anlaß und Art der Angliederung anderer alttestamentlicher Traditionen herauszuarbeiten 1 . 1

Der Versuch, die theologische Letztgestalt des Psalters mit allen Traditionsanreicherungen darzustellen, wird von Kraus (Theologie) unternommen. Die Berührungspunkte der vorliegenden Arbeit mit Kraus sind geringer als die mit den Studien, die (Aspekten) der Jerusalemer Kulttradition gewidmet sind (vgl. Schreiner, Sion; Stolz, Strukturen; Steck, Friedensvorstellungen). Schreiners Untersuchung erfaßt jedoch in Perspektive und Textbasis einen eigenen Bereich („Theologie der Heiligen Stadt im Alten Testament"), während Stolz die Rekonstruktion Jerusalemer Theologoumena so sehr auf altorientalische Traditionen unterschiedlicher Provenienz stützt, daß sein Vorgehen hier nicht ko-

8

Das Problem

Doch wo mag die theologische Mitte der Psalmdichtung mit welchem Recht zu orten sein? Ist die Frage nach dem speziellen theologischen Zentrum der Psalmen über die generelle Bestimmung des alttestamentlichen Credos hinaus überhaupt möglich und sinnvoll? Ein Blick in die Forschungsgeschichte läßt jedenfalls schnell die Skepsis vor Augen treten, die gegenüber der Existenz einer ursprünglich speziellen theologischen Kontur der Psalmen zu herrschen scheint. In der Regel wird das adäquate Verständnis von übergreifenden traditionsgeschichtlichen Vorstellungen her zu erreichen versucht, sei es vom Kult, der Heilsgeschichte oder der Schöpfung aus2. Ein solches Vorgehen hat sein Recht darin, daß für die Psalmen verständlicherweise kein isolierpiert werden soll. Die größten Affinitäten in methodischem Zugang und Eingrenzung des relevanten Textkorpus bestehen zu Stecks Studie. Sein programmatischer Satz hat mit Einschränkungen auch für die vorliegende Arbeit Geltung: „Unter der Jerusalemer Kulttradition wird die weltumfassende, reflektiert-geschlossene, theologische Konzeption verstanden, die den meisten Psalmen zugrundeliegt und sich in wechselseitiger Ergänzung und Bezugnahme vor allem in Zions-Psalmen, Schöpfungs-Psalmen, Jahwe-König- und KönigsPsalmen in wesentlichen Elementen liturgisch artikuliert" (Friedensvorstellungen S. 9, vgl. auch die Ausführungen S. 10ff.). Die notwendigen Umakzentuierungen werden im Verlauf der Arbeit deutlich werden. Wiederum gering sind die Berührungen mit drei Werken, deren Titel das Gegenteil erwarten lassen könnten. Thematisch fast völlig anders ausgerichtet ist die Monographie von Mann, Divine Presence and Guidance in Israelite Traditions, der - nach ausführlicher Behandlung altorientalischer Texte - im Alten Testament einen weiten Textbereich aus der heilsgeschichtlichen Uberlieferung bis hin zu Texten mit Theophaniemotivik unter seinen Titel subsumieren kann. Für Terrien ist The Elusive Presence sogar Leitidee für eine Neufassung der biblischen Theologie. Ahnlich groß ist die Perspektive von Gray, The Biblical Doctrine of the Reign of God. Im engeren alttestamentlichen Rahmen ist die inhaltliche Nähe immer von der Distanz begleitet, wenn Gray im Anschluß an Mowinckel die These verfolgt, daß „the theme of the dynamic Kingship of God as developed from the liturgy of the autumn festival in Canaan in pre-Exilic Psalms and Prophets is ... a central affirmation of the faith in Israel, associated with the authority of Yahweh in the Covenant sacrament at the Feast of Tabernacles" (S.6). Im Unterschied zu den genannten Werken wird im folgenden thematisch weniger Umfassendes in den Blick genommen, was aber auch eine schärfere Konturierung des mit Heilsgegenwart Gemeinten zuläßt. 2 Das ist eigentlich nur anders bei der königsideologischen Deutung der Psalmen in der Londoner Schule um Hooke und der skandinavischen Schule um Engneil gewesen. Immer wieder findet man hier betont, daß gerade die Psalmen das für Israels Glauben angeblich zentrale sakrale Königtum authentisch dokumentieren im Unterschied zur späten deuteronomi(sti)schen Darstellung der Geschichte Israels in den Geschichtsbüchern. Nach Meinung Engnells sind die Psalmen „the most important texts of the royal-official religion"; „... the first thing necessary to a correct understanding of the religious history of the people in its entirety is a correct understanding of the world of the psalms" (Psalms S. 106. 121, vgl. Ahlström, T h Z 18 S.206). Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber dieser These (vgl. Veijola, Remarks S.29ff.) wird hier in der Eigenständigkeit der Psalmen ein richtiges Element apostrophiert.

Das Problem

9

ter Traditionsraum postuliert werden kann, der jenseits dessen, was sonst in Israel geglaubt und gedacht wurde, Bestand gehabt hätte. Aber es muß auch einem anderen, ganz merkwürdigen Tatbestand Rechnung getragen werden: Sosehr die Einschätzung der Psalmen als Sammelbekken alttestamentlicher Traditionen ein Charakteristikum dieser Texte korrekt widerspiegelt, sowenig kann bereits bei vordergründiger Psalmenlektüre der Eindruck ausbleiben, daß keine der alttestamentlichen Traditionen von Rang und Geltung - sei es nun Schöpfungs-, Heilsgeschichts-, Gesetzes-, Weisheitstradition oder Prophetie - den religiösen und theologischen Charakter des Psalters geprägt hat. Dazu sind sie alle weder in selbständigen Dichtungen noch in theologischen Motiven gewichtig und breit genug vertreten. Eine gewisse Ausnahme macht der Kult. Immerhin ist er nicht primär als eine bestimmte alttestamentliche Tradition oder ein spezifisches theologisches Gedankengefüge zu kennzeichnen, sondern vielmehr als Funktion eines bestimmten Ortes, des Tempels, und an ihm zuvörderst als praxis pietatis, als Vollzug religiöser Handlungen wie Opfer, Ritual und nicht zuletzt auch Gebet. Daß Psalmdichtung hier ihren wichtigsten Entstehungsort gehabt hat, ist nicht nur aufgrund allgemeiner Erwägungen und des Beispiels der altorientalischen Nachbarreligionen wahrscheinlich, sondern legt sich auch aufgrund der Psalmtexte selbst nahe, die ihrerseits theologische Vorstellungen zur Mitte haben, welche sich am besten aus der Sphäre des Tempelkultes erklären lassen. So ist der Kult zwar in erster Linie Geschehenszusammenhang, in zweiter Linie aber Gedankenzusammenhang, dies sogar ganz entschieden in den das Geschehen leitenden, begleitenden und deutenden Texten, also auch den Psalmen 3 . Ohne großes Wagnis darf man behaupten: Wie die Psalmen in einem gewissen Grundbestand am besten innerhalb oder im Gefolge des Tempelkultes zu verstehen sind, so stellt sich die Psalmtheologie in einer bis in Israels frühe Königszeit zurückreichen3 Westermann (AP S. 12) macht zur Charakterisierung der Psalmen von dem Begriffspaar Gedanken- und Geschehenszusammenhang einen anderen Gebrauch. Die Psalmen spiegeln Geschehen wie Klage, Bitte und Lob in bestimmten festen Formen oder Strukturen wider. „Die Struktur eines Psalms ist nicht eine gedankliche, sondern eine Geschehensstruktur. In jedem Psalm geschieht etwas zwischen dem Rufenden und dem, zu dem er ruft." Sowenig die geradezu formularartige Prägung mancher Psalmen(-Gattungen) (vgl. etwa Gerstenberger, Mensch bes. S. 113 ff.) und ihre Intention bestritten werden sollen, ebenjener Begegnung zwischen Gott und Beter zu dienen, scheint es doch unsachgemäß zu sein, dieses Psalmenverständnis in Gegensatz zu ihrer Auffassung als Gedankenzusammenhang zu stellen. Es wird zu zeigen sein, wie sehr die Psalmen neben und z . T . gegen ihre Formgebundenheit auch als Verdichtungen theologischer Reflexion zu charakterisieren sind. Auf die mangelnde Berücksichtigung dieses Aspektes in der Psalmenforschung hat Ridderbos mit Recht hingewiesen (Psalmen S.3. 63 ff.).

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Das Problem

den Form als Tempeltheologie dar 4 . Nach ihren zentralen Aussagen wohnt und thront der königliche Deus praesens in seinem Heiligtum inmitten seines Landes und seiner Verehrer, unsichtbar und unverfügbar, aber gegenwärtig und heilsam erfahrbar auf mancherlei Weise auch über den Bereich des Tempels hinaus in der Welt. Die Zuwendung Gottes zum Menschen (nicht primär zum Volk) ist in dieser Theologie ebenso eine eigentümliche wie die vom Menschen erwartete Hinwendung zu Gott. Diese Theologie in ihren wesentlichen Konturen auf der Grundlage der Psalmen nachzuzeichnen, soll im folgenden versucht werden. Aufgrund der bisherigen Psalmenforschung sind verschiedene Anfragen an die angedeutete Position denkbar 5 . Fällt sie nicht auch unter die Kritik Gunkels an Mowinckel, der „die Psalmen in Bausch und Bogen für ,Kultlieder' erklären" zu können meinte 6 , wodurch die in ihnen zu verfolgende Entwicklung vom „Kultusgedicht" zum „geistlichen Lied" nivelliert wird 7 ? Mowinckels Plädoyer für die kultische Bindung der Psalmdichtung 8 und Gunkels Vorliebe für das geistliche Lied sind zwei Extrempositionen, die sich nicht unversöhnlich gegenüberstehen müssen, sondern in der konkreten Textanalyse ihren jeweiligen Wert als Erklärungsmodelle erweisen können. Dabei ist es durchaus möglich, daß beide in ein und demselben Psalm bestimmte Aspekte zu erhellen vermögen, denn die Lieder des Psalters sind offensichtlich nur selten in ihrer ursprünglich komponierten Form auf uns gekommen. So hat etwa die 587 erzwungene zeitweilige Loslösung der Psalmen vom Tempelkult eine theologische Krise heraufgeführt, deren Spuren in den Texten zuweilen so deutlich zu erkennen sind, daß sie teils nach 4

Die Termini „klassische Psalmtheologie", „Psalmtheologie in ihrer ursprünglichen Gestalt" u. ä. und „Tempeltheologie" werden im folgenden inhaltlich ununterschieden gebraucht. Aus jüngerer Zeit stammen die wichtigsten Studien zur Tempeltheologie von Mettinger (Dethronement S. 19ff.; SEÄ 47 S.21 ff.; Y H W H Sabaoth) und Janowski (JBTh 2 S. 165 ff., unter besonderer Berücksichtigung der exilischen Schekina-Theologie). s Die vielen „Wege der Psalmenexegese" werden hier nicht noch einmal abgeschritten, sondern als bekannt vorausgesetzt. Uber sie informiert gut J. Becker in dem gleichnamigen Buch; vgl. ferner Bernhardt, Problem (mit besonderer Berücksichtigung der königsideologischen Psalmeninterpretation S. 183 ff., dazu die Korrekturen von Ahlström, ThZ 18 S. 205 ff.) und Bjorndalen, Aspects S. 107 ff.; zu eingehenden Literaturberichten vgl. Neumann, Psalmenforschung S. 2 Α. 1. 6 Gunkel/Begrich, Einleitung S. 18. 7 Vgl. ebd. S.lOf. 18f. 29f. 180ff. 260ff. 8 Vgl. Mowinckel, PsSt I S. 137 ff. Hier ist zunächst nur Mowinckels Sicht der Psalmen von Interesse, wie er sie 1921 in Anknüpfung und Kritik an Gunkel formuliert hat. Seine später vorgenommene Revision der eigenen Thesen (vgl. Psalms I S. 42 ff. 225 ff.) kann zunächst unberücksichtigt bleiben.

Das Problem

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literarischem Umfang, teils nach ideengeschichtlichem Charakter noch recht genau identifiziert werden können. Es ist der häufig zu beobachtende Umgang Späterer mit den Psalmen in der Weise der „relecture" oder Neuinterpretation 9 , der Haltung der engagiert Lesenden, Weiterdenkenden und dann auch die überlieferten Texte Weiterschreibenden, die die Chance eröffnet, auf redaktionskritischem und/oder traditionsgeschichtlichem Wege Psalmdichtungen in ihrem ursprünglichen Bestand zu rekonstruieren 10 . Diese Möglichkeit, die von vielen bisher unterschätzt worden ist, gestattet auf methodisch nachprüfbarem Wege die Annäherung an die im Psalter tradierten Kultlieder, ohne daß man die Augen vor der späteren Weiterarbeit an den Texten verschließen oder diese für das Ganze halten muß 11 . ' Vgl. Gelin, Sacra Pagina 1 S.303ff.; Becker, Israel S.lOff.; ders., T h P h 52 S . 5 6 I f f . 10 Engneil hat f ü r die Psalmenexegese durchaus die richtige methodische Devise f o r muliert (ohne daß man - wie so häufig - von seiner exegetischen Applikation überzeugt sein könnte): „Furthermore, it is a truism that even if the final form of a tradition is late ..., this does not have anything to say about the original date of the tradition itself" (Psalms S . l l l ) . In der methodisch exakteren Einschätzung fruchtbarer Wege der Psalmenauslegung herrscht Ubereinstimmung mit Steck (Friedensvorstellungen S. 11 f. A. 10), ohne seine Ansicht zu teilen, „daß die Zahl der in exilischer und nachexilischer Zeit entstandenen Psalmen geringer ist als zuweilen angenommen wird und der überwiegende Teil bereits in vorexilische Zeit g e h ö r t . . . " . 11 Mowinckels zweifellos zu begeisterte Betonung des kultischen Charakters der Psalmen hat aber dennoch der Forschung einen wichtigen korrigierenden Impuls gegenüber Gunkel vermittelt. Bei ihm ist die G e f a h r unverkennbar, die Psalmen trotz des zugestandenen kultischen Ursprungs primär als geistliche Nachdichtung zu verstehen. Das ist nicht zuletzt bedingt durch ein eher negativ geprägtes Kultverständnis. D e r Kult mit seinen Gebetsformularen ist verantwortlich „für eine bestimmte Formelhaftigkeit, Allgemeinheit und Blässe der Ausdrucksformen" (Gunkel/Begrich, Einleitung S. 260), während doch die geistliche Dichtung „der eigentliche Schatz des Psalters" ist (S. 30); „ . . . was sich an kühnen Bildern, einzigartigen Formulierungen, leidenschaftlichem Erguß der Klage, flehentlicher Bitte und innerlicher persönlicher Frömmigkeit findet, das ist dem Klagelied zugewachsen, als es vom Kultus u n d seinen auf das Allgemeine bezugnehmenden Formen und Inhalten sich freizumachen begann" (S.263; vgl. S. 183). O b bei „den professionellen Dichtern unter dem Tempelpersonal" (Mowinckel, PsSt I S. 138), immerhin der gebildeten Schicht des Volkes zugehörig, wirklich die von Gunkel kritisierte G e d a n k e n a r m u t zu beobachten ist, erscheint vorab zweifelhaft und wird sich in der konkreten Textanalyse als unhaltbar erweisen (vgl. die in vieler Hinsicht berechtigte Kritik von Engneil, Psalms S . 9 5 f . 9 8 f . 101 f.). Westermanns Kritik am kultischen Verständnis der Psalmen ist der Gunkels nicht unähnlich und unterliegt damit ebenfalls den schon geäußerten Bedenken. D e r Gottesdienst als „selbstverständliche und notwendige Mitte der Gemeinschaft des ganzen Volkes" ist nur dann als O r t der Psalmenentstehung einsichtig zu machen, wenn man davon den Kult „als eine in sich ruhende, von den übrigen Lebensbereichen abgeschlossene Institution" unterschieden hat, „die ein vom Kultpersonal dirigiertes Eigenleben führte" (Westermann, A P S. 13). D o c h die Gegenüberstellung Kult - Gottesdienst ist eine terminologische Scheinalternative mit neuzeitlich-protestantischem Kolorit. D a ß allerdings in der

12

D a s Problem

Können die Probleme um Herkunft und Traditionsgeschichte der Psalmen mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Textanalyse plausiblen Lösungen zugeführt werden, kann man dies von einem anderen Problembereich nicht mit ähnlich großer Zuversicht im voraus sagen. Das Problem als These formuliert: „Wenn wirklich der Gottesdienst das H e r z des Lebens des Volkes war, dann mußte sich die Geschichte des Volkes in einer Geschichte des Gottesdienstes spiegeln . . . N u n ist die wichtigste, den ganzen Psalter bestimmende Gliederung die in Psalmen der Gemeinschaft und Psalmen des Einzelnen. Sie ist darin begründet, daß die Geschichte des Volkes Israel eine Vorgeschichte in einer G e schichte von Familien hatte, die uns in den Vätergeschichten überliefert ist . . . Die Elemente der A n r u f u n g Gottes in den Psalmen: Klage, Lob, Bitte, Vertrauen, Gelübde begegnen schon hier. Sie gehen in gewandelter Form in den Psalter ein als Psalmen des Einzelnen . . . M i t der Volkwerdung k o m m e n die Psalmen des Volkes hinzu." Bei beiden Gattungen treten Wandlungen ein, „die in Wandlungen des Gottesdienstes, durch die Geschichte bedingt, ihre Begründ u n g haben" (Entstehung und E n d e von Staat, K ö n i g t u m und Tempel) 1 2 .

Der „garstige Graben", den Westermann hier zu überbrücken sucht, besteht in dem unübersehbaren Auseinanderklaffen von Psalmfrömmigkeit und -theologie einerseits und Heilsgeschichtstheologie andererseits, wie sie im Hexateuch erzählt wird und in Credoformulierungen konzentrierten Ausdruck gefunden hat. Der exegetische Tatbestand wiegt schwer, daß die Psalmen - in Ubereinstimmung mit den den Geschichtsbüchern zugrunde liegenden Quellen, der Weisheitsliteratur und der vorexilischen Prophetie - nicht viel über den Väter-, Exodus·, Wüsten- und Landnahmegott wissen oder sagen 13 . Damit muß die in der alttestamentlichen Forschung verbreitete Denkgewohnheit ins reine kommen, die im Zentrum alttestamentlicher Theologie Jahwe als den Gott Israels erkannt hat, der an seinen Verehrern in Patriarchen-, Exodus- und Wüstenzeit segnend, rettend und führend gehandelt und sie durch seinen kriegerischen Beistand in das ersehnte Land gebracht hat. Es war G. von Rad, der in der Auslegung von Dtn 26,5 ff. und anderen Texten, durchgeführt in seiner epochemachenden Studie über „Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs" 1 4 , dieser Definition

Einschätzung des religiösen Stellenwertes der Psalmdichtung - gleichviel, ob man in bez u g auf sie von K u l t o d e r Gottesdienst zu reden vorzieht - ein großes Problem verborgen liegt, wird nun z u zeigen sein. 12 Westermann, A P S. 14. " Vgl. auch Wildberger, Geschichte S. 82, der das Stillschweigen über den , G o t t der Väter' bei den Propheten „zu den Rätseln der israelitischen Religionsgeschichte" rechnet. Bei J e s a j a ist das heilsgeschichtliche Schweigen total. Sein vermeintliches A n k n ü p f e n an alte L a d e - und Jahwekriegstraditionen (vgl. ebd. S. 82 ff.) erscheint nicht ü b e r z e u g e n d . 14 B W A N T I V / 2 6 , 1938 = T B 8 S . 9 f f .

Das Problem

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des Credos als Zentrum alttestamentlichen Glaubens für lange Zeit zu fast unangefochtener Anerkennung verholfen hat. Von Rad scheint jenen drohenden „garstigen Graben" vor Augen gehabt zu haben, denn schon er ist deutlich um den Brückenschlag bemüht und hat seinerzeit auch den Eindruck gewinnen können, daß er ihm gelungen sei. Nach dem Versuch, das hohe Alter der Credoformulierung von Dtn 26,5 ff. nachzuweisen, schließt er auf eine „kanonisch gewordene Form der Heilsgeschichte" zurück, die ihrerseits noch älter sein muß als die belegten Credoformulierungen 15 . Hat man aber eine bekenntnishafte Rekapitulation der Hauptdaten der Heilsgeschichte erschlossen, ist es nur konsequent, den Sitz im Leben eines solchen agendarischen Elementes ausfindig machen zu wollen, welchen von Rad im Kult, in der Festlegende des Wochenfestes in Gilgal, entdeckt zu haben glaubte 16 . Als wichtiges Indiz für den kultischen Bereich als ursprünglicher Heimat der Credoformulierungen galten ihm „freie Abwandlungen des Credo in der Kultlyrik", worunter er die Geschichtspsalmen und einige weitere Texte begriff 17 . Der Kontakt zwischen Heilsgeschichte und Psalmdichtung war aufgewiesen - nicht auf breiter textlicher Basis, aber am theologisch entscheidenden Punkt: In der Bewahrung des heilsgeschichtlichen Credos hier wie dort. In der weiteren Forschung sind allerdings triftige Gründe gegen das hohe Alter von Dtn 26,5 ff. vorgetragen worden. Danach ist heute kaum mehr die Ansicht aufrechtzuerhalten, die Credoformulierung sei älter als ihr deuteronomistischer Kontext 18 . Die Darbringung der Erstlingsfrüchte ist eine kultische Idealszene, konstruiert nicht sosehr wegen des Vorganges selbst, sondern wegen der dabei gesprochenen Worte, an denen gut deuteronomistisch alles liegt, weil sie die Fülle aller Gnadentaten Jahwes enthalten. Hinter ihnen ist kein normatives Rezitationsschema von Jahwes heilsgeschichtlichem Handeln zu entdekken. Zwar steht im Hintergrund von Dtn 26,5 ff. und anderen Credoformulierungen das Wissen darum, was in den Kanon der Heilsgeschichte hineingehört - und das ist mit von Rad im großen und ganzen der Inhalt des Hexateuchs - 19 , sie ist aber nicht in Gestalt eines Credos zitabel. Selektion und sprachliche Modifikation sind Kennzeichen des Rückbezuges auf die Heilsgeschichte, nicht eine postulierte „kanonisch gewordene Form". Hinter den Credoformulierungen, von denen keine 15

Vgl. von Rad, TB 8 S. 11 ff. (Zitat S. 13). Vgl. ebd. S. 48 ff. 17 Vgl. ebd. S. 16ff. (Zitat S. 16). 18 Wichtige Veröffentlichungen sind zusammengestellt und besprochen bei Wallis, ThLZ 101 Sp. 801 ff. und Preuß, Dtn S. 144 f.; bei letzterem ist zudem eine plausible Wertung der einschlägigen exegetischen Beobachtungen zu finden. " Vgl. von Rad, TB 8 S.10. 16

14

Das Problem

hinter das 6. Jahrhundert zurückreicht, steht kein altes heilsgeschichtliches Credo, sondern ein wahlweise zitabler Kanon von Credenda, die göttliche „Grundwohlthaten" 2 0 heilsgeschichtlicher Qualität zum Inhalt haben. Nichts anderes beweisen die schwerpunktmäßig Heilsgeschichte thematisierenden Psalmen, von denen keiner älter als die Credoformulierungen ist und in deren Darstellung der Heilsgeschichte sich theologische Tendenzen bemerkbar machen, die offensichtlich nicht heilsgeschichtlichem Denken entstammen, ja überhaupt geschichtlichem Denken gegenüber ein anderes Genus vertreten. Man kann geradezu den Eindruck gewinnen, daß Geschichte - und zwar die Heils- wie die Unheilsgeschichte des Volkes - gegenüber den ihrem Ursprung nach kultischen Sprach- und Denkformen in der Rolle des Eindringlinges auftritt, der erst manche Veränderung über sich ergehen lassen mußte, ehe er akzeptiert wurde. Sollten die bisher nur thetisch formulierten Beobachtungen nicht verfehlt sein, wären sie über die Infragestellung der von Rad'schen Position hinaus auch für die Westermanns von Belang, da er - wohl noch umfassender als von Rad und gerade vom Psalter selbst her - die Volksgeschichte zum Ursprung und Bezugspunkt der Psalmdichtung erklärt. Was aber nun, wenn für die Psalmdichtung ihrem Ursprung nach die Volksgeschichte selbstverständlich vorausgesetztes Faktum, nicht aber eigenes theologisches Thema ist, wenn kein direkter formoder traditionsgeschichtlicher Weg von den Klagen und Bitten der Patriarchen - sofern in ihrer literarischen Gestalt überhaupt authentische Erinnerung bewahrt geblieben ist - zu den Gebetsformularen des Psalters führt, wenn Sieges- und Danklied des Volkes nicht durch späten Selektionsprozeß so spärlich im Psalter vertreten sind 21 , sondern als der Dillmann, Dtn S.360. So Westermann, A P S.14; vgl. ders., Lob S.61 f. 68. 181 f. Schon Gunkel/Begrich (Einleitung S.31 I f f . ) haben sich ohne Erfolg um die Erklärung der geringen Zahl von „Siegesliedern" (S.314) und „Dankliedern Israels" (S.315. 321 f.) und um ihre gattungsgeschichtliche Spezifizierung bemüht. Westermann (Lob S. 12 ff. v. a. A. 5) und Crüsemann (Studien S. 155 ff. 206 ff.) haben daran berechtigte Kritik geübt. Letzterer hat sogar mit guten Gründen dargelegt, daß eine Gattung Siegeslied im Alten Testament nicht nachzuweisen ist und eine Gattung Danklied des Volkes nie existiert hat. Über alle Differenzen der formgeschichtlichen Bestimmung hinweg sind sich aber beide genannten Forscher über die zentrale Bedeutung der Heilsgeschichte Israels als ursprünglichen Themas hymnischer oder hymnenähnlicher Psalmdichtung einig. Westermann, Lob S.61: „Daß es das berichtende Lob des Volkes, also das jubelnde, frohe Erzählen von dem, was Gott an seinem Volk getan hat, so wenig gegeben haben soll, wie es nach dem uns überlieferten Psalter erscheint, ist nahezu ausgeschlossen. Geht es hier doch um das Fundament des Verhältnisses Israels zu seinem Gott!" Crüsemann (Studien S. 80-82) zum „Imperativischen Hymnus" Ex 15,21 (von Westermann in die sog. berichtenden Lobpsalmen des Volkes = Danklieder des Volkes eingereiht): „Die Form des ältesten erhaltenen israelitischen Hymnus, des Mirjamliedes, hat eine erstaunlich lange, auf20

21

Das Problem

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Psalmtheologie ursprünglich fremdes Sujet nie reichhaltiger vertreten waren, wenn die historisierenden Psalmenüberschriften nicht nur späteste Redaktion, sondern letztes Indiz in einer ganzen Reihe von Beobachtungen dafür wären, daß Geschichte ein den Psalmen ursprünglich fremdes Thema gewesen ist22? Die im bisher Gesagten implizierte Kritik am dominierend (heils)geschichtlichen Verständnis der Psalmen (und ein wenig auch des Alten Testaments überhaupt) ist nicht im Sinne eines Generalangriffs gemeint 23 . Sie intendiert keine Bestreitung des konstitutiven Charakters der zunächst tribalen und dann im Gefolge der Staatenbildung nationalen Rettungs- und Führungserfahrungen für den Jahweglauben. Sie zielt einzig auf das verbreitete Urteil, daß die den Hexateuch prägenden heilsgeschichtlichen Erfahrungen Israels die theologische Quintessenz des Alten Testaments seien, in deren Licht alle weiteren Inweisbare Geschichte in Israel gehabt und ist zur entscheidenden Grundform des Hymnus geworden... Sie gehört in den regelmäßigen Kult und zwar ursprünglich an den Ort, an dem die grundlegenden, geschichtlichen Heilstaten Jahwes gefeiert wurden." 22 Angesichts solcher Zweifel kann man Kühleweins Versuch, den Begriff Geschichte als hermeneutische Totalchiffre für „unseren Glauben" im allgemeinen (vgl. Geschichte S. 9) und für die Psalmenexegese im besonderen zu verwenden, nur mit Skepsis begegnen. Kühlewein kann das Thema „Geschichte in den Psalmen" nur durch eine unsachgemäße Uberdehnung des Begriffs rechtfertigen, der nun Individual- und Nationalgeschichte unter der blassen Definition umgreifen muß, daß die Psalmen Gotteshandeln in der Vergangenheit „stets neu und in je konkreten Situationen lebendig zu machen" bestrebt sind (ebd. S. 10). Damit sind aber die Individualgebete des Psalters nur ganz unzureichend zu erfassen, und damit ist ihre Subsumierung unter den Begriff Geschichte schon gar nicht einsichtig zu machen. Man sollte ihn nur gebrauchen, wo auf bestimmte, inhaltlich bekannte, kontingente Taten Gottes in der Vergangenheit Bezug genommen wird. Da etwa an Exodus, Landgabe etc. ursprünglich nie in Lob und Klage des Einzelbeters, sondern allein des Volkes erinnert wird, sollte man auch nicht vom Genus her offensichtlich Geschiedenes sekundär unter einheitliche Begriffe zwingen. 23

Zur Diskussion um die Heilsgeschichte sei exemplarisch hingewiesen auf Hesse, Abschied und R. Schmitt, Abschied; eine gute Einführung in die jüngere Geschichte der Diskussion bei Gunneweg, Verstehen S. 164 ff.; zu Kritik und Uberwindung des Geschichtsmonismus in der theologischen und so auch alttestamentlichen Forschung vgl. Perlitt, Auslegung S. 42 ff. (mit vielen Literaturhinweisen); vgl. auch Mettinger, StTh 39 S. 21 f. 34 und bereits 1968 die umsichtige Ortsbestimmung der Geschichte von Smend, Elemente S.36f. Nicht vergessen sei auch die acht Jahre ältere Kritik von Childs, Myth S. 76: „The temptation is acute for the Heilsgeschichte approach, while contesting the identification of the Biblical view with the mythical, to substitute an identification of the Biblical view with a spiritualized modern theory of history." Als Generalangriff darf man wohl mit Fug und Recht die Kritik Η. H. Schmids bezeichnen: Nicht die Geschichte ist „das Hauptthema der alttestamentlichen Überlieferungsgeschichte und Theologie, dem alles andere unterzuordnen wäre. Hauptthema ist vielmehr die Grundfrage jedes auch nur in Ansätzen reflektierenden menschlichen Weltverhältnisses, nämlich die Frage, wie die Welt zu einer umgreifenden Geordnetheit, zu Recht, Gerechtigkeit, Frieden und Heil gelangen bzw. darin bleiben könne" (WuD 13 S. 21, vgl. S. 17).

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Das Problem

halte - und so auch die Psalmen - ihren jeweiligen Stellenwert finden müßten 24 . Alles jedoch, was bisher in Fragen und Eindrücken nur angedeutet worden ist, bedarf der Uberprüfung an den Texten, vor allem an den Psalmen, die Heils- und Unheilsgeschichte thematisieren, in der Absicht, die prägenden theologischen Gedanken möglichst genau zu bestimmen. Das betreffende Kapitel in dieser Arbeit muß dem über die Darstellung ursprünglicher Psalmtheologie vorgeschaltet werden, um nicht die geschichtsorientierten Psalmen zu sehr unter dem Eindruck bereits konturierter Psalmtheologie auszulegen und um nicht von vornherein Geschichte als möglicherweise wesentliches Element ursprünglicher Psalmtheologie auszuschließen. Ein anderer Versuch der Ordnung der alttestamentlichen Credenda, dem in neuerer Zeit H.H.Schmid Geltung verschafft hat, geht dahin, das geschichtszentrierte Glaubenszeugnis des Alten Testaments lediglich als Element eines viel umfassenderen, im ganzen alten Orient dominierenden Gedankenzusammenhangs zu erweisen. Es handelt sich dabei um ein Weltordnungsdenken, organisiert um die Vorstellung der Gerechtigkeit als gottgegebenen Ursprungs und Ziels, manifest in Natur und Geschichte. Dieses Weltordnungsdenken reflektiert schließlich nichts anderes als Schöpfungsordnungen, ist Schöpfungsglaube 25 , nicht primär orientiert an der Weltentstehung, sondern am Bestand von Welt und Natur 26 . Ein zentrales Regulativ der göttlichen Ordnung ist der 24 Bei aller berechtigten Kritik, die Noth (TB 6 S. 188 ff.) an der „Divine-KingshipSchule" übt, ist auch er von einseitiger Orientierung an der Heilsgeschichte nicht freizusprechen. Zwar gesteht er zu, daß „Israel nach seiner Landnahme Elemente aus dem Vorstellungs- und Gedankengut der bodenständigen kanaanäischen Tradition des Kulturlandes nachträglich aufgenommen hat" (ebd. S.214), doch die hauptsächliche Einflußnahme vermag er wiederum nur im Zusammenhang mit der heilsgeschichtlichen Tradition zu erkennen: in der Vereinigung der kultisch-zyklischen Ackerbaufeste Kanaans mit dem Gedenken an Israels Rettungs- und Führungserfahrungen anstelle der altorientalischen Rückbeziehung auf die Weltschöpfung (vgl. ebd. S.215). Einmal dahingestellt, wann Israel nach der Landnahme theologisch so weit gereift war, daß es sich auch im Zusammenhang mit den kultischen Jahresfesten dezidiert auf seine genuinen Traditionen berief - man bedenke das friedliche Nebeneinander von Jahwe und Aschera in vorexilischen Inschriften (vgl. Stolz, Monotheismus S. 166 ff.; Emerton, ZAW 94 S. 2 ff.) - , so ist mit dem Gebiet der „praktischen Theologie" jedenfalls nur ein Einflußbereich genannt, in dem kanaanäisches Gedankengut wirken konnte, keineswegs der einzige, vielleicht nicht einmal der wichtigste, wenn man die beachtliche Bezeugung kanaanäischer Tradition in den Psalmen berücksichtigt (vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Petersen, Mythos S.265). 25 Zum Weltordnungsdenken vgl. H.H.Schmid, Gerechtigkeit (zusammenfassend S. 166ff.); zur Verbindung des Ordnungsdenkens mit der Schöpfungstheologie vgl. ders., Welt S. 9 ff.; zu seinem Verhältnis zum alttestamentlichen Reden von Geschichte vgl. ders., WuD 13 S . 9 f f . (zu den Psalmen ebd. S. 15f.). » Vgl. ders., Welt S . l l .

Das Problem

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Zusammenhang von Tat und Ergehen. „Wer sich gegen die Ordnung vergeht, fügt ihr einen objektiven Schaden zu, der wieder ausgeglichen werden muß." So in der individuellen wie in der nationalen Dimension, was ζ. B. in der deuteronomistischen Beurteilung der Geschichte Israels in folgender Weise zum Tragen kommt. „Die Deuteronomistik versteht alle Einzelvergehen als Konkretion der Mißachtung des ersten Gebotes. Damit steht zwar unzweifelhaft ein Spezifikum israelitischen Glaubens im Zentrum der Argumentation, es ist jedoch konsequent im Horizont des schöpfungsmäßigen Tat-Ergehen-Zusammenhangs zur Konkretion und Verbindlichkeit gebracht." 27 Auch die Psalmen spiegeln dieses Denken wider, sie sogar in ausgezeichneter Weise, sofern in ihnen wie bei Deuterojesaja Geschichtsaussagen in Schöpfungsvorstellungen eingebettet sind unter der Voraussetzung der generischen Identität beider Bereiche: „Geschichte wird verstanden als Vollzug von Schöpfung und Herstellung von Schöpfungsordnung." 28 Gegenüber dem hier in den Blick genommenen schöpfungs- bzw. ordnungstheologischen „Gesamthorizont" ist ähnlich wie bei der heilsgeschichtlichen Konzeption darauf aufmerksam zu machen, wie wenig der Psalter durch ausformulierte Schöpfungstheologie geprägt ist. Abgesehen davon, daß die sog. Schöpfungspsalmen (8; 19; 104; 148) quantitativ überhaupt nicht ins Gewicht fallen, ist bereits ihre Subsumierung unter ebenjenem Begriff problematisch. Ähnliches gilt von den häufiger vertretenen Schöpfungsmotiven, die nach kontextueller Funktion und inhaltlicher Intention keine dominierende Stellung innehaben 29 . Wenn man aber den Bereich der Schöpfungstheologie mit Schmid umfassender im Sinne eines Weltordnungsdenkens versteht, drängt sich die von ihm selbst gestellte Frage nach der Berechtigung gerade des Oberbegriffs Schöpfung (und nicht etwa Ordnung) auf 30 . Schmid meint 27

Vgl. ebd. S. 13 ff. (Zitate S. 13. 16). » Ebd. S. 18. Auch der Tat-Ergehen-Zusammenhang ist nach Η. H. Schmid im Gerechtigkeitsdenken der Psalmen belegt. Wäre sein Verständnis etwa von Ps 7,9 angemessen, gewänne das Ordnungsdenken hier sogar bedenklichen Totalitätscharakter: „Unter der mit p u bezeichneten Ordnung steht nicht nur Jahwe als Richter, sondern auch der zu richtende M e n s c h . . . So wird Jahwe angerufen, ρι Μ ,nach der Ordnungsgemäßheit' des Beters zu verfahren" (Gerechtigkeit S. 149). Jahwe unter dem pts oder Jahwe als Garant des ρ ΐ ϊ (S. 148)? Ob das Verständnis von ptü als Ordnung überhaupt zureichend ist? Die Ausführungen von Johnson (Rättfärdigheten) vermitteln einen anderen und gerade im Blick auf die Psalmen überzeugenderen Eindruck. 2

2

' Vgl. die scharfsichtige Sonderung des Materials von Vosberg, Studien S . 9 f f . Es ist nicht uninteressant, zu beobachten, wie Schmid schon ein Jahr nach dem programmatischen Aufsatz von 1972 den Schöpfungs- zugunsten des Ordnungsgedankens 30

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Das Problem

den Einwand mit dem Hinweis auf den dem Alten Testament fremden Abstraktionsgrad des Ordnungsbegriffs entkräften zu können 31 , übersieht jedoch, daß sein umfassender Schöpfungsbegriff nicht minder dem Abstraktionsverdacht unterliegt. Und sucht man wie Schmid die inhaltliche Verbindung im Begriff der Schöpfungsordnung festzuhalten, zwingt man zwei Bereiche unter ein terminologisches Joch, welche häufiger getrennt voneinander in Erscheinung treten. So stellt sich der Sachverhalt jedenfalls im hier interessierenden Psalter, aber wohl nicht nur dort dar. In der Sprache der Dogmatik geredet: Die (prima) creatio ist eines, die conservatio ein anderes, ohne daß durch diese Unterscheidung auch nur von ferne das sachliche Recht der Verbindung tangiert oder gar in Abrede gestellt würde. Aber die Psalmtexte dokumentieren in der Regel nicht die verbundene, sondern die unabhängige Rede von Schöpfung und Erhaltung, was, zusammengenommen mit der geringen Belegfrequenz, vorab nicht zur Subsumierung der Texte unter einem schöpfungstheologischen Gesamthorizont ermuntert. Doch das entscheidende Wort kommt natürlich auch hier der Psalmenexegese selbst zu, und zwar in erster Linie der Untersuchung der sog. Schöpfungspsalmen. Es wird zu prüfen sein, ob ihnen dieser Titel in der Forschung mit Recht verliehen worden ist, ob und gegebenenfalls ab wann Schöpfung in das Ensemble der konstitutiven Psalmtheologoumena hineingehört. Das betreffende Kapitel soll den Anfang der ganzen Untersuchung darstellen, nicht wegen des protologischen Inhaltes, sondern wegen des im Vergleich mit dem Heilsgeschichtsthema geringeren Belegumfanges, den man wohl auch als Hinweis auf ein geringeres sachliches Gewicht werten darf 3 2 . Unter den möglichen modi procedendi ist im folgenden bewußt der Auslegung von Einzeltexten der Vorzug gegeben worden. Das Eigengewicht von Thema und These sollten nicht dazu führen, das Textkorpus lediglich zur Sammlung von dicta probantia für die eigene Anschauung auszunutzen. Soll sie sich als tragfähig erweisen, muß sie die Probe in Konfrontation mit Eigenbewegung und Eigenproblematik der Texte bestehen. Die damit eingehandelte Gefahr willkürlicher Textselektion zurückstellt. Er wird nun zur Formulierung des „Gesamthorizontes" für tauglicher erachtet: „Eben diese elementare Bemühung um die Frage der Ordnung der Welt ist im Alten Testament der theologische Ort des Jahweglaubens. Was immer Israel erfährt, wird auf seine Bedeutsamkeit für diesen Fragenkomplex befragt. Insofern bleibt tatsächlich das Weltordnungsdenken der Gesamthorizont biblisch-theologischen Denkens" (Welt S. 62, vgl. ebd. S.9). 31 Vgl. H . H . S c h m i d , Welt S . 2 9 f . A.45. 32 Darüber hinaus gelten für die Vorschaltung des Kapitels vor die Konturierung der Psalmtheologie auch hier die schon beim Thema Heilsgeschichte genannten Gründe, s. o. S. 16.

Das Problem

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erscheint geringer als die der „flächendeckenden" Belegkumulation, bei der die Texte in der Regel ihr Gesicht verlieren. So soll der Versuch gewagt werden, die ursprüngliche Gestalt der Psalmtheologie anhand exemplarischer Auslegung verschiedener Lieder unter Berücksichtigung fast aller wichtigen Inhalte und Formen wiederzugewinnen 33 . Aus der Problemexposition und den projektierten Wegen für die Abhandlung geht bereits hervor, daß diejenigen, die den exegetischen Erkenntniszuwachs vom methodischen „fresh approach" erwarten, nicht auf ihre Kosten kommen werden. In dieser Hinsicht wird nur Vertrautes und Bewährtes zu finden sein, und auch dies nicht selbstzweckhaft, sondern strikt funktional, im Wissen darum, daß Exegese, recht verstanden, anderes und mehr ist als methodisches Arbeiten. Goethes in übertragbarem Zusammenhange geäußerte Meinung, daß „liebevolles Annähern an das Unerreichbare zu versuchen, ... nicht untersagt" sei34, ist ernster als perfekte Methodologie genommen worden. „Nicht untersagt" - „erlaubt" wäre schon zuviel gesagt. Und: „liebevolles Annähern", also nicht: derbes handwerkliches Zupacken. Psalmen sind in dieser Hinsicht leidgeprüft. Von der Verwechslung kritischer Analyse mit Buchstabenzählerei bis hin zu den Spanischen Stiefeln immer komplizierterer Formen, Formulare und Strukturanalysen sind alle Utensilien des stets modernisierten exegetischen Handwerkskastens an ihnen ausprobiert worden. Daß die Texte in iher theologischen und religiösen Tiefe heute besser vor Augen ständen als ehedem, werden nicht einmal die nüchternen unter den exegetischen Handwerkern behaupten. Hier redet kein Verächter der Methode. Sie ist legitim als „Gegenmittel gegen unkritisches Drauflosdenken" 35 und unverzichtbar für die Kommunikabilität exegetischer Einsichten. Aber Exegese muß über alle 33

Ein Traditionsstratum, das im Psalter sowohl in selbständigen Texten als auch in Ergänzungen vertreten ist, wird in dieser Arbeit weitgehend unberücksichtigt bleiben: das der weisheitlich bestimmten Theologie. Sie ist so deutlich ein Spätling im Psalter, daß sie angesichts der hier leitenden Fragestellung mit Recht vernachlässigt werden darf. 34 H A 10 S.542, 24 f. in dem „Glückliches Ereignis" titulierten autobiographischen Bericht über sein folgenreiches Gespräch mit Schiller im Jahre 1794; zum Spannungsfeld von Lieben und Verstehen vgl. Oeming, FS Gunneweg S. 165 ff. 35 Adorno, Einleitung S. 28. Als Mittel kritischer Analyse (und damit ein Stück weit als Schule kritischen Denkens) hilft Methode, die Profanität der Entstehungs- und Traditionsbedingungen der Texte zu erkennen und zu wahren. Sie ist somit auch Gegenmittel gegen falsche Ehrfurcht (verbalinspiratorische Identifikation der Stimmen der Zeugen mit dem Zeugnis selbst), Texten und Theologen höchst unbekömmlich. Wellhausen: „Man hat sich entwöhnt, an den Bibeltext die Ansprüche gewöhnlicher menschlicher Rede zu stellen, man glaubt auch das sprachlich und sachlich Unmögliche zu verstehen. Unter diesen Umständen ist es oberste Pflicht des Exegeten, das Unverdauliche nicht verdaulich zu finden; eine feine Zunge tut ihm mehr not als ein leistungsfähiger Magen" (SuV VI S. 165).

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Das Problem

handwerkliche Geschäftigkeit hinaus geduldigem Warten auf die Anrede durch die Texte selbst (und den, der durch sie spricht) Raum geben. Geduldiges Warten und der Versuch liebevollen Annäherns gehören zusammen. Sie sind die Kardinaltugenden methodisch nicht erfaßbaren exegetischen Bemühens. Ohne sie kann es nicht zu jenem „glücklichen Ereignis" des Verstehens kommen, in dem Texte sich ein Stück weit entbergen. Lieblos kann man Texte mit Lieblingsthesen, -themen und -methoden traktieren, aber nicht ihr Geheimnis mit-teilen.

I. Jahwe, der Schöpfer und Erhalter Die Suche nach dem Zentrum der Psalmtheologie soll an der Peripherie beginnen. Im Sinne der Arbeitshypothese der vorliegenden Untersuchung heißt das: Analyse der sog. Schöpfungspsalmen (Ps 19; 104; 148 und in Kap. IV, 1 Ps 8) unter der Frage, inwieweit und in welcher Form Schöpfung in ihnen tatsächlich der bestimmende theologische Topos ist. Ferner sollen die im Psalter verstreuten Schöpfungsmotive zusammengestellt und auf ihre Funktion im jeweiligen Kontext hin überprüft werden, um schließlich resümierend die Stellung der Schöpfungsbotschaft im Psalter zu gewichten und eventuell zu einem Urteil über Anlaß und Zeit der Rezeption dieses Theologoumenons zu gelangen. 1. D i e gute O r d n u n g und ihr Herr: Ps 104 ι aa

Lobe, meine Seele, Jahwe!

ι aß

Jahwe 1 , mein Gott, du bist sehr groß.

ιb 2a

In Hoheit und Pracht bist du gekleidet, dich hüllend in Licht wie in einen Mantel 2 .

2b 3aa

Der den Himmel ausspannt wie ein Zeltdach, die Balken seiner Gemächer im (Himmels-)Wasser festmacht.

3 aß 3b

Der Wolken zu seinen Wagen bestimmt, daherfährt auf den Flügeln des Sturmes.

4a 4b

Der Winde zu seinen Boten macht, zu seinen Dienern Feuer (und) Lohe 3 .

1 Das Tetragramm zu Beginn von V. 1 aß darf nicht - wie es häufig geschieht - für sekundär erklärt werden; s.u. S.28 A.20. 2 Die Perfekta in V. 1 a haben stati(vi)schen Charakter (vgl. Meyer, HG III S. 50) und können deshalb auch durch Partizipien fortgeführt werden. ngy „(sich) hüllend" sollte aus diesem Grunde nicht - wie wiederum üblich - in ein Imperfekt geändert werden. Der Wegfall des zu erwartenden Personalpronomens njis „du" ist grammatisch möglich (vgl. GK § 116 s) und hier wegen der Ausgewogenheit des Parallelismus membrorum gut erklärlich. Der Personenwechsel von der 2. ps.m. sg. zur 3. ps.m.sg. erfolgt erst im Ubergang von V. 2 a zu V. 2 b. 3 Es muß sich um zwei asyndetische Nomina handeln, da anV „Lohe" nicht Attribut zum femininen ü» „Feuer" sein kann. Wegen der seltenen Bezeugung von ani> qal (nur noch Ps 57,7) ist die Übersetzung nicht völlig sicher.

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter 5a 5b

E r hat die E r d e g e g r ü n d e t auf ihren F u n d a m e n t e n , d a ß sie nicht w a n k e auf immer u n d ewig.

6a 6b

U r f l u t b e d e c k t e „ s i e " 4 wie ein K l e i d , auf den B e r g e n s t a n d e n die W a s s e r .

7a 7b

V o r deinem Schelten f l o h e n sie, eilten vor deiner D o n n e r s t i m m e d a v o n .

8a 8b 9a

Sie stiegen die B e r g e hinauf, f u h r e n in die T ä l e r 5 zu d e m O r t , den d u ihnen g e g r ü n d e t .

9b

E i n e G r e n z e h a s t du ihnen gesetzt, d a ß sie (sie) nicht überschritten (und) wieder die E r d e bedeckten.

ίοa lob

D e r Q u e l l e n in die Bachtäler entsendet, daß sie zwischen B e r g e n dahinfließen.

lia lib

Sie t r ä n k e n alles Wild des Feldes, Wildesel stillen ( d a r a u s ) ihren D u r s t .

12a 12b

A u f ihnen w o h n e n die V ö g e l des H i m m e l s , aus d e m G e z w e i g ertönt (ihre) S t i m m e .

13a 13b

D e r die B e r g e t r ä n k t aus seinen G e m ä c h e r n ; v o n der Frucht deiner W e r k e wird die ( g a n z e ) E r d e satt.

14 aa 14 aß

D e r G r a s f ü r das V i e h sprießen läßt und P f l a n z e n f ü r den A c k e r b a u des M e n s c h e n ' .

14 b i5aa

U m N a h r u n g aus d e r E r d e h e r v o r z u b r i n g e n und Wein, der des M e n s c h e n H e r z erfreut.

15 aß 15 b

U m d a s Antlitz von Ö l g l ä n z e n zu lassen und (von) Brot, d a s d e s M e n s c h e n H e r z erquickt 7 .

16a 16b

E s sättigen sich die B ä u m e J a h w e s , die Z e d e r n des L i b a n o n , die er g e p f l a n z t ,

17 a 17b

W o Vögel Nester bauen; der S t o r c h hat Z y p r e s s e n als H a u s 8 .

Lies mit den Apparaten von B H K und BHS ΠΓΙΘ3, so häufig seit Duhm 1 S. 242. Gegen eine Vielzahl von Stimmen seit den ältesten Ubersetzungen (vgl. Sutcliffe, V T 2 S. 178) ist zu betonen, daß Subjekt der Verben in V. 8 a nur D'B „Wasser" aus V. 6 sein kann. „Berge" und „Täler" sind schon deshalb als Subjekte ausgeschlossen, weil die zweite Verbform in diesem Falle nj-nji lauten müßte, was offensichtlich selten bemerkt worden ist. 6 Zur Ubersetzung von may vgl. H.Schmidt S. 187f., zur Übersetzung von V. 14aß insgesamt vgl. Beaucamp II z. St. 7 Zur Übersetzung von V. 14b. 15 s.u. S . 3 4 f f . * V . 1 7 b ist ein Nominalsatz mit casus pendens (vgl. G K § 143a): Der Storch - sein Haus sind Zypressen. 4 5

Die gute O r d n u n g und ihr Herr: Ps 104 18a 18b 19a 19b

23

Hohe Berge sind für die Steinböcke, Felsspalten für Klippdachse eine Zuflucht. E r hat den M o n d für die Zeiten gemacht, die Sonne kennt ihren Untergang.

20 a 20 b

Schickst du Finsternis, wird's Nacht; darin regen sich die Tiere des Waldes.

2ia 21b

Junglöwen brüllen nach Beute, um von Gott ihren Fraß zu fordern.

22 a 22 b

„Läßt du" die Sonne aufgehen 9 , ziehen sie sich zurück, lagern in 10 ihren Verstecken.

23 a 23 b

Aus geht der Mensch an sein Werk, an seine Arbeit bis zum Abend.

24aa 24 aß 24 b 25 aa 25 aß 25 b

Wie zahlreich sind deine Werke, Jahwe! Sie alle hast du in Weisheit gemacht. (Wie) ist erfüllt die Erde von deinen Geschöpfen 1 1 ! D a ist das Meer, groß und unermeßlich weit, da das Gewimmel ohne Zahl, kleines bei großem Getier 12 .

' Man darf hier wohl die Vokalisierung im Sinne der 2.ps.m.sg. impf. hi. ändern (nitfi), obwohl es keine Textzeugen d a f ü r gibt. Aber sowohl die Anrede im Kontext (V. 20. 27 ff.) als auch im großen Echnaton-Hymnus (vgl. besonders Z. 38 ff.; Assmann, A H G S.217f.) lassen den geringfügigen Eingriff als gerechtfertigt erscheinen. Die wünschenswerte Schreibweise n'irji könnte in der Uberlieferung verlorengegangen sein (vgl. die Variante mon zu τ η on in V.29). 10 Vgl. GB S.38b s.v. Ve 9. 11 Da die optische Textgliederung hier mißverstanden werden könnte, sei ausdrücklich vermerkt, daß V. 2 4 a a b ein Bikolon bilden, in welches V. 24 aß sekundär eingeschoben worden ist. Das Verständnis von "ij'jp" bereitet große Schwierigkeiten (vgl. W. H . Schmidt, T H A T II Sp.657). Man wird wegen der Parallelität zu "p®yB (s.u. S.40) wohl pluralisch übersetzen müssen, sei es aufgrund der Deutung der Form als kollektiven Singular, sei es aufgrund eindeutiger Pluralform in vielen hebräischen Handschriften. Wünschenswert wäre die Wiedergabe durch ein Wort aus dem Bedeutungsfeld „Eigentum, Besitz", um die Sonderbedeutung „Geschöpf" allein f ü r diese Stelle zu vermeiden, zumal dadurch der Konstitutionsaspekt der Schöpfung, zu dem p p gar keine Verbindung hat, mitartikuliert wird. Luthers „Güter" (III S. 143, vgl. auch Weiser S.455) kommen der Sache nahe, erfassen jedoch nicht den in ]'Jp implizierten kreatürlichen Bereich. Treffend ist Beaucamps paraphrasierende Übersetzung „d'etres t'appartenant..." (z.St.), welche aber im Deutschen nicht prägnant zu imitieren ist. So bleiben wohl doch nur die „Geschöpfe" als Notbehelf, von denen hier aber - jedenfalls in der Grundfassung - der Gedanke der prima creatio ferngehalten werden muß. 12

Wieder zur Verdeutlichung: V. 25 ist ein sekundäres Trikolon.

24

Jahwe, der Schöpfer und Erhalter 26 a 26 b

D o r t ziehen S c h i f f e dahin, Leviathan, den du gebildet, mit ihm 1 3 zu spielen.

27 a 27 b

Sie alle warten auf dich, daß du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit.

28 a 28 b

Gibst du ihnen, sammeln sie ein; tust du deine H a n d a u f , sättigen sie sich an G u t e m .

29 ao 29 aß 29 b

Verbirgst du dein Angesicht, sind sie verstört; ziehst du ihren O d e m zurück, schwinden sie dahin; zu ihrem Staub kehren sie zurück.

30 a 30 b

Entsendest du deinen O d e m , werden sie g e s c h a f f e n ; du machst das Antlitz der E r d e (wieder) neu.

3ia 3ib 32 a 32 b 33 a 33b

J a h w e s E h r e sei in Ewigkeit! J a h w e f r e u e sich seiner W e r k e ! D e r die E r d e anblickt, daß sie erbebt; er berührt die Berge, daß sie rauchen. Ich will J a h w e singen mein Leben lang, will meinem G o t t spielen, solange ich bin!

34 a 34b

M ö g e ihm mein Dichten gefallen; ich f r e u e mich an J a h w e .

35 aa

Verschwinden sollen die Sünder von der E r d e ,

35 aß

Frevler soll es nicht mehr geben.

35bo 35 bß

L o b e , meine Seele, J a h w e ! Halleluja!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.331 f.)

Der Konsens der Ausleger besteht bei Ps 104 darin, die poetische Kraft des Textes zu loben. Darüber hinaus gibt es vornehmlich Streit in so gut wie jeder exegetischen Hinsicht: über die Form, das Verhältnis zum großen Echnaton-Hymnus, die weiteren traditionsgeschichtlichen Beziehungen, die zeitliche Ansetzung und anderes mehr. Dabei sind vor allem mit Fleiß formgeschichtliche Eigenheiten und allbekannte Stilfiguren im Text gesucht und gefunden worden, die das Gesamtgefüge - von wenigen späteren Eingriffen abgesehen - als sinnvolle, in sich stimmige poetische Einheit verständlich machen sollten 14 . Manche

13

Das personale Verständnis der Präposition ist dem lokalen (darin = im Meer) wegen Hi 40,29 vorzuziehen. 14 Am erfolgreichsten in der Entdeckung angewandter poetischer Stilmittel: Auffret, Hymnes S. 137 ff. Auch Steck (TB 70 S. 240 ff.) ist sehr um die Erhellung der „perspektivi-

Die gute Ordnung und ihr Herr: Ps 104

25

Erkenntnisse sind diesem Vorgehen zu verdanken, aber auch die Entdeckung mancher Textarchitektur, die so kompliziert und verborgen ist, daß allenfalls zwei Menschen ihre Freude daran gehabt haben können: der Poet, der sie (vermeintlich) entworfen, und der Interpret, der sie (wieder)entdeckt hat. Hier soll zunächst methodisch ein anderer Weg beschritten werden, aus dem Unvermögen heraus, in dem Psalm die „bewundernswerte Geschlossenheit" 15 zu erkennen, die andere in ihm gefunden haben. Sie war allerdings regelmäßig nur dann aufzuspüren, wenn zuvor die gut überlieferte masoretische Textgestalt den eigenen Intentionen angepaßt worden war, wofür es textkritisch in fast allen Fällen keine Anhaltspunkte gibt16. Demgegenüber soll der Psalm hier auf der Grundlage der masoretischen Uberlieferung und zunächst ohne Seitenblick auf potentielle literarische Vorbilder strikt nach dem Kriterium stilistischer Verträglichkeit und inhaltlicher Konzinnität auf seine literarische Einheitlichkeit bzw. Schichtung untersucht werden. Erst dadurch wird für die Erörterung der Fragen nach Form,. Tradition und theologischer Intention eine sinnvolle Grundlage geschaffen. Es fällt nicht leicht, den umfangreichen Psalm sinnvoll zu gliedern, weil ein bestimmter Gedankenfortschritt nicht ohne weiteres offenkundig ist. Das Schöpfungsthema mit seinen zahlreichen Facetten scheint abgesehen vom Psalmende allgegenwärtig zu sein, ohne daß ihm eine für den Text charakteristische Intention innewohnte oder es auch nur in einer leicht einsehbaren Ordnung dargeboten würde. Da werden die Vögel und Menschen an zwei verschiedenen Stellen erwähnt (V. 12 und 17 bzw. V. 14f. und 23), und das Meer (V.25) erscheint merkwürdig weit getrennt von der Bändigung der Chaoswasser (V. 6-9). Auch die Erschaffung der Gestirne (V. 19) erwartet man eher im Umkreis der anfangs geschilderten himmlischen Sphäre (V. 2 f.) als nach der Erwähnung von Steinbock und Klippdachs (V. 18). Schließlich geben Objektschen Ordnung" (S. 240), der „wesentlichen Sachperspektive" (S. 257) bemüht, was nichts anderes heißt, als daß en detail manche Unordnung in Kauf genommen wird. 15 Von Nordheim, SAK 7 S.241. 16 Es handelt sich meistens um geringfügige Änderungen - manchmal nur die Volkalisierung betreffend (z.B. statt 3.ps.m.sg.pf. das Part.akt. in V.5 und 19) - , die aber zusammengenommen die Gestalt des Psalms doch merklich verändern. Auch Beaucamp (II S. 153) erhebt Einspruch gegen diese oft stillschweigende Uniformierung des Textes: „Reste ä expliquer, toutefois, pourquoi les massoretes auraient, comme a plaisir, complique les choses, et obscurci un texte primitivement limpide." Die hohe Qualität von M T bei Ps 104 wird auch durch den Vergleich mit der Qumranüberlieferung bestätigt, die eine ansehnliche Zahl sekundärer Lesarten enthält. Deshalb sind in der vorliegenden Auslegung nur in zwei Fällen von M T abweichende Lesarten akzeptiert worden: einmal notwendigerweise in V.6 (Änderung nur eines Konsonanten), das andere Mal nicht ohne Bedenken in V. 22 (Änderung einer Vokalisierung).

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

auswahl und Vorstellungsgehalt Anlaß zur Verwunderung. Was mag einen Dichter bewogen haben, neben die Schiffe im Meer (in Schöpfungskontext!) den Leviathan zu stellen (V.26), und wie mag er das Fliehen der Chaoswasser von den Bergen (V. 6 f.) mit ihrer anschließenden geordneten Rückkehr an denselben Ort (V. 8) in einen erträglichen gedanklichen Konnex gebracht haben? Schon diese Auswahl inhaltlicher Beobachtungen läßt die Vermutung aufkommen, die „bewundernswerte Geschlossenheit" möchte doch einige Spannungen und sogar Brüche aufweisen, die von dem Gestaltungswillen nur eines Verfassers her kaum verständlich zu machen sind. Es kommen stilistische Auffälligkeiten hinzu, allen voran die unterschiedlichen Verbalformen, deren Subjekt Jahwe ist (Part. akt. mit und ohne Artikel, 2.ps.m.sg.pf. und impf.). Selbstverständlich deutet nicht jeder stilistische Wechsel auf literarisches Wachstum hin17, aber im Verbund mit weiteren inhaltlichen Beobachtungen können sie wichtige Hinweise für die Analyse geben. Leicht läßt sich bei Ps 104 die letzte editorische Rahmung feststellen. Außer im abschließenden Halleluja, das von Ps 104 ab häufiger in Anfangs- und Endposition steht und gleichsam als Vorläufer heutiger Gattungsbestimmung die Funktion der Bezeichnung einer Textserie

17 Nicht einmal auf formgeschichtlich zu erschließende, ursprünglich zu unterscheidende Redeweisen. Skepsis ist vor allem gegenüber der These Crüsemanns angebracht, daß sich aus dem Nebeneinander von anredendem und partizipialem Hymnenstil in Ps 65 und 104 noch die ursprüngliche Getrenntheit beider Formen rekonstruieren lasse: einerseits der „Jahwe-anredende Hymnus eines Einzelnen", andererseits der partizipiale Hymnus (vgl. Studien S. 285 ff.). Vielmehr erweist sich dieser Wechsel in Ps 104 durchweg als literarkritisch untaugliches Kriterium, aber auch als formgeschichtlich irreführendes Indiz, denn Crüsemanns Rückschluß vom Nebeneinander der Stilarten auf zwei unterschiedliche, in Ps 104 verarbeitete Quellen kann nicht ohne Abstriche aufrechterhalten werden. Der Wechsel von der anredenden 2.ps. zum Partizipialstil der 3.ps. muß in den alttestamentlichen Psalmen genauso toleriert werden wie in der Gebetsliteratur des ganzen altes Orients (vgl. Ps 13,6; 16,5ff.; 18,35f.; 23; 28,4f.; 52,10f.; 89,2ff.; 93,1 f.; 130,5 u.ö., s.u. S. 107f. A.37). Er ist von Mesopotamien bis Ägypten gut belegt und lädt weder hier noch dort zu formgeschichtlichen Differenzierungen ein; zum Nebeneinander von 2. und 3. ps. in akkadischen Gebeten vgl. Mayer, UFBG S. 39 ff. (und die ebd. S. 39 Α. 1 genannte Literatur), in ägyptischen Hymnen vgl. Barucq, Louange S. 24 f. 79ff., v. a. 93 ff. 133 ff. Ebd. S.271 zu Ps 104: „On pourrait penser que les participes 'oteh et noteh (V. 2) continues au V. 3 par hameqareh ont fait perdre de vue la 2 e. pers. qu'ils qualifient et ont amene le pronom de 3e. pers. dans 'aliyotaw, ,ses chambres'. Nous aurions un phenomene grammatical assez proche de celui que nous avons signale au ch. VIII (seil. S. 133 ff.) dans l'hymnographie egyptienne." Das darf aber nicht im Sinne einer literarischen Abhängigkeit ausgewertet werden, weil jenes „grammatische Phänomen" gemeinaltorientalisch ist.

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hymnischen Inhaltes hat18, besteht sie im einleitenden und zum Schluß wiederaufgenommenen Ruf „Lobe, meine Seele, Jahwe!" (V. 1 aa. 35 ba). Dadurch hat ein Redaktor den seiner Meinung nach auffälligen inhaltlichen Zusammenhang mit Ps 103 auch äußerlich sichtbar machen wollen, an dessen Schluß er den Satz ebenfalls nachgetragen hat (V. 22 b), während er ihn am Anfang des Psalms, w o er fest in den Parallelismus membrorum eingebunden ist, bereits vorfand 19 . Daraus folgt, daß Ps 104 mit dem Einzelstichos V. 1 aß begann, ehe er seine jetzige Stellung im Kontext erhielt20. Die Einleitung eines Psalms durch ein überschriftartiges Kolon ist selten, aber nicht singulär21. Die Größe Jahwes wird sogleich im folgenden in einer komplexen Theophanieschilderung (V. 1 b-4) konkretisiert, in der recht unterschiedliche theologische Einflüsse zur Sprache kommen. Jahwes Präsenz wird zunächst in V. 1 b. 2 a durch seine lichtvolle „Außenseite" angezeigt. Die Vorstellung der Investitur entstammt der Sphäre des königlichen H o fes, dessen Kleiderkammern mancherlei enthielten, was zur Präsentation sowohl Jahwes (vgl. etwa Ps 93,1 fliiU „Hoheit" und ry „Kraft") als auch des Königs dienen konnte (vgl. etwa Ps 21,6 n a a „Ehre" und i m m m „Hoheit und Pracht")22. Um so verwunderlicher, daß in Ps 104 die

18 Ps 104,35 bzw. 105,1 (LXX); 105,45; 106,1; 106,48 bzw. 107,1 (LXX); 111,1; 112,1; 113,1; 113,9 bzw. 114,1 (LXX); 115,18 bzw. 116,1 (LXX); 116,19 bzw. 117,1 (LXX); 117,2 bzw. 118,1 (LXX); 135,1; 135,21 bzw. 136,1 (LXX); 146,1.10; 147,1.20; 148,1.14; 149,1.9; 150,1.6. Wie aus vielen Beobachtungen ersichtlich ist (vgl. z.B. die hebräische Gestalt von Ps 117,1, wie sie nach der LXX-Fassung rekonstruiert werden müßte), hat LXX den Lobruf sekundär allein in die Position der Überschrift gebracht, während im alten Orient Textserienbezeichnungen am Ende zu stehen pflegen. M T repräsentiert in dieser Hinsicht ein Übergangsstadium. Zur kaum überzeugenden Interpretation solcher Lobrufe als „Urzelle des Hymnus" vgl. Gunkel/Begrich, Einleitung S. 37 f.; anders, aber auch nicht recht überzeugend Westermann, Lob S.99 A. 85. " Es ähneln sich inhaltlich 103,20-22 und 104,4. 31b. Diese Berührungen und andere Beobachtungen berechtigen aber nicht zu dem Schluß Beaucamps, 103,19-22* und 104* hätten ursprünglich eine literarische Einheit gebildet (vgl. II S. 154f.). Damit holt man nur stilistische Störungen in den Psalm hinein, denn die Boten und Diener in 103,20 f. sind Angehörige des himmlischen Hofstaates, diejenigen in 104,4 aber Sturm und Feuer, wenn auch hier zum höfischen Dienst gebändigt. Ferner ist der singularisch formulierte Ruf 104,1 aß als Antwort des himmlischen Hofstaates auf die Lobaufforderung in 103,20-22 ungeeignet. Schließlich besteht in Ps 104 kein Bedarf nach einer Ergänzung der Einleitung. Es ist auch zu fragen, ob man ihm mit der expliziten Königsprädikation von 103,19-22* nicht ein Element zuteil werden ließe, das der Dichter ganz bewußt ausgespart hat. 20 Wer die zweite Erwähnung des Tetragramms in V. 1 streicht, verwischt eine wichtige Wachstumsspur des Textes. 21 Vgl. -|(>» mn1 J a h w e ist König" in 93,1; ferner 25,1; 73,1 (ohne !>m?'i> „zu Israel"). 11 Die Vorstellung der Umhüllung der Gottheit und des Königs in bestimmten Erscheinungsweisen, die Wesen und Macht des jeweiligen Trägers anzeigen, ist besonders

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explizite Königsprädikation fehlt. Und nicht viel weniger verwunderlich, daß in V. 2 b. 3aa die implizit königstheologische Redeweise von schöpfungstheologischer abgelöst wird, um dann schnell in V. 3aßb.4 in genuine Theophanievorstellungen überzugehen, die in V. 5 ff. durch eine ausführliche Schöpfungspassage fortgeführt werden. Ob dieses scheinbare Hin und Her im Introitus V. 1 aß-4 Produkt literarischer Kompilation ist? Dagegen spricht die Beobachtung, daß in diesem kleinen Abschnitt offensichtlich drei ursprünglich getrennte Traditionselemente in guter Ordnung einer bestimmten Absicht dienen. Der in lichtvoll-königlicher Pracht erscheinende Gott (V. 1 b. 2 a) gründet seinen himmlischen Palast (V.2b. 3aa). Das bekannte schöpfungstheologische Motiv vom Ausspannen des Himmels fügt sich als ein Teil dieser „Baumaßnahme" ebenso wie die anschließende Fundamentierung der Himmelsgemächer genau in den Kontext ein 23 . Und der Vorstellungszusammenhang bleibt weiterhin eng, denn der gott-königliche Bauherr verfügt nun auch über gewaltige Diener und Boten, die seine

reich in der sumerischen und akkadischen Literatur belegt (vgl. Cassin, Splendeur v. a. S. 2 0 f f . 6 5 f f . 121 ff.). Zu -rin und n n vgl. Wehmeier/Vetter, T H A T I Sp.469ff.; Vetter, ebd. Sp. 472 ff.; W a r m u t h , T W A T II Sp.357ff.; ders., ebd. S p . 3 7 5 f f . Lipinski (Royaute S. 113 ff.) weist ausführlich die Vorstellungsaffinität des hebräischen Begriffspaares mit dem akkadischen pulhu und melammu nach. Zu „anziehen" vgl. Jenni, T H A T I Sp. 867ff.; Gamberoni, T W A T IV Sp.471 ff.; in theologisch qualifiziertem Sinn vgl. Jes 51,9; 52,1; Ps 93,1; H i 40,10; im Parallelismus membrorum mit nay „sich hüllen in etwas" vgl. Jes 59,17; 61,10; Ps 109,29. Entgegen geläufiger Ansicht darf die Licht-Epiphanie von Ps 104,2 a nicht mit der Erschaffung des Lichtes in Gen 1,3 in Zusammenhang gebracht werden. Hier erscheint das Licht als erstes Schöpfungswerk, dort als Versinnbildlichung der Gottespräsenz. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun, ist nicht einmal ohne weiteres gedanklich vereinbar. Saebe spricht zu Recht von einer „doppelten Begriffsmitte" ( T H A T I Sp.90; vgl. auch die ebd. genannte Literatur). " ΠΒ3 „ausspannen" ist Terminus technicus f ü r das Errichten eines Zeltes, vgl. Gen 12,8; 26,25 u.ö.; übertragen auf die Erschaffung des Himmels: Jes 42,5; 44,24; 45,12; 51,13; wohl auch 51,16; Jer 10,12 = 51,15; Sach 12,1; H i 9,8; größte Ähnlichkeit mit Ps 104,2 hat dem Vorstellungsgehalt nach Jes 40,22; zu Ps 18,10; 144,5 s.u. A.24). Der Formulierung nach ist das Bikolon Ps 104,2 b. 3 a a allerdings sehr eigenständig: n y n ' „Zelttuch, Zeltdach" als Vergleich f ü r den Himmel nur hier, ebenso n'^y „Obergemach", bezogen auf den himmlischen Palast (vgl. jedoch Am 9,6, w o wohl das N o m e n rrVy wiederherzustellen ist und mit dem angedeuteten Tempelbau offensichtlich die Idee vom Tempel als „Band zwischen Himmel und Erde" konkretisiert werden soll), mp pi. „mit Balken belegen", aber hier doch wohl „auf Balken gründen", sonst nur noch spät belegt: Neh 2,8; 3,3.6; 2 C h r 3 4 , l l . Man muß sich davor hüten, aus der gesamten, eher späten Beleglage vorschnell auf eine späte Datierung des Textes zu schließen. Keiner der untersuchten Begriffe ist in dieser Hinsicht aufschlußreich.

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Gegenwart über die Sphäre des himmlischen Tempel-Palastes hinaus angemessen kundzutun geeignet sind (V. 3aßb. 4)24. Der ganze Introitus V. 1 aß-4 ist also darauf ausgerichtet, Gottes Größe in ihrem herrlichen und herrscherlichen Erscheinen in der Himmelsregion zu preisen, ohne je die Königsprädikation explizit zu verwenden. Nun muß sich der Psalmdichter auf die Erde begeben, um zu erkunden, was hier das Gotteslob anzuregen vermag. Ob in dieser Absicht V. 5-9 von Anfang an im Psalm gestanden haben, wird man mit Grund bezweifeln müssen. Ist Schöpfung bisher ein funktionales, der Theophanie untergeordnetes Seitenmotiv gewesen, durch die partizipiale Formulierung zeitlicher Bestimmtheit enthoben und ins Immerwährende gewendet, so wird sie ab V. 5 im Sinne des konstituierenden Gotteshandelns zum thematischen Mittelpunkt. Man könnte diese Verlagerung so zu verstehen suchen, daß nach der kurz angedeuteten Erschaffung der Himmelsregion nun von der Gründung der Erde ausführlicher die Rede sein soll, weil ja auch der Schöpfungsbestand ab V. 10 breite Entfaltung erfährt. Aber dieser Erklärungsversuch ist nicht stichhaltig. Das Anklingen der Himmelsschöpfung in V. 2 b. 3aa beim himmlischen Palastbau Gottes verlangt nicht nach einer komplementären Erschaffung der Erde, welche auch ihrerseits in vorliegender Form kaum als unabdingbare Voraussetzung für die folgende „Bestandsaufnahme" der Schöpfung gelten kann, denn diese nimmt nicht Bezug auf das vorausgehende Gotteshandeln. Man wird sogar den Ubergang von der endgültigen Bändigung der gefährlichen Chaoswasser (V. 9) zur friedlich-freundlichen Wasserversorgung der Erde und Kreatur in V. 10 ff. als ausgesprochen hart bezeichnen müssen. Ausschlaggebend für die Separierung von V. 5 - 9 vom Kontext sind jedoch stilistische, grammatische und inhaltliche Beobachtungen. Der Passus wird ein-

24 V. 3aßb. 4 sind von Theophanievorstellungen im engeren Sinne geprägt (vgl. Jeremias, Theophanie S. 1 f.; zur Forschungsgeschichte vgl. Mann, Presence S. 1 ff.). Eine gewisse Nähe besteht zur Theophanieschilderung in Ps 18,8-16 = 2 Sam 22,8-16 (vgl. Jeremias, ebd. S. 33 ff. 128 f.; Crüsemann, Studien S. 254 ff.), vor allem in der gemeinsamen Bezeugung des Motivs des „Wolkenreiters" in Ps 18,11 und 104,3aßb, allerdings in jeweils eigener Formulierung, so daß die Annahme literarischer Abhängigkeit unwahrscheinlich ist (zum Verhältnis von Theophanie und Zionstheologie in bezug auf beide Texte vgl. Mettinger, Dethronement S. 32 ff.). Beide Texte machen vielmehr von einer altbekannten Theophanietradition je eigenen Gebrauch; zum kanaanäischen Hintergrund der Motive vgl. Day, Conflict S. 28 ff., so auch vom Motiv des Feuers (18,9 und 104,4) und - sehr aufschlußreich - von dem Ausdruck D'BS nisj (18,10 und 104,2b). Er hat in 18,10 (und davon abhängig in 144,5 a) die theophaniespezifische Bedeutung „den Himmel neigen", während in 104,2 b der schöpfungstheologische Aspekt „den Himmel ausspannen" artikuliert ist. Aber diese Differenz ist relativ und von nur geringem Gewicht gegenüber der Präponderanz der Theophanie in 104, Iff., der das schöpfungstheologische Motiv dient.

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geleitet durch eine Verbform in der 3.ps.m.sg.pf. mit Gott als Subjekt, wodurch die hymnische Diktion unterbrochen wird. Hier wird Bericht über die prima creatio erstattet. Da einmalige, abgeschlossene Handlungen mitgeteilt werden, erwartet man im folgenden die Fortsetzung der perfektischen Redeweise, wie sie auch in V. 6 a zu finden ist, wird dann aber bei gleichbleibendem Aktionsmodus in V. 6 b. 7. 8 a mit dem Wechsel zu Imperfecta konfrontiert, die in V. 8 b. 9 a wieder genauso unvermittelt von Perfecta abgelöst werden (in V. 9 a zudem Wechsel zur 2.ps.m.sg.). Es ist müßig, hinter dem Tempuswechsel eine poetisch-syntaktische Finesse zu vermuten. Eine solche Überlegung muß schon an dem störenden Tempuswechsel innerhalb des Parallelismus membrorum in V.6 scheitern. Hier liegt nichts anderes als unachtsamer Umgang mit den Tempora vor, kaum denkbar in einer Zeit, in der das Hebräische noch alltägliches Verständigungsmittel war, immerhin vorstellbar bei einem späten Redaktor, der bei seinem schöpfungstheologischen Nachtrag mehr auf die vielen zu berücksichtigenden Schöpfungsvorstellungen achtete als auf ihre sorgfältige Formulierung und stilistische Anpassung an den Kontext. Daß damit ziemlich genau die Situation des Redaktors charakterisiert sein dürfte, ergibt sich schließlich aus den inhaltlichen Spannungen innerhalb von V. 5-9. Abgesehen von V. 8 sind sie nicht so gravierend, daß man weitere literarische Kompilation annehmen müßte, aber doch beträchtlich genug, um das künstlich erstellte Traditionsgemenge offenkundig werden zu lassen. Die Aussage von V. 5 a, daß Gott die Erde rt'Jiaa by „auf ihren Fundamenten^)" gegründet habe, scheint inhaltlich problemlos zu sein, ist aber der Formulierung nach singular und sprachlich schwierig. Der Verfasser denkt wohl an Säulen oder Stützpfeiler, welche auch sonst aus Schöpfungsberichten bekannt sind, allerdings Tiny" und nicht jiaa genannt. Abgesehen von unserer Stelle mit dem singulären Plural wird dieses Wort vornehmlich zur Bezeichnung des Tempels gebraucht und ist deshalb hier terminologisch fehl am Platze 26 . Dennoch läßt sich vermutlich rekonstruieren, aufgrund welcher Überlegung der Redaktor zu seiner Formulierung gekommen ist. Offensichtlich wollte er in V. 5 eine zur Erschaffung des Himmels (V. 3 aa) komplementäre Aussage über die Erde formulieren, bei der ebenfalls der Aspekt der „Fundamentierung" artikuliert werden sollte. Dafür stellte bekannter Sprachgebrauch die beiden Verben 10' „gründen" und (in verschiedenen Stämmen) „feststellen, gründen" zur Verfügung, die hier allerdings in eigenwilliger Kombination verwertet werden27. Beides ist für die literarische Nacharbeit bezeichnend: die Orientierung 25 Ps 75,4; Hi 9,6; 26,11; vgl. 38,4-6 (ρκ „Grundmauer, -pfeiler"). Vielleicht hat zudem der Gedanke an die ρ κ 'torn „Grundmauern der Erde" im Hintergrund gestanden: Jes 24,18; Jer 31,37; Mi 6,2; P s 8 2 , 5 ; Prov 8,29; vgl. Ps 18,16 = 2 S a m 2 2 , 1 6 . 2 ' J13B als irdische und himmlische Wohnstätte Jahwes: Ex 15,17; 1 Kön 8,13.39.43.49 (par. 2 Chr 6,2.30.33.39); Jes 4,5; 18,4; Ps 33,14; abgeblaßt, aber keineswegs profan: Dan 8,11; Esr2,68; Gerechtigkeit und Recht als jiaa des Gottesthrones: Ps 89,15a ~ 97,2 b. Berührungen mit dem Sprachgebrauch in Ps 104,5 bestehen nicht. " Zu 113 und 10' s.u. S . 8 0 f f .

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an Formulierungs- und Vorstellungsvorgaben und die durch den Drang zur Synthese bedingte Künstlichkeit der „neuen" Formulierung. Es erscheint auch nicht als sinnvolle Sequenz, daß die gerade vollzogene Gründung der Erde (V. 5) sofort wieder in den Fluten der Chaoswasser verschwindet (V. 6). Auch hier liegt keine Sondertradition über die Schöpfung vor, wohl aber freie Zitation weiterer Schöpfungsüberlieferung, die mit V. 5 nicht ohne weiteres kombinierbar war und deshalb - da die Entscheidung nur für eine Version offensichtlich nicht in Frage kam - angereiht werden mußte 28 . Noch einmal: Literarische Separierung kommt kaum in Betracht, denn die Identität des Themas (Schöpfung als prima creatio) und die Stetigkeit des antiquarischen Interesses gegenüber den Traditionen machen eine einheitliche Verfasserschaft wahrscheinlich. In dieses Bild fügt sich der ganze Passus V. 5 -9 2 9 abgesehen von V. 8 ein. Daß dieser Vers Zusatz im Zusatz ist, wird schon an der widersinnigen Situation deutlich, daß die Berge, die gerade durch Jahwes Schelten vom Wasser befreit worden sind, sogleich die nächste Konfrontation mit ihm zu gewärtigen haben, wenn auch dieses Mal unter göttlichem Schöpfungsbefehl stehend. Außerdem stört V. 8 empfindlich den inhaltlichen Zusammenhang von V. 6 f. und V. 9, welche allein auf Bezwingung und Begrenzung der Chaoswasser in den Meeren zielen, nicht aber - wie V. 8 - auf die ungefährlichen, lebenswichtigen Flußläufe. Der Ergänzer wollte aber auch sie im Kontext der prima creatio erwähnt wissen, weil sie in der anschließend vorgeführten conservatio der Schöpfung eine der wichtigsten Naturordnungen sind (V. 10 ff.). Daß ihm die Formulierung seiner Aussageintention sonderlich geglückt sei, wird man nicht behaupten können. Vor allem V. 8 b wirkt unbeholfen, denn daß Gott Bergen und

2S V. 6 erweckt den Eindruck, hier solle eine Vorstellung aus dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht zu ihrem Recht kommen (vgl. Gen 1,2 und Beaucamp II S. 156). Die Erwähnung des Chaoswassers ninji als „Voraussetzung" der Schöpfung kann auch kaum einen anderen Hintergrund haben, wenngleich die Sequenz der Schöpfungswerke in Ps 104,5 f. nicht mit der in Gen 1,6-13 vereinbar ist. Aber solche Details pflegen einen auf Gesamtschau der Traditionen bedachten Redaktor nicht zu stören. So hat er die erinnerten „Zitate" in neuer Weise arrangiert, wobei Ps 104,6 b nicht dem priesterschriftlichen Schöpfungs-, sondern dem Sintflutbericht entstammt (Gen 7,19 f.), ohne daß die Reminiszenz an diesen beabsichtigt wäre. Indessen scheint die gewisse Ähnlichkeit von Ps 104,6 b mit einer Aussage über den Himmelsnil im großen Echnaton-Hymnus rein zufällig zu sein (Sandman, Akhenaten S.95,5f. = Assmann, Ä H G Nr. 92, 98).

" V. 7 ist eine typische Theophaniezeile (vgl. Jeremias, Theophanie S.20. 24ff. 90 ff.). Zu Jahwes „Schelten" (nji), myj, Caquot, T WAT II Sp. 53 ff.) vgl. Jes 17,13 (Historisierung des ursprünglich mythischen Motivs); 50,2; Nah 1,4; Ps 18,16 = 2 Sam 22,16; Ps 106,9 (auf Exodus bezogen) u.ö.; zum „Fliehen" (013) der Wasser vgl. Ps 114,3.5 (auf Exodus und Jordanüberquerung bezogen); zu Jahwes „Donnerstimme" (DJH Vip) vgl. Ps 77,19 (auf Exodus bezogen). Israel hat seit recht früher Zeit seine Glaubenserfahrungen mit mythisch tingierten Theophanievorstellungen ausgedrückt, seine heilsgeschichtlichen Credenda aber erst seit dem Exil in Theophaniesprache gekleidet. Zur Grenzsetzung der Chaoswasser in V . 9 vgl. Jer5,22; Hi 7,12; 26,10; 38,8-11; Prov 8,29. Die Belege sind wohl alle jung, ohne daß damit ein Urteil über das Alter der Tradition gefällt werden könnte.

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Tälern ihren jeweiligen Ort „gegründet" habe ("TO' auch bereits in V. 5), ist eine absonderliche Aussage 30 . Demgegenüber hat der schöpfungstheologisch interessierte Ergänzer von V. 5 - 7 . 9 seinen Einschub zu einem besseren Abschluß gebracht, indem er in V. 9 b noch einmal den Blick, auf die einstige Realität des Chaos zurückwendet (vgl. V. 6), aber eben vom Ergebnis des Schöpferhandelns her, das die Gewalt der Chaoswasser wirksam eingedämmt hat.

Mit V. 10 gewinnt man wieder Anschluß an den ursprünglichen Textbestand, der nach V. 4 durch redaktionelle Einschübe unterbrochen worden war. In seiner ältesten Form fährt der Psalm nach der Theophanieschilderung direkt mit der Sichtung des Schöpfungsbestandes fort. Stilistisch nahtlos wird in V. 10 a die partizipiale Formulierung zunächst weitergeführt, wechselt dann aber in V. 10 b. 11 in Imperfecta über, deren Subjekt die im Schöpfungsbestand beobachteten Werke Gottes sind. Dieser sich im Stil manifestierende Ubergang von der direkten Rühmung Gottes zu seinem indirekten Lob in der preisenden Schilderung seiner Werke, die auch vom großen Echnaton-Hymnus her bekannt ist, begegnet im weiteren Verlauf des Psalms noch mehrfach, auch in V. 20 ff., w o die direkte Rühmung in der 2.ps.m. sg. impf, erfolgt 31 . Solche stilistischen Variationen sind literarkritisch ebenso unverdächtig wie der Wechsel von der 2.ps.sg. in die 3.ps.sg. und umgekehrt. Der Psalmdichter beginnt in V. 10 f., im Lichte der Gottespräsenz (V. 1 b-4) die Ordnung von Welt und Kreatur in ihrer durchschaubaren und freundlichen Zweckmäßigkeit darzustellen. Quellen werden zu

30 Vgl. die gründliche Besprechung von V. 8 bei Buhl S. 633 f., der den Vers allerdings als ursprünglich in seinem Kontext betrachtet. Seiner Meinung nach beschreibt V. 8 die wilde Verwirrung, in der das Wasser vor Gottes Stimme (V. 7) flieht. Man mag diese Erklärung für die Endfassung des Textes gelten lassen. Die inhaltliche Spannung von V. 8 zu V.6 vermag sie nicht aufzulösen. Hier ist wohl die Annahme von zwei verschiedenen Redaktoren mit je eigener Intention überzeugender (anders Jeremias, Königtum S. 45 ff., der in V. 5-9 mit Gründen eine Ringkomposition erkennt, allerdings bei anfechtbarer Lösung des Subjektproblems in V. 8; die Unterschiede, die Jeremias zwischen Ps 29 und 93 einerseits und Ps 104 andererseits wahrnimmt, betreffen genau die Teile, die hier zur Neuinterpretation der Grundfassung gerechnet werden). Ob der für V. 8 verantwortliche Redaktor wirklich bestimmte Quellenlagen in Palästina vor Augen hatte (vgl. Sutcliffe, VT 2 S. 177 ff.), läßt sich nicht entscheiden, ist aber auch für das Verständnis der Formulierung weder notwendig noch in besonderer Weise erhellend. Daß der in V. 8 b genannte „Ort" (Dips) eine Erinnerung an Gen 1,9 sei, wie Deissler (S. 408) u. a. meinen, ist ebenfalls nicht auszuschließen, aber keineswegs naheliegend. 31 Die Wahl des Imperfektes zur Schilderung des Schöpfungsbestandes in V. 10 b ff. ist korrekt, denn es handelt sich um einen andauernden Zustand. In der ursprünglichen Fassung des Psalms gibt es überhaupt nicht die Probleme mit den Tempora, wie sie aus der Fortschreibung in V.5ff. bekannt sind (s.o. S.29f.).

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Flüssen, die ihren Weg zwischen Bergen hindurch finden und mit ihrem Wasser dem Wild eine Lebensgrundlage schaffen. Diese der Welt zugewandte Beobachtung wird auch in V. 12 f. fortgesetzt. Aber der Text enthält hier Störungen und so auch die gute Ordnung von Kosmos und Kreatur. Recht unbeholfen - Dn'^y „auf ihnen" in V. 12 bezieht sich über V. 11 hinweg auf die Berge in V. 10 - und merkwürdig wird hier der Lebensraum der „Vögel des Himmels" bestimmt, zumal ihre Erwähnung nach den Wildeseln keineswegs naheliegt und sie auch in V. 17 noch einmal vorkommen ( D H D S ) , W O es dem Dichter ungleich besser gelingt, ihren sinnvollen Platz im Kosmos anzugeben. Auch V. 13 enthält Ungereimtheiten. Daß die Berge aus Gottes Obergemächern getränkt werden, wäre allenfalls sinnvoll vor V. 10 zu sagen gewesen. Und die Aussage von V. 13 b mit ihrem störenden, weil sporadischen Wechsel zur 2. ps. sg. ist so eigentümlich, daß mancher Exeget der Versuchung nicht hat widerstehen können, durch Korrektur dem Text seinen vermeintlich ursprünglichen Sinn wiederzugeben 32 . Das ist jedoch weder überzeugend noch geboten, wenn einmal erkannt worden ist, daß zum ursprünglichen Text V. 12 f. nicht hinzugehört haben. Dafür lassen sich neben den inhaltlichen Beobachtungen weitere Argumente anführen. V. 13 ist nämlich weitestgehend - für redaktionelle Nacharbeit nicht untypisch - mit dem Wortbestand des Kontextes formuliert: nptf hi. „tränken" aus V. 11, D'-ιπ „Berge" aus V. 10, iii'Vy „Obergemächer" aus V. 3, 7®yn „deine Werke" aus V.24, yap „satt werden" aus V. 16 oder V.28, ρ κ π „die Erde" aus V. 14, wo allerdings in eingeschränkterem Sinne vom Ackerboden die Rede ist. Die unglücklich formulierte Aussage von V. 13 b wird verständlich, wenn man ihre eigentliche Absicht begreift. Durch sie soll die Ergänzung Anschluß an die im folgenden wieder zu Wort kommende Vorlage gewinnen, die das Thema der Versorgung von Tier und Mensch durch die „Frucht deiner Werke" in verschiedenen Aspekten behandelt. Eine solche Kontextabhängigkeit läßt sich auch für V. 12 wahrscheinlich machen. Einerseits wohnen die Vögel laut V. 12 a auf Bergen, wobei sich der Ergänzer an die in V. 10 geschilderten Gegebenheiten anschließt, andererseits hat er aber in V. 12 b Bäume vor Augen, aus deren Laubwerk die Vogelstimmen zu hören sind - kein Wunder, denn in V. 16 f. ist den Vögeln gerade dieser Platz zugewiesen, aber eben erst dort! Trotzdem macht der Ergänzer davon schon in V. 12 Gebrauch. Der Anlaß zur Fortschreibung des Textes ist hier kein anderer als in V. 5 ff., weshalb wohl beidemal dieselbe Hand am Werk gewesen ist. Die Aussagen über den Schöpfungsbestand sollen komplettiert werden, hier nach einer ganz bestimmten Vorlage: Gen 1. In Gen 1,20 ff. stehen nämlich die Vögel - gleichfalls D'nwn fiy „Vögel des Himmels" genannt, vgl. V. 26. 28 - mit den Wassertieren am Anfang der Erschaffung der Tierwelt, und in etwa derselbe Platz stand

" Vgl. Duhm 1 S. 242 f.; Buhl S.660. 666; Kittel S.335f.; Gunkel S.446. 455; H. Schmidt S. 187f. u.a.

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ihnen nach Meinung des Redaktors auch in Ps 104 zu 33 . Für Denkweise und Zeit dieses Ergänzers ist festzuhalten, daß Gen 1 schon gleichsam kanonische Geltung genoß 3 4 .

Die Beurteilung von V. 12 f. als redaktionelle Nacharbeit macht noch die Uberprüfung des als ursprünglich rekonstruierten literarischen Zusammenhangs notwendig. Die Folge von V. 10 f. 14 f. ergibt eine inhaltlich sinnvolle und geschlossene Einheit, die sich mit der Lebensgrundlage von Tier und Mensch befaßt. Als pars pro toto wird jeweils ein „Lebensrnittel" ohne exkludierenden Anspruch für Wild, Haustier und Mensch genannt, das die zweckmäßige und fürsorgliche Bezogenheit von Natur und Kreatur zu erkennen gibt. Solch gute Ordnung macht das Leben und damit auch das Loben leicht. In V. 14 b. 15 verweilt der Dichter ausführlich bei der Versorgung des Menschen, ohne daß es ihm gelungen wäre, seinen Gedanken eine einheitliche Form zu geben. Vielmehr scheinen manche Beobachtungen wiederum den Verdacht redaktioneller Nacharbeit zu erregen. Schon in V. 14 a fällt die mangelnde inhaltliche Kongruenz der Stichen auf: Gras für das Vieh - Pflanzen für den Ackerbau des Menschen. An V. 14 a sind zwei finale Infinitivkonstruktionen angehängt (V. 14b. 15aß), denen aber im zweiten Stichos jeweils abrupt und stilistisch hart ein selbständiger imperfektischer Verbalsatz folgt (V. 15aab). Schließlich kommt noch hinzu, daß zwei Aussagen über Dn^> „Brot, Speise" auf engstem Raum (V. 14 b. 15 b) die eigentlich zu erwartende inhaltliche Variation vermissen lassen. Obwohl an literarkritisch relevanten Beobachtungen kein Mangel herrscht, kommt eine literarkritische Lösung dennoch nicht in Frage, weil keine der 53 Man geht kaum mit der Annahme zu weit, daß der Redaktor gern seine Ergänzung unmittelbar an V. 10 angeschlossen hätte (worauf auch die Beziehung von an'^y „auf ihnen" in V. 12 auf onn „Berge" in V. 10 hindeutet), da in Gen 1 die Erschaffung der Vögel (1,20 ff.) der der Landtiere (1,24 f.) vorangeht. Doch gehören in Ps 104 V. 10 und 11 so fest wie Ursache und Folge zusammen, so daß sich der Ergänzer erst nach V. 11, aber immerhin noch vor der Erwähnung von Haustieren und Mensch (V. 14 f.) und somit in weitgehender Ubereinstimmung mit der Folge in Gen 1 einschalten konnte. Die literarkritische Analyse wird weiterhin dadurch bestätigt, daß die Bezeichnung des Wildes in Ps 104,11 auf keine Kenntnis des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes hinweist. Bekanntlich unterscheiden sich die Schöpfungsberichte von J und Ρ u. a. darin, daß diese das Wild ρκ(π) (l)j|'n nennt (Gen 1,24 f. 26? u.ö.; zu semantischen Differenzen vgl. W. H.Schmidt, Schöpfungsgeschichte S. 149 Α. 1), jener hingegen rmn jrn (2,19 f.). Ps 104 bedient sich also der älteren Terminologie und definiert sogar noch präziser als J, denn die Raubtiere werden in 104,20 eigens erwähnt ("ΐΓ wn); zu den verschiedenen Bedeutungsaspekten von (Zusammensetzungen mit) n'n „Tier" vgl. Ringgren, TWAT II Sp. 896 f. 34 Ebenso weist eine sprachliche Beobachtung auf späte Entstehungszeit hin: Der Aramaismus 'By* „Gezweig" in V. 12 ist Hapaxlegomenon; weitere aramäische Belege sind in Dan 4,9. 11. 18 zu finden.

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denkbaren Analysen das Textwachstum einsichtig machen kann 35 . Außerdem ist der Übergang v o m Jahwe preisenden Partizipialstil in V. 14 a zur eher auflistenden Schilderung des Schöpfungsbestandes in V. 16-18, w o von Jahwe in der 3.ps. gesprochen wird (V. 16), besser zu verstehen, wenn der Distanz schaffende Passus V. 14b. 15 mit zur ursprünglichen Fassung des Psalms gehört hat. I n d e s s e n ist e s m ö g l i c h , t r o t z aller s t i l i s t i s c h e n u n d i n h a l t l i c h e n U n e b e n h e i t e n o d e r v i e l m e h r g e r a d e in i h n e n d i e d e n P s a l m d i c h t e r l e i t e n d e I n t e n t i o n z u e r k e n n e n . D e r M e n s c h v e r d i e n t o f f e n s i c h t l i c h in s e i n e n A u g e n b e s o n d e r e B e a c h t u n g , d e n n als e i n z i g e K r e a t u r n i m m t d e r D i c h t e r i h n m e h r m a l s in d e n Blick: V . 14 f. 2 3 u n d - n i c h t a u s s c h l i e ß l i c h , a b e r p r i m ä r - V . 2 7 - 3 0 . D a b e i w i r d an d e r i n k o n g r u e n t e n F o r m u l i e r u n g i m B i k o l o n V . 14 a z u s a m m e n m i t d e n s i c h a n s c h l i e ß e n d e n V . 14 b. 15 deutlich, d a ß er über d e n M e n s c h e n e t w a s S p a n n u n g s v o l l e s sagen m ö c h t e , w a s n i c h t als w i d e r s p r ü c h l i c h m i ß v e r s t a n d e n w e r d e n d a r f . D e r M e n s c h , s o d e r D i c h t e r , ist w i e d a s T i e r v o n G o t t b e s c h e n k t e s , ja s o g a r ü b e r d i e M a ß e n u m s o r g t e s G e s c h ö p f 3 6 . A b e r er ist g e r a d e d i e s i m U n -

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Erklärt man V. 14 b. 15 für sekundär, hat man die notwendigen Erklärungen zu diesem Teil nur auf einer anderen literarischen Ebene zu geben. Auch ist der Anschluß von V. 16 an V. 14 a kein Gewinn. Die andere Möglichkeit, V. 15 als Zusatz anzusehen und V. 14 als Trikolon zu lesen, tauscht das Übel der inhaltlichen Spannung nur gegen dasjenige des poetischen Fauxpas aus. Wie noch zu zeigen sein wird, wäre V. 14 das einzige Trikolon in der ursprünglichen Fassung des Psalms. 36 Man wird V. 14 b. 15 im Sinne der überreichen Versorgung des Menschen verstehen müssen. Der Psalmdichter spricht hier nicht mit seinen eigenen Worten, sondern bedient sich einer offensichtlich bekannten Sentenz. Die Reihe Brot, Wein, Ol = Essen, Trinken, Salben ist nämlich im Alten Testament wie im alten Orient ein breit belegtes Motiv (zuweilen um das Element der Kleidung erweitert; vgl. Hos 2,7; Am 6,4-6; Ps 23,5; Q o h 9 , 7 f . ; Dan 10,3; 2Chr28,15 u.ö.; vgl. dazu und zu Belegen aus Israels Umwelt Kutsch, Salbung S. 1 ff.), das hier in modifizierter sprachlicher Form Aufnahme gefunden hat. Denn im Unterschied zum Psalmdichter, der für den Menschen das Wort Diu gebraucht (vgl. V. 14 a. 23), sagt die Sentenz «>υκ. Es liegt die Vermutung nahe, daß sie ursprünglich dreigliedrig gewesen ist, da auch nur die drei üblichen Themen Brot, Wein, Ol (wahrscheinlich in dieser Reihenfolge) vorkommen. Sie müßte dann ungefähr folgendermaßen gelautet haben: SUR 33^ iyo' on!> Ϊ13Κ 33V Π»»> I"1 D'JD i>'nr p n Brot erquickt des Menschen Herz, Wein erfreut des Menschen Herz, Öl läßt das Antlitz leuchten. Um die Sentenz dem Parallelismus membrorum anzupassen, hat der Psalmdichter sie zu Beginn um ein Glied erweitert, das inhaltlich gut an V. 14 a anzuschließen schien und zugleich auf die Aussage der Sentenz hinleitete: Göttlich gesetztes Ziel des Ackerbaus des Menschen sei es, Nahrung = DnV aus der Erde hervorzubringen. Doch, wie fast immer, zieht ein Eingriff in einen Text weitere nach sich, wodurch das Gefüge immer komplizierter und syntaktisch brüchiger wird. So auch hier: Der Brot-Satz

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terschied zum Tier als tätiges Geschöpf. Der Mensch ist von Gott liebevoll ausgezeichnete Kreatur gerade in seiner Bestimmung zur Arbeit: Daher die Inkongruenz der Formulierung in V. 14 a. Diese ins Gotteslob hineingenommene Sicht des Menschen verfällt nicht der naheliegenden Gefahr des hymnischen Uberschwanges, sondern ist mit ihrer Betonung der menschlichen Arbeit realistisch und, wie der Dichter zu verstehen gibt, menschenfreundlich 37 . Die positive Bewertung der Arbeit als Lebensaufgabe ist dem Psalmdichter wichtig. Denn nachdem er sie im Zusammenhang der dem Menschen bereiteten Lebensgrundlage in V. 14 f. nur kurz erwähnt hat, gipfelt die sich in V. 16 ff. anschließende „Naturbeobachtung" wieder in der Beschreibung des tätigen Menschen (V. 23), dem hier noch die weitere Ehre zuteil wird, Geschöpf des Tages zu sein. Wieso darin eine Auszeichnung liegt, ist allerdings erst zu verstehen, wenn das gedankliche Gefälle von V. 16-23 klar geworden ist. War der Blick des Dichters in V. 10 f. 14 f. primär auf die Lebensgrundlage der der Sentenz mußte nun an den Schluß gestellt werden, um zweimaliges onV hintereinander mit unterschiedlichem Begriffsumfang zu vermeiden. Die Betonung der göttlichen Zwecksetzung verlangte Infinitive mindestens zu Beginn der Bikola (V. 14 b. 15 aß), wodurch aber der syntaktische Zusammenhang mit dem jeweils zweiten, sprachlich nicht adaptierten Kolon (V. 15 a a b ) verlorenging. Beide sind wie in der ursprünglichen Sentenz selbständige Verbalsätze, obwohl sie mit Sicherheit nun als finale Nebensätze verstanden werden sollen. H i e r muß die Übersetzung der zu erschließenden Intention des Dichters gegen die grammatische Konstruktion folgen. 37 Die positive Bewertung der Arbeit f ü r den Menschen, die noch einmal in V. 23 anklingt, steht in unüberbrückbarem Gegensatz zur Auffassung des jahwistischen Schöpfungsberichtes, dem das T h e m a Arbeit ebenfalls wichtig ist (vgl. den von Gen 2,5 bis 3,23 gespannten Bogen), welche aber als fluchbeladen in völlig negativem Lichte erscheint (vgl. 3,17f.). M a n könnte Ps 104,14a geradezu als theologischen K o n t r a p u n k t zu Gen 3,18 verstehen, ohne daß es sichere Anhaltspunkte d a f ü r gäbe, d a ß der Dichter von Ps 104 den jahwistischen Schöpfungsbericht vor Augen gehabt hätte. Für eine eher ambivalente Beurteilung der Arbeit durch den Jahwisten kann man sich nicht auf Gen 2,15 berufen, etwa mit der Überlegung, die Zulassung menschlicher Arbeit im Paradies könne nur von einer positiven Einstellung her möglich sein. V. 9 - 1 5 sind nämlich höchstwahrscheinlich ein nachträglicher redaktioneller Einschub und haben somit nicht zur jahwistischen Schöpfungsgeschichte gehört. D a f ü r sprechen inhaltliche G r ü n d e (vgl. W . H . S c h m i d t , Schöpfungsgeschichte S.205ff., ohne seine überlieferungsgeschichtliche Sichtweise in bezug auf V. 9 - 1 5 zu teilen) und nicht zuletzt der stark kompilatorische C h a r a k t e r von V. 15 (vgl. V. 8 b. 5 bß; 3,24bß), welcher nach bekannter Redaktionstechnik den Erzählfaden dort wiederaufnimmt, wo er durch den Einschub unterbrochen worden ist (vgl. V . 8 b mit 1 5 a b a ) . Die auf Kontextadaption ausgerichtete T e n denz der Formulierung widerrät einer zu hohen inhaltlichen Bewertung.

Auf jeden Fall ist es evident, d a ß der Mensch in Ps 104 eine ganz zentrale Stellung einnimmt. Wenn Albertz hingegen meint, der Mensch begegne „nur beiläufig als O b j e k t göttlicher Wohltaten im Kreis der übrigen Kreaturen" (Weltschöpfung S. 108), ist das nur ein Zeichen d a f ü r , wie sehr das formgeschichtliche Vorurteil die Exegese des Einzeltextes bestimmt.

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K r e a t u r g e r i c h t e t , s o in V . 1 6 - 2 3 auf ihren Lebensraum, w o b e i V . 16 z w i s c h e n beiden nur perspektivisch zu unterscheidenden Bereichen eine Uberleitungsfunktion wahrnimmt. D i e L i b a n o n z e d e r n als G o t t e s b ä u m e s i n d e i n T h e m a mit m y t h i s c h e r T i e f e n d i m e n s i o n 3 8 , die s i c h a u c h in der B e m e r k u n g m a n i f e s t i e r t , G o t t h a b e sie g e p f l a n z t . H i e r h a n d e l t G o t t w i e w e i l a n d als P a r a d i e s g ä r t n e r (vgl. G e n 2 , 8 f f . ) , m i t d e m U n t e r s c h i e d , d a ß das im P s a l m b e s c h r i e b e n e „ P a r a d i e s " n i c h t s a n d e r e s als d i e W e l t ist, in d e r sich j e d e K r e a t u r auf i h r e m P l a t z z u H a u s e f ü h l e n darf; die V ö g e l in d e n Z e d e r n u n d d e r S t o r c h auf d e n Z y p r e s s e n , e b e n s o der S t e i n b o c k i m G e b i r g e u n d d e r K l i p p d a c h s in d e n F e l s s p a l t e n . G o t t e s F ü r s o r g e h a t k e i n e n „ Z u g ins G r o ß e " , s o n d e r n „Liebe z u m D e t a i l " - in w e l c h e m A u s m a ß , e n t h ü l l t die S p r a c h e . S o f i n d e n die V ö g e l in Jahwes B ä u m e n P l a t z u n d S t e i n b o c k w i e K l i p p d a c h s in d e n B e r g e n ihre Π0Π» „ Z u f l u c h t " , d i e hier w i e s o n s t J a h w e s S c h u t z o r t , ja J a h w e s e l b s t ist 3 9 . H i e r g e s c h i e h t D e f i n i t i o n d e s L e b e n s r a u m e s d u r c h die G o t t e s b e z i e h u n g , n i c h t d u r c h die „ S t a n d o r t b e dingungen". V. 19 unterbricht die Beobachtungsfolge störend, obwohl die Erschaffung der Gestirne prima vista gut zum Folgenden zu passen scheint. Aber der vereinzelte Rekurs auf die prima creatio weicht in der Formulierung zu sehr vom Kontext ab, um als ursprünglich gelten zu können. Wieder begegnen wie in V. 5 Verbalformen der 3.ps.m.sg. pf., dieses Mal sogar mit unschönem Subjektwechsel. U n d wieder gibt es wie in V . 6 f . Tempusprobleme, denn in V. 19 b wäre statt des Perfekts ein Imperfekt zu erwarten gewesen. Schließlich scheint zum wiederholten Male die Priesterschrift im Hintergrund zu stehen (vgl. V. 6.12), weil auch nach Gen 1,14 die Gestirne zur Festsetzung wichtiger Zeiten (nnyia) geschaffen worden sind 40 . Bevor sie in ihrer Funktion in Erscheinung treten (V. 20 ff.), wollte der Redaktor auch im Psalm auf ihre Konstitution hinweisen, wobei der Kontextzwang ihn wieder zu einer Verlegenheitsformulierung verleitet hat 41 .

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Vgl. Cassin, Splendeur S.62ff. und Ps 80,11. none „Zuflucht, Zufluchtsort", von Jahwe gewährt bzw. Jahwe selbst: Jes 4,6; 25,4; Jer 17,17; Jo4,16; Ps 14,6; 46,2; 61,4; 62,8f.; 71,7; 73,28; 91,2.9; 94,22; 142,6; Prov 14,26; im Gegenbild, das aber das positive theologische Verständnis voraussetzt: Jes 28,15.17; verblaßt: Hi 24,8 (vgl. auch Gamberoni, TWAT III Sp.79ff. mit Unterschieden in der Interpretation). 40 Zu lyitt „verabredeter Zeitpunkt, Zusammenkunft" vgl. Koch, TWAT IV Sp. 744 ff. Daß ®a® „Sonne" in V. 19 b maskulines, in V.22 aber feminines Genus hat, darf wohl nicht literarkritisch ausgewertet werden (s.o. S.23 A.9). 41 Gegen die Orientierung am priesterschriftlichen Schöpfungsbericht läßt sich nicht einwenden, in Gen 1,16 seien die Gestirne in umgekehrter Reihenfolge genannt: zuerst die Sonne als große Leuchte, dann der Mond als kleine. Die abweichende Sequenz in Ps 104,19 ist aus der Orientierung an V. 20 ff. entstanden, wo die Nacht vor dem Tag an der Reihe ist. Deshalb beginnt der Redaktor in V. 19 mit dem Mond, gerät aber in die Verlegenheit, die Sonne nicht aufgehen lassen zu können, weil in V. 20 die Welt in Fin39

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

Die aufmerksame Beobachtung des Kosmos wird in V. 20-23 fortgesetzt, bedingt durch die Formulierungsvorgabe aus der Tradition des großen Echnaton-Hymnus nunmehr wieder in der direkten Anrede Gottes, die auch bis zum Psalmende beherrschend bleibt 42 . Durch denselben Einfluß sind auch Objektwahl (m3j/TDD „[junger] Löwe"), Beschreibung des Lebensraumes (rw.tj 43 „Höhle'Vnjiyn „Versteck" o.ä., aber auch „Wald") und die Hinzunahme des Zeitfaktors (kk/ηΐτπ „Finsternis" bzw. n ^ „Nacht") vorgegeben. Im Anschluß an die rezipierte Tradition verfolgt der Psalmdichter die Gottesordnung bis in ihre gefährlichen, finsteren Winkel hinein und läßt dabei zugleich seine ägyptisch geprägte Vorlage theologisch weit hinter sich. Ist die von Finsternis bedeckte Erde nach dem großen Echnaton-Hymnus in Todesverfassung, wofür die Tätigkeit der dämonischen Raubtiere nur die Anschauung liefert, so entläßt der Psalmdichter den Bereich der Nacht bewußt nicht aus der Gottessorge: kein Wort von Todesverfassung 44 , wohl aber ein Wort über die Raubtiere, deren Brüllen Bitte um Beute an Gott ist! Das ist Entdämonisierung der Finsternis durch die Einholung der Geschöpfe der Nacht in die Gottesbeziehung 45 . Sie prägt ebenso deren Lebensraum wie den der Geschöpfe des Tages. Weil auch die Finsternis und das, was sie birgt, unter der Herrschaft Gottes steht, kann die Entgegensetzung der Sphäre des Tages im Psalm nicht ähnlich kraß ausfallen wie im großen Echnaton-Hymnus. Während in ihm der Sonnenaufgang als Erscheinung des Gottes den kontradiktorischen Gegensatz zur Finsternis anzeigt 46 , ist der Ubergang von der Nacht zum Tag in Ps 104, 22 f. fließend. Er ist vermittelt durch den Rückzug der Raubtiere in ihre Verstecke, die aber damit auch am Tage in ihrem zugewiesenen Lebensraum unbedrohlich präsent bleiben. Der Tag gehört jedoch dem Menschen und seiner Arbeit, was V. 23 ein-

sternis liegt. Also muß er sie untergehen lassen (Übersetzungsfehler bei Koch, TWAT IV Sp. 747) und den kuriosen Eindruck in Kauf nehmen, daß gerade darin ihre wichtigste Funktion bestehe. 42 Vgl. hierzu und zum Folgenden Sandman, Akhenaten S.93, 17-94,6 = Assmann, ÄHG Nr. 92,27-45. 43 So Faulkner, Dictionary S. 147; Erman/Grapow, Wb 2 S.409: rwrw.tj mit der Anmerkung: „ob richtig?". 44 shr η mw.t, Sandman, Akhenaten S.93,17 = Assmann, ÄHG Nr.92, 29; vgl. Sandman, Akhenaten S. 13,1-8 = Assmann, ÄHG Nr. 91, 27 f. 45 Die Entdämonisierung der Finsternis erinnert an ihre Entmachtung im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,2-5). Doch der Vorgang ist in beiden Fällen ein je eigener. Wird in Gen 1 der Machtbereich der Finsternis begrenzt und durch ihre Benennung als Nacht entmachtet, so herrscht in Ps 104 die Vorstellung, daß die Finsternis die Nacht heraufführt, beide aber von jeher der Verfügungsgewalt Gottes unterstehen. 46 Die Finsternis wird vertrieben (rwj), vgl. Sandman, Akhenaten S.94,3 = Assmann, ÄHG Nr. 92, 40.

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dringlich und gewissermaßen als wichtigste Erkenntnis der Weltbeobachtung mitteilen will 47 . Der Mensch erfährt seine Bestimmung nicht über einen zugewiesenen Lebensraum, sondern durch die ihm mit der Arbeit gestellte Lebensaufgabe, worin der Psalmdichter offensichtlich eine Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Geschöpfen erkennt. Dabei fällt kein Wort wie bisher üblich über die gewährte Got47

Die Rezeption der Echnaton-Tradition im Psalm ist auch an dieser Stelle wieder aufschlußreich. Die Sphäre des Tages wird in Ps 104,23 allein durch den Menschen und seine Arbeit bestimmt, während im großen Echnaton-Hymnus daneben auch das Land (Ägypten) Erwähnung findet (vgl. Sandman, Akhenaten S. 94,5 f. = Assmann, ÄHG Nr. 92,45, wobei charakteristischerweise Verbform und Possessivsuffix weiterhin auf die Menschen bezogen bleiben, was auf den engen Vorstellungskonnex von Land und Menschen hinweist; vgl. auch Sandman, Akhenaten S.94,4 = Assmann, ÄHG S.92,41). Ps 104 spricht nur von dem Menschen schlechthin und spiegelt damit eine Eigenart vorexilischer Psalmtheologie wider, für die Volk und Nation primär keine Themen sind. Theologischer Prüfstein war für den Psalmdichter indessen die in der Echnaton-Tradition vorgefundene Rede vom Licht. „Das Licht bezeichnet die dogmatische Namensformel als den ,Namen' des Gottes. Damit ist die Form gemeint, in der er dem Kult zugänglich i s t . . . Diese Parusie des Gottes im Licht ist der neue Gedanke, der alles verwandelt... Der monotheistische Ausschließlichkeitsanspruch ergibt sich aus dieser neuartigen Konzeption einer königlichen Alleinherrschaft des Lichtgottes von selbst... Diese Herrschaft ist aber nichts anderes als die Lichtstrahlung, von der die Welt lebt und abhängig ist und somit beherrscht wird. Die natürliche Lichtabhängigkeit der Welt ist es, die Amenophis IV. als Herrschaft des Lichtgottes gedeutet und in der Form einer neuen Religion durchgesetzt hat, die keine Götter mehr kennt, sondern nur noch das alles beherrschende Licht verehrt" (Assmann, Saec. 23 S. 118 f.). Obwohl die Amarna-Theologie vermutlich auch noch theologische Differenzierungen zwischen göttlichem und „natürlichem" Licht gekannt haben wird - beachte, daß im großen Echnaton-Hymnus das in der Kartusche verwendete Wort für Licht (sw, Sandman, Akhenaten S.93, 9 = Assmann, ÄHG Nr. 92,2) nicht noch einmal vorkommt (konstant stw.t-k „deine Strahlen", Sandman, Akhenaten S. 93,14f. 16; 94,4.10; 95,9 = Assmann, ÄHG Nr.92,22.25.40.58.105) -, ist allemal evident, daß für den Psalmdichter Vorsicht im Umgang mit diesem Traditionsgut geboten war, wollte er nicht in ungewägten Formulierungen die auf Austauschbarkeit hintendierende Identifizierung von Gottheit und Licht mit übernehmen. Der Psalmdichter hat die Gefahr geschickt vermieden. In Ps 104,20-23 fällt auf, daß V. 20 a und 22 a nicht parallel formuliert sind. Der Finsternis in V. 20 a entspricht nicht das Licht in V. 22 a, sondern lediglich der Sonnenaufgang. Dadurch ist der Psalmdichter der drohenden Vergöttlichung der Naturordnung ausgewichen. Gleichwohl mißt auch er dem Licht hohe theologische Bedeutung bei. Schließlich findet das Licht in Ps 104 ebensogut nur einmal an exponierter Stelle Erwähnung (V. 2 a) wie sw im Echnaton-Hymnus. Doch auch hier läßt sich der Dichter durch die vorgefundene Lichttheologie nicht theologisch verblenden. Das Licht ist Bestandteil der Herrlichkeitssphäre Jahwes. Es ist weder Gott noch göttlich, sondern gemeinsam mit mm im „Hoheit und Pracht" Jahwes „Kleid" (®ai>lln»V®, V. 1 b. 2 a), seine „Außenseite", kurz: Versinnbildlichung seiner selbst. Das Licht ist (noch) nicht Schöpfungswerk wie in Gen 1, sondern in gewissem Sinne - und darin noch von ferne dem Echnaton-Hymnus verpflichtet - der Schöpfung voraus, deshalb aber keineswegs wesensgleich mit Jahwe. Es hat zusammen mit Hoheit und Pracht seine Stellung in Jahwes Nähe und seine ganze Ehre darin, diese anzuzeigen.

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tesbeziehung. Sollte sie etwa für den Menschen von geringerer Bedeutung als für die anderen Geschöpfe sein? Man muß diese Frage in den dritten und letzten Teil des Psalms (V. 24-35) mitnehmen, um zu sehen, ob der Psalmdichter noch einmal auf sie zurückkommt. Außerdem kann man der Frage nicht richtig nachgehen, ehe nicht in einer Analyse des dritten Teiles die wahrscheinlich ursprüngliche Gestalt wiederhergestellt worden ist. Der anfängliche Bestand, der wohl ungefähr genauso lang war wie der erste Teil, beide ein Mittelstück von ungefähr doppelter Länge umschließend, ist offenkundig tiefgreifend überarbeitet worden. Formal fällt zunächst auf, daß abweichend vom bisherigen Schema drei Zeilen als Trikola gestaltet sind: V. 24.25.29. Der Wechsel von Bikola und Trikola in einem Psalm ist auch sonst belegt, in der Regel jedoch in überschaubarer Ordnung und aus inhaltlichem Anlaß. Keiner der beiden Aspekte vermag für den Wechsel im dritten Teil dieses Psalms zureichende Gründe zu liefern, während die redaktionsgeschichtliche Analyse durchaus plausible Motive für Fortschreibung zu nennen vermag. Markiert der Ausruf V. 24 aa „Wie zahlreich sind deine Werke, Jahwe!" deutlich den Neueinsatz des dritten Teiles48, so fällt die Fortsetzung V. 24 aß „Sie alle hast du in Weisheit gemacht" in mehrfacher Hinsicht aus dem intonierten Stil heraus. Hier wird nicht mehr akklamiert, sondern konstatiert, wobei das beidemal verwendete Perfekt unterschiedliche Aktionsmodi anzeigt: in V. 24 aa stativisch den zeitlich unbegrenzten Zustand, in V. 24 aß die in der Vergangenheit abgeschlossene einmalige Handlung. Richtet sich also V. 24 aa auf die Rühmung des Schöpfungsbestandes, so V. 24 aß - wie schon häufig in der Bearbeitung - auf die Feststellung des konstituierenden Schöpfungshandelns. Dabei läßt die sprachliche Gestaltung wieder zu wünschen übrig. flVa „sie alle" steht auch am Anfang von V. 27 und ist wohl von dort übernommen worden. Das Verb nipy „machen" wiederholt störend das vorhergehende Nomen npya „Werk", artikuliert nun aber den Aspekt der prima creatio 4 '. Daß sie ΠΒ3Π3 „in Weisheit" geschehen sei, ist dem übrigen Psalm ein fremder Gedanke, der seine nächste Parallele in Prov 3,19 findet. Sowenig V. 24 aß als Fortsetzung von V. 24 aa geeignet ist, so bruchlos schließt V. 24 b an den einleitenden Ausruf an: dasselbe Perfekt in stativischer Bedeutung und "]j'ip „deine Geschöpfe" 50 parallel zu „deine Werke". Aufgrund der Wortstellung ist es sogar wahrscheinlich, daß die V. 24 aa einleitende Exklamationspartikel auch für V. 24 b Geltung hat, so daß beide Kola zusam48 Der Ausruf ähnelt der Formulierung Sandman, Akhenaten S.94,16 = Assmann, Ä H G Nr. 92, 76. Doch sind die Übereinstimmungen viel zu gering, um hier bewußte Rezeption anzunehmen. 49 In den redaktionellen Passagen V. 19 und 24 aß wird rmy im Sinne des konstituierenden Handelns gebraucht, während die Wurzel und die zugehörige Nominalbildung im ursprünglichen Psalm nur für Gottes ordnendes Handeln (V. 4) und für den Schöpfungsbestand (V. 24 aa) gebraucht werden. 50 S.o. S.23 A.11.

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men einen wohlgeformten synonymen Parallelismus membrorum ergeben, der sekundär um den Konstitutionsaspekt der Schöpfung erweitert worden ist, weil der betreffende Redaktor dazu im folgenden noch einmal ausführlicher das Wort ergreifen will. Er tut es sogleich in V. 25 f. Die Kriterien für redaktionelle Nacharbeit von ein und derselben Hand sind hier zahlreich. Das Meer und die ihm zugehörigen Tiere sind offensichtlich nach Meinung des Redaktors im ursprünglichen Hymnus zu kurz gekommen, wie er ja auch schon im ersten Teil ausführlich Herrschaft und Bezwingung der Urflut nachgetragen hat (V.6f. 9). Eigentlich wäre der Nachtrag inhaltlich im zweiten Teil des Psalms besser placiert gewesen, wo sich aber kein geeigneter Anknüpfungspunkt finden ließ, so daß der Redaktor mit einer thematisch unspezifischen Stelle vorliebnehmen mußte. Die Anknüpfung mit nr ist dementsprechend locker 51 . Da der Redaktor V. 24 bereits zum Trikolon erweitert hatte, ist er in V. 25 bei dieser Form geblieben und hat erst V. 26 im Blick auf das Folgende wieder als Bikolon gestaltet. Am auffälligsten ist die zusammengestellte Reihe. Da folgen auf die summarisch genannten Meerestiere inhaltlich völlig unpassend die Schiffe und schließlich noch das zu Gottes Spieltier gewordene Ungeheuer Leviathan. Dem „Gewimmel ohne Zahl" entspricht ein Gewimmel an gelehrten Reminiszenzen, die ohne kritische Sonderung und gezielte theologische Intention aneinandergereiht worden sind. »Hl „wimmeln, Gewimmel" ist als Verb und Nomen in Gen 1 häufig belegt, allerdings zumeist auf die Kriechtiere bezogen (Gen 1,24-26.28. 30). Doch ist bereits auch in Gen 1,21 bei den Wassertieren die Wurzel f i i nachgetragen worden 52 , so daß - wie schon so häufig - Gen 1 als Bezugspunkt für die Fortschreibung in Ps 104,25 allemal am wahrscheinlichsten ist. Aber der Redaktor hatte bei seinem Nachtrag nicht nur Gen 1 in Erinnerung, sondern auch die Tradition des großen Echnaton-Hymnus, ohne die die Erwähnung der Schiffe an dieser Stelle nicht verständlich zu machen wäre 53 . Sie muß in Kanaan/Palästina eine weite Verbreitung gehabt haben und offensichtlich über Jahrhunderte hin weitergegeben worden sein, so daß sie selbst einem Redaktor in ziemlich später Zeit noch bekannt sein konnte. Die Assoziation des gezähmten Leviathan wird schließlich durch die Kenntnis von Hi 40,25-32 (vgl. v. a. V. 29) verursacht worden sein. Die Voraussetzungen für die Assoziation waren durch das Zusammenspiel von Gen 1 und großem Echnaton-Hymnus an diesem Punkt gegeben. Gehören dort die Di'in „Seeungeheuer" (Gen 1,21) mit zur Schöpfung, so bewegen sich hier gleich nach Erwähnung der Schiffe die Fische blitzschnell im Fluß. Da lag der Gedanke an den zu Gottes Zerstreuung geschaffenen - beachte wieder den Konstitutionsaspekt! - Leviathan nicht fern. Doch zur Diktion der ursprünglichen Fassung von Ps 104 paßt weder die Depotenzierung der gefährlichen Kreatur zum Spielzeug noch die Erwähnung eines Menschenwerkes wie der Schiffe. 51

Zum grammatischen Problem vgl. GK § 136 d A. 2. Vgl. W.H.Schmidt, Schöpfungsgeschichte S.123. " Vgl. Sandman, Akhenaten S.94,8f. = Assmann, Ä H G Nr. 92,53 f.; so auch Day, Conflict S. 72 ff., der zu Recht gleichzeitig für die Deutung von Leviathan als „the mythological sea serpent" eintritt, „here appearing in depotentized form" (S. 75). 52

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Beides überschreitet die auf Wahrnehmung guter, zweckhafter und gottverbundener Ordnung ausgerichtete Beobachtung von Kosmos und Kreatur im zweiten Teil des Psalms, ohne daß darin eine beabsichtigte Fortführung des Gedankenganges zu erkennen wäre.

Die durch die redaktionskritische Analyse erforderliche Gegenprobe gelingt. Im Unterschied zur Endfassung hat „sie alle" in V. 27 einen klaren und sinnvollen Bezug zu den in V.24b erwähnten Geschöpfen. Uber sie soll in V. 27-30 in dichter inhaltlicher Folge Entscheidendes gesagt werden 54 . Das läßt sich von V. 31 f. nicht mehr behaupten, die mit konventionell formuliertem Wunsch zu Jahwes Nutzen und erneutem Theophaniemotiv den Psalm offensichtlich abrunden sollen. Auch V. 34. 35 a enthalten Wünsche, die deutlich V. 31 f. fortsetzen, denn der nächste Wunsch in V. 34 gilt dem Nutzen des Beters und der letzte in V. 35 a dem Schaden der Frevler - allesamt konventionelle Psalmenmotive 55 . In einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu V. 31 f. 34. 35 a steht das Lobgelübde in V. 33. Zwar schließen die Wünsche und das Lobgelübde einander nicht aus, doch ist die Position des letzteren inmitten der Wünsche so auffällig, daß eine Komposition una manu unwahrscheinlich ist. Dieses Urteil wird noch durch die Beobachtung unterstützt, daß das Lobgelübde durch Aufnahme von 'Π^κ mn' „Jahwe, mein Gott," in deutlicher Korrespondenz zum Psalmbeginn in V. 1 aß formuliert und folglich für die Schlußposition komponiert worden ist. Der in V. 31-35 erfolgte Redaktionsvorgang steht nun recht klar vor Augen. Das Lobgelübde in V. 33 Schloß den Psalm nach der Klimax in V. 27-30 ursprünglich sofort ab. Der für das Lobgelübde nicht ungewöhnliche Wechsel von der Anrede Jahwes zur Rede über ihn in der 3.ps. ist von dem für die Wünsche verantwortlichen Redaktor übernommen worden. Er mußte seine Wunschliste teilen, weil der Wunsch für Jahwe nur vor, die Wünsche für Beter und Frevler nur nach dem Lobgelübde ohne allzu störenden Personenwechsel erfolgen konnten. Der Redaktor hat die im Lobgelübde vorgegebene Rückbindung an den Anfang des Psalms durch die Aufnahme des Theophaniemotivs in V. 32 zu imitieren versucht, allerdings ohne rechten Erfolg, denn die Funktion der Theophanie des Anfangs, Präsenzanzeige Jahwes zu sein, kommt hier nicht mehr in Frage. Vor allem aber läßt der Redaktor durch die Wünsche den Psalm in merklich veränderter Tonlage enden. Die Freude Gottes an seinen Werken, Gottwohlgefälligkeit des 54 Es braucht nicht ausführlich erörtert zu werden, daß der formal überschießende und inhaltlich nur locker angefügte V. 29 b durch Gen 3,19, vielleicht auch durch Hi 34,14 f. bedingter Zusatz ist. 55 Dabei hat der hier tätige Verfasser sicherlich bewußt die Gottesfreude in V. 31 b und die fruitio Dei in V. 34 b korrespondierend formuliert.

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menschlichen Sinnens und fruitio Dei, Vernichtung der Sünder und Frevler56 - das alles ist dem Psalm in ursprünglicher Form ebenso fremd, wie es später retributionsbedachter Rechtgläubigkeit wohlvertraut und wichtig ist. Nachdem Umfang und Anlaß der redaktionellen Bearbeitung des letzten Psalmteiles geklärt worden sind, kann nun anhand der als ursprünglich ermittelten Fassung die Funktion des dritten Teiles im Rahmen der gesamten Dichtung bestimmt werden. Hatte der zweite Teil in V.23 mit der Schilderung des tätigen Menschen geendet, ohne daß ein Wort über seine besondere Gottesbeziehung gesagt worden wäre, so enthält auch der den dritten Teil einleitende Ausruf (V. 24*) keine Antwort auf die offengebliebene Frage. „Wie zahlreich sind deine Werke, Jahwe! (Wie) ist erfüllt die Erde von deinen Geschöpfen!" scheint nur retardierend und resümierend auf den zweiten Teil zurückzublicken. Und denselben Eindruck erweckt auch V. 27 mit der Bekräftigung der Gottessorge für die Nahrung aller Geschöpfe. Doch schon am Ende von V. 27 kommt ein bisher ungenanntes Element hinzu, das seine volle Entfaltung erst in V. 28-30 erfährt und damit den resümierenden Rückblick in V. 24*. 27 zugleich zur weiterführenden Uberleitung macht. Alle Geschöpfe empfangen das Ihre von Gott inja „zur rechten Zeit". Und das ist nicht nur die Nahrung, sondern das Leben überhaupt. Die im zweiten Teil des Psalms geschilderte gute Ordnung ist, wie bereits der häufige Hinweis auf die Gottesbeziehung deutlich gemacht hat, nicht in die Selbständigkeit entlassen. War aber das noch geradezu phänomenologisch formuliert, redet der dritte Teil fundamentaltheologisch. Kosmos und Kreatur bleiben nicht nur in der Gottesbindung in Teilaspekten des Daseins, sondern in totaler Angewiesenheit, in „schlechthinniger Abhängigkeit" vom Gotteswillen. V e r b i r g s t du d e i n A n g e s i c h t , sind sie verstört; Z i e h s t du ihren O d e m zurück, s c h w i n d e n sie d a h i n ; E n t s e n d e s t du d e i n e n O d e m , w e r d e n sie g e s c h a f f e n ; D u m a c h s t das A n t l i t z der E r d e (wieder) neu.

Ist das auch von aller Kreatur gesagt, ist damit doch in besonderer Weise der Mensch gemeint 57 . Er, den Gott als einzigen durch eine Le56 In der ursprünglichen Fassung hat selbst das Böse in Gestalt der Raubtiere (V. 20-22) seinen gottgewollten Platz und seine Gottesbeziehung. Die Idee der Vernichtung wäre hier abwegig. 57 Das wird am Sprachgebrauch deutlich. Subjekt von ia® pi. „hoffen, warten" sind immer Personen (Jes 38,18; Ps 119,166; Ru 1,13; E s t h 9 , l ) . Die Ausweitung auf alle Geschöpfe begegnet nur in Ps 104,27 und im freien Zitat dieser Stelle in 145,15. Ganz und gar personenbezogen ist Bf>i> „auflesen" und auch ^na ni. „erschreckt, verstört sein/werden" in allen einschlägigen Belegen: Gen 45,3; Ex 15,15; Ri 20,41; 1 Sam 28,21; 2Sam 4,1; Jes 13,8; 21,3; Jer 51,32; Ez 7,27; Ps 6,3.4.11; 48,6; 83,18; 90,7; Hi 4,5; 21,6;

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bensaufgabe ausgezeichnet hat, erfährt seine Gottesbeziehung in der uneingeschränkten Abhängigkeit seiner Lebenszeit vom Gotteswillen. Das ausgezeichnete Geschöpf ist zugleich das ganz und gar bedürftige. Es teilt das Angewiesensein auf Gott mit Kosmos und Kreatur, ist jedoch das einzige, bei dem sich Auszeichnung und schlechthinnige Abhängigkeit in existentieller Spannung auswirken. Der Psalm will hier versöhnen, indem er beide Pole ins Gotteslob hineinnimmt. Die Auszeichnung des Menschen durch seine Lebensaufgabe wird hymnischtheologisch überboten durch das unbedingte Angewiesensein auf Gott, ohne daß auch nur die Andeutung einer Spannung zwischen beiden Bestimmungen gemacht würde. Anders als in Ps 8 - und doch wieder ähnlich58 - liegt in Ps 104 der tiefste Grund zum Gotteslob darin, das eigene Geworfensein in die Zeit in den Händen des Herrn der Zeit zu wissen, den man vertrauensvoll „Jahwe, mein Gott," nennen darf. Ganz bezeichnend ist der Umgang des Psalmdichters mit der Echnaton-Tradition, die hier wieder Pate gestanden hat. Heißt es im großen Echnaton-Hymnus D i e Erde e n t s t e h t auf d e i n e n W i n k , w i e du sie g e s c h a f f e n hast: d u g e h s t auf f ü r sie - sie leben, d u g e h s t unter, sie sterben. D u bist die L e b e n s z e i t selbst ( f h r ( w ) r h ' w - k ) , m a n lebt d u r c h dich 5 9 .

so sind Licht/Tag und Finsternis/Nacht theologisch qualifiziert gegenübergestellt als Leben schaffende, lichte Gottesgegenwart und Leben negierende, gottverlassene, finstere Todeswelt. Den in der EchnatonReligion theologisch bedeutsamen Wechsel von Tag und Nacht hat der Psalmdichter gar nicht übernommen, da er ihn schon in V. 20-22 in die gute Ordnung geholt und damit theologisch völlig umgewertet hat. Leben zu gewähren und Leben zu negieren, hängt nicht vom deifizierten Zeitrhythmus ab, sondern allein von dem Herrn der Zeit und aller Geschöpfe, der nicht Sonne und Licht ist und nicht im Rhythmus kosmischer Ordnung kommt und geht. Souveränität und Vertrauenswürdigkeit dieses Gottes betont der 23,15 (etwas abweichend Ez 26,18, doch sind die Inseln personifiziert gedacht). Daß sich der Dichter in Ps 104,29aa traditioneller Psalmensprache bedient hat, geht aus der Verwandtschaft mit 30,8 b hervor. Der weitere Sprachgebrauch in Ps 104,29 f. ist in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Doch scheinen Geistentzug und Geistbegabung wie im noch zu besprechenden Vorbild der Echnaton-Tradition allein auf den Menschen bezogen zu sein. Jedenfalls sind die terminologischen Affinitäten zur Priesterschrift nur vordergründig, da die jeweils damit artikulierten Vorstellungen unvereinbar sind (anders Albertz/Westermann, T H A T II S. 736f.; s.u. S.45f. A.61). 58 S.u. S.232ff. " Sandman, Akhenaten S.95,17f. = Assmann, Ä H G Nr. 92, 125-128; vgl. ebd. Nr. 95,11 f.

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Dichter durch eine kühne Umstellung, die er so sorgfältig gestaltet hat, daß ihr theologisches Gewicht auch sprachlich zur Geltung kommt. Er läßt in V. 29 a die Leben negierende Seite des Gotteswillens seiner Leben schaffenden Zuwendung in V. 30 vorausgehen, um durch die Umkehrung der natürlichen Folge Gottes „Lebenswillen" seinem Willen zum Lebensentzug überzuordnen. Aus dieser Intention heraus ist auch der zunächst überraschende, fast deplaciert wirkende Schluß in V. 30 b zu verstehen: „... du machst das Antlitz der Erde (wieder) neu"60. Gottes Schöpfungshandeln ist nicht sosehr einmaliges konstituierendes Tun, sondern ständige Bevorzugung des „Lebenswillens", durch den die Erde ein Antlitz bekommt, weil Gott ihr - wie doch wohl aus V. 29aa e contrario gefolgert werden darf - sein Angesicht zuwendet. Das Angesicht Gottes gibt gleichsam der Erde Gesicht. Und Gesicht der Erde, nämlich das, was sie zu sehen gibt, ist die Fülle der Werke und Geschöpfe Gottes (V. 24*). Dieser in sich geschlossene Gedankenkreis enthält Elemente der Schöpfungstheologie im Sinne der prima creatio. Doch geprägt ist er dadurch nicht, sondern vielmehr durch eine noch näher zu konturierende tempeltheologische Denkform, die die Fülle der Welt als Abglanz und Funktion der Zuwendung des göttlichen Antlitzes begreift. Sie betrachtet Schöpfung vor allem als Erhaltung und Erneuerung der Gott widerspiegelnden Fülle der Welt, wovon der Psalm in seiner ursprünglichen Form entschieden geprägt ist61. 60

Zu V. 30 b ist keine vergleichbare Aussage im Alten Testament zu finden. Die Verbindung von n m x bzw. ρ κ „Erde" und o'ja „Angesicht" ist zwar sehr häufig belegt, doch regelmäßig nur als adverbielle Bestimmung des Ortes ρ κ π bzw. πητκπ ή Vy(n) „auf bzw. weg von der Erde", also f ü r den hiesigen Zusammenhang unspezifisch. Auch der Verwendung von r m pi. „erneuern" läßt sich im Alten Testament nichts Vergleichbares an die Seite stellen. Die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde in Jes 65,17 (vgl. 66,22) ist etwas anderes, nämlich eschatologische Neuschöpfung, nicht, wie in Ps 104,30 b, kontinuierliche Erneuerung der Schöpfung. N e u s c h ö p f u n g ist auch in Jes 42,9; 48,6 f.; Jer 31,22; Ps. 102,19 gemeint. Nicht dem konkreten Inhalt, aber der zugrundeliegenden theologischen Vorstellung nach ist T h r 5,21 zu berücksichtigen. Die erneute Zuwendung Jahwes zu seinem Volk bedingt dessen U m k e h r und damit die Erneuerung des einst intakten Verhältnisses zwischen G o t t und Volk. 61 M a n kann f ü r eine größere Bedeutung der prima creatio in Ps 104 nicht den Gebrauch von Kia „schaffen" in V. 30 reklamieren, in der Meinung, hier manifestiere sich eine Verwandtschaft mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1 (zu m a vgl. die verschieden akzentuierenden Darstellungen von W . H . S c h m i d t , Schöpfungsgeschichte S. 164ff.; ders., T H A T I Sp.336ff.; Westermann, Gen 1/1 S. 136ff.; Bergman u.a., T W A T I Sp.769ff.). Verwendung des Verbs und Schöpfungsvorstellung sind beidemal sehr unterschiedlich. W ä h r e n d in Gen 1 una theologisches Schlüsselwort der Priesterschrift f ü r Gottes konstituierendes, unanschauliches Schöpferhandeln ist (1,1.21.27; 2,4), macht Ps 104,30 die Schöpfungstat (ni. = passivum divinum) von der Geistbegabung abhängig, die immer wieder neu von Gottes Entschluß ausgehen muß. Dieses eher kontinuierliche Schöpfungsgeschehen (vgl. Bernhardt, T W A T I Sp. 776) hat dieselbe Valenz wie

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Als Resümee der Analyse ist festzuhalten, daß Ps 104 eine kürzere ursprüngliche Fassung in sich birgt, von der sich eine recht umfängliche Ergänzungsschicht abheben läßt, die sich durch ein von der Erstfassung gut zu unterscheidendes theologisches Profil auszeichnet. Der Grundentwurf von Ps 104 besteht aus drei Teilen (I: V. 1 aß-4; II: V. 10f. 14-18. 20-23; III: V.24aab. 27-29a. 30. 33), die Gottes Gegenwart in der Welt und seine liebevolle Fürsorge für Kosmos und Kreatur preisen. Der erste Teil schildert unter Verwendung von Theophaniemotiven Gottes herrliches Erscheinen, so daß im zweiten Teil die gute Ordnung der Welt in der Gegenwart des Gottes vorgestellt werden kann, von dem sie herkommt, von dem sie bleibend abhängt und dessen Ruhm sie durch ihre für den Menschen erkennbare Gottestransparenz verkündet. Doch der Ruhm wäre unvollkommen, wenn die Schilderung der herrlichen Ordnung nicht in der herrscherlichen Verfügung Gottes über sie gipfelte. Diesen Schritt vollzieht der dritte Teil, der den Herrn der Ordnung in seinem souveränen Handeln als Herrn über Tod und Leben preist. Der einzige, der die Existenz von Kosmos und Kreatur negieren und „rekreieren" darf, ist Gott selbst. Die Abhängigkeit der Kreatur und vor allem des Menschen von ihm auf Gedeih und Verderb ist keine Beeinträchtigung der Geborgenheit und bedingt keine Dämpfung des Gotteslobes, sondern führt zu seiner vertrauensvollen Bekräftigung. Dem Gott, in dessen souveränem Handeln der „Lebenswille" dominiert (V. 30), gebührt der Preis des Beters ein Leben lang (V. 33). Zu ihm hat er ein eigentümliches Vertrauensverhältnis, welches ihn, den großen Weltordner und Herrn über Tod und Leben, als „Jahwe, mein Gott," (V. 1 aß. 33) anrufen läßt. In die Erstfassung des Psalms sind Theophanie-, Schöpfungs-, weisheitliche Ordnungs- und Echnaton-Tradition eingeflossen, ohne daß eine der theologischen Vorgaben das Profil des Textes bestimmen würde. Nicht zu Unrecht ist geurteilt worden, die Vorstellung vom himmlischen König stehe hinter dem ganzen Psalm 62 . Jahwes Investitur in Herrlichkeit und Licht (V. 1 b. 2 a), sein himmlischer Palastbau (V. 2 b. 3aa), seine himmlische Siegesfahrt (V. 3aßb), die Naturgewalten als Hofstaat (V. 4), aber auch das souveräne Ordnen und Verfügen über Kosmos und Kreatur drängen die Königsvorstellung geradezu die mit ihm parallelisierte Erneuerung der Erde, die auch keine Schöpfung im Sinne des Gründungsaktes ist (s.u. S.75 A.4). Meint man aber trotz dieser Hinweise, dem Konstitutionsaspekt der Schöpfung einen gewissen Stellenwert zubilligen zu müssen, dann ist die Verwandtschaft mit der jahwistischen Version in Gen 2,7 größer als mit der priesterschriftlichen, obwohl auch hier die Differenzen auf der Hand liegen. Die beiden ältesten Belege für una dürften Ps 89,13 (zur Bestimmung der hymnischen Vorlage vgl. Veijola, Verheißung S. 12.35 f.) und 104,30 sein. 62 Vgl. Kraus, S. 881. 887.

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auf. Um so ernster ist es zu nehmen, daß die Königsprädikation explizit nicht erfolgt. Hier macht sich wohl noch einmal in schon bekannter zurückhaltender, aber theologisch hochreflektierter und entschlossener Manier die Distanzierung des Verfassers von der Echnaton-Tradition bemerkbar, in der der ägyptische König exklusiv die Verkörperung des Sonnengottes in seinem persönlichen Aspekt gegenüber den Menschen ist63. Im Kern der Königsvorstellung der Echnaton-Tradition lag für den Psalmdichter eine bedrohliche, theologisch unerträgliche Indifferenz zwischen Gott und König, die er durch die Vermeidung der expliziten Königsprädikation wirksam ausgeschlossen hat. Der Umgang des Dichters mit der ihm wohl durch kanaanäische Vermittlung überkommenen fremden Tradition 64 läßt Rückschlüsse auf seine eigene Zeit und theologische Herkunft zu. Voraussetzung für die Übernahme der Echnaton-Tradition war eine Zeit kultureller Weltoffenheit und einer gewissen jahwistischen Weitherzigkeit, die keine Berührungsängste mit dem Gotteslob fremder Religionen hatte. Man wird diese Epoche am ehesten in der vorexilischen Königszeit vor der geschichtlichen Stunde der deuteronomischen Bewegung im 7.Jahrhundert zu suchen haben. Damit würde auch der zu erschließende theologische Ort des Verfassers übereinstimmen. Er weiß unterschiedliche theologische Traditionen zu verarbeiten, ohne in epigonale Kompilationstätigkeit abzusinken. Er vermag den spielerisch-gottseligen Ton 63 Vgl. Assmann, Saec. 23 S. 123. „Dies ist genau das Thema der Gottesdarstellungen, die immer Strahlensonne, Opfer und König umfassen, und diese Konstellation ist es, der sich die Devotion des Einzelnen zuwenden soll. In Amarna ist der König der Gott, der in Prozessionen auszieht und der jubelnden Menge erscheint, der die Bitten erhört, die Frommen belohnt, die Ungläubigen bestraft und sogar für das Leben nach dem Tode zuständig ist" (ebd.). Die Exklusivität des Verhältnisses von Sonnengott und seinem königlichen Sohn bestimmt eindrücklich das Ende des großen Echnaton-Hymnus (vgl. Sandman, Akhenaten S.95, 14ff. = Assmann, ÄHG Nr.92, 120ff.). 64 Die Hymnen der Echnaton-Tradition sind vielfach übersetzt worden. Außer der ständig zitierten Ubersetzung von Assmann sei noch auf die von Lichtheim, AEL II S. 89 ff. verwiesen. Zur kanaanäischen, wahrscheinlich phönizischen Vermittlung der Echnaton-Tradition an die Psalmdichtung vgl. Nagel, FS Bertholet S. 395 ff. Eine gute Problemskizze zur Abhängigkeitsfrage findet sich bei Barucq, Louange S. 315 ff. mit abschließendem vorsichtigem Plädoyer für direkten ägyptischen Einfluß. Leuchtet auch die Berechtigung der Anfragen ein, ist die Vermittlungshypothese (vgl. ebd. S. 320 f.) dennoch der Annahme direkten Einflusses vorzuziehen, da die Amarna-Texte in der Ramessidenzeit trotz der indirekt geführten theologischen Auseinandersetzung der damnatio memoriae verfallen sind (vgl. Assmann, Saec. 23 S. 125), ihre außerägyptische Uberlieferung also am ehesten aus der Amarna-Zeit selbst herrührt. Die von Barucq genannten ägyptischen Hymnen aus älterer Zeit (der große Hymnus an Amun, Pap. Boulaq 17, und der sog. Nilhymnus, Pap. Sallier II, u. a., Übersetzung: Barucq/Daumas, HPEA S. 191 ff. 493 ff.) gehören in die weit zurückreichende Vorgeschichte der Amarna-Theologie (vgl. Wolf, ZÄS 59 S. 109 ff.), nicht in den Kreis mittelbarer Vorlagen für Ps 104.

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der Echnaton-Tradition passagenweise zu übernehmen, ohne je das strikte Gegenüber von Gott und Kreatur aus dem Auge zu verlieren. Dabei formuliert er seine eigene theologische Position nicht im lautstarken Protest gegen seine Vorlage, sondern durch behutsame, genau durchdachte Wortwahl, die potentielle theologische Mißverständnisse zu vermeiden trachtet. Deshalb wird das noch näher zu erläuternde tempeltheologische Denken, das im Psalm überall durchscheint und den Verfasser offensichtlich am meisten bestimmt, nicht in allen Konsequenzen realisiert. Gott baut zwar einen himmlischen Tempelpalast, aber er residiert dort nicht wie sonst üblich als König. Gott ist zwar in Herrlichkeit und Licht gehüllt, aber er gibt dem irdischen König und der Welt nicht wie sonst üblich Anteil an seiner Sphäre. Selbst in V. 24 b, wo der Leser gewohnheitsmäßig im Sinne des alten tempeltheologischen Satzes fortzufahren geneigt ist, daß die Fülle der Erde Gottes Herrlichkeit sei65, ist das traditionelle Diktum abgewandelt, um selbst den Anschein der Indifferenz von Schöpfer und Schöpfung vom Psalm fernzuhalten 66 . Ein Psalmdichter mit solcher Kenntnis israelitischer und außerisraelitischer Tradition, mit solcher theologischen Reflexionskultur und poetischen Kraft ist kaum an einem anderen Ort als dem Jerusalemer Tempel zu vermuten. Es ist schwerlich neben dem vorexilischen Tempel ein weiterer Ort zu benennen, der in ähnlicher Weise theologische Traditionen unterschiedlichster Provenienz zu theologischem Studium, poetischer Verdichtung und gottesdienstlichem Gebrauch bereithielt und zugleich über eine gebildete Priesterschaft verfügte, die von dem disponiblen Schatz produktiven Gebrauch machen konnte 67 . Der Eindruck, daß Ps 104 ein Schöpfungspsalm ist, geht im wesentlichen auf die umfängliche Bearbeitung zurück (V. 5-7. [8.] 9. 12f. 19. 24 aß. 25 f. 29 b. 31 f. 34. 35 a). Dem verantwortlichen Redaktor schien der Aspekt des konstituierenden Schöpfungshandelns gegenüber dem konservierend-providentiellen zu kurz gekommen zu sein. Fast alle Nachträge erklären sich aus seinem Interesse an der prima creatio, die ihm aus seinen Quellen von Gen 1 bis Hi 40 als wichtiges Theologoumenon bekannt und dementsprechend ergänzt worden ist. So fehlen nun nicht länger Gründung der Erde und Bändigung der Chaoswasser, Erschaffung der Gestirne und des Leviathan und vieles andere mehr. Der Redaktor nimmt das Wunderbare der Schöpfung stärker im My" S.u. S.224. 66 Beachte auch die Vermeidung des Terminus π κ „Licht" in V. 22 im Blick auf V. 2 a, s.o. S.27f. 39A.47. 67 Als zusätzliches Argument für die vorexilische Datierung darf man vielleicht die nur wenig abgewandelte Zitierung von Ps 104,27f. in 145,15f. werten. Nur angesehene, d.h. durch Alter und Gebrauch bewährte Texte sind in der Regel zitabel.

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thologischen wahr als die Vorlage, wobei der Ton weniger spielerisch ist, als es die Präsentation des Leviathan vermuten lassen könnte. Bezeichnenderweise gehört zu den abschließenden Nachträgen der Wunsch um Gottwohlgefälligkeit des Denkens und Redens und scheint die Gottesfreude eng mit der ersehnten Vernichtung der Frevler zusammenzuhängen, deren Existenz samt ihrem Tun dem Ergänzer offensichtlich großen Anstoß bereitet. Vielleicht vermag er auch deshalb Gottes heilsame Zuwendung weniger im Gegenwärtigen als in der Vergegenwärtigung des Anfänglichen zu entdecken. Daß Priesterschrift und späte Weisheitsliteratur für ihn bereits zitable Schriften sind, zeigt die beachtliche zeitliche Distanz der Redaktion zur Vorlage an. Erst in fortgeschrittener nachexilischer Zeit ist die Rühmung des Schöpfungsbestandes in Ps 104 um das protologische Schöpfungshandeln als ergänzungsbedürftig empfunden worden. Dieses Ergebnis ist für die die Untersuchung leitende Frage nach den Anfängen der Psalmtheologie wichtig. Ps 104 ist nur in seiner späten Endfassung ein Schöpfungspsalm im Sinne der prima creatio zu nennen. Hingegen ist er in seiner Grundfassung ein Psalm über Gottes gute Ordnung für Kosmos und Kreatur, menschlicher Erkenntnis bis in die versteckten Winkel der Welt hinein zugänglich, dem Menschen auch und gerade darin freundlich zugewandt, daß Gott sich als der souveräne Herr seiner Ordnung erweist. Ps 104 im Grundbestand ist ein „Schöpfungspsalm" im Sinne der conservatio und gubernatio der Schöpfung, zwar vertraut mit dem Gedanken der konstituierenden Schöpfungstat (vgl. V. 2 b), ohne aber davon entschieden Gebrauch zu machen und damit theologisch Zentrales zu sagen 68 . Hätte es Gen 1 schon zur Zeit des Dichters der ursprünglichen Fassung von Ps 104 gegeben, wäre das für ihn - wie aus dem Umgang mit dem großen Echnaton-Hymnus erhellt - ohne Relevanz gewesen. Hier walten andere theologische Intentionen, die im Weltbestand Gottes Herrlichkeit suchen und finden und auf das Woher ihrer Präsenz in der Welt Antwort geben wollen. Die an Ps 104 gewonnenen Einsichten schreiben den weiteren Gang der Untersuchung geradezu vor. Es muß überprüft werden, welcher Art, gegebenenfalls in welcher Schicht und mit welchem theologischen Gewicht Schöpfungsaussagen in anderen Schöpfungspsalmen gemacht werden. Das soll zunächst in Ps 148 untersucht werden.

" Hermisson, FS Terrien S. 50 f., formuliert im Z u s a m m e n h a n g mit Ps 104 einen ähnlichen Gedanken, o h n e den Konstitutions- vom Bewahrungsaspekt abzuheben. Er spricht v o m „ever present evidence of the creative power, the creatio continua (or rather, continuata) through w h i c h the world has to b e c o m e the w o r l d again and again . . ( v g l . auch S. 54).

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

2. Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148 1 aa

Halleluja!

ι aß lb

Lobt Jahwe vom Himmel her, Lobt ihn aus der Höh'!

2a 2b

Lobt ihn, alle seine Boten, lobt ihn, alle seine „Heere" 1 !

3a 3b

Lobt ihn, Sonne und Mond, lobt ihn, alle ihr leuchtenden Sterne!

4a 4b

Lobt ihn, Himmel der Himmel, und ihr Wasser, die ihr über den Himmeln seid!

5a 5b

Sie sollen den Namen Jahwes loben, denn er befahl, da wurden sie geschaffen.

6a 6b

Er ließ sie bestehen für immer (und) ewig, gab ein Gesetz, daß „sie" (es) nicht „überträten" 2 .

7a 7b

Lobt Jahwe von der Erde her, ihr Urdrachen und Urfluten alle!

8 aa 8aß

Feuer und Hagel, Schnee und Rauch!

8ba 8bß

Stürmischer Wind, du Vollstrecker seines Wortes!

9a 9b

Ihr Berge und Hügel alle, ihr Fruchtbäume und Zedern alle!

10a lob

Wild und alles Vieh, Gewürm und gefiederte Vögel!

iia üb

Ihr Könige der Erde und Völker alle, ihr Fürsten und Herrscher der Erde alle!

1

Der durch das Qere und die Versionen bezeugte Plural wird wegen der Parallelität zu V. 2 a und wegen Ps 103,20 f. die ursprüngliche Lesart sein. Der Fehler kann leicht durch Haplographie zustande gekommen sein. 2 Das pluralische Suffix in V. 6 a läßt auch am Schluß des Verses eine pluralische Verbalform erwarten, beides bezogen auf B'S „Wasser" in V. 4. Die wahrscheinlich ursprüngliche Verbalform ist unschwer durch Metathese der beiden letzten, leicht verwechselbaren Buchstaben wiederherzustellen, womit zugleich der Uberlieferungsfehler erklärt ist (vgl. Buhl S. 884); breite Diskussion des Problems bei Petersen (Mythos S.258ff.) mit abweichendem Resultat, wie es bereits bei Ewald (1/2 S.528) nachzulesen ist. Der merkwürdige asyndetische Ausdruck oViyi" ny1? „für immer (und) ewig" in V. 6 a ist gegenüber dem sehr geläufigen "ryi DViy(i>) nur noch in Ps 111,8 belegt.

2. Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148 12 a 12b

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Ihr Jünglinge und Jungfrauen allzumal, ihr Greise samt Knaben!

13 aa Loben sollen sie den Namen Jahwes, 13aß denn hoch ist sein N a m e allein! 13b I4aa

Seine Hoheit ist über Erde und Himmel, er hat seinem Volk das Horn erhöht.

14 aß Η BA

Ein Lobpreis für alle seine Frommen, für die Israeliten, das Volk, das ihm nahe ist.

i4bß

Halleluja!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.335)

Ps 148 ist ein Hymnus, der über den Lobaufruf nicht hinauskommt. Imperativ und Jussiv der Wurzel Wn „loben" bestimmen den Psalm vom Anfang bis zum Ende: keine hymnischen Partizipien als beschreibendes Lob, keine Jahwetaten als berichtendes Lob, nur ein Heer von Adressaten im Himmel und auf Erden, die zur Beteiligung am Gotteslob aufgefordert werden 3 . Hat sich der Psalmsänger mit diesem hymnischen Introitus derart verausgabt, daß für das eigentliche Korpus des Psalms, etwa das Jahwehandeln in Schöpfung und Geschichte, die dichterische Kraft nicht mehr ausreichte? Ist also der Imperativische Hymnus unvollständig 4 ? 3 Die Frage nach der Herkunft der Aufzählung ist durch von Rad mit dem Hinweis auf ähnliche Reihungen in ägyptischen Onomastika zu beantworten versucht worden (vgl. Hiob 38 S. 262 ff., v. a. S.265f.). Daran hat Hillers wegen des geringen Grades an Ubereinstimmung mit einigem Recht Kritik geübt (vgl. CBQ 40 S. 329 ff.), ohne mit seinem Hinweis auf eine entsprechende hymnische Tradition eine einsichtigere Erklärung geliefert zu haben (vgl. ebd. S. 334). Man wird die ägyptischen Onomastika nach wie vor für eine der entfernteren, kanaanäisch vermittelten traditionsgeschichtlichen Vorgaben halten müssen. In die nächste Verwandtschaft von Ps 148 gehören indessen die Lobaufforderungen in Ps96,7f. 11 f. (98,7f.) und als partielles Vorbild davon 29,1 f. Damit wird zugleich deutlich, daß die Aufzählung nicht aus schöpfungstheologischer, sondern tempeltheologischer Jahwe-König-Tradition kommt. 4 Die Bezeichnung „imperativischer Hymnus" ist hier nicht im Sinne eines Gattungsbegriffes, sondern nur zur Charakterisierung von Ps 148 gebraucht. Die von Westermann (Lob S. 98 f.) mit Ps 148 unter dem Titel „Imperativ-Psalmen" zusammengestellten Texte kommen nur darin überein, daß sie „eine Weiterbildung der einfachen Form" des beschreibenden Lobpsalms ( = Hymnus) sind (ebd. S. 98), ohne ihrerseits unter inhaltlichem und formalem Betracht einer erkennbaren neuen Gattung anzugehören. Ebenso unwahrscheinlich ist die Existenz der Form des „Imperativischen Hymnus", wie Crüsemann sie charakterisiert hat (Studien S. 19 ff.). Seiner Meinung nach gibt es die „prägnante Form in ihrer typischen Kürze" (ebd. S. 41) im Psalter nur in Ps 117. Es drängt sich die Frage auf, ob Crüsemann hier nicht ein sekundär verselbständigtes Gattungselement (Aufruf) künstlich zu einer ursprünglich selbständigen Gattung hochstili-

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

Man könnte gegen diese Fragen schnell einwenden, daß der Psalm wenn auch auf schmaler Basis - die Erwähnung von Jahwes Schöpfungs- und Geschichtshandeln in V. 5 und 14 nicht ganz vermissen lasse. Gerade bei diesen Passagen des Psalms besteht jedoch der Verdacht literarischer Nacharbeit, so daß ihr Stellenwert wie auch die ursprüngliche Fassung des Psalms erst durch eine genaue Analyse geklärt werden müssen. Als erste Einheit des Hymnus geben sich V. 1-3 zu erkennen 5 . Durch die alle sechs Kola einleitenden Imperative von V^n „loben" wirkt sie formal geschlossen und erweist sich auch inhaltlich als sorgfältig komponiert. Gäbe es tatsächlich die Gattung des Imperativischen Hymnus, könnte man sich über Mangel an Lobaufforderung und eindeutiger Nennung des Adressaten nicht beklagen. Hingegen fehlt in V. 1-3 ganz die angeblich obligatorische Begründung der Lobaufforderung durch eine Jahwetat. Wo sie erfolgen sollte, ist in V. 1 überraschend der Ausgangspunkt des Gotteslobes „vom Himmel her, aus der Höhe" genannt und in V. 2 f. noch einmal überraschend die Gruppe der zum Gotteslob Aufgeforderten: (Himmels-)Boten, (Himmels-)Heer und Gestirne, kurz: der himmlische Hofstaat des Gottkönigs Jahwe 6 . V. 4-6 scheinen zunächst die in V. 1-3 begonnene Lobaufforderung fortzusetzen und dann sogar in V. 5 b. 6 die erwartete Begründung zu enthalten. Doch sprechen triftige Gründe dagegen, daß V. 4-6 bereits zur ursprünglichen Fassung des Psalms gehört haben. In V. 7 ff. wird nämlich die Lobaufforderung genau wie in V. 1-3 fortgesetzt, anscheinend unbekümmert darum, daß die dispositionelle und thematische Weiterführung des Psalms in V. 4-6 die erneute Lobaufforderung deplaciert erscheinen läßt. In dem Abschnitt selbst ist der gegenüber V. 1-3 sporadische Gebrauch der Lobaufforderung auffällig: In V. 4 a erfolgt sie noch unter dem Einfluß des vorangehenden Textes, wenn auch von diesem schon durch den merkwürdigen Adressaten unterschieden. Denn den „Himmel der Himmel" würde man in dieser Funktion gar nicht erwarten 7 , nachdem der Himmel in V. 1 aß als Ortsbesiert hat. Die alttestamentliche Belegsituation ist seiner These jedenfalls nicht günstig (zu Ps 148 vgl. ebd. S.72). 5 V. 1 a a gehört selbstverständlich nicht dazu. Zusammen mit V. 14 bß bildet er die letzte editorische Rahmung des Pslams. 6 T r o t z mancher Unterschiede sind als nächste Parallelen Ps 29,1 f. und vor allem 103,19-21 zu nennen. 7 Die Formulierung selbst ist selten und nirgendwo so unglücklich gebraucht wie hier. Sie kommt an allen anderen Stellen als Ausdruck der Steigerung in der Kombination t r n s n ' b b ( i ) D ' n ® ( n ) „die Himmel (und) der Himmel der Himmel" vor (Dtn 10,14; l K ö n 8,27 « 2Chr 2,5 ® 6,18; N e h 9 , 6 ) . Daß der direkte Zusammenhang in Ps 148 fehlt (vgl. V. 1 und 4), ist kaum anders als durch das notwendige Arrangement mit literarischen Vorgegebenheiten zu erklären.

2. D e r L o b a u f r u f an K o s m o s und Kreatur: Ps 148

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Stimmung für die zum Gotteslob Eingeladenen gedient hat. Und die Lobaufforderung in V. 5 a „sie sollen den Namen Jahwes loben" fällt erst recht durch Erweiterung (Dt? „Name") und jussivische Verbalformen aus dem Rahmen - im Unterschied zu dem Formulierungsvorbild V. 13, wo die Variation begründet ist. In V. 4-6 deutet die Auflösung des zu Psalmbeginn intonierten Imperativischen Stils auf eine Spannung hin, in die der Verfasser dieser Zeilen offensichtlich geraten ist. Er möchte die Imperativische Form wahren und vermag es doch nicht, weil er von Gottes anfänglichem Schöpfungshandeln reden möchte, welches keine appellierende, sondern konstatierende Diktion verlangt, wie sie dann auch - nach vorhergehenden Ansätzen - V. 6 ganz beherrscht. Der Verfasser möchte den umfassenden Lobaufruf mit Gottes Tun als Schöpfer, das ihm aus vielen Quellen bekannt und wichtig ist, begründen, wobei Gen 1 besondere Achtung genießt. Denn der priesterschriftliche Schöpfungsbericht ist es, der die Wahl des Schöpfungsobjektes bestimmt hat. In ihm gehören zur Erschaffung der Himmelssphäre das Firmament = der Himmel als Scheide zwischen Himmelsozean und irdischen Wassern und die Gestirne (vgl. Gen 1,6-8.14-19). Nun konnte aber Gottes Schöpfungshandeln in Psalm 148 nicht mehr an Himmel und Gestirnen exemplifiziert werden, da beide bereits in der Lobaufforderung als existent vorausgesetzt sind (vgl. Ps 148,1.3). Deshalb greift der Dichter auf die Entstehung des Himmelsozeans zurück, von dem in Gen 1 eher beiläufig bei der Erschaffung des Firmamentes die Rede ist, aber den Vorzug hatte, im Psalm noch nicht in irgendeiner Weise erwähnt worden zu sein. Haben demnach für die Wahl des Schöpfungsobjektes der Kanon der Schöpfungswerke von Gen 1 und die Vorgegebenheiten in Ps 148 den Ausschlag gegeben, greift der Verfasser für die sprachliche Gestaltung darüber hinaus auf Schöpfungstraditionen der Psalmen und Weisheit zurück, ohne Rücksicht darauf, daß das Verbot der Grenzüberschreitung in seinen Vorlagen sich nie auf den Himmelsozean, sondern immer und auch sinnvoller auf die irdischen Wasser bezieht 8 . 8 An f o l g e n d e T r a d i t i o n e n und T e x t e hat sich der V e r f a s s e r von V. 4 b - 6 angelehnt: V . 4 b entstammt abgesehen von kontextbedingten Ä n d e r u n g e n dem priesterschriftlichen S c h ö p f u n g s b e r i c h t ( G e n 1,7 a γ δ), w o h e r auch der S c h ö p f u n g s t e r m i n u s tnn „ s c h a f f e n " entlehnt sein wird. E r wird j e d o c h in V . 5 b. 6 a mit einem freien Zitat aus Ps 33,9 k o m b i niert, welches als geeignet betrachtet wurde und wohl auch in Ps 33 selbst d a z u bestimmt war, die priesterschriftliche W o r t - S c h ö p f u n g s - T h e o l o g i e prägnant auf den Begriff zu bringen.

Indessen verdient an beiden Stellen nicht allein der R ü c k b e z u g auf G e n 1 Beachtung, sondern auch die Interpretation von G e n 1, die - bewußt oder unbewußt - mitgeliefert wird. Sie ist nämlich psalmtheologisch, insofern Folge des S c h ö p f u n g s a k t e s der (ewige)

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J a h w e , d e r S c h ö p f e r und E r h a l t e r

Nimmt man alle in V. 4 - 6 gemachten Beobachtungen zusammen: die Unterbrechung des sorgfältig konzipierten Zusammenhanges von V. 1-3 und 7 ff., den Mangel an formaler Geschlossenheit im Abschnitt selbst, die kompilatorische Abhängigkeit von autoritativen Traditionen und deren Selektion nach den eigenen Absichten und den Zwängen der Textvorgabe, dann ist der Schluß unausweichlich, daß die Verse Resultat einer Fortschreibung sind, die das „Legitimationsdefizit" für die Lobaufforderung in V. 1-3 und wohl auch in V. 7 ff. beheben soll. Das geschieht im Rückgriff auf die prima creatio, die einen ungewohnten Ton in den Psalm hineinbringt, da er die längst vorhandenen Schöpfungswerke zum Gotteslob vereinigen will, die anfängliche Schöpfungstat also stillschweigend voraussetzt. Damit fällt für seine ursprüngliche Fassung an dieser Stelle die Begründung der Lobaufforderung weg, so daß die Frage, ob der Grundentwurf überhaupt eine Begründung enthalten habe, im weiteren Verlauf des Psalms aufmerksam beachtet werden muß. In Korrespondenz zu V. 1 aß wird in V. 7 a die Erde als weiterer Bereich genannt, aus dem das Gotteslob erschallen soll9. Der damit eröffnete zweite Teil setzt stilistisch andere Akzente. Nicht die ständige Wiederholung der Lobaufforderung ist tonangebend, sondern die Polyphonie des aus Kosmos und Kreatur gewonnenen Chores. Läßt man den zweiten Teil mit V. 10 enden 10 , enthält er dreimal soviel StimB e s t a n d ist - kein mit G e n 1 unvereinbarer, a b e r eben auch kein aus G e n 1 g e w o n n e n e r G e d a n k e ("ray qal und hi. „bestehen ( l a s s e n ) " , iy und oiny „ E w i g k e i t " sind in G e n 1 n i c h t b e l e g t u n d auch n i c h t im g e d a n k l i c h e n H o r i z o n t des B e r i c h t e s impliziert). D i e F o r m u l i e r u n g in V . 6 b ist schließlich in den T r a d i t i o n s b e r e i c h von J e r 5 , 2 2 ; Ps 1 0 4 , 9 ; P r o v 8 , 2 9 zu stellen, o h n e d a ß sich eine b e s t i m m t e literarische A b h ä n g i g k e i t wahrscheinlich m a c h e n ließe. H a t man die literarhistorische S c h i c h t u n g des T e x t e s nicht im Blick, ist man zu e x e g e t i schen V e r l e g e n h e i t s l ö s u n g e n g e z w u n g e n (vgl. Albertz, W e l t s c h ö p f u n g S . 9 5 ) . M a n m u ß eine s p r u n g h a f t e G e d a n k e n f ü h r u n g a n n e h m e n , in d e r V . 5 b. 6 a allgemein auf die W e l t s c h ö p f u n g b e z o g e n sind, V . 6 b h i n g e g e n speziell a u f das E i n g r e n z e n des H i m m e l s w a s sers. U n d f ü r die f o r m - und t r a d i t i o n s g e s c h i c h t l i c h e Z u o r d n u n g von W e l t - u n d M e n s c h e n s c h ö p f u n g ist P s 148 o h n e h i n untauglich (gegen ebd. S . 9 5 f.), denn der T e x t d o k u m e n t i e r t allenfalls die späte traditionsgeschichtliche A d a p t i o n d e r prima c r e a t i o s c h l e c h t hin. 9 V o s b e r g , S t u d i e n S. 110: „ M i t ,vom H i m m e l her' und ,νοη d e r E r d e her' wird die G o t t e s b e z e i c h n u n g , G o t t des H i m m e l s und der E r d e ' o d e r die ,der S c h ö p f e r des H i m m e l s und d e r E r d e ' a u f g e n o m m e n . " D a s ist f ü r die G r u n d f a s s u n g des Psalms, die keine s c h ö p f u n g s t h e o l o g i s c h e n I m p l i k a t i o n e n e r k e n n e n läßt, s o gut wie auszuschließen. 1 0 Z w a r scheint der U b e r g a n g von V . 10 zu 11 fließend zu sein, d o c h sprechen w i c h t i g e G r ü n d e dagegen, V . 7 - 1 3 a als einheitlichen T e i l a n z u s e h e n . G e g e n ü b e r V . 1 - 3 w ä r e er unverhältnismäßig ü b e r d e h n t u n d enthielte in der S t ä n d e a u f z ä h l u n g V . 11 f. auch ein deutlich anderes G e p r ä g e als in V . 7 - 1 0 . A u ß e r d e m ist es unwahrscheinlich, d a ß d e r V . 7 einleitende Imperativ und der in d e r a b s c h l i e ß e n d e n Z e i l e V . 13 a stehende Jussiv v o n „ l o b e n " unterschiedslos f ü r alles davon U m s c h l o s s e n e gelten sollten. V i e l m e h r sind

2. Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148

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men(gruppen) wie sein himmlischer Gegenpart. Interessant ist die Anordnung des Chores, weil sie nicht dem Kosmos und der Kreatur innewohnenden Gegebenheiten entspringt, sondern allein den Kriterien Gottes. Die aber haben ihre eigene Wertskala, nach der obenan steht, was durch Botmäßigkeit die Größe von Gottes Herrschermacht zu illustrieren geeignet ist. Deshalb wird die Reihe bewußt durch mythische Wesen und Mächte angeführt (θ'3'3ίΐ „Urdrachen" und rinnn „Urfluten") 11 , denen verschiedene Naturgewalten folgen 1 2 . Im Zentrum des zweiten Teiles (V. 8 b) und damit des ganzen Psalms wird durch das Epitheton des Sturmwindes n r npy „Täter, Vollstrecker seines Wortes" das ausschlaggebende Kriterium für die Aufnahme in den Chor explizit genannt. Nicht nur der Sturmwind, sondern alle „Chormitglieder" sind letztlich „Täter seines Wortes". Sie sind es, indem sie loben. D a vereinigen sich mit den mythischen und elementaren Mächten die ebenfalls stimmbegabten Berge, Bäume und Tiere zu einem großen Hymnus, der - wie man sicherlich zu Recht in Anlehnung an Ps 19,2 sagen darf - den Vk 1133 „Gottes Ehre" besingt. Wird auch formal die Aufzählung in V. 11 f. ohne Zäsur fortgeführt, so ist doch inhaltlich der Neueinsatz unübersehbar. Als letzte, in einer Ständeübersicht reich differenzierte Gruppe treten die Menschen zu Gottes Chor hinzu. Hoch und niedrig, Könige und Knaben - ein jeder findet hier seinen Platz. M a g es zunächst auch befremden, daß zu Beginn des Lobaufrufes an die Menschen in V. 11 kein Imperativ steht, so ist die vermißte Form doch schnell in dem Jussiv von i>Vn „loben" in V. 13 a zu entdecken. Im dritten Teil ist die Nachstellung der Lobaufforderung nach der Aufzählung doch wohl ebenso beabsichtigt wie die Erweiterung des Adressaten Jahwe um seinen Namen. Was mag die beiden Änderungen veranlaßt haben? V. 11-13 a als dritter und letzter Teil des Psalms zu bewerten, dessen angemessene Interpretation allererst das Gesamtverständnis des Psalms erschließt (bei den meisten Kommentatoren zweistrophige Gliederung ohne literarkritische Distinktionen; eine im Ansatz vergleichbare dreistrophige Gliederung bei H.Schmidt S.255; Weiser S.579f.; D a h o o d III S. 352). 11 Zu D'j'n und mann vgl. Gese, R M 10/2 S.60f.; Westermann, T H A T II Sp. 1026 ff.; Norin, Meer S. 58 ff. 70 f.; Petersen, Mythos S. 133 f. Es ist zu bezweifeln, daß ηιηππ Va hier „neutral" nur „alle Fluten" meinen und des mythischen Hintergrundes entbehren (so Westermann, T H A T II Sp. 1029f.). D'l'jn und mann sind in Ps 148 ebensowenig unmythisch wie der in V. 2 genannte himmlische Hofstaat und überhaupt die Vorstellung von lobsingenden Bergen, Bäumen und Tieren. Dieser Psalm hat wie viele andere keine Scheu vor Mythologoumena, wenn sie der Vorführung von Gottes Herrschermacht (nicht eigentlich dem Lob des Schöpfers, ebd. Sp. 1031) zu dienen geeignet sind. Die Einholung von mnn und o'j'jn in eine entmythologisierende Schöpfungstheologie ist in Gen 1,2. 21 nachzulesen, nicht in Ps 148. 12 In V. 8 a ist eine chiastische Zuordnung der Naturgewalten erkennbar, eine solche im tertium comparationis der Größe vielleicht auch in V. 9.

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

Die Nachstellung des Lobaufrufes (und der dadurch bedingte Wechsel vom Imperativ zum Jussiv von V^ri „loben") ist aus dem leicht ersichtlichen Grunde geschehen, den Psalm so enden zu lassen, wie er begonnen hat. Die Anstiftung zum Lob ist das erste und (fast) das letzte, was dieser Psalm - ja Psalmtheologie überhaupt - leisten will. Indessen kommt man der Namens-Erweiterung nur auf die Spur, wenn man die Begründung in V. 13 aß berücksichtigt. Der Psalmdichter hat nicht einfach mit der Lobaufforderung schließen wollen, sondern dieser als Klimax des Ganzen die lang erwartete Begründung beigefügt: „... denn hoch ist sein Name allein". Der Begründung ist der vorhergehende Lobaufruf angepaßt worden, wobei das Lob des Jahwenamens nicht einmal in einer Nuance ein anderes ist als das Jahwes selbst. Der Name als die Gabe, die dem Gotteslob Inhalt und Ziel gibt, teilt mit Jahwe die Eigenschaft des „Hochseins", die offensichtlich als zureichende Begründung der umfassenden Lobaufforderung angesehen wird. Ein Blick auf das Belegspektrum von njp macht schnell deutlich, daß das „Hochsein" Jahwes kein blasses, allfälliges Theologoumenon ist, sondern präziser Ausdruck dafür, was eine bestimmte Form von Psalmtheologie in ihrem Zentrum sein und sagen will. Die Gotteseigenschaft des „Hochseins" (3J1P ni.), seiner absoluten, nicht via eminentiae erschließbaren Erhabenheit („denn hoch ist sein Name alleinl" V. 13aß), verharrt nicht in der Jahwesphäre, sondern wird via emanationis zur Gottestat an dem Menschen, zur rettenden und bergenden Zuwendung Jahwes zu den Schutzbedürftigen (us? pi.)13. Seine Grenzüberschreitung, die die Selbstspiegelung in der Erhabenheit seines Namens zur fürsorglichen Anteilgabe für den bedürftigen Menschen werden läßt, ist ungeschuldet und für Kosmos und Kreatur lebensnotwendig zugleich, so daß die „Begabten" nicht anders können, als den Empfang der Gabe im Gotteslob zu bestätigen. So ruht die umfassende Lobaufforderung in Ps 148 allein auf dem kleinen Begründungssatz V. 13 aß, der keiner weiteren Explikation bedarf, weil er in dem Wort vom „Hochsein" (des

13 Jahwe bzw. sein Name als Subjekt von ni® ni. „hoch, erhaben sein": Jes 2,11. 17; 12,4; 33,5; Ps 148,13; vgl. Hi 36,22 (hi.). Interessant ist der Beleg Prov 18,10f. Die Aussage vom „Hochsein" des Namens wird hier im Bild verdeutlicht, wobei das Nifal von 3JB passivisch das sagt, was sonst dem Piel vorbehalten ist: Rettung und Schutz. Noch dichter ist die inhaltliche Verklammerung kaum auszudrücken. V. 11 formuliert das negative Pendant zu V. 10, das ebensogut (wenn nicht primär) psalmtheologischer Gedankensphäre angehört: Wo der Mensch das göttliche „Hochsein" sich selbst anmaßt, erliegt er einem abgründigen Selbstbetrug (vgl. ferner Jes 26,5; 30,13). Jahwe bzw. sein Name als Subjekt von ajp pi. „schützen, retten": Ps 20,2; 59,2; 69,30 (vgl. V. 31); 91,14; 107,41; vgl. Jes 9,10; Prov 29,25 (pu.). Erst recht spät scheinen Qal-Bildungen von 3J» aufgekommen zu sein (Dtn 2,36; Hi 5,11). Sie sind für den spezifischen theologischen Gebrauch der Wurzel unergiebig.

2. Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148

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Namens) Jahwes die Fülle des Wunders erklingen läßt, das Psalmtheologie in ihrem Kern bewegt. Im vorhergehenden Abschnitt ist stillschweigend vorausgesetzt worden, daß der Psalm ursprünglich mit V. 13 a geendet hat, V. 13 b. 14 also von einer Fortschreibung herrühren 14 . Diese Einschätzung ist für die betreffenden beiden Bikola indessen sehr einfach zu begründen. Der auffordernde und aufzählende Stil wird wiederum (vgl. V. 5 f.) zugunsten des konstatierenden verlassen, womit Aussagen verbunden sind, die sich mit dem bisherigen Inhalt kaum spannungsfrei vereinbaren lassen. Das gilt bereits f ü r V. 13 b, der die hymnisch-theologische Quintessenz des Psalms formulieren will, dies aber nur scheinbar adäquat tut. Wenn auch V. 13 b der Grundfassung des Psalms nicht widerspricht, so trifft er doch deren Intention überhaupt nicht. Keine Hoheit über Erde und Himmel, sondern das Gotteslob von Himmel und Erde her (beachte die Reihenfolge!) will der Dichter verkünden, welches allererst durch die Präsenz der Gottesherrlichkeit in Kosmos und Kreatur ermöglicht wird 15 . So ist als ungenannte theologische Voraussetzung allenfalls die Vorstellung von der Fülle der Gottesherrlichkeit im Himmel und auf Erden zu erschließen, um dann im vielstimmigen Lob zum hohen Namen emporz,uschallen und die Ausgangspunkte ganz hinter sich zu lassen. Noch unpassender ist die Nationalisierung des Psalms in V. 14aa 16 , die sich, um die religiöse Selbstqualifikation erweitert, in der Unterschrift V. 14 a ß b a fortsetzt 17 . In der Ständeaufzählung V. 11 f. wäre der geeignete O r t f ü r die Erwähnung des Volkes Israel gewesen, wenn die 14

Zu V. 14bß s.o. S.52 A.5. Die Reihenfolge „Erde und Himmel" ist ganz selten. Sie kommt noch einmal in Gen 2,4b vor, dort ebenso redaktionell wie hier (vgl. Smend, Entstehung S.40). Zum ganzen Nominalsatz V. 13b vgl. auch den wahrscheinlich sekundären Einschub Ps 8,2b (s.u. S. 229 f.); zum sinnvollen Gebrauch der Präposition Vy „über" in vergleichbarem Zusammenhang vgl. Ps 57,6.12; 113,4. " Die Wendung „das Horn erheben" bzw. „das Horn des Feindes zerschlagen" u.a. gehört zur genuinen Psalmensprache ( l S a m 2 , l ; P s 7 5 , 5 f . 11; 89,18; 92,11; 112,9; vgl. 2Sam22,3 = Ps 18,3). In exilisch-nachexilischen Dichtungen und in Fortschreibungen aus dieser Zeit wird sie gern mit national-kollektivierender Intention verwendet: lSam 2,10 (vgl. Becker, ThPh 52 S.571); Ps 89,25 (vgl. Veijola, Verheißung S. 137ff.); 132,17; T h r 2 , 3 . 17. In diesen Zusammenhang gehört auch Ps 148,14. 17 Die Theorie von MacKenzie, nach der V. 14aßba (bei ihm V. 14bc) als Überschrift von Ps 149 konzipiert, aber durch ein Versehen an den Schluß von Ps 148 gestellt worden sei (Bibl 51 S. 221 ff.), ist ganz unwahrscheinlich, da sie von einer unhaltbaren Vorstellung von der Konzeption von Psalmenüberschriften ausgeht (vgl. auch Hillers, CBQ 40 S. 328) und überhaupt ohne Not der einfachen Erklärung eine komplizierte vorzieht. Ps 148 und 149 sind von einem Redaktor natürlich wegen der Ähnlichkeit von 148,14aßba und 149,1 b hintereinandergestellt worden. 15

58

Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

Grundfassung den nationalen Aspekt hätte berücksichtigen wollen. Daß sie es dort nicht tut, zeigt, wie ausschließlich sie mit dem universalen Horizont des Gotteslobes befaßt ist, in den sich selbstverständlich auch Israel, ohne es eigens betonen zu müssen, gestellt weiß. Demgegenüber sind die Teilnahmebedingungen am Gotteslob in V. 14aßba auf eine national-religiöse Exklusivität aus, die bei einem späten, auf Abgrenzung bedachten Jahwismus verständlich, dem ursprünglichen Psalm aber ganz und gar fremd ist. Dieser strebt mit jeder Zeile nach Universalität, jener vermag sie nur noch bei der prima creatio (V. 4-6) und der Dominanz Israels angesichts der Völker (V. 14aa in bezug auf V. 11) zu ertragen. In Zeiten nationaler Ohnmacht sind die theologischen Themen Schöpfung und Israel zur Vergewisserung des (wieder erwünschten) Machterweises Jahwes gleichermaßen unverzichtbar und deshalb auch dort nachgetragen worden, wo die Vorlagen sie mit Absicht vermieden haben. Es versteht sich nunmehr von selbst, daß die Erweiterungen in V.4-6 und V. 13b. 14aba auf ein und dieselbe Hand zurückgehen. Nachdem die Fortschreibung des Psalms nach Umfang und Intention herausgearbeitet worden ist, muß abschließend noch einmal das theologische Profil der Grundfassung gewürdigt werden. Der anfangs geäußerte Eindruck, daß der Psalm eine einzige Lobaufforderung sei, hat sich bestätigt. Der dreiteilige Hymnus (I: V. 1 aß-3; II: V.7-10; III: V. 11-13 a) durchforscht Himmel, Erde und Königreiche nach Stimmen für das Gotteslob und findet sie bis in die mythischen Sphären der Welt hinein reichlich (vgl. V. 7 b mit Ps 104,20-22). Man gewinnt den Eindruck, der Dichter müsse seinen Lobaufruf immer seltener erschallen lassen (vgl. Teil I mit II und III), weil der Lobsänger so viele sind, daß ihre Aufzählung noch fortgesetzt werden könnte, wenn es ihm allein um die Vielzahl der Stimmen zu tun wäre. Er will jedoch auf einen anderen Höhepunkt hinaus, die abschließende theologische Begründung der umfassenden Lobaufforderung mit dem „Hochsein" (des Namens) Jahwes. Sie macht die theologische Erkenntnis geltend, daß derjenige, dessen Anteilgabe an seiner Sphäre existenzbegründend und dessen hilfreiche Nähe erfahrbar ist, gerade als Gegenüber, als nicht mit eigener Erfahrung und Wirklichkeit Identifizierbarer, kurz: als der allein Hohe gepriesen werden muß. Das Lob „Allein Gott in der H ö h ' sei Ehr" ist „Dank für seine Gnade". Die Erfahrung hilfreicher Gottespräsenz ist die Erfahrung seiner unverfügbaren Kondeszendenz aus der Höhe. Die sich hier andeutende Dialektik der Gotteserfahrung - der Hohe als der in der Tiefe Gegenwärtige - wird in anderen Psalmen noch deutlicher Gestalt gewinnen. Die Klärung der Entstehungszeit des Psalms muß von der relativen Datierung der Ergänzungsschicht ausgehen. Da der Redaktor offen-

2. Der Lobaufruf an Kosmos und Kreatur: Ps 148

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sichtlich Gen 1 vor Augen hat, gehört seine Nacharbeit in eine nicht näher bestimmbare Phase der nachexilischen Zeit18, weshalb für die Entstehung der Grundfassung theoretisch die Fülle der vorauslaufenden Jahrhunderte offenbleibt. Aufgrund der inhaltlichen Ausprägung wird man aber doch eine Eingrenzung für möglich halten dürfen. Die positiv rezipierten kanaanäischen Vorstellungen (himmlischer Hofstaat V. 2 f., Chaosmächte V. 7, der unpolemische Universalismus V. 11), die fehlenden nationalen Elemente und die die Begründung ermöglichende Tempeltheologie lassen eine Entstehung im Jerusalem der vordeuteronomischen Königszeit am plausibelsten erscheinen. Der Jerusalemer Tempel ist der Ort mit der längsten Geschichte fruchtbarer Synthese von kanaanäischer und israelitischer Tradition und deshalb wie kein anderer der Komposition solcher Dichtungen günstig gewesen 19 . Für die übergreifende Fragestellung hat die Analyse ergeben, daß Ps 148 in seiner Erstfassung keineswegs ein Schöpfungspsalm gewesen, er es allenfalls durch die Redaktion aus späterer Zeit geworden ist, die ganz eindeutig das Thema Genesis vermißt hat. Genau wie in Ps 104 geht der Grundentwurf zwar implizit von Gottes Schöpfung aus, ist aber lediglich an ihrer Existenz, nicht an ihrer Konstituierung interessiert. Mit dieser theologischen Orientierung verdankt sich der Psalm noch einmal mehr der keinen Schöpfungsmythos enthaltenden kanaanäischen Theologie, so daß die Vermutung immer mehr Evidenz gewinnt, Psalmtheologie in einer rekonstruierbaren Grundform sei wie ihr kanaanäisches Vorbild ohne Schöpfungstheologie ausgekommen. Doch ehe die Vermutung zur These erhoben wird, ist die Analyse von Ps 19 notwendig, der in seinem ersten Teil als Schöpfungspsalm par excellence gilt.

18 Terminus ad quem ist die Zitierung von Ps 148,14 im Anhang der hebräischen Überlieferung des Jesus Sirach in Sir 51,12, vgl. Smend sen., Weisheit S.61 (15) (16). Doch ist damit keine hilfreiche Eingrenzung zu erzielen. Ahnliches gilt für Dan 3,57 ff. (nur griechisch und syrisch überliefert). " Üblicherweise wird der ganze Psalm in die nachexilische Zeit datiert, zumeist aufgrund der Passagen, die hier als Nacharbeit aus späterer Zeit beurteilt worden sind (vgl. als Beispiel für viele Anderson S.949).

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

3. Gottes Herrlichkeit in Kosmos und Gesetz: Ps 19 2a 2b

Die Himmel - Herolde der Herrlichkeit Gottes, ein Künder des Werkes seiner Hände das Firmament1.

3a 3b

Sprache sprudelt Tag dem Tage zu, Wissen gibt weiter Nacht der Nacht.

4a 4b 5 aa 5 aß

Keine Sprache ist's, keine Rede, unhörbar bleibt ihre Stimme 2 . Ausgegangen in alle Welt ist ihr Schall3, ans Ende des Erdkreises ihre Botschaft.

5b 6a 6b

Dem Sonnenball hat er ein Zelt an ihnen gesetzt; der geht wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, freut sich wie ein Held, zu laufen die Bahn*.

7aa 7 aß 7b

Aus dem (einen) Ende der Himmel ist sein Ausgang und sein Umlauf wieder zu ihrem Ende hin; nichts bleibt seiner Glut verborgen.

8 aa 8 aß

Das Gesetz Jahwes ist vollkommen, eine Seelenerquickung.

1

Zur Erläuterung der Kursivierung von V.2 f. 5-7 s.u. S.70 A.25. Zur Ubersetzung von V. 3 f. vgl. Buber, Schriftwerke S. 31; zum grammatischen Problem von V. 4 vgl. Buhl S. 135 f. 3 V. 5 aa enthält philologische Probleme. Das einfachere liegt in der Perfektform von x r „hinausgehen" vor. Entgegen üblicher Praxis sollte man das Verb nicht in ein Imperfekt umpunktieren. Der resultative Charakter des Perfekts steht in beabsichtigter Spannung zum iterativen Modus des Imperfekts in V. 3 (s. u. S. 63 f.). Außerdem bestätigen LXX und Vulgata das Perfekt der hebräischen Vorlage. Viel schwieriger ist die Entscheidung bei dem Wort Dip, hier übersetzt mit „ihr Schall". Die normale Bedeutung von ip „(Meß-)Schnur" kommt kontextbedingt nicht in Frage, so daß angesichts des Parallelbegriffs in V. 5 aß (on'Va „ihre Worte, Botschaft") und der Lesarten von LXX (φθόγγος) und Vulgata (sonus) der Gedanke naheliegt, das schwierige Dip in das graphisch ähnliche Β^ιρ „ihre Stimme" zu konjizieren (häufig seit Cappellus, CS S. 277. 310; vgl. Olshausen S.113f.; Duhm 2 S.80f. u.a.). Dagegen ist mit Recht eingewandt worden, daß LXX und Vulgata für Vip „Stimme" andere Äquivalente benutzen (φωνή, vox; vgl. Baethgen S.55; Buhl S. 136 f.). Will man nicht den unsicheren Weg über das Ugaritische wählen (mit zusätzlicher Annahme eines Schreibfehlers im Hebräischen, vgl. Weippert, ZAW 73 S.97ff.), ist als Ausgangspunkt der Entscheidung festzuhalten, daß der auf Wörtlichkeit bedachte Aquila κανών übersetzt, er also auf jeden Fall ιρ „(Meß-)Schnur" in seiner Vorlage vorgefunden hat. Dann haben aber wahrscheinlich die anderen griechischen Ubersetzer und auch Hieronymus keine andere Lesart gekannt, sondern nur kontextgemäß übersetzt - ob mit semantischem Recht oder angesichts einer Textverderbnis nur mit sprachlichem Einfühlungsvermögen, muß unaufgeklärt bleiben. 4 Zur Verdeutlichung der Textanordnung: V. 5 b. 6 und 7, vielleicht auch 15 (andere Möglichkeit: 15b Einzelkolon) sind Trikola. 2

Gottes Herrlichkeit in Kosmos und Gesetz: Ps 19 8ba 8 bß

D a s Zeugnis J a h w e s ist gewiß, eine Weisheitslehre f ü r Einfältige.

9aa 9 aß

D i e B e f e h l e J a h w e s sind gerade, eine H e r z e n s f r e u d e .

9ba 9bß

D a s G e b o t J a h w e s ist lauter, ein Augenlicht.

lOaa lOaß

Die Furcht J a h w e s ist rein, hat auf ewig Bestand.

ioba iobß

Die Rechte J a h w e s sind wahr, sind gerecht allesamt,

11 act 11 aß

Köstlicher als G o l d und Feingold viel,

uba 11 bß

Süßer als H o n i g und Wabenseim.

12 a 12 b

A u c h dein K n e c h t wird durch sie gewarnt, in ihrer W a h r u n g liegt viel L o h n .

13 a 13b

Irrungen - w e r nimmt (sie) w a h r ? V o n unbewußten sprich mich f r e i 5 !

η aa 14aß

A u c h von den Stolzen halte deinen K n e c h t fern, daß sie nicht über mich herrschen!

I4ba 14 bß

D a n n bleibe ich vollkommen 6 und frei von schweren V e r g e h e n .

I5aa 15aß 15b

W o h l g e f ä l l i g seien die W o r t e meines M u n d e s , und was mein H e r z sinnt, (sei o f f e n ) v o r dir! J a h w e , mein Fels und mein E r l ö s e r !

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(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.315)

Zwei Urteile über Ps 19 sind zu Lehrbuchweisheiten geworden. Das eine entscheidet aufgrund der Unterschiede in Thematik und poetischer Gestaltung über die Teilung des Psalms in 19 A (V.2-7) und 19 Β (V. 8-15). Das andere betrifft die daraus resultierende gattungsgeschichtliche Einordnung: 19 Α wird in der Regel als an altorientalischen Vorbildern orientierter Naturhymnus mit Schöpfungsthematik klassifiziert, 19 Β als Preis des Gesetzes 7 . 5

Zur Übersetzung von V. 13 b vgl. Ewald 1/2 S.34. ' Zur ungewöhnlichen Pleneschreibung vgl. GK §67p. 7 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Teilungshypothese in zwei Varianten im Gespräch. Ewald war der Ansicht, ein späterer Dichter habe mit V. 8 ff. dem älteren

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Jahwe, der Schöpfer und Erhalter

Wird man beiden Urteilen die äußere Evidenz gerade im Blick auf Form und Inhalt nicht absprechen können, so vermag doch kritische Analyse nicht allein mit dieser groben Einteilung auszukommen. Es ist keineswegs ausgemacht, daß die eindeutig feststellbare traditionsgeschichtliche Differenz der beiden Teile in ein literarkritisches Urteil umgesetzt werden darf. Eine Reihe von Beobachtungen läßt dieses Verfahren als petitio principii erscheinen, so daß gründliche Überprüfung not tut. Die erste sich abhebende Einheit besteht aus den Versen 2-5 a. Obwohl der hymnische Charakter des Inhaltes unverkennbar ist, fehlen die äußeren Merkmale des Hymnus so gut wie ganz: keine Anrede Gottes, sondern seine Nennung mit dem gut altorientalischen Appellativum Vs „Gott" als Nomen rectum in einer Status-constructus-Verbindung. Außerdem dienen die Partizipien in V. 2 nicht - wie im Hymnus zu erwarten - der Wesensbeschreibung Gottes, sondern der Charakterisierung der dem Himmel eigenen Tätigkeit, welche in einem kunstvollen Chiasmus formuliert ist. Um die wichtigen inhaltlichen Zuordnungen besser überschauen zu können, sollen die parallelen Elemente untereinandergestellt werden. Die Himmel sind Herolde der Herrlichkeit Gottes. Das Firmament ist Künder des Werkes seiner Hände.

Die Himmel ( = das Firmament, vgl. Gen 1,6-8) überbringen die Botschaft von der Gottesherrlichkeit, welche sich in ihrer ganzen Fülle in „seiner Hände Werk" manifestiert 8 . Unbestreitbar enthält die InterPsalm V. 2 ff. einen neuen Schluß gegeben, „um die Offenbarung in der natur und die in der schrift sich gleichzustellen" (1/2 S.33; vgl. Baethgen S.54). Olshausen wertete zwar auch V. 2-7 „als Fragment eines schönen und wahrsch. viel längeren Gedichtes", V. 8-15 jedoch als „ein selbstständiges Ganzes" aus späterer Zeit (S. l l l f . ) . Diese Auffassung ist seit Duhm, auf den auch die Siegel 19 Α und 19 Β zurückgehen, die herrschende geworden. Wo Olshausen noch vorsichtig formuliert hat, redet er kategorisch: „Psalm 19,8-15 ist gewiss nicht zum Lückenbiisser für den Ausfall von Ps 19 Α bestimmt gewesen, ist vielmehr ein selbständiges Gedicht und hat weder in Form noch im Inhalt das Geringste mit 19 Α zu thun" (Duhm 1 S. 61, vgl. Duhm 2 S.82). Zur gattungsgeschichtlichen Einordnung vgl. stellvertretend für viele Gunkel S. 74 ff.; Westermann, Psalter S. 78 ff.; zur verbreiteten Interpretation von Ps 19 Α vgl. von Rad, Weisheit S. 211 in dem Kapitel „Die Selbstoffenbarung der Schöpfung": „die Welt verkündet sich vor Gott als Schöpfung". An welcher Stelle in Ps 19 „ausführlicher von Eis Schöpfung berichtet" wird, erläutert auch Stolz nicht (Strukturen S. 168). Nach Steck ist der Oberbegriff der „Schöpfergröße Gottes" an Ps 19 Α herangetragen, doch die Schöpfungsthematik bleibt auch bei ihm für diesen Psalmteil charakteristisch (vgl. TB 70 S.232f.). 8 Ein ähnlicher Gedanke ist in Ps 89,6, einem alten, vielleicht nordisraelitischen Hymnus (vgl. Veijola, Verheißung S. 45 f. 210), zu finden, seine israelitische Umformung in Ps 50,6 und 97,6. Beide Stellen zeigen, daß die hinter 19,2-5 a stehende Tradition in Israel weiter verbreitet war. Eine nachexilische Paraphrase von 19,2 f. wird in 145,4 vorliegen (Duhm 2 S.473: „matte Nachbildung").

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pretation von Vk Π33 „Herrlichkeit Gottes" durch l'T nt?ya „seiner Hände Werk" auch den protologischen Aspekt des Schöpfungshandelns, aber er ist hier nicht von Interesse. Das Schöpfungswerk will vielmehr in seiner ontologisch-kognitiven Qualität wahrgenommen werden, indem es sich in seiner Herrlichkeitsfülle bemerkbar macht, die anzuzeigen seine eigentliche Aufgabe und zugleich - man beachte den Partizipialstil! - sein Wesen ist. Das Schöpfungswerk ist Gottesherrlichkeit, ohne daß sich diese in jenem erschöpfte. Das Schöpfungswerk teilt den Schöpfer mit und gibt durch die Herrlichkeit Anteil an ihm: Schöpfung also nicht als ätiologische Konstitution, sondern als doxologische Revelation. Hier werden weder Kosmos noch Kreatur zum Lob aufgefordert, weil der einfachen Deskription der aus der Welt entgegenschallenden Herrlichkeitskunde zugetraut wird, die Erkenntnisneugier des Menschen so zu wecken, daß er selbst seinen wachen Sinn der Herrlichkeitsfülle öffnet und schließlich die im Psalm beschriebene Einsicht rühmend bekräftigt. Die Herrlichkeitskunde wird im ersten Psalmteil nicht nur durch die Himmel überbracht, sondern auch durch eine zentrale zeitliche Ordnung (V. 3) und durch die Erde (V. 5 a). V. 3 weist nicht auf den in der Schöpfung inaugurierten Wechsel von Tag und Nacht hin (vgl. Gen 1,5), wie ja auch nicht der Tag der Nacht und wiederum die Nacht dem Tage Kunde weitergibt. Vielmehr sagen Tag und Nacht je ihrer eigenen Zeitspanne ein ihnen eigenes Wissen weiter, das kaum etwas Nebensächliches, sondern für den Bestand der kosmischen Ordnung Notwendiges ist. Schließlich steht die jeweils eigene Kunde ("IHK „Sprache", njn „Wissen") in der Objektposition, die in V. 2 a die Herrlichkeit Gottes innehat, dort wie hier mit einem Verb lautlicher oder sprachlicher Äußerung verbunden. So birgt der erste Psalmabschnitt gleich zwei Paradoxien in sich: Die eine liegt in der den stummen Subjekten prädizierten verba dicendi, die andere in der Reihe der Objekte, die Gottes Herrlichkeit (Vk Π33) in eigentümlicher Weise als Gottes Werk (n&yn VT) und Gottes Wort (ιηκ, njn) zu konkretisieren beabsichtigen. Daß jene Objekte tatsächlich der Interpretation der himmlischen Kunde von der Gottesherrlichkeit in V. 2 a dienen, wird durch V. 5 a, der den ersten Psalmteil abschließt, nachhaltig unterstützt. Die Suffixe der Subjekte in V. 5 a (Dip „ihr Schall", Dn'Va „ihre Botschaft") beziehen sich nämlich zurück auf die Himmel (n'»5?n) und damit auf die Aussage von V. 2 a im ganzen. Schall und Botschaft der Himmel gehen als göttliche Herrlichkeitskunde in die ganze Welt aus und lassen die Herrlichkeit selbst zu Wort kommen, die schon in ihr ist. Dies wird das angemessene Verständnis der ungewöhnlichen grammatischen Konstruktion KS' + a „hinausgehen in" in V. 5 a sein, die das dialektische Verhältnis von Herrlichkeitskunde und Herrlichkeit selbst andeuten soll. Die

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himmlische Herrlichkeitsbotschaft geht hinaus in die Welt: nicht „hin, zu", sondern 3 „in, darin", also zu einem In-der-Welt-Seienden, was nichts anderes als die Fülle der Herrlichkeit in der Welt ist (vgl. Jes 6,3) 9 . Die Präsenz der Gottesherrlichkeit im Kosmos ist ein altes, aus Kanaan übernommenes Theologoumenon, das ihre Unverfügbarkeit durch dialektische Verhältnisbestimmung wahren soll. Hier ist das Besondere, daß das dialektische Moment paradox gesagt wird: Die Herrlichkeit west in den stummen Werken Gottes nicht nur an, sondern wird auf eigentümliche Weise durch das stumm-beredte Wort der Werke selbst bezeugt, unter denen das Werk die Herrlichkeit Gottes selbst ist. Diese Aussagen weisen nicht auf eine Schöpfungs-, sondern auf eine Herrlichkeitstheologie unter selbstverständlicher Voraussetzung der Schöpfung hin10. Diese Theologie ist weitgehend an kanaanäischen Tempeln vorgedacht worden, ehe die israelitischen Stämme ins Land kamen. Und als auch die Jahwereligion mancherorts, vor allem in Jerusalem, zur Tempelreligion herangereift war, nahm sie das kanaanäische Erbe bereitwillig auf. So ist man nicht von ungefähr auf eine Stelle im ugaritischen Baal-Anat-Mythos aufmerksam geworden, die die Vorstellungswelt, aus der Ps 19,2 f. 5 a stammt, illustrieren kann, ohne daß ein literarischer Zusammenhang auch nur erwägenswert wäre, weil die inhaltlichen Unterschiede beträchtlich sind11. In einer Hinsicht kommen die ' S.u. S.224; ähnlich auch Meinhold, ZThK 80 S. 121 ff. 10 Das beredte Zeugnis der eigentlich stummen Zeugen erinnert an die Lobaufforderung an die unbeseelte Natur in Ps 148. In der bisherigen Auslegung des ersten Psalmabschnittes ist V. 4 mit Absicht unberücksichtigt geblieben, weil auch nach dem polemischen Einspruch Gunkels (S.76f.) die These Olshausens (S. 112f.), Wellhausens (Psalms S.79) u.a. am wahrscheinlichsten ist, hier einen Ergänzer am Werk zu sehen. Der Weg der Herrlichkeitskunde vom Himmel über die Zeiten zur Erde (V. 2 f. 5 a) wird in V. 4 durch eine absichernde, vielleicht auch korrigierende Parenthese unterbrochen: Die Herrlichkeitssprache des Kosmos sei nicht wirklich Sprache, nicht eigentlich Stimme, die hörbar sei (vgl. die Aufnahme des Wortes "IBK „Sprache" aus V. 3 in 4). Man hat gerade in V.4 eine Zuspitzung der Paradoxie erkennen wollen (vgl. Buhl S. 136; Gunkel S.76f.; Bentzen S.90). Das Gegenteil ist der Fall. Eher lösen die drei Negationen von V.4 die Paradoxien des Kontextes auf, die dieser bereits besser und ganz in der kühnen Kombination der Subjekte und Objekte mit ihren Prädikaten enthält. V. 4 will das Wort dem expliziten Gotteswort als Gesetzeswort reservieren. Das ist nicht die Intention der theologisch risikofreudigen und gar nicht engherzigen Vereinigung von V.2f. 5-7 mit V.8-11 (s.u. S.67ff.), kommt aber gut überein mit dem ängstlichen Bemühen um Untadeligkeit in Leben und Lehre, das in V. 12-15 Gestalt gewonnen hat (s.u. S.70f.). Beide Ergänzungen werden auf dieselbe Hand zurückgehen. " Es handelt sich um die Stelle KTU 1. 3 111,13-31 = IV, 7-20, genauer 111,20-31 par.; vgl. Übersetzung und Kommentierung in T O I S. 163ff., vor allem S. 165f., und MLC S. 183 f. Jirku (ThLZ 76 Sp.631) hat als erster auf die betreffende Stelle hingewiesen, Donner (ZAW79 S. 327 ff.) nicht ohne Anlaß vor ihrer Überschätzung als Parallele

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Texte aber überein. Wenn Inhalt der Botschaft Baals an seine Schwestergemahlin Anat unter anderem das Wort des Baumes und das Flüstern des Steines, das Murmeln der Himmel mit der Erde, der Urfluten mit den Sternen

sein soll 12 , dann ist der Kosmos auch hier, mit Ps 19 geredet, "Tina-begabt, Herrlichkeitsträger. Allerdings ist diese Botschaft im ugaritischen Text Göttergeheimnis, ihr Verstehen allein Göttersache an geweihtem Ort. Ausdrücklich sind die Menschen ausgeschlossen, während sie nach Ausweis des Hymnus Ps 19,2 ff. imstande sind, die dem Kosmos übertragene göttliche Herrlichkeitsbotschaft zu vernehmen und deshalb auch im Menschenwort Gestalt gewinnen zu lassen 13 . Die Herrlichkeitsfülle ist umfassend als (Anteil-)Gabe des einen Gottes El14 in der Welt da und findet bei allen „Begabten" den gebührenden hymnischen Widerhall. Kann der erste Abschnitt von Ps 19 seine kanaanäische Herkunft nicht verleugnen 15 , so hat er sie doch durch entschlossene inhaltliche Aneignung weit hinter sich gelassen. Daß diese Distanz nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine zeitliche ist, zeigt der Sprachgebrauch, der hier wie im ganzen Psalm genügend Hinweise auf ein Spätstadium der hebräischen Literaturgeschichte enthält 16 .

zu Ps 19,2 ff. gewarnt; zur Huldigung für El durch Bezeugung der „Ehre" in Ugarit und Israel vgl. W. H. Schmidt, Königtum S. 25 f. 12 KTU 1. 3 111,22-25 par.; vgl. T O I S. 165; MLC S. 184. 13 Vgl. Donner, ZAW 79 S.328. u Der den ewig schläfrigen Charakter des ugaritischen Göttervaters völlig abgestreift hat und nun alles in allem ist: der eine Herr, Geber der Herrlichkeitsfülle (die im BaalAnat-Mythos nur unter dem Vegetationsaspekt als Zuständigkeitsbereich der Anat genannt ist, vgl. KTU 1. 3 111,14-17 par., vgl. T O I S. 163f.; MLC S. 183) und Empfänger der Rühmung des Kosmos (die im Baal-Anat-Mythos als geheime Botschaft des paktierenden Götterpaares Baal und Anat fungiert). 15 Hingegen ist die von Oppenheim (Perspectives S. 35) geltend gemachte Affinität von akkadischen Gebeten zu Ps 19,2 nicht überzeugend. Die von ihm angeführte Anrufung der „Götter der Nacht" in der Gebetsbeschwörung Κ 2315+ (vgl. ders., AnBi 12 S.282f., 8-34; Zusammenstellung ähnlicher Gebete bei Mayer, UFBG S. 427ff.) vermag dieses Urteil nur zu bestätigen. Ebensowenig steht hinter V. 2-5 a „a hymn of the night" (Cumming, Hymns S.39). " Dafür einige Beispiele: r p i „Firmament" V. 2; außer in Gen 1 noch in Ez 1,22 f. 25f.; 10,1; Ps 150,1; Dan 12,3 - yaa hi. „sprudeln" V.3; ferner Ps59,8; 78,2; 94,4; 119,171; 145,7; Prov 1,23; 15,2. 28; Qoh 10,1; qal Prov 18,4 - lljk „Sprache" V.3f.; ferner 68,12; 77,9; unklar Hab 3,9; Hi 22,38 „Sache" - mn pi. „anzeigen, verkünden" V.3; ferner Ps 52,11?; Hi 15,17; 32,6. 10. 17; 36,2 - n!>a „Wort" V.5; ferner 2Sam 23,2; Ps 139,4; Prov 23,9; Hi passim - nsn „Brautgemach" V. 6; ferner Jo 2,16; Jes 4,5 „Decke" o.ä. - nan „Glut" V. 7; ferner Jes 24,23; 30,26; Hi 30,28; Cant 6,10 - α-προ* „Befehle, Verordnungen" V.9; ferner Ps 103,18; 111,7; 119 passim - n „stolz, frevelhaft" V.14;

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Das aus dem ersten Abschnitt bekannte Verhältnis von außerisraelitischer Traditionsvorgabe und später literarischer Aneignung begegnet noch einmal im zweiten Teil von Ps 19 (V. 5b-7), wobei die fragmentarisch übernommene Uberlieferung dieses Mal mesopotamischer Provenienz (bei wahrscheinlich kanaanäischer Vermittlung) zu sein scheint. Das läßt sich der abweichenden poetischen Form (zwei Trikola) und dem veränderten Inhalt entnehmen 17 , denn nun hat sich gegenüber dem ersten Teil der Blickwinkel auf ein einzelnes, die Sonne, verengt. Daß es sich bei der Traditionsvorgabe um einen an den Sonnengott Samas gerichteten Hymnus gehandelt haben wird, erhellt abgesehen von der Thematik auch aus dem stillschweigenden Subjektwechsel von V. 5 b nach V. 6. Obwohl bisher überhaupt nicht als Subjekt genannt, nimmt Gott diese Funktion im thematisch überleitenden Vers 5 b wahr, während in V. 6 flat? „die Sonne(ngottheit)" grammatisches und logisches, in V. 7 allein logisches Subjekt ist. Durch die Vorschaltung von V. 5 b wird der Sonnengott Warnas zum Geschöpf Sonne depotenziert, ohne daß dieser Vorgang mit intolerant monotheistischem Auftrumpfen verbunden wäre. Derlei liegt dem Verfasser dieses Psalms fern. Gleichwohl ist es verwunderlich, daß er Gott bisher nicht explizit als Subjekt erwähnt hat. Vielleicht steht dahinter eine Absicht, die sich im weiteren Verlauf des Psalms enthüllen wird. Ähnlich wie in V. 5 a ist V. 5 b durch Dna „an ihnen" rückgebunden an D'JStf „die Himmel" und damit wohl wieder an V. 2 überhaupt. Es hat den Anschein, daß in der Sonne und ihrem Lauf die Gottesherrlichkeit nach ihrer visuellen Seite hin konkretisiert werden soll, nachdem der erste Teil von ihrem akustischen Moment bestimmt war. Das „Setzen" (Dl») eines Zeltes für die Sonne, israelitische Version alter mythischer Vorstellung 18 , ist als Schöpfungsaussage nur im Sinne der conservatio anzusprechen, weil im folgenden beschreibenden Lob (V. 6 f.) die Sonnenbahn nicht vor-, sondern nachgezeichnet wird. Die Beobachtung gilt dem Schöpfungsbestand, nicht dem Schöpfungshandeln. Die der Sonne in ihrem Umlauf prädizierten Rollen als Held und Richter sind in vielen Gebeten der mesopotamischen Literatur an Samas vorformuliert worden 19 . ferner Jes 13,11; 43,2; Mal 3,15. 19; Ps 86,14; 119 6mal; Prov 21,24 - ι van „Nachdenken, Sinnen" V.15; ferner Ps 9,17; 92,4; Thr 3,62. 17 Zur Form vgl. Beaucamp z.St.; Gese, FS Ebeling S.4. Steck (TB 70 S. 232ff.) hat den Versuch unternommen, V . 2 - 7 thematisch einheitlich als Sonnentext zu verstehen, ist damit aber wohl zu Recht auf Widerspruch gestoßen (vgl. Gese, FS Ebeling S.3 A. 11; Meinhold, ZThK 80 S. 122 A. 18). 18 Vgl. Keel, Welt S. 18 f. " Zu Samas vgl. ΚΑΤ 3 S.367f.; Tallqvist, AGE S.453ff.; eine im Blick auf Ps 19 zu wenig selektierende Materialsammlung zur „near eastern sun-god literature" bei Sarna,

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Mit dem Übergang vom zweiten zum dritten Teil des Psalms (V. 8-11) schiebt sich die in der Forschung gängige These in den Vordergrund, daß man damit am Anfang eines ursprünglich selbständigen Psalms stehe. Stärkstes Argument für die Trennung in Ps 19 Α und 19 Β dürfte der keinesfalls unmittelbar evidente inhaltliche Zusammenhang der beiden Teile sein. Herrlichkeitskunde des Kosmos mit auffällig lokkerem Bezug zur Religion Israels und Lob der Tora samt ihrer Wohltaten für den Menschen mit fester und beharrlich wiederholter Bindung an ihren Urheber Jahwe speisen sich mit Sicherheit aus ganz unterschiedlichen Uberlieferungsquellen, deren Zusammenfließen alles andere als selbstverständlich ist. Außerdem entspricht dem Themawechsel die Wahl einer anderen poetischen Form. V. 8 ff. sind wie V. 2-5 a als Bikola komponiert, dieses Mal jedoch in kurzen, gleichmäßig gestalteten Zeilen, die ein einheitliches Metrum aufweisen 20 . Wäre die ursprüngliche Selbständigkeit der beiden Teile Ps 19 Α und 19 Β stichhaltig, müßte ein Redaktor den Torapsalm an das Exzerpt des Naturhymnus im Sinne der theologischen Korrektur angehängt haben. Ein solcher Vorgang wäre dann wahrscheinlich, wenn sich der thematische Wechsel von der kosmischen Herrlichkeitskunde zum Toralob mit inhaltlichen Brüchen paaren würde, die auf die ursprünglich unabhängige Konzeption beider Teile zurückzuführen wären. Solche Diskrepanzen sind aber gerade nicht festzustellen, so daß die These erwägenswert erscheint, ob nicht in Ubereinstimmung mit der einheitlich späten Psalm X I X S. 171 f.; zu den häufigen Epitheta „Richter" (dajjänu) und „Held" (qarrädu) vgl. Tallqvist, A G E S . 7 9 f f . s.v. dajjänu, S. 162f. s.v. qurädu und qarrädu; Weir, LAP S. 6 3 f . s.v. daiänu, S.70 s.v. dänu, S . 7 3 f . s.v. dinu; vgl. ferner die Wörterbücher unter den entsprechenden voces (AHw S. 151 a. 167f. 171 f. 905; C A D D S . 2 8 f f . lOOff. 150ff.; Q S. 140 ff.). Übliche Epitheta der Aja als Gattin des Samas sind „seine geliebte Gemahlin" (hlrat narämtlsu) u.a. und vor allem „seine geliebte Braut" (kallat narämtlsu) u.a. (vgl. Tallqvist, A G E S.245. 9 7 f . s.v. hirtu, S. l l O f . s.v. kallätu; vgl. ferner die Wörterbücher unter den entsprechenden voces, A H w S.348a. 426 a. 745 b; C A D Η S.200f.; Κ S.79ff.; N / 1 S. 342 f.). Seltener findet sich die Bezeichnung von Samas als Gemahl (häwiru, hä'iru, hämiru; vgl. Langdon, O E C T 6 S. 30,5. 11, Übersetzung: Seux, H P D B A S. 165)." Im Blick auf Ps 19,6 ist es wahrscheinlich, d a ß das bekannteste Epitheton der Aja, kallätu „Braut", zur Bildung des komplementären Titels f ü r s e e „die Sonne(ngottheit)" gef ü h r t hat - Hinweis auf ein älteres, tolerant monolatrisches Stadium der israelitischen Religion? Wichtiger als die Klärung dieser Frage ist jedoch die Beobachtung, d a ß diese überkommene Tradition in später Zeit, in der aufs G a n z e gesehen der intolerante M o n o theismus herrschende Lehre war, positive theologische Rezeption erfahren hat. 20 T r o t z aller Unsicherheit hinsichtlich der metrischen Struktur der hebräischen Poesie ist die rhythmische Gestaltung von V. 8-11 eindeutig. V. 8 - 1 0 haben 3 + 2 Hebungen, V. 11 k o m m t hingegen mit 2 + 2 H e b u n g e n aus. H i n t e r der geringfügigen rhythmischen Variation steht Absicht, denn die Kola in V. 11 sind nach Art des jeweils zweiten Kolons in V. 8-10 weitergeschrieben und auch grammatisch von V. 1 0 b a abhängig. Die Vergleiche in V. 11 sollen die T o r a - T h e m a t i k abschließen.

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Sprachgestalt der Teile in V. 2 f. 5-11 die bewußte Komposition eines Dichters vorliegt, der die verarbeiteten unterschiedlichen Traditionen nicht im Sinne der theologischen Korrektur, sondern der Verdichtung seiner umfassenden theologischen Erkenntnis hat zusammenführen wollen 21 . Diese Annahme läßt nun über die feststehenden, traditionsgeschichtlich bedingten formalen und inhaltlichen Unterschiede hinaus die feingeknüpften Verbindungen zwischen den Teilen erkennen. Der mangelnden expliziten Erwähnung Gottes in V. 2 f. 5-7 (nur einmal in V. 2 a als b« „Gott bzw. El", also halb Appellativum und halb kanaanäischer Gottesname), die in V. 5 b geradezu störend vermieden zu sein scheint, steht in V. 8-10 die sechsmalige Erwähnung Jahwes jeweils in der ersten Hälfte eines Bikolons gegenüber. Das Fehlen dort wie die Häufung hier sind ebenso absichtlich wie die stilistische Orientierung von V. 8 ff. an V. 2 a. Von Jahwe ist nämlich parallel zu btf 7133 „Herrlichkeit Gottes" nur in Constructus-Verbindungen die Rede: n w m w „Gesetz Jahwes" usw., mit dem Unterschied, daß die Constructus-Verbindungen jetzt jeweils in der Subjektposition von Nominalsätzen stehen, deren Prädikatsnomen im jeweils zweiten Kolon noch kürzere Appositionen bei sich haben, die die Wirkung der Jahwe-Tora für den Menschen preisen (V. 8aßbß. 9aßbß). Jahwes Torawort verlangt nach Verhältnisbestimmung zum eigentümlichen, herr-lichen „Wortereignis" des Kosmos. Er kann Kunde von der Gottesherrlichkeit geben (Objektposition), nicht aber Jahwe-Offenbarung, die aus der Tora kommt (Subjektposition) und in ihren Wirkungen auf die Menschen Anlaß zur Rühmung gibt. Für sie trifft in Abwandlung des bekannten MelanchthonWortes zu: Legem Domini laudare, id est beneficia eius laudare. Die unterschiedliche Gewichtung von kosmischer Herrlichkeitskunde und Tora-Funktion ist nicht nur durch den Gebrauch des Jahwenamens angedeutet, sondern auch durch das jeweils verwendete Vokabular. Es ist auffällig, daß keines der Substantive für die lautliche oder sprachliche Kunde des Kosmos im Zusammenhang des Toralobes aufgegriffen wird, obwohl es etwa bei dem Begriff iijn „Wissen" (V. 3) in V. 10 a angesichts der geläufigen Sentenz von der Jahwefurcht als Anfang des Wissens (Prov 1,7) nahegelegen hätte. Uberhaupt hat der Dichter im ersten Teil des Psalms Worte gewählt, für die Gott kein cha-

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Die Einheitlichkeit des ganzen Psalms hat immer wieder einmal Verfechter gefunden, deren Argumente - Rückbezug auf Gen 1-3, weisheitlicher Zusammenhang von Schöpfungsordnung und Tora u. a. m. - mit den hier genannten nicht allesamt vereinbar sind (vgl. Clines, V T 24 S. 8 ff., S. 12 f. A.4 Referat früherer Positionen zur Einheit des Psalms; Tournay, FS Nötscher S. 273 f.; Deissler S.82; Gese, FS Ebeling S. 1 ff.; Meinhold, ZThK 80 S. 119 ff.).

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rakteristisches (logisches) Subjekt ist22. Die sprachliche Unterscheidung soll den inhaltlichen Unterschied andeuten. Es ist der zwischen Herrlichkeitskunde aus dem Kosmos und Jahweoffenbarung aus der Tora auf der objektiven Ebene, der von „natürlicher Gotteskenntnis" (vgl. V. 3)23 und Torawirkung auf der subjektiven Ebene 24 . Hat der Dichter zur Andeutung dieses Unterschiedes in die sprachliche Gestalt der überkommenen Tradition offensichtlich beherzt eingegriffen, hat er aus demselben Grunde die überlieferte poetische Form beibehalten. Die relativ langen drei- und vierhebigen Kola in den beiden ersten Teilen des Psalms, die in der Organisation als Trikola in V. 5 b-7 bis an die Grenze der Überdehnung der Form geführt werden, versinnbildlichen das grenzenlos Fließende der Herrlichkeitskunde und die ewige Wiederkehr des zyklischen Sonnenlaufes. Das ins Unendliche strömende Gotteslob des Kosmos ist ohnehin gegenüber poetischer Formung widerständig und hat doch - wenn überhaupt - in der Poesie die einzige Chance der Sprachwerdung. Es kann sich ihrer allerdings nur unter Strapazierung der poetischen Mittel bis hin zur drohenden Formsprengung bedienen. Nach den langen Trikola von V. 5 b-7 wirken die Bikola von V. 8-11 mit Absicht ernüchternd kurz. Die Redeweise über die Tora vermittelt bis ins metrische Staccato hinein den Eindruck terminologisch geschliffener, dogmatisch unanfechtbarer Sprache. Das darf nicht als an falschen Ort geratene Lehrhausweisheit mißverstanden werden. Vielmehr liegt dem Dichter an der Weitergabe der Erkenntnis, daß die Jahweoffenbarung der Tora klare Rede ermöglicht, die seiner Einsicht zufolge

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Das trifft auf i m „Wort" und Vlp „Stimme" in V. 4 nicht zu, was zusätzlich für den sekundären Charakter des Verses spricht. 21 Trotz der Kritik von Westermann, Psalter S.79; ders., AP S. 179 und von Meinhold, ZThK 80 S. 123. 24 Man kann den blassen Begriff Torawirkung nicht durch den viel konkreteren Jahwefurcht ersetzen, weil sie in V. 10 a nicht der subjektiven, sondern der objektiven Ebene zugeordnet wird. Wie in allen Constructus-Verbindungen in V. 8-10 ist das nomen regens Jahwe auch in mm ηκτ .Jahwefurcht" allein genetivus subjectivus (andere Erklärungsversuche bei Fuhs, T W A T III Sp. 892 f., der selbst metonymischen Gebrauch annimmt). Andernfalls wäre der Begriff in der Aufzählung deplaciert. Es ist indessen aller Beachtung wert, daß innerhalb der Reihung gerade bei dem Terminus Jahwefurcht, bei dem man im Sinne des genetivus objectivus das Moment subjektiv-religiöser Haltung zu assoziieren geneigt ist, die bisher übliche Methode aufgegeben wird, im jeweils zweiten Kolon die subjektiv relevante Torawirkung zu charakterisieren. V. 10f. enthalten hingegen allein Lob der Tora um ihrer selbst willen, was doch wohl als Klimax der Rühmung verstanden werden muß. Daß in diesem Zusammenhang die Jahwefurcht keine religiöse Widerspiegelung beim Menschen bei sich hat, steht in alter (tempel)theologischer Tradition, für die der Mensch zwar als Individuum, nicht aber als glaubendes Subjekt von Bedeutung ist.

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gegenüber der der Zungenrede ähnlichen Herrlichkeitskunde des Kosmos das höhere Gotteslob ist. Ist der Dichter auch bemüht gewesen, diesen Unterschied durch inhaltliche und formale Akzentsetzungen deutlich werden zu lassen, hat er sich doch nicht zu einer exklusiven Bindung des Jahweglaubens an das Gesetz hinreißen lassen. Er konzediert Gottesanrede und Gotteserkenntnis aus dem Kosmos - keineswegs widerwillig, sondern in voller rühmender Ubereinstimmung mit den in Teil I und II geliehenen Stimmen 25 . Freilich wird man es für symptomatisch halten dürfen, daß sich der Dichter bei der Herrlichkeitskunde fremder Worte bedient, sein eigener Mund aber beim Toralob überfließt. Und es ist weiterhin nicht zu übersehen, daß die vorgefundene kanaanäische Herrlichkeitstheologie durch ihre Einbettung in einen dezidiert jahwistischen Psalm, der im Toralob gipfelt, einen veränderten theologischen Stellenwert bekommen hat. War in Kanaan und dann auch im Jerusalemer Tempel die von hieraus in den Kosmos hineinwirkende Herrlichkeitspräsenz vollgültige göttliche Offenbarung, so ist ihre Funktion in Ps 19 gewissermaßen auf eine praeparatio legis beschränkt. Aber die hat sie nun auch wirklich inne. Man bedenke, daß der Psalm aller Wahrscheinlichkeit nach den theologischen Rigorismus deuteronomistischer und priesterschriftlicher Prägung vor Augen hat! Davon unberührt hat der Dichter in der Herrlichkeitskunde des Kosmos eine Uberlieferung zu Wort kommen lassen, der ebenjener Rigorismus fremd ist und die er auch nicht in die auf Exklusivität drängende Toratheologie einfach vereinnahmt hat. Die Diktion des Dichters ist nicht durch Kontroverstheologie und Anathema bestimmt, sondern durch „vermittlungstheologische" Redeweise und schonende implizite theologische Akzentsetzungen. Bei ihm ist Toraobservanz mit Toraverliebtheit gepaart, die beide im Hymnus zu ihrem Recht kommen 26 . Ob wohl die Herrlichkeitskunde des Kosmos an der Sicht der Tora als Seelenerquickung, Herzensfreude und Augenlicht ganz unbeteiligt gewesen ist (vgl. V. 8f.)? Nicht von ungefähr sind die vorhergehenden Ausführungen zu Teil I—III des Psalms in eine Bündelung seiner theologischen Aussage eingemündet, ohne daß bisher von Teil IV (V. 12-15) die Rede war. Tatsächlich wird die Grundfassung des Psalms mit V. 11 abgeschlossen gewe25 In der Übersetzung (S.60) ist das ambivalente Verhältnis von überkommener Tradition und bewußter theologischer und sprachlicher Aneignung (also nicht bloßer Zitierung) in V. 2 - 7 dadurch deutlich gemacht worden, daß der betreffende Teil zwar zur Grundfassung des Psalms hinzugerechnet, aber zur Kennzeichnung seiner dem Psalm vorausliegenden Vorgeschichte kursiviert worden ist. 26 Mit Ps 19 harmoniert in der Bestimmtheit durch Toraobservanz und Toraverliebtheit Ps 1, in engen Grenzen auch Ps 119.

Gottes Herrlichkeit in Kosmos und Gesetz: Ps 19

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sen sein, dessen auf Unüberbietbarkeit zielende Vergleiche eine inhaltlich und stilistisch erträgliche Fortsetzung ausschließen. Dennoch hat ein späterer Leser die Ergänzung gewagt, an der kaum anderes zu rühmen ist, als daß sie sich in jeder Hinsicht als solche zu erkennen gibt. Hatte der Beter selbst im vorhergehenden Hymnus allenfalls mittelbar eine Position, nämlich als Empfänger der segensreichen Wirkungen der Tora (V. 8 f.), steht er nun im Mittelpunkt. Widerspricht schon allein dies dem Wesen des Hymnus, ist darüber hinaus die Diskrepanz auch inhaltlich evident. In V. 12-15 spricht nicht mehr der Toraverliebte, sondern der Toraverängstigte. Die Tora ist ihm nicht Seelenerquickung (V. 8 a), sondern „Produktionsmittel" für großen Lohn (V. 12), nicht „weisende" Lehre des Einfältigen (der man auch selbst sein kann, V. 8 b), sondern Schutzschirm gegen die Törichten (welche die anderen sind, V. 14 a)27, nicht Herzensfreude (V. 9 a), sondern Herzenssache als Ausweis vor Gott (V. 15 a), nicht lichte Lebenshilfe (V. 9 b), sondern Sündendetektor im Unbewußten und Verborgenen (V. 13)28. Beide Denkweisen über das Gesetz und den sich in ihm offenbarenden Gott sind so grundverschieden, daß sie nicht aus der Feder desselben Dichters stammen können. Dieses Urteil wird zudem durch stilistische Beobachtungen unterstützt. Die metrische Gestaltung von V. 12-15 scheint ohne bestimmtes Konzept zu sein, sondern nimmt wahllos auf, was der Psalm an Vorgaben bietet. Der hymnische Stil ist aufgegeben, die direkte Anrede Gottes neu eingeführt und der Anschluß an die Grundfassung überhaupt nur locker gefügt 29 . So bleibt als Fazit festzuhalten, daß am sekundären Charakter von V. 12-15 kaum Zweifel möglich sind, welche aus dem Hymnus mit seiner liebevoll-großzügigen Zusammenschau von universaler Herrlichkeitskunde und Jahweoffenbarung in der Tora ein Individualgebet mit enger, ängstlicher, finster-frommer Perspektive gemacht haben. Damit stimmt der Tenor des redaktionellen V. 4 überein, weshalb beidemal wohl dieselbe Hand am Werk gewesen sein könnte. Die Auslegung von Ps 19 dürfte gezeigt haben, daß die literarkritische Separierung eines sog. Ps 19 A (V. 2-7) exegetisch unhaltbar ist 27

Zu Ά8 „Einfältiger, Tor" vgl. Meinhold, ZThK 80 S. 127 f. Das Verb ino ni. „verborgen sein" ist in V. 13 ganz anders verwendet als in V. 7. Wird hier damit die entbergende Funktion der Sonne in ihrem richterlichen Amt gerühmt, artikuliert es dort die Angst des Beters, welche religiösen Gefahren wohl auf ihn im Verborgenen lauern möchten. " Das V. 12 einleitende tu „auch" weist auf den Einsatz redaktioneller Arbeit hin. ona „durch sie" bezieht sich auf die mrr '»DP» „die Rechte Jahwes" zurück. Dieselbe Art des Rückbezuges in V. 5 b als Indiz für einheitliche Verfasserschaft zu werten, hieße, einem ziemlich unspezifischen Kriterium zuviel Beweiskraft zuzutrauen (anders Gese, FS Ebeling S.5). 28

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und nicht einmal für diesen Teil die Bezeichnung als Natur- oder Schöpfungshymnus zutrifft. Schöpfung ist kein Thema des Psalms, sondern eine seiner nicht thematisierten Voraussetzungen. Vielmehr ist er in seiner Grundfassung von dem Wunder der Gottesherrlichkeit bestimmt, die hörbar und sichtbar den Kosmos durchwaltet und ihre vollendete Manifestation in Wort und Wirkung der Tora hat. Die theologisch durchaus originelle Kombination hat sich nicht nur in V. 2-7 der genannten traditionsgeschichtlichen Vorgaben bedient, sondern sich auch einer bestimmten theologischen Denkweise mit alter Tradition angeschlossen. Es ist dies die tempeltheologische, deren Vorstellung der Gottespräsenz vom Tempel her in der Welt hier in einer pointierten Herrlichkeitstheologie gleichsam umgekehrt wird, indem die aus dem Kosmos diffus strömende Herrlichkeitskunde im Torawort theologische Identität, Prägnanz und Konstanz gewinnt. Die in diesem Psalm von der Tora besetzte theologische Position wird in vorexilischen Psalmen von dem im Tempel thronenden Deus praesens wahrgenommen. Deshalb entstammen viele der der Tora prädizierten Eigenschaften genau der tempeltheologischen Sphäre, wie etwa die Seelenerquickung (19,8 a), die im tempeltheologisch geprägten Ps 23 Jahwe selbst gedankt wird (23, 3) 30 , die Erleuchtung der Augen (19,9b) - Variation des Theologoumenons vom Schauen des göttlichen Angesichtes, das das Antlitz/die Augen des Beters zum Zeichen der göttlichen Lebensgabe erleuchtet (13,4), bis hin zur Gold- und Honigmetaphorik für die Tora (19, II) 3 1 . Damit zeigt sich, welch großes Beharrungs- und zugleich Wandlungsvermögen die Tempeltheologie gehabt hat, erweist sie sich doch noch in späten Dichtungen wie Ps 19 als wirksam, zu deren Entstehungszeit es den Tempel, an dem sie einst erfahren und bedacht worden war, längst nicht mehr gab. Ps 19 ist ein Zeichen dafür, daß der Herrlichkeitstheologie des ersten Tempels vom 6. Jahrhundert ab nicht nur die Alternative Untergang oder Einfügung ins priesterschriftliche Offenbarungssystem blieb, sondern sie sich auch unter weitgehender Wahrung ihres komplexen Charakters auf den Weg zur Toramystik machen konnte. Am Ende der Auslegung von Ps 19 ist festzustellen, daß die Gruppe der sog. Schöpfungspsalmen wieder um ein Exemplar ärmer geworden ist, so daß nun dringend der ganze Psalter daraufhin befragt werden muß, welchen quantitativen und qualitativen Stellenwert Schöpfungstheologie in ihm hat.

30 31

S.u. S.272. Vgl. Cassin, Splendeur S. 121 ff., v. a. 124.

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4. Von der Erhaltung zur Schöpfung Nach eingehender Analyse der Psalmen 104,148 und 19, für die nach gängiger Anschauung der Schöpfungsgedanke konstitutiv sein soll, steht ein sachlich differenzierter Befund vor Augen. Zwar ist in ihnen in unterschiedlicher Ausführlichkeit die Vorstellung der prima creatio verankert, jedoch weitgehend als Gedanke aus späterer Zeit, was in reichlicher literarischer Nacharbeit zum Ausdruck kommt. In den Psalm(teil)en, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in die vorexilische Zeit gehören, stehen Gottes vorfindliche Weltgestaltung und Welterhaltung im Mittelpunkt, als deren implizite Voraussetzung die Weltentstehung keine besondere Beachtung genießt. Gott ist Herr der Schöpfung 1 , die Welt ist sein Eigentum und erfreut sich als solches seiner liebevollen Zuwendung, die sich in der Schönheit und Zweckmäßigkeit ihrer Ordnung (Ps 104) und in ihrer Teilhabe an der Gottesherrlichkeit dokumentiert (Ps 19) und die in der Fülle ihrer Begabung zu vielstimmigem Gotteslob fähig und willig ist (Ps 148). Auch das ist Schöpfungstheologie zu nennen möglich, aber im Sinne hilfreicher Distinktionen nicht ratsam, weil sich in der Kommentierung der vorgefundenen creatio continua oder conservatio durch die prima creatio ein zu bestimmter Zeit aufgrund bestimmter Tradition erfolgter neuer theologischer Zugang zu den alten Texten abzeichnet. Anlaß der neuen theologischen Akzentsetzung ist aller Wahrscheinlichkeit nach die seit der Exilszeit virulente Auseinandersetzung mit den Schöpfungsmythen Mesopotamiens gewesen, welche sich auch im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht von Gen 1 - allerdings bereits umfassend theologisch durchdacht - manifestiert hat. Daß Gen 1 relativ rasch zu einem schöpfungstheologischen Grundtext mit großer Bekanntheit und Autorität geworden ist, läßt sich der nachexilischen Fortschreibung der Psalmen 104 und 148 entnehmen, welche offensichtlich von Gen 1 geprägt worden ist. Dem ist die redaktionelle Erweiterung von Ps 136 in V. 8 f. zur Seite zu stellen, wo ebenfalls Gen 1 als Textvorlage gedient haben wird 2 . Freilich sind mit dem Hinweis auf Gen 1 längst nicht alle, nicht einmal die meisten Schöpfungsaussagen in den Psalmen zu erklären. Man könnte sogar ihre immerhin beachtliche Belegfrequenz als Indiz für ihren eigenständigen theologischen Stellenwert im Psalter beanspruchen. Doch ein Blick in die Texte selbst wirkt sofort korrigierend. Es lassen sich nur ganz wenige Psalmen finden, in denen der Hinweis auf die prima creatio den Umfang eines Verses überschreitet, und noch weniger, in denen die Schöpfungsaussage eine theologisch exponierte 1 2

Vgl. Bernhardt, ThLZ 85 Sp. 824. S.u. S. 162.

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Funktion wahrnimmt. Außerdem sind in Übereinstimmung mit den Texten, die in Abhängigkeit von Gen 1 überarbeitet worden sind, die Schöpfungsaussagen kaum je in Psalmen oder Psalmteilen zu finden, für die eine frühere Entstehung als die Exilszeit mit einigem Recht angenommen werden könnte 3 . Um mit der auffälligsten und deshalb beweiskräftigsten Lücke zu beginnen: Der Psalter ist quantitativ und - wie noch zu zeigen sein wird auch qualitativ vom Individualgebet geprägt. Von daher würde man in den Vertrauensäußerungen der Klage- und Danklieder des einzelnen Hinweise auf Gott als Menschenschöpfer erwarten, wenn der Schöpfungsgedanke ursprünglicher Psalmtheologie tatsächlich unveräußerlich sein sollte. Doch die Psalmen sind bei diesem Thema auf beredte Weise wortkarg. Was in Ps 22,10 f., einem in der Endgestalt wahrscheinlich exilisch-nachexilischen Klagelied des einzelnen, als Vertrauensäußerung zu lesen ist, wird man kaum als Schöpfungsaussage bezeichnen können: (10) Ja, du bist es, der mich herauszog aus dem Schöße, der mir Vertrauen gab an meiner Mutter Brust. (11) Auf dich bin ich geworfen vom Mutterleibe an, vom Mutterschoße an bist du mein Gott.

Die Erwähnung der Geburt wird nicht auf Schöpfung hin ausgelegt, was auch aus dem Fehlen des entsprechenden Vokabulars hervorgeht, sondern ist funktional zur Bekräftigung des Vertrauens eingesetzt, das in dem Bekenntnis gipfelt: „Mein Gott bist du." Betont durch das zweimalige, V. 10 f. umklammernde Πίΐκ „du (bist es)", erkennt und erklärt sich der Beter als Gottes Eigentum, obwohl die Formulierung dem Wortlaut nach aufgrund ihrer Herkunft aus polytheistischer Religiosität eigentlich das Gegenteil besagt (der betreffende Gott als „Eigen3 Zur Eingrenzung des Textmaterials und zu Notwendigkeit und Möglichkeit der Datierung der betreffenden Psalmen vgl. die guten Ausführungen von Vosberg, Studien S. 9 ff., mit denen die folgenden Erwägungen häufig harmonieren. Allerdings wird man das Reden vom Schöpfer nicht völlig aus der vorexilischen Zeit verbannen können, in die ein Text wie Ps 24 eher zu gehören scheint als in eine spätere Periode (s.u. S. 196ff.). Außerdem ist ihre vergleichbar marginale Bezeugung in kanaanäischer Tradition zu berücksichtigen (s.u. S. 85f. A.35-37). Vosbergs Erklärung für die exilische Rezeption der Schöpfungsthematik: „Die Krise des Erwählungsglaubens wird im Reden vom Schöpfer aufgehoben, indem das Heilshandeln Gottes Thema wird, das unabhängig vom Verhalten der Geschöpfe ist, weil es dem Verhalten der Geschöpfe voraus ist" (S.52). Ob man (prädiziertes und wieder erwartetes) schöpferisches Heilshandeln Gottes in dieser Weise seinem Geschichtshandeln (aufgrund der negativen Erfahrungen Gottes mit seinem Volk) entgegensetzen darf, erscheint indessen fraglich, da Gottes Geschichtshandeln auch keine lange Tradition im Psalter hat. Das Problem wird bei der Behandlung geschichtsorientierter Psalmen noch einmal aufzugreifen sein.

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tum" des Beters im Sinne einer Zuständigkeitserklärung). Mit der in den Psalmen häufiger begegnenden Eigentumsvorstellung ist der Schöpfungsgedanke durchaus vereinbar, doch haben beide unterschiedliche traditionsgeschichtliche Wurzeln 4 . Man muß in der Geschichte der Psalmenliteratur lange warten, bis man schließlich in zwei späten Kompositionen auf das Thema Menschenschöpfung stößt: das eine Mal in dem akrostichischen Torapsalm 119, (73 a) Deine Hände haben mich gemacht ('Jipy) und mich bereitet ('313313Ί),

das andere Mal in Ps 139, einem hymnenähnlichen Preis der Allgegenwart Gottes, (13) Denn du hast meine Nieren geschaffen (fi'lp), hast mich im Mutterleib gewoben (?) ('330Π). (15) ... der ich gemacht wurde ('ii'wy) im Verborgenen, gewirkt ('ηηρι) in den Tiefen der Erde. Hier wie dort ist der Schöpfungsgedanke untergeordnetes Element innerhalb der Themenkreise Gesetz und Allgegenwart Gottes. D o c h selbst diese schmale Textbasis ist für die Rezeption der Schöpfungsvorstellung aufschlußreich. Sie zeigt, daß bis in die Spätzeit der israelitischen Religionsgeschichte hinein die Vorstellung der Menschenschöpfung den Psalmen fremd geblieben ist, obwohl sie Israel mittlerweile durchaus vertraut geworden war. Und w o ein Psalmdichter dann doch einmal Menschenschöpfung thematisiert, geschieht es tastend, indem 4 Zum Verhältnis von Eigentumsdeklaration und Schöpfungsaussage in den alttestamentlichen Texten (allerdings ohne traditionsgeschichtliche Differenzierung) vgl. Metzger, FS Kraus S. 37 ff. In das Umfeld der Eigentumsaussagen gehört auch Ps 71,6, ein mit 22,10 f. vergleichbarer Beleg; zur exilischen Kombination mit dem Schöpfungsgedanken vgl. Jes 43,1; 44,2. 24. Nicht einmal Ps 51,12 (und ebensowenig 51,7), Teil eines exilisch-nachexilischen Klageliedes des einzelnen, kann ohne Bedenken von der Schöpfungstheologie her interpretiert werden, obwohl das Verb ma „schaffen" gebraucht ist. D o c h das Schaffen eines reinen Herzens ist Erneuerung eines festen Geistes, also weniger Schöpfung, sondern vielmehr W a n d l u n g und damit dicht an dem älteren Verständnis von ma, wie es in Ps 104,30 dokumentiert ist (also keine N e u s c h ö p f u n g wie ζ. B. in 102,19, s. o. S. 45 f. A. 60 f.; zu 148,5 s.o. S . 5 3 f . A.8; zu 89,13 s.u. S.82). Hingegen wird mit m a in 89,48, einer der exilischen Erweiterungen des Psalms zugehörig (vgl. Veijola, Verheißung S. 88 ff.), eindeutig die Menschenschöpfung artikuliert und diese (ohne m a ) in dem exilisch-nachexilischen Lehrgedicht 94,9 in rhetorischen Fragen funktional zum Erweis der göttlichen Allmacht eingesetzt (vgl. Hi 38 ff.). Es ist jedoch allemal evident, daß m a in den Psalmen nicht zum charakteristischen Vokabular zählt und schon gar nicht in profilierter Weise als der schöpfungstheologische Terminus begegnet, als welcher er in der Priesterschrift und bei Deuterojesaja bekannt ist.

Dasselbe gilt f ü r ΐ ϊ ' „bilden", in Gen 2 und bei Deuterojesaja exponierter Schöpfungsterminus, in den Psalmen jedoch nur spät und vergleichsweise konturlos belegt: Ps 33,15; 74,17; 94,9; 95,5; 104,26; textlich unsicher bzw. inhaltlich schwierig: 94,20; 139,16.

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Worte ohne dezidiert schöpfungstheologische Konnotationen schöpfungstheologisch eingesetzt werden (nt?j?, pa pol. in 119,73; njp> in 139,135; nn?y pu. nur in 139,15) oder etwa das pränatale Werden des Menschen - in 139,15 ganz schöpfungsfern mythisch gedacht - eine schöpfungstheologische Akzentuierung erfährt (139,13). So gewinnt die Rede von der Menschenschöpfung in den Psalmen kein eigenes Profil und bleibt theologisch marginal. Wer der alternativen Entwicklung ansichtig werden will, muß Deutero- und Tritojesaja lesen, deren Texte unter anderem stark von der Psalmtheologie geprägt sind6, aber darin die Schöpfungsvorstellung als theologisch konstitutives Element integriert haben - und zwar ungefähr zu derselben Zeit, in der es in der Psalmtheologie selbst allenfalls zu einer eklektischen und peripheren Rezeption des Schöpfungsgedankens gekommen ist. Diese These muß begründet werden. Dazu sollen alle Termini, mit denen Schöpfungsaussagen gemacht werden oder die schöpfungstheologisch verstanden werden könnten, auf ihre Verwendung im Psalter und darüber hinaus in anderen literarischen Bereichen mit erhellenden Belegfrequenzen untersucht werden. Zunächst das Verb ns?y „machen" mit den Psalmenbelegen, in denen Gott Subjekt ist. Mit diesem Wort wird Schöpfung in den Psalmen am häufigsten zum Ausdruck gebracht, wenn auch in keinem Text, der der Exilszeit vorausgeht. Sieht man einmal von den schon besprochenen Belegen ab7, fallen vor allem die partizipialen Formeln „Schöpfer" (mit Suffix) und „Schöpfer des Himmels und der Erde" ins Gewicht 8 . Hier 5 Die schöpfungstheologische Verwendung von nap (vgl. zu dem Verb W. H. Schmidt, T H A T II Sp. 650 ff.) gehört in das Spätstadium der semantischen Entwicklung dieses Verbes, das ganz überwiegend profan in seiner Grundbedeutung „erwerben" belegt ist, welche auch nur selten und recht spät Eingang in theologischen Gebrauch gefunden hat (Ex 15,16und damit auf unterschiedliche Weise verbunden Jes 11,11; Ps 74,2; 78,54; s.u. S. 113). Man gewinnt den Eindruck, daß die Formel vom „Volk, das du erworben." (Ex 15,16) erst schöpfungstheologisch eingeholt werden mußte (vgl. Jes 43,21: „das Volk, das ich mir gebildet," ι*'), um nun auch andererseits das Verb njp im Sinne von „erschaffen" theologisch wahrzunehmen. Ob dieser Zusammenhang besteht oder nicht - die wenigen betreffenden Belege gehören allemal in die nachexilische Zeit (neben Ps 139,13 noch Gen 14,19.22, s.u. S.86 A. 37; Dtn 32,6, s.u. S.82 A.27; Prov 8,22). 6 Vgl. Begrich, Studien S. 80 ff.; Westermann, A T D 19 S. 22 ff., ohne damit seine These von der Zentrierung des Gotteslobes um den Schöpfer und Herrn der Geschichte in den Psalmen zu akzeptieren. 7 Dazu zählen die Fortschreibungen in Ps 104,19. 24 und die Belege für Menschenschöpfung in 119,73 und 139,15. 8 Ps 95,6 („unser Schöpfer"); der formelhaften Rede gehen in V. 4 f. Aussagen voran, die noch gut die prima creatio als traditionsgeschichtlichen Zuwachs erkennen lassen. Denn nachdem in V. 4. 5 a a die Tiefen der Erde, die Gipfel der Berge und das Meer als Eigentum des Königs Jahwe prädiziert worden sind, wird in V. 5aßb der Wechsel zu

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liegt bereits theologische Begriffssprache vor, die das Gemeinte nicht mehr explizieren muß, weil Gottes Schöpferhandeln zum integralen Bestandteil des israelitischen Credo geworden ist. Wahrscheinlich würden die meisten Psalmdichter, die diese Formel verwenden, auf Gen 1 verweisen. Denn die Zusammenstellung der Schöpfungswerke Himmel und Erde ist für ältere Psalmen unspezifisch, ja, der Himmel überhaupt kein Schöpfungsobjekt. Man kann zwischen jungen und alten Psalmen gerade hier einen Gegensatz konstatieren: Kann in jenen das Schöpfungswerk Himmel schließlich auch ohne die Erde genannt werden 9 , ist in diesen fast ausschließlich allein die Erde von Interesse - und zwar kaum je in schöpfungstheologischer Perspektive, denn an den ältesten Stellen scheinen die begleitenden Verben TD' „gründen" und |1D ni. und pol. „fest sein" und „fest machen" eine solche Deutung nicht nahezulegen. Darüber hinaus ist in den Psalmen von Schöpfung unter Verwendung von nt?y „machen" kaum noch die Rede 10 . Doch schon bei dem Verb npy „machen", das im Psalter noch die Schöpfungsaussagen inhaltlich und stilistisch abrupt vollzogen. Wieso gerade beim M e e r die Schöpfung betont (in®y mm „und er hat es gemacht") und die Bildung ( ί ϊ ' ) des Festlandes (JIM') erwähnt wird, obwohl schon in V. 4 die Erde als existent vorausgesetzt ist (zur Zusammengehörigkeit vgl. Gen 1,10), ist nur durch die Intention zu erklären, dem Schöpfungsgedanken Geltung zu verschaffen, gipfelnd in dem Jahwe-Epitheton „unser Schöpfer" in V. 6. Mit Ps 95,6 f. ist 100,3 verwandt, w o wahrscheinlich li^y Kin „er hat uns gemacht", vielleicht aber auch W(?y um „er ist unser Schöpfer" zu lesen ist; vgl. ferner 149,2 („sein Schöpfer" nach L X X und Peschitta). Die Prädikation „Schöpfer des Himmels und der Erde" ist belegt in Ps 115,15; 121,2; 124,8; 134,3; 146,6 (erweitert um „das Meer und alles, was darinnen ist"; vgl. damit die traditionsgeschichtlich ältere Formulierung in 96,11; z u r traditionsgeschichtlichen Bewertung der Prädikation vgl. W . H . S c h m i d t , Schöpfungsgeschichte S. 166 Α. 1). Hier m u ß auch Ps 136,5-7 eingeordnet werden (Schöpfer, n®y, des Himmels, Befestiger, ypi, der Erde, Schöpfer, ney, der großen Lichter), wo allerdings verschiedene Einflüsse die Schöpfungsvorstellung mitgeprägt haben (vgl. Jes 42,5; 44,24; Prov 3,19). ' Das ist der Fall in Ps 33,6 („Auf das W o r t Jahwes hin wurden die Himmel geschaffen, npy ni."), wahrscheinlich verwandt mit Gen 2,1, w o allerdings die Erde erwähnt ist. U b e r sie ist jedoch gerade vorher in Ps 33,5 eine Aussage gemacht worden, die alte Psalmtheologie variiert: „Von der H u l d Jahwes ist die Erde voll." Alle Elemente des Satzes sind genuin psalmtheologisch, nur nicht ihre Kombination, die die Spätzeit verrät (s.u. S.200f. A. 10). Ebenfalls in spätem Traditionskontext wird allein die E r s c h a f f u n g des Himmels in Ps 96,5 genannt. Bekanntlich werden in dieser jungen Imitation eines Jahwe-KönigPsalms alte Texte und Traditionen wie Ps 29 und 93 rezipiert. So hat in Ps 96,11 auch Eingang gefunden, was ältere Psalmtheologie über Himmel und Erde zu sagen wußte: „Es freue sich der Himmel, es jubele die Erde . . . " 10 Vgl. die Glosse Wey ivx „die du gemacht hast" in Ps 86,9, eine singulare und unglückliche Erläuterung zu den Völkern und wohl nur bedingt durch den „nwy-haltigen" Kontext (V.8. 10).

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meisten Schöpfungsbelege bietet, ist es nicht der schöpfungstheologische Sprachgebrauch, der seine Verwendung mit Gott als Subjekt bestimmt. Vielmehr ist es ein undefinierbar weiter Bereich von vollbrachten oder erwarteten Taten Gottes am einzelnen und am Volk, die durch dieses Verb zur Sprache kommen 1 1 . Die Vielfalt wird häufig in jungen Texten auf die Formel vom Tun des „Wunderbaren" (κ\>£> bzw. ίΐΊΚΪ>53), seltener des „Großen" (mVu) gebracht 12 , womit gerne Jahwes heilsgeschichtliches Handeln zusammenfassend charakterisiert wird. Doch dies ist ebenso ein Spezialfall der Verwendung von wie die Schöpfungsaussage, beides offensichtlich erst spät in den Psalter mit Kategorien integriert, die nicht das Besondere von Schöpfung und Heilsgeschichte, sondern die Selbigkeit des Jahwehandelns akzentuieren. Noch deutlicher als durch die Untersuchung des Verbs nwy „machen" kann dieses Urteil hinsichtlich der Schöpfungsaussagen durch die Verwendung des Nomens nvyü in den Psalmen illustriert werden, entweder im Status constructus oder suffigiert gebraucht, meistens im Plural, also „Werke Jahwes" bzw. „Werke deiner/seiner Hände" oder „deine/seine Werke". Bei diesen Wendungen, besonders bei „Werke deiner/seiner Hände", erscheint die schöpfungstheologische Bedeutung als besonders naheliegend und erweist sich doch nur bei wenigen Belegen als sachgemäß. Dazu zählen Ps 8,4. 7 (Himmel als „Werk deiner Finger", Herrschaft des Menschen über „Werke deiner Hände") 1 3 , 102,26 (Himmel als „Werk deiner Hände" neben der Gründung der Erde) und 104,24 („Wie zahlreich sind deine Werke!") 1 4 . 11 Vgl. Ps 9,5. 17; 18,51; 22,32; 37,5; 39,10; 52,11; 66,10; 83,10; 86,17; 99,4; 103,6. 10; 104,4; 109,21. 27; 111,8; 115,3; 118,15f. 24; 119,65. 84. 124. 126; 126,2f.; 135,6f.; 140,13; 145,19; 146,7; 147,20; hier wie im folgenden sind auch die Belege berücksichtigt, in denen Gott logisches Subjekt ist. 1 2 M i t ! 0 B : PS 7 7 , 1 5 ; 7 8 , 1 2 ; 8 8 , 1 1 ; m i t JIIKVBJ: 4 0 , 6 ; 7 2 , 1 8 ; 7 8 , 4 ; 8 6 , 1 0 ; 9 8 , 1 ; 111,4; 136,4; mit m H j : 71,19; 106,21.

105,5;

13 Zur literarkritischen Analyse von Ps 8 und zur Ablehnung seines Verständnisses als Schöpfungspsalm s. u. S. 227 ff. Die Grundfassung von Ps 8 ist zeitlich schwer, inhaltlich eindeutig älterer Psalmtheologie zuzuordnen, was unter anderem auch daran erkennbar ist, daß Schöpfung in ihrem Bestand, nicht in ihrer Konstitution den Psalminhalt mitbestimmt. Vom Vieh bis zu den Fischen ist alles schon da (V. 8 f.), zusammenfassend klassifizierbar als „Werke deiner Hände" in V.7. Auch V. 4 hat in der Urfassung Himmel, Mond und Sterne als längst existierende Werke Gottes angeführt, die staunend zu betrachten sind, wozu erst redaktionell der Entstehungsaspekt durch „Werke deiner Finger" und „die du bereitet hast (ps pol.)" nachgetragen worden ist. 14 Wie bereits dargelegt (s.o. S.40), ist der ursprünglich allein artikulierte Bestandsaspekt der Schöpfung (beachte den parallelen Begriff p p „Eigentum") ähnlich wie in Ps 8,4 sekundär um den Konstitutionsaspekt bereichert worden („sie alle hast du in Weisheit gemacht"). Dadurch hat natürlich auch die Vorlage einen stärker schöpfungstheologischen Klang erhalten. Hingegen lohnt es sich kaum, über die theologische Nuancierung der „Frucht deiner Werke" in 104,13 allzuviel nachzudenken (s.o. S.33).

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Dieser kleinen Gruppe steht das Gros von Belegen gegenüber, bei denen sich aus verschiedenen Gründen die schöpfungstheologische Vereinnahmung verbietet15, sowenig gerade bei manchen späten Belegen eine schöpfungstheologische Komponente ausgeschlossen werden kann. Aber weder prägt sie den Sprachgebrauch noch hat er bei ihr seinen Ausgang genommen. Das wird aus dem jeweiligen Kontext und darüber hinaus an dem zuweilen parallel gebrauchten Begriff VyD „Werk" deutlich, dessen Gebrauchsspektrum Schöpfung nur an den äußersten Rändern erfaßt 16 . Ferner muß das „Werk seiner Hände" nicht die Schöpfung sein, sondern eher psalmspezifisch kommen dafür Wahrheit und Recht (111,7) oder auch die Gottesherrlichkeit (19,2) in Betracht. Genau wie man „profan" an Gott appellieren kann, den Übeltätern „gemäß dem Werk ihrer Hände" (DiPT nwyaD, parallel zu „gemäß ihrem Tun" oVyDD, vgl. 28,4 u.ö.) zu vergelten, führt auch der theologische Gebrauch in die Vielfalt der Gotteswerke, die als Fascinosum (139,14) und Tremendum (66,3) den Menschen ergreifen und mit ihm zusammen das Gotteslob anstimmen. Nicht von ungefähr hat der gebildete Jerusalemer Jesaja aus seiner Kenntnis der Psalmen heraus das „Werk" Jahwes (n»yn, wie die Parallelbegriffe byo „Werk", nsy „Ratschluß" immer im Singular gebraucht) zu einer der zentralen Kategorien seiner Verkündigung gemacht. Jahwe vollbringt nicht Werke, sondern das Werk, sein allumfassendes wunderbar-planvolles Walten, das Menschen lieber ignorieren als glaubend und lobend anerkennen (vgl. Jes 5,12. 19). Keiner der Jesaja-Belege birgt spezifisch schöpfungstheologische Implikationen in sich, so daß sie ein zusätzliches indirektes Zeugnis für die gleichsam schöpfungsarme Gestalt der vorexilischen Psalmtheologie sind 17 . Im Zusammenhang mit „machen, tun" war bereits mehrmals die synonyme Wurzel VyD und die entsprechende Nominalbildung erwähnt worden. Ihr verbaler und nominaler Verwendungsbereich hat mit dem von nt?y große Ähnlichkeit, ist aber für die Interpretation noch unkom15 Vgl. Ps 19,2; 28,5; 33,4; 64,10; 66,3; 86,8; 92,5f.; 103,22; 104,31; 106,13; 107,22. 24; 111,2. 6f.; 118,17; 138,8; 139,14; 143,5; 145,4. 9f. 17; eine abweichende Wertung mancher Belege bei Vollmer, T H A T II Sp.368f., bei dem die schöpfungstheologische Perspektive aber zu großes Gewicht hat. " Vgl. Ps 64,10; 92,5; 143,5; i-ysa „Werk, Tat" in Prov 8,22. 17 Zu den Jesaja-Belegen und ihrer Interpretation vgl. Wildberger, Jes S. 188 f. und vor allem ders., Geschichte S. 75 ff.; zur Abhängigkeit der jesajanischen Rede vom Werk Jahwes von der Psalmtradition vgl. ebd. S. 86 ff. Es ist lediglich Wildbergers These zu widersprechen, Israel habe in den Psalmen zunächst im Blick auf die Schöpfung von Jahwes Werken und Taten gesprochen, was dann von Jesaja im Sinne seiner Verkündigung auf die Geschichte übertragen worden sei (vgl. ebd. S. 88 ff.). Der aufgezeigte späte und geringe Einfluß von Schöpfungstheologie auf die Psalmen macht diese Sichtweise unwahrscheinlich.

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plizierter als dieser, wahrscheinlich weil Vya in den engeren Kreis des psalmspezifischen Vokabulars gehört 18 . Darin wird man auch begründet sehen dürfen, daß Vys in den Psalmen mit keinem einzigen schöpfungstheologischen Beleg vertreten ist und auch außerhalb des Psalters nur an drei späten Stellen Schöpfung zur Sprache bringt (Jes 41,11; Hi 36,3; Prov 16,4). Neben einigen in theologischer Hinsicht unspezifischen Belegen findet ^ys in den Psalmen die charakteristischste Verwendung in dem Terminus „Übeltäter" (|1K '^>ys, immer im Plural) 19 , jenen schwer faßbaren Repräsentanten einer Jahwe und seinen Verehrern feindlichen Gegenwelt, deren Macht real und anmaßend zugleich ist und denen Jahwe mit seinem Werk (^ys, verbal und nominal) entgegentritt 20 . In demselben Sinne, ohne jeden schöpfungstheologischen Anklang, ist der Gebrauch von Vyo in Ex 15 zu verstehen 21 . Nach dem Sieg Jahwes über die Feinde, deren Identität als Ägypter sich im Verlauf des Kampfes immer mehr ins Mythische verflüchtigt hat (V. 4-10), konsolidiert und krönt er seine Herrschaft durch den Tempelbau, von dem es heißt: (17) ... die Stätte deines Thronens, die du, Jahwe, gemacht (ni'ys), das Heiligtum, Herr, das deine Hände gegründet ("|'T 11313).

Wer hier schöpfungstheologisch interpretiert, verleiht der Aussage einen fremden Akzent, denn sie ist nicht am kreativen, sondern durativen Aspekt der Tat interessiert (vgl. V. 18). Die ungewöhnliche Verwendung von Vys als Bauterminus erfährt ihre Deutung durch das parallel gebrauchte, in ähnlichen Zusammenhängen geläufige Verb J13, an dessen Belegspektrum gut abzulesen ist, wie sich ein spezifisch königsund tempeltheologischer Sprachgebrauch zu einem schöpfungstheologischen erweitert hat 22 . pD ni.: „fest, sicher sein", pol.: „hinstellen, gründen", hi.: „aufstellen, " Vgl. auch Vollmer, T H A T II Sp.461ff. v.a. 464 ff. " Vgl. Ps 5,6; 6,9; 14,4; 28,3; 36,13; 53,5; 64,3; 92,8. 10; 94,4. 16; 101,8; 125,5; 141,4. 9; außerhalb des Psalters nur Jes 31,2; Hos 6,8; Hi 31,3; 34,8. 22; Prov 10,29; 21,15 und Mi 2,1 (jn 'Vye); als abgeleiteter Gegenbegriff pnx hyo „derjenige, der Gerechtigkeit übt" in Ps 15,2; zu den ρκ '^ys vgl. Mowinckel, PsSt I und die mit ihm geführte Auseinandersetzung von Gunkel/Begrich, Einleitung S. 196 ff. Die seitdem andauernde Kontroverse um die Deutung der Feindesschilderungen in den Psalmen ist von Keel (Feinde) dargestellt und durch die eigene Analyse der Klärung nähergebracht worden. 20 Verbal: Ps 31,20; 44,2 (paronomastisch); 68,29; 74,12; nominal: 64,10; 77,13; 90,16 (par. "ΠΠ „Hoheit, Pracht", vgl. den parallelen Gebrauch von 1133 „Gottesherrlichkeit" und w n»ya „Werk seiner Hände" in 19,2); 92,5; 95,9; 111,3 (i*ya n m im „Hoheit und Pracht ist sein Werk", vgl. V. 7: aosai ηηκ v r '»y» „die Werke seiner Hände sind Wahrheit und Recht"); 143,5; vgl. auch 28,5. 21 Zur Analyse von Ex 15 s.u. S.96ff. 22 Zu den in diesem Zusammenhang wichtigen Belegen von J13 vgl. Koch, T W A T IV Sp. 102ff. (zuweilen mit anderen Akzentuierungen).

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(be)festigen" gehört wie in den engeren Kreis der Psalmensprache und ist darüber hinaus - jedoch auch für eine ältere Form der Psalmtheologie charakteristisch - mit der Gedankenwelt des Königtums verbunden. Wie man von der Festigkeit des irdischen Königtums in verschiedenen Wendungen reden kann, so auch vom Königtum Gottes23, wobei die Spekulation darüber müßig, wahrscheinlich auch unsachgemäß ist, welchem Anwendungsbereich in Israel die traditionsgeschichtliche Priorität gebührt. Ausschlaggebend ist vielmehr die einheitliche Denkweise. Wenn Jahwe den Davidsthron auf ewig gegründet hat (|1D pol., 2 Sam 7,13), dann steht er in Ewigkeit fest (|1D ni., 7,16) 24 . Und wenn der Erdkreis fest ist, dann steht darauf auch Jahwes Thron sicher (beidemal jiD ni.), denn der Garant ist Jahwe selbst obiya „von uran" (Ps 93,1 b. 2). Hier liegt der Gedanke an Schöpfung so fern wie in 2 Sam 7. Nicht jede Urheberschaft weist Jahwe als Schöpfer aus, vor allem nicht dort, wo nicht das Anfangsgeschehen, sondern die Bestandsgarantie akzentuiert ist25. Wieder sind es wenige Texte, die aus dem Exil und anschließenden Epochen stammen, in denen Schöpfung im Sinne der prima creatio mit dem Verb |1D ausgesagt wird. Besonderes Interesse verdient Ps 74,16 im Kontext von V. 12-1726. In diesem exilischen Volksklagelied kann man die Aufnahme des Schöpfungsgedankens in die Psalmtheologie genau verfolgen: Von dem überkommenen psalmtheologischen Vertrauensbekenntnis zu dem König Jahwe (V. 12) geht der Psalm zur Rezeption kanaanäisch tingierter Chaoskampfschilderung über (V. 13-15), die er " Zum irdischen Königtum vgl. 1 Sam 20,31; 2Sam7,13. 16. 26; 1 Kön 2,12.45f.; Ps 89,5. 22. 38; Prov 16,12; 25,5; 29,14; zum Königtum Gottes vgl. Ps 9,8; 93,1 f. (V. l b zitiert in 96,10aß; V. lOaß zitiert in 1 Chr 16,30b); 103,19; in den Umkreis dieser Belege gehören auch 89,3 und 99,4. 24 Beide Stellen gehören mit großer Wahrscheinlichkeit einer der deuteronomistischen Bearbeitungsschichten der Nathanverheißung an (vgl. Veijola, Dynastie S.72ff.; ders. Verheißung S. 62 ff.; anders Mettinger, King S. 51 ff.), sind aber dem Gedankengut nach allemal viel älter. " Hier liegt das semantische Zentrum von ps, das auf verschiedene Personen und Sachen bezogen werden kann; auf den Menschen und sein Werk: Ps 7,10; 10,17; 37,23; 40,3; 90,17; 102,29; 119,113; auf das Heiligtum, den Zion, Jerusalem: Ex 15,17; Jes 2,2 = Mi 4,1; Jes 62,7; Ps 48,9; 87,5; auf Berge allgemein: 65,7 (hier ist ebensowenig eine Schöpfungsaussage intendiert wie in 90,2, wo neben den Bergen Erde und Erdkreis „geboren werden", pu. und 'rn pol. pass.; ähnlich Bernhardt, ThLZ 85 Sp. 824). Koch (TWAT IV Sp. 104) zu |13 hi.: „Genau genommen meint hektn nicht einen schöpferischen Akt als solchen, sondern ein Ausstatten und Zurüsten bereits erstellter Größe." Dem semantischen Zentrum angemessen gibt er das Wort JOB mit „Bestandsgarantie" wieder (Sp. 104. 107 zu Ps 89,15; 97,2). Im Zusammenhang der hiesigen Fragestellung unspezifische Belege: Ps 65,10; 68,10 f.; 78,20; 147,8. u Zur Analyse von Ps 74 s.u. S. 122ff.

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durch betontes πηκ „du (bist es)" zu Jahwes siegreichem Kampf macht und zugleich darin Exoduserinnerung birgt, um dann erst in V. 16 f. zu Schöpfungsaussagen zu gelangen, die ganz im Sinne alter Psalmtheologie mit Eigentumsdeklarationen anheben („dein ist der Tag, ja dein ist die Nacht"), ehe Schöpfung als Konstitutionshandeln in V. 16 b. 17 artikuliert wird. Sie steht am Ende einer langen psalmtheologischen Traditionsentwicklung, wo sie dann auch als selbständiges Theologoumenon vereinzelt Verwendung finden kann 27 . In einer Hinsicht mag man mit gewissem Recht von schöpfungstheologischem Gedankengut in vorexilischen Psalmen sprechen. Wie schon in Zusammenhang mit Ps 74,16 festgestellt worden war, ist in ihnen die Eigentumsdeklaration einige Male belegt, vornehmlich ausgesagt von der Erde ( p x ) und dem Erdkreis (Van) und ihrer bzw. seiner Fülle (kVö)28, wozu sich auch die Vorstellung der Gründung (vornehmlich 70', in Begleitung anderer Verben) gesellen kann. Gedankliches Gefälle und Artikulationsweise sind hierbei jedoch genau zu beachten. Erde und Erdkreis sind als Eigentum Gottes da, welches bestehende Besitzverhältnis auf seine Entstehung hin bedacht wird. Die Tat des Anfangs erklärt den gegenwärtigen Besitz. Dafür ist ein typisches Beispiel Ps 24,1 f. ("ID', parallel |1D pol.), auch in der Hinsicht, daß die Schöpfungsaussage die „irdische" Perspektive nicht überschreitet 29 . Diesem Beleg ist 89,12 im Kontext von V. 9-15 zur Seite zu stellen, wo in ähnlichem Gedankengang wie in 74,12-17 königliche Jahweprädikation (89. 9. 15), kanaanäische Chaoskampfvorstellungen (89,10 f. 14) und Eigentums- (89,12 a) mit Schöpfungsaussagen (89,12 b. 13) vereint sind. Am vergleichbaren Aufbau, an der inhaltlich geweiteten Perspektive (Himmel und Erde, Zaphon/Nord und Süd, Tabor und Hermon) und am Sprachgebrauch (8Ί3 neben 10', V. 13) wird deutlich, daß 89,9 ff. in der Traditionsentwicklung näher bei 74,12 ff. als bei 24,1 f. steht, ohne daß die betreffenden Textelemente ihren Ursprung in der Zeit hätten, aus der die beiden Psalmen in ihrer jetzigen Form stammen: aus dem Exil. Seit dieser Zeit ist der Zusammenhang der Gründung der Erde mit dem Gedanken der prima creatio in mehreren Texten belegt, wenn auch 27 Vgl. D t n 3 2 , 6 (u.a. parallel nap als schöpfungstheologischer Terminus, was neben anderen Indizien auf sehr späte Entstehung hinweist; vgl. auch V. 15 und in V. 18 den schöpfungstheologischen Gebrauch von i V und ί>'Π pol. „gebären" im Unterschied zu Ps 90,2); Jes 45,18; Ps 8,4 (in redaktioneller Erweiterung, s.u. S.230); 119,73 (s.o. S.75). 90 (sehr spät und interessant wegen der rein schöpfungstheologischen Verwendung von ps pol. bei Verlagerung des Bestandsaspektes in das Verb Tay); Prov 8,27. 28 Zu dieser Vorstellung s.u. S.200f. A. 10; 224. 29 Zur Analyse von Ps 24 s.u. S. 196ff.; zu ΊΌ- vgl. W.H.Schmidt, T H A T I Sp.736ff.; Mosis, T W A T III Sp. 677 ff.; Ludwig, JBL 92 S. 350 ff.

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nicht breit und ohne Schwerpunkt in den Psalmen 3 0 . Schließlich ist auch aus dem Gros der " T O ' - S t e l l e n ersichtlich, daß das „Gründen" im Sinne von Schöpfung bereits ein abgeleiteter Sprachgebrauch ist, der seinen Ursprung im Bauwesen hat und infolgedessen vielfach mit der Gründung des Tempels, des Zion und Jerusalems verbunden ist 31 . V o n hierher erklärt sich auch am besten die Applikation von 1 0 ' auf das L o b der Kinder in Ps 8,3, w o der Gedanke des Gotteslobes im Tempel durch Gottessöhne und Versammlung der Heiligen (vgl. 2 9 , 1 f. 9; 8 9 , 6 ) radikal umgeformt wird zum Gotteslob als Tempel Gottes, von ihm selbst aus dem Munde von Kindern gegründet 3 2 . In dieser Verwendung von 10' ist Psalmtheologie in ihrer Entwicklung weit fortgeschritten und ihrem Ursprung doch viel näher geblieben als durch die Rezeption der Schöpfungstheologie. Schaut man auf den Gesamtbefund an Schöpfungsaussagen im Psalter zurück, bleibt festzustellen, daß sie selbst in seiner Letztgestalt nach U m f a n g und inhaltlichem Gewicht nur eine marginale Stellung einnehmen. U n d auch diese haben sie erst seit der Exilszeit inne, die die mesopotamischen Schöpfungsmythen schmerzlich nahebrachte und damit z u r schöpfungstheologischen Auseinandersetzung zwang, ohne daß Psalmdichter dies je zu ihrem eigenen Anliegen gemacht hätten 3 3 . E h e r

30 Jes 48,13; 51,13. 16; Sach 12,1 (bei den letzten drei Belegen parallel das „Ausspannen", itbj, des Himmels); Ps 102,26 (s.o. S . 7 8 ) ; 104,5 (s.o. S . 3 0 f . ; vgl. 1 Sam 2 , 8 b mit η'® „setzen", stellen"); Ps 104,8 (s.o. S . 3 1 f.); Hi 38,4; Prov 3 , 1 9 (parallel das „Befestigen", jis pol., des Himmels); vgl. Jes 40,21 f. 31 TO' (qal., pi., pu., ni., ho.) in Verbindung mit dem Tempel, Zion, Jerusalem: l K ö n 5,31; 6 , 3 7 ; 7 , 1 0 ; Jes 14,32; 2 8 , 1 6 ; 44,28; 54,11; Hag 2 , 1 8 ; Sach 4,9; 8,9; Ps 7 8 , 6 9 ; Esr 3,6. 10-12; 2 C h r 24,27; vgl. Ps 87,1. Wie prägnant der Gedanke des Tempel/Palastbaus selbst da bleibt, wo mit 10' eine umfassende Schöpfungsaussage intendiert wird, ist Am 9 , 6 zu entnehmen (Bau, Π33, eines Obergemaches im Himmel/Gründen eines Gewölbes auf Erden, vgl. Ps 104,1 b. 2 a). Im Unterschied zu 70' wird njs „bauen" in keinem einzigen Psalmenbeleg schöpfungstheologisch verwendet (vgl. Ps 2 8 , 5 ; 51,20; 69,36; 7 8 , 6 9 parallel io'; 89,3. 5, beidemal parallel jw hi.; 102,17; 122,3; 127,1; 147,2).

Zur Analyse von Ps 8 s.u. S . 2 2 7 f f . Zu einem ganz anderen Resultat gelangt Albertz (Weltschöpfung S. 90 ff. 150 ff.), der in den Spuren Westermanns sogar zwei unterschiedliche Schöpfungstraditionen mit je einer Psalmgattung verbunden findet: Das Menschenschöpfungsmotiv soll seinen ursprünglichen Ort in den Klageliedern des einzelnen haben, das Weltschöpfungsmotiv in den Hymnen. Neben der Weltschöpfung soll es eine schmal belegte „Tradition von der Fürsorge des Weltschöpfers" geben (S. 109), die aber nie zu ähnlicher Bedeutung wie die Weltschöpfungstradition im Gotteslob Israels gekommen ist. 32 33

Einmal von der grundsätzlichen Anfechtbarkeit der traditionsgeschichtlichen Unterscheidung von Welt- und Menschenschöpfung abgesehen, kann Albertz sie auf die Psalmen nur dadurch anwenden, daß er das Material durch hymnisch geprägte Formeln vor allem aus den Redaktions- und Editionsschichten der Prophetenbücher vermehrt, ohne hier wie dort die Datierungsfrage zu einem konstitutiven Argumentationselement zu machen. Das statt dessen vorgeführte formgeschichtliche Typisieren birgt die Gefahr in sich,

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prüften sie die theologischen Resultate der Auseinandersetzung, die andere geführt hatten, und übernahmen zögernd und selten, was mit psalmtheologischen Gedanken vereinbar schien. Denn die Schöpfungsvorstellung als prima creatio war ihnen längst geläufig, ohne daß das Anfangsgeschehen ihr theologisches Interesse zu wecken vermocht hätte, da das gegenwärtige Geschehen, die in Kosmos und Kreatur erkennbare und im Tempel erfahrbare heilvolle Zuwendung Gottes (samt den Störungen dieses Verhältnisses), ihre Frömmigkeit und theologische Reflexion ganz und gar ausfüllte. So preist man Gott ob der Fülle der Erde, die als Anteilgabe an der Gottessphäre und zugleich als sein bleibendes Eigentum begriffen wird, und widmet ihrer Gründung - geschweige denn der des Himmels! kaum je einen Gedanken. Mit der Weltschöpfung verhält es sich in den Psalmen offensichtlich nicht analog zum babylonischen Weltschöpfungsepos Enuma elis, sondern zum ugaritischen Baal-Jam-Mythos: „Der Kampf zwischen Marduk und Tiamat erfolgt vor der Schöpfung der Welt. Der Kampf zwischen Baal und Jam setzt offensichtlich die Welt selbst bereits voraus. Der Sieg begründet das Königtum Baal's über die Erde, aber er schafft diese Erde nicht."34 Diese Analogie ist alles andere als zufällig. Sie deutet auf eine traditionsgeschichtliche Verbindung der ursprünglichen Psalmtheologie zu einer Gestalt kanaanäischer Religion hin, wie sie aus Ugarit bekannt ist, von der weit über den Baal-Jam-Mythos hinaus gilt, daß auch in ihr die Schöpfungsvorstellung theologische Randerscheinung geblieben ist. Textschichtungen, die einer literarhistorischen Erklärung bedürfen, zu verkennen oder auch komplexe Kompositionen mit gesuchten Argumenten in eine bestimmte Gattungsgeschichte einzuordnen, wo doch die späte Entstehung der Texte einen solchen Versuch a limine zur Sisyphusarbeit macht. Ferner wird die Bewahrung der Schöpfung von Albertz zu sehr auf den Aspekt der Fürsorge des Weltschöpfers eingeengt (vgl. S. 107 ff.), wodurch die Garantie des Schöpfungsbestandes, die auch ein Akt der conservatio ist, weitgehend aus dem Blick gerät und die sachgemäße Zuordnung der Texte beeinträchtigt. Ist demnach das Bewahrungshandeln Gottes in den Psalmen häufiger präsent, als Albertz annimmt, hätte man demgegenüber doch gerne wenigstens zählbare Psalmenbelege dafür gesehen, daß „unzählige Klagende in ihrer Not Gott immer wieder vorgehalten (haben), daß er sie doch geschaffen habe, um ihn zum rettenden Eingreifen zu bewegen . . . " (S. 124). Albertz selbst ist darüber verwundert, wie selten und eindeutig spät das Menschenschöpfungsmotiv in den individuellen Klagen des Psalters vorkommt (vgl. S. 165). Die vorexilische Geschichte dieses Motivs (vgl. S. 150 ff.) ist weder durch den Hinweis auf den theologischen Nonkonformisten Deuterojesaja noch durch einige prophetische Belege zu sichern, die teils einer unterschiedlichen literarhistorischen (Hos 8,14), teils einer anderen Interpretation (Jer 2,27) bedürfen. Jer 1,5 beweist für die Menschenschöpfung lediglich das, was für die Weltschöpfung auch aus einigen Psalmenstellen (ζ. B. 24,1 f.) hervorgeht: daß beide als Motiv bekannt waren, ohne in vorexilischer Zeit von theologischer Relevanz zu sein. 34 Kaiser, Meer S.76.

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Theogonie und Anthropogonie sind allenfalls in den Epitheta des El als des Vaters und Erzeugers der Götter und der Menschheit rudimentär präsent, aber kein Thema breiter mythischer Entfaltung 35 . Anspielungen auf Kosmogonie fehlen ganz. Dort, wo der Gedanke der Weltentstehung gefaßt wird, gewinnt er ähnlich wie die El-Epitheta, aber nicht in Ugarit belegt, lediglich Gestalt in einem Gottesnamen: p x |p ^K „El, der die Erde geschaffen hat", wahrscheinlich derselbe Name in hethitischer Uberlieferung: Elkunirsa}6. Nicht nur die mangelnde erzählerische Entfaltung des Schöpfungsmotives verrät die Nähe zu ursprünglicher Psalmtheologie, sondern auch die Wahl des Schöpfungsobjektes, das allenfalls genannt wird: die Erde. Sie war in ihrer Fülle von jeher theologisch wahrgenommen worden und folglich auch das erste und einzige Objekt, bei dem man über den Bestand hinaus auch den Ursprung explizit auf einen bzw. den einen Gott zurückführte (vgl. Ps 24,1 f.). Hier konnten sich dann im Laufe der Zeit weitere Schöpfungsvorstellungen angliedern,

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Es handelt sich um folgende Epitheta des El: bnj bnwt „Schöpfer der Geschöpfe" (vgl. U T Nr.483), ab „Vater" (UT Nr. 8), ab snm wohl „Vater der Erhabenen" ( = der Götter, vgl. Pope, EUT S. 32f.); abh djknnh „sein Vater, der ihn schuf" (nämlich Dagan, U T Nr. 1213), Λ adm „Vater der Menschheit" (UT Nr. 83); Götter als bn il „Söhne Eis" (UT Nr. 481), die Gattin Athirat ( = Aschera) qnjt ilm „Schöpferin der Götter" (UT Nr. 2249). Erst spät und selten sind die Verben kwn = ]1D und qnj = njp im Alten Testament schöpfungstheologisch interpretiert worden. Man darf sich durch das enorm unterschiedliche Alter der Texte nicht zu übereilten Frühdatierungen im Alten Testament verleiten lassen. „Mythische Motive tauchen gerade in sehr frühen und sehr späten Texten auf, so daß sie als solche keinen Rückschluß auf das Alter des Textes zulassen" (W. H. Schmidt, Königtum S. 49 A. 19); zu den Schöpfungsprädikationen in Ugarit vgl. ebd. S. 58 ff. und das Resultat S.63: „Wichtiger als die Frage: wer schuf die Welt? ist die andere: wer gibt immer wieder Fruchtbarkeit und Leben? Gegenüber der Erhaltung des Bestehenden scheint in Kanaan die Schöpfung eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben." Dieselbe Einschätzung hat die vorexilische Psalmtheologie bestimmt. Zur Schöpfungsvorstellung in Ugarit vgl. ferner Gese, RM 10/2 S. 61. 97; Kapelrud, StTh 34 S. 1 ff.; Day, Conflict S. 7 ff. (gegenüber seinen Spekulationen über die Verbindung von Chaoskampf und Schöpfung auch in der kanaanäischen Überlieferung und der kanaanäisch bestimmten vorexilischen Psalmtradition erscheint nach den bisherigen Überlegungen Skepsis angebracht); Kloos, Combat S. 70 ff.; Jeremias, Königtum S. 162 f.; aufgrund der Identität von Schöpfung und Zeugung und eines Vergleiches mit Materialien aus den Religionen der Umwelt glaubt hingegen de Moor, FS Gordon S. 171 ff., Eis Schöpferfunktion in Ugarit größeres Gewicht zusprechen zu können. " Vgl. die phönizische und bildhethitische Tor-Inschrift vom Karatepe aus dem späten 8. Jahrhundert, KAI Nr. 26 111,18; vgl. den Kommentar S.42f. (dort auch zwei weitere junge Belege) und die Neubearbeitung von Bron, Karatepe S. 14, 18 mit Kommentar S. 186 f. Die hethitische Form Elkunirsa läßt eine Partizipialbildung auf ö vermuten, so daß der betreffende, in Kleinasien bekannte kanaanäische Mythos nicht ugaritischer Überlieferung entstammen wird, folglich auch dort nicht bekannt gewesen sein muß (vgl. Otten, M I O 1 S. 125ff.; Gese, RM 10/2 S.114f.).

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bis schließlich aus dem Garanten des Schöpfungsbestandes der Schöpfer des Himmels und der Erde geworden war (Gen 14,19. 22) 37 . Ursprünglich, d. h. eine noch näher zu konturierende Gestalt vorexilischer Psalmtheologie hat aber Schöpfung sowenig in ihrem Zentrum gehabt wie ihr kanaanäisches Vorbild, bei dem sich die Rede von Jerusalemer Schöpfungstradition folglich verbietet. Will man zum Nukleus vorexilischer Psalmtheologie vordringen, müssen andere Traditionen auf ihren Stellenwert hin untersucht werden, im Falle Israels doch wohl zunächst einmal die heilsgeschichtlichen.

37 Es gibt einige weitere Belege, die man f ü r einen durchgehenden Gebrauch von njp im Sinne von „erschaffen" in Anspruch nehmen kann (wobei nach Metzger, FS Kraus S. 37 f. 51, der Besitzaspekt aber gleichwertig mitgedacht werden muß): den Eigennamen njp^K (neben weiteren, außeralttestamentlich belegten Namen, vgl. N o t h , I P N S. 172) und ein Ostrakon aus Jerusalem, vielleicht vom Anfang des 7. Jahrhunderts, wo man eventuell den Gottesnamen El ergänzen darf (vgl. Avigad, IEJ 22 S. 195f.). N u r aufgrund der sehr späten Götterkombination (El und Eljon) und Titelform (Himmel und Erde) in Gen 14,19. 22 eine Jerusalemer Weltschöpfungstradition hohen Alters postulieren zu wollen, gehört in den Bereich der Spekulation, die auf kühne Kombination entfernter und disparater religionsgeschichtlicher Parallelen angewiesen ist (gegen Albertz, Weltschöpfung S.159, aber auch, gegen H.Schmid, Z A W 6 7 S. 183 und Stolz, Strukturen S. 149ff., der in bezug auf Gen 14,18-20 von einem „Kompendium jebusitischer Religiosität" spricht, ebd. S. 151).

II. Jahwe, der Gott seines Volkes Israels heilsgeschichtliche Traditionen über Patriarchenzeit, Exodus, Führung in der Wüste, Gesetzgebung am Sinai und Landnahme („Heiliger Krieg") stehen im Zentrum des Hexateuch, des Teiles des Alten Testaments also, der nach gängiger Meinung Anfang und Mitte der israelitischen Gottesbeziehung zum Gegenstand hat. Für alle genannten Traditionen ist der national-religiöse Charakter auf jeder Uberlieferungsstufe konstitutiv. „Jahwe der Gott Israels, Israel das Volk Jahwes" 1 - diese unverbrüchliche Liaison wird nahezu auf jeder Seite des Hexateuch und auch der anschließenden Geschichtsbücher dokumentiert, so daß die Frage, ob auch der Psalter in dieser national-religiös geprägten Gottesbeziehung sein Zentrum habe, geradezu als abwegig erscheinen könnte. Wie jedoch bereits in den einleitenden Überlegungen angedeutet, ist die Belegfrequenz der Gott-Volk-Beziehung in ganzen Psalmdichtungen oder Psalmteilen so überwältigend nicht, als daß ungeprüft die theologischen Voraussetzungen des Hexateuch auch für den Psalter in Anspruch genommen werden dürften. Wie bei der Schöpfungsvorstellung ist auch bei den heilsgeschichtlichen Traditionen die Frage nach Art und Umfang ihres Vorkommens im Psalter zu stellen, gegebenenfalls auch die nach Anlaß und Zeitpunkt ihrer Rezeption. D a in diesem Kapitel ein Problem zur Debatte steht, bei dem neben der Klärung der psalminternen Verhältnisse die Erhellung der hexateuchischen Bezüge entscheidende Bedeutung hat, soll der exemplarischen Analyse von Einzeltexten ein thematischer Abschnitt über die Lade vorgeschaltet werden, einem Kultobjekt, das den faktischen und religiösen Übergang von der Wüste ins Kulturland und seine Tempel mitgemacht hat. Das Wüstenheiligtum aus heilsgeschichtlicher Zeit hat nach wechselvoller Geschichte seinen Weg ins Allerheiligste des Jerusalemer Tempels gefunden, wo es nach herrschender Lehre hohe rituelle Wertschätzung genoß, was aus ihrer Verwendung in Ladeprozessionen, angeblich erschließbar aus einigen Psalmen, hervorgehen soll 2 . Wäre dieser enge Zusammenhang tatsächlich nachzuweisen, wäre der Weg der heilsgeschichtlichen Traditionen in die Tempel des Kulturlandes, allen voran Wellhausen, IjG S.25; vgl. ders., Grundrisse S. 16 ff. Stellvertretend für viele: Kraus S.47. 346 ff. 1056 ff. Im Zusammenhang mit welchem Ritus oder Fest auch immer müssen vor allem Ps 24 und 132 stets die Beweislast tragen. 1

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in den Jerusalemer Tempel, als Stätte(n) des Gotteslobes sehr einfach zu rekonstruieren. Sie wären mit der Lade in ihnen gleichsam deponiert worden, worauf Psalmisten des Tempels sich bald des neuen Schatzes für ihre Dichtungen bedient hätten. So hätte die Lade, lange bevor sie in deuteronomistischer Tradition zum Behälter der Gesetzestafeln wurde 3 , in Israels früher Königszeit wichtige theologische „Zuträgerdienste" geleistet. Die Uberprüfung dieser These wird die Suche nach anderen Erklärungsmöglichkeiten für die Verbindung heilsgeschichtlicher Traditionen mit den Psalmen notwendig machen, die in repräsentativer Textanalyse unternommen werden soll. Dabei wird aus genanntem Grunde der Textbereich des Psalters zum Hexateuch hin überschritten. Und außerdem erfährt die Frage nach dem Stellenwert der israelitischen Heilsgeschichte im Psalter eine korrigierende Ausweitung durch die Texte selbst, die sie auffallend häufig in enger thematischer Verzahnung mit Israels Unheilsgeschichte präsentieren. Es ist diese Verbindung, die eine Klärung der theologischen Bedeutung der Geschichte Gottes mit seinem Volk innerhalb der Psalmtradition erlaubt - allerdings nicht die Beantwortung der Frage, wo vorexilische Psalmtheologie Anfang und Mitte gehabt hat.

1. Heilsgeschichte und Tempelkult: die Lade Herkunft und ursprünglicher Zweck der Lade liegen im Dunkel nicht dokumentierter Geschichte. Im vergleichsweise späten literarischen Kontext von Num 10,29-36 sind jedoch zwei Ladesprüche überliefert, von denen zumindest der erste ihre Funktion als Palladium im Jahwekrieg der Landnahmephase zu belegen scheint: (35b) Steh auf, Jahwe, daß zerstieben deine Feinde, und die dich hassen, fliehen vor deinem Angesicht 1 !

Hinter diesem Spruch steht die Erfahrung Jahwes als mobilen und kriegerischen Gottes, der bei jeder Erhebung der Lade den Seinen kämpfend den Weg bahnt. Nur weil dieser religiös-militärische Einsatz der Lade und der mit ihr verbundenen Gottheit vielfach erprobt war, gab es die Ladesprüche, denn singulare göttliche Waffenhilfe führt 3

Vgl. Perlitt, Bundestheologie S.40ff. Zu Übersetzung und überlieferungsgeschichtlichen Problemen in V. 35 f. vgl. Smend, Jahwekrieg S. 57 f.; anders Stolz, Kriege S.37f. 163 ff.; zur Geschichte der Lade vgl. Zobel, TWAT I Sp. 391 ff. und besonders W.H. Schmidt, Glaube S. 109 ff. Der zweite Ladespruch in V. 36 mag mit seiner Erwähnung Israels etwas spätere Verhältnisse, etwa die Konsolidierungsversuche im Land, widerspiegeln. 1

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nicht zum geschliffen formulierten Appell, der Jahwes siegreichen Kampf als Folge der Ladeerhebung artikuliert. Und dennoch scheint dieser kämpferische Gott, der aus der Wüste kam, erstaunlich schnell in Kanaans Tempeln heimisch geworden zu sein. Wohl schon in Silo ist er mit dem ruhigeren Dasein seiner kanaanäischen Vorgänger bekannt geworden, die er auch mit ihrer Titulatur beerbt hat. So begegnet in den Ladeerzählungen der Samuelbücher nicht mehr der göttliche Kämpfer Jahwe, sondern „Jahwe Zebaoth, der Kerubenthroner" (θ'3Ί3Π at?' ηικαχ mrr, ISam 4,4; 2Sam6,2) über der Lade im Tempel zu Silo, an deren Funktion im Krieg man sich erst nach erlittener Niederlage erinnerte (vgl. lSam 4,Iff.) 2 . Dieser Befund ist verständlich und befremdlich zugleich. Verständlich, weil nach vollzogener Landnahme aus dem Gott, der mitgeht und mitkämpft, zwangsläufig ein Gott, der mitwohnt, werden mußte. Befremdlich, weil sein kriegerisches Wesen und all das, was damit an heilsgeschichtlichen Rettungs- und Führungserfahrungen zusammenhängt, so schnell in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Und gut ein Jahrhundert nach der in den Ladeerzählungen geschilderten Zeit, da die Lade im Allerheiligsten des salomonischen Tempels ihren bleibenden Platz gefunden hat (vgl. lKön 8,Iff.), macht der mit diesem Ereignis verbundene Tempelweihspruch, der erheblich älter als sein jetziger Kontext ist, vollends klar, daß Jahwe im Kulturland ein anderer geworden oder zu einem anderen gemacht worden ist. In lKön 8,12b. 13 sind folgende Rede und Gegenrede von Gott und König zu lesen: 2 Zum Kult in Silo vgl. Mettinger, YHWY Sabaoth S. 128 ff. Mangels eindeutiger Kriterien muß unentschieden bleiben, ob Jahwe in Silo beide Epitheta, Zebaoth und „Kerubenthroner", zugewachsen sind (Eißfeldt, KS III S. 119 ff.; de Vaux, Institutions II S. 129f. 136; W . H . S c h m i d t , Königtum S.89f.; Dietrich, Z T h K 77 S.254f.; Mettinger, Y H W Y Sabaoth S. 113 u. a.) oder ob es nur für das erstere zutrifft, während letzteres eine „Rückprojektion der Verhältnisse des salomonischen Tempels" darstellt (Smend, Jahwekrieg S.59; vgl. Jeremias, FS von Rad S.188 A. 18; Würthwein, Kön S.89ff.; Görg, T W A T III Sp. 1027 ff.; Herleitung beider Titel aus der Jerusalemer Tradition: Stolz, Kriege S. 30 f. 53 f.; weitere Thesen referiert bei Jeremias, Theophanie S. 18 f. A. 4 und R. Schmitt, Zelt S. 128 ff.). Unverkennbar ist jedenfalls Jahwes zunehmende „Seßhaftigkeit": Erst nach einer verlorenen Philisterschlacht wird die Lade ins Feldlager geholt.

Die Kombination der Vorstellung vom „Kerubenthroner" mit der des „Wolkenfahrers" (msiya aai, Ps 68,5) zur Rekonstruktion einer kultischen Theophanievorstellung im Jerusalemer Tempel (unter Zuhilfenahme vieler weiterer Texte: Weiser, Glaube S. 309 ff.) scheitert an der unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen H e r k u n f t der Motive (vgl. Jeremias, Theophanie S. 120 f.; Mettinger, YHWY Sabaoth S. 130 ff.), welche erst spät miteinander verbunden worden sind (Ps 18,11 innerhalb des Nachtrages V. 8-16). Was die Archäologie zur Erhellung des Titels „Kerubenthroner" beizutragen vermag, ist umfassend zusammengestellt und ausgewertet worden von Metzger, Königsthron 1 S. 309 ff.

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Jahwe, der Gott seines Volkes ΐ>ΒΊ5α ΊΗ8 Π1Π' (12b) η ^ ι τ Ti'a »ii'n n « (i3a) D'aViy -|napi> pan (13b) Jahwe hat erklärt, er wolle im Dunkel wohnen. Gebaut habe ich für dich ein Haus der Herrschaft, eine Wohnstatt für dich auf ewig 3 .

Nichtgesagtes und Gesagtes sind in gleicher Weise für den Wandlungsprozeß aufschlußreich und sehr genau zu beachten, denn man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, daß Salomo den Tempelweihspruch nicht ad hoc ersonnen, sondern vorgetragen hat, was seine Priester vorher als theologisches Kommunique sorgsam formuliert hatten. Dabei fällt zunächst auf, daß die Lade im Tempelweihspruch selbst gar nicht erwähnt wird, obwohl ihre Überführung ins Allerheiligste den ganzen vorhergehenden Kontext bestimmt (lKön 8,1-11). Dieser ist aber eindeutig stark deuteronomistisch überformt und angereichert mit priesterschriftlichen Motiven 4 , so daß die prominente Stellung der Lade bei der Tempeleinweihung nach lKön 8,1 ff. nicht unbedingt authentischer Erinnerung, sondern wohl eher später(er) theologischer Wertschätzung entstammt. Ihre Uberführung ins Allerheiligste durch Salomo deshalb ganz in den Bereich der Fiktion zu verweisen, hieße indessen, dem unwahrscheinlichen Programmablauf von lKön 8 eine noch unwahrscheinlichere Theorie entgegenzusetzen. Wem das argumentum e silentio beim Tempelweihspruch nicht als überzeugend erscheint, mag sich an den Wortlaut halten. Da äußert

3 Gegen die Mehrheit der Ausleger (im Anschluß an Wellhausen, Composition S. 268 f., mit verschiedenen Änderungen die meisten Kommentatoren der Königebücher, ferner Hölscher, FS Gunkel S. 164 f.; Clements, God S. 66; Stolz, Strukturen S. 167; ders., Kriege S.32; Görg, Gott-König-Reden S. 135ff. u.a.; phantasievoll: Gressmann, SAT II/l S.211 ff.; zurückhaltend: Eißfeldt, HSAT(K) I S.513; Montgomery, Kings S. 189ff.) ist an der kürzeren Lesart von MT als der ursprünglichen festzuhalten (vgl. Stade/Schwally, Kings S. 101 f.). Der erweiterte Tempelweihspruch in LXX (Ήλιον έγνώρισεν [lukianische Rezension: εστησεν] έν ούρανφ ...) erweist sich nach äußerer Bezeugung und innerer Textkritik als sekundär. Erst einem Späteren erschien Jahwes Wunsch, im Dunkel wohnen zu wollen, ohne die zusätzliche Erwähnung, daß er auch für das Licht Sorge getragen habe, unvollständig. Doch die aus der Ergänzung resultierende Gegenüberstellung: Erschaffung der Sonne als Lichtquelle - Jahwes Wohnen im Dunkel ist sinnentstellend, weil sie die ursprüngliche Funktion des Wolkendunkels als Begleiterscheinung der Theophanie verwischt. Abgesehen von der inhaltlichen Akzentuierung erweisen auch die Stellung des Tempelweihspruches in LXX (nach V. 53) und die absonderliche Syntax (Nachstellung des Subjekts κύριος; ist an der Stelle Stehengeblieben, wo ursprünglicher M T einsetzt) die griechische Lesart eindeutig als sekundär. Zur Übersetzung von ^nj Jl'3 mit „Haus der Herrschaft" aufgrund von Jes 63,15 und ugaritischem zbl I „prince (ship)" (UT Nr. 815) vgl. Noth, Kön S. 172; Mettinger, YHWH Sabaoth S. 117 (und die ebd. A.35 genannte Literatur). 4 Vgl. Würthwein, Kön S.84ff.

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Jahwe einen Wunsch, der ihm nur scheinbar erfüllt wird, wenngleich der Tempelweihspruch den gegenteiligen Eindruck erwecken möchte. Denn Jahwes Willensbekundung, im Dunkel 0>Diy) wohnen zu wollen, entspricht seinem „sinaitischen Wesen" 5 , dem Salomo im Gefolge seiner Jerusalemer Priester durch das Dunkel des Allerheiligsten genügen, ansonsten aber seine Vorstellung von der wohnhaften Gottheit durchsetzen will. Diese entstammt der gemeinaltorientalischen tempeltheologischen Sphäre 6 , Jahwes Wunsch hingegen dem Vorstellungsbereich der Theophanie im Wetter, im Dunkel, womit der Gedanke ständiger Präsenz der Gottheit im Tempel unvereinbar ist7. Im Kern macht Salomo dem „sinaitischen Vorbehalt" Jahwes keine einzige Konzession, sondern offeriert ihm in gut altorientalischer Manier ein herrschaftliches Haus als ewigen Wohnsitz, in dem sich Jahwe mit dem Dunkel des Allerheiligsten als Surrogat zufriedengeben und überhaupt sein unberechenbares, kriegerisches Wesen zügeln muß. Zu einem fürstlichen Tempel-Palast paßt eher ein moderater, irenischer Bewohner. Für Wüstenstaub und Wüstenerinnerungen war im Jerusalemer Temenos kein Platz. Rund zweihundert Jahre später, bei der Berufung Jesajas, die doch wohl nirgendwo anders als im Jerusalemer Tempel stattgefunden hat, ist der Gedanke des göttlichen Wohnens noch viel mehr von dem des königlichen Thronens durchformt worden. Aus Jahwe Zebaoth, dem Kerubenthroner über der Lade, ist films mn' „König Jahwe Zebaoth" geworden (Jes 6,5), der auf einem hohen und erhabenen Thron (kod) sitzt und dessen Schleppe den Tempel-Palast (Vs'n) füllt (6,1). Die Vorstellung des Hofstaates gewinnt in den Seraphen Gestalt, deren s Der Ausdruck „sinaitisches Wesen" soll nicht auf eine Abhängigkeit des Tempelweihspruches von (einer der literarischen Schichten) der Sinaiperikope hindeuten, sondern lediglich darauf, daß der in der ältesten Gestalt der Sinaiperikope in einer Gewittertheophanie erscheinende Jahwe (vgl. Perlitt, Bundestheologie S. 232 ff.) derselbe ist, der auch zu Salomos Zeiten noch im Wolkendunkel (^ony) wohnen möchte ( l K ö n 8,12 par. 2Chr 6,1). Nicht von ungefähr begegnet das Wort ebenfalls im Sinaikontext, wenn auch nicht in den ältesten Überlieferungsbeständen (Ex 20,21; Dtn 4,11; 5,22). ^siy ist in unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen Kombinationen bis in späte Texte hinein für die Sprachsphäre des kommenden Gottes charakteristisch geblieben (2Sam 22,10 = Ps 18,10; 97,2; im Zusammenhang mit dem „Tage Jahwes": Ez 34,12; J o 2 , 2 ; Z e p h l , 1 5 ; vielleicht auch Jer 13,16); in abgeblaßter Bedeutung: Jes 60,2; Hi 22,13; 38,9; vgl. zu Vaiy ferner Noth, Kön S. 182; Mettinger, Dethronement S . 3 2 f f . 4 Vgl. Noth, Kön S. 181 f. und auch Görg, T W A T III S p . l 0 2 6 f . , ohne in Ex 15,17 „eine Alternativposition zur Verherrlichung königlicher Bauleistung" erkennen zu können. Der Zusammenhang mit Ex 15,17 besteht, ist aber wohl anders zu erklären (s.u. S. 108 f.). Zu dem Plural D'sViy „auf ewig" vgl. Jenni, ZAW 64 S.244f. 7 Zur konzeptionellen Spannung zwischen dem altisraelitischen Kultobjekt und Salomos als „Wohntempel gedachtem Gotteshaus" vgl. auch Würthwein, Kön S. 89 ff.

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Trishagion in eine Welt ausgeht, in der bereits vom Tempel her die göttliche Nähe als Tiaa „Herrlichkeit" gegenwärtig ist (6,2f.). Theophaniemotive fehlen nicht (6,4), wenngleich sie ohne Erwähnung des Wetterdunkels (Vsny) auskommen und damit jede Reminiszenz an Jahwes „sinaitisches Wesen" vermeiden. Sie sind hier rein als konvertibles Traditionsgut eingesetzt, wird doch durch sie die Anwesenheit der Gottheit ebenso selbstverständlich im mittelägyptischen Märchen vom Schiffbrüchigen wie in einer sumerisch-akkadischen Ersemma-Liturgie an Inanna angezeigt 8 . Manche der hier genannten tempeltheologischen Elemente mögen auch schon mit Jahwe, dem Kerubenthroner über der Lade, verbunden gewesen sein. Genaueres wird hier im ungewissen bleiben, weil einschlägige textliche Zwischenglieder fehlen. Was in dem Jesaja-Text auf jeden Fall neu zutage tritt, ist die Präsentation des Tempelbewohners Jahwe ohne Erwähnung der Lade, statt dessen aber im kanaanäisch bis gemeinaltorientalisch bekannten Königsornat. Die Lade und die mit ihr verbundenen Erinnerungen an Israels Frühzeit sind bei Jesaja jedenfalls in ein ganz anderes Dunkel getaucht als dasjenige, das Jahwe nach Auskunft des Tempelweihspruches einstmals lieb gewesen wäre. Dieser Eindruck wird durch die Verkündigung Ezechiels bestätigt, obwohl doch sein Bestreben, Jahwes Präsenz von seiner Jerusalemer Wohnstatt unabhängig zu machen und die Exilierten seiner Nähe zu versichern, die Rezeption alter Ladetradition nahegelegt hätte. Doch davon ist bei Ezechiel nichts zu finden. Er erwähnt die Lade sowenig wie irgendein anderer Prophet. Seine kritische Zurückhaltung gegenüber manchen Zügen der Tempeltheologie - zum Beispiel der Königsprädikation Jahwes 9 - führt nicht zu einer Konzentration auf Israels heilsgeschichtliche Vergangenheit. Ist sie Ezechiel auch als Credendum bekannt und macht er Gebrauch von Exodus und Wüstenwanderung in Anklage und Zuspruch (Ez 20), so meistert er die theologische Krise seiner Epoche doch nicht in Rückbesinnung auf den mitwandernden Ladegott der vorstaatlichen Zeit, sondern ganz in den gedanklichen Bahnen modifizierter Tempeltheologie: Die „Herrlichkeit" ( n a a ) , Sym-

' Zum „Schiffbrüchigen" vgl. Blackman, Stories S.43 Ζ. 65 ff.; Brunner-Traut, Märchen S.6; Lichtheim, AEL I S.212; zum Ersemma an Inanna vgl. Cohen, Ersemma S. 132,22 f. Beide Beispiele sind aus ungezählten willkürlich herausgegriffen. Es versteht sich von selbst, daß die im Alten Testament besonders bekannte Verbindung von Sinai und Theophanie sachgemäß, nicht aber „naturgemäß" ist. Das hätten die Vulkansucher bereits bei Pedersen lernen können: „A search might with equal justice be instituted for the mountains that melted like wax when Yahweh passed over the hills of the earth" (Israel III-IV S. 662). ' Vgl. Zimmerli, Ez S. 80*; in diesen Zusammenhang gehört auch die Vermeidung des Epithetons „Jahwe Zebaoth" und des Namens „Zion" (vgl. ebd. S. 81*).

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bol der Gottesnähe im Tempel, wird mobil und begibt sich nach Osten in die notvolle Gottesferne der Exilierten (Ez 9-11). Und nicht nur die "mn-Vorstellung wird weitergedacht, sondern auch das Verhältnis von Heiligtum und Gottespräsenz erfährt eine neue theologische Akzentuierung. In einer kühnen spiritualisierenden Identifikation erklärt sich Jahwe selbst „ein wenig zum Heiligtum" (ayn tnpöV, Ez 11,16) für die Exilierten und bestätigt zugleich mit iay» das Jerusalemer Heiligtum als den einzigen Ort seiner vollgültigen Präsenz 10 . Tut Jahwe schließlich in Ez 43,7 seine Absicht kund, im Tempel, seiner Thronstatt, dem Ort seiner Fußsohlen, auf ewig wohnen zu wollen, so sind die gedanklichen Anleihen aus Tempelweihspruch und Jesaja-Vision unverkennbar. Mit dieser Sicht der Dinge ist Ezechiel kein Einzelgänger, sondern Repräsentant breiter und zu seiner Zeit bereits alter tempeltheologischer Denktradition. Folglich gibt es aus der Exilszeit manche Klage über die Zerstörung des Tempels, jedoch keine einzige über den Verlust der Lade11. Sie ist wohl nicht erst im 6. Jahrhundert vom Strudel der Zerstörung mit fortgerissen worden. Vielmehr spricht das bereits vorhergehende jahrhundertelange Schweigen über sie dafür, daß sie bald nach der Reichsteilung aus dem Tempel entfernt worden ist, weil sie sich als religiöses Einheitssymbol nicht bewährt hatte und die mit ihr verbundenen Traditionen aus Israels Frühzeit entweder nicht in hohem Ansehen standen oder zur eigenen Behauptung der Lade nicht bedurften 12 .

10 Vgl. den sorgfältigen Grundriß des neuen Tempels in Ez 40,1-27. 47-49; 41,1-4 (zur Textabgrenzung vgl. Zimmerli, Ez S.980 ff.) und die Rückkehr der göttlichen „Herrlichkeit" (naa) in 43,1-12 (vgl. ebd. S. 1070 ff., wobei gegenüber der hinter 43,7 vermuteten Existenz der Ladevorstellung Skepsis am Platze zu sein scheint [ebd. S. 1079 f.]); vgl. auch 44,1 f. (vgl. ebd. S. 1107 ff.). 11 Vgl. Noth, TB 6 S. 185 f.; Klagen über die Zerstörung des Tempels: Jes 63,18; 64,9f.; Ps 74,1-8; 79,1; Thr 1,6. 20; 2,7 u.ö. 12 Man wird damit rechnen müssen, daß es außer den behandelten Texten und den Ladeerzählungen in lSam4-6; 2Sam 6 (wozu man auch noch lSam3,3 und 2Sam 11,11 zählen mag) wohl keine weiteren vorexilischen Belege für die Lade gibt. In Jos 3 f. ist sie so sehr in späte Traditionen verwoben, daß die Rekonstruktion einer alten Ladetradition im Zusammenhang mit dem Jordanübergang nicht überzeugen kann. Sie ist hier ebenso junges Traditionselement wie in Jos 6 (bei diesem Text in Ubereinstimmung mit Noth, Jos S. 34 ff.; anders zu Jos 3 f. ebd. S.26ff.); zu Jos 7,6 vgl. Veijola, Klagegebet S. 299 ff.; zu Jos 8,33 vgl. Smend, FS von Rad S.504 A. 37. Ferner gehören in den Bereich der deuteronomistischen und postdeuteronomistischen Tradition die Belege Num 14,44; Dtn 10 passim; 31,9. 25f.; Ri 20,27; lSam 14,18; lKön2,26; 3,15. Die noch späteren priesterschriftlichen und chronistischen Belege brauchen hier nicht genannt zu werden. Zu 2Sam 15,24-29 vgl. Würthwein, Erzählung S.43 und Veijola, Dynastie S.44f. Die Lade ist im ursprünglichen Text wohl überhaupt nicht vorgekommen (so Würthwein), ohne daß es ratsam wäre, V.24 und 29 in toto als Zusatz zu betrachten. Zu Ps 132,8 s.u. S.94f.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

Wenn es in Thr 2,1 heißt: Ach, es umwölkt in seinem Zorn der Herr die Tochter Zion, hat geworfen vom Himmel zur Erde Israels Pracht und nicht gedacht des Schemels seiner Füße am Tag seines Zornes,

so ist mit v^jt Din „Schemel seiner Füße" jedenfalls nicht die Lade gemeint13, sondern der Jerusalemer Tempel als ganzer, dem hier in drei assoziationsträchtigen Bildern die große Ehre und Bürde altorientalischen Tempelglaubens zuteil wird. Der Tempel ist irdische Wohnstatt der himmlischen Gottheit, ein tempeltheologisch notwendiges Paradox, das verschiedene Bilder erträglich und verständlich zu machen suchen 14 . In Thr 2,1 findet sich ähnlich wie in Jes 6 der Rückgriff auf den Vorstellungsbereich des königlichen Thronens, das nun in die himmlische Sphäre entrückt ist, an dem die Gläubigen aber dennoch im Tempel gleichsam zu Jahwes Füßen real Anteil haben. Und wie nach Jes 6,3 Gottes 1133, seine herrliche Wirklichkeit, die Welt durchwaltet, so ist nach Thr 2,1 Israels mxsri, Israels Herrlichkeit als Anteilgabe an der göttlichen Herrlichkeit, man könnte auch sagen: Israels Lebensgrund und Identität, im himmlisch-irdischen Tempel-Palast aufbewahrt, genauer: nicht mehr aufbewahrt, weil von Jahwe im Zorn verworfen. Die Threni beklagen Israels Fall aus göttlicher Gnade ganz in den Kategorien einer Tempeltheologie. In diesen Zusammenhang gehört auch Ps 132, das einzige Lied des Psalters, das die Lade expressis verbis erwähnt (V. 8) und sie zudem in größte Nähe (die möglicherweise Identität anzeigen soll) zum „Schemel seiner Füße" stellt (V. 7). Diese Fülle des Ersehnten haben sich manche Exegeten nicht entgehen lassen und den Text zum Punctum saliens der Bedeutung der Lade im Jerusalemer Festkult gemacht 15 . Doch

13

So Kraus, Thr S.42; zurückhaltender Rudolph, ΚΑΤ XVII/1-3 S.222. Es gibt keinen einzigen Beleg, in dem der „Schemel der Füße" mit der Lade identifiziert würde, und nur einen einzigen, der diese Kombination überhaupt nahelegt (Ps 132,7f.). Der Ausdruck kommt aus dem Vorstellungsbereich des königlichen Thronens, wie Jes 66,1; Ps 99,5 und 110,1 noch gut erkennen lassen (vgl. auch Jes 60,13 und Janowski, JBTh 2 S. 172 f.). l C h r 2 8 , 2 stellt „die Bundeslade Jahwes und den Schemel der Füße unseres Gottes" aufzählend nebeneinander und bestätigt damit lediglich die Fähigkeit der Chronik zur Kompilation alttestamentlicher Lesefrüchte ohne Rücksicht auf die betreffenden historischen Verhältnisse. Die Chronik hat hier ebenso allein ihre eigenen Gedanken wie im folgenden Vers (28,3), nach dem David als ein Irinnen „Krieger" zum Tempelbau ungeeignet ist, während nach dem sehr viel älteren Text Ex 15 der nan^a β ή und Tempelerbauer Jahwe zum ewigen Thronen in den Jerusalemer Tempel einzieht (vgl. 15,3.17f.). 14 Vgl. auch Ps 11,4 und sogar Mt 23,16-22; Belege für die Vorstellung aus der akkadischen Gebetsliteratur bei Mayer, UFBG S. 178 f. 15 Um nur zwei Repräsentanten zu nennen: Kraus, Königsherrschaft S.51ff.; ders., Psalmen S. 1053ff. und Cross, Myth S.94ff. 232ff.

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hier ist Nüchternheit am Platze. Wen das singulare Vorkommen der Lade im Psalter noch nicht skeptisch macht, sollte sich durch die deuteronomistische Theologie und Sprache von Ps 132 warnen lassen, die nicht einfach als späte Redaktion eines alten Textes zu subtrahieren sind 16 . In diesem Psalm vermag ein spätexilischer Dichter, der beides kennt, die deuteronomistische und die Psalmtheologie, Hoffnung für die düstere Gegenwart (beachte den Einsatz mit mir HDt „gedenke, Jahwe!" in V . l , vgl. 74,2. 18.22; 89,48. 51; 137,7; Thr3,19; 5,1) aus der kodifizierten lichten Volksgeschichte der Davidszeit zu schöpfen, die er anhand von 2Sam 6 f. nachdichtet. Die Hoffnung auf einen neuen Tempel beseelt ihn so sehr, daß ihm selbst der Ladespruch Num 10,35 als Aufbruchbefehl zur nnua, zur „Ruhestätte" (des Tempels) gilt (Ps 132,8). Und in Erinnerung an die Gottesrede im Tempelweihspruch Salomos (lKön 8,12b) sagt Jahwe auch in Ps 132,14 sein Urteil zum Tempel, nun aber ohne „sinaitischen Vorbehalt", sondern so, wie es sich ein tempelloser Tempeltheologe des 6. Jahrhunderts denkt, der die theologische Depression überwunden hat: D i e s ist m e i n e R u h e s t ä t t e auf e w i g ; H i e r will ich w o h n e n , d e n n das habe ich b e g e h r t .

Aus Ps 132 sind demnach keine Kenntnisse über die Wertschätzung der Lade (und der mit ihr verbundenen heilsgeschichtlichen Traditionen) im Tempelkult der vorexilischen Zeit zu gewinnen, viele hingegen über ihre Bedeutung bei der Uberwindung der Krise des Exils und der Reformulierung der Tempeltheologie im ausgehenden 6. Jahrhundert. Für sie ist die Lade - das spezifische Kultobjekt der kanonischen Frühgeschichte des Volkes von den Anfängen bis zu David/Salomo - ebenso ein attraktiver Anhaltspunkt theologischer Neubesinnung gewesen wie auf andere Weise für die Deuteronomisten und die Priesterschrift. Was ist in dem bisher verfolgten Verlauf der israelitischen Religionsgeschichte geschehen? Hat sich in ihr - mit einem Terminus aus der arabischen Grammatik geredet - die „uneigentliche Annexion" des Wüstengottes durch die Tempelreligion vollzogen? Ist der in Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme rettende und führende Jahwe im Vollzug zunehmender Seßhaftigkeit zu einem kanaanäischen Tempelgott geworden, an dem nur noch der Name israelitisch ist17? Oder sind die genuin israelitische heilsgeschichtliche und die kanaanäisch tingierte kultische Theologie getrennte Wege gegangen - jene den reinen Jahweglauben bewahrend, diese ihn verratend - , bis prophetische Kritik und Exil die Rückkehr zu den Anfängen bewirkten? Die alternativen Denkmöglichkeiten, aus denen sich elegante Thesen 16 17

Vgl. Mettinger, King S. 256 f. und vor allem Veijola, Verheißung S. 72ff.; s. u. S. 163. Berührungspunkte bestehen mit den Überlegungen H . H . Schmids, Welt S.46. 154.

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formen ließen, erweisen sich in Konfrontation mit dem komplizierten Textbefund als zu einfach, wenngleich beide Wahrheitsmomente enthalten. Es wird als nächstes zu zeigen sein, daß die vorexilische Tempeltheologie sehr wohl die Erinnerung an Israels Heilsgeschichte bewahrt hat, aber ohne die theologische Hilfestellung der Lade, vielmehr auf eigene Weise und nicht im Zentrum ihrer eigenen Frömmigkeit und theologischen Denkbemühung. Dort hat sie erst von der Exilszeit ab eine wichtige Stellung eingenommen, die indessen ihrerseits keineswegs zur Verbannung der Tempeltheologie aus Israels religiösem Bewußtsein geführt hat, sondern prägende Denkform geblieben ist. Ein sicheres Resultat aber haben die bisherigen Überlegungen erbracht: daß die Lade nicht als die entscheidende Vermittlerin zwischen Heilsgeschichte und Tempelkult in Frage kommt. Welche literarische Gestalt der Kontakt beider theologischer Sphären in vorexilischer Zeit annehmen konnte, soll nun anhand von Ex 15 betrachtet werden.

2. E x o d u s und Tempelberg: E x 15 Iba

Ich will Jahwe singen, eine herrliche Tat 1 !

ιbß

Roß und Streiter warf er ins Meer.

2aa 2aß

Mein Ruhm und Lied ist Jah, er ward mir zur Hilfe.

2ba 2bß

Dies ist mein Gott, ich will ihn preisen, den Gott meines Vaters, ich will ihn erheben 2 .

1 Die Übersetzung der paronomastischen Konstruktion ist von Th. Mann (Das Gesetz S. 659) übernommen worden, da sie mit ihrem gedrängten Nominalstil die Konzentration des hebräischen Ausdruckes am besten wiedergibt. Die Anzahl der Beiträge zur Auslegung von Ex 15 ist nur schwer überschaubar. Nützliche Zusammenstellungen der Literatur sind in RSP III, III la-ww, bei Eißfeldt, EinlAT S.279. 1000 und bei W.H. Schmidt, Erträge S.65ff. 147 f. zu finden. Hinzuweisen ist vor allem auf die sorgfältige Studie von Foresti, Lat.NS 48 S. 41 ff., dessen Darlegungen genaue Beachtung verdienen. 2 Bei Π' mm „Mein Lied ist Jah" dürfte es sich um eine sog. Sandhi-Schreibung handeln, bei der der auslautende Vokal des vorangehenden Wortes mit dem Anlautvokal des folgenden verbunden wird. Ex 15,2 a wird in Jes 12,2 b und Ps 118,14 wahrscheinlich zitiert; letztgenannter Psalm nimmt auch in V. 15 f. 21. 28 auf Ex 15 (seinem anthologischen Charakter gemäß auch auf einige andere Psalmen) Bezug (andere Bewertung bei Foresti, Lat.NS 48 S. 51. 54f.). Das Verb irmtt „ich will ihn preisen", ein Hapaxlegomenon, wird man nicht in eine Form des bekannten Verbs nv hi. „loben" ändern dürfen, denn die Textüberlieferung, die in Ex 15 insgesamt vorzüglich ist, bietet dazu keine Handhabe. Die Ubersetzung ist je-

Exodus und Tempelberg: Ex 15

3a 3b

Jahwe ist ein Krieger, Jahwe sein Name.

4act 4aß

Pharaos Wagen «und sein Heer» 3 warf er ins Meer.

4ba 4bp

Seine besten Soldaten wurden im Schilfmeer versenkt 4 .

5a 5b

Fluten bedeckten sie, sie fuhren in die Tiefen wie ein Stein5.

6ao 6aß

Deine Rechte, Jahwe, sich machtvoll verherrlichend,

6bα 6bß

Deine Rechte Jahwe, zerschmettert den Feind'.

7aa 7aß

In der Fülle deiner Majestät schlägst du deine Widersacher nieder.

7ba 7bp

Entsendest du deinen Zorn, verzehrt er sie wie Stroh.

97

doch durch das parallele o n pol. „erheben" und durch die Wiedergabe in L X X (δοξάσω) und Vulgata (glorificabo) gesichert. Ex 15,2b wird in vereinfachter Form in Ps 118,28 aller Wahrscheinlichkeit nach zitiert. M a n sollte sich in Ex 15,1 f. nicht vorschnell zur Assoziation weiterer heilsgeschichtlicher Inhalte verleiten lassen, so etwa bei '3« 'Π^κ „der Gott meines Vaters" zum G e d a n ken an den Vätergott der Patriarchen (vgl. Gen 31,5. 42; dazu auch kritisch W. H . S c h m i d t , Erträge S.69; vgl. jedoch Gese, R M 10/2 S. 104ff.). Nichts liegt ferner als diese Verbindung, da die Einleitung hier wie auch sonst mit den terminologischen Vorgaben kanaanäisch-hebräischer Psalmensprache arbeitet. So scheint in der Parallelität von 'Vk und '3K 'ϊι^κ eine besondere Apostrophierung des persönlichen Gottes vorzuliegen, wie sie in ähnlicher Weise auch sonst in den Psalmen belegt ist (vgl. Ps 22,2 f.). Dabei wurzelt das Epitheton '3K 'Π^κ in breiter altorientalischer Tradition mit vielen inhaltlichen Nuancierungen (vgl. K T U 1.47,2 f.; 1.118,1 f. und dazu M . Dietrich et al., U F 6 S. 450 f.; vgl. ferner Borger, ABZ Suppl. S.436). Zu ty „Macht, R u h m " als Gotteslob in Ex 15,2a vgl. Ps 29,1; zur Parallelität von mar und ry vgl. K T U 1.108 Rs.24, wo in einem Gebet der Machtaspekt beider W o r t e zum Tragen kommt (vgl. de M o o r , U F 1 S. 175 f.; R S P 1,11 414); zu πί'ρχ „ich will singen" in Ex 15,1b vgl. Gunkel/Begrich, Einleitung S.38 und K T U 1.24, 1.40 ( T O I S.383. 391. 396). 3 ιϊ"πι „und sein H e e r " ist eine aufgrund von Ex 14,4. 9. 17. 28 (P) nachgetragene Glosse. 4 Zu ηιο ο' „Schilfmeer" vgl. W. H . Schmidt, Erträge S.66ff.; als ältere Belege der P r o saüberlieferung kommen Ex 10,19; 13,18 in Betracht. 5 Zum Tempusgebrauch in Ex 15 s.u. S. l l l f . Auf V. 5 b wird in N e h 9,11 angespielt (gemischt mit Elementen aus Ex 14,22 f. 29 P). 6 Z u r Form m u j „verherrlichend" vgl. BL S.526 /; das Verb pjn ist nur noch Ri 10,8 belegt.

98

Jahwe, der Gott seines Volkes

8aa

Durch das Schnauben deiner Nase wurden die Wasser gehäuft,

8aß 8b

Standen wie ein Wall die Flüsse, gerannen die Urfluten mitten im Meer 7 .

9aa

Spricht der Feind: Ich will nachjagen, einholen,

9aß 9ba

Beute verteilen, meine Gier stille sich an ihnen.

9bß 9by

Will mein Schwert rücken, meine Hand vernichte sie.

ίοaa lOaß

Du bliesest drein mit deinem Wind, das Meer bedeckte sie.

ioba iobß

Sie sanken ab wie Blei in gewaltigen Wassern.

11 aa

Wer ist wie du unter den Göttern, Jahwe?

π

Wer ist wie du, sich heilig verherrlichend?



nbo nbß 12a 12b

Du strecktest aus deine Rechte, da verschlang sie die Erde.

i3aa

Du leitetest gnädig das Volk, das du erlöst hast 8 .

13aß i3bo

13bß

Du führtest (es) machtvoll zu deiner heiligen Wohnstatt.

Ha 14 b

Die Völker hörten('s und) zitterten, Krämpfe ergriffen die Bewohner Philistäas.

i5aa

Damals erschraken die Häupter Edoms, die Mächtigen Moabs - es ergriff sie Zittern.

I5aß

7

Furchtbar an Ruhmestaten, Wunderwirkend.

Mit my ni. „gehäuft werden" liegt das zweite Hapaxlegomenon des Textes vor, mit „sinken" in V. 10 das dritte. Die semantische Bestimmung ist aber beidemal unproblematisch. 13 „Wall" ist ein recht seltenes Wort, so daß seine Verwendung in Ps 78,13 eine Anspielung auf Ex 15,8 sein wird (beidemal υ 103 „wie ein Wall"). Nicht von ungefähr sind auch in Ps 78,15 f. die mann „Urfluten" und d'Mu „Flüsse" genannt (vgl. Ex 15,8 und zum Ganzen Foresti, Lat.NS 48 S.59). * Zum Gebrauch von 1t als Relativpronomen vgl. G K § 138 g.

Exodus und Tempelberg: Ex 15

15b

99

Es bebten alle Bewohner Kanaans.

i6aa 16 a β

Es überfielen sie Schrecken und Entsetzen, wegen der Größe deines Armes wurden sie starr wie Stein,

16ba i6bß

Bis hindurchzog dein Volk, Jahwe, bis hindurchzog das Volk, das du erworben.

i7aa

Du brachtest sie hin und pflanztest sie ein auf dem Berg deines Erbbesitzes,

i7aß

Der Stätte deines Thronens, die du, Jahwe, gemacht,

i7ba Dem Heiligtum, Herr, 17 b β das deine Hände gegründet. 18 a 18b

Jahwe sei König auf immer und ewig!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.312f.).

Ex 15 enthält im Schilfmeerlied (V. l b - 1 8 ) und Mirjamlied (V.21b) Exoduspoesie, Dichtungen über die wunderbare Rettungstat, die bereits in Ex 14 mehrere Stimmen in Prosa bezeugt haben. Die im Tetrateuch übliche Quellenfrage an Ex 15 heranzutragen, ist müßig, weil bei poetischen Texten die Quellenkriterien regelmäßig versagen. Hingegen bedarf das Problem einer Lösung, welchem der beiden Lieder im Kontext Priorität gebührt, denn wegen der Identität von V. 1 b und 21b (abgesehen von der einleitenden Verbalform) ist es unvorstellbar, daß beide Dichtungen zugleich ihre jetzige Position erhalten haben. Die allgemeine Geneigtheit geht dahin, das höhere Alter bei V. 21 b zu vermuten und diese Annahme auch auf die Position im Kontext auszudehnen, selbst wenn die jüngeren Elemente in der Rahmung des Mirjamliedes wahrgenommen werden. Es spricht jedoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß entgegen der communis opinio das Schilfmeerlied eher in den Exoduskontext eingearbeitet worden ist als das Mirjamlied mit seiner Rahmung. Die redaktionelle Einleitung des Schilfmeerliedes in V. 1 a enthält keine ausreichenden Anhaltspunkte f ü r die Zuweisung zu einer bestimmten literarischen Schicht und ist damit so gut wie undatierbar. Sie ist wohl lediglich in dem Moment, da sie mit dem Schilfmeerlied in den jetzigen Kontext gestellt wurde, um Israel-Elemente erweitert worden ('331 VRLTF' „und die Israeliten", ΠΒΚΊ „und sie sprachen") 9 . ' Eine analoge kontextbedingte Erweiterung hat Ri 5,1 durch „und Barak, der Sohn Abinoams", erfahren.

100

Jahwe, der Gott seines Volkes

Mit '3 „denn" erfolgt in V. 19 ein ganz lockerer und der Intention nach unklarer Anschluß an das vorhergehende Schilfmeerlied, wobei sich die summarische Reprise der Exodustat literarisch als eine Kompilation priesterschriftlicher Formulierungen aus Ex 14,23. 28 f. erweist. Ist dies auch schon früher erkannt worden, haben sich in Ex 15 doch viele Exegeten durch die V. 19 von V. 20 trennende Parascheneinteilung dazu verleiten lassen, V. 19 als zum Schilfmeerlied gehörigen redaktionellen Abschluß zu begreifen. Dann bleibt jedoch seine raison d'etre unerklärt, weil er nur zum wiederholten Male längst besser Gesagtes enthält. Bezieht man hingegen V. 19 auf den folgenden Text V. 20 f., kommt der Anlaß der Komposition sofort zum Vorschein. Denn nur um der Siegesszene in V. 20 f. willen wird die Exoduskulisse in V. 19 noch einmal aufgebaut. Auch literarisch ist dieser Zusammenhang wahrscheinlich, da V.20 in ähnlicher Weise wie V. 19 aus späten und konvertiblen Traditionselementen komponiert ist: Mirjam als Aarons Schwester gehört in die priesterschriftliche Tradition (vgl. Num 26,59), Mirjam als Prophetin scheint Debora nachgebildet worden zu sein, und die Verbindung der Siegesszene mit der Exodustat ist ohnehin ein Anachronismus, denn sie setzt die Existenz von Städten voraus, aus denen die Frauen den siegreichen Kämpfern entgegenzuziehen pflegten (vgl. lSam 18,6f.) 10 . Was einen Redaktor zu dieser Komposition veranlaßt hat, liegt auf der Hand: Er hat das Mirjamlied unterbringen wollen, welches ihm als prominentes Traditionsgut vertraut war und im genauen Wortlaut im Exoduskontext nicht fehlen sollte, obwohl doch die Einleitung des Schilfmeerliedes in V. 1 b - vom Mirjamlied ohne Frage traditionsgeschichtlich abhängig - bereits den Siegesruf in nur unerheblich variierter Form enthielt. Aber das reichte nach Meinung dieses Redaktors offenbar nicht aus, weshalb er für die gleichsam kanonische Form des alten Siegesrufes einen eigenen Kontext mit sehr jungen Formulierungselementen schuf 11 . Nicht primär die Kürze des Siegesrufes spricht für sein vergleichs10 Vgl. Noth, Ü P S. 197 ff.; ders., Ex S.97f. Es geht wahrscheinlich schon zu weit, Mirjam aufgrund des Prophetinnentitels als eine „südjudäische Kollegin" Deboras (UP S. 199) oder als Ekstatikerin (Ex S.98) zu interpretieren. 11 Eine andere Redaktionsanalyse bei Foresti, Lat.NS 48 S.67 ff. Die sprachlichen Kriterien vermögen aber wohl nicht die Identifikation von Deuteronomisten als Redaktoren zu gewährleisten (Einfügung des Mirjamliedes durch DtrH in Gestalt von 15,20 f.; Einfügung und Erweiterung [15,1. 4f. 19] des Moseliedes durch DtrN). Nicht ganz zufriedenzustellen vermögen auch die unterschiedlichen Bestimmungen der redaktionellen Elemente durch Zenger (SVT 32 S. 461 ff.: V . 2 - 4 . 8-10. 13-18) und Jeremias (Königtum S.98 f.: V.2. 4f. 15b). Im folgenden soll eine andere Lösung vorgeschlagen werden.

Exodus und Tempelberg: Ex 15

101

weise hohes Alter, sondern - freilich nicht ohne Beziehung zum formalen Aspekt - seine strikte inhaltliche Konzentration auf die entscheidende Tat des Retters Jahwe, auf die die Sänger mit dem Jubelruf antworten. Er kommt mit wenigen Worten aus: hymnischer Imperativ, Nennung des Adressaten, hymnisches '3 „denn" mit folgender Charakterisierung des Handelns Jahwes, Konstatierung des Sieges über die Feinde, wobei nicht einmal Namen wie Pharao oder Ägypten gebraucht werden 12 . Die Gestaltung des Jubelrufes ist so prägnant, daß er sicherlich nicht als spontane Antwort auf die Rettungserfahrung gelten kann 13 . Diese Einschätzung wird auch durch seinen theologischen „Uberschuß" im Begründungssatz bestätigt: πκι nm '3 „eine herrliche T a t " , wörtlich: „denn hoch erhob er sich". Obwohl das Begründungselement in der Gattung des Hymnus obligatorisch ist, verdient seine Existenz selbst in dieser kurzen Formel Beachtung, zumal der Ausdruck sorgfältig gewählt zu sein scheint. Die angemessene Ubersetzung ist allerdings schwierig, da ΠΚ1 „sich erheben" mit Jahwe als Subjekt nur hier belegt ist 14 . Hingegen fällt von den nominalen Ableitungen der Wurzel mxj, pKJ, niRa u.a. Licht auf den theologischen Gebrauch des Verbs in Ex 15,21. Die genannten Begriffe gehören nicht zur „Alltagssprache" 15 , sondern bezeichnen als theologische Termini in Prophetie, Weisheit und den Liedern des Psalters überwiegend zweierlei: sowohl göttliche Hoheit und Herrlichkeit als auch menschlichen Hochmut und Selbstherrlichkeit. ΠΚ3 mit seinen Ableitungen fügt sich also genau in das große Wortfeld ein, in das auch n n „Hoheit, Majestät", n n „Pracht, Glanz", 7133 „Herrlichkeit, Ehre" und andere Termini in ihrer tempeltheologischen Verwendung gehören 16 . Auf diesem Hintergrund wird nun die Begründung des Lobrufes in Ex 15,21 verständlich und damit auch übersetzbar, nsj nsj '3 ist von L X X mit ένδόξως γαρ δεδόξασται und von Vulgata mit „gloriose enim magnificatus est" exakt im Sinne einer Verherrlichungsaussage verstan12 Zur Analyse des Textes vgl. Crüsemann, Studien S. 19 ff., ohne die These vom Imperativischen Hymnus als Grundform des israelitischen Hymnus zu übernehmen, da er über Ex 15,21 b hinaus kaum einen weiteren einschlägigen Text aus vorexilischer Zeit für seine Rekonstruktion reklamieren kann. 13 Vgl. ebd. S.81 f.; gegen Kühlewein, Geschichte S.20, der den Ruf als „spontane Antwort der eben Geretteten auf die Hilfe Gottes" bewertet. 14 Ex 15,1 = 15,21; sonst nur noch in verschiedenen Bereichen für eine nach oben gerichtete Bewegung: E z 4 7 , 5 ; Hi 8,11; 10,16; vgl. außerdem Sir 10,9, welche Stelle den von den nominalen Derivaten her bekannten pejorativen Gebrauch auch für das Verb belegt; vgl. zu dem Verb und seinen Derivaten Stähli, T H A T I Sp.379ff.; Kellermann, T W A T I Sp. 878 ff. 15 Vgl. Kellermann, T W A T I Sp.880. " S.u. S.220ff.

102

Jahwe, der Gott seines Volkes

den worden: „denn Herrliches hat er vollbracht" und damit sich selbst verherrlicht. Die Prädikation hat ihren „Sitz im Leben" ursprünglich nicht in der Darstellung des Jahwekrieges gehabt, sondern in der Preisung der Präsenz Jahwes im Tempel. Dadurch erhält Noths Erwägung, daß dieser Jubelruf „im Rahmen gottesdienstlicher Gelegenheiten immer wiederholt worden ist"17, eine zusätzliche Stütze. Die älteste Nachricht über das heilsgeschichtliche Urdatum der Errettung am Schilfmeer ist somit in einer Weise gestaltet, wie sie ohne die Existenz eines Jahwekultes an Tempeln im Kulturland schwer vorstellbar wäre 18 . Der im kleinen Hymnus Ex 15,21b sich nur partiell manifestierende Einfluß tempeltheologischer Elemente ist im großen Hymnus, dem Schilfmeerlied (15, lb-18), zur prägenden Kraft geworden. Das Schilfmeerlied ist eine kunstvolle Komposition, entstanden im und für einen theologisch geschulten Kreis mit der Absicht, von dem gottesdienstlich bekannten Jubelruf aus Jahwe in den Taten und Eigenschaften zu preisen, die ihn als Israels Gott rühmenswert, man kann auch sagen: glaubwürdig machen. Es war von Rad, der auf die Feststellung Wert legte, daß im Schilfmeerlied, „wenn auch in freier Ausgestaltung, alle Elemente der Auszugs-Landnahme-Tradition eingearbeitet" seien19. Sosehr dieses Urteil bei gebührend weiter Auslegung zutreffen mag, sowenig sagt es über das Proprium des Liedes aus, für das ungleich charakteristischer ist, wie bereitwillig in ihm der für jeden geschichtlichen Rückblick konstitutive ordo der Dinge durchbrochen und die „kanonische" Form der Heilsgeschichte umgestaltet wird. Das Schilfmeerlied nimmt zunächst in V. 1 b den Jubelruf aus V. 21 b auf, verweilt in V. 2 f. bei der Prädizierung des Adressaten, geht in V. 4 f. wieder zum Exodusereignis über und kehrt in V. 6 zum Preis (der machtvollen Rechten) Jahwes zurück. In V. 7-10 vermischen sich allgemeine Prädikation von Jahwes Rettungshandeln (V. 7.9) und eindeutige Bezüge auf das Schilfmeerwunder untrennbar (V. 8.10), um in V. 11 in die zweimalige rühmende rhetorische Frage einzumünden: „Wer ist wie du ..." Nach der Klimax in V. 11 ist einigermaßen unklar, ob V. 12 in schon bekannter Weise allgemein Jahwes Rettungshandeln rühmt oder ob der Vers zum folgenden Landnahme-Völker-Thema gehört. Auch in V. 13 ff. sind manche Anspielungen mehrdeutig. Man möchte in V. 13 17

Noth, Ex S.97. Eine noch weitergehende Eingrenzung auf Jerusalemer Tradition meinen Weimar/ Zenger vornehmen zu können (Exodus S.71 ff.); dazu kritisch W.H.Schmidt, Erträge S.64 A. 88. " Von Rad, T B 8 S.18. 18

Exodus und Tempelberg: Ex 15

103

gerne an Israels Führung in der Wüste denken, wobei dann durch die Zielangabe "pip nu Vs „zu deiner heiligen Wohnstatt", dahingestellt, ob nun das Land oder der Tempel gemeint ist, die Seßhaftwerdung gleich impliziert wäre. Aber der folgende Text läßt an dieser Deutung Zweifel aufkommen, denn in V. 14-16 zieht das Volk immer noch umher, und zwar unbehelligt durch die in Schreckenslähmung verfallenen Philister, Edomiter, Moabiter und Kanaanäer. Kann aber in V. 14-16 wegen der Erwähnung der Philister weder an bekannte Wüsten- noch Landnahmetradition gedacht sein, bedarf diese Deutung auch für V. 13 der Uberprüfung, zumal in V. 17 ebenfalls eine Zielangabe für Israels Weg genannt ist, die an "|tnp ma „deine heilige Wohnstatt" erinnert, dieses Mal aber trotz des Fehlens von Namen den Vorteil der Eindeutigkeit hat: Sie hat das Jerusalemer Zionsheiligtum im Blick, in dem, wie die abschließende Klimax in V. 18 wünscht, Jahwe auf immer und ewig als König herrschen möge 20 . Nach dieser Skizze von Ex 15 bedarf es keiner weiteren Begründung, daß die bekannte Form der Heilsgeschichte nicht das inhaltliche Gerüst dieses Textes sein kann. Da allerdings die Grundanordnung ExodusLandnahme im weitesten Sinne gewahrt zu sein scheint, könnte die Vermutung naheliegen, der heilsgeschichtliche ordo sei erst durch sekundäre literarische Auffüllung gestört und in den Hintergrund gedrängt worden. In Ex 15 gibt es in der Tat viele literarkritische Anhaltspunkte, die den Verdacht sukzessiven Textwachstums nähren: Neben der inhaltlichen Zweigleisigkeit von allgemeiner Jahweprädikation ( V . 2 f . 6 f. 11) und Bezugnahme auf den Exodus (V. 1 b. 4 f. 8-10) im ersten Teil sind im zweiten, die Landnahme betreffenden Teil in V. 12 f. und V. 14-16 ungezwungen Dubletten zu erkennen. Ferner wechselt die Anrede des Adressaten: In V. 1 b - 5 und V. 18 wird die 3.ps. gebraucht, in V. 6 - 1 7 die direkte Anrede in der 2.ps. Schließlich fallen weitere kleinere Dubletten (vgl. V. 1 b β mit V. 4 a), die mehrmalige Verwendung einer Reihe von Begriffen und Bildern, stilistische Störungen (etwa die nachklappende Prädikation in V. 11 b) und die Benutzung von Formeln auf, die aus anderen Texten bekannt sind (vgl. etwa Ex 15,3a mit Ps 24,8 b; Ex 15,3b mit Am 5,8 u. ö.; Ex 15,11 a mit Ps 89,7. 9 u. ö.). Als größere Probleme anderer Art, die aber unter Umständen auch literarkritische Relevanz haben können, sind noch der zuweilen überraschende Tempuswechsel zwischen Perfekt und Imperfekt und das Metrum zu notieren. 20 Die Versuche, V. 12 f. mit bekannten heilsgeschichtlichen Überlieferungen in Verbindung zu bringen, sind allesamt gequält; vgl. Westermann (Lob S. 187) zu V. 12 (Andeutung des Aufruhrs gegen Mose und Aaron) oder Miller (Warrior S. 115) zu V. 13 (Bezug auf Wanderung zum Sinai oder auf Lager in Schittim). Verstehenshilfe für V. 12 gewährt Ps 69,16 (yVa „verschlingen" + πΐ>Ί*» „Tiefe"), woraus hervorgeht, daß hier mit ρ κ wahrscheinlich die Unterwelt gemeint ist (vgl. V. 5.10 und Gerleman, T H A T II Sp.840).

104

Jahwe, der Gott seines Volkes

Die in dieser Reihe genannten literarkritischen Beobachtungen erweisen sich bei näherer Prüfung als unterschiedlich stichhaltig. Daß (kolo) metrische Unebenheiten sich nur selten als Ausgangspunkt f ü r literarkritische .Operationen in der hebräischen Poesie eignen, versteht sich für den, der die Exzesse ihrer literarkritischen Applikation vor Augen hat, von selbst. Doch auch Personen- und Tempuswechsel erweisen sich zunächst als untaugliche literarkritische Instrumente. Sie sind nur im Ensemble anderer Beobachtungen literarkritisch relevant. Unter den inhaltlichen Beobachtungen läßt der Wechsel von allgemeiner Jahweprädikation und Bezugnahme auf den Exodus keine literarkritische Auswertung zu. Es ist deutlich, daß die unterschiedlichen Jahweprädikationen den jeweils folgenden Exodusaspekt präludieren, also literarisch nicht selbständig sind. Die Preisung Jahwes als IP'K nan^a „Krieger" in V. 321 bezieht sich auf seine kriegerische Tat in V. 4 f. 22 ; das Feindthema begegnet in V.6f. allgemein, in V.8-10 konkret. Die Teile V. 2-5 und V. 6-10 besagen beide mehr oder weniger dasselbe, ohne daß nun sie wiederum in ihrer literarischen Ursprünglichkeit gegeneinander ausgespielt werden dürften, denn die beiden klimaktischen Fragen in V. 11 a greifen bestimmte Charakteristika der zwei Teile auf: mn» DV»3 nana „Wer ist wie du unter den Göttern, Jahwe?" ist rückgebunden an die mehrmalige Apostrophierung Jahwes als Gott des Beters in V. 2. Die Frage läßt nach der hymnischen Vorführung von Jahwes Handeln keine andere Antwort zu als das Einstimmen in den Ruf des Anfangs: 'VK nr „So ist mein Gott", und zwar nur er allein! Ähnliches gilt f ü r die Frage snpa n x a na»D '» „Wer ist wie du, sich heilig verherrlichend?", die die Jahweprädikation Π33 '"ΠΚ3 „sich machtvoll verherrlichend" aus V. 6 aufgreift, um Jahwes machtvolles Handeln in die Begriffssphäre zu bringen, in der Tempeltheologie den tätigen Jahwe, den rettenden wie den theophanen, zu begreifen sucht: Herrlichkeit und Heiligkeit. Der Ausdruck s n p n "ΠΚ3 „sich heilig verherrlichend" ist einer von wahrscheinlich vielen Versuchen der Tempeltheologen, dieses ihnen tradierte und wohl auch von ihnen erfahrene Phänomen begrifflich adäquat zu erfassen. Ein anderer Annäherungsver-

21 Die nächste Parallele zu dem Ausdruck bietet - wie bereits angedeutet - Ps 24,8 mit nanVa na> „Kriegsheld" als Epitheton für Jahwe; zum semantischen Umfeld vgl. Fredriksson, Jahwe S. 59 ff. 22 Aus diesem Grunde dürfte der von Foresti (Lat.NS 48 S. 65 f.) angenommene redaktionelle Charakter von V. 4 f. unwahrscheinlich sein. Metrisch fügen sich die Verse durchaus mit zwei bis drei Hebungen pro Kolon in den Kontext ein. Zudem haben sie hinsichtlich der Darstellung des Exodusereignisses eine wichtige Funktion: Im Übergang von V. 4 zu V. 5 vollzieht sich die Integration des Geschehens in die Sphäre des Mythos.

Exodus und Tempelberg: Ex 15

105

such an dieselbe Sache ist der Terminus tnp i m n „heilige Majestät" (Ps 29,

ιγ\

Hat sich der Hymnus bisher von kleinen Zusätzen abgesehen als literarisch einheitlich und darüber hinaus sorgfältig komponiert erwiesen, ist in seiner zweiten Hälfte der Verdacht sekundärer Textauffüllung kaum wirksam zu entkräften. Dabei ist nicht schon allein die Verdoppelung der Handlung als solche in V. 12 f. und V. 14-16 das entscheidende literarkritische Argument, denn hinter der modifizierenden Wiederholung könnte wie in der ersten Hälfte ein Gestaltungsprinzip stehen. D o c h beruht die Annahme sekundärer Entstehung von V. 14-16 nicht nur auf der Beobachtung, daß mit der Nennung von "|ΐρ*τρ ma „deine heilige Wohnstatt" am Ende von V. 13 schon das Ziel der göttlichen Führung erreicht ist, woran erst in V. 17 weitere Erläuterungen unmittelbar anknüpfen. Folgende Beobachtungen weisen in dieselbe Richtung 24 : 1. Im Unterschied zum ganzen übrigen Psalm wird in V. 14 f. eine Reihe von Namen genannt 25 : Philistäa 26 , Edom und Moab 2 7 . Diese Aufzählung der Nachbarregionen Judas ist nur noch einmal belegt: Ps 60,10 = 108,10 „Moab ist mein Waschbecken, auf Edom werfe ich meinen Schuh, ,über' Philistäa erhebe ,ich' den Siegesruf!" 28 Das exilische Volksklagelied Ps 60 und seine partielle Aufnahme in Ps 108 (einer ebenfalls exilischen Klage) 29 zeigen, wohin die Völkeraufzählung auch in Ex 15,14-16 gehört. Es handelt sich um eine der zahlreichen Artikulationen von Judas Rachegelüsten gegenüber den Völkern, unter denen es kurz vor seiner Exilierung zu leiden gehabt hat oder die die Vernichtung des Südreiches mit unverhohlener Genugtuung begleitet haben. In V. " Zu rrp j m n s.u. S.172f. V. 11 b wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Nachtrag sein. Zwar gehören die Partizipien zum hymnischen Stil, doch hinter den rhetorischen Fragen klappen sie nach und unterscheiden sich auch in der Konstruktion vom vorhergehenden Partizip in V. 11 a. Man kann als weiteres Argument anführen, daß fast alle Belege für n(i)^nn „Ruhmestaten" (Jes 60,6; 63,7; Ps9,15; 22,4; 78,4) und vielleicht auch für κϊ>Β „Wunder(bares)" (Jes 9,5; 25,1; 29,14; Ps77,12. 15; 78,12; 88,11. 13; 89,6; 119,129; Thr 1,9; Dan 12,6) auf Bevorzugung in späterer Sprache schließen lassen. 24 Norin (Meer S.96f.) hält aus anderen Gründen V. 14. 1 5 a a b für sekundär. Das erscheint aber angesichts der folgenden Überlegungen nicht als konsequent. 25 Mit den Eigennamen in V. 4 hat es eine andere Bewandtnis. Sie werden als „Exoduserbe" genannt, um sogleich mythisch transformiert zu werden: njno „Pharao" (ohnehin zwischen Eigenname und Titel schillernd) in a'iK „Feind" (V. 6.9) und op „Widersacher" (pi., V. 7), ηιο D' „Schilfmeer" in nenn „Urfluten" und iilnsa „Tiefen" (V. 5; vgl. Westermann, THAT II Sp. 1029f.). 26 Nicht, wie man immer wieder einmal lesen kann, die Philister (vgl. Norin, Meer S.96). 17 V. 15 b fällt aus dem Parallelismus membrorum heraus und wird deshalb ein Nachtrag im Nachtrag sein. Die Erwähnung der Bewohner Kanaans war in der ersten Erweiterung noch unterblieben, weil der Ergänzer auf anderes hinauswollte. Daß sie später erfolgt ist, wird bei der Lektüre von Jos 2,9(.24) verständlich (ähnlich Foresti, Lat.NS 48 S. 61 f.). 28 Der abschließende Imperativ in 60,10 ist nach 108,10 doch wohl in die l.ps.c.sg. zu ändern; lies ferner in 60,10 statt mit 108,10 29 Vgl. Veijola, Verheißung S. 55*ff.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

14-16 sind die Revanchepläne terminologisch in einem Gemisch aus vereiteltem Völkeransturm, Jahwekrieg und Landnahmetradition formuliert, welche Vorstellungskombination dem alten Hymnus ebenso fern liegt wie die Konkretisierung von Jahwes Handeln an bestimmten Völkern 30 . 2. Mit dieser für die Spätzeit typischen inhaltlichen Zielsetzung von V. 14-16 konvergiert die Sprachanalyse. Der Passus enthält Termini, die zum Teil erst vom 6.Jahrhundert ab belegt sind, zum Teil erst von dieser Zeit ab charakteristische Gebrauchsweisen entwickelt haben31. Beides trifft auf den Kontext nicht in vergleichbar deutlicher Weise zu. 3. Auch in poetischer Hinsicht liegt der epigonale Charakter von V. 14-16 auf der Hand. Das Verb ins „ergreifen" wird in V. 14 f. zweimal kurz hintereinander verwendet, wobei das Tempus störend wechselt. Der unterschiedliche Gebrauch von Perfekt und Imperfekt, der im alten Psalm Methode hat und in der Ergänzung imitiert werden soll, ist auch sonst gründlich mißraten32. Spricht der alte Hymnus von Jahwes Arm, gebraucht er konsequent "p'»' „deine Rechte", V. 16 hingegen einmal "|ynj „dein Arm". Ein neues Bild ist dem Ergänzer auch nicht eingefallen. So läßt er die Völker starr wie Stein werden (V. 16), nachdem Pharaos Truppen schon vorher wie Stein in die Tiefe gefahren waren (V. 5). Ferner wechselt in V. 14-16 das Metrum. Besteht der alte Psalm aus relativ kurzen Bikola mit je zwei, maximal und selten drei Hebungen, beginnt die Ergänzung in V. 14 gleich mit einem Bikolon von 3 + 4 Hebungen; und auch

30

Ein auffällig hoher Grad an terminologischer Übereinstimmung ist mit Ps 48,5-7 zu beobachten; möglicherweise ist der Psalm dem Verfasser von Ex 15,14-16 bekannt gewesen. 31 m „zittern" mit den Völkern als Subjekt: Dtn 2,25 (mit Affinitäten in der Formulierung zu Ex 15,14. 16; vgl. Stolz, Kriege S.92 und vor allem Foresti, Lat.NS 48 S.61);

Jes 64,1; Ps 99,1 u.ö.; n®i>B „Philistäa" (im Unterschied zu D'n®i>9 [ p s ] „Philister[land]") erst vom 6.Jahrhundert ab belegt: Jes 14,29. 31; J o 4 , 4 ; Ps 60,10 = 108,10; 83,8; 87,4; ηΐί>χ „Anführer": Gen 3 6 P passim; S a c h 9 , 7 ; 12,5f.; I C h r 1,51-54 passim; „Führer" nicht vor dem 6.Jahrhundert: 2Kön 24,15; Ez 17,13; 31,11; 32,21 u.ö.; nn'K bzw. nn»'« „Schrecken": schwerpunktmäßig Hi-Belege, in potentiell älteren Ps-Stellen (55,5; 88,16) nie f ü r den Gottesschrecken; "|ynt Via „Größe deines Armes": vgl. als einzige Formulierungsparallele Ps 79,11 (exilisches Klagelied des Volkes) "|ynT ^71. Foresti (Lat.NS 48 S.41 ff.) versucht, durch die Beleganalyse von 24 Wörtern und W e n dungen die (frühnach)exilische Sprachgestalt des ganzen Schilfmeerliedes wahrscheinlich zu machen. So sorgfältig die Analysen auch sind, sowenig sind sie allenthalben beweiskräftig. Das gilt f ü r Hapaxlegomena und vergleichsweise unspezifische Wendungen (wie etwa D' 3in „mitten im Meer"; der Hinweis auf akkadische Äquivalente verhilft nur in Ausnahmefällen zu Datierungen bei hebräischen Texten). Weiterhin schließen wenige späte Belege f ü r ein W o r t nicht a limine seine Verwendung in älterer Zeit aus. So wird man bei einer in jeder Hinsicht der Normalsprache enthobenen Dichtung wie dem Schilfmeerlied nicht allzu große Erwartungen in terminologische Datierungshilfen setzen dürfen. 32 Für denselben Aktionsmodus, „beben, verwirrt sein" etc., eine resultativ-durative Handlung, f ü r die im Hebräischen normalerweise das Imperfekt (hinsichtlich der Zeitstufe neutral) zuständig ist (vgl. Meyer, H G III S.42f.), werden in V. 14-16 promiscue dreimal das Perfekt, viermal das Imperfekt gebraucht. Einen solch irregulären Tempusgebrauch kennt der Kontext nicht.

Exodus und Tempelberg: Ex 15

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V. 15 a. 16 a können unmöglich in kurze Bikola aufgeteilt werden, sondern sind zwei Zeilen mit 4 + 4 Hebungen und überdehnen damit das vorgefundene Metrum erheblich33. 4. Eine Beobachtung zu V. 16 b kann schließlich wahrscheinlich machen, daß die Ausgrenzung gerade von V. 14-16 als redaktioneller Zusatz zutreffend ist. Stolz schreibt zu diesem Passus: „V. 16 b redet wieder vom Durchzug durch das Meer einerseits, andererseits begegnet Jerusalemer Schöpfungstradition. Es ist die Rede ... vom ,Volk, das du hervorgebracht hast' "34. Daran ist so gut wie alles fraglich, nay „hindurchziehen" hat hier nichts mit dem Durchzug durch das Meer zu tun. Die Rückbindung der Handlung an die erste Psalmhälfte ist vom inneren Aufbau des Textes und von der üblichen Verwendung des Verbs nay her unwahrscheinlich. Wie in der Mehrzahl der Belege gehört es auch hier in den Kontext von Landnahme und Jordanüberquerung 35 , zumal in V. 16 b die redaktionelle Tendenz klar erkennbar ist, am Ende der Ergänzung wieder an den unterbrochenen Haupttext Anschluß zu gewinnen - und der handelt in V. 13 von nichts anderem als der Landnahme in poetisch eigenständiger Formulierung. V. 16 b greift das Thema mit nay in allseits bekannter Terminologie auf und bietet als Variation zu n^Ka IT Dy „das Volk, das du erlöst hast" in V. 13 nun ii'jp it oy „das Volk, das du erworben hast", ohne Anklang an vermeintliche Jerusalemer Schöpfungstradition in voller Synonymie von ^kj „erlösen" und ηιρ „erwerben". Daß dies die sehr viel näherliegende Deutung ist, zeigt das exilische Volksklagelied Ps 74, in dem beide Begriffe parallel in ebenjener Weise gebraucht werden: „Gedenke an deine Gemeinde, die du vor alters erworben und dir zum Erbteil erlöset hast" (74,2 a)36. Wie bei den meisten genannten Kriterien wird auch hier noch einmal deutlich, daß die Ergänzung in Ex 15 viel eher in die Zeit von Ps 74 als in jede denkbare vorauslaufende Epoche gehört. Wie sieht nun der Hymnus aus, an dem die Bearbeitung vorgenommen worden ist? Sprachlich sorgfältig komponiert 37 , behandelt er Isra33 Wollte man in V. 15 a. 16 a Bikola mit 2 + 2 Hebungen rekonstruieren, ergäbe sich ζ. B. als erstes Kolon li>nnj lit „damals erschraken" bzw. on'i>y ^sn „es überfielen sie", was kaum als sinnvoll bezeichnet werden kann. Außerdem hat die Ergänzung dritter Hand in V. 15 b auch vier Hebungen, womit der Redaktor sich offensichtlich dem Kontext anpassen wollte. Daß der alte Hymnus hingegen nicht in Bikola mit 4 + 4 Hebungen gestaltet ist, geht bereits aus der Anlage von V. 1 b. 2 hervor: Da V. 2 b aus einem Bikolon mit je drei Hebungen besteht, kann der vorhergehende Text nur in drei Bikola mit je zwei Hebungen gestaltet sein. Ein Schema mit je vier Hebungen wäre undurchführbar. Ähnliche Beobachtungen ließen sich auch im weiteren Verlauf des Textes machen. 34 Kriege S.93; vgl. ders., Strukturen S. 168 ff. 35 Etwa ein Drittel der Belege für my mit Akkusativ betreffen den Jordan (vgl. Stähli, T H A T II Sp.201); nur selten wird das Verb mit dem Exodus in Verbindung gebracht (vgl. Jes 43,2; Ps 78,13; 136,14; N e h 9 , l l ) . 36 Zur Übersetzung vgl. Luther (II S. 417). Zur vorgetragenen Argumentation vgl. W. H. Schmidt, T H A T II Sp. 654 f.; Vosberg, Studien S.33. Es ist zu erwägen, ob nicht Ps 74,2 auf Ex 15,13 ff. anspielt; zu weiteren Rückbezügen auf Ex 15 s.u. S. 113. 37 Der Wechsel zwischen 2. und 3.ps.sg. ist kein Gegenargument. Er ist in der hymnischen Literatur gut verständlich und deshalb auch keineswegs ungewöhnlich: vgl. Gun-

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Jahwe, der Gott seines Volkes

els Heilsgeschichte auf eigenwillige Weise. Der Lobpreis verweilt eigentlich nur bei ihrem Anfang und Ende: dem Exodus und der Landnahme. Doch diese Themaangabe ist bereits sehr ungenau. Zwar handeln V. (3.) 4-11 unstreitig vom Exodus, doch ist er hineingenommen in einen gewaltigen, mythisch tingierten Gotteskampf, in dem nur zu Beginn die njns mann „Pharaos Wagen" auf der Gegenseite stehen, sich dann aber schnell einreihen oder verwandeln in die „Aufständischen" (Q'ap V.7) und den Feind schlechthin (η'ΐκ V.6. 9). Und von Landnahme darf man im Blick auf V. 12 f. 17 f. eigentlich gar nicht sprechen. Eher wie ein Nachhall aus V. (3.) 4-11 wird das Feindthema in V. 12 noch einmal gestreift, dann in V. 13 übergeleitet in den Preis gnädiger und machtvoller Führung, um am Ende des Verses schon am Ziel zu sein, zu dem der Dichter offensichtlich gar nicht schnell genug hinkommen kann: nicht sosehr (obwohl natürlich impliziert) ins Land als vielmehr gleich zum Tempel(berg), der nach dem überschwenglichen Lob von V. 17 alles ist, Lebensraum des Volkes und Wohnstatt Jahwes, wo er als König herrscht und immerfort herrschen möge (V. 18)38. Wollte man das Thema des Psalms unter Berücksichtigung des eigenen inhaltlichen Gefälles angeben, lautete es nicht Exodus und Landnahme, sondern Gotteskampf und Königsherrschaft Jahwes inmitten seines Volkes auf dem Tempelberg 39 . Mit dieser Themenstellung und inhaltlichen Abfolge ist der Psalm allenfalls in zweiter Linie Israels heilsgeschichtlicher Tradition verpflichtet, in erster Linie allemal vorgefundener kanaanäischer Mythologie, die in diesem Fall die beste bekannte Manifestation im ugaritischen Baalmythos hat. Das ersehnte und umkämpfte königliche Thronen der Gottheit bestimmt das Profil des Mythos so sehr, daß es zumindest, aber wahrscheinlich noch mehr als „one of the leading motifs" ist40. F o l g t m a n der h e u t e ü b l i c h e n A n o r d n u n g d e s M y t h e n z y k l u s , b e a n s p r u c h t z u n ä c h s t der M e e r e s g o t t J a m die K ö n i g s h e r r s c h a f t ü b e r die G ö t t e r u n d läßt sich e i n e n T e m p e l - P a l a s t v o n i h n e n bauen. Baal, der sich der H e r r s c h a f t J a m s

kel/Begrich, Einleitung S. 47 f. Die dort vorgetragenen Überlegungen zur Ursprünglichkeit allein der 3.ps.sg. im Hymnus sind kaum überzeugend. 38 Die Hinführung des Volkes zum Tempelberg ist zwar ein Erweis göttlicher Gnade, der aber selbstverständlich, jedenfalls bedingungslos erfolgt. Ganz anders das Weilen auf dem Tempelberg nach Ps 15! In beiden Texten dokumentiert sich das religiöse Bewußtsein ganz unterschiedlicher Zeiten (s.u. S.202f. A. 13). 39 Ähnliche Überlegungen bei Childs, Exodus S. 248 ff. 40 Kapelrud, BRST S.87; vgl. S. 18; zurückhaltender W.H.Schmidt, Königtum S.9; hingegen ist es wohl zuviel gesagt, das Schilfmeerlied als „Nachbildung des Baal-AnatMythos" zu bezeichnen (Norin, Meer S.92); zur eigentümlichen Rezeption kanaanäischer und alttestamentlicher Tradition in Ex 15 vgl. auch Jeremias, Königtum S. 99 ff. Zum Baalzyklus vgl. KTU 1.2-1.6 und die Übersetzungen T O I S. 107ff.; MLC S. 81 ff.; Darstellungen bei W . H . Schmidt, Königtum S. 10ff.; Gese, RM 10/2 S.51 ff. u.a.

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widersetzt und ihn mit Hilfe des Gottes Kotar-waHassis besiegt, nimmt nun seinerseits die Stellung des Götterkönigs ein und läßt sich bereits in guter Tradition zur Dokumentation und Sicherung seiner Herrschaft einen Tempel-Palast bauen. Diese Tat soll Baal allerseits den gebührenden Respekt einbringen. So wird sie, offensichtlich als Kriegserklärung gemeint, auch ausdrücklich dem Unterweltsgott Mot mitgeteilt, dessen prompt erfolgende Einladung zum Gastmahl in der Unterwelt Baal aber so sehr erschreckt, daß er sich kampflos der Herrschaft Mots beugt und sich ins Totenreich begibt. Sein verwaister Königsthron darf jedoch nicht vakant bleiben. Die Götter bestimmen den El-Sohn und Gernegroß Attar, „den Schrecklichen", zum Götterkönig, welcher dann allerdings ein unglücklicher Thronerbe ist, denn seine kurzen Beine reichen nicht bis auf den Thronschemel, und die Rückenlehne ragt weit über seinen Kopf hinaus. Dieser komischen Situation und des Gipfelklimas überdrüssig, steigt er vom Zaphon herab und begnügt sich mit dem Königtum auf Erden. Der Thron wird nach weiteren Konflikten schließlich doch im Kampf gegen Mot von Baal wieder eingenommen. Aus diesem mythologischen Kreis stammt in Ex 15 nicht nur die Betonung von Tempel und königlicher Jahweherrschaft, sondern auch das ausführliche Verweilen beim Exodus, da nur hier die Götterkampfthematik auszuwerten war. Kampf ist nicht überall, w o die heilsgeschichtliche Theologie ihn erinnert, sondern dort, w o der Mythos ihn haben will. Er paßt beim Exodus, nicht bei der Landnahme, w o der Mythos wegen des Tempelthemas nur Herrschaft duldet. Auch im Detail ist die Abhängigkeit vom kanaanäischen Stoff nachzuweisen. Die Bezeichnung des Tempelberges als ηη^πΐ m „Berg deines Erbbesitzes" hat einschlägige Parallelen im Baalzyklus, w o zum Beispiel Mots Wohnsitz mit dem Parallelismus ksu tbth Thron seines Wohnens

ars nhlth Land seines Erbes

charakterisiert wird 41 . Das Gros der alttestamentlichen, überwiegend deuteronomistischen und priesterschriftlichen Belege für nVrrj „Erbbesitz" läßt hingegen das Land Israels Erbbesitz sein 42 . Ferner ist auf die ungewöhnliche Formel η^η' πιπ' „Jahwe ist/sei König" in V. 18 hinzuweisen, die in umgekehrter Reihenfolge nur noch 41 K T U 1 . 4 VIII, 12-14 (vgl. T O I S.220; MLC S.211); ebenso K T U 1.5 II, 15f. (vgl. T O I S.245; MLC S.217); weitere Belege in RSP 1,11 272; vgl. ferner KTU 1.3 111,28-31 (vgl. T O I S. 166; MLC S.184); W.H.Schmidt, Königtum S.81 f.; Day, Conflict S.98f. Cliffords Schwierigkeiten mit dem Ausdruck "in „Berg deines Erbbesitzes" sind beträchtlich, weil die vorkönigliche Entstehung von Ex 15 Axiom ist (vgl. Mountain S. 139). Als vergleichbare Stellen im Alten Testament kommen nur l K ö n 8,13 und - mit spezifisch exilischer Perspektive - Ps 79,1 in Frage. " Vgl. Wanke, T H A T II Sp.57f.

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einmal in Ps 146,10 vorkommt, dort wie hier als ewiges Königtum apostrophiert. Durch die Verwendung der Präformativkonjugation heben sich die beiden Belege klar von der Standardformel nirr „Jahwe ist König" ab (Ps 93,1; 96,10; 97,1 u.ö.), was zu der Überlegung drängt, ob nicht das abweichende Tempus auf eine andere Vorstellung vom Königtum Jahwes hindeutet. Die ugaritischen Texte bestärken diesen Verdacht, denn Baals Kampf gegen den Meeresgott Jam endet mit dem Ruf jm lmt b'lm jml[k Jam ist wahrlich tot, Baal ist/sei König 43 !

Ganz offensichtlich ist im Schilfmeerlied auch Jahwes Königtum als Resultat des Sieges über mytisch gefährliche Feindesmacht verstanden und deshalb wie in der verarbeiteten kanaanäischen Tradition für die Königsprädikation die Präformativkonjugation gewählt worden, die ingressiven und durativen Aspekt zugleich auszudrücken imstande ist44. Ganz gegen seine Gewohnheit hat Israel hier offensichtlich, gelockt durch die Kombinationsmöglichkeit von Exodustat und kanaanäischer Mythologie, die Anfänglichkeit von Jahwes Königtum (als Resultat einer Theomachie) zu denken gewagt 45 . Ist somit hinreichend deutlich, in welch tiefem Frieden das Schilfmeerlied (in seinem ursprünglichen Bestand) mit Kanaan lebt, so muß nun ebenso klar betont werden, daß der Frieden mit Kanaan nicht Streit mit Israel bedeutet. Der Hymnus ist insoweit gut israelitisch, als er voller Psalmensprache ist und er immerhin das Ziel verfolgt, Jahwes Heilshandeln an Israel mit Hilfe des Götterkampfmythos zu rühmen. Dieses Vorhaben transformiert in eigenwilliger Weise beide, den Mythos und die Heilsgeschichte. Jahwes Gegner ist natürlich zunächst der Pharao mit seinen Truppen, dann aber schnell und bestimmend „der Feind" schlechthin. Man sollte angesichts der Transformation des mythischen Götterkampfes in gott-menschliches Schlachtengetümmel nicht eilig die Schablonen Entmythisierung oder gar Historisierung des 43 KTU 1.2 IV, 32 (vgl. T O I S. 139; MLC S. 177; RSP 1,1 31 mit Literatur). Die Form jmlk ist als Imperfekt (jamluku) oder als Jussiv (jamluk) zu verstehen möglich (vgl. U T § 9 . 1 0 ; Meyer, H G III S.41f.). Zur in denselben Zusammenhang gehörigen Vorstellung vom ewigen Gott-Königtum vgl. KTU 1.2 IV, 10 (vgl. T O I S. 136; MLC S.175; RSP 1,11 363; Jenni, ZAW 64 S. 202 ff.). 44 Vgl. Meyer, H G III S.42f. 45 Ein derartiger inhaltlicher Hintergrund darf nicht hinter der Formel n w -^n' in Ps 146 vermutet werden, der sich durch seinen anthologischen Charakter zweifellos als nachexilische Dichtung ausweist. Die alten Formulierungselemente in V. 10 sind gemischt mit jüngeren paränetischen Charakteristika: der Anrede des Zion und „dein Gott" (vgl. Jes 52,7 und W . H . Schmidt, Königtum S.75).

Exodus und Tempelberg: Ex 15

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Mythos bei der Hand haben, denn Jahwes Widersacher in Ex 15 sind unfaßbar wie die Götter. Sie gehören in eine Koalition mit den Gegnern, die aus der Feindklage der Psalmen bekannt sind 46 . Eher kann man es ein Spiel mit dem Mythos nennen, daß der einstmals göttliche Gegner, nämlich Jam, zu Jahwes Hilfskraft im Kampf gegen den Feind geworden ist, sosehr er sich mit seiner in der Sprache noch zu erahnenden verbliebenen göttlichen Potenz dagegen sträubt (vgl. V. 8. lObß). Hier hat die Exodustat selbst bzw. die hinter ihr stehende unverwechselbare Gottheit ebenso ihren Tribut vom Mythos gefordert wie in der Unvergleichlichkeitsprädikation in V. 11 a, die in dieser Form nicht in der kanaanäischen Tradition zu belegen ist47. Dem Tribut des Mythos an Jahwes Rettungshandeln steht nun aber auch ein Preis gegenüber, den die heilsgeschichtliche Exodustat an den Mythos für seine Hilfeleistung zu entrichten hat. Das ist besonders gut an der Tempusstruktur des Hymnus abzulesen, zu deren Erklärung kein Rückgriff auf das altkanaanäische Tempussystem notwendig ist48. Im Psalm wechseln punktual-perfektive und iterativ-präsentische Tempora 49 , wobei der letztere imperfektive Modus auch die Form des Wunsches als Kohortativ oder Jussiv annehmen kann. Welche Intention steckt hinter diesem Tempuswechsel? Die Anspielungen auf Jahwes Rettungs- und Führungstaten werden in perfektiven Tempora (zumeist qätal) geschildert (V. lb. 4f. 8. 12 f. 17)50, sind aber gerahmt und unter-

44

Vgl. Keel, Feinde S. 155 ff. Zu dem Spannungsfeld, das mit den Stichworten „Historisierung des Mythos" - „Mythisierung der Geschichte" umschrieben werden kann, vgl. Jeremias, Königtum S. 56 f. (im Zusammenhang seiner Auslegung von Ps 47). 47 Vgl. Labuschagne, Incomparability S.62f.; anders in Mesopotamien und Ägypten vgl. ebd. S. 31 ff. Ob für das Fehlen der Aussage in Ugarit der Zufall der Textfunde verantwortlich ist (so Labuschagne) oder die Gründe inhaltlicher Art sind (wegen der „Vergleichbarkeit" der Götter), ist schwer zu entscheiden. Zur literarhistorischen Beurteilung der alttestamentlichen Unvergleichlichkeitsaussagen vgl. Foresti, Lat.NS 48 S.62 A. 151; bei Ps 35,10 und 89,9 ist jedoch eine vorexilische Datierung keineswegs auszuschließen, und 77,14 f. paraphrasieren Ex 15,11, setzen den letzteren Text also als älteren voraus. Man denke auch an die seit der Königszeit belegten Personennamen, die auf der Grundlage der Unvergleichlichkeitsaussage gebildet sind ([i]n>5*n u.a., vgl. Noth, IPN S. 144). 48 So etwa Cross, Myth S. 125. 49 Eine Ausnahme ist das Impf. cons, in V. 2 aß, die durch die Rezeption einer Formel in,V. 2 a jedoch hinreichend erklärt ist. s ° Dazu einige Erläuterungen: Die einzige Verbform, die sich dieser Klassifizierung entzieht, ist ιβ'03' in V. 5 a. Sie kann im Blick auf V. 5 b und 10 a nur fehlerhaft sein. Perfekt wäre zu erwarten gewesen und auch leicht durch Streichung des präformativen Jod wiederherzustellen. Die Imperfekt-Formen in V. 12 b und 17 a α sind korrekt. Sie bezeichnen Vorgänge,

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brochen durch Nominal- und jiqtöl-Sätze, die präsentische Wiedergabe verlangen (V.2b. 3. 6 f. 9. 11. 18)51. Gehören die Nominalsätze auch zum hymnischen Stil, verändern sie doch hier durch ihre Überlagerung zusammen mit den imperfektiven Verbalformen das heilsgeschichtliche Handeln Jahwes selbst, denn Jahwe wird nicht allein in seinen immerwährenden Eigenschaften gepriesen, sondern darüber hinaus wird seinem Sieg über die Widersacher durch die präsentische Kommentierung der Charakter der einmaligen unverwechselbaren Rettungstat genommen. Sie wird, unterstützt durch die unscharfe Apostrophierung des Feindes, zum Exempel von Jahwes Rettungshandeln überhaupt, für das Volk wie für den einzelnen. Die zu bestimmter Zeit geschehene, geschichtlich unwiederholbare Exodustat wird wiederholbar, wird ewig wie Jahwes Königsherrschaft in ihrer Dauer. Die Dramatik der geschichtlich unverwechselbaren Gottestat wird aufgehoben in Theodramatik, welches die Unverwechselbarkeit des Gotteswunders in den ineinander verfließenden Gotteswundern ist. Gotteskampf und Gottkönigtum, das sind die beiden zentralen Theologoumena, um die sich in Ex 15 Israels Heilsgeschichte als ewige Heilspräsenz gruppiert52. Die Datierung des Schilfmeerliedes ist bekanntlich äußerst umstritten 53 . Nach der Konturierung der theologischen Leitgedanken des

„die sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit begonnen sein und auf der jeweils vorausgesetzten Zeitstufe noch andauern k ö n n e n " (Meyer, H G III S. 42 f.). 51 Das Perfekt zu Beginn von V. 9 gibt als Tempus des Koinzidenzfalles keinen Anlaß z u r Beanstandung (vgl. Mayer, U F B G S. 183 ff., mit Literaturhinweisen zum Gebrauch im Hebräischen auf S. 188). 52 Das im Vorangegangenen erläuterte differenzierte Verhältnis zwischen Mythos und (Heils-)Geschichte in Ex 15 d ü r f t e der Sachlage gerechter werden als die einlinige T h e s e von Kloos (Combat v. a. S. 158 ff.), d a ß „the fantastic character of the Reed Sea event tells against its historicity . . . certain elements of the Reed Sea story (such as the drying up of the sea) stem f r o m the myth of the battle with Sea . . . Thus, the myth of the battle with Sea was transformed into a myth about Israel's national history" (S. 191). 53 U m nur die Spannweite der Positionen anzudeuten: „The poem conforms t h r o u g h o u t to the prosodic pattern and canons of the Late Bronze Age . . . all the evidence points to a premonarchic date for the Song of the Sea, in the late twelfth or early eleventh century B.C." (Cross, Myth S. 121. 124; so auch Clifford, M o u n t a i n S. 137ff.; Miller, W a r rior S. 113ff. u.a.). Den Text, den Cross in diese f r ü h e Zeit datiert, schafft er sich allerdings erst auf höchst eigenwillige Weise selbst. Am anderen E n d e der Skala: „Da V. 17 den Tempel auf Zion erwähnt, kann das Lied nicht vor 516 verfasst sein; da es jedenfalls den Priesterkodex kennt, nicht vor ± 500 bzw. 458. Mit der ungefähren Datierung um 450 d ü r f t e das Richtige getroffen sein" (Bender, ZAW 23 S.47; so auch Fohrer, Exodus S. 115; Stolz, Kriege S.93 u.a.). Für die Spätdatierung ist eine bestimmte Sicht der israelitischen Religionsgeschichte im allgemeinen und der Darstellung der Landnahme V. 14 ff. im besonderen ausschlaggebend, beides - wie bereits dargelegt - ohne vollkommen schlüssige Evidenz. Ferner ist die Kenntnis der Priesterschrift so gut wie sicher nicht in Ex 15 vorauszusetzen (vgl. Childs, Exodus S. 245).

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Psalms dürfte schwer zu bestreiten sein, daß sie sowohl von ihrer Kenntnis kanaanäischer Tradition als auch von ihrer spezifischen Verarbeitung her ihre Heimat im Tempel und seinem gebildeten Klerus haben. Damit ist aber zugleich klar, daß die Dichtung weder in einer Zeit entstanden sein kann, in der es einen Tempel noch nicht gab, noch in einer Zeit, in der es einen Tempel nicht mehr gab. Schließlich kommt der Hymnus ohne Nennung von Namen, also auch ohne Zion und Jerusalem, deshalb so gut aus, weil er wahrscheinlich an der Stelle komponiert und vorgetragen wurde, der er galt, dem Jerusalemer Tempel(berg). 54 Daß mit dem Schilfmeerlied Jahwe nicht erst im zweiten, sondern bereits im ersten Tempel gepriesen worden ist, geht aus der exilischen Ergänzung in V. 14-16 hervor und am überzeugendsten durch die Zitationen und Paraphrasierungen von Ex 15 in exilischen und nachexilischen Texten, welche voraussetzen, daß Ex 15 in dieser Zeit ein geachteter und wohl auch nicht mehr ganz neuer Text war. Der Umfang der Anspielungen ist beachtlich. Er reicht von den exilischen Erwähnungen in Ps74,2; 77,14 ff.; 78,13. 15 f. 52 ff. bis zu den nachexilischen in 118,14ff. 21. 28; Jes 11,11 ; 12,2 (?); Neh 9,11. Angesichts des literarischen Spektrums, in dem Ex 15 rezipiert worden ist, muß eine späte Entstehung des Textes als sehr unwahrscheinlich gelten. Innerhalb der vorexilischen Jahrhunderte, die für die Komposition von Ex 15 offenstehen, wird man in aller Vorsicht für eine Eingrenzung auf die nachsalomonische und vorjesajanische Zeit plädieren dürfen. Der terminus a quo legt sich wegen des Fehlens jeder Anspielung auf die Lade nahe, der terminus ad quem wegen des Fehlens des Völkermotives, das von der zweiten Hälfte des 8.Jahrhunderts ab allemal zu er-

Auch die Herleitung des Schilfmeerliedes aus exilisch-deuteronomistischer Tradition, die Foresti (Lat.NS 48 S. 60 ff.) vorgenommen hat, ist zu hinterfragen. Wiederum sind die die Landnahme betreffenden Verse f ü r die Datierung von Bedeutung. U n d der N ä h e zu Ps 78, die sich aus den Anspielungen auf Ex 15 ergibt (vgl. ebd. S.54ff.), steht die unübersehbare Distanz zwischen beiden Texten entgegen: Ps 78 erforscht die Heils/Unheilsgeschichte in gut deuteronomistischer Manier zum Zwecke des Schuldspruches und der Schuldbewältigung, ein zentrales Element, das in Ex 15 ganz fehlt (vgl. Westermann, Lob S. 185 f.). Dieser prägende Unterschied erklärt sich besser bei größerer als bei geringerer zeitlicher Distanz. Auch die inhaltlichen und terminologischen Affinitäten zwischen Jes 43,15ff.; 51,9f. und Ex 15 deuten nicht auf die Entstehung der Texte in derselben Zeit hin, sondern lediglich auf ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu derselben Tradition. Die mythisch tingierte Exodustat ist bei Deuterojesaja vom soteriologischen Schöpfungsgedanken durchdrungen, w o f ü r es aus vorexilischer Zeit (und in Ex 15) keine Parallelen gibt. 54 Ahnliche Überlegungen bei Mowinckel, V T 5 S. 27 = ders., Psalmenforschung S. 333 f.; ders., 68. Ps S. 73 f.; zur Datierungsfrage vgl. auch Lemche, Israel S. 334 ff. und Mettinger, StTh 39 S.31 f., deren Positionen mit der hiesigen im großen und ganzen vereinbar sind.

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warten gewesen wäre und eben auch in späterer Zeit ergänzt worden ist. So liegt in Ex 15 eine vergleichsweise alte kultlyrische Komposition vor, selbstverständlich keine kultische „Gebrauchsliteratur", sondern „Dogmatik" in den Artikeln „De Deo" und „De ecclesia" in hymnischer Form. Sollte in den bisherigen Darlegungen der Uberlieferungsbestand in etwa angemessen erfaßt worden sein, implizierte das - wie noch zu zeigen sein wird - die Schlußfolgerung, daß im Mirjam- und Schilfmeerlied die einzigen vorexilischen poetischen Zeugnisse, in denen Israels Heilsgeschichte thematisiert ist, vorliegen. Exodustat und Landnahme waren als Credenda also auch im vorexilischen Jerusalemer Kult bekannt, aber wohl nicht gerade relevant. Daß Mirjam- und Schilfmeerlied nicht in einer vorexilischen Psalmensammlung, sondern im Tetrateuch ihren Platz gefunden haben, wird kein Zufall sein, obwohl doch ihre Darstellungsweise der Heilsgeschichte entscheidender durch die im Psalter beheimatete Tempeltheologie als durch die geschichtlichen Uberlieferungen des Tetrateuch geprägt ist. Beide Hymnen kommen ohne die explizite Erwähnung Israels aus. Und der Verfasser des Schilfmeerliedes ist noch einen Schritt weitergegangen: Er nimmt Jahwes Rettungstat am Schilfmeer und seine Führung des Volkes ins Land in einen Rahmen mythischer Provenienz hinein, der das kontingente Gotteshandeln als exemplarischen Gotteskampf und königliches Thronen im Tempel zu verstehen lehrt. Bei jenem spielt das Volk überhaupt keine Rolle - eine große hingegen, durch den Mythos bedingt, der Feind - , in diesem eine geringe. Das ist angesichts der Israel-bezogenen Thematik aller Beachtung wert. Darf man also die Folgerung ziehen, der Hymnus sei angesichts mythisierter Theozentrik in Israel-Vergessenheit komponiert worden? Wohl kaum, vielmehr scheinen Volk und Land so selbstverständlich zu sein wie Zion und Jerusalem, so daß ihre explizite Erwähnung weitgehend entbehrlich ist. Wäre es anders, hätte sich Israel in der Stunde der Not, da die nationale Existenz vernichtet war, gewiß nicht des Schilfmeerliedes zum Trost erinnert (vgl. Ps 74 und 77). So enthält das Schilfmeerlied keine Israel-ferne, wohl aber geschichtsferne Theologie. Ihr Mittelpunkt ist der Deus praesens im Tempel, der in seiner Wohnstatt auf ewig thront, ein Glaubensartikel, dessen Formulierung mit starker kanaanäischer Hilfe zustande gekommen ist und der die heilsgeschichtlichen Credenda nur in seltener und eigenwilliger Adoption duldet. Der Jahwist erzählt in Ex 14 die Exodustat als kontingentes geschichtliches und damit auch einmaliges Rettungshandeln Jahwes an einem bestimmten Feind (vgl. Ex 14,13f. 25b. 27b. 30), natürlich mit der

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kerygmatischen Intention, daß so, wie Jahwe Israel damals (vgl. die Betonung des Punktuellen durch DVH „heute" bzw. Kinn ava „an jenem Tage" in 14,13. 30) aus der Hand der Ägypter gerettet hat, er Israel auch zukünftig durch seine kontingente Tat aus Feindesnot retten wird. Das Schilfmeerlied hebt dagegen die Exodustat aus dem geschichtlichen Kontext heraus und verleiht ihr ewige Gegenwart durch ihre Rühmung als exemplarisches Rettungshandeln Jahwes überhaupt, am einzelnen wie am Volk. Der im Tempel ewig thronende Jahwe ist der stets Hilfreiche für die, die auf dem mVnj m „dem Berg seines Erbbesitzes" in seiner Nähe wohnen. Die Heilsgeschichte ist in der Gottesfülle dieses Ortes im doppelten Sinne aufgehoben. Folglich meldet sie sich erst wieder - und im Kontext der eigentlichen Psalmtheologie überhaupt erstmals - zu Wort, als es Tempel und Land nicht mehr gab und damit die Tempeltheologie unbehaust geworden war wie einst der Nomadengott Jahwe. Diesen katastrophalen Einbruch der Unheilsgeschichte im 6.Jahrhundert spiegeln die Psalmen noch vor ihrer beherzten Rezeption der Heilsgeschichte wider. 3. Nationale Katastrophe und religiöse Depression: Ps 137 ι a , A n den Strömen Babels, dort saßen w i r und weinten, ιb

als w i r Z i o n s gedachten.

2a 2b

A n die Pappeln im-Lande 1 hängten w i r unsere Zithern.

3aa 3 aß

D e n n dort forderten unsere H ä s c h e r Lieder von uns, unsere Folterer Freude(ngesang) 2 .

3ba

„Singt uns (etwas)

3bß

von den Zionsliedern!"

4a 4b

W i e könnten wir Jahwelieder singen auf fremdem Boden!

5a 5b

V e r g ä ß e ich dich, Jerusalem, „ w e r d e " meine Rechte vergessen 3 !

1 nsina „in seiner ( = Babels) Mitte" ist der Eindeutigkeit halber besser zu paraphrasieren (vgl. bereits Ewald 1/2 S.392). 2 ist Hapaxlegomenon, dessen Bedeutung aber aufgrund des Parallelismus membrorum zu erschließen ist (zur Ubersetzung vgl. Buber, Schriftwerke z. St.), auf jeden Fall nicht Hartbergers „Dauerweiner" (Ps 137 S.207). Aus dem Parallelismus membrorum geht auch hervor, daß nnntr kollektiv im Sinne von Freudengesang zu verstehen ist, ebenso i'P in V. 3 b. 4. 3 Die Masoreten haben M M analog zur Form derselben Wurzel in V. 5 a als Qal punktiert, ohne daß hier, wie gewöhnlich, ein Akkusativ-Objekt oder eine grammatisch gleich-

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6 act 6 aß

Meine Zunge bleibe am Gaumen kleben, sollte ich deiner nicht gedenken;

6ay 6b

Wollte ich nicht Jerusalem erheben zur höchsten meiner Freuden.

7 aa Rechne, Jahwe, Edoms Söhnen 7aß den T a g Jerusalems an 4 ! 7ay 7b

D a sie sprachen: „Runter, runter, zu Boden damit!"

8 aa

Tochter, Babel, du Verdorbene,

8 aß

glückselig, der dir's heimzahlt;

8b

deine Schandtat, die du uns angetan 5 ;

9a 9b

Glückselig, der packt und zerschmettert deine Kinder am Fels!

(Hebräische Textrekonstruktion s. u. S. 334)

Ps 137 antwortet auf die politische Liquidation mit der religiösen Kapitulation. Der Form nach ist der Text kaum mehr als Gebet zu bezeichnen, denn die einzige Anrufung Jahwes in V. 7 leitet weder Lob noch Klage ein, sondern den Rachewunsch, der sofort über die Form des Gebetes hinauswächst. Kein anderes Ereignis als das babylonische Exil kann diese religiöse Depression bedingt haben, und folglich kommt auch kaum eine andere Epoche für die Entstehung des Psalms in Frage6. wertige Form folgte. LXX (έπιλησθείη) und Vulgata iuxta LXX (oblivioni detur; ebenso, wenn auch undeutlicher, Vulgata iuxta Hebraicum: in oblivione sit) haben nssn wohl zu Recht als Nifal verstanden. Es wird sich um ein Passivum divinum handeln (vgl. Ps 9,19), und nicht um eine metaphorische Diagnose, wie Briggs interpretiert: „paralysed and no longer felt" (II S. 486). Die Änderung der Punktierung ist der Annahme einer merkwürdigen Buchstabenvertauschung (von ®Π3ίΐ „sie verdorre" zu nasm, vgl. Duhm 2 S.453 u.a.) eindeutig vorzuziehen. * Zur Ubersetzung von "Dl mit „anrechnen" vgl. Buhl S. 831. 835. 5 Zum Verständnis von ;nn»n unter Berücksichtigung von Jer 4,30 vgl. Hartberger, Ps 137 S.210. V. 8 b ist mit Sicherheit der Zusatz eines Lesers, der V. 8 aß für unvollständig hielt. Die Ergänzung zerstört den Parallelismus membrorum. 6 Dafür sprechen die zitierten Worte der Sieger (V. 3 b. 7 ayb) und der noch ungestillte Rachedurst gegen Edom und Babel. Gegen die exilische Datierung könnten die Perfekte in V. 1-3 und das wiederholte get „dort" (V. 1.3 a) sprechen, weil beides auf Rückschau aus einer veränderten Situation hinzudeuten scheint (so etwa Engneil, Psalms S. 69 A. 2, in Verbindung mit radikaler Gesamtschau: „Psalm 137 is the only psalm which is unquestionably post-Exilic"). Diese Folgerung ist jedoch nicht zwingend, da die Eingangssituation bewußt fiktiv als

Nationale Katastrophe und religiöse Depression: Ps 137

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Seine Gestaltung scheint sich auf den ersten Blick einer einheitlichen Beurteilung zu entziehen. Einerseits ist die inhaltliche Gliederung in drei Teile mit klarer Gedankenführung evident (V. 1 - 3 . 4 - 6 . 7 - 9 * mit je vier Bikola), andererseits sind die Bikola im ersten Teil von ganz unausgewogener Länge, ohne daß der T e x t zureichenden Anlaß für literarkritische Besserungsversuche gäbe 7 . Angesichts der sorgfältigen inhaltlichen Komposition wird zu überprüfen sein, ob nicht auch die ungewöhnliche Gestaltung des Parallelismus membrorum aus dem Inhalt heraus verständlich wird. Wie bereits angedeutet, ist die Einleitung des ersten Teiles (V. 1 - 3 ) für Psalmen jeglicher Gattung untypisch 8 : keine Anrede einer bestimmten Person oder Gruppe, keine Anrufung Gottes, sondern Voranstellung einer adverbiellen Bestimmung des Ortes, die sogleich den für das Folgende entscheidenden Namen Babel enthält. Die inszenierte Situation ist scheinbar vergangen, gibt sich jedenfalls durch Perfekte und distanzierende Deixis (DIP „dort") als Blick in die Vergangenheit, zurück zu den „Strömen Babels". Sie sind wie die Pappeln charakteristisch für die babylonische Landschaft und dienen hier als Requisiten, um Babel abgeschlossen stilisiert ist, um im folgenden die angebliche Vergangenheit klimaktisch als Gegenwart zu decouvrieren (poetische Pointierung nicht erkannt von Wellhausen, S u V V I S. 185 f.). Damit ist die exilische Datierung noch immer die wahrscheinlichste (so etwa Duhm 2 S . X X , ebenfalls in Verbindung mit radikaler und ebenso unglaubwürdiger G e samtschau: „Das Aelteste von allem scheint in dem jüngsten Nachtrag, Ps 1 3 5 - 1 5 0 , zu stehen, es ist das Volksklagelied aus der Zeit des babylonischen Exils Ps 137 . . . " ) . Eine Übersicht über die vorgeschlagenen Datierungen und formgeschichtlichen Einordnungsversuche bieten Loretz (II S. 315 f.) und Hartberger (Ps 137 S. 3 ff.). 7 Ganz anders Loretz (II S. 318 ff.), der auch hier wie an anderen Stellen der petitio principii von der „kolometrisch geforderten Symmetrie" (S. 324) den evidenten inhaltlichen Aufbau des Textes opfert. E r konstruiert einen „Babel-Song" ( S . 3 2 1 , V. 1 - 6 * ) und einen Fluch gegen Edom (V. 7 - 9 * ) , die sekundär verbunden und harmonisiert worden sind. Im Eifer der literarkritischen Realisierung der Idee haben sich unbemerkt stilistische Ungereimtheiten eingeschlichen, so daß die Sprachgestalt des masoretischen Textes der der Rekonstruktion zweifellos überlegen ist. Die ohnehin literarkritisch kaum zu rechtfertigende Aussonderung von V. 8 a a hat nämlich zur Folge, daß die in V. 8 f. anschließende singularische Anrede (bei entsprechender Änderung des Genus) auf die „Söhne Edoms" in V. 7 bezogen werden muß, welche aber eigentlich eine Bezugnahme im Plural erwarten lassen. Ferner weist Loretz aus kolometrischen Gründen vergleichsweise unwichtige Wörter wie dp ('S) „(denn) dort" ( V . l . 3) und . . . n a i „Worte von . . . " ( V . 3 ) einer sekundären Schicht zu, ohne anzugeben, welche Intention einen Ergänzer zu solchen Auffüllungen veranlaßt haben mag. Die Textzerstörung durch die Eliminierung des offensichtlich bewußten Wechsels von JVI T B ,,Zionslied(er)" zu M M Τ® ,Jahwelied(er)" in V . 4 f . stellt schließlich die vorher genannten Eingriffe in den Schatten. Die masoretische Gestalt von Ps 137 ist zweifellos erklärungsbedürftig, doch erst die Analyse von Loretz schafft den Erklärungsnotstand. 8 Nach wie vor hat H . Schmidt recht: „Das Gedicht steht im Psalter völlig für sich allein. Es läßt sich keiner der sonst begegnenden Gattungen einordnen" ( S . 2 4 2 ) .

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Jahwe, der Gott seines Volkes

als Ort der Trauer zu veranschaulichen, nicht hingegen dazu, die exakte lokale Verumständung und einen bestimmten Trauerritus mitzuteilen 9 . Außer Babel enthält V. 1 weitere wichtige Stichworte, deren Ensemble alle thematischen Aspekte des Psalms enthält: weinen, gedenken, Zion. Das Weinen hat das Singen abgelöst, was V. 2 mit leicht verständlichem Bild sagt. Wieso aber kein Singen der alten Lieder, sei es aus Schmerz, Trotz oder Zuversicht? Aus dem schlimmsten Grund: Die Peiniger verlangen Lieder, Zionslieder (V. 3), und schließen mit dieser gezielten Verhöhnung den ohnehin Gedemütigten endgültig die Lippen 10 . Die am Ende des ersten Teiles durch die Zitierung der Unterdrücker „Singt uns (etwas) von den Zionsliedern!" (V. 3b) zugespitzte Situation erfährt im zweiten Teil (V. 4-6) eine weitere Steigerung, insofern die Abgeschlossenheit der Eingangsszene durch die Reaktion der Betroffenen aufgesprengt wird. Die Unterdrückung ist grausame Gegenwart, der demütigende Befehl der Sieger nicht Gegenstand der Erinnerung, sondern andauernder Konfrontation. Deshalb schließt die Gegenfrage in V. 4 unmittelbar an den Befehl in V. 3 b an; die Betroffenheit duldet nicht länger die poetische Fiktion: „Wie könnten wir Jahwelieder singen auf fremdem Boden?!" (V.4). Beim Ubergang vom Befehl zur Frage sind aus den Zionsliedern Jahwelieder geworden. Der Feind darf die Lieder allenfalls nach einem äußeren Merkmal bezeichnen, hingegen der Israelit nach ihrem innersten Wesen. Betrachtet man die Folge von Befehl und Gegenfrage noch genauer, kommt in ihr eine grundlegende theologische Denkweise zum Vorschein. Zionslieder sind nicht per definitionem ortsgebunden; vielmehr gehören sie nicht auf fremden Boden, weil sie JahweWeAer sind (V. 4) und - wie man den Gedankengang wohl ergänzen darf - der Zion der einzige Ort ist, der Jahwes Ehre wahrt. In der terminologischen Zuspitzung, den der Name Jahwelieder enthält, wird deutlich, wie groß der Dichter von den Gesängen und dem, dem sie gelten, denkt. Man singt sie nicht zur Kurzweil des Siegers. Sie taugen nicht für seine

' Vgl. Gunkel S.581. 10 „Der Wunsch der ,·weltoffenen' Babylonier beruht einesteils wohl auf Neugier bzw. auf Interesse an der fremden Kultur. Damit hätten sie die Exulierten nicht im strengen Sinn als unterworfene Feinde behandelt und Urbanität und Liberalität demonstriert. Andererseits aber erfolgte die Aufforderung auch in mehr unbewußter religiöser Nivellierung oder Ignorierung des religiösen Bezugs der Lieder." Diese Beurteilung ist nicht untypisch für die im ganzen theologisch doch wohl zu harmlose Auslegung Hartbergers (Ps 137 S.205ff., Zitat S.221).

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Ohren und sind allein an dem Ort vor Mißbrauch geschützt, von dem V. 5 f. handeln: Jerusalem 11 . Was der Verfasser in V. 5 f. sagen möchte, läßt sich nicht mehr für das Kollektiv, sondern nur für das Individuum formulieren, weshalb der Ubergang von der l.ps.c.pl. zur l.ps.c.sg. vollzogen wird. Aber das Individuum ist natürlich ein exemplarisches. Ihm stellt sich das Problem des Vergessens, des Nicht-Gedenkens an Jerusalem. Das Stichwort IDT „gedenken" wird wiederaufgenommen (V. 6), dieses Mal vom Verlöschen bedroht. Dem trauernden Gedenken (V. 1) folgt die schleichende Machtergreifung des Vergessens. Der Dichter ist dieser Gefahr gewärtig und sucht sie durch Selbstverfluchung zu bannen. Das Exil erweist sich hier wie auch sonst als Zeitalter des Fluches. Der Verfluchung der Feinde (V. 7-9) geht die Selbstverfluchung als äußerste Bindung zur Sicherung des Jerusalem-Gedenkens voran. Man wird in diesem Zusammenhang auch den in etwa aus derselben Zeit stammenden Text Gen 15,7 ff. berücksichtigen müssen, in dem Jahwe die Glaubwürdigkeit seiner Landverheißung durch vertragliche Verpflichtung meint bekräftigen zu müssen, wobei die in metaphorischer Umgestaltung des Schwurritus angedeutete Selbstverfluchung Gottes sich zum Zweck der „Vergewisserung der bedrohten Gaben Jahwes" bis an die Grenze des theologisch Erträglichen vorwagt 12 . Sowenig die Landverheißung dadurch an innerer Uberzeugungskraft gewinnt, sowenig hat in Ps 137 die dem Jerusalem-Gedenken zugeschworene Spitzenstellung einen freudigen Klang, wie V . 6 a y b suggerieren möchte. nn»& „Freude" ist. hier wie bereits in V. 3 a in die Sphäre des Fluches geraten und kann sich der in ihr herrschenden pervertierenden Kraft nicht entziehen. Und dasselbe gilt in diesem Psalm ganz entschieden für Ί3Τ „gedenken", womit der dritte und letzte Teil (V. 7-9*) eingeleitet wird, der Einblick darin gibt, was der Psalmdichter überhaupt noch von der Zukunft erwartet. Die Wurzel Ί3Ι kommt in jedem Teil vor (V.l. 6. 7), ohne daß sie ein einziges Mal mit ihrem spezifisch theologischen Gehalt als der Erwartung von Gottes rettender und erbarmender Zuwendung zu Wort käme 13 . Das trauernde Gedenken an Zion (V. 1) wird ab11 Der Wechsel vom geistlichen Begriff Zion zum politischen Begriff Jerusalem darf nicht - sofern die unterschiedliche Charakterisierung überhaupt stichhaltig ist - im Sinne eines perspektivischen Wechsels gedeutet werden. Theologisch gesehen hat Jerusalem dieselbe Valenz wie Zion. Der Namenswechsel ist allein kontextbedingt, sowohl als passendes Pendant zum vorhergehenden "O] natu „fremder Boden" als auch im Blick auf den folgenden „Tag Jerusalems" (V. 7), der eben nicht als „Tag Zions" sprichwörtlich gewesen ist. Einmal mehr wird deutlich, wie sorgfältig der Psalm komponiert worden ist. 12 Perlitt, Bundestheologie S.77, vgl. S.73f. 13 Vgl. Schottroff, T H A T I Sp. 514 f. In Thr 5,1, einem Text aus derselben Situation, ist demgegenüber 13t „gedenken" in charakteristischer theologischer Weise verwendet.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

gelöst von der Selbstverfluchung im Falle des Nicht-Gedenkens (V. 6) und gipfelt schließlich in der Aufforderung an Jahwe, der Edomiter zur Rache zu gedenken (V. 7). Im Zusammenhang mit dem Imperativ Ί3Τ „gedenke" enthält der Psalm die erste und einzige Anrede an Jahwe also allein zur Rache, nicht einmal zur Klage oder Bitte. Es gibt kaum einen zweiten Beleg, an dem die Wurzel Ί3Τ so eindeutig wie hier zur Konnotation „anrechnen, rächen" hintendiert. Die Schmach wegen des wohl sprichwörtlichen „Tages Jerusalems", der Liquidierung der staatlichen Existenz von 587, bei der die Edomiter mit den Neubabyloniern gemeinsame Sache gemacht haben, ist ungesühnt und unvergessen (vgl. Ob 11-14) 14 . Die Worte der Sieger haben sich in die Erinnerung ebenso eingefressen wie ihre Taten, so daß der Psalmdichter sogar noch einmal widerwillig ihre Stimme zu Gehör kommen lassen muß, in V. 7 a y b nicht minder schrecklich als in V. 3 b. Beide Zitate werden charakteristischerweise durch Imperative eingeleitet; in V. 3 b erläßt der Sieger einen demütigenden Befehl, in V. 7 a y b stachelt der Kollaborateur und Nutznießer den Sieger mit einem Ruf zur Zerstörung an, bei dem man sich demagogisches Skandieren gut vorstellen kann. Zieht man noch den Imperativ in V. 7 a a mit in Betracht, ergibt sich, daß alle Imperative des Psalms im Dienste des Zynismus (V. 3 b), des Hasses (V. 7 ay) und der Rache (V. 7 aa) stehen. Welch eine Verkehrung des sonstigen Imperativ-Gebrauches der Psalmen, in denen vornehmlich Bitte und Lob durch ihn artikuliert werden! Nach dem Rachewunsch für den Kollaborateur Edom in V. 7 kommt in V. 8 a. 9 als Klimax des Psalms die eigentliche Siegerin und Verursacherin alles Leides an die Reihe: die Tochter Babel. Diese Anrede, wohl eine Komplementärbildung zu „Tochter Zion" 1 5 , klingt in V. 8 bedrohlich, was auch sogleich durch die Apposition „du Verdorbene" und 14 Zu den alttestamentlichen Edom-Traditionen vgl. Hartberger, Ps 137 S. 140 ff. Im Blick auf Ps 137 ist Thr 4,21 f. am interessantesten, weil hier mit den bekannten Motiven der Freude und des Entblößens der Spieß gegen die „Tochter E d o m " gewendet wird. T r o t z der Bedeutung des Edomhasses in der alttestamentlichen Literatur seit der Exilszeit sind die Edom-Belege im Psalter eher spärlich: Ps 52,2; 60,2 (beidemal in Überschrift); 60, lOf. = 108,10f.; 83,7 (allesamt wahrscheinlich exilische Volksklagelieder). 15 Die Anrede „Tochter Babel" ist nur fünfmal belegt (Jes 47,1; Jer 50,42; 51,33; Sach 2,11; Ps 137,8), also ziemlich selten angesichts von knapp 300 Babel-Belegen. Daß die Anrede aufgrund von „Tochter Zion" gebildet worden ist, wird durch den Vergleich von Jer 6,23 mit 50,42 wahrscheinlich. Ähnlich verhält es sich mit der Bildung der Anrede „Tochter E d o m " (vgl. Thr 4,21 f.). Darüber hinaus ist der Beachtung wert, daß Babel kein Psalmthema ist. Nicht einmal die exilischen Volksklagelieder machen von dem Namen Gebrauch. Auch darin nimmt also Ps 137 eine Sonderstellung ein, daß er die Verursacherin des Übels beim Namen nennt, worin es ihm nur das sehr späte Zionslied 87,4 gleichtut (Rahab = Ägypten und Babel als Jahweverehrer). Der auffällige Mangel an konkreten geschichtlichen Bezügen spricht nicht gerade für ein ausgeprägtes geschichtstheologisches Interesse der Psalmen.

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durch die weitere Wort- und Bildwahl bestätigt wird. Das zweimalige 'HPK „glückselig" gehört zur charakteristischen Sprache der Psalmen und Proverbien, wird aber sonst nie wie hier gebraucht, nämlich zur Seligpreisung des Rächers 16 . Die Verwendung von 'HPK ist in diesem Zusammenhang nur insofern „korrekt", als das zugehörige Subjekt nur der Mensch, nie Gott sein kann. Wurde bei den Edomitern noch Gott zum rächenden Gedenken aufgefordert, wendet sich der Psalmdichter mit seinem Rachewunsch bei Babel an Menschen. Hat er in dieser Hinsicht kein rechtes Zutrauen zu Jahwe? Oder erwartet er zumindest schnellere und gründlichere Arbeit von Menschen bzw. anderen Völkern? Der Rachewunsch wird jedenfalls aus der Gottesbindung entlassen und gerät zum gott-losen Racheschrei 17 . Damit wird nur auf die Spitze getrieben, was den ganzen Psalm kennzeichnet. In ihm wird keine Klage laut, nicht einmal Anklage Gottes, sondern er enthält in wenigen Handlungen angedeutete Schilderung der Not, Feindesworte, Selbstverfluchung, Wunsch nach eigenmächtiger Rache, durch Seligpreisung zum „religiösen" Wert erhoben. Dies, die resignierte, eher unwillkürlich als willentlich vollzogene Lockerung der Gottesbindung, macht die Finsternis des Psalms aus, dergegenüber die Konkretion des Rachewunsches in V. 9 (vgl. Nah 3,10) bei aller Grausamkeit fast das Erträglichere ist. Der Psalm ist nicht nach üblicher Manier eingspannt zwischen Anrufung Gottes und Lob(gelübde), sondern zwischen zwei adverbiellen Bestimmungen des Ortes: zu Beginn die Entwurzelten „an den Strömen Babels", am Ende die Seligpreisung des Rächers, der die Kinder des Feindes „am Felsen" zerschmettert. Angesichts der Sprengung der Gebetsform wird vielleicht auch die unausgewogene Länge der Kola verständlich. Das formale Gleichmaß scheint bewußt vermieden zu sein, da es in schroffem Gegensatz zum Wortlaut des Psalms stünde. Auch die Verweigerung der formalen Harmonie muß die Zerrissenheit des Inhaltes widerspiegeln 18 . Markiert somit Ps 137 die tiefste Depression des Jahweglaubens, in der von Gott (fast) nichts mehr erwartet wird, muß zugleich konstatiert werden, daß dem Dichter bestimmte religiöse Güter heilig und teuer geblieben sind. Auffälligerweise gehören zu ihnen nicht die Themen der Heilsgeschichte, obwohl doch die Verbindung der Exilssituation mit der Unterdrückung in Ägypten (und der Befreiung: neuer Exodus!) 16 Vgl. zu neu Cazelles, T W A T I Sp. 481 ff., wo aber die Ungewöhnlichkeit und Härte des Sprachgebrauches in Ps 137 anscheinend übersehen worden sind (vgl. Sp.483). 17 Kraus gegen Geist und Wortlaut des Textes: „Die Bitte um Rache ist eine Bitte, die an die Geschichtsmächtigkeit Jahwes appelliert" (S. 1086). 18 Insofern erscheint Buhls Urteil, der Psalm gehöre hinsichtlich der dichterischen Schönheit zu den besten im Alten Testament (vgl. S.832), als übertrieben. Man kann ihm nur im Blick auf die Klarheit des Aufbaus zustimmen.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

nahegelegen hätte, sofern das Thema Bestandteil des geläufigen religiösen Traditionsgutes der Psalmtheologie gewesen wäre. Das wird man jedoch bezweifeln müssen, denn von Heilsgeschichte im allgemeinen oder Exodus im besonderen ist nicht die Rede. „Eiserne Ration" des Glaubens in der Situation der Katastrophe ist vielmehr etwas anderes: Zion und Jerusalem. Diesen beiden gilt der Schwur des Gedenkens, also Tempel und Davidsstadt, Gottesdienst (Zions-, Jahwelieder) und Land (vgl. den Gegensatz Ί33 niaiK „fremder Boden"). Es wäre gegen alle Wahrscheinlichkeit, bei Zion und Jerusalem in Ps 137 andere theologische Inhalte als die in vorexilischen Psalmen geläufigen zu assoziieren, also nicht Heilsgeschichte, sondern den im Jerusalemer Tempel thronenden Gottkönig Jahwe, der dort auch zum Schutze seines Volkes und Landes gegenwärtig (gewesen) ist. Die von den Neubabyloniern bewirkte Unheilsgeschichte mußte diese theologische Welt erst bis in ihre Grundfesten erschüttern, um bei den Psalmtheologen die (Rück-) Besinnung auf die Heilsgeschichte in Gang zu setzen. Ob die Depression in Ps 137 auch deshalb so tief ist, weil es noch nicht gelungen war, das Entsetzen über den Verlust des theologischen Mittelpunktes in (An-) Klage zu fassen, den Gedanken der Schuld mit den Ereignissen von 587 in Verbindung zu bringen, Jahwes Präsenz auch „an den Strömen Babels" wahrzunehmen? Das würde immerhin die ohnmächtige Wut, den tödlichen Haß - der der Haß der zutiefst Gedemütigten ist und die fast nicht existente Anrufung Jahwes verständlich machen. Wie man hier auch immer urteilen mag, eines ist jedenfalls deutlich: Jerusalemer Psalmtheologen nahmen kein ausformuliertes heilsgeschichtliches Credo mit ins Exil, sondern eine durch Unheilsgeschichte fraglich gewordene, aber dennoch unersetzliche Tempeltheologie. Wie im Bereich der Psalmtheologie diese fundamentale Krise gemeistert worden ist, wird nun zu untersuchen sein. 4. Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74 ι aß lb

Warum, „Jahwe" 1 , hast du auf immer verworfen, raucht dein Zorn gegen die Schafe deiner Weide?

2aa 2 aß

Gedenke deiner Gemeinde, die du vor Zeiten erworben, die du erlöst als Stamm deines Erbbesitzes,

2b

(nämlich) den Berg Zion, auf dem du Wohnung genommen hast.

1 In V. 1. 10. 12. 22 hat wegen der Eingliederung des Textes in den elohistischen Psalter das Appellativum „Gott" wohl den Jahwenamen verdrängt; zu seiner Erklärung in V. 18 s.u. S. 126 A . l l . Die der zweiten Bearbeitungsschicht zugewiesenen Textteile lassen keine einheitliche Tendenz erkennen und gehen deshalb wahrscheinlich auf verschiedene Hände zurück.

Exodus und das Wagnis der H o f f n u n g : Ps 74 3a

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L e n k e d e i n e Schritte h i n a u s z u d e n e w i g e n T r ü m m e r n ,

3b

alles hat der Feind im H e i l i g t u m verwüstet.

4a 4b

D e i n e W i d e r s a c h e r lärmten an d e i n e m V e r s a m m l u n g s o r t , stellten ihre Z e i c h e n als Z e i c h e n auf.

5

7a 7b

Sie w a r f e n Feuer in d e i n H e i l i g t u m , e r n i e d r i g t e n in d e n Staub die Stätte d e i n e s N a m e n s 3 .

8a 8b

Sie d a c h t e n in i h r e m H e r z e n : W i r w o l l e n „sie" allesamt u n t e r d r ü c k e n , „ w o l l e n n i e d e r b r e n n e n " alle V e r s a m m l u n g s o r t e G o t t e s im Land 4 !

9aa

Z e i c h e n f ü r u n s s a h e n w i r nicht (mehr),

9 aß 9b

es gibt k e i n e n P r o p h e t e n mehr, n i e m a n d ist bei uns, der w ü ß t e : bis w a n n 5 ?

2 V. 5 f. sind in Gestalt des M T unübersetzbar, wenngleich ihr Inhalt einigermaßen deutlich ist. Sie wollen die Zerstörung des Tempels durch ein Bild (wahrscheinlich ein Mann, der im Waldesdickicht die Axt schwingt) und an einem bestimmten O b j e k t (rnjiB, eine Art Reliefarbeit, vgl. N o t h , Kön S. 101 f.) illustrieren, ohne d a ß die mit fast jedem W o r t verbundenen semantischen und grammatischen Probleme eine zu verantwortende Übertragung zuließen. Die Textemendationen von L X X bis Robinson (ZAW 89 S. 120 f.) sind die natürliche Reaktion auf diesen mißlichen Zustand, f ü h r e n aber kaum zum ursprünglichen T e x t zurück. Die einzig vertretbare Lösung ist die Buhls (S.483. 485 f.): klare Darstellung der Textprobleme und Verzicht auf eine Ubersetzung. T r o t z des korrupten Textzustandes kann jedoch der Schluß gewagt werden, d a ß V. 5 f. nicht zur Erstfassung des Psalms gehört haben. Schon Olshausen (S.316) hat in den Versen den M a n gel „an echter Parallelgliederung" bemerkt, was, positiv gesagt, nur Gestaltung in Prosa heißen kann. D e r Unterschied ist auch in den T e m p o r a sichtbar. Während V. 4 und 7 vom Handeln der Feinde im Perfekt reden, ist in der verständlichen Verbform jin^n' „sie schlagen" in V. 6 d a f ü r ohne erkennbaren Grund das Imperfekt gebraucht. Schließlich fehlt in V. 5 f. bei gleichbleibendem T h e m a die f ü r den Kontext charakteristische betonte Anrede Gottes („deine Widersacher", „dein Versammlungsort", „dein Heiligtum" usw.). Alle Beobachtungen zusammengenommen, drängt sich die Vermutung auf, hier habe ein Späterer Nachrichten über die Zerstörung des Tempels nachtragen wollen, die er f ü r wesentlich hielt. D e r T e n d e n z nach harmoniert der Zusatz durchaus mit demjenigen in V. 2 b.

Briggs (II S. 151. 153) hält V. 4 b - 6 f ü r eine makkabäische Glosse, ohne f ü r seine Textabtrennung und f ü r die zeitliche Ansetzung Argumente nennen zu können. 3 Z u r Konstruktion Pita nV® pi. mit Akkusativ vgl. Ri 1,8; 20,48; 2 Kön 8,12; zur Vorstellung vom W o h n e n des Gottesnamens vgl. Mettinger, Dethronement S. 56 ff. 4 In V. 8 a ist eine Verbform unverzichtbar, also wird man vielleicht - wenn auch nicht ohne Bedenken - in DJ'J umpunktieren dürfen (vgl. zu dem Problem Olshausen S.317; Buhl S.486). In V . 8 b darf man wohl nach L X X und Peschitta die l . p s . c . p l . i m p f . q . ηη®3 restituieren (vgl. Gunkel S. 324), obwohl alle Bedenken nicht auszuräumen sind (vgl. Briggs II S. 159). Z u r Interpretation der ί>κ Hjn» als „other places of Yahwistic worship in J u d a h besides the Temple" (S. 85) vgl. die guten Ausführungen von Gelston, V T 34 S. 82ff. 5 V. 9 aß ist ein Nachtrag, der die beiden zusammengehörigen Kola V. 9 a a b als das Fehlen prophetischen Wirkens deuten will. Auch rhythmisch ist der Vers im jetzigen Zu-

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Jahwe, der Gott seines Volkes

10a lob

Wie lange, .Jahwe", soll der Widersacher höhnen, der Feind deinen Namen lästern auf immer?

11 a üb

Warum hältst du deine Hand zurück, ist deine Rechte „gefangen im Faltenwurf" 6 ?

12 a 12 b

Dennoch ist .Jahwe" mein König von uran, der Rettungen wirkt auf Erden.

13 a 13 b 14a Hb

D u bist es, der machtvoll das Meer aufgestört hat 7 , der die Häupter der Drachen auf dem Wasser zerhauen hat; du bist es, der die Häupter Leviathans zerschlagen hat, der (sie) als Speise Schiffsleuten gegeben hat/gibt(?) 8 .

stand überfüllt (vgl. Buhl S.487). Zur Deutung von V.9 vgl. Roberts (CBQ 39 S. 474 ff.), nach dessen Ansicht „74:9 can best be understood in relation to ancient Israelite oracular practice" (S.481). Dem ist mit der Einschränkung zuzustimmen, daß die Orakelerteilung mindestens ebenso eine Aufgabe der Priester wie der Propheten war. Ist V. 9 aß einmal als Nachtrag erkannt, fällt damit auch die Eingrenzung auf den prophetischen Personenkreis weg. 6 Fast jedes Wort in V. 11 b ist problematisch, was bereits die unterschiedlichen Verstehensversuche der Masoreten und der alten Übersetzungen zeigen. Gegen die masoretische Deutung muß auf jeden Fall "|3'is'i „und deine Rechte" zum zweiten Kolon gerechnet werden. Obwohl durch keine Lesart unterstützt, wird man die zusammengesetzte Präposition mpn „aus" in 3ipa „in" emendieren müssen. Vielleicht ist der Fehler durch das folgende mpa „von uran" verursacht worden. Das Ketib ipin „dein Gesetz" ist mit dem Qere ηρ'π „deine Brust(falte)" zu lesen. Größere Schwierigkeiten bereitet hingegen das Wort nVs, punktiert als Imperativ Piel des gleichlautenden Verbs „vollenden, vertilgen" (vgl. die nicht überzeugenden Versuche, die Lesart beizubehalten, bei Ewald 1/2 S.443; Olshausen S.318 u.a.). Das ergibt jedoch keinen Sinn, so daß die Vermutung naheliegt, hier sei eine Verwechslung mit dem Verb „zurückhalten, einschließen" erfolgt. Das davon gebildete Part. pass. fem. sg.q. würde den Satz sinnvoll komplettieren und V. 11 b im ganzen zu einem zu V. 11 a passenden Kolon machen. Der notwendigen Änderungen sind jedoch zuviele, so daß man den Wahrscheinlichkeitsgrad der Rekonstruktion nicht zu hoch veranschlagen darf (vgl. Duhm 2 S.287; Deissler S.286 u.a.). 7 In V. 13 ff. sind die mit πηκ „du" beginnenden Konstruktionen zusammengesetzte Nominalsätze, vgl. Michel, Tempora § 28 c; so auch schon Buhl S.483. Die Wiedergabe der Verbformen im Relativsatz macht die Umsetzung der 2. ps. m. sg. in die 3. ps. m. sg. erforderlich. 8 V. 13-17 ist ein sorgfältig komponiertes Stück, das in jedem Kolon betont die Anrede π fix „du" bzw. iV „dir" enthält. Davon machen nur V. 13 b und 14 b eine Ausnahme, bei denen außerdem inhaltliche Auffälligkeiten zu beobachten sind. In V. 13 b nehmen die „Häupter der Drachen" stilistisch störend die „Häupter Leviathans" in V. 14 a vorweg. Recht unbeholfen ist auch die Ortsbestimmung B'nn by „auf dem Wasser". Alle Beobachtungen finden ihre beste Erklärung, wenn man V. 13 b als sekundäre Erläuterung zu V. 13 a von einem Leser begreift, der im einleitenden Kolon die mythische Dimension von 0', dem Meer(esgott), nicht mehr erkannt und sie deshalb mit seiner Kenntnis der Tradition nachgetragen hat (vgl. Gen 1,21; Jes 27,1; Ez 32,1; Hi 7,12). Damit war der Parallelismus membrorum in Unordnung geraten und noch eine weitere

Exodus und das Wagnis der H o f f n u n g : Ps 74 15 a 15 b

Du bist es, der Quelle und Bach gespalten hat; du bist es, der ewige Ströme ausgetrocknet hat.

16a 16b

Dein ist der Tag, ja dein ist die Nacht; du bist es, der Licht und Sonne bereitet hat.

17'a 17b

Du bist es, der alle Grenzen der Erde festgelegt hat; Sommer und Winter - du bist es, der sie gebildet hat.

18 a 18b

Denke daran: der Feind hat Jahwe verhöhnt, törichte Leute haben deinen Namen gelästert.

19a 19b

Gib nicht „den Raubtieren"' das Leben deiner Taube preis, das Leben deiner Elenden vergiß nicht auf immer!

20 a 20 b

Schaue auf den Bund, denn voll sind die Schlupfwinkel des Landes [die Aufenthaltsorte] mit Gewalt 1 0 !

2ia 21b

Nicht kehre der Unterdrückte beschämt zurück, der Elende und der Arme sollen deinen Namen preisen 11 !

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Ergänzung notwendig geworden. Der Redaktor hat sie gleich an V. 14 a mit der lediglich zeilenfüllenden Bemerkung angeschlossen, die Leviathanshäupter seien von „Leuten der Schiffe" verspeist worden (Genetiwerbindung mit undeterminiertem Nomen regens, vgl. G K § 129 c; B"X hier nicht „Wüstentiere", sondern „Schiffe", Pluralbildung wie in Dan 11,30). Man mag die Zusammenstellung von Leviathan und Seeleuten als absonderlich empfinden; aber immerhin hat ein anderer Redaktor in Ps 104,26 mit Leviathan und Schiffen eine vergleichbare Kombination vorgenommen, so daß sie auch in 74,14 ohne Begeisterung über den poetischen Einfall für möglich gehalten werden muß. V. 13 a und 14 a haben also ursprünglich ein Bikolon gebildet. Die von Hitzig (II S. 138) vorgeschlagene und zuweilen übernommene Aussonderung von V. 14 (vgl. Wellhausen, Psalms S. 89; Briggs II S. 155. 159) ist demgegenüber kaum zureichend zu begründen. Zu V. 15 vgl. Emerton, SVT 15 S. 122 ff. ' Nach LXX (τοις θηρίοις) ist der hebräische Text umzupunktieren: ii'nV 10 Die Ubersetzung von V. 20, die in hohem Maße unsicher ist, geschieht im Anschluß an Loretz (Leberschau S. 106). Die „Aufenthaltsorte" sind wohl als eine Glosse zu den „Schlupfwinkeln des Landes" zu verstehen. 11 Olshausens knappe und wohl zutreffende Deutung von V. 21 a: „unerhört von Deinem Throne". Man könnte gegen die Aussonderung von V. 18-21 einwenden, der Wechsel von Imperativ und negiertem Imperfekt in V. 18-23 lasse auf einheitliche poetische Gestaltung schließen und damit eine literarkritische Operation als verfehlt erscheinen. Doch das Argument der stilistischen Geschlossenheit ist leicht zu entkräften. Nimmt man es mit ihr genau, ist bereits das negierte Imperfekt in der 3.ps. in V. 21 störend. Und schließlich betrifft die Frage des Stils nicht nur die einleitenden Verbformen, sondern das Ganze. Damit ist es jedoch nicht zum Besten bestellt: V. 18 nimmt den Imperativ T3t „gedenke" aus V. 2 wieder auf (erweitert um ein unbeholfenes um „daran"), um dann eine Paraphrase von V. 10 folgen zu lassen, offensichtlich mit dem Ziel, das Thema der Lästerung des N a mens noch einmal aufzugreifen und auf die negativen Konsequenzen auch für Israel (die „Taube", die „Elenden", V. 19) hinzuweisen. Jahwes Gedenken würde das Lob seines Namens durch die ihm wohlgefälligen „Ebioniten" zur Folge haben (V. 21). Dieser geschlos-

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Jahwe, der Gott seines Volkes

22 a 22b

E r h e b e dich, „ J a h w e " , f ü h r e deine Sache, g e d e n k e deiner S c h m a c h von einem T o r e n täglich neu!

23 a 23b

V e r g i ß nicht das G e s c h r e i deiner W i d e r s a c h e r , den L ä r m deiner G e g n e r , der b e s t ä n d i g ( z u dir) a u f s t e i g t !

(Hebräische Textrekonstruktion s. u. S. 324 f.)

Ps 74 ist ein Klagelied des Volkes, das nahezu mit Sicherheit in die Epoche des Exils, wahrscheinlich in die frühexilische Zeit, gehört 1 2 . sene Gedankengang (zum Teil mit weiteren sprachlichen Vorgaben aus dem Kontext formuliert) ist mit V. 22 f. nicht gut vereinbar, weil sie mit der erneuten Bitte hinter den in V. 21 erreichten Abschluß zurückgehen. Sie dürften wegen ihrer stilistischen und inhaltlichen Affinität zu V. 4. 7-11 zur Grundfassung des Psalms hinzugehört haben. Diese Vermutung erhält zusätzliche Unterstützung durch die Beobachtung, daß V. 22 (f.) wie die übrige Grundfassung an der elohistischen Redaktion teilgenommen hat, während V. 18 (-21) mit seinem unbefangenen Gebrauch des Jahwenamens wohl erst nach dieser Bearbeitung ergänzt worden ist. Dieser Nachtrag könnte gut durch die seleukidischen Religionsverfolgungen bedingt sein, wie Hanhart (Land S. 133 f.) im Blick auf V. 20 betont. Ein Argument für die Datierung des gesamten Psalms in die makkabäische Zeit wäre hier also nicht unbedingt zu gewinnen. 12 Zwei Datierungen haben in der Forschungsgeschichte miteinander rivalisiert: einerseits die auch hier favorisierte Entstehung nach der Zerstörung des ersten Tempels (587), andererseits diejenige zwischen der Entweihung des zweiten Tempels durch Antiochos IV. Epiphanes (168) und seiner Wiedereinweihung unter Judas MakkabäUs (165); vgl. die Darstellung der Forschungsgeschichte und die sorgfältige Prüfung der jeweils vorgetragenen Argumente von Donner, FS Ziegler II S.41 ff. Die Gründe, die ihn selbst zur makkabäischen Datierung tendieren lassen, wollen allerdings nicht recht überzeugen. Daß die in V.4 und 9 erwähnten Zeichen religiöse Symbole gewesen sein werden (vgl. ebd. S.43), ist sehr wahrscheinlich. Doch über solche (auch in Form von Feldzeichen!) verfügten schließlich bereits die Neubabylonier. Es sei daran erinnert, daß ittu als akkadisches Äquivalent zu JilK in besonderem Maße Terminus für ominöse Zeichen ist (vgl. AHw S. 405 f.; C A D I/J S. 306ff.), so daß die Wahl des hebräischen Wortes auch im Blick auf neubabylonische Praktiken einleuchtend sein würde (zu V. 4 und 9 vgl. auch Loretz, Leberschau S.96ff.).

Schließlich sind ρ κ η ΐ>Χ nyis Va „alle Versammlungsorte Gottes im Lande" (V. 8) nicht allein sinnvoll als Synagogen zu deuten (vgl. Donner, FS Ziegler II S.44f. und Hanhart, Land S. 133). Die angesprochene Mehrzahl von Versammlungsstätten könnte selbst nach der josianischen Reform Realität gewesen sein. Aber die historische Deutung ist wohl kaum intendiert. Vielmehr legt der Psalmdichter dem Feind bewußt eine maßlose Vernichtungsaussage in den Mund, gestattet ihm aber nur eine maßvolle Bezeichnung des Gottes Israels durch das allgemein geläufige Appellativum 1>K „Gott". Seine Eigennamen gehören nicht in den Mund des Feindes, der auch in dieser Hinsicht sowohl der Neubabylonier als auch ein späterer Gegner gewesen sein kann. Das ausschlaggebende Argument für die exilische Datierung, dem die Vertreter der makkabäischen Datierung selbst nach dem Urteil Donners „nicht viel . . . entgegenzusetzen" haben (vgl. ebd. S. 43), ist das Ensemble eindeutiger Hinweise auf die totale Zerstörung des Tempels in V. 3 und 7, welches sich nur sinnvoll auf die Ereignisse von 587 beziehen läßt (vgl. 2 K ö n 25,9). Loretz (Leberschau S. 81 ff.) will die Datierungsalternative durch ein Sowohl - Als

Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74

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War Ps 137 bis auf den Rachewunsch gegenüber Jahwe stumm, ist Ps 74 von Anfang bis Ende klagende, anklagende und bittende Hinwendung zu Gott. Ohne captatio benevolentiae verlangt der Dichter sogleich Rechenschaft von Jahwe: warum die Verwerfung und der Zorn 13 . Die direkte Frage an Jahwe ist althergebrachte Tradition aus dem Klagelied des einzelnen, wie ein Vergleich etwa mit Ps 13 zu zeigen vermag; aber sie ist hier wie auch schon zuweilen in der vorexilischen Klage des einzelnen mit neuen theologischen Inhalten gefüllt. Die altorientalisch verbreitete Frage nach der Dauer der Abwendung Gottes („wie lange?" 13,2 f.) ist vor allem seit der Exilszeit radikalisiert zur Frage nach dem Grund („warum?" 74, l) 14 , verbunden mit tiefem Erschrecken über das Ausmaß des göttlichen Gerichtes, was in seiner Interpretation als Verstoßung und Folge des Zornes Gottes zum Ausdruck kommt. Die Vorstellungen von Verwerfung und Zorn Gottes begegnen in vorexilischen Psalmen nicht zufällig nur selten. Beide Theologoumena liegen nicht in der Gedankensphäre vorexilischer Tempeltheologie und haben diesen Raum erst aufgrund der nationalen Katastrophe nachhaltig okkupiert 15 . Gottes Handeln hat im guten wie im bösen definitiven Charakter (nxj „immer, ewig"), selbst wenn man zugleich die Revision seiner Entscheidung erbitten kann (13,2 a). In diese Dialektik sind auch die theologische Frage („warum?") und Anklage („Verwerfung") des Exils eingebunden (74,1), die trotz der Entwurzelung aus der angestammten Tempelsphäre offensichtlich die größer gewordene theologische Last zu tragen vermag. Sollte etwa der Verlust des Tempels theologisch weniger einschneidend als angenommen gewesen sein? Die Frage ist nicht gleich aufgrund der ersten beiden Bikola zu beantworten. Sie leisten die Integration exilischer Fragen und Klagen in überkommene tempeltheologische Denkformen, ohne zugleich das auch ersetzen: nach 587/86 V. 1-2. 9-11. 18-23 (jedoch „makkabäisch modernisiert", vgl. S. 106f.), nach Deuterojesaja V. 12-17, V . 3 - 8 nach 587/86 außer V . 4 und 8: nach 168. Gegen die Idee spricht nichts, gegen die Analyse jedoch viel, weil sowohl erkennbare Zusammenhänge als auch erkennbare Spannungen unerklärt bleiben. 13 Die in der Ubersetzung angedeutete Gliederung wird im Laufe der Analyse begründet; eine andere Aufteilung - unter Voraussetzung der Einheitlichkeit des Textes - bei Auffret, V T 33 S. 129ff. (unter Berücksichtigung der Gliederungen von Castellino, van der Ploeg und Weiss). 14 Als vorexilische Vorbilder der Warum-Frage in der Klage des einzelnen können Ps 22,2 (s.u. S.239ff. v.a. 246) und 43,2 (s.u. S. 132) gelten. Von daher ist die Frage sowohl in (nach)exilischen Klagen des einzelnen (10,1; 42,10; 88,15) als auch in exilischen Volksklagen (44,24f.; 74,1. 11; 79,10 [vgl. 115,2]; 80,13) rezipiert worden; in dieser Hinsicht unspezifische Belege im Psalter: 2,1; 49,6; 68,17. 15 Zum Verb njr „verstoßen" vgl. Veijola, Verheißung S.56; zur Vorstellung vom Zorne Gottes in den Psalmen s.u. S.247 v.a. A.22.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

Schicksal des Tempels zu thematisieren. Dabei holen sie noch ein weiteres wichtiges T h e m a in den Bereich der Psalmtheologie hinein: das Volk. Sosehr es die Dichtung der Exilszeit bestimmt, sowenig ist es in vorexilischer Zeit ihr expliziter Gegenstand gewesen, obwohl das Faktum seiner Existenz fraglos historische Voraussetzung und unverzichtbare Lebensgrundlage der Entstehung israelitischer Psalmen gewesen ist. In Ps 74 ist das Volk von Anfang an präsent, ohne als solches genannt zu werden. Sogar auf die Selbstidentifikation der Betroffenen durch das Personalpronomen „wir" (bzw. den entsprechenden Kasus) ist - obwohl naheliegend („du hast verworfen", nicht: „du hast uns verworfen") - verzichtet worden. Dahinter steht Methode, welche das Profil des ganzen Psalms geprägt hat: nicht „wir", sondern „du" und „dein", nämlich Jahwe. So präsentiert sich das Volk als sein Eigentum mit Namen, die bewußt (alte) psalmtheologische Werte zum Klingen bringen: „Schafe deiner Weide", „deine Gemeinde", „Stamm deines Erbbesitzes" (V. l f . ) . Das Bild vom "|Ji'jna ]«x, den „Schafen deiner Weide", mag an die Prädikation Jahwes als H i r t im Individualgebet anknüpfen, hat aber erst in der Beziehung auf Israel in der Exilszeit große Bedeutung gewonnen 1 6 . Bei "|;ny „deiner Gemeinde" darf man noch nicht den späten priesterschriftlichen Terminus ('33) m y „Gemeinde Israels/der Israeliten" f ü r das Volk assoziieren, wohl aber die m y „die Versammlung Eis" in Ps 82, l 17 , jene aus kanaanäischer T r a dition stammende Vorstellung von der Götterversammlung, die in Ps 82 zum himmlischen H o f s t a a t Jahwes geworden ist, welcher nun seinerseits in Ps 74 im Volk als ganzem seinen Nachfolger gefunden hat. Im prächtigsten theologischen Gewände präsentiert sich das Volk indessen durch die Bezeichnung ~|nVna Bat? „Stamm deines Erbbesitzes". Es reklamiert damit f ü r sich die Unmittelbarkeit zu Gott, die Ex 15 in konkreter W a h r n e h m u n g des Ausdruckes „Erbbesitz" und anscheinend im Gefolge alter Tempeltheologie allein dem Jerusalemer Tempel(berg) zugesprochen hat (15,17). Verbindet Ex 15 mit dem Volke vor allem die Vorstellung der Auslösung (Vsj, 15,13), das auf dem "in „dem Berg deines Erbbesitzes" seine Bleibe findet, so stellt sich das Volk in Ps 74 expressis verbis in diese Tradition (Dip m p „[die Gemeinde,] die du vor Zeiten erworben", 74,2 a, vgl. Ex 15,16) 18 . Dip „Urzeit" ist die Zeit des Exodus, und das Volk, das jetzt die Katastrophe des Exils er-

16 Jahwe als Hirte: Ps 23,1; der Ausdruck „Schafe deiner Weide" u. ä. ist in (nach)exilischer Zeit verbreitet: Jer 23,1; Ez 34,31; Ps 79,13; 95,7; 100,3; vgl. Illman, Thema S.39 und s.u. S.267 A.12. 17 Vgl. W.H.Schmidt, Königtum S.26ff. 40ff. 18 Zu nap „erwerben" und ^xj „erlösen" vgl. Illman, Thema S. 19 f.

Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74

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lebt, steht in der Tradition des Volkes, das im Exodus Rettung erfuhr, und bietet sich Jahwe als Folgebesitz für das Eigentum an, das ihm in der Katastrophe verlorengegangen ist19. Das Volk als Ort der Gottespräsenz: Diesen hohen Anspruch stellt es an Jahwe und sich selbst, hergeleitet angeblich aus Erfahrung der „Vorzeit", de facto jedoch neue theologische Aufwertung des Volkes, das dadurch seinem Ruf nach Jahwes erneutem, rettendem Eingreifen (TDT „gedenke!") Nachdruck verleiht und sich damit zugleich auf das Wagnis der Hoffnung einläßt. mp ist das theologische Zauberwort der Stunde des Exils. Mythisch verstandene Urzeit ist zeitlos und kultisch wiederholbar. Das ungebrochen positive Verständnis der Heilsgeschichte als Dip hat sie für die Psalmtheologie zur Zeit des Exils relevant werden lassen, weil sie hilfreiche Urzeit-Erfahrung außerhalb der Tempelmauern anbot und zugleich ein Festhalten an tempeltheologischer Denkweise gestattete. Doch damit war das Problem der Zerstörung ihres angestammten Ortes keineswegs erledigt. Welch hohe theologische Achtung der Tempel weiterhin genoß, ist aus der Fortführung von Ps 74 in V. 3-11* zu ersehen, einer eindringlichen Klage über seine Vernichtung, die keinen Gedanken an das Abfinden mit seinem Verlust duldet. Sie bestimmt fast den ganzen ersten Teil des Psalms und läßt damit deutlich werden, wie sehr die einleitende heilsgeschichtliche Orientierung bisher nur ein tastender Versuch zur Überwindung der theologischen Krise ist. Wo Trümmer als „ewige" (nxi, V. 3) gelten, ist Definitives geschehen 20 , muß - so paradox es auch erscheint - Gott selbst gehandelt haben, obwohl doch der Feind - hier ebenso namenlos unheimlich wie in den Klageliedern des einzelnen - triumphiert. Und zwar nicht irgendwo, sondern an „deinem Versammlungsort" ("pyia, V. 4), in „deinem Heiligtum" (η«πρ», V. 7), an „der Stätte deines Namens" (ηηιρ ρ»», V. 7). Der Dichter will hier nicht mit seinem Synonymwortschatz brillieren, sondern Jahwe auf der Basis überkommener Tempeltheologie geradezu einhämmern, daß es an seinem Ort primär um seinen Namen, also um ihn selbst geht. Die Stätte seines Namens (V. 7), der Ort der Gottespräsenz und des Gotteslobes, ist zur Stätte der Lästerung seines Namens durch den Feind geworden, der dies gegen Gott wie Gott tut: nxjb „auf immer, auf ewig" (V. 10). Angesichts dieser Situation muß die Frage, warum Jahwe so zornig an seinem Volk gehandelt hat (V. 1), der 19 Der Zusammenhang mit Ex 15 hat einen Redaktor von Ps 74 zu der Ergänzung in V. 2 b veranlaßt, die die Verbindung im Sinne, wenn auch nicht mit den Worten von Ex 15 eindeutig herstellen soll. Die sie (und Ex 15) bestimmende Zions-Orientierung konterkariert jedoch die inhaltliche Intention von Ps 74,2 a, für den zerstörten Tempel im Volk theologisch Ersatz zu schaffen. 20 Vgl. Donner, FS Ziegler II S.43.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

Frage weichen, warum Gott jetzt, angesichts eigener Bedrängnis, nicht handelt (V. 11). Die Antwort, die der Dichter im zweiten Teil des Psalms (V. 12-17*) auf diese Frage gibt, ist eigenartig genug 21 . Er beruft sich nicht auf die Überlegenheit Jahwes, mit der er auch die Aktionen der Feinde steuert und sich bald als der wahre Herr der Lage erweisen wird. Vielmehr wendet der Dichter scheinbar seinen Blick von der gegenwärtigen Situation weg hin auf den Gott, der „mein König" ist „von uran" (V. 12). Das ist ein tempeltheologischer Grund-satz über den ewig im Heiligtum thronenden Gottkönig Jahwe (vgl. Ps 93,1 f.), ursprünglich im Individualgebet beheimatet {„mein König"), hier vom Dichter kollektivierend dem Volk in den Mund gelegt (vgl. 74,9*) 22 . Wo in frühexilischer Zeit gesagt werden soll, was theologisch vertrauenswürdig ist, kann man offenbar auf nichts anderes als auf tempeltheologisches Gedankengut zurückgreifen, obwohl es doch durch die Zerstörung des Tempels in die Krise geraten ist. Aber eine an Reflexionsniveau und Bekanntheit gleichwertige Denkform war ihr wohl nicht zur Seite zu stellen, so daß nur der Versuch übrigblieb, hilfreiche theologische Erfahrungen anderer Herkunft mit ihr zu kombinieren. Das geschieht in V. 12-17* eindrücklich und instruktiv. Die Vertrauensäußerung V. 12 a geht in den Hymnus über, der in tempeltheologisch vertrauter Weise Jahwes urzeitliches Handeln rühmt, wie er es von seinen kanaanäischen Vorfahren gelernt hat. Die klagende und fragende Anrede Gottes in V. 1-11* ist dem rühmenden „Du bist es ..." in V. 12-17* gewichen, das den urzeitlich-mythischen Sieg im Götterkampf (über 0' „Meer(esgott)", V. 13 a; über Leviathan, V. 14 a) preist. Fast unmerklich wird der Götterkampf in V. 15 durch eine Aussage fortgesetzt, die nicht in kanaanäischer Tradition vorgedacht worden ist, sondern Exodusthematik in mythischem Gewände darstellt. Nur durch sie erklärt sich die Handlungsfolge „spalten" (ypa) und „austrocknen" ( w hi.), während die Objekte völlig der mythischen Sphäre entstammen. Die Verbindung von Exodus und Götterkampf ist bereits aus dem vorexilischen Text Ex 15 bekannt. War sie in dieser Dichtung jedoch allem Anschein nach seltenes Thema gehobener Kultlyrik gewesen, gewinnt sie in Ps 74 neue theologische Valenz. Der Exodus wird in der tempeltheologisch schon bekannten mythischen Gestalt zum H o f f nungsträger: tempellose Gottestat in der Fremde an den bedrängten Seinen, deren Wiederholung in der zeitvernichtenden Perspektive des 21

Erst mit V. 12 beginnt ein neuer Abschnitt (beachte das einleitende l-adversativum), nicht bereits mit V. 10, wie Olshausen (S.315) u.a. meinen. 22 Zu Ps 74,12 vgl. ferner 44,5 und die Erläuterung von Buhl S.487; mißverstanden worden ist 'sVa nach einer Reihe von Vorgängern auch von Michel, Tempora S. 180.

Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74

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Mythos erhofft werden darf. Ohne die der Tempeltheologie eigene mythische Dimension wäre die Heilsgeschichte für sie theologisch stumm geblieben. Indessen ist die Heilsgeschichte in mythischer Gestalt - und in anderer wird sie der Tempeltheologie überhaupt nicht bekannt gewesen sein - einer der fruchtbarsten theologischen Ansätze der Exilszeit gewesen, der entscheidend dazu beigetragen hat, daß Tempeltheologie nicht in die Vernichtung ihres lokalen Zentrums mit hineingerissen worden ist. Auch wäre die Botschaft Deuterojesajas ohne die gedankliche Vorarbeit, die Ps 74 dokumentiert, kaum vorstellbar. Das gilt nicht nur im Blick auf die Mythisierung der Heilsgeschichte, sondern auch für die Integration der Schöpfung als prima creatio in den Bereich der Psalmtheologie. Der hymnische Teil wird nämlich in Ps 74 durch Schöpfungsaussagen abgeschlossen (V. 16 f.), die vom psalmtheologisch Bekannten, der Eigentumsprädikation (V. 16 a), zum psalmtheologisch Neuen, der Konstitutionsprädikation (V. 16 b. 17), fortschreiten 23 . Gott garantiert nicht nur den Bestand der Schöpfung, sondern er ist auch ihr Urheber. V. 16 f. konkretisieren dies an Schöpfungswerken der kosmischen Ordnung statischer (Grenzen) und zyklischer Natur (Tag/Nacht, Licht/Sonne, Sommer/Winter), deren mythische Provenienz noch durchschimmert. Nur so wird Schöpfung innerhalb der Tempeltheologie zum sinnvollen Theologoumenon: als urzeitliche Gründung heilsamer Ordnung, deren Bestand immer schon Thema des Gotteslobes gewesen ist. Die merkwürdige Reihenfolge der Theologoumena in V. 12-17* zunächst der ewig thronende Gottkönig Jahwe, dann mythischer Gottes/Götterkampf mit heilsgeschichtlicher Exodusthematik, schließlich Schöpfungsaussagen - ist nur traditionsgeschichtlich erklärbar: als die sukzessiven Stadien des Traditionszuwachses zur gottköniglichen Tempeltheologie in exilischer Zeit 24 . Es ist zunächst das mythisch-urzeitlich verstandene Rettungs- ( = Heilsgeschichte) und dann auch das Gründungshandeln ( = Schöpfung) Jahwes, das in seiner weit- und wirklichkeitsverändernden Kraft auch Hoffnung für die Gegenwart schöpfen läßt. Ein Gott, der so gehandelt hat, muß auch in der Gegenwart zur Sicherung seines Werkes und zur Wiederholung seines Tuns zu bewegen sein. 23 Daß Schöpfung im Sinne der prima creatio in den Psalmen erst relativ spät integriertes Theologoumenon gewesen ist, ist bereits aufgezeigt worden, s.o. S.73ff., zu Ps 74 S. 130ff.; anders Day, Conflict S . 2 1 f f . Geringen Erkenntniswert hat die Analyse Kühleweins (Geschichte S. 101 f.), die mit ihren anderwärts gewonnenen Kategorien das Spezifische dieses Abschnittes gerade nicht in den Blick bekommt. 24 Der Versuch von Vosberg (Studien S.47), eine sachtheologische Ordnung zu entdecken, wirkt gekünstelt. Überhaupt ist das Reden vom Schöpfer in diesem Psalm von geringerer Bedeutung, als von ihm angenommen (vgl. ebd. S.46ff.).

132

Jahwe, der Gott seines Volkes

Diesem Zweck dient der Abschluß des Psalms in V. 22 f. Sprache und Gedankenwelt sind ganz der tempeltheologischen Sphäre zugehörig, genauer: der Klage des einzelnen entlehnt 25 , was noch einmal an Ps 43 gut illustriert werden kann, wenn nicht dieser Text ohnehin dem Dichter bei der Formulierung mancher Passagen vor Augen gestanden hat. Er hat jedoch neue provozierende Akzente gesetzt. Aus der Bitte des Beters um Gottes Hilfe („führe meine Sache!" 43,1) ist ein eigentümliches Gemisch aus Bitte und Anklage geworden, Jahwe möge endlich seine eigenen Angelegenheiten beherzt in die Hand nehmen („führe deine Sache!" 74,22). Das folgende Ί3Τ „gedenke" klingt (im Unterschied zu V. 2) wie in Ps 137,7; es ist Ruf nach Rache um Jahwes eigener Ehre willen („deine Schmach", 74,22) 26 . Triumph und Omnipräsenz des Feindes sind zur religiösen Bedrohung geworden: für Jahwe! Denn es ist das Geschrei der Widersacher, das „ständig aufsteigt" (V. 23), also zum Ersatz für das Gotteslob des Gebetes und des Opfers geworden ist27. Mit dieser schärfsten Anfrage an Jahwe bricht der Psalm ab. Im Unterschied zu Ps 137 hat er die Sprachlosigkeit gegenüber Jahwe überwunden, ja ist sogar ganz von Jahwe-orientierter Frage, Klage und Anklage beherrscht (vgl. die Dominanz des „du" und „dein"). Er findet sogar wieder Kraft zum Gotteslob, bezogen auf Jahwes urzeitliches Handeln, in welches Heilsgeschichte und Schöpfung (in dieser Reihenfolge und in generischer Identität) integriert werden, um aus ihrer mythisch verstandenen Wiederholbarkeit Hoffnung auf alt-neue Gottestat auch in der trostlosen Gegenwart zu schöpfen. Hat die Katastrophe des Exils der Unheilsgeschichte Eingang in die Psalmtheologie verschafft, so ist es der Mythos gewesen, der Heilsgeschichte und Schöpfung als neuen Hoffnungsträgern in ihr Raum gegeben hat. Dies vorerst aber nur im tastenden Versuch. Ps 74 wagt noch nicht wieder das Lobgelübde. Ähnlich wie in Ps 137,3 f. wird das Gotteslob durch den Triumph des Feindes, der hier (137,3 b. 7ayb) wie da (74,8) selbst das Wort führt, blockiert (74,23). Und wo das Lob auf Jahwes urzeitliches Handeln ertönt (74,12-17*), steht es wie ein erratischer 25

S. o. die Kombination der Warum-Frage mit dem Motiv des Verstoßens in V. 1 (vgl. 43,2). 26 Vaa 'in „von einem Toren" in 74,22 darf nicht einfach gestrichen werden. Es ist Sprache des individuellen Klageliedes (ähnlich 43,1 b), die hier kollektiv zu verstehen ist (wie auch 43,1 b in 43,1 ay eine kollektivierende Lesehilfe erhalten hat). 27 Es ist zu vordergründig, v a n ni>y „der beständig (zu dir) aufsteigt" nur auf den lärmenden Spott der Feinde zu beziehen, wie Buhl (S.490), Gunkel (S.326) u.a. es tun. Das wäre bloße Dublette zu V. 4 a. V. 23 will darüber hinausgehen, wie die Häufung theologisch transparenter Begriffe (ίηρ „Stimme", n^y „aufsteigen", Tön „beständig", aber auch Opferterminus) zeigt. Es mag offen bleiben, ob die Anspielung auf das Opfer durch die Formulierung in 43,4 angeregt worden ist.

Exodus und das Wagnis der Hoffnung: Ps 74

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Block zwischen klagender Frage und anklagender Bitte, die um das unfaßbare Schicksal des Tempels und der Exilierung kreisen. Ps 74 wagt zwar Hoffnung, aber eine Erklärung für die Katastrophe gibt er nicht, kann sie wohl noch nicht geben, weil er letztlich ganz in den gedanklichen Bahnen der Tempeltheologie bleibt. Der aber war der Gedanke der Schuld (fast) fremd. Hier hatte bei fortschreitender Wahrnehmung die Heilsgeschichte der Tempeltheologie noch einen wichtigen Dienst zu erweisen. 5. Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78 1 aß ιb

Vernimm, mein Volk, meine Lehre, neigt euer Ohr den Worten meines Mundes!

2a 2b

Auftun will ich den Mund zum Spruch, will Rätsel aus der Vorzeit künden,

3a 3b

die wir gehört und verstanden haben, und die unsere Väter uns erzählt;

4aa 4 aß

Wir wollen (sie) ihren Söhnen nicht verhehlen, sondern (sie) erzählen dem künftigen Geschlecht:

4ba 4bß

Jahwes 1 Ruhmestaten und seine Macht, seine Wunder, die er getan.

5aa 5 aß

Eine Ordnung richtete er in Jakob auf, ein Gesetz erließ er in Israel,

5ba 5bß

Worüber er unseren Vätern befahl, es kundzutun ihren Söhnen.

6aa 6 aß

Damit das künftige Geschlecht (es) verstehe, Söhne, die geboren werden,

6b 7aa

Daß sie aufstünden und (es) ihren Söhnen erzählten, und sie auf Gott ihre Zuversicht setzten,

7 aß 7b

Und nicht vergäßen die Taten Gottes und seine Gebote bewahrten,

1 Obwohl Ps 78 im elohistischen Psalter steht, ist im folgenden der Gottesname Elohim nicht gegen Jahwe ausgetauscht worden, weil es angesichts der Häufung verschiedener Gottesnamen in diesem Psalm, darunter El fast genauso häufig wie Elohim, ohne rechte Evidenz wäre: Elohim (V.7. 10. 19. 22. 31. 35. 56. 59), El (V.7. 8. 18. 19. 34. 41), Eljon (V. 17. 56), El Eljon (V.35), Jahwe (V.4. 21), der Heilige Israels (V.41), Adonaj (V. 65). Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß die Elohim-Stellen auf redaktionellen Einfluß zurückgehen (vgl. besonders V. 31 a mit der Vorlage in Num 11,33); doch wäre dann nur schwer zu erklären, wieso der Jahwename gerade an prominenter Stelle in V. 4, der Themaangabe mit erstmaliger Nennung des Gottesnamens überhaupt, stehengeblieben wäre.

134

Jahwe, der Gott seines Volkes

8aa 8 aß

Und nicht würden wie ihre Väter, ein störrisches und trotziges Geschlecht,

8ba 8 bp

Ein Geschlecht, dessen Herz nicht beständig und dessen Geist nicht treu gegen Gott war.

9a 9b

Die Ephraimiten waren Bogenschützen, die sich am Tage der Schlacht umwandten.

ίοa lob

Nicht hielten sie den Bund Gottes, seinem Gesetz wollten sie nicht folgen.

11 a 11 b

Sie vergaßen seine Taten und seine Wunder, die er ihnen gezeigt 2 .

12 a 12 b

Vor ihren Vätern hatte er Wunderbares vollbracht im Lande Ägypten, dem Gefilde Zoans.

13 a 13b

Er spaltete das Meer und ließ sie hindurchziehen, er stellte die Wasser wie einen Damm hin.

14a Hb

Er führte sie durch die Wolke am Tage und jede Nacht durch das Licht des Feuers.

15 a 15b

Er zerspaltete Felsen in der Wüste und tränkte (sie) reichlich wie mit Fluten 3 .

2 Die Ergänzung in V. 3. 4 a gehört mit der in V. 9-11 zusammen ('an in V. 9 ist erläuternde Glosse zum bedeutungsidentischen 'ppu „(Bogen-)Schützen" wegen der Verwendung der Wurzel pt>5 ni. „entbrennen" in V.21, welche beiden Wörter in unpunktierten Texten schwer zu unterscheiden sind). Der sekundäre Charakter der genannten Verse geht aus verschiedenen Beobachtungen klar hervor. Der Anschluß von V. 3 an V. 2, welcher recht locker und kaum genau übersetzbar ist, geht auf die Assoziation von Ps 44,2 zurück (Stichwort: tnp> „Vorzeit"). Das „Zitat" wird unter Verwendung von Sprachmaterial aus 78,5 b. 6 eingepaßt, wodurch ein heilloser Personenwirrwarr entstanden ist: „wir haben gehört" aus 44,2, doch die folgende Verbform suffigiert nach 78,5b; „wir wollen nicht verhehlen" in Angleichung an die l.ps.c.pl. des „Zitates", doch das folgende Substantiv wieder suffigiert wie in 78,5 b. Klar ist allein der Sinn der Ergänzung. „Wir" (Identifikation mit dem „Ich" von V. 1 f.) gehören auf die Seite der Väter, die die Botschaft weitergegeben haben, nicht zu denen, die den Gehorsam schuldig geblieben sind, nämlich den Ephraimiten (V. 9-11), deren Verwerfung (V. 67) hier an unpassendem Ort (an dem es um die Vorväter aller geht) vorbereitet werden soll (s.u. S. 140f.; eine Beziehung von V. 9 zu Hos 7,13-16 besteht allenfalls durch die Vermittlung von Ps 78,57; man wird also nicht wie Campbell, CBQ 41 S.53, in V. 9 den Schlüssel zum Verständnis des angeblich aus der Zeit Davids stammenden Psalms suchen dürfen; vgl. die Kritik von Veijola, Verheißung S.92 A.3). Viele Sprachelemente in V. lOf. stammen aus V.4b. 5 und 7.

Als Bestätigung der Analyse kann der glatte Anschluß von V. 4 b an V. 2 und von V. 12 an V. 9 angesehen werden. 3 Zum adverbiellen Verständnis von i m vgl. Olshausen S. 331. Der Tempusgebrauch bereitet in einigen Fällen Schwierigkeiten. Es handelt sich immer um Imperfekte, an deren Stelle man - nicht zuletzt aufgrund des Tempusgebrauches im Kontext - entweder Impf. cons, oder Perfekt erwarten würde (Imperfekt statt wünschens-

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78 16 a 16 b

E r l i e ß B ä c h e s p r u d e l n aus Stein und Wasser wie Ströme fließen.

17 a 17b

D o c h sie s ü n d i g t e n i m m e r n o c h m e h r g e g e n ihn u n d e m p ö r t e n sich g e g e n d e n H ö c h s t e n im d ü r r e n L a n d .

18 a 18 b

Sie v e r s u c h t e n G o t t in i h r e m H e r z e n , i n d e m sie Speise f ü r ihre G i e r f o r d e r t e n .

i9aa

Sie r e d e t e n g e g e n G o t t 4 .

19b

Sie s p r a c h e n : V e r m a g es w o h l G o t t , e i n e n T i s c h z u b e r e i t e n in der W ü s t e ?

20 a«

W o h l s c h l u g er d e n Felsen,

20 aß

daß Wasser flössen und Bäche strömten.

i9aß

20 ba

( D o c h ) k a n n er a u c h B r o t g e b e n

20bß

oder Fleisch seinem V o l k e verschaffen?

21 aa 21 aß 21b

135

D e s h a l b e r z ü r n t e J a h w e , als er es h ö r t e , Feuer entbrannte gegen Jakob, u n d Z o r n s t i e g auf g e g e n Israel 5 .

22 a 22 b

D e n n sie g l a u b t e n n i c h t an G o t t u n d v e r t r a u t e n nicht auf s e i n e H i l f e .

23 a 23 b

D a g e b o t er d e n W o l k e n d r o b e n u n d tat die T ü r e n d e s H i m m e l s auf.

24 a 24 b

E r l i e ß M a n n a als S p e i s e auf sie r e g n e n und gab ihnen Himmelskorn.

wertem Impf. cons, in V. 15 a. 26 a. 45 a. 49 a. 50 aa; Imperfekt statt wünschenswertem P e r f e k t in V . 2 0 a ß . 29 b. 36b. 38 bß. 40 a. 40 b. 64b). Zwölf auffällige I m p e r f e k t - F o r m e n sind Anlaß genug, nach einer nicht erkannten grammatischen Besonderheit zu forschen (vgl. Michel, T e m p o r a v.a. § 3; 21), doch eine plausible Erklärung ist bisher nicht g e f u n den w o r d e n . M a n wird auch mit d e r Möglichkeit rechnen müssen, d a ß sie ü b e r h a u p t nicht zu finden ist, weil der ungewöhnliche Tempuswechsel in einer spätexilischen Dichtung toleriert werden muß. * V. 19 a a ist eine Glosse von einem Kenner der Wüstenüberlieferung des Pentateuch (vgl. N u m 21,5. 7). Die als dritte Fortschreibung notierten E r g ä n z u n g e n haben kein erkennbares Profil u n d gehen deshalb auf unterschiedliche H ä n d e zurück. 5 V. 21 gibt sich in mehrfacher Hinsicht als N a c h t r a g zu erkennen. A u f b a u und Anschluß von V. 21 a a an den vorhergehenden Text sind derart unbeholfen, d a ß der Versteil nicht exakt übersetzbar ist (zur hiesigen Übersetzung vgl. Buhl S.505). Plerophorisch wird die pentateuchisch bekannte Zornesreaktion Jahwes in Anlehnung an N u m 11,1 nachgetragen - jedoch an falscher Stelle, denn sie geht nun unpassend seinem gnädigen H a n d e l n in V. 22 ff. voran. Auch läßt die Erstfassung des Psalms Jahwes Z o r n nicht pauschal gegen J a k o b und Israel gerichtet sein. V. 22 schließt somit auch einzig sinnvoll an V. 20 an. Die sich in V. 21 a n d e u t e n d e Redaktionstendenz wird im weiteren Verlauf des Psalms noch klarere Konturen gewinnen.

136

Jahwe, der Gott seines Volkes

25 a 25 b

Engelsbrot aß der Mensch, Vorrat sandte er ihnen in Fülle.

26 a 26b

Ostwind ließ er sich im Himmel erheben und führte mit Kraft den Südwind herbei.

27 a 27b

Er ließ Fleisch wie Staub auf sie regnen und wie den Sand der Meere beflügelte Vögel.

28 a 28 b 29 a 29 b

Er ließ (sie) mitten in sein Lager fallen, rings um seine Wohnungen her 6 . Da aßen sie und wurden sehr satt, er stillte ihnen die Gier.

30 a 30 b

Nicht ließen sie ab von ihrer Gier; noch hatten sie Speise in ihrem Munde,

31 aa 31 aß 3ib

Da stieg Gottes Zorn gegen sie auf, und er tötete unter ihren Kräftigen, und Israels Jünglinge streckte er nieder 7 .

32 a 32 b

In alledem sündigten sie noch mehr und glaubten nicht an seine Wunder.

33 a 33 b

Da machte er ihren Tagen im Nichts ein Ende, ihren Jahren in Todesangst®.

34 a 34 b

Tötete er sie, so fragten sie nach ihm, kehrten sie um und suchten Gott.

35 a 35 b

Sie dachten daran, daß Gott ihr Fels sei, der höchste Gott ihr Erlöser.

36 a 36 b

Doch sie betrogen ihn mit dem Munde, mit der Zunge belogen sie ihn.

37 a 37 b

Ihr Herz war nicht stetig bei ihm, sie waren nicht treu gegen seinen Bund.

38 aa Doch er ist barmherzig, 38 aß vergibt die Schuld, läßt nicht zuschanden werden. ' Wiederum Nachtrag einer pentateuchischen Reminiszenz (vgl. Num 11,31), die durch ihren Suffixgebrauch zu erkennen gibt, daß sie sich bereits an der Ergänzung V. 21 (Jakob/Israel) orientieren konnte. Sie stammt deshalb wohl von derselben Hand, wenn auch die V. 21 bestimmende Redaktionstendenz hier nicht erkennbar ist. 7 Der redaktionelle Charakter von V. 30 f. ist ganz offenkundig. V. 30 a knüpft an das Motiv der Gier in V. 29 b an, sagt jedoch genau das Gegenteil, um in V. 30 b. 31, gestützt auf die Autorität von Num 11,33, Gottes Zornesreaktion gegen das Volk mitzuteilen. Hier ergänzt demnach dieselbe Hand wie in V. 21 und 28. Es ist durchaus zu bezweifeln, daß V. 30 f. im Parallelismus membrorum gestaltet sind. Die Aussage beider Verse kann auch nicht gut mit dem Inhalt von V. 33 f. vereinbart werden. 8 Ähnliches Verständnis von nVna bei Staerk, SAT III/l S.281; Weise'r S.364.

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

137

38 ba Oftmals dämpfte er seinen Zorn, 38 bp weckte nicht all seinen Grimm. 39 a 39 b

Er dachte daran, daß sie Fleisch sind. ein Hauch, der vergeht und nicht wiederkehrt.

40 a 40b

Wie oft empörten sie sich gegen ihn in der Wüste, erzürnten sie ihn in der Ode!

4ia 4ib

Immer wieder versuchten sie Gott, kränkten den Heiligen Israels.

42 a 42 b

Nicht gedachten sie seiner Hand, des Tages, da er vom Feind sie befreit;

43 a 43 b

Da er in Ägypten seine Zeichen tat, seine Wunder im Gefilde Zoans.

44 a 44b

Er verwandelte ihre Flüsse in Blut, ihre Bäche, daß sie nicht trinken konnten.

45 a 45 b

Er schickte gegen sie Ungeziefer, daß es sie verzehrte, Frösche, daß sie sie verdürben.

46 a 46b

Er gab dem Nager ihren Ertrag preis, ihre Ernte den Heuschrecken.

47 a 47 b

Er vernichtete durch Hagel ihre Weinstöcke, ihre Maulbeerbäume durch Frost'.

48 a 48 b

Er lieferte ihr Vieh dem Hagel aus, ihre Herden den Seuchen.

49 aa 49 aß

Er schickte gegen sie die Glut seines Zornes, Grimm, Wut und Unheil;

49b 50aa

Sendung böser Boten (?); er bahnte einen Weg seinem Zorn.

50 aß 50 b

Er bewahrte ihre Seele nicht vor dem Tode, lieferte ihr Leben der Pest aus.

51a 5ib

Er schlug alle Erstgeburt in Ägypten, die Erstlinge der Manneskraft in Hams Zelten 10 .

' Vsan ist Hapaxlegomenon. LXX übersetzt έν τη πάχνη „durch Reif" und damit wohl zu milde; besser Vulgata iuxta Hebraicum: in frigore „durch Frost" (vgl. auch Buhl S. 506). 10 In V. 40-51 liegt die umfangreichste redaktionelle Ergänzung des Psalms vor (darin als weiterer Zusatz V.49b. 50 aa, V . 4 9 b offensichtlich als Konkretisierung von V . 4 9 a ß gemeint, V. 50 aa als redaktionelle Abrundung, orientiert an V. 49aa). Der Ruf „Wie o f t . . . " in V.40, gemünzt auf das halsstarrige Volk, ist als Anschluß an V . 3 8 f . denkbar ungeeignet. Vielmehr erwartet man nun Konkretionen von Gottes gnädiger Zuwendung, also nicht V. 40-43, allenfalls V. 44-51, die aber von V. 40-43 nicht zu trennen sind. Der Anschluß von V. 39 an V. 52 ff. ist hingegen völlig glatt und hebt die im jetzigen Text be-

138

Jahwe, der Gott seines Volkes

52 a 52b

Er ließ sein V o l k w i e S c h a f e a u f b r e c h e n u n d leitete sie w i e e i n e H e r d e in die W ü s t e .

53 a 53b

Er leitete sie sicher, s o d a ß sie sich nicht f ü r c h t e t e n , w ä h r e n d das M e e r ihre F e i n d e b e d e c k t e .

54 a 54 b

Er brachte sie in sein h e i l i g e s Gebiet, z u m Berg, d e n seine R e c h t e e r w o r b e n .

55 aa 55 aß

Er vertrieb v o r i h n e n V ö l k e r u n d verteilte sie als Erbbesitz.

55b

Er ließ in ihren Z e l t e n die S t ä m m e Israels w o h n e n 1 1 .

56 a 56b

D o c h sie v e r s u c h t e n u n d t r o t z t e n G o t t , d e n H ö c h s t e n u n d seine O r d n u n g e n b e a c h t e t e n sie nicht.

57 a 57 b

Sie w a r e n abtrünnig u n d treulos w i e ihre Väter, v e r s a g t e n w i e ein trügerischer B o g e n .

58 a 58b

Sie e r z ü r n t e n ihn mit ihren H ö h e n , mit ihren G u ß b i l d e r n r e i z t e n sie ihn.

59 a 59 b

G o t t h ö r t e es u n d erzürnte, er verwarf Israel g a n z u n d gar 1 2 .

stehende inhaltliche Spannung auf. Ferner ist zu berücksichtigen, d a ß die erneute Thematisierung eines Exodusaspektes in V. 40 ff. (Plagen) sehr auffällig ist. Zwar ist der heilsgeschichtliche o r d o in diesem Psalm nicht allzu genau; aber nachdem in V. 12-31 Exodus und (sehr ausführlich und damit gut deuteronomistisch) Wüste an der Reihe waren und die Zwischenreflexion in V. 32-39 auf das theologisch U n e r h ö r t e vorausverweist, erwartet man (vor allem in der hier übernommenen deuteronomistischen Perspektive) das T h e m a Land, also V. 52 ff., und nicht die Plagen. Schließlich weist die Darstellung der Plagenwunder ein Charakteristikum auf, das kein weiteres Geschichtskapitel des Psalms teilt: Sie setzt Ρ in Ex 7 ff. voraus (Ps 78,44 nach Ex 7,14ff. P). D e r Stil ist unbeholfen, weil sich der R e d a k t o r nur f ü r die Sache Zeit nimmt - und das ist keine andere als in V.21. 28. 30f.: die schuldhafte Vergeßlichkeit des Volkes angesichts der Zeichen und W u n d e r und der Z o r n Gottes, in V. 49 gegen die Ägypter gerichtet, was den Israeliten hätte W a r n u n g genug sein müssen. 11 V. 55 b ist schon als einzelnes Kolon literarkritisch verdächtig. Das erfährt weitere Bestätigung durch Stil und Inhalt. Die Formulierung stützt sich weitgehend auf Vorgaben des Kontextes (vgl. V.60. 67), und die inhaltliche Intention ist wiederum Israel-orientiert. D e r schon bekannte R e d a k t o r will im Blick auf die V. 56 ff. berichtete Unbotmäßigkeit den Delinquenten explizit genannt wissen: Israel. 12 Ein letztes Mal hat der Israel-orientierte R e d a k t o r eingegriffen. V. 59 gibt sich gleich durch die ungeschickte Einleitung, von der er schon einmal in V.21 Gebrauch gemacht hatte, als sein Zusatz zu erkennen. Dasselbe gilt f ü r die inhaltliche Absicht, die totale Verwerfung Israels zu konstatieren. Sie soll „Lesehilfe" f ü r das Folgende sein, in dem allerdings dies gerade nicht gesagt wird und auch nicht gemeint ist. Von Verwerfung ist in der Grundfassung gezielt in V. 60 und 67 im Blick auf das Nordreich die Rede, ein Bezug, der durch den pauschalen redaktionellen Vorspruch nunmehr nivelliert ist. Die in-

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

60 a 60 b

139

Er verwarf Silos Heiligtum, das Zelt, das er unter den Menschen aufgeschlagen hatte.

61 a Er gab seinen Stolz in die Gefangenschaft dahin, 6ib seine Zierde in Feindeshand. 62 a 62 b

Er lieferte sein Volk dem Schwerte aus, über sein Erbe ward er zornig.

63 a Seine Jünglinge fraß Feuer, 63b seine Jungfrauen wurden nicht gepriesen. 64 a 64 b

Seine Priester fielen durchs Schwert, doch seine Witwen weinten nicht.

65 a 65 b

Da erwachte wie ein Schlafender der Herr, wie ein vom Wein bezwungener Held.

66 a 66 b

Er schlug seine Feinde hinten, ewige Schande tat er ihnen an.

67 a 67 b

Er verwarf Josephs Zelt, Ephraims Stamm erwählte er nicht.

68 a 68 b

Doch erwählte er Judas Stamm, den Berg Zion, den er liebt.

69a Er baute wie die (Himmels-)Höhen sein Heiligtum, 69 b wie die Erde, die er auf ewig gegründet. 70 a 70 b 71 aa

Er erwählte David, seinen Knecht, er nahm ihn weg von den Hürden der Schafe, von den säugenden Tieren holte er ihn weg13,

71 aß Daß er Jakob, sein Volk, weide, 7ib Israel, sein Erbe. 72 a 72 b

Er weidete sie mit redlichem Herzen, mit umsichtiger Hand leitete er sie.

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.326ff.)

Hatte bei der Auslegung von Ps 74 abschließend festgestellt werden müssen, daß dieses exilische Volksklagelied letztlich keine theologische Ätiologie der Katastrophe von 587 zu geben vermochte, weil der Gedanke der Schuld (noch) fehlte, ist er in Ps 78 gerade in Verbindung mit der Heilsgeschichte so umfassend gegenwärtig, daß sie ganz und haltliche Ungereimtheit ist in der Ubersetzung durch dieselbe Wiedergabe von BKa in V. 59 und etil in V. 60 („verwerfen") angedeutet worden. 13 V. 71 aa ist Zusatz zu V. 70 b, welcher wahrscheinlich illustrieren soll, daß Gottes Erwählung keinen Aufschub duldet (so auch wohl von Briggs II S. 191 verstanden).

140

Jahwe, der Gott seines Volkes

gar zur Unheilsgeschichte pervertiert zu werden droht. Trotz der Omnipräsenz der Schuld, die vom Psalmdichter ohne die theologische Vorarbeit der Deuteronomisten kaum in dieser Weise wahrgenommen worden wäre, läßt er die geschichtliche Bestandsaufnahme aber nicht in drückender Hoffnungslosigkeit enden, sondern richtet den Blick schließlich beherzt nach vorn, ohne daß man den Eindruck hätte, hier würde Hoffnung als vaticinium ex eventu entworfen 14 . Indessen bedürfen in diesem Psalm die ganz eigentümliche Gestaltung und Gewichtung der Schuldfrage im Spannungsfeld von Heils- und Unheilsgeschichte näherer Untersuchung. Das Ich, das in V. 1 f. selbstbewußt von „meinem Volk" und „meiner Lehre" spricht, kommt im weiteren Verlauf des Psalms nicht mehr vor. Am ehesten wird die personifizierte Weisheit die Sprecherin sein, wozu auch der weitere Sprachgebrauch paßte (bva „Spruch", ητπ „Rätsel"). Sie muß für den Höraufruf ihre Autorität leihen, denn von Gottes Geschichte mit Israel soll die Rede sein in unhinterfragbarer Interpretation, weil sub specie sapientiae gleichsam sub specie Dei geurteilt ist. Die „Rätsel aus der Vorzeit" (V. 2), die verkündet werden sollen, lassen sich in einer Frage, die zugleich Anklage ist, bündeln: Wie ist das wiederholte Bei- und Nacheinander von heilsamer Gottesordnung und rettender Gottestat einerseits und eskalierendem Ungehorsam des Volkes andererseits möglich? Der Psalm spricht in summierender Kategorisierung von Jahwes Ruhmestaten, seiner Macht und seinen Wundern (V. 4 b), um dies dann zuvörderst durch die Gabe des (Sinai-)Gesetzes zu konkretisieren (V. 5 a), demgegenüber sich „ihre Väter" als „störrisches und trotziges Geschlecht" erwiesen haben (V. 8 a). Die Geschichtsanalyse des ersten Teiles (V. 1-11*) bedient sich in V. 4 b-8 (11) gut bekannter deuteronomistischer Sprache und Theologie 15 , einer Gedankenwelt also, die sich in die Psalmtheologie ganz neu Eingang verschafft und dabei auch manche Umakzentuierung erfahren hat. Das wird besonders an der Behandlung der Väter deutlich. Ganz offenkundig vermeidet der Psalmdichter die deuteronomistische Rede

14 Deshalb wird der Psalm am ehesten in spätexilischer oder frühnachexilischer Zeit entstanden sein. Die in V. 69 ff. formulierte Hoffnung auf die enge Verbindung von Tempelbau und (neuem) davidischem Königtum hat in nachexilischer Zeit gerade keine Realisierung erfahren. Schließlich sind in der Grundfassung des Psalms zwar kräftig deuteronomistische, aber noch keine priesterschriftliche Sprache und Theologie rezipiert worden (vgl. die guten Ausführungen von Foresti, Lat.NS 48 S. 55 ff., ohne ihm darin zu folgen, den Psalm für ein direktes Zeugnis deuteronomistischer Theologie zu halten und bei der Datierung das Ende des Exils als terminus ad quem bestimmen zu können). 15 Zum Nachweis deuteronomistischer Terminologie in Ps 78 vgl. Veijola, Verheißung S.50ff.; Foresti, Lat.NS 48 S . 5 6 f f . A. 131. 137.

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

141

von der „Schuld der Väter" 16 . Vielsagend wird der Begriff „Schuld" an dieser Stelle überhaupt nicht gebraucht, und die Väter erleben eine Aufteilung in gute und böse: „ . . . unsere Väter" als die guten, die „ihren Söhnen" - nämlich uns, wie die Ergänzung in V. 3. 4 a expressis verbis nachträgt - die Tradition von Gottes Heilshandeln weitergegeben haben (V. 5 b), „ihre Väter" als die bösen, nämlich die Väter von „unseren Vätern" - und nicht allein die Ephraimiten, wie die Ergänzung in V. 9-11 will -, die Zeitgenossen von Gottes Rettungshandeln waren und dennoch nicht glaubten (V. 8. 12)17. Die schuldigen Väter sind die Väter der heilsgeschichtlichen Vorzeit (wobei noch zu überprüfen sein wird, wieweit ihr trotziges Geschlecht in die geschichtliche Zeit hereinragt), die durch ihr Handeln „rätselhaft" (vgl. V. 2) geworden sind, denn sie haben ihrerseits Gottes Heilsgeschichte zur menschlichen Schuldgeschichte pervertiert, während Gott seinerseits unvorstellbar gnädig an seinem Heilshandeln festgehalten hat. Die Stichhaltigkeit der Analyse soll vom zweiten Teil an (V. 12-16) durch die geschichtlichen „Fakten" untermauert werden. Dazu werden zunächst die Wunder in Ägypten (V. 12), die Rettung am Schilfmeer (V. 13 f.) und die Wasserwunder der Wüstenwanderung (V. 15 f.) aufgeboten, ohne die Reaktion der Väter auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Vor das Aufrechnen stellt der Dichter bewußt die Fülle des göttlichen Heilshandelns. Nur wenige Quellen bieten sprachliche Vorgaben, die ihn zufriedenstellen. Die Berichte in Ex 7 ff. sind nur Anknüpfungspunkte, die es zu überbieten gilt. Deshalb sind nach Ps 78,12 auch keine Namen aus der pentateuchischen Uberlieferung aufgenommen worden, weder Schilfmeer (Ex 15) noch Massa und Meriba (17,1-7). Exodus- und Wüstenzeit sind gründende Urzeit und damit Heilszeit schlechthin, der die Bindung an geschichtlich kontingentes Gotteshandeln widerstrebt 18 . So, wie Gott damals gehandelt hat, kann er jederzeit

" Vgl. Lee, Sünde S.92f. 108 ff. 17 Im Unterschied zu dieser Aufteilung der Väter vgl. den eindeutig jüngeren Ps 106, f ü r dessen Verfasser das gemeinsame Schuldbekenntnis kein Problem mehr darstellt (V.6). 18 Nicht von ungefähr ist es der mythisch tingierte T e x t Ex 15, der als einziger sprachliche Vorbilder geliefert hat: sowohl f ü r die Exodus- als auch f ü r die Wüstenzeit. W a h r scheinlich ist K^a nsy „Wunderbares vollbringen" in Ps 78,12 an Ex 15,11 angelehnt, ganz gewiß aber Ps 78,13 an Ex 15,8 und nicht an 14,16. 21b (P). P s 7 8 , 1 4 wird an Ex 13,21 orientiert sein und Ps 78,15 f. mit Sicherheit an Ex 17,1-7 (nicht an N u m 20), ohne d a ß eine einzige charakteristische Formulierung benutzt w ü r d e (der Plural a n s „Felsen" soll Distanz zur konkreten Erzählung schaffen und das Allgemeingültige betonen); wenn schon sprachliche Vorgabe, dann in Ps 78,16 O'Vnj „Bäche" wiederum aus Ex 15,8 (vgl. Ewald 1/2 S.470; Buhl S.511)! D e r A n f a n g der Heilsgeschichte (Ps 78,12-16) ist ebenso eindeutig Heilszeit wie ihr (vorläufiges) Ende (78,68-72). Diese Sicht der Heilsge-

142

Jahwe, der Gott seines Volkes

wieder handeln: xi>3 n&y „Wunder wirkend" (Ex 15,11, vgl. Ps 78,12), eine psalmtheologische Kategorie 19 , die Heilsgeschichte im tempeltheologischen Bereich zu rezipieren geholfen hat. Nach der im zweiten Teil mehr angedeuteten als dargestellten Fülle der Heilstaten Gottes wirkt die Einleitung des dritten Teiles (V. 17-31*) auffällig abrupt, da zur konstatierten Fortsetzung des Sündigens (vgl. V. 17 a) eigentlich ein Anfang gehört, den man mit unsicherem Recht nur in dem summarischen V. 8 b erkennen kann. Die ungezwungenere Erklärung der Formulierung in V. 17 a ergibt sich aber durch einen Blick in den Leittext des Psalmdichters. In ihm wird nämlich bereits beim Wasserwunder zu Meriba (Ex 17,1-7) der Ungehorsam des Volkes erwähnt, während der Psalmdichter auf diese Begebenheit nur als Heilstat rekurriert (vgl. Ps 78,15f.). Doch die anders akzentuierende Darstellung in Ex 17,1-7 hat er durchaus vor Augen gehabt, und zwar in deuteronomistisch erweiterter Form, durch die der Gedanke der Versuchung in die Erzählung eingetragen worden ist20. Darauf nimmt der Dichter in Ps 78,17 f. implizit Bezug21, um damit die Speisungswunder mit Manna und Wachteln einzuleiten. Auch bei dieser Darstellung bleibt seine psalmtheologische Perspektive in Geltung. Mit demselben Bild wie in Ps 23,5 (aber wohl ohne direkten literarischen Zusammenhang) läßt er das Volk die ungläubige Frage stellen: „Vermag es wohl Gott, einen Tisch zu bereiten in der Wüste?" (78,19). Was dort Vertrauensäußerung ist, wird hier pervertierend hinterfragt. Und dennoch reagiert Gott unbeirrbar gnädig mit Speisungswundern, die hinter den Wasserwundern in nichts zurückstehen. Die Fülle schichte im Kontext der Psalmtheologie erreicht ihren H ö h e p u n k t in Ps 114 (s.u. S. 150 ff.). " Die dreizehn Belege des Wortes X^D „Wunder(bares)" entstammen ganz überwiegend dem psalmtheologischen Bereich (Ex 15,11; Jes 9,5; 25,1; 29,14; Ps 77,12. 15; 78,12; 88,11. 13; 89,6; 119,129; T h r 1,9; Dan 12,6). 20 Z u r deuteronomistischen Redaktion in Ex 17,1-7 gehören neben der E r w ä h n u n g des H o r e b in V. 6 die Passagen, die das Versuchungsmotiv der H a n d l u n g und dem O r t s namen nach in die Erzählung eintragen: V. 2 by. Massa in 7 a. 7bßy (vgl. N o t h , U P S.32 A. 111; ders., Ex S. 110 f.; Fritz, Israel S.52f., der die Hinzugehörigkeit von V. 7 by z u r Redaktion richtig erkannt, mit der Zuweisung zu J aber eine wegen der Parallelbelege unplausible literarhistorische E i n o r d n u n g vorgenommen hat; W . H . S c h m i d t , Erträge S. 100 f. mit weiterer Literatur). Es ist durchaus überlegenswert, ob nicht auch Massa ein in deuteronomistischer Tradition künstlich gebildeter Ortsname rein theologischen Inhaltes ist („Versuchung", vgl. Lehming, Z A W 73 S. 71 ff.), wie es f ü r H o r e b hat wahrscheinlich gemacht werden können (vgl. Perlitt, Sinai S. 315 ff.). Möglicherweise sind die hier vorgenommenen literarhistorischen Unterscheidungen aber auch gegenstandslos, sofern die gediegene Analyse von Aurelius (Fürbitter S. 167 ff.) im Recht sein sollte, nach der Ex 17,1-7* insgesamt „in eine relativ späte, eher nachexilische als exilische Zeit" gehört (S. 175). 21

So auch Buhl S. 511.

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

143

des Heils betont der Dichter durch überschwengliche Termini: „Himmelskorn" und „Engelsbrot" aus den „Türen des Himmels" (vgl. V. 23-25) 22 . Beim Preisen der Wunder, nicht beim Verurteilen des Volkes schlägt das Herz des Dichters, sosehr die Wahrnehmung der Schuld von ihm als theologische Notwendigkeit erkannt worden ist. Deshalb zögert der Dichter auch nicht länger, die Schuldfrage selber zum Gegenstand des nächsten Abschnittes zu machen (V. 32-39). Nach der heilsgeschichtlichen Konkretisierung (V. 12-31*) folgt nun die theologische Analyse. Der Dichter konstatiert ein Hin und Her zwischen Sünde/Unglaube der Vorväter, strafender Reaktion Gottes und daraus folgender erneuter Hinwendung der Schuldigen zu ihm, die aber bereits den Keim der Lüge in sich hat. Der in V. 32-37 geschilderte Kreislauf von Schuld und Vergebung erinnert der Struktur nach an das deuteronomistische Richterschema (vgl. Ri 2,11 ff.) 23 , ohne daß speziell die Richterperiode charakterisiert werden sollte. Die Feststellung des scheinbar ausgewogenen Verhältnisses von Schuld und Vergebung ist nur der erste Schritt der Analyse, die in V. 38 f. zum entscheidenden theologischen Urteil fortschreitet: In Anlehnung an Ex 34,6 (f.) wird die Prärogative der Barmherzigkeit Gottes vor seinem Zorn betont. Die Anknüpfung an die Formel ist der Terminologie nach locker, der Sache nach jedoch unverkennbar. Angesichts der eskalierenden Schuldgeschichte hält der Dichter an ihrer Uberbietung durch die göttliche Barmherzigkeit fest. In der Wahrnehmung der Schuld der Vorväter in heilsgeschichtlicher Zeit ist der Dichter deuteronomistischer Theologie verpflichtet, in der Bewertung der Schuld allerdings eher altüberlieferter Psalmtheologie, nach deren Einsicht menschliche Schuld nie göttliche Gnade fraglich machen kann. Das gewichtige Wort von der Schuld 22 Leittext des Dichters und der Redaktoren ist der womöglich ältere Tradition voraussetzende, aber erst in deuteronomistischer Tradition formulierte Text Num 11 (Ps 78,21 vgl. mit Num 11,1; Ps 78,26. 28 vgl. mit Num 11,31; Ps 78,30f. vgl. mit Num 11,33; zu nixn „Gier" in Ps 78,29 vgl. Num 11,4; zu Num 11 vgl. H.H.Schmid, Jahwist S. 70 ff. und vor allem Aurelius, Fürbitter S. 176 ff.). Aus Num 11 wird auch die Reihenfolge Manna - Wachteln stammen (dagegen Wachteln - Manna bei P, vgl. Ex 16,12 ff.). Ex 16 (vgl. Ruprecht, ZAW 86 S. 269 ff.; Perlitt, FS Wolff S. 407 ff.; Aurelius, Fürbitter S. 171 f. 187 f.) kommt wohl als ganzer nicht als Leittext für Ps 78 in Frage, weder im priesterschriftlichen Bestand noch in den nachpriesterschriftlichen Zusätzen aus spätdeuteronomistischem Geiste (Ex 16,4 f. 8. 28 f. 31 f.). Bei den sprachlichen Berührungen zwischen Ps 78,24 und Ex 16,4 dürfte der Psalmtext der gebende Teil gewesen sein. 23 Vgl. Baethgen S. 242; auch dabei verzichtet der Dichter nicht auf die Verstehenshilfe durch psalmtheologische Begriffe: vgl. die Epitheta n s „Fels" (vgl. van der Woude, T H A T II Sp. 542) und i-RJ „Erlöser" in V.35 (vgl. Ringgren, T W A T I Sp.887ff., wobei stärker zu berücksichtigen ist, daß die „Nationalisierung" des Sprachgebrauches in manchen Psalmen, bei Deuterojesaja und sogar in deuteronomi(sti)sch beeinflußten Texten an Formulierungsvorbilder in Individualpsalmen anknüpft, vgl. etwa Ps 19,15; 69,19).

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Jahwe, der Gott seines Volkes

(py) fällt erstmalig im Psalm, allerdings nur, um den Schuld vergebenden Gott zu preisen (V. 38 a) 24 . Ebenso ist die Rede von seinem Zorn, auch sie in der Grundfassung des Psalms ohne Vorläufer 2 5 , Rede vom zurückgehaltenen, nicht geweckten Zorn (V. 38 b), ganz undeuteronomistisch, aber gut psalmtheologisch mit Gottes barmherzigem Gedenken an die menschliche Vergänglichkeit begründet (V. 39) 26 . Doch auch im Blick auf die deuteronomistisch geprägte Sicht der Heilsgeschichte ist für den Dichter die theologische Zwischenreflexion mit ihrer Betonung der Präponderanz der Gnade Gottes von Belang. Denn er will sich im nächsten Abschnitt (V. 52-55*), dem vorgegebenen Schema getreu, der Landnahme zuwenden (und nicht den ägyptischen Plagen, V. 40-51, ein Einschub, der den theologischen Zusammenhang empfindlich stört). Das Land aber ist in deuteronomistischer Theologie die Gnadengabe Jahwes schlechthin. Wie konnte Jahwe sie nur gewähren, wenn vorher in schädlicher Regelmäßigkeit die Unwürdigkeit des Volkes für diese Gabe demonstriert worden ist? Hier mußte eine Erklärung im Sinne von V. 32-39 erfolgen, die Gottes souveränes Gnadenhandeln angesichts aller menschlichen Schuld an keine menschliche Vorfindlichkeit bindet (vgl. Ps 89,31-38 - dem Deuteronomismus allerdings deutlicher verhaftet als Ps 78). Der Einzug ins Land vollzieht sich schnell und gerät gleichsam zum rituellen Akt: zur Wohnungsnahme im „heiligen Gebiet", genauer: auf dem „Berg, den seine Rechte erworben" (V. 54), also zum Zion. Die exponierte Sicht der Landnahme als Zug zum Jerusalemer (Tempel-)Berg ist bereits aus Ex 15 bekannt, welcher Text mit Sicherheit auch vom Verfasser von Ps 78 an dieser Stelle verarbeitet worden ist. Ganz unzeitgemäß wird nämlich im Zusammenhang der Landnahme eine Exoduserinnerung in V. 53 b festgehalten, deren Formulierung sich unverkennbar an Ex 15,10 anlehnt. Hier kommt die selbst in (nach)exilischer Zeit noch wirksame zeitvernichtende Dimension der Tempeltheologie zum Tragen. Sie hat die vom Meer bedeckten Feinde der historischen

24 Es ist kaum zufällig, daß das Wort ]iy „Schuld", mit dem in deuteronomistischer Tradition auch die Rede von der „Schuld der Väter" verbunden ist, bisher keine Verwendung gefunden hat. Im vorausgehenden Text hat der Dichter allein von den Verben ΚΒΠ „sündigen" (V. 17. 32), mn hi. „sich empören" (V. 17), Π03 pi. „versuchen" (V. 18), ϊ'βκπ κ1? „nicht glauben" (VC. 22.32), naa kV „nicht vertrauen" (V. 22) Gebrauch gemacht, also Verfehlung in actu dargestellt, ohne die theologische Gewichtung vorzunehmen. Sie erfolgt erst in V . 3 8 f . 25 Wie bereits dargelegt, war es ein spezielles redaktionelles Anliegen, die aus den pentateuchischen Vorlagen bekannte Rede vom göttlichen Zorn im Psalm nachzutragen (vgl. V.21. 30f.). 26 Außer Hi 7,7 gibt es keine Bildparallelen, wohl aber Sachparallelen, vgl. Ps 62,10; 89,48f.; 90,3-6; 94,11; 103,13-16; Jes 40,6f. u.ö.

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

145

Konkretion entzogen und zum Topos für alle und alles werden lassen, was sich Israel entgegenzustellen wagt. Setzt in dieser Hinsicht Ps 78 die tempeltheologische Tradition von Ex 15 fort, hat sie in Ps 78,54. 55 a exilisch-deuteronomistisch bedingte Umakzentuierungen erfahren. Nicht mehr das Jerusalemer Heiligtum selbst kann wie in Ex 15,17 Ziel der Landnahme sein, denn gerade die Zerstörung des Tempels ist das theologisch zu bewältigende Problem. Vielmehr wird jetzt gut deuteronomistisch allein dem Land und (als pars pro toto) dem Tempelberg die theologische Würde zuteil, die sich vorher Volk, Land, Tempelberg und Tempel teilen mußten (vgl. Ex 15,13. 17)27. War etwa mit der theologischen Aufwertung des Landes die Frage nach der theologischen Würde von Volk und Tempel ein für allemal erledigt? Die Frage drängt sich angesichts der bisherigen Gedankenführung des Pslams und seiner Orientierung an Ex 15 so selbstverständlich auf, daß es nicht wundernehmen kann, Volk und Tempel in seinen beiden letzten Abschnitten thematisiert zu finden, wobei in Kenntnis der Geschichte - aber ohne Rücksicht auf ihren ordo - theologisch definitiv geurteilt werden soll. Zunächst in V. 56-64* im Blick auf das Volk, das von V. 52 her in constructio ad sensum auch Subjekt der pluralischen Verbformen in V. 56 ff. ist. Seine Treulosigkeit gegenüber Gott und seinem Gebot wird in der Grundfassung des Psalms erstmalig angeklagt und in Kontinuität zur Abtrünnigkeit „ihrer Väter" gestellt (V.57, vgl. V.8. 12. 17 f. 22. 32)28. In Übernahme deuteronomistischer Wertung werden in V. 58 als schwerste Verfehlungen des Volkes der Höhenkult und die Götzenbilder genannt, womit es Gottes Zorn geweckt hat. Bei dieser Anklage, die 27 Die partielle Parallelität der Aussagen in Ex 15 und Ps 78 vermittelt ein klares Bild von Abhängigkeit und Neuinterpretation: Der Zielangabe nu Vk „zu deiner heiligen Wohnstatt" in Ex 15,13 b entspricht in Ps 78,54 a die Ortsbestimmung inp> Via) i>R „in sein heiliges Gebiet", welche gegenüber der Vorlage einen Terminus enthält, der eindeutig das Land bezeichnet. Die andere Entsprechung ergibt sich zwischen Ex 15,17aa "|ίΐί>Π3 ΊΠ3 „auf dem Berg deines Erbbesitzes" und Ps 78,54b ir»> njijp nr in „zum Berg, den seine Rechte erworben". nVnj „das Erbe" wird nicht mehr mit dem Tempelberg in Verbindung gebracht, sondern ganz im Sinne des Deuteronomismus mit dem Landbesitz der Völker. Dafür wird aber dem Tempelberg eine Qualifikation zugedacht, die aus Prädikation des Volkes und des Tempels in Ex 15,16. 17 zusammengestellt zu sein scheint. W o Ex 15,17 als Höhepunkt der Landnahme die Ankunft am Tempel nennt, teilt Ps 78,55 a die Landverteilung als n^ru „Erbe" mit - auch dies als Höhepunkt gemeint. Heilsgeschichtliche Theologie in deuteronomistischer Perspektive, welche V. 54. 55 a prägt, hat kein höheres Heilsgut als das Land zu verkünden. Zu den Verbindungen zwischen Ex 15 und Ps 78 vgl. auch Foresti, Lat. N S 48 S.59. 28 Das Bild vom „trügerischen Bogen" in V.57 wird aus H o s 7,16 stammen, vgl. Baethgen S.243 u.a.

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Jahwe, der G o t t seines Volkes

der Dichter zeitlich nicht einschränkt, also wohl auch gegen die jüngste, noch unbewältigte Unheilsgeschichte richtet, ist der Wortlaut genau überlegt. Sie wendet sich gegen das ganze Volk, das der für V. 59 verantwortliche Redaktor richtig mit dem die Gesamtheit meinenden Namen Israel bezeichnet, aber sie nennt als Reaktion Gottes auf den Abfall nicht, wie der Redaktor in V. 59 unzulässig nachträgt, die Verwerfung, sondern allein den Zorn 29 . Von der letzten Konsequenz des Zornes, der Verwerfung, ist erst in V. 60 und dann noch einmal in V. 67 in einem Zusammenhang die Rede, der wichtige Ereignisse der Geschichte Israels eigenwillig um die theologischen Pole Verwerfung und Erwählung organisiert. Verworfen hat Gott das Heiligtum in Silo, „das Zelt, das er unter den Menschen aufgeschlagen hatte" (V. 60; vgl. Jer 7,12). Verwerfung ist hier spezifisch tempeltheologisch gedacht. Sie ist Widerruf der göttlichen Präsenz unter den Menschen schlechthin, nicht primär unter dem Volk, obwohl es selbstverständlich mit betroffen ist. Es ist jedoch aufschlußreich, daß im folgenden (V. 61-64), wo bereits ab V. 61 - von fast allen Kommentatoren mißverstanden - vom Volk die Rede ist30, gerade nicht von Verwerfung gesprochen wird. Die Dahingabe des Volkes in Gefangenschaft, seine Auslieferung ans Schwert, die Vernichtung und Entehrung seiner Jugend (vgl. V . 6 I f f . ) , das sind Hinweise, die nur eine plausible Deutung zulassen: Sie haben die Liquidierung des Staates und die Exilierung des Volkes im Blick, und zwar nicht nur des Nord-, sondern auch des Südreiches, weil im vorausgehenden Text das Volk als Einheit, 29

Die Lesung von M T bedarf keiner Verbesserung, schon gar nicht durch ein ( r e k o n struiertes Wort, gegen Freedman, G o d Almighty S.347. 30 Auch in V. 61 versuchen die Ausleger, die bekannte Reihenfolge der historischen Ereignisse hineinzulesen, die der Kontext indessen in aller Klarheit nicht bietet. Weil in V. 60 von Silo die Rede ist, m u ß in V. 61 angeblich die Lade gemeint sein, die nach 1 Sam 4 von den Philistern erbeutet worden ist (vgl. stellvertretend f ü r viele Campbell, C B Q 41 S. 60 ff., der eine noch umfassendere Parallelität zwischen Ps 78 und den Ladeerzählungen meint beobachten zu können). Die Identifizierung der Lade in Ps 78,61 erfolgt immer wieder über die Verbindung von ny „seine Kraft, sein Stolz" mit "|ty | π κ „die Lade deiner Kraft, deine machtvolle Lade" in Ps 132,8 = 2 C h r 6,41 (vgl. Baethgen S.243 mit vielen Nachfolgern). Allerdings stehen das ry-Argument und die kontextuelle Evidenz f ü r diese D e u t u n g auf schwachen Füßen. ty kommt mit Bezug auf Jahwe in vielfältigen Kombinationen vor (vgl. van der Woude, T H A T II Sp.255), so daß das W o r t ohne genauere Bestimmung nicht einmal einen leisen Hinweis auf die Lade enthält. Außerdem weist die Parallelisierung von ty „Kraft, Stolz" und muBn/mson „Zierde, Pracht" in Ps 78,61 auf eine ganz bestimmte Identifizierung hin, nämlich auf das Volk, f ü r das Jahwe nach Ps 89,18 lary mnDJi „Zierde ihrer K r a f t " ist (Bezug auf die Lade in Ps 96,6 wegen des Parallelismus membrorum ausgeschlossen, gegen van der Woude, T H A T II Sp.255 u.a.). Auf dieselbe Identifizierung weisen auch der Kontext in Ps 78, in dem in V. 62 das Volk explizit genannt wird, und der sonstige Sprachgebrauch des Begriffes rnxsn/mitsn hin, welcher nie die Lade, wohl aber das Volk bezeichnet (vgl. Vetter, T H A T II Sp.388).

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

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nicht nach seinen politisch getrennten Teilen beurteilt worden ist. Der Zorn Gottes hat sein Volk schwer getroffen, doch in ihm „seinen Stolz", „seine Zierde", ja, wie es in gewichtiger Neuinterpretation der tempeltheologischen (vgl. Ex 15,17) und der deuteronomistischen Tradition (vgl. Ps 78,55) heißt, „sein Erbe" (vgl. V. 61 f.) und damit - sich selbst 31 . Der Psalm geht hier über den Deuteronomismus, dem die Rechtfertigung des Zornes Gottes am Herzen liegt, weit hinaus, indem er zur ganzheitlichen Sicht herkömmlicher Tempeltheologie zurückkehrt. Wo Gott seinem Volke zürnt, richtet sich sein Zorn nicht auf ein beziehungsloses Gegenüber, sondern auf seine n^ru, seinen eigenen Anteil, der mit ihm generisch verbunden ist. Die Schuld des Volkes wird in diesem Psalm wahr- und ernstgenommen, aber Gottes gerechte Zornesreaktion ist im psalmtheologischen Rahmen nicht anders vorstellbar als eine Gott selbst in höchstem Maße negativ tangierende Handlung. Daß diese Deutung dem Textbefund offensichtlich gerecht wird, erhält dadurch zusätzliche Bestätigung, daß sie auch die merkwürdige Einleitung des letzten Abschnittes (V. 65-72*) verständlich machen kann. Ganz singulär und theologisch gewagt wird Gott mit einem Helden verglichen, den nach unmäßigem Weingenuß der Schlaf bezwungen hat und der nun ausgenüchtert wieder erwacht (V.65) 32 . Man muß diesen Vers im Blick auf das Vorausgehende und das Folgende lesen. Im Blick auf den vorhergehenden Abschnitt wird damit die allenfalls im Bild erträgliche theologische Grenzaussage gemacht, daß die Realisierung von Gottes Zorn am ganzen eigenen Volke nur als Tat im destruktiven Rausch, gleichsam im Zustand verminderter Schuldfähigkeit verständlich ist. Ganz verhalten klingt hier die aus exilischer Zeit gut bekannte Anklage Gottes und das tiefe Entsetzen über sein Handeln nach. Möglicherweise von noch größerer Relevanz aber ist die Aussage von V.65 f ü r das Folgende. Die in V . 6 6 f f . berichteten Handlungen Gottes sind im „nüchternen" Zustande, also bewußt, überlegt und definitiv durchgeführt worden. Das gilt zunächst von der drastisch formulierten Vernichtung „seiner Feinde" (V. 66, wobei man doch wohl an die

31 Die Vorstellung vom Volk als Gottes n^ru „Erbe" ist im theologischen und literarischen Umfeld von Ps 78 häufiger belegt: Dtn 32,9; Ps 33,12; 94,5. 14; 106,5. Die Weiterentwicklung der Vorstellung ist in Ps 114,2 dokumentiert: Juda/Israel als Heiligtum/ Herrschaftsgebiet. 32 Hier klingt eine ähnlich grausame religiöse Erfahrung an wie in Ps 44,24, die in der Exilszeit offensichtlich weit verbreitet war (vgl. Jes 40,27 f.). Ganz und gar mißverstanden worden ist das Bild in Ps 78,65 von Duhm 2 S. 307: Jahwes „Schlaf und Weinrausch versinnbildlicht seine so lange währende unbegreifliche Lethargie und Gutmütigkeit gegenüber dem ,Zelt Josephs'".

148

Jahwe, der Gott seines Volkes

in V. 61 genannten denken darf) 33 , dann für die Verwerfung Josephs/ Ephraims (V. 67) und schließlich für die Erwählung Judas, Zions und Davids (V. 68-72*). In diesem letzten entscheidenden Abschnitt wählt der Psalmdichter seine Worte sehr genau. Die äußeren Feinde werden einfach im militärischen Sinne entehrend „geschlagen" (V.66), doch einen Teil des eigenen Volkes, Joseph/Ephraim ( = das Nordreich), trifft die Verwerfung. Wie schon vorher vom Heiligtum in Silo (V. 60) trennt sich Gott hier endgültig von einem - dem größeren! - Teil seines Erbes (vgl. V.62). Die Folgen des Ereignisses von 721 sind irreversibel. Dabei ist es aufschlußreich, welche theologische Vorstellung der Dichter von der Verwerfung hat. Bewußt parallelisiert er nämlich in V. 67 „verwerfen" mit „nicht erwählen". Verwerfen und Erwählen begreift er also nicht als zwei getrennte Handlungsweisen Gottes, sondern das eine ist die bewußte Unterlassung des anderen. Verwerfung als Kehrseite der Erwählung: Das ist kein theologischer Gedanke, der aus dem Deuteronomismus ableitbar wäre, wohl aber aus der tempeltheologischen Sphäre, in der man sich dem Problem gegenübersah, die Unheilsgeschichte des eigenen Volkes theologisch wahrzunehmen, bei gleichzeitiger Entschlossenheit, die tief verwurzelte Grundüberzeugung von der Prärogative der göttlichen Gnadenwahl festzuhalten. Eben diesem dominierenden Aspekt des göttlichen Handelns widmet der Dichter die letzten Zeilen des Psalms (V. 68-72*), indem er weiterhin unter Bezugnahme auf die Geschichte Israels dem negativen Erwählungshandeln (V. 67) das positive folgen läßt. Im Blick auf den Verlauf der Geschichte Israels ist die im Psalm gewählte Reihenfolge der Ereignisse verwirrend: Mag man die Erwählung Judas und Zions vor dem Tempelbau noch für verständlich halten, ist es indessen gänz befremdlich, daß dieser der Erwählung Davids vorausgeht, während doch der Tempelbau erst unter Salomo stattfand. Es hätte kaum besser verdeutlicht werden können, daß der Dichter keine historische, sondern eine sachlich-theologische Anordnung im Sinne hat 34 . Die Erwählung ist ähnlich konzentrisch organisiert wie in Ps 93 die mit Königsvorstellungen unternommene „Einkreisung" der Gottespräsenz. Sie beginnt in universaler Perspektive mit dem Erdkreis, verengt sich auf den überdimensional gedachten Gottesthron und findet ihre Mitte in Jahwe selbst (vgl. 93,1 f.). Dem entspricht in Ps 78 in nationaler Perspektive die Er" Auf keinen Fall darf hier an die Philister gedacht werden (gegen Buhl S.516 u.a.). Eine solche historische Einengung ist vom Kontext her ausgeschlossen. 34 Vgl. Michel, Tempora S.34; Veijola, Verheißung S. 154 f., der auf Texte mit vergleichbarer Rangfolge zumeist aus deuteronomistischer Tradition hinweist (2 Sam 7,22 ff.; 1 Kön 8,14 ff.). In größter Nähe zu Ps 78,68 ff., wenn auch deutlich später, dürfte Ps 132 stehen.

Heilsgeschichte und Schuldbewältigung: Ps 78

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wählung Judas, die sich weiter in derjenigen Zions 35 und im Tempelbau fortsetzt, um in der Erwählung Davids ihren Höhepunkt zu finden (vgl. 78,68-70). Ist der Vergleich legitim - und angesichts der Affinität der Vorstellungen in Ps 93,1 b. 2 und 78,69 ist daran kaum Zweifel möglich-, würde das implizieren, daß in Ps 78,70 an die Stelle der unmittelbaren Gottespräsenz (vgl. 93,2 b) die Erwählung Davids getreten ist. Dafür spricht zusätzlich die textinterne Beobachtung, daß die Hirtenterminologie, die bei der Passage über die Landnahme für das Verhältnis G o t t Volk verwendet worden ist (78,52 f.), nun zur Charakterisierung des Verhältnisses David-Volk dient (V. 70-72*). Der hier erwählte David ist der David redivivus der spätexilischen oder frühnachexilischen Zeit, dem die ganze Hoffnung von „seinem Volk" und „seinem Erbe" gilt, welches hier - in Rückbindung an den Anfang des Psalms in V. 5 - die Ehrennamen Jakob und Israel bekommt (V. 71aßb, vgl. V. 62): Jakob/ Israel als theologische Ehrentitulatur für Juda! In Ex 15 gipfelt der Weg des Volkes ins Land ganz selbstverständlich in der Ankunft des Volkes an Jahwes königlichem Thronsitz, dem Tempel, wo Gott - so der abschließende Wunsch in 15,18 (und ganz vergleichbar Ps 93 im königstheologischen Gehalt) - auf immer als König herrschen möge. Demgegenüber ist in Ps 78 die Königsprädikation für Gott und Mensch strikt vermieden, selbst bei dem über die Maßen geschätzten David, der wie Gott mit dem Hirtenamt (als typisch königliches Amt im ganzen alten Orient hier bewußt nicht als solches ausgewiesen) und dem Titel „Knecht" vorliebnehmen muß (V. 70). In der Ersetzung des Königstitels durch die Ehrenbezeichnung „Knecht" ist der Psalmdichter deuteronomistischer Theologie verpflichtet 36 , für die ihren meisten Vertretern gemäß Königtum und Königstitel durch die Katastrophe von 587 irreversibelen Schaden erlitten haben. Gilt im Deuteronomismus dasselbe für den gesamten Bereich der Jerusalemer Zions- und Tempeltheologie, teilt der Psalmdichter diese Einstellung nicht, sondern legt großes Gewicht auf das sich in der Erwählung manifestierende Liebesverhältnis Gottes zum Zion und die kosmische Bedeutung des Tempels, weil er selbst in dieser theologischen Sphäre zu Hause ist und lediglich dazu bereit, die im Deuteronomismus einleuchtend bedachte Schuldfrage in sie zu integrieren, nicht aber dazu, seine theologische Herkunft zu verleugnen. Der Dichter von Ps 78 stellt sich der Schuldfrage ohne jede Ermäßigung. Er macht sich das deuteronomistische Urteil zu eigen, daß Gottes 35 „Zion, den er liebt" (V. 68): Die Liebeserklärung hat Seltenheitswert (vgl. Ps 87,2; im weiteren Umkreis vgl. Ps 47,5; Mal 2,11). " Vgl. Veijola, Dynastie S. 127 ff.

150

Jahwe, der Gott seines Volkes

H e i l s g e s c h i c h t e bereits in ihren A n f ä n g e n z u r U n h e i l s g e s c h i c h t e vertiert w o r d e n

ist. D o c h

entgegen

dem

dominierenden

D e u t e r o n o m i s m u s endet er nicht mit der s c h o n u n g s l o s e n

Tenor

perdes

Bestandsauf-

nahme, sondern - gut psalmtheologisch - mit der E r ö f f n u n g v o n H o f f nung: anhand der Geschichte. Juda, Zion, T e m p e l u n d D a v i d h i e r k e i n e a n d e r e F u n k t i o n als u r z e i t l i c h e r G o t t e s k a m p f

und

haben Schöp-

f u n g in Ps 7 4 , 1 2 - 1 7 * . G o t t e s T a t e n aus g r ü n d e n d e r U r z e i t s i n d

zum

Vorbild

zum

seines zukünftig zu erwartenden

Handelns

und

damit

H o f f n u n g s g u t g e w o r d e n . D e r „ T r i u m p h d e r G n a d e " ist d u r c h

keine

noch so große Schuldenlast zunichte zu machen.

6. H e i l v o l l e V o r z e i t u n d Fülle d e r H e i l s z e i t : P s

114

ι a Als Israel a u s z o g aus Ä g y p t e n , 1 b das H a u s J a k o b aus s t a m m e l n d e m V o l k e , 2a 2b

Ward Juda zu seinem Heiligtum, Israel „ z u s e i n e m H e r r s c h a f t s g e b i e t " 1 .

3a 3b

D a s M e e r sah('s) u n d f l o h , der J o r d a n w a n d t e sich z u r ü c k .

4a 4b

Die Berge hüpften wie Widder, die H ü g e l w i e L ä m m e r .

5a 5b

W a s ist dir, M e e r , d a ß d u fliehst, (dir,) J o r d a n , (daß) du dich z u r ü c k w e n d e s t 2 ?

6a 6b

(Was) h ü p f t ihr Berge w i e W i d d e r , ihr H ü g e l w i e L ä m m e r ?

7a 7b

V o r d e m H e r r n „bebe", Erde, v o r d e m „ G o t t " Jakobs 3 ,

1 Mit L X X ist in V . 2 die volle Kongruenz beider Kola wiederherzustellen, d . h . der Plural villi"®»» durch den Singular mit i> zu ersetzen. D e r Plural von ni>®»a „Herrschaft" ist nämlich, nach seinen zwei Belegen zu urteilen (Ps 114,2; 136,9), eine künstliche Bildung, die bestimmten redaktionellen Interessen Geltung verschaffen soll. In 136,9, einer Erweiterung der Grundgestalt des Psalms zugehörig (s.u. S. 162), soll der Plural ni>®»a den zugehörigen Akkusativen angepaßt sein. In 114,2 hat der spätere Gedanke, daß Juda und Israel vm^caa „seine Herrschaftsbereiche" sind, den ursprünglichen Wortsinn überlagert, wodurch eine constructio ad sensum entstanden ist (V. 2 b als Nominalsatz gestaltet, mit „Juda" als weiterem hinzugedachtem Subjekt). D e r suffigierte Singular u i ^ s a s gehört hingegen zur jüngeren konventionellen Psalmensprache (vgl. Ps 103,22; 145,13). 2 Die beiden Imperfektformen von aao „sich wenden" in V. 3 b und 5 b deuten iterativen bzw. durativen Aktionsmodus an. Die jeweilige Zeitstufe ergibt sich problemlos aus dem Kontext. 3 In V. 7 sind zwei leichte Abweichungen von M T notwendig. Im Imperativ von V. 7 a ist ein » zu einem l verschrieben worden, so daß 'V'n zu restituieren ist. Und in V. 7 b ist durch Haplographie ein » ausgefallen (vgl. Apparat der BHS), wodurch der ursprüngliche

Heilvolle Vorzeit und Fülle der Heilszeit: Ps 114

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8 a Der den Fels zum Wasserteich wandelt, 8 b den Kiesel zum Wasserquell. (Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.333)

Hatte der Dichter von Ps 78 mit dem Problem der Schuld seines Volkes angesichts der gnädigen Zuwendung Gottes in seiner Geschichte gerungen, ist in dem kleinen, inhaltlich prägnanten Ps 114 in lediglich vier Zweizeilern dieselbe Volksgeschichte thematisiert, ohne jedoch die Schuldfrage überhaupt nur zu erwähnen. Gottes Geschichte mit seinem Volk in der Frühzeit ist zur reinen Heilsgeschichte geworden, die wie das Wesen Gottes selbst nach menschlicher Antwort im Hymnus (nicht streng der Form, aber der Sache nach) verlangt. Wie sehr dieser Blick zurück in die Heilsgeschichte zugleich ein Blick nach vorn ist und welche theologischen Vorgaben die vorgetragene Sicht der Heilsgeschichte ermöglicht haben, wird nun zu untersuchen sein. Ohne typische Gebetseinleitung (weil nicht für die Gebetspraxis, sondern als poetisch-theologisches Lehrstück entworfen) kommt der Dichter gleich im ersten Zweizeiler (V. 1 f.) zur Sache, die für ihn in einer Neuakzentuierung des Verhältnisses G o t t - V o l k besteht, formuliert als eigentümlicher heilsgeschichtlicher Rückblick: Als Israel/Jakobs Haus aus Ägypten auszog, wurde Juda/Israel zu seinem Heiligtum/Herrschaftsbereich. In kaum zu überbietender Abbreviatur wird hier die Heilsgeschichte in eigenartiger Weise zusammengerafft. Ihre Darstellung in der Form, wie sie etwa Ex 15 bietet, muß dem Dichter vor Augen gestanden haben. Ist dort jedoch die geschichtliche Reihenfolge der Ereignisse von der Befreiung aus Ägypten bis zur Hin(ein)führung des Volkes zum Tempel(berg) im großen und ganzen gewahrt, wird in Ps 114 die vorgegebene zeitliche Erstreckung radikal negiert, indem Anfang und Ende der Heilsgeschichte spiritualisierend in einem Ereignis zusammengeschaut werden: Damals, beim Exodus, wurde Juda zum Heiligtum, Israel zum Herrschaftsbereich. Die zeitaufhebende Dimension altüberlieferter Tempeltheologie stellt ihre ungebrochene Kraft unter Beweis, doch der Tempel selbst ist ein anderer geworden. Kein Tempelbau ist mehr Ziel der Wanderung des Volkes, sondern das Volk selbst hat sich Gott von Anfang an zum Heiligtum bestimmt. Kein Wort über die Schuld des Volkes, keines über göttlichen Zorn, vielmehr Einsetzung des Volkes in eine geistliche Würdenstellung, mit der von jeher die Zusage der Präsenz Gottes verbunden ist. Dabei stehen die Namen Israel, Haus Jakobs und Juda (V. 1 f., in chiastischer AnGottesname . ..'Π^κ unvollständig geworden ist. Er ist fälschlich durch ein l zu m^K komplettiert worden, mit der Folge, daß das syntaktische G e f ü g e im Bestand von M T keinen sinnvollen Zusammenhang mehr hat.

152

Jahwe, der Gott seines Volkes

Ordnung) allesamt für dasselbe Volk, wenngleich es kaum zufällig ist, daß in V. 2 mit dem Namen Juda das geistliche Regiment verbunden und dem in der Kombination Israel - Herrschaftsbereich sich manifestierenden weltlichen Regiment vorgeordnet ist4. Mit der ersten Doppelzeile ist theologisch bereits das meiste gesagt, was dem Dichter am Herzen liegt. Die folgenden drei Doppelzeilen enthalten hymnische Explikation, die in der Klimax in V. 7 f. auf die Namensnennung des Gottes hinauswill, dessen Wesen und Wirken im Psalm zwar von Anfang an präsent sind, dessen Name aber vor V. 7 f. bewußt nicht genannt wird 5 , weil erst die abschließende Gottesprädikation das Pendant zur einleitenden geistlich-weltlichen Investitur des Volkes bilden soll. Das Verhältnis V o l k - G o t t ist nicht nur Thema, sondern auch Gestaltungsprinzip des Psalms. Der die zweite Doppelzeile einleitende V. 3 faßt noch einmal auf andere Weise die Heilsgeschichte von Anfang bis Ende zusammen, ohne Dublette zu V. 1 f. zu sein. Denn hier werden Exodus-Meer und Jordan, beide personifiziert vorgestellt, auf ihr merkwürdiges Verhalten hin betrachtet, wozu in V. 4 die ungewöhnliche Tätigkeit der ebenfalls personifizierten Berge und Hügel hinzugehört. Mit dem Fliehen des Meeres, dem Umkehren des Jordanwassers und dem Hüpfen von Bergen und Hügeln reminisziert der Dichter Motive aus Heilsgeschichts- und Theophanie-Tradition, deren literarische „Fundstellen" zum Teil mit großer Wahrscheinlichkeit namhaft gemacht werden können: das Exodusmotiv aus Ps 77,17, das Motiv der Jordanüberquerung wohl aus einer nicht erhaltenen Paralleltradition zu Jos 3,14 ff. und das Theophaniemotiv aus Ps 29,6 6 . Die literarischen Entlehnungen sind für die theologische Denkweise des Psalmdichters sehr aufschlußreich. Ps 77 ist ein exilisches Volksklagelied, das in V. 17-20 eine ältere Tradition verarbeitet hat. Läßt sich über den Hintergrund von Ps 114,3b nichts ermitteln, so liegt dem Theophaniemotiv in V.4 wiederum ein Psalmtext zugrunde, der stark

4 Vgl. Buhl S.724f., dem nur darin nicht zuzustimmen ist, daß Heiligtum und Herrschaftsbereich zwei Seiten derselben Sache seien; anders Norin, Meer S. 127 f. 5 Zwar setzt LXX das Ps 113 abschließende Π' l ^ n „Halleluja" an den Anfang von Ps 114, wodurch der Gottesname den Hymnus einleitet. Doch ist dies für die Grundfassung von Ps 114 selbst dann ohne Bedeutung, wenn LXX gegenüber M T die ursprünglichere Lesart bewahrt haben sollte, weil der doxologische Ruf ohnehin aus redaktioneller Tätigkeit herrührt. 6 Vgl. Baethgen S.340f.; Duhm 1 S.258; Buhl S.725; allerdings kann Ex 19,18 nicht als Grundlage von Ps 114,4 bezeichnet werden. Der Gedanke an den Sinai hat nicht einmal von ferne Pate gestanden. Zur Verbindung von Chaoskampf und Schilfmeerwunder in Ps 77,17; 114,3. 5 vgl. Jeremias, Theophanie S. 90 ff.

Heilvolle Vorzeit und Fülle der Heilszeit: Ps 114

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kanaanäisch tingierte, tempeltheologische Hymnus Ps 297. Der Dichter von Ps 114 kennt und schätzt offensichtlich die Psalmtradition und bedient sich ihrer selbst da, wo er heilsgeschichtliche, also ursprünglich psalmfremde Topoi rezipiert. Das hat zur Folge, daß er die Heilsgeschichte ganz vorherrschend im psalmtheologischen Sinne versteht, was auch aus ihrer völligen Gleichbehandlung mit dem Theophaniemotiv in V. 3 f. hervorgeht. Sie interessiert ihn nicht primär als kontingente Rettungstat Gottes, sondern (wie die Theophanie) als Anzeige seiner herrscherlichen Ankunft und Präsenz. Dies wird aber explizit in V. 3 f. noch nicht gesagt, und ebensowenig in der nächsten Doppelzeile V. 5 f., die mit ihren rhetorischen Fragen zum merkwürdigen Verhalten der Elemente die Spannung steigern soll. Sie antworten in der abschließenden Doppelzeile V. 7 f. der Erde, die sich nachträglich als Fragerin herausstellt, mit der Aufforderung, sich durch ihr Beben an der Anzeige der Theophanie zu beteiligen. Jetzt endlich wird der anwesende Gott mit Namen genannt: |ΠΚ „Herr" und i p y 'Π^κ „Gott Jakobs". Namensnennung, zumal an exponierter Stelle, ist Wesensoffenbarung. Dabei verläßt sich der Dichter nicht auf seine eigene Erfindungsgabe, sondern erweist sein theologisches Vermögen auch hier wie schon im vorausgehenden Text in der pointierten Anspielung und Kombination bekannter Theologoumena. In V. 7 a liegt eine Anlehnung an Wendungen wie Ps 96,9 und 97,4 f. vor, an relativ späte Thronbesteigungslieder also, die ihrerseits schon auf ältere Psalmteile Bezug nehmen (Ps 96 u.a. auf Ps 29; Ps 97,6 auf Ps 19,2)8. Schon diese Abhängigkeitsverhältnisse machen auch nur eine exilische Datierung von Ps 114 so gut wie unmöglich 9 . 7

S.u. S. 165ff. V'n „erzittern, beben" (mit verschiedenen Subjekten) gehört zu den gut belegten Theophaniemotiven (vgl. Baumann, T W A T II Sp. 901 f.). Das Epitheton Ρ Κ Π I>3 J T T K „Herr der ganzen Erde", welches hinter der Formulierung von Ps 114,7 a steht, ist eine relativ junge, nicht vorexilisch belegte Bildung (vgl. Jos 3,11. 13; Mi 4,13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5), die aber als Fortsetzung tempeltheologischer Tradition verstanden werden muß. Dafür sprechen die weiteren Belege für ]πκ „Herr" als Gottesepitheton (vgl. Jes 1,24; 10,16; 19,4: „der Herr Jahwe Zebaoth") und vor allem das alte tempeltheologische Theologoumenon, das wahrscheinlich hinter der neuen Formulierung steht: die Eigentumsaussage in bezug auf die Welt und das, was sie erfüllt (vgl. Jes 6,3; Ps 24,1 u. ö., s.u. S.200). Ps 114 scheint noch in einer weiteren Hinsicht an älterer Tradition orientiert zu sein. Der Aufbau des Psalms, der auf die Nennung der Gottesnamen zuläuft, hat ein gewisses Vorbild in Ps 24,7-10 (s.u. S.204ff.). Der Unterschied liegt in den verschiedenen Namen, begründet in den unterschiedlichen Zeiten, aus denen die Psalmen stammen. Ist es im vorexilischen Ps 24 der (gut kanaanäische) „König der Ehren", dem durch den proklamierten Jahwenamen (im entscheidenden V. 10 von „Zebaoth" begleitet) die israelitische differentia specifica zuteil wird, kann im nachexilischen Ps 114 die Wesenskundgabe des Ungenannten (der ganz selbstverständlich Jahwe ist) im unproblematischen, obwohl ganz 8

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Jahwe, der Gott seines Volkes

Daß in V. 7 b die Wesensbestimmung mit dem für die Psalmen untypischen Namen „Gott Jakobs" fortgesetzt wird 10 , deutet für das Ende des Psalms die Rückkehr zu geläufigen heilsgeschichtlichen Inhalten an, durch die das Wesen Gottes im hymnischen Partizipialstil gepriesen werden soll (V. 8). Und dazu muß - verwunderlich genug! - die Wüstenüberlieferung dienen. Da die Entstehungszeit des Psalms ziemlich spät anzusetzen ist, muß man davon ausgehen, daß dem Dichter die ältere und vor allem die deuteronomistische Wüstentheologie bekannt gewesen ist, die in ihrem Zentrum von Schuld und Unglauben des Volkes angesichts göttlicher Rettung und Führung, von göttlicher Strafe, aber auch immer wieder Bewahrung handelt. Das meiste davon fehlt in Ps 114,8 - nicht aus Zufall, sondern aus Absicht, denn hier hat sich eine Tendenz ganz durchgesetzt, die der Intention nach auch schon in Ps 78 wahrnehmbar war: die Konzentration der Wüstenüberlieferung, ja der Heilsgeschichte überhaupt auf die aus Gnade gewährten Gotteswunder. Der Dichter von Ps 78 konnte diese Intention nicht vollständig realisieren, weil er (mit Hilfe deuteronomistischer Theologie) auch das Schuldproblem behandeln wollte. Dieses Anliegen hat der Dichter von Ps 114 jedoch hinter sich gelassen. Im Bild geredet, kehrt er, um das

verschiedenen Traditionen entstammenden Nebeneinander von „ H e r r " und „Gott Jakobs" erfolgen. Die israelitische Aneignung kanaanäischer Elemente ist seit J a h r h u n d e r ten vollzogen, die psalmtheologische Aneignung heilsgeschichtlicher Elemente immerhin seit Jahrzehnten im Gange. 9 Anders Stolz, Kriege S. 64 f. (spätere vorexilische Zeit), der im Psalmaufbau Ähnlichkeiten zum Ablauf des Thronbesteigungsrituals erkennt und durch seinen Inhalt die bereits vorexilische Verarbeitung von Gilgal- und Exodustradition im Jerusalemer Kult bestätigt sieht. H i e r werden Hypothesen kombiniert, die das exzeptionelle Gepräge des Textes gerade nicht zu erhellen geeignet sind. Ebensowenig hilfreich mit seiner Spekulationsfreude Cross, Myth S. 138 f., f ü r den der Psalm gleich „further documentation of the ritual procession of the Gilgal cult" ist (S. 139). Von seinen Beobachtungen f ü r das hohe Alter, welche im Verlauf der vorgetragenen Auslegung allesamt eine andere Bewertung erfahren haben, sei nur noch die Frage des Tempusgebrauches aufgegriffen, der in Ps 114 zum Teil archaischer Art sein soll. „ Yaqtul is used f o r narrative past in parallelism with qatal f o r m s " (ebd.). M a n gewinnt den Eindruck einer gewissen Häufigkeit des Phänomens. De facto k o m m t es einmal vor denn was soll in der wörtlichen Rede in V. 5 f. eigentlich anderes als Imperfekt stehen (gegen ebd. A.93)? - und zwar in V. 3, dort allerdings in bester H a r m o n i e mit der aspektualen Konzeption des Verbalsystems im klassischen Hebräisch: Nach den punktualen Handlungen in V. 3 a (Perfekt wegen Inversion, dann Impf, cons.) wird die iterative H a n d l u n g durch das Imperfekt ausgedrückt, dessen Zeitstufe nur kontextuell erschließbar ist (vgl. Meyer, H G III S.43). 10 „Gott Jakobs" kommt im Psalter recht selten und fast nur in Dichtungen bzw. redaktionellen Ergänzungen aus exilisch-nachexilischer Zeit vor, in welcher Belege f ü r diesen Gottesnamen ohnehin zu erwarten sind: Ps 46,8. 12; 75,10; 76,7; 81,2. 5; 84,9; 94,7; 114,7 (mögliche Ausnahme: 20,2). Dasselbe gilt auch f ü r a p y Ί'3Κ „den Starken Jakobs": Ps 132,2. 5.

Heilvolle V o r z e i t und Fülle der Heilszeit: Ps 114

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heilsgeschichtliche Erbe bereichert, ganz in den Raum der Tempeltheologie (trotz nicht mehr vorhandenen Tempels oder vielleicht schon in den wieder vorhandenen) zurück, um Heilsgeschichte nunmehr genuin tempeltheologisch zu bedenken. Dadurch ist nicht nur die Ausklammerung der Dimension der Schuld bedingt, sondern auch die Einholung der Heilsgeschichte in das der Tempeltheologie eigene Zeitverständnis11. Das zeitigt sogleich bei der Rezeption der Wüstenüberlieferung in V. 8 Wirkung. Die Formulierung ist so eigentümlich, daß es unmöglich erscheint, pentateuchische Wasserwunder-Erzählungen wie Ex 15,2226 oder 17,1-7 als Leittexte zu identifizieren. In ihnen wird weder Fels „verwandelt" (~|Dn) noch entstehen gleich „Wasserteiche" (D'B DJ«), eine für das Wüstenmilieu ohnehin befremdliche Vorstellung. Wasser aus „kieselhartem Felsen" (tra^nn ms) kennt zwar Dtn 8,15, doch die Passage bietet keine weiteren einschlägigen Anhaltspunkte. Ist somit die Suche im Pentateuch vergebens, wird man - nur auf den ersten Blick überraschend - im Psalter selbst und bei Deuterojesaja fündig (Ps 107,35; Jes 41,18). Dabei handelt es sich nicht bloß um Sachparallelen, sondern um ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Deuterojesaja-Stelle eindeutig die Priorität zukommt 12 . (18 a) I c h w i l l a u f k a h l e n H ü g e l n S t r ö m e a u f t u n und Quellen (niryn) inmitten von Tälern. (18 b) I c h w i l l d i e W ü s t e z u W a s s e r t e i c h e n (D'ö o j k ) m a c h e n u n d dürres Land zu Wasserquellen.

In dieser Passage aus dem Heilswort Jes 41,17-20 schaut der Exilsprophet die Zeiten zusammen. Die Wüstenwanderung der Israeliten vor der Landnahme wird zum Prototyp des Rückzuges der Exulanten durch die Wüste in die Heimat 13 . Dabei wird die Wüste zum Ort der unverbrüchlichen Heilsgegenwart, die sich in den Gotteswundern manifestiert. Deuterojesaja gibt in diesem Heilswort (und darüber hinaus) zu erkennen, daß er fest in der Tradition der Psalmtheologie verwurzelt ist und zugleich Neues wagt. Das Neue liegt darin, daß er sich die Geschichte seines Volkes strikt nach überkommenen psalm- und tempeltheologischen Maßstäben zu bedenken getraut, also zeitliche, örtliche und nationale Bindungen angesichts der sich im Wunder kundge11

Ähnliche, wenngleich noch zu stark der heilsgeschichtlichen Perspektive verhaftete Beobachtungen bei von Rad, T h e o l A T II S. 114 A. 10; jedoch allemal zutreffend sein U r teil über die merkwürdige R e i h e n f o l g e der Ereignisse in Ps 114: „Derlei kann man nicht im Sinne einer .dichterischen Freiheit', sondern nur aus der Vorstellungswelt des Kultes heraus erklären." 12 Vgl. D u h m 2 S. 392. 405; Beyerlin, 107. Psalm S . 1 4 f . ; Lemche, Israel S.353, o h n e seine Einschätzung von V. 8 („extraneous to the rest of the text") zu teilen. 13 Vgl. Zimmerli, Exodus S. 197 ff. v.a. 200 f.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

benden Gottesgegenwart bis zur Indifferenz verschwimmen läßt. So wird vergangene Heilsgeschichte zur erwarteten Heilszeit, die Wüste als Durchzugsgebiet der Israeliten vor der Landnahme und bei der Repatriierung zur Chiffre des gottfernen Ortes, an dem Jahwe seine Gegenwart um so machtvoller erweisen kann, und schließlich das Volk Israel zu den „Elenden und Armen" (vgl. Jes41,17), die überall und ständig seiner Hilfe bedürfen. Die nationale Identifikation leistet der Gottesname allein: der „Gott Israel" bzw. der „Heilige Israels" (V. 17. 20).

Das eine Ergebnis ist festzuhalten: Deuterojesaja hätte diese entschieden einseitige Konzentration der Heilsgeschichte auf ihren Verheißungscharakter ohne seine Vertrautheit mit der in herkömmlicher Psalm- und Tempeltheologie beheimateten Aufhebung der Zeit(en) durch die Gottesgegenwart kaum durchführen können. Doch das andere gilt auch: Daß Deuterojesaja gerade die der Psalmund Tempeltheologie ferne Heilsgeschichte so entschlossen ihrer vergangenen Singularität und der damit unaufgebbar verbundenen Unheilsgeschichte des Volkes entkleidet und als jederzeit realisierbare, allein in Gottes Entschluß gründende Heilsfülle zu verkündigen unternommen hat, ist in besonderem Maße sein Verdienst. Nicht von ungefähr zitiert der Dichter von Ps 114 in V. 8 die Deuterojesaja-Stelle halbwegs wörtlich. Gerne macht er das Heilswort zur göttlichen Wesensbestimmung (in bestem Einklang sowohl mit den Intentionen traditioneller Psalmtheologie als auch mit denen Deuterojesajas). Doch angesichts der radikalen Eliminierung der Schuldfrage gerade im Blick auf die Wüsten„zeit" - man denke nur an die Behandlung der Epoche in Ps 78 zurück - scheint er froh zu sein, einen Gewährsmann sprechen lassen zu können 14 . Dem Dichter von Ps 114 ist es gelungen, in Anküpfung an psalmtheologische Vordenker und Deuterojesaja eine theologische Synopse von gründender Urzeit des Volkes und erhoffter Heilszeit unter dem Leitgedanken des Wunders der gnädigen Zuwendung Gottes zu schaffen. An der einzelnen, geschichtlich identifizierbaren Gottestat liegt nichts, an ihrer kategorialen Identität als Heilstat alles. Die Heilsgeschichte liefert Exempel von und für Gottes Handeln im Wunder. Sie ist Sammlung von Zeichen für die göttliche Gegenwart, äquivalent mit jeder Theophanieschilderung (vgl. das Ineinander beider Elemente in 14

In Ps 107,35 wird das Zitat aus Jes 41,18 in anderem Sinne benutzt. Im Kontext von Ps 107,33-43 (von Duhm 2 S.392 als Zusatz betrachtet, ebenso von Beyerlin, 107. Psalm S. 59 ff. 77 ff. 98 f. u.ö.) unterstreicht es die Glaubensüberzeugung, J a h w e könne in der uneingeschränkten Macht seines Gottseins in allen Bereichen der Wirklichkeit - so, wie es ihm wohlgefällt - schalten und walten" (ebd. S.59). In die weitere Rezeptionsgeschichte von Jes 41,18 gehört auch 35,7.

Heilvolle Vorzeit und Fülle der Heilszeit: Ps 114

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V. 3-7), frei in ihrem ordo. Deshalb kann der Dichter in seinen heilsgeschichtlichen Reminiszenzen ohne weiteres vom Exodus zur Landnahme (V. 1 f.) und dann zurück zur Wüstenwanderung springen (V. 8). Die Heilsgeschichte hat eine neue theologische Qualität als Heilszeit bekommen, in der das Moment der Zeit im Sinne linearer Erstreckung mit irreversibelem Verlauf in der Ewigkeit und Kontingenz dialektisch vereinenden heilvollen Gottespräsenz aufgehoben ist. Die neue theologische Qualität der Heilsgeschichte ist jedoch psalmtheologisch eine altüberlieferte. Es ist somit nichts anderes geschehen, als daß die Psalmtheologie in nachexilischer Zeit endlich mit ihrem Bemühen erfolgreich gewesen ist, die Heilsgeschichte ganz ihren theologischen Maßstäben anzuverwandeln 15 . 7. V o n der Unheilsgeschichte z u r Heilsgeschichte In diesem Kapitel ist auf der Suche nach dem theologischen Stellenwert der Heilsgeschichte im Psalter ein langer Weg abgeschritten worden. Er begann bei der naheliegenden Uberprüfung der Bedeutung der Lade für die Übermittlung der heilsgeschichtlichen Tradition an den Tempelkult. Das Resultat war negativ. Hoher theologischer Wertschätzung in exilisch-nachexilischer Zeit zum Trotz verlieren sich die historisch glaubwürdigen Spuren der Lade bereits in der frühen Königszeit, so daß sie als zentrales Kultobjekt mit wichtiger theologischer Vermittlungsfunktion kaum in Frage kommt. Aus der Sackgasse führte der Blick in die Psalmtexte selbst, die heilsgeschichtliche Inhalte in irgendeiner Form thematisieren. In ausgewählten Psalmen ließ sich eine Entwicklung in der Wahrnehmung der Geschichte des eigenen Volkes feststellen, der nach Art, Anlaß und Intensität der Rezeption charakteristische Konturen eigen sind. Als ältester (erhaltener) Psalmtext mit heilsgeschichtlichem Sujet war Ex 15 in seiner Grundfassung ermittelt worden. Exodus und Landnahme sind hier ganz und gar in den Bereich der Tempeltheologie integriert, deren Vorstellungen aus der Welt des kanaanäischen Mythos in diesem Falle Gotteskampf und ewiges Thronen des Gottkönigs im Tempel - das Gepräge des Textes bestimmen. Für die Entstehung war wegen der dominierenden kanaanäischen Diktion und der Hochschät15

Die Zusammenfügung von Ps 114 und 115 zu einem Psalm in LXX ist auslegungsgeschichtlich interessant. Sie zeigt, daß man Ps 114 in noch späterer Zeit als Torso empfunden hat, wahrscheinlich aufgrund unangemessenen Verständnisses als heilsgeschichtliche Rekapitulation, bei der man das doxologische Element vermißte. Dieses hat dann Ps 115 ersetzen müssen, obwohl auch dieser Psalm seiner ursprünglichen Intention nach etwas anderes als ein Hymnus ist (vgl. Vosberg, Studien S. 59 ff.).

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Jahwe, der Gott seines Volkes

zung des (existenten) Tempels nur die vorexilische Zeit in Frage gekommen, ohne daß eine exaktere Eingrenzung möglich gewesen wäre. Nun ist die Synthese von kanaanäischen und heilsgeschichtlichen Theologoumena in Ex 15 so subtil durchgeführt, daß der Text gewiß nicht das Anfangsstadium des Kontaktes beider theologischer Bereiche repräsentiert. Ohne unangemessen zu spekulieren, wird man deshalb nicht mehr erhaltene Texte heilsgeschichtlichen Inhaltes im Bereich der Tempeltheologie annehmen müssen, die Ex 15 vorausgegangen, und wohl auch solche, die parallel zu Ex 15 entstanden sind. Sowenig dieses Frühstadium der Entwicklung unterschätzt werden darf, sosehr ist gleichzeitig zu betonen, daß Ex 15 als einziger Text seiner Art aus vorexilischer Zeit erhalten geblieben ist. Diesen dürftigen Uberlieferungsbestand lediglich als unglücklichen Zufall zu betrachten, hieße, sich die Erklärung zu leicht zu machen. Schließlich sucht eine derart magere Belegfrequenz ihresgleichen, zumal sie noch mit der Besonderheit gepaart ist, daß Ex 15 nicht einmal im Psalter, sondern mitten in der geschichtlichen Uberlieferung des Pentateuchs steht. Berücksichtigt man zusätzlich die breitere Integration heilsgeschichtlicher Theologoumena in (nach)exilischer Zeit, durch die die Annahme prinzipieller Reduzierung dieses Themenbereiches im Psalter ausgeschlossen wird, legt sich die Vermutung nahe, daß die Heilsgeschichte in der Psalmtheologie der vorexilischen Zeit überhaupt keinen angestammten Platz gehabt hat. Die heilsgeschichtliche Überlieferung von der Konstituierung des Verhältnisses Jahwes zu seinem Volk ist im weiteren Sinne natürlich auch Voraussetzung der sich in den Psalmen manifestierenden Tempeltheologie. War sie im Tempel auch bekannt, wurde gleichwohl kein intensiver Gebrauch von ihr gemacht, weil sie den theologischen Bedingungen des Tempels als einem in jeder Hinsicht geschichtsfernen Raum wenig entsprach. Deshalb die konsequente mythische Durchdringung des heilsgeschichtlichen Stoffes in Ex 15, deshalb die Einzelexistenz dieses Textes als Zeugnis des sporadischen, lediglich „gelehrten" Umgangs mit der Heilsgeschichte, deshalb die Inkorporation des Textes in die heilsgeschichtliche Überlieferung selbst und nicht in den von seinem Ursprung her tempeltheologisch bestimmten Psalter. Die umfassende und andauernde Wahrnehmung von Geschichte vollzog sich in der Psalmtheologie spät und eher widerwillig. Denn sie war zunächst keine selbstgewählte positive Zuwendung zur Heilsgeschichte, sondern unausweichliche Konfrontation mit der Unheilsgeschichte des Exils, in die auch die Tempeltheologie durch den Verlust des Heiligtums in Jerusalem tief verstrickt und somit zur theologischen Reaktion gezwungen war. Wie sehr ihr dazu jede Vorbereitung fehlte, war Ps 137 zu entnehmen, welcher wohl nur als theologische Kapitulationserklärung verstanden werden kann. Eine Theologie, die schon im-

Von der Unheilsgeschichte zur Heilsgeschichte

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mer die Geschicke des Volkes umfassend begleitet und reflektiert hätte, wäre wohl nicht zu dieser Sprachlosigkeit verdammt gewesen. Die Psalmtheologie hat Zeit gebraucht, sich der ihr innewohnenden religiösen und theologischen Kraft auch angesichts der nationalen Katastrophe bewußt zu werden. Wäre sie auch von jeher ohne die Existenz des Volkes nicht lebensfähig gewesen, galt ihre geistliche Zuwendung über den Tempelkult im engeren Sinne hinaus doch ganz überwiegend dem einzelnen Israeliten. Folgerichtig war es die Transponierung von Klage und Lob des einzelnen auf das Volk, was der Tempeltheologie nach der Katastrophe von 587 wieder zur Sprache verhalf. Ps 74 macht zu seinem Teil deutlich, wie die Klage des einzelnen in der des Volkes fortlebt und wie zugleich das Lob neue Qualität und Funktion erhalten hat. Es ist durch die Rezeption der Heilsgeschichte zum Träger neuer Hoffnung für das Volk geworden. Ohne Anknüpfung an theologische Vorgaben wäre das wohl kaum möglich gewesen. Als wichtigste ist der sporadische Umgang mit der Heilsgeschichte in der Tempeltheologie der vorexilischen Zeit zu nennen, wie er sich in Ex 15 manifestiert. In diesem Text war theologische Denkarbeit geleistet worden, die sich nun als fruchtbar erwies und deren Hilfe gern in (nach)exilischen Texten in Anspruch genommen wurde 1 . Seine Stärke war die Einholung der Heilsgeschichte in die tempeltheologische Denkweise, die durch Mythisierung geschichtliche Kontingenz der Vergangenheit entriß und in eine zeitlose Gegenwart hob, gewährt durch den Tempel als „Enklave der Ewigkeit in der Zeit und des Himmels auf Erden" 2 . Die Entzeitlichung der Geschichte im Sinne eines unwiederholbar vergangenen Handlungsablaufes war Voraussetzung ihrer Umformung zur stets möglichen Heils„zeit", wann und wo immer Gott seine Gegenwart gewährt hat und gewähren würde. Die Heilsgeschichte hatte die mythische Funktion der gründenden Urzeit übernommen, kategorial vollkommen identisch mit der Schöpfung, der von exilischer Zeit ab dieselbe Rolle zufiel - beide im Dienste der neu zu (be)gründenden Hoffnung. Ps 74, 78 und 114 markieren Stationen auf dem Weg zur neuen Hoffnung aus der Heilsgeschichte als Heilsgut: Ps 74 noch im wagenden „Dennoch" gegenüber der religiösen Depression und Anklage Gottes, Ps 78 dann als Freispruch Gottes durch radikale Offenlegung der Heilsgeschichte als Schuldgeschichte des Volkes 3 , der aber durch Got1

S.o. S. 113. Assmann, Zeit S.40. 3 Zu den Kategorien Anklage und Freispruch Gottes vgl. Perlitt, ZThK 69 S. 290 ff., der die dadurch markierten theologischen Strömungen der Exilszeit auch außerhalb des Psalters verfolgt. 2

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tes maßlose Güte die Qualität der hoffnungsstiftenden Heilszeit geblieben ist, Ps 114 schließlich als vollendete Gestaltung der Heilsgeschichte als Heilszeit, ohne Klage, Anklage oder Schuldspruch, Heilsgeschichtsund Theophaniemotive als Exempla reiner Gegenwart Gottes im Volk, das zu seinem Tempel geworden ist. In diesem Grundriß der Rezeption von Unheils- und Heilsgeschichte in den Psalmen finden alle einschlägigen Texte ihren Platz. Im Gefolge der Unheilsgeschichte des Exils gewinnt das Geschick des Volkes breite Beachtung im Psalter, was sich auf zweierlei Weise äußert: zum einen in einer Reihe von Volksklagepsalmen 4 , zum anderen in einer mit der Exilszeit einsetzenden Tradition der nachträglichen Kollektivierung und Nationalisierung von Individualgebeten und Hymnen, die im Geschick des einzelnen (auch des Königs) dasjenige des Volkes erkennt oder dem Volk an der im Hymnus gepriesenen Gottesmacht Anteil geben möchte 5 . Unter den Volksklageliedern des Psalters ist kein vorexilisches erhalten geblieben 6 , wohl nicht, weil es sie in vorexilischer Zeit überhaupt nicht gegeben hätte, sondern weil sie wahrscheinlich unter der Last der Katastrophe von 587 zerbrochen sind. Als tragfähig auch angesichts der nationalen Katastrophe erwiesen sich hingegen Individualgebete und Hymnen, denen die nationale Perspektive in überraschend eindeutiger Weise fremd gewesen ist7. Sie 4 Mit dem schon behandelten Ps 74 gehören die Psalmen 44; 60; 77; 79; 80; 83; 89; 102; 108 ( = 57,8-12 + 60,7-14) zusammen. Ferner gehören hierher die gattungsgeschichtlich unbestimmbaren (weil an bestimmter Form desinteressierten) Psalmen 78 (s.o. S. 133 ff.); 81 (Volksklage mit umgekehrtem Vorzeichen, nämlich Klage Gottes über sein Volk); 106; 115 (die angefochtene Gemeinde, die sich betend zum Gotteslob durchdenkt); zum literarischen Umfeld der Texte über den Psalter hinaus vgl. Veijola, Verheißung S. 48 ff.; Janowski, JBTh 2 S. 190. In die nachexilische Wirkungsgeschichte von Ps 81 wird mit großer Wahrscheinlichkeit Ps 95 einzureihen sein, eine anthologisch geprägte Dichtung, die das Gotteslob vor allem schöpfungstheologisch sagt (V. l - 7 a ) und (vielleicht durch weitere Bearbeitung veranlaßt) den Ungehorsam des Volkes in heilsgeschichtlicher Zeit paränetisch einsetzt (V. 7 b—11). 5 Vgl. Ps 3,9; 14,4 = 53,5 (nur die beiden Worte '»y ιϊοκ); 14,7 = 53,7; 18,28 = 2Sam 22,28 (als Teil der Ergänzung Ps 18,26-32 par. hierher gehörig?); Ps 20 ?; 25,22; 28,8f.; 29,11; 34,23; 51,20f.; 59,6aß. 8-15; 61,7f.; 62,9; 63,12; 68,36; 69,33-37; 125,5b; 128,5f.; 130,7f.; 131,3; 148,13b. 14aba u.ö. (grundlegend Becker, ThPh 52 S. 571 ff.). 6 Abgesehen von Psalmen mit Elementen der Volksklage, ohne als ganze zu dieser Gattung zu gehören (vgl. etwa Ps 85), ist außer den genannten Volksklageliedern nur noch Ps 123 anzuführen. Auch er gehört jedoch nicht in die vorexilische, sondern mit ziemlicher Sicherheit in die nachexilische Zeit, da er in V. 1 auf den auch schon recht späten Ps 121 anzuspielen scheint (V. 1) 7 Es ist aller Beachtung wert, daß abgesehen von den exilischen Volksklageliedern und einigen noch zu besprechenden Hymnen die Israel-spezifischen und heilsgeschichtlichen Motive in allen Psalmgattungen erst von der Exilszeit ab belegt sind und nicht einmal in

Von der Unheilsgeschichte zur Heilsgeschichte

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wurden durch geringe kollektivierende Zusätze für das Volksganze nachsprechbar gemacht, dessen Glieder seit eh und je mit ihnen lebten und beteten. Aber auch da, wo neue Psalmen - etwa die Volksklagelieder - entstanden, ist es erstaunlich, in welchem Maße die in Klage und Lob heimische tempeltheologische Tradition bewahrt worden ist. Uber den ständigen Rückgriff auf ihre Sprach- und Gedankenwelt hinaus schließen sich manche Volksklagen an die Zitation der Tradition an oder laufen darauf klimaktisch zu, offenbar aus der Erkenntnis heraus, daß sie dieselbe Sache mit eigener Formulierung nur hätten schlechter sagen können. Etwa in Ps 102 ist ein Klagelied des einzelnen durch umfangreiche Ergänzung zum Volksklagelied umgearbeitet worden, und noch eklatanter Ps 108, in dem bekannte Psalmteile (57,8-12, vorexilisches Klagelied des einzelnen, + 60,7-14, exilisches Volksklagelied) nun ganz im Sinne der Volksklage arrangiert worden sind8. Daß das letztere Beispiel kein Kuriosum, sondern Extremfall eines häufiger belegten Umgangs mit der Tradition in dieser Zeit ist, erhellt weiter aus den überkommenen tempeltheologischen Hymnen(fragmenten), ohne deren Rezeption so gut wie kein exilisches Volksklagelied auskommt 9 . Schließlich sind aus der Verbindung der hymnischen Elemente mit den auf die Katastrophe des Exils antwortenden Geschichtsrückblicken die hymnischen Dichtungen hervorgegangen, in denen die Geschichte des eigenen Volkes nicht mehr als unheilsgeschichtliches Menetekel, sondern als heilsgeschichtliche Verheißung neuer Heilszeit erscheint. Was in Ps 114 exemplarisch zu beobachten war, ist in mehreren Dichtungen belegt, für deren Verfasser Heilsgeschichte im Sinne hoffnungsstiftender Urzeit ganz unterschiedliche Gestalt nach Umfang und Inhalt annehmen kann. So gibt es Hymnen, die gleichsam die hexateuchische Version der Heilsgeschichte widerspiegeln (Ps 68; 105; 135;

der Spätzeit eine wichtige Stellung einnehmen; zur Erwähnung von Jakob, Israel, Juda bzw. vom Gott Abrahams, Jakobs, Israels u.ä. vgl. Ps 22,4. 24 (Ergänzung, s.u. S.242ff.); 24,6 (Ergänzung, s.u. S. 199); 46,8. 12; 47,5. 10; 48,12 (Ergänzung, s.u. S. 189f.); 69,7; 71,22; 75,10; 76,2f. 7; 84,9; 85,2; 87,2; 94,7; 98,3; 100,3; 115,9f. 12 (außerdem „Haus Aarons"); ähnlich 118,2f. und 135,19f.; 121,4; 122,4; 124,1; 129,1; 146,5; 147,2. 19; 149,2. Hinzu kommen vereinzelte Hinweise auf das Volk (Ps 33,12; 94,5. 14; 111,9; 125,5; 144,15; 149,4), den Exodus (66,6), das Land als Heilssymbol (37,3. 9. 11. 22. 29. 34), Mose (103,7, V . 6 f . wahrscheinlich ergänzt), Aaron (133,2, V . 2 b ergänzt), David (18,51; 144,10). In dieser Zusammenstellung sind die Informationen der sehr jungen Psalmenüberschriften nicht berücksichtigt worden, weil sie in ein Spätstadium der Gestaltung des Psalters gehören, das im Blick auf die hiesige Fragestellung nur die Verstärkung der Historisierungstendenz dokumentiert. 8

Zu Ps 102 und 108 vgl. Becker, Israel S. 43 ff. 65 ff. ' Als eindrückliche Beispiele seien Ps 74,12-17*; 77,17-20; 89,2-19* genannt.

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Jahwe, der Gott seines Volkes

136), allerdings in theologisch freiem Umgang mit der „Vorlage", die nur für Ps 105 in ihrer literarischen Endgestalt verwendet worden ist. Ps 136 bedient sich der Form nach einer vermutlich alten Danklitanei und füllt sie in exilischer Zeit (wahrscheinlich im Umkreis Deuterojesajas) mit dem Lob des Heilsgeschichte begründenden Gottes: in der Grundfassung vom Schöpfer bis zum Geber des Landes und (in universaler Perspektive) des „täglichen Brotes", in der Letztgestalt bis zum Befreier der Exilierten 10 . Während Ps 135 im wesentlichen Teile von P s l l 5 und 136 zu einer neuen Dichtung unter polemischer -Akzentuierung der Einzigkeit Jahwes arrangiert, scheint Ps 105 wie kein anderer Heilsgeschichte von Abraham bis zur Landgabe um ihrer selbst willen zu rekapitulieren. Doch der erste Eindruck täuscht. Stoffauswahl und Sprache lassen schnell deutlich werden, daß Israel in der Heilsgeschichte aktuelle geschichtliche Erfahrung theologisch grundlegend präformiert sieht: Bedrückung im und Befreiung aus dem Exil 11 . Ähnlich verhält es sich schließlich mit dem jungen Ps 68, dessen (heils)geschichtliche Anspielungen auf die Kriege und Siege Jahwes in der Frühzeit nur dazu dienen, den Einzug Jahwes in sein Jerusalemer Heiligtum zu präludieren, wohin auf dem Höhepunkt des Psalms die Mächtigen dieser Welt zur Anbetung wallfahrten. Man halte diesem Psalm Ex 15 entgegen, um in der Divergenz des Inhaltes auch den Unterschied der Zeiten zu erkennen 12 . 10 Folgende Analyse, die an dieser Stelle nicht näher begründet werden soll, ist vorausgesetzt: V. 1-3. 5 - 7 . 10. 13. 16 f. 21 f. 25 f. gehören zur Grundfassung, V. 4. 8 f. 11 f. 14 f. 18-20. 23 f. zu einer primär vom Deuteronomismus beeinflußten Bearbeitungsschicht (diese Analyse weist manche Ubereinstimmungen mit Briggs II S.481 ff. auf; ganz anders Bazak, V T 35 S. 129 ff.). 11 Vgl. Holm-Nielsen, ASTI 11 S . 2 2 f f . 12 Die eigentlich erforderliche Auslegung von Ps 68 kann hier nicht geleistet werden. Einen guten Überblick über die ältere kritische Auslegung gibt Buhl S.43Iff., über die neuere Auslegung, verbunden mit einer eigenen gründlichen Analyse, Jeremias, Königtum S.69ff. (S.70 A . 6 Literatur). Künftige Forschung zu Ps 68 wird gut daran tun, die Gründe für die Spätdatierung, die mit zum Teil unterschiedlichen Akzentuierungen von Baethgen S. 196ff., Wellhausen, SuV VI S. 176f., Buhl S.433ff., Gunkel S.283ff. u.a. vorgetragen worden sind, noch einmal zu überprüfen und ebenso den von Beaucamp (I S. 280 ff.) durchgeführten methodischen Ansatz einer „relecture moderne d'un texte plus ancien" (S.282) noch weiter zu bedenken. Dabei dürfte für einen potentiellen Grundtext die Epoche Sauls genauso wenig wahrscheinlich zu machen sein wie die seleukidisch-hasmonäische Zeit für den Abschluß der Textentstehung. Daß Ps 68 den Rahmenpsalm Dtn 33,2-5. 26-29 voraussetzt, ist nach den Ausführungen von Jeremias (ebd. S. 82 ff.) sehr wahrscheinlich. Daß wir es hier indessen mit dem ältesten Text, der von Jahwes Königtum redet, und darüber hinaus mit dem ältesten Text des Alten Textaments „nach Ri 5 (und vielleicht Ex 15,21)" zu tun haben (S.91), wird man bei einem derart komplexen Traditionsgebilde eher für unwahrscheinlich halten dürfen.

Von der Unheilsgeschichte zur Heilsgeschichte

163

Die heilvolle Frühgeschichte Israels wird in wenigen sehr späten Psalmen immer weiter ausgedehnt. In Ps 99, der sich formaler Versatzstücke der Jerusalemer Tempeltheologie bedient, klingt die Heilsgeschichte nur durch assoziationsträchtige Namen und Begriffe an: Jakob ( = Israel), Mose, Aaron, aber auch Samuel, ferner Wolkensäule und Gesetz (V. 4. 6 f.). Mose, Aaron und Samuel sind Heilige geworden. Denn sie riefen, rufen und werden zu Jahwe rufen (ίπρ Part.), und er wird sie immer wieder erhören (my Impf.). Denn er hat einst am Sinai zu ihnen (und zu Samuel!) gesprochen (und tut es immer wieder, Ί Π pi. Impf.), was nichts anderes als Erhörung war (nay Pf.). Moses, Aaron, Samuel orate pro nobis! In Ps 132 erfährt die Heilsgeschichte nochmals eine Ausweitung. Hier ist es der „Knecht David", um dessentwillen der rr&n „Gesalbte" Jahwes, in welchem sich das Volk wiedererkennt, der göttlichen Zuwendung weiterhin gewiß sein kann (V. 10. 17)13. Davids Schwur zu Jahwe (V. 2) und Jahwes Schwur zu David (V. 11), in dessen verheißungsvolle (jedoch nicht bedingungslose, vgl. V. 12) Selbstverpflichtung das Volk sich eingeschlossen weiß, bilden ein komplementäres Verhältnis, welches vor allem den theologischen Rang Davids in der Spätzeit deutlich werden läßt. Er ist für das Volk ebenso Heilsmittler geworden wie Mose, Aaron und Samuel in Ps 99. Am erstaunlichsten ist jedoch der Inhalt von Ps 126, dessen nachexilischer Verfasser die Rückführung der Exilierten aus Babylonien zum Grund neuer Befreiungshoffnung hat werden lassen. Die Bitte „Wende, Jahwe, unser Geschick (umas?) wie Wasserbäche im Südland!" (V.4) spiritualisiert die in V. 1 erwähnte Rückführung auf die Errettung aus jeglicher Not hin und läßt im Vergleich heilsgeschichtliche Vision anklingen (vgl. 126,4b mit 114,8). Die Befreiung aus dem Exil, in Ps 136,23 f. schon in den erweiterten Kanon der Heilsgeschichte aufgenommen, ist in Ps 126 zum Hoffnungsträger kollektiven und individuellen Heils geworden, was die Deutung durch die Sentenz in V. 5 (f.) eindrucksvoll dokumentiert 14 . Uberschaut man abschließend noch einmal das ganze Spektrum der unheils- und heilsgeschichtlich relevanten Psalmen 15 , ist das Gros histo-

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Vgl. Becker, ThPh 52 S. 576; zu den zahlreichen Berührungen mit Ps 89 vgl. Veijola, Verheißung S. 72 ff.; zur traditionsgeschichtlichen Einordnung von Ps 132 vgl. Mettinger, King S.254ff. v.a. 256f. 276ff.; s.o. S.94f. 14 Anders Beyerlin, Träumende v.a. S.41 ff. 5 I f f . 15 Mit Absicht ist Ps 107 in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnt worden. Sollten in den Text überhaupt geschichtliche Anspielungen von nationaler Dimension aufgenommen worden sein (vgl. V. 2 f. u.ö.), sind sie im jetzigen Kontext doch allemal als typische Notsituationen menschlicher Existenz verstanden worden, was aus den refrainarti-

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Jahwe, der Gott seines Volkes

risch und theologisch zwischen Ps 137 und 126 zu placieren. Die politisch-militärische Liquidierung Judas hat die religiöse Depression bewirkt, welche theologische Reflexion im Bereich des Tempels bzw. seiner geistigen Hinterlassenschaft auf zwei Wegen zu bewältigen unternommen hat: durch Wahrnehmung der eigenen Volksgeschichte als Unheils- und Heilsgeschichte von ihren Anfängen an. Anknüpfungspunkte in der Tradition waren vorhanden, das jehowistische Erzählwerk, die Unheilsprophetie und die deuteronomisch-deuteronomistische Literatur. Werden auch alle genannten theologischen Vorgaben in irgendeiner Weise im Umkreis des Tempels bekannt gewesen sein, wie es für die heilsgeschichtlichen Credenda durch Ex 15 sogar hatte nachgewiesen werden können, stand doch keine von ihnen im Mittelpunkt der Psalmtheologie des Tempels. Sie alle gerieten erst durch die Katastrophe des Exils - der radikalen Infragestellung des Rechtes einer vom Tempel aus und auf ihn hin denkenden Psalmtheologie - in den Brennpunkt ihres Interesses und gaben ihr auf vielfältige Weise Gelegenheit, unter veränderten historischen Bedingungen ihre gebrochen-ungebrochene theologische Gestaltungskraft unter Beweis zu stellen16. Psalm- und Tempeltheologie - die Begriffe sind bisher vielfach verwendet worden, wo es theologische Inhalte zu benennen galt, die gegenüber den theologischen Kreisen um Schöpfung und Heilsgeschichte eine eigene psalmspezifische Prägung aufzuweisen schienen. Bis zu diesem Punkt der Untersuchung ist die Redeweise Postulat geblieben, deren Recht im folgenden überprüft werden soll.

gen Zeilen hervorgeht (vgl. V.6. 8. 13. 15. 19. 21. 28. 31); vgl. auch Beyerlin, 107. Psalm S. 32 ff.; anders Haglund, Motifs S.29ff. 16 Die in diesem Kapitel vorgenommene historische und theologische Situierung der Psalmen, die sich in irgendeiner Form mit der Geschichte des Volkes Israel befassen, steht in diametralem Gegensatz zu der Auffassung Haglunds (Motifs S. 119 ff.), der eine Reihe von Geschichtspsalmen in die theologischen Vorstellungskreise von Bund und heiligem Krieg eingebettet sieht und dadurch ihr vergleichsweise hohes Alter meint nachweisen zu können. Haglund setzt sich mit der fundamentalen Bestreitung dies hohen Alters dieser Vorstellungen nicht auseinander, sondern redet munter von Herbstfest und Bundeserneuerung, womit Ps 81, 105, 111, 135 und 136 zu verbinden seien, darunter Ps 81 ursprünglich aus dem Nordreich stammend und Ps 105 „undoubtedly pre-exilic" (S. 121). Die Auseinandersetzung braucht hier nicht aufgenommen zu werden, denn sie ist intensiv in den zwei Dekaden vor Erscheinen von Haglunds Werk geführt worden.

III. Jahwe, der Herr seines Heiligtums Gibt es einen religiösen und theologischen Erfahrungs- und Reflexionsbereich, der in Abgrenzung von anderen religiösen und theologischen Ebenen mit besonderem Recht die Namen Psalmfrömmigkeit und -theologie verdient? Bei der Auslegung der sog. Schöpfungs- und Geschichtspsalmen war immerhin deutlich geworden, daß sie ihre theologische Mitte gleichsam nicht in sich selbst haben, sondern von einer externen Mitte her und auf sie hin formuliert sind. Diese soll nun in der Analyse einer Reihe von Texten zu konturieren gesucht werden, die teils explizit, teils implizit - konzentrisch um ebenjenes zugleich faktische und geistliche Zentrum gruppiert sind: den (Jerusalemer) Tempel 1 . Vieles, was in den sog. Schöpfungs- und Geschichtspsalmen angeklungen ist, gewinnt hier theologischen Zusammenhang und hat damit auch wohl nirgendwo anders seinen theologischen Ursprung. Hier stößt man zu dem Kern der Psalmtheologie vor, an dem sich alle weiteren theologischen Stoffe ankristallisiert haben, der aber auch selbst im Verlaufe der Geschichte wahrnehmbare Transformationen erlebt hat. In diesem Kapitel sei er zunächst in seiner erreichbar ältesten Form dargestellt, die der königlichen Präsenz Jahwes in seinem Tempel und ihren verschiedenen Aspekten gewidmet ist. Lehrmeister dieser Theologie waren, wie sich zeigen wird, die Kanaanäer, deren israelitische Schüler aber von Anfang an selbstbewußt entschieden, was für sie zu lernen nützlich war und was nicht. 1. D i e H u l d i g u n g des himmlischen H o f s t a a t e s : P s 29 ιa lb

Gebt Jahwe, ihr Göttersöhne, gebt J a h w e Ehre und Macht!

2a 2b

Gebt Jahwe seines Namens Ehre, fallt nieder vor Jahwe in heiliger Majestät 2 !

1 Von „einem in konzentrischen Kreisen um Jerusalem organisierten Weltbild abgestufter Segensnähe mit der Mitte im Tempel auf dem Gottesberg in Jerusalem" spricht E. Otto, Jerusalem S. 58 f. In der inhaltlichen Konturierung ergeben sich indessen zum vorliegenden Entwurf allerlei Unterschiede. 2 L X X hat sich den schwierigen Ausdruck auf ihre Weise verständlich gemacht: έν αυλή άγίζΐ αΰτοϋ, Vulgata iuxta L X X demgemäß in atrio sancto eius, während Vulgata iuxta Hebraicum durch in decore sancto M T bestätigt, wenngleich auch diese Überset-

166

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

3ao 3 aß 3b

Jahwes Stimme über den Wassern, der Gott der Ehre hat es donnern lassen, Jahwe über gewaltigen Wassern.

4a 4b

Jahwes Stimme mit Macht, Jahwes Stimme in Pracht.

5a 5b

Jahwes Stimme zedernzerbrechend, Jahwe zerspaltet des Libanon Zedern.

6a 6b

Läßt Libanon hüpfen wie die Kälber, Sirjon wie Jungstiere 3 .

7 8a

Jahwes Stimme funkenschlagend, Jahwes Stimme erschüttert die Wüste.

8b 9aa

Jahwe erschüttert die „heilige" Wüste, Jahwes Stimme läßt Hinden kreißen.

9 aß

4

.

9b

und in seinem Palast rufen die Seinen alle: Ehre!

10a ίοb

Jahwe thront über der Flut, König Jahwe throne auf immer!

11 a 11 b

Jahwe gebe seinem Volke Kraft, Jahwe segne sein Volk mit Frieden!

Die rekonstruierte Grundfassung des Psalms: ιa lb

Gebt Jahwe, ihr Göttersöhne, gebt Jahwe Ehre und Macht!

2a 2b

Gebt Jahwe seines Namens Ehre, fallt nieder vor Jahwe in heiliger Majestät!

zung nicht die seraantische Weite von snp> rinn wiedergibt. Zur Interpretation des Ausdruckes s.u. S. 172f. 3

biy wird wegen des parallelen D'am μ kollektiv zu verstehen sein.

Die Verbalform zu Beginn von V. 6 ist nicht suffigiert, sondern um die enklitische Partikel -m erweitert (vgl. Meyer, H G II S. 180 f. mit Literatur). 4 Es hat keinen Zweck, den Schaden in V. 9 aß heilen zu wollen. Gründliche Textkorruption und wegen der Kürze des Kolons zu vermutender Textverlust geben diesem Versuch keine Chance. Die Verbform im Impf. cons, geht wie auch sonst auf masoretische Fehlpunktierung zurück; doch es ist sogar fraglich, ob nicht bereits die Wurzel η®π „abschälen, entblößen" Resultat von Textkorruption ist, weil sie im Parallelismus membrorum zu V. 9 b einigermaßen überraschend erscheint. Der Verdacht der Textkorruption wird weiter durch den folgenden singulären femininen Plural n n y bestärkt, da der Singular eindeutig maskulin (vgl. Sach 11,2) und zudem zweimal der maskuline Plural bezeugt ist (vgl. Ez 34,25; 39,10). Angesichts des desolaten Textbestandes gibt es nur eins: den völligen Verzicht auf Rekonstruktions- und Ubersetzungsversuche.

Die Huldigung des himmlischen Hofstaates: Ps 29

3aa 3b

Jahwes Stimme über den Wassern, Jahwe über gewaltigen Wassern.

4a 4b

Jahwes Stimme mit Macht, Jahwes Stimme in Pracht.

5a 5b

Jahwes Stimme zedernzerbrechend, Jahwe zerspaltet des Libanon Zedern.

6a 6b

Läßt Libanon hüpfen wie Kälber, Sirjon wie Jungstiere.

7 8a

Jahwes Stimme funkenschlagend, Jahwes Stimme erschüttert die Wüste.

8b 9aa

Jahwe erschüttert die „heilige" Wüste, Jahwes Stimme läßt Hinden kreißen.

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9aß

9b

und in seinem Tempel rufen die Seinen alle: Ehre!

ίοa lob

Jahwe thront über der Flut, König Jahwe throne auf immer!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.321)

Tempeltheologie, wie sie von Israel bei den Kanaanäern studiert worden ist, hat ihren Ursprung im Himmel, welcher nicht Objekt des Schöpfungshandelns, sondern Kulisse göttlicher Macht- und Prachtentfaltung ist. Darin ist ihm die Erde gleich. Sie ist einfach da und wird gebraucht als Schauplatz gewaltiger Theophanie, die nichts anderes zu bezwecken scheint, als die anfängliche Ehrerbietung der Göttersöhne in Gang zu halten, so daß das göttliche Wechselspiel von theophaner Aktion und hymnischer Reaktion zum Signum der ewigen Königsherrschaft Jahwes wird, theologisch nach keiner Seite hin weiterer Ergänzung bedürftig. Diese Theologie hat in Ps 29 poetischen Ausdruck gefunden 5 , welcher in seiner originären Gestalt noch einigermaßen rekonstruiert werden kann, obwohl spätere Tradition auf „Lesehilfen" nicht verzichtet hat. Die Hauptschwierigkeit liegt aber nicht sosehr in der Identifizierung der redaktionellen Texterweiterungen als vielmehr in der Erkennung der masoretischen Fehlpunktierungen und -akzentuierungen. Er5 Die Literatur zu Ps 29 ist umfangreich. Nützliche Zusammenstellungen sind außer in den Kommentaren in folgenden Werken zu finden: Strauß, ZAW 82 S.91 ff.; Cunchillos, Estudio S. 17 ff.; Seybold, ThZ 36 S. 209 f. A. 2; Loretz, Psalm 29 S. 11 ff.

168

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

weist sich auch in den meisten Psalmen die masoretische Punktation als überaus verläßlich, sind hier doch Irrtümer unterlaufen, die ihre Ursache nur in grammatischen und inhaltlichen Verständnisschwierigkeiten haben können, welche durch die Uniformierungstendenz des hebräischen Tempussystems und durch die Unbekanntheit kanaanäischer Tradition zur Zeit der Masoreten bedingt sind. Die Masoreten haben einige Verbformen als Impf. cons, punktiert (V.5b. 6 a. 9 aß. 10 b) und damit in die Gewittertheophanie und auch in die Königsherrschaft Jahwes einen punktuell-präteritalen Aspekt eingetragen. Daß dieser der ursprünglichen Fassung fremd gewesen ist, läßt sich dem Gebrauch adverbieller (V. 3aab. 4) und partizipialer (V. 5 a. 7. 9 b) Nominalsätze und imperfektischer Verbalsätze (V. 8 ab. 9 aa) entnehmen, die ohne erkennbares System mit den durch Imperfectum consecutivum gebildeten Verbalsätzen alternieren. Die Partizipien und Imperfecta artikulieren iterative und durative Handlungen, welche auch hinter den nun mit Imperfecta consecutiva verbundenen Verbalsätzen vermutet werden müssen, will man nicht den sinnvollen inhaltlichen Zusammenhang allein wegen des Tempusgebrauches preisgeben. Deshalb dem Imperfectum consecutivum in bestimmten syntaktischen Figuren eine präsentische Komponente bzw. temporale Neutralität beizumessen und damit eine der eindeutigsten und charakteristischsten Formen des hebräischen Tempussystems ihrer klaren Konturen zu berauben, ist weit schlechter zu begründen als die Annahme masoretischer Fehlpunktierung der wenigen betreffenden Verbformen, zumal in späterer Zeit aufgrund der theologischen Dominanz der Sinaitheophanie das geschichtlich-punktuelle Verständnis von Theophanietexten überhaupt nahegelegen haben wird 6 . Für die Grundfassung des Psalms sind somit aller Wahrscheinlichkeit nach die Imperfecta consecutiva in kopulative Imperfecta mit dem auch sonst beherrschenden iterativen bzw. durativen Handlungsaspekt umzupunktieren 7 .

6 Michel (Tempora S. 39ff.) stellt die Imperfecta consecutiva mit einigen weiteren Psalmenbelegen zusammen, in denen das Impf. cons, eine Folge ohne Rücksicht auf die Zeitstufe angeben soll. Ganz anders Gross (Verbform S. 93 ff.), der erfreulicherweise am perfektiven Aspekt des Impf. cons, festhält, dafür aber hier seine ausgefallene „stilistische Verwendung im Dienst dramatischer Vergegenwärtigung" annimmt (S.98). Achillesferse beider Positionen ist der Wechsel zum Impferfekt in 29,8 f. ohne offensichtliche aspektuale Differenz.'Ehe man diese mit Michel (ebd. S. 147) recht mühsam postuliert oder mit Groß (ebd. S.96) vereinzelte Fehlpunktierung erwägt, ist die Eliminie'rung aller Imperfecta consecutiva konsequenter und wegen der Vermeidung aspektualer Kasuistik auch plausibler. Dieser Vorschlag stimmt weitgehend mit den Ausführungen von Fensham (JNWSL 6 S. 14 ff.) überein. 7 In der Textrekonstruktion ist die Punktierung von ηβΠΊ als Impf. cons, in V. 9 aß belassen worden, weil ohnehin Textkorruption vorliegt. Wie oben angedeutet, haben die Masoreten ferner durch die Akzentsetzung zweimal die ursprüngliche Textgliederung verändert. In V. 6 ist die Verbform fälschlich als suffigiert aufgefaßt worden, rückbezogen auf die Zedern des Libanon in V. 5. Um im parallelen Kolon ebenfalls ein pluralisches Objekt lesen zu können, haben die Masoreten das

Die Huldigung des himmlischen Hofstaates: Ps 29

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Gegenüber den durch die masoretische Arbeit entstandenen Veränderungen bereiten die redaktionellen Eingriffe keine großen Schwierigkeiten. In V. 3 aß läßt sich die entmythologisierende Kommentierung der Stimme Jahwes über den Wassern als Donner leicht als sekundär erkennen, denn der repetierende Parallelismus membrorum in V. 3aab wird dadurch auseinandergerissen. Ferner ist das Epitheton „Gott der Ehre" aus Elementen der Textvorgabe heraus kombiniert, bleibt abpr im Kontext einhelliger Jahwe-Prädikation ein Fremdkörper 8 . Anderer theologischer Intention (und deshalb wohl auch anderer Hand) entstammt der abschließende V. 11. Überraschend ist vom Volk die Rede, für das Jahwes Machterweis und Frieden schaffender Segen erbeten werden. Mit dem Inhalt der Grundfassung hat das nichts zu tun. Da sucht Jahwe die Erde heim, nicht um seinem Volk zu helfen, sondern um Zedern zu zerspalten und die Steppe beben zu lassen. Vielleicht waren es exilische Beter, die den alten Psalm in dürftiger Zeit neidvoll lasen und die Schlußbitte für das eigene gequälte Volk anfügten. Das Stichwort des Psalms, an welches sie anknüpfen, ist ty „Macht" (V. 1). Aber damit ist nun nicht mehr der ry des Psalmanfangs gemeint, jener eigentümlich machtvolle Preis, den der immer noch polytheistisch anmutende himmlische Hofstaat Jahwe zollt, sondern der ry, den Jahwe selbst geben soll: die Glaubensstärkung und der göttliche Machterweis für die Seinen gegen die Unterdrücker 9 . Kolon V. 6 a - siehe den Atnah unter Vjy - verkürzt und „Libanon" zu „Sirjon" hinzugenommen, wodurch das Gleichmaß des Parallelismus membrorum allerdings zerstört worden ist. Hingegen hat der Atnah unter ii>D'nm in V. 9 offensichtlich eine wohlproportionierte Textgliederung bewirken sollen, unterbricht hier jedoch den sinnvollen Zusammenhang, ohne daß damit für die Textkorruption in V. 9 aß irgendetwas gewonnen wäre. Schließlich scheinen die Masoreten zweimal durch Setzung von Sillüq und Söp päsüq die zusammengehörigen Kola getrennt zu haben: V. 7 von V. 8 a, und V. 8 b von V. 9 act. Hier bleiben allerdings Unsicherheiten in der Bestimmung des Parallelismus membrorum zurück. V. 8 a und 8 b könnten auch ein Bikolon bilden, unter Hinzunahme von 9 aa sogar ein Trikolon·. Schließlich bleibt wegen der Textkorruption ungewiß, ob V. 9 aß inhaltlich zum Vorangehenden oder zum Folgenden gehört. Entscheidet man sich jedoch für eine der angedeuteten Möglichkeiten, gerät allemal die in der vorliegenden Rekonstruktion sichtbar werdende formale Geschlossenheit des Ganzen aus den Fugen. Textumstellungen (Verbindung von V. 3 aß mit V. 7) vermögen das nur um den Preis falscher Beurteilung des Redaktionsprozesses zu verhindern. Daß die vorgeschlagene Rekonstruktion demgegenüber mit der Annahme inkorrekter Akzentsetzungen durch die Masoreten auskommt, spricht kaum gegen sie. * Vgl. Briggs I S.255, danach viele andere. ' Vgl. Olshausen S. 141. 143 mit dem zutreffenden Hinweis auf Ps 28,8 f., danach viele andere, vor allem Becker, ThPh 52 S.571. Die dargebotene redaktionsgeschichtliche Analyse kann sich selbstverständlich auf keinen wissenschaftlichen Konsens berufen. Sie stimmt in der Einschätzung der zugrunde liegenden poetischen Struktur mit derjenigen Mittmanns überein (VT 28 S. 172ff.): „Zwei Stichen, einander zugeordnet im anaphorisch klimaktischen bzw. gleichläufig synonymen

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Nachdem die Traditionsüberlagerungen abgehoben worden sind, steht ein Hymnus vor Augen, der durch zwei scheinbar widerstreitende Eigenschaften geprägt ist: einerseits durch unverhohlen mythologische Parallelismus, konstituieren den Vers, zwei eng aufeinander bezogene Verse die Strophe, die zugleich eine Sinneinheit darstellt" (S. 175). Allerdings kann der Zuweisung von V . 6 f . 9 a zur Ergänzungsschicht und der Umstellung von V. 3 aß (bei Mittmann: 3 b) nicht zugestimmt werden. Ansonsten sind die Rekonstruktionsvorschläge fast ebenso zahlreich wie die Forscher, die sich mit dem Psalm beschäftigt haben. Der Kürze halber sei nur auf einige typische Lösungsversuche aus neuerer Zeit hingewiesen: Vogt (Bibl 41 S. 17 ff.) rekonstruiert durch Textumstellungen und Konjekturen, die keinesfalls nur „leichte Änderungen" sind (S. 23), einen sechsstrophigen Psalm (I: V. 1 f.; II: V.3ac. 4; III: V.5f.; IV: V.8. 9ab [konjiziert]; V: V.7 [konjiziert], 3b. 9c; VI: V.10 [konjiziert], 11; wirklich leichte Änderungen sind unberücksichtigt geblieben). Einmal von der großen Unsicherheit der Konjekturen abgesehen, erklärt Vogt im Blick auf die Textumstellungen nicht, wodurch die unterstellte Unordnung im vorliegenden Text verursacht worden sein mag. Ähnlich radikal greift Cross (Myth S. 151 ff.) in den Textbestand ein, denn „Psalm 29 is an ancient Ba'l hymn, only sligthly modified for use in the early cultus of Yahweh" (S. 151 f.; die These geht auf Ginsberg zurück, vgl. ebd. Α. 22). Das kanaanäische Original sei spätestens in salomonischer Zeit übernommen worden, so daß sich Cross zur Restitution der kanaanäischen Orthographie legitimiert sieht und dadurch den Text entscheidend verändert. Doch woher stammt die Sicherheit, daß die israelitische Form „no later than tenth century B.C." sei (S. 152)? Es gibt keinen kanaanäischen Baal-Text, der als Vorlage für Ps 29 in Frage käme, sondern eine ganze Reihe kanaanäischer Motive, die allerdings nicht nur mit Baal, sondern auch mit El in Verbindung stehen. Darüber hinaus wird zu zeigen sein, daß die Art ihrer Rezeption auf bewußte jahwistische Aneignung der unterschiedlichen Stoffe schließen läßt, weshalb die These von der Übernahme einer bestimmten kanaanäischen Dichtung ganz unwahrscheinlich ist. Diese kritischen Einwände treffen zum Teil auch die Analyse Seybolds (ThZ 36 S. 208 ff., v. a. 209 Α. 1), der ebenfalls für gesichert hält, „daß Ps 29 ursprünglich ein aus dem kanaanäischen Raum stammender Text war, der durch leichte Überarbeitung zu einem israelitisch-jahwistischen Hymnus gemacht wurde" (S. 208). Die These von der leichten Überarbeitung - Ersetzung von Baal durch Jahwe und Anfügung von V. 11 a (vgl. S. 212) - ist nur dadurch zu halten, daß Seybold eine umfangreiche spätvorexilische Ergänzungsschicht annimmt, durch die der Psalm auf das Doppelte erweitert worden ist (vgl. S. 213 ff.). Unter vielen Einwänden scheint der wichtigste zu sein, daß die Analyse nicht auf textinternen Beobachtungen beruht, sondern auf dem vermeintlichen kanaanäischen Topos vom „siebenmaligen Brüllen des Donners" als Kriegsruf des Baal, in Ps 29 allerdings nur noch als „hymnisches Fragment" erhalten (S. 210; die ugaritische „Parallele" RS 24. 245 = KTU 1. 101,3 f. ist von Day, VT 29 S. 143 ff., erkannt und interpretiert worden; vgl. ders., Conflict S. 58 f.). Dazu ist zu sagen, daß es die „Parallele" nur durch eine äußerst gewagte Interpretation des ugaritischen graduellen Zahlenspruches gibt, der mit der Zahl „sieben" aber brqm „Blitze" und erst mit der Zahl „acht" etwas nicht ganz Verständliches verbindet, was jedoch den Donner meinen kann. Ob es auf diesem Hintergrund zu rechtfertigen ist, aus dem Bestand von Ps 29 ein einheitliches Stück über die Stimme Jahwes herauszulösen und diesem Ziel die gut komponierten Parallelismen V. 3 a a / / 3 b , 5 a// 5 b, 8 a//8 b bzw. 8 b / / 9 a a zu opfern? Mit bekannter Vorliebe für die Kolometrie schafft sich Loretz (Psalm 29 S. 23 ff.) einen der eigenen methodischen Voraussetzung konformen Text, der eine Fülle von Änderun-

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Diktion, deren Herkunft aus dem kanaanäischen Bereich durch ugaritische Texte gesichert ist, andererseits durch eine so auffällige Häufung des Jahwenamens, daß in sechzehn von insgesamt zwanzig Kola von Jahwe bzw. von Jahwes Stimme die Rede ist. Wie ist das Nebeneinander dieser unterschiedlichen Eigenschaften zu erklären? Hat sich Israel etwa mit intolerant-jahwistischem Selbstbewußtsein eine kanaanäische Dichtung dadurch zu eigen zu machen versucht, daß es durch die Häufung des Jahwenamens ihren mythologischen Charakter hat verwischen wollen? Nun kann als eines der wenigen gesicherten Resultate der bisherigen Forschung zu Ps 29 gelten, daß die Komposition des Psalms viel zu komplex ist, als daß sie mit einfacher Übernahme einer kanaanäischen Vorlage zu erklären wäre 10 . Und ob die mythologischen Materialien tatsächlich nur aus intolerant monotheistischem Alleinvertretungsanspruch heraus rezipiert worden sind, um sogleich möglichst gründlich ihre theologische Degradierung zu demonstrieren, muß allererst die genaue Textanalyse erweisen, bei der die Art und Weise der Aneignung mythologischer Vorstellungen besonders sorgfältig zu beachten sein wird. Der Psalm, der in fünf Teile mit je zwei Bikola untergliedert ist (I: V. 1 f.; II: V. 3 a. 4; III: V.5f.; IV: V . 7 - 9 a a ; V: V.9aßb. 10), beginnt in V. 1 f. mit einem hymnischen Introitus, in dem die Göttersöhne in viermaligem Aufruf zum Jahwelob aufgefordert werden. Wer sich hier an die Göttersöhne wendet, wird nicht gesagt und bleibt auch den ganzen gen enthält, von denen nur die Beurteilung von V. 6 f. als sekundär mitgeteilt werden soll. Das bedenkenswerte Resultat, „daß in Ps 29 wenigstens zwei Traditionen, eine über El und eine über Baal, zusammengearbeitet sind" (S. 53, vgl. S. 111 f.), ist glücklicherweise auch auf plausiblere Weise zu erreichen. Die grundsätzlichen literarkritischen Distinktionen (Grundtext: V. l f . 9 b; Mittelteil: V.3-9a; Schluß: V. 10 f.) unterliegen zum Teil schweren Bedenken (vor allem im Blick auf den Grundtext und die Zusammengehörigkeit von V. 10 f.). Und die Datierung des ganzen Psalms in den „nachkultischen Raum der nachexilischen Zeit" kann Loretz nur propagieren, weil er das Herrlichkeitsdenken undifferenziert für ein Charakteristikum der „späten nachexilischen jüdischen Theologie" hält (S. 70). Große Nähe besteht indessen zu der inhaltsreichen Analyse von Jeremias (Königtum S. 29 ff.). Sie verdiente eine umfassende Würdigung, die hier nicht geleistet werden kann. Deshalb sei gerade ihre Lektüre besonders empfohlen. 10 So schon Mowinckel, Offersang S.614 A. 105 (vgl. ders., Psalms II S. 190 A. 101). Nachdem W. H.Schmidt (Königtum S.55ff.) 1961 (2.Aufl. 1966) die Verbindung kanaanäischer El- und Baal-Traditionen in Ps 29 zwingend nachgewiesen hat, sollte dieses Ergebnis allmählich als bekannt vorausgesetzt werden dürfen und die Rede allein von der Übernahme von Baal-Tradition verstummen; so wieder Kapelrud, Tradition S. 116 f.; Day, Conflict S. 57 ff. (allenfalls „mediated through the cult of the Jebusite god ElElyon", S.60); Kloos, Combat S. 15ff. („Yhwh as Baal from beginning to end", S.93). Man wird die Entstehung des Psalms erst in Israel noch viel entschiedener vermuten dürfen, als es W . H . Schmidt getan that (vgl. S.57f.).

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Psalm hindurch im unklaren. Wichtiger ist die angesprochene Gruppe, die Göttersöhne, die, wie die ugaritischen Texte lehren, die Götter selbst sind und in ihrer Gemeinschaft die göttliche Ratsversammlung darstellen 11 . Sie spenden dem höchsten unter ihnen Lob, in Ps 29 Jahwe, in ugaritischen Texten El, und dies wieder auf eine genuin kanaanäische Art. Sie „geben" (an'*) Jahwe "PID „Ehre, Herrlichkeit", ty „Macht, Kraft", lölP "Π33 „die Ehre seines Namens", lauter Gaben also, deren Gott nicht bedarf, weil sie ihm eigen sind. Jedoch gehört diese Herrlichkeitsbekundung zum Gedankenkreis einer bestimmten, stark kanaanäisch geprägten Psalmtheologie, die in ihrem ganzen Umfange noch durch weitere Texte sichtbar werden wird. Aus ihnen wird deutlich, daß Herrlichkeit, Macht und Ehre des Gottesnamens als Gabe der Göttersöhne nichts anderes als lobende Anerkennung der göttlichen Anteilgabe an ebenjener Herrlichkeit sein will, die nicht bloß eine hohe, aber auch entbehrliche Auszeichnung göttlicher (und menschlicher) Existenz, sondern deren conditio sine qua non ist12. Ob „Herrlichkeit" ( T D D ) oder „Macht" (ry) oder gar „die Ehre seines Namens" (int? n n a ) - die terminologische Vielfalt kreist um ein komplexes Phänomen, das für das Wesen Gottes, ja für Gott selbst steht, das er, ohne sich selbst zu berauben, aus sich entläßt, Götter und Menschen dadurch konstituierend, und das die Beschenkten im Gotteslob „zurückgeben", ohne ihrerseits das lebenspendende Geschenk zu verlieren. Ps 29 redet allein von dieser hymnischen „Rückgabe" der Göttersöhne, wie es auch für den Introitus eines Hymnus nicht anders zu erwarten ist. Doch ohne die in der aufgezeigten „Vorgeschichte" erfahrene göttliche Begabung wäre das eigentümliche Gotteslob weder möglich noch verständlich. Und dieses Gotteslob nimmt Jahwe nicht nur von Menschen entgegen, sondern auch, in Ps 29 sogar ausschließlich, von Götter(söhne)n. Damit haben sie gegenüber Jahwe - wie auch schon einst, zumindest de iure, gegenüber El - deutlich eine inferiore Stellung inne, dies jedoch nicht als Degradierte, sondern als Beschenkte! Nur die Berücksichtigung der dargelegten charakteristischen Denkfigur ermöglicht schließlich das angemessene Verständnis der Wendung snp ίίττπη „in heiliger Majestät" (V.2b). Die alternative Frage, ob sie auf Jahwe oder die Göttersöhne zu beziehen sei, führt zu einem Scheinproblem. Vielmehr ist zu beachten, daß die präpositionale Bestimmung im Vergleich mit dem syntaktischen Aufbau von V. 1 b und 2 a die StelVgl. W . H.Schmidt, Königtum S . 2 5 f f . In späterer Zeit kann man Jahwe auch durch etwas anderes die Ehre geben: durch ein Sündenbekenntnis (vgl. Jos 7,19 f. und dazu Veijola, Klagegebete S. 304 f.) - eine Undenkbarkeit im Rahmen der sich in Ps 29 artikulierenden Theologie und damit auch indirekter Hinweis auf ihr höheres Alter. 11

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Die Huldigung des himmlischen Hofstaates: Ps 29

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lung der Akkusativ-Objekte ryi naD „Ehre und Macht" und las? Tins „Ehre seines Namens" einnimmt und folglich wohl auch in inhaltlicher Affinität zu diesen gedeutet werden muß. snp m i n „heilige Majestät, Pracht" als ein mit Tins u. a. vergleichbarer theologischer Vermittlungsbegriff ist der alternativen Zuordnung zur Sphäre Jahwes oder der Göttersöhne von der Sache selbst her entzogen: Er umfaßt Jahwes heilige Majestät und zugleich ihren heiligen Widerschein bei den Göttersöhnen, nicht als etwas Äußerliches (obwohl gewiß bis ins Äußerliche hinein manifest), sondern als fundamentale existentielle Begabung 13 . Vom zweiten bis zum vierten Teil reicht das eigentliche Korpus des Gotteslobes (V. 3-9 aa), in dem als pars pro toto die „Stimme Jahwes" (mir besonders apostrophiert ist. Unter diesem Codewort vollzieht der Dichter in souveräner Freiheit die jahwistische Anverwandlung der kanaanäischen Baal-Mythologie 14 . Jahwe, dem im Introitus im Gefolge von El-Tradition die Ehrerbietung der Götter(söhne) zuteil geworden ist, schlüpft im zweiten Teil (V. 3 aab. 4) in die Rolle des Gottes der Gewittertheophanie, weshalb die „Lesehilfe" in V. 3 aß als sachgemäß erscheinen könnte 15 . Denn Jahwe(s Stimme) wäre nicht über gewaltigen

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Das angemessene Verständnis von π ρ η π π muß - wie versucht - aus Ps 29 selbst gewonnen werden. Denn die weiteren Belege, die dieselbe Kombination oder einen ähnlichen Ausdruck bieten, sind nur bedingt hilfreich: Ps 96,7-9 zitieren und interpretieren 2 9 , l f . , I C h r 16,28f. wiederum Ps 96,7-9, und 110,3 ist textlich unsicher. Prov 14,28 als „profaner" Beleg zeigt immerhin an, daß mit dem Begriff n n n * etwas Konstitutives zum Ausdruck gebracht wird, denn die Beurteilung der Menge des Volkes als ηΐ>Β r m n impliziert mehr als ein schmückendes, aber allenfalls auch verzichtbares königliches Attribut. Schließlich wird im folgenden das Fehlen des Volkes als Untergang des Königs apostrophiert. Deshalb ist es ganz unangemessen, im Gefolge von 2Chr 20,21 (ebenfalls regelmäßig falsch gedeutet, vgl. Caquot, Syria 33 S. 37) hinter dem religiösen Gebrauch des Wortes nur „liturgische Gewänder . . . von den Angehörigen des Hofstaates Jahwes" zu vermuten (Donner, ZAW 79 S.331 und vor und nach ihm viele Kommentatoren). Dagegen hat Cross (Myth S. 152 ff.) mit seiner Ubersetzung „Erscheinung, Theophanie", die philologisch mit gutem Grund kritisiert worden ist (vgl. Caquot, Syria 33 S. 39 f.; Donner, ZAW 79 S. 332 f.; bedenkenswert aber auch: Ackroyd, JThS 17 S. 393 ff.), das bessere Gespür f ü r das inhaltliche Gewicht des Ausdruckes gehabt. Den Weg zu seiner richtigen Interpretation und damit auch zum angemessenen Verständnis von Ps 29,2 hat Caquot (Syria 33 S. 38 ff.) gewiesen: „Le second Stiche de la doxologie serait ainsi exactement parallele au premier . . . Comme la ,gloire' de Yahweh, sa .majeste' est une qualite que l'adorateur lui confere en la proclamant" (S.40). 14

Wichtig ist in dieser Hinsicht der Baal-Jam-Mythos K T U 1.2; Übersetzung und Literatur: T O I S. 107ff.; M L C S. 81 ff.; vgl. ferner W . H . Schmidt, Königtum S. lOff. 15 Aber Mittmanns Mahnung ist zu beherzigen: „Wer sie (seil, die Stimme Jahwes) allzu direkt mit dem Gewitterdonner identifiziert, übersieht, daß sie zugleich eine überkosmische Größe ist, die sich in jenem .natürlichen' Phänomen zwar manifestiert, darin jedoch durchaus nicht aufgeht; denn ihre Kraft und Wirkung geht über die Dynamik des Gewitters weit hinaus" (VT 28 S. 177); vgl. ebd. S. 176f. die begründete Kritik an der Übersetzung von Vif> durch „Horch!".

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Wassern 16 , gäbe es nicht den Baal-Jam-Mythos, in dem sich Baal über den Meeresgott Jam die Herrschaft erkämpft. Und doch ist von der mythischen Vorlage kaum mehr als der merkwürdige Ort der Jahwepräsenz geblieben: kein Wort von Kampf und folglich keine eindeutige Anspielung auf den Gegner (θ'» „Wasser", nicht D' „Meer[esgott]"), nicht einmal Handlung, sondern in adverbiellen Nominalsätzen Wesensbeschreibung von Jahwe(s Stimme), in welcher die numinosen Waffen Π3 „Macht" und "ΠΠ „Schreckensglanz, Pracht" ihrer kämpferischen Dynamis weithin beraubt und den Jahwe-Eigenschaften des Introitus ähnlich geworden zu sein scheinen17. Der dritte Teil (V. 5 f) erweist die friedliche Atmosphäre des zweiten Teiles als trügerisch. Ganz unerwartet tritt Jahwe zum theophanen Kampf an, nun aber nicht gegen das Meer, sondern die Zedern des Libanon. Jahwe läßt sich den Kampf nicht von der kanaanäischen Mythologie diktieren, vielmehr erweist er seine „tremenda maiestas" 18 dort, wo es ihm paßt. Klimaktischer Parallelismus (V. 5) und Wiederaufnahme des Verbs in Stammesmodifikation - gepaart mit dem Übergang vom Nominal- zum Verbalsatz - intensivieren die innere Bewegung des Psalms, in deren Gefolge auch der gleichmäßige syntaktische Bau der Bikola aufgesprengt wird. In V. 6 steht (wie schon in V. 5 b) das Verb in Anfangsposition, die bisher für Jahwe bzw. seine Stimme reserviert war. Beide werden in V. 6 nicht eigens erwähnt, denn das gewaltige Theophaniegeschehen selbst bannt die Aufmerksamkeit des Dichters ganz, der dem Erweis der schlechthinnigen Unnahbarkeit und Ubergewalt Jahwes durch paradoxe Vergleiche sprachlich gerecht zu werden versucht. Hat sich Jahwe auch nicht den Kampf Baals zu eigen gemacht kämpft er in Ps 29,5 f. überhaupt oder demonstriert er nur theophane Überlegenheit? -, so ist er in der Wahl der Gegner bzw. der „Demonstrationsobjekte" doch nicht frei von mythischer Bindung, will dies angesichts der Häufung mythischer Bezüge wohl auch gar nicht sein. Denn die Machtdemonstration in V. 5 f. könnte nicht ebensogut an Terebinthen und am Gebirge Ephraim erfolgen. Ja selbst die Vergleiche in V. 6 haben ihre mythische Tiefendimension. Der numinose Charakter der Zedern (des Libanon) ist altorientalisch breit dokumentiert und

16 Zu n'm Π'Β vgl. Ps 93,4; ähnlich Ex 15,10 und vielleicht K T U 1. 3 111,39 (vgl. T O I S. 167; MLC S. 185); Darstellung und Interpretation der Vorstellung bei May, JBL 74 S. 9 ff. 17 Zu der sich in Π3 und vrn manifestierenden Vorstellung s.u. S . 2 2 0 f f . " Vgl. R.Otto, Das Heilige S. 1 4 f f . v.a. 22f.; von ihm stammen auch die im folgenden gebrauchten Begriffe „schlechthinnige Unnahbarkeit und Ubergewalt".

Die Huldigung des himmlischen Hofstaates: Ps 29

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kommt selbst im Psalter noch zweimal zum Vorschein 19 . Möglicherweise ist aber auch wegen der Verbindung Zeder-Libanon-Sirjon ( = Antilibanon) der mythische Bezug noch genauer zu bestimmen. Im ugaritischen Baal-Zyklus sind es die Zedern von Libanon und Sirjon, die zum Bau von Baals Palast dienen 20 . Was Baal zur Errichtung seiner heiligen Gemächer braucht, macht Jahwe zum Erweis seiner Gegenwart zunichte und veranlaßt zudem die beiden gewaltigen Gebirgszüge zu spielerischer Bewegung wie Kalb und Jungstier - Nachkommen Baals und als solche eigentlich nicht zum despektierlichen Vergleich damit vorgesehen, wie Jahwe Libanon und Sirjon nach seinem Willen tanzen läßt 21 . Ob ein solcher Gott es wohl je schaffen wird, in einem TempelPalast aus Libanonzedern wie sein königlicher Bauherr Salomo zu wohnen (vgl. lKön 5,15ff.; 6,9f. 14ff.; 7,1 ff.), oder ob er es schon zur Zeit der Entstehung von Ps 29 geschafft hatte? Die unmittelbare Fortsetzung im vierten Teil (V. 7-9 aa) kann diese Frage zunächst allenfalls verschärfen. Der Partizipialstil in V. 7 nimmt die hymnische Diktion von V. 5 a auf, wobei das Bild von der funkenschlagenden Stimme Jahwes konventionelle Motive der Gewittertheophanie (Donner und Blitz) verdichtet 22 . Indessen hebt mit dem folgenden Kolon (V. 8 a) eine um das Verb ^'Π „(unter Geburtsschmerzen) beben" kreisende klimaktische Reihe an, die auf das nächste Bikolon (V. 8 b. 9aa) überspringt und damit die Kongruenz von Form und Inhalt im Parallelismus membrorum in Unordnung bringt. Diese beabsichtigte stilistische Störung wird durch schnelle syntaktische Variationen (V. 8 a: Subjekt-Prädikat-Objekt; V. 8 b: Prädikat-Subjekt-Objekt; V. 9aa: Subjekt-Prädikat-Objekt) und nachgerade paradoxen Themen" Vgl. Ps 80,11 (exilisches Volksklagelied); 104,16 (vorexilische Schicht); zur mythischen Bedeutung der Zeder in Mesopotamien vgl. Cassin, Splendeur S. 62 ff. 20 Vgl. K T U 1. 4 VI, 18-21; T O I S.212; MLC S.205; so auch RSP 1,11 326. 328. Die Zedern sind die Konkretion der vorweg pauschal genannten Hölzer. 21 Zu Vay vgl. K T U 1. 5 V, 18-22; T O I S.248f.; MLC S.221; zu am vgl. K T U 1. 10 III,20f. 35 f.; T O I S. 287 ff.; MLC S.473f. Der Nachkomme Baals, der aus der Verbindung mit der jungen Kuh (KTU 1. 5; 'glt bzw. prt; K T U 1. 10: arh) hervorgeht, wird in K T U 1. 5 mt genannt, also (wie akkadisch mäsu) männlicher „Zwilling" ( = f gl [wie Siy in Ps 29,6] bzw. pr), in K T U 1. 10 ibr bzw. rum (wie Dm in Ps 29,6); s.u. A.24. 22 Zur näheren Interpretation vgl. Mittmann, V T 28 S. 178ff. v.a. 180f.: „Die Aktivität der Stimme Jahwes ist beschrieben mit dem Wort hsb, dem terminus technicus für die Tätigkeit des Steinhauers oder Steinmetzen. Im vorliegenden Zusammenhang scheint aber weniger an die unmittelbare Auswirkung auf den Stein als an die Nebenwirkung des Funkenschlages gedacht zu sein . . . Mit dem Wort hsb wird ebendiese Anschauung auf die Stimme Jahwes übertragen. Dabei ist zweifellos an die unmittelbar zuvor genannten Gebirge Libanon und Sirjon als Gegenstand und Schauplatz solchen Machterweises gedacht." Damit ist die Stellung des Bildes im Duktus des Psalms so treffend erklärt, daß man sie gegen Mittmann für ursprünglich halten wird. Entsprechendes gilt für V. 6 (vgl. ebd. S. 181 f.).

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Wechsel unterstützt, der auf das Beben der Steppe - als nächster Schauplatz der Theophanie nach dem Libanongebirge noch einzusehen - die Geburtswehen der Hirschkühe folgen läßt. Die realitätssprengende Macht des göttlichen Eingreifens, das hier seinen Höhepunkt erreicht, leidet weder kompositorische noch inhaltliche Normalität, weshalb sich der Dichter mit seinen mythischen Anspielungen besonders weit vorwagt und einzig durch die Polyvalenz der Bilder die religiösen Grenzen des Jahwismus - so offenherzig er auch zur Entstehungszeit von Ps 29 noch gewesen sein mag - nicht tangiert. Ist mit der heiligen Steppe noch die Assoziation der Stätte verbunden, in die einst die gefräßigen El-Söhne Sahar und Salim geschickt wurden, so daß hier ihre Opferpfründe gefährlich ins Schwanken gerät23? Oder ist in der heiligen Wüste, die auch als Wüste von Kadesch verstanden worden sein mag, allein der adäquate Erscheinungsort des Wüstengottes mit dem „sinaitischen Wesen" erkannt worden? Und noch brisanter: Ist beim Bild von den kreißenden Hirschkühen noch kanaanäische Mythologie mitgehört worden, die vom sexuellen Umgang Baals mit einer jungen Kuh zu erzählen weiß, woraus ein Jungstier hervorgegangen ist24? Oder haben die Übertragung auf Jahwe und der neue Kausalne-

» Vgl. K T U 1. 23,65 f.; T O I S.377f.; M L C S.447; zur Interpretation vgl. T O I S. 355 ff. v.a. 359f.; Gese, R M 10/2 S . 8 0 f f . 24 D e r Mythos, auf den Ps 29,9 a a wahrscheinlich Bezug nimmt, bereitet schon von der ugaritischen Textlage her Verständnisschwierigkeiten, zu denen noch als weiterer Unsicherheitsfaktor hinzukommt, d a ß der Psalmdichter seine Mythenkenntnis aus unbekannter Quelle bezogen hat, f ü r die die ugaritischen Texte als womöglich nicht völlig adäquater Ersatz dienen müssen Von der geschlechtlichen Verbindung Baals mit einer jungen K u h erzählen drei ugaritische Texte, bei denen trotz aller Unterschiede die Annahme plausibel erscheint, d a ß sie auf dasselbe Ereignis Bezug nehmen: K T U 1. 5 V, 18 ff., 1. 10 und - im hiesigen Kontext nicht von Belang - 1. 11 (vgl. die Übersetzungen in T O I S.248f. 282ff.; M L C S.221. 468 ff.; zu den Problemen der Interpretation vgl. T O I S.275 ff.). Im Baal-Mot-Mythos K T U 1. 5 V, 18 f. liebt Baal eine „junge K u h " f g l t , prt, vgl. i>jy in Ps 29,6; s.o. A.21) „im Weideland" (bdbr, vgl. n a m in Ps 29,8; der zu bdbr parallele Ausdruck bsd shl mmt ist noch nicht sicher zu übersetzen, vgl. T O I S. 249; Margalit, Matter S. 121 ff.), worauf sie ein junges männliches Wesen (mt V,22) gebiert. Nach K T U 1.10 geht aus Baals Verbindung mit der „jungen K u h " (arh) „bei der Geburt" (bhl 11,29, vgl. i»n in Ps 29,8 f.) ein J u n g s t i e r " hervor (ibr, rum III,20f. 35 f., vgl. Bin in Ps 29,6). In der Komposition von Ps 29,6-8 kommen demnach soviele Stichworte vor (^Jy, Bin, i»n, 131»), daß die Assoziation des Mythenstoffes von Baals Verkehr mit der jungen K u h nicht ausbleiben konnte. Die Adaption dieses Stoffes war allerdings wegen des mit dem Jahwismus nicht vereinbaren numinos-sexuellen Inhaltes gefährlich. Indem der Dichter jedoch wieder auf die Stimme Jahwes als Subjekt zurückgreift und die religiös unverdächtigen Hirschkühe an die Stelle der numinos-mythisch belasteten Kühe setzt, ist jede mit dem Jahweglauben unverträgliche Anspielung getilgt. Gleichwohl bleibt im Motiv der Geburtswehen der M y t h o s rudimentär präsent. O b es wohl auch mit seiner Handlungsfolge

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xus zwischen seiner theophanen Stimmgewalt und dem Kreißen der Hirschkühe so viel Distanz zur Sphäre der Sexualität und Fruchtbarkeit geschaffen, daß das Bild nun allein die theologische Aussage von der unumschränkten Herrschergewalt Jahwes zur Anschauung bringt? Eindeutige Entscheidungen sind hier nicht möglich, weil die beabsichtigte Unscharfe der Bilder sie nicht erlaubt. Dies als poetischen und theologischen Mangel zu diagnostizieren, hieße, die theologische Scharfsichtigkeit eines Dichters zu verkennen, der sich im Bewußtsein der Eigenheit und Einzigkeit Jahwes auf das Wagnis der Adaption kanaanäischer Mythologie um Jahwes willen eingelassen hat. Denn ebenjene Einzigkeit Jahwes erforderte nicht nur die Wahrung seiner Eigenheit, sondern zugleich die Fähigkeit, seinen alleinigen Herrschaftsanspruch in nicht für ihn erbauten Tempeln und in nicht für ihn konzipierten Theologien ( = Mythologien) überzeugend vertreten zu können. Ehe Jahwes Einzigkeit aus leidvoller Erfahrung heraus ihre radikal exkludierende Kraft zum Vorschein brachte, ist sie Jahrhunderte hindurch in viel höherem Maße eine inkludierende Eigenschaft gewesen. Durch sie mündet auch in Ps 29 das theophane Toben, das sich zwar kanaanäischer Elemente bedient, aber allemal dem herrisch-herrlichen Wesen des Wüstengottes Jahwe kongenial ist, in die Herrschaft des Königs Jahwe in seinem Tempel-Palast ein. Abgesehen von dem unheilbar beschädigten Kolon V. 9 aß läßt der abschließende fünfte Teil (V. 9 aß10) die hinter dem Gesamtaufbau stehende Absicht deutlich erkennen. Anfang und Ende des Psalms umschließen mit ihrer Herrlichkeitsakklamation den Mittelteil, der Jahwes Wesen und Wirken preist, wie einen Ring. Rede von Gott ist immer und jederzeit Gotteslob, Herrlichkeits„Rückgabe" an den, der Herrlichkeit geschenkt hat und stets neu schenkt, auch in kontingenter theophaner Gewalt, in der er seine herrliche Souveränität erweist, die durch niemanden und nichts zu binden ist, nicht einmal durch das Gotteslob der Götter(söhne) in seinem Palast. Aber zugleich gilt auch, daß er es an eben dieser Stelle entgegennimmt. Der abschließende Teil nennt Ort und Gottestitel explizit, die beide von Anfang an gegenwärtig sind, und gibt damit dem den Psalm überbrückenden Spannungsbogen seinen zweiten Ruhepunkt: TempelPalast und König. Der Wüstengott mit der unberechenbaren Neigung zur raumsprengenden Theophanie ist also tatsächlich zum königlichen Tempelbewohner geworden. Doch welche Wohnung ist in V. 9 b gemeint? Der himmlische oder der irdische Tempel-Palast? Diese Alternative ist genauso unsachgemäß zusammenhängt, daß Ps 29 in V. 9 b - 1 0 gleichfalls zum Thema der Königsherrschaft Gottes übergeht (vgl. KTU 1.10 III)?

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wie das Bestreben um eine eindeutige Interpretation der mythischen Elemente. Himmlischer und irdischer Tempel-Palast sind nach breiter altorientalischer Tradition auf eigentümliche Weise eins 25 . In dieselbe Sphäre der coincidentia oppositorum gehört die weitere Auffälligkeit in V. 10, daß dem über der Urflut himmlisch thronenden Jahwe in demselben Atemzug die ewige Königsherrschaft als Bitte prädiziert wird, wie sie in dieser und ähnlicher Form zu Gebetssprache des Tempelkultes gehört zu haben scheint (vgl. Ps 146,10; Ex 15,18). Vielleicht hängt mit der H e r k u n f t aus dem agendarischen Sprachgut auch der geringfügige Formulierungsunterschied zu V. 3 zusammen - Viaa „(Ur-)Flut" gegenüber (Π'3Ί) D'a „(gewaltige) Wasser" -, vielleicht aber auch zusätzlich damit, daß der Dichter am Psalmende ebenso wie am Anfang offensichtlich bewußt auf kanaanäische Vorstellungen um den höchsten Gott El zurückgreift. Neben der Herrlichkeitsakklamation, zu Beginn angestimmt in den oberen Rängen der Götter(söhne) und nun aufgenommen durch „die Seinen alle" (iVa), also möglicherweise auch die Menschen, könnte darauf auch das Thronen über/bei der Flut hinweisen, wenn man darin eine modifizierende Aneignung der in Ugarit belegten Angabe von Eis ständigem Wohnsitz „an der Quelle der (beiden) Ströme, inmitten der Flußbetten der (beiden) Ozeane" erkennen darf 2 6 . Doch wie es sich auch mit dem adäquaten Verständnis der (Ur-)Flut (Vllö) verhalten mag, gesichert ist die Anlehnung an El-Traditionen in V. 9 b. 10 schon allemal durch die Herrlichkeitsakklamation, wodurch die den Psalmdichter leitende Absicht bei der Übernahme mythischer Vorstellungen nunmehr klar vor Augen steht. Er hat die Rezeption primär von Materialien aus den Baalmythen im zweiten bis vierten Teil des Psalms durch solche aus dem El-Kreis im ersten und fünften Teil gerahmt. In den Psalmteilen, die das Gottkönigtum anfänglich präludieren und schließlich prädizieren, greift der Dichter auf das Königtum des kanaanäischen Gottes zurück, der König von uran ist (El), nicht auf dasjenige des Gottes, der König wird (Baal) 27 . N u r das unumstrit25

Vgl. Metzger, UF 2 S. 139 ff.; Mettinger, Dethronement S.29ff.; ders., Y H W H Sabaoth S. 119 ff. 26 Vgl. KTU 1. 2 111,4; 1. 3 V,6f.; 1. 4 IV, 21 f. u.ö.; zur Interpretation vgl. T O I S. 64 ff. Wakeman (Battle S. 101 f.) hat bereits auf diesen potentiellen Zusammenhang hingewiesen. Gerade in KTU 1.4 IV, 20-26 (TO I S.204; MLC S.200) sind mehrere mit Ps 29,9 b. 10 vergleichbare Elemente beisammen: das königliche Wohnen an mythisch schillernden Wassern, die Ehr-erbietung für El durch Athirat. Zudem hat die Prädizierung t|!?ij mn' allein eine Entsprechung in den ugaritischen El-Epitheta (il mlk, vgl. KTU 1. 3 V,35f. u.ö.). Demgegenüber ist es ganz unwahrscheinlich, daß in V. 10 BaalTradition rezipiert worden ist (W. H. Schmidt, Königtum S.57). Auch Görg (TWAT III Sp. 1031) liest die „Überwindung des Chaos" in den Vers hinein; zu Vian vgl. Stenmans, TWAT IV Sp. 633 ff. 27 Vgl. W.H.Schmidt, Königtum S.31.

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tene Königtum Eis, nicht das erkämpfte Baals, kann nach Meinung dieses Dichters Jahwes Herrschaft angemessen veranschaulichen. Aber Jahwes Wesen erheischt nicht nur Eis Königsornat, sondern auch Baals theophane Gewitterwaffen. Jahwe ist nicht nur der ewig freundliche und herzensgute Gott28, sondern auch der gewalt(tät)ige, dessen Erscheinen Vernichtung mit sich bringt, dessen Nähe lebensgefährlich ist, eben der Wüstengott mit dem „sinaitischen Wesen". Dafür halten Elemente der Baalmythen die nötige Konkretion bereit. Jahwes unbeschreibliches Wesen kommt in Ps 29 mit Hilfe kanaanäischer Mythologie zur Sprache. Man vermute nicht bei diesem Dichter hinter dem reichhaltigen Gebrauch von Vorstellungen aus der Göttersphäre der Umwelt kontroverstheologischen Eifer oder puristische Entmythologisierungstendenzen, sondern ganz im Gegenteil Lust an der Mythologie, die Jahwes schwieriges Wesen durch Jahwe-gerechten Gebrauch zur Sprache und also zur Rühmung zu verhelfen vermag. Und dieses Gotteslob hat im Tempel-Palast seinen Ort, dessen irdischer Bau himmlische Realität in sich birgt bzw. dessen himmlischer Bau irdisch fundamentiert ist. In ihm - das heißt konkret: im Jerusalemer Tempel - ist Jahwe so sehr heimisch geworden, daß der Preis des Heiligtums im Gotteslob eine beachtliche Stellung einnehmen kann. Indessen hat sich Jahwe auch hier nicht definitiv in himmlische oder irdische Paläste locken lassen. Er weiß - sogar mit kanaanäischen Mythenelementen gesagt - seine ihm eigene Unverfügbarkeit zu wahren, indem er seinen Ausbruch zu den gewaltigen Wassern und zu den Zedern des Libanon als sein unverbrüchliches Königsrecht proklamiert, nicht zur Erlangung oder Verteidigung seiner Herrschaft, sondern zu ihrem Erweis. Der königliche Tempelthroner Jahwe kann und will seine Herkunft aus der Wüste nicht verleugnen. Er bedarf dazu keiner spezifischen Credenda 29 , sondern nur seines Realität setzenden Namens, der sich freimütig Tempel und Mythen zu eigen zu machen versteht, ohne sich selbst zu verlieren 30 . 28 Vgl. die häufigen El-Epitheta ltpn „der Freundliche" und dpid „der Gemütvolle, Herzensgute" vgl. Pope, EUT S.44f., : T O I S. 61. 29 Die von Norin (Meer S. 150 ff.) entdeckten Anspielungen auf die Exodustradition sind kaum stichhaltig. 30 Ps 29 stammt mit größter Wahrscheinlichkeit aus der ältesten oder älteren Königszeit. Die Verherrlichung Jahwes in seinem „Tempel-Palast" setzt einen Tempel mit anerkannt großer Bedeutung voraus, so daß man doch wohl an Jerusalem als Entstehungsort zu denken hat. Ferner kann man die umfassende mythologische Diktion ohne polemischen Unterton f ü r die erwogene Entstehungszeit geltend machen, wenngleich dieses Kriterium wegen der Möglichkeit auch sehr später Mythenrezeption nicht eindeutig ist. Hingegen läßt die ansehnliche Wirkungsgeschichte des Psalms sein vergleichsweise hohes Alter als nahezu zwingende Voraussetzung erscheinen. Nur ein in der Tradition be-

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

2. Die Bedrohung der ewigen Königsherrschaft: Ps 93 ιaa

Jahwe ist König!

ι aß lay las

In Hoheit ist gekleidet, ist gekleidet Jahwe, gegürtet mit Macht 1 .

ιb 2a 2b

Ja gegründet ist der Erdkreis ohne Wanken, fest steht dein Thron von uran, seit Ewigkeit bist du.

3aa 3aß 3b

Es erhoben Ströme, Jahwe, es erhoben Ströme ihre Stimme, es erheben Ströme ihren Schlag 2 .

4aa 4aß 4b

Mehr als das Donnern massiger Wasser, gewaltiger als des Meeres Verheerungen 3 ist Jahwe gewaltig in der Höh'.

währter Text kann als zitabel gelten und regt zum Weiterdenken und Weiterschreiben an. Folgende alttestamentliche Texte wären in dieser Hinsicht zu nennen: Dtn 32,3 b (vgl. Ps 29,1 f.); Ps 66,1-6 (vgl. Ps29,lf.); 96,7-9 (vgl. P s 2 9 , l f . 8; l C h r l 6 , 2 3 f f . abhängig von Ps 96); 114,4. 6 (vgl. 29,6); 115,1 (vgl. 29,1 £.)1 Man könnte selbstverständlich zum ungezählten Male die Diskussion um die Formel ΠΊΠ' und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Thronbesteigungsfestes Jahwes eröffnen. Statt dessen sei auf die kurze und kundige Erörterung von W. H. Schmidt (Königtum S. 74 ff.) verwiesen, wo das Nötige gegen semantische und kultische Fehlkonstruktionen gesagt ist (umfassende Darstellung vergleichbarer Vorstellungen aus Israels Umwelt bei Lipinski, Royaute S. 336ff.). Das Perfekt im zusammengesetzten Nominalsatz "|i>a nirp hat stativischen Modus (zum stativischen Aspekt der Afformativkonjugation vgl. Meyer, H G III S.49f.). Dasselbe gilt für die folgenden Perfekte und utt hitp. Deshalb können sie in V. 2 durch Imperfekt ni. und Partizip ni., die beide den durativen Aspekt artikulieren, fortgeführt werden. 2 Man darf das Imperfekt IK®1 nicht in Angleichung an die beiden vorhergehenden Verbformen in ein Perfekt verändern, denn der Tempuswechsel erfolgt bewußt zur Dramatisierung des Geschehens (vgl. Ps 77,17f.). 'Di* ist Hapaxlegomenon, aber von der Verbalwurzel und dem Kontext her semantisch genau zu bestimmen. 3 Die Masoreten haben den repetierend-klimaktischen Parallelismus membrorum in V. 4 nicht richtig erkannt. Durch die Vokalisierung ο; wird deutlich, daß sie V. 4 folgendermaßen verstanden haben: „Gewaltiger als das Donnern massiger Wasser ist die Brandung des Meeres, (doch) am gewaltigsten ist Jahwe in der Höh'." Demnach haben sie an das Wort Ί3Ρ»* „Brandung" gedacht (2Sam 22,5; Jon 2,4; Ps 42,8; 88,8), wodurch die für den klimaktischen Parallelismus membrorum notwendige Präposition (|)a zum nominalen Bildungselement m-* geworden ist. Zur Rückgewinnung der ursprünglichen Lesart bedarf es keiner Änderung des Konsonantenbestandes (der im ganzen Psalm fehlerlos überliefert ist), sondern nur einer Umpunktierung. Denn in V. 4 a liegt wahrscheinlich das Nomen „das Brechen, der Bruch" vor, hier bewußt gewählt wegen des weiten Bedeutungsfeldes vom häufig belegten „Zusammenbruch" bis zur sehe-

Die Bedrohung der ewigen Königsherrschaft: Ps 93 5aa 5aß 5b

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Deine Zeugnisse sind gar fest, ja dein Haus ist heilig-schön 4 , Jahwe auf immerdar!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.330)

Womit Ps 29 endet, fängt Ps 93 an: mit der Königsprädikation Jahwes. Ahnlich wie hinter 29,10 eine kultische Formulierungsvorgabe zu vermuten war, hat mit Sicherheit die Formel nm1 „Jahwe ist König!" zum agendarischen Gut des Tempelkultes gehört, ohne daß aus den alttestamentlichen Belegen oder den entsprechenden Texten aus Israels Umwelt noch der gottesdienstliche Ort der Formel zu ermitteln wäre. Was jedoch aus dem Ps 29 inhaltlich und zeitlich nahestehenden Ps 93 klar hervorgeht 5 , sind religiöse Vorstellungen und Frömmigkeit gebil-

nen Verwendung „Brandung" (vgl. Hi 41,17, textlich jedoch unsicher). Eine gewisse Nähe zu Ps 93,4 hat Thr 2,13, wo der Zusammenbruch (ia®) der Tochter Zion mit dem Meer, also doch wohl mit dem Brechen der Wellen, verglichen wird. 4 Auch hier liegt ein Mißverständnis der Masoreten vor, denn V ist nicht als nota dativi, sondern als emphatische Partikel „fürwahr" zu deuten (vgl. GK § 143 e; Meyer, H G III S. 15; anders RSP 1,1 43). Damit entfällt auch der Zwang, in njxj eine Verbalform erkennen zu müssen, was aufgrund der masoretischen Punktierung in Verbindung mit den Stellen Jes 52,7 und Cant 1,10 (beidemal iikj) immer wieder versucht worden ist (vgl. GB S.477a). Zumindest für die Form nij») (die von den Masoreten gewiß nur wegen des vermeintlichen Dativs als Verbalform punktiert worden ist) liegt jedoch der Zusammenhang mit dem Adjektiv n]K) „lieblich, schön" auf der Hand. Es ist in Ps 93,5 mit βπρ eine Constructus-Verbindung eingegangen und muß folglich niK) punktiert werden. „Schön in bezug auf Heiligkeit" kann mit „heilig-schön" übersetzt werden (zur Konstruktion vgl. GK § 128 x; Muraoka, VT 27 S. 375 ff.). Darüber hinaus läßt sich fragen, ob das hebräische Lexikon nicht ganz auf die Wurzel ΠΚ1 verzichten kann. Schließlich ist mit ihr die gut belegte Wurzel πικ nahezu semantisch kongruent. Wäre nicht iiKj in Jes 52,7 und Cant 1,10 vielleicht besser als Nifal von mit, also lijtj, zu lesen (ebenfalls erwogen von ZLH S.490; vgl. auch HAL S.621 a)? Und ist es nicht wiederum nur die Punktation bei dem Adjektiv Π1Κ), die den Blick auf das Partizip Nifal, also nigj, verstellt? Diese Fragen können hier jedoch unentschieden bleiben. Die Textrekonstruktion begnügt sich mit der Herstellung der nach masoretischen Maßstäben korrekten Adjektivform. 5 Eine Reihe von Berührungen zwischen beiden Psalmen sind von Mittmann (VT 28 S. 192 f.) aufgezeigt worden. Weitere werden sich hinzufügen lassen, weshalb die Schlußfolgerung geradezu zwingend ist, daß Ps 93 inhaltlich viel enger mit Ps 29 als mit allen anderen sog. Thronbesteigungsliedern (Ps 47; 96-99) verwandt ist. Das Proton pseudos der formgeschichtlichen Aussonderung dieser vermeintlichen Textgruppe liegt in der Überschätzung der Formel η^β πιπ' bei Gunkel/Begrich (Einleitung S.94ff.; im Blick auf die Kombinationsfreude trifft diese Kritik auch Mowinckel, PsSt II S. 44 ff.; vgl. auch die Kritik von Welten, VT 32 S. 297 ff.), denn sie hat keineswegs gattungsbildend gewirkt, sondern allenfalls als kräftiger Magnet für die vergleichsweise späte Anziehung ursprünglich psalmfremder Traditionen. Ps 47 und 96-99 stellen solche Mischgebilde dar. Keines von ihnen ist älter als die Exilszeit und damit wahrscheinlich um Jahrhunderte von Ps 93 entfernt, was auch die beachtliche inhaltliche Differenz verständlich werden läßt (vgl. die

182

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

deter Israeliten in vorexilischer Zeit, f ü r die die Königstheologie des Jerusalemer Tempels das Herzstück des Jahweglaubens war. Die Prädikation „Jahwe ist König!" steht dem Psalm als M o t t o voran und ist deshalb nicht in seine poetische Form einbezogen, welche aus fünf Trikola im (repetierend-)klimaktischen Parallelismus membrorum mit in der Regel drei Hebungen je Kolon (von erklärbaren Ausnahmen abgesehen) besteht 6 . Der Psalm setzt ein mit der Erscheinung Jahwes im königlich-numinosen Ornat, hier durch die Kleidung mit nun „Hoheit" und die Gürtung mit iy „Macht" zum Ausdruck gebracht. Das ist ein weiterer sprachlicher Annäherungsversuch an die - wie sich noch in V. 5 zeigen wird - im Tempel erfahrene Gottespräsenz, die Ps 104, lb. 2 a mit n n ττπι „Hoheit und Pracht" und HR „Licht", 29,4 mit Π3 „Macht" und n n „Hoheit, Pracht" terminologisch umkreist. U n d wie bereits angedeutet, ist nicht einmal die hymnische „Rückgabe" von tjn 7133 „Ehre und Macht" durch die Göttersöhne in 29,1 dem Wesen nach etwas anderes als der ry, mit dem Jahwe in 93,1 gegürtet ist. Ist Jahwe hier zum Kampf gegürtet? Das Bild legt den Gedanken nahe, doch der Kontext erweist ihn als unzutreffend. Jahwe ist König (V. 1 aa), muß also sein Königtum weder erkämpfen noch - wie die Fortsetzung zeigt - verteidigen, vielmehr will er sich allein in seiner königlichen Epiphanie loben lassen. Dem dient auch das nächste Trikolon V. 1 b. 2, in dem kein unerwarteter Ubergang zum T h e m a Schöpfung erfolgt, sondern in einem kühnen Bild der thronende Jahwe vor Augen gestellt wird. Die feste G r ü n d u n g des Erdkreises ist hier weder Schöpfungstat - Subjekt in V. 1 b ist ^>3li „Erdkreis" selbst! - noch in seinem Bestand Selbstzweck, sondern gleichsam Fundament oder Sockel des zeitlich anfangslos (tsa) emporragenden Gottesthrones (V. 2 a) 7 , auf dem Jahwe unanfänglich und unanschaulich gegenwärtig ist: „seit Ewigkeit (o^iy») bist du" (V. 2 b). Nach der einleitenden Königsprädikation hat der Dichter den Psalm auf diese Ewigkeitsprädikation Jahwes, die Zeit im Sinne von Vergangenheit ins Unvorstellbare entschränkt (also gerade nicht auf ein anfängliches Schöpfungshandeln hinauswill), als erste Kernaussage zielbewußt hingelenkt. Er wechselt zur Betonung der Klimax in gekonnter Modulation zur direkten Gottesanrede über (der Erdkreis - dein Position von Jeremias, Königtum S. 7 ff. 107 ff., der die vorliegende Interpretation abgesehen von der Beurteilung von Ps 47 [vgl. ebd. S. 50 ff.] sehr nahesteht; vgl. auch durchgängig die Interpretation von Ps 93 ebd. S. 15 ff.). 6 Die Selbständigkeit von ΠΊΓΡ hat Loretz (II S. 40 ff.) richtig erkannt. Seine weitere Analyse ist Zerstörung der poetischen Form durch kolometrische Willkür. 7 Gegen Day, Conflict S. 35 f. einerseits und gegen Koch, T W A T IV Sp. 107 andererseits.

Die Bedrohung der ewigen Königsherrschaft: Ps 93

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Thron - du) und verkürzt in den drei Kola das Versmaß konsequent um jeweils eine Hebung (4-3-2), um auch formal die Konzentration auf den ewig Gegenwärtigen deutlich werden zu lassen. Hat diese Thronvision etwas mit dem (Jerusalemer) Tempel zu tun, wie es für Jes 6,1 ff. zutrifft? Die Frage ist an dieser Stelle für Ps 93 noch nicht zu entscheiden. Gleichwohl sind die Ähnlichkeiten der beiden Thronvisionen unverkennbar. Steigt der Blick des Psalmdichters vom Erdkreis über den Thron zu Jahwe auf, wird Jesajas Auge von der Gottesschau auf hohem und erhabenem Thron über den mit Gottes Gewandsaum gefüllten Tempel herabgeführt zur Welt mit ihrer Herrlichkeitsfülle, wie sie im Lob der Seraphen verkündet wird. Die Nähe beider Schilderungen ist so auffällig, daß die Erwartung nicht ungerechtfertigt erscheint, auch noch in Ps 93 den Tempel expressis verbis berücksichtigt zu finden. In den beiden folgenden zusammengehörigen Trikola V. 3 f. ist das jedoch nicht der Fall, vielmehr hat es den Anschein, als ob Jahwe unerwartet doch noch zur Verteidigung seines Königtums antreten müsse. In großartigen repetierend-klimaktischen Parallelismen dramatisch dargestellt, bäumt sich im Gewände kanaanäischer Mythologie der Meeresgott Jam gegen die Herrschaft Jahwes, der die Rolle Baals übernommen hat, auf 8 . In hoher poetischer Kunst und inhaltlicher Konzentration hat der Dichter in den beiden Trikola der ernsthaften Gefährdung der Jahweherrschaft und ihrer unerschütterlichen Überlegenheit Gestalt gegeben. Die dreifache Nennung der Ströme (irnru) in V. 3, in jedem Kolon bedrohlich monoton wiederkehrend, läßt die von ihnen ausgehende Gefahr, die immer weiter eskaliert, ahnen. Fast wie eine Warnung, die zu spät kommt, ergeht in V. 3 a a der Ruf an Jahwe - vorerst zum letzten Mal. Er muß das Feld ganz seinem Rivalen überlassen, dessen mythisch-reales „Waffenarsenal" unerschöpflich zu sein scheint: zunächst „nur" die Stimme (Vlp, V. 3 aß), über die in Ps 29 immerhin noch Jahwe als Herrschaftsinstrument gegen die „(massigen) Wasser" (29,3) verfügte, dann der der Brandung wie dem Kampf zugehörige Schlag ('Di*, 93,3 b), darauf (im Intensitätsplural) das mythisch-militante Donnern (fiiVp, V. 4 aa) und schließlich die Brandung und Zusammenbruch mischenden Verheerungen (οπή», V. 4 aß). Zudem steigert sich in V. 3 der Angriff auf die Jahweherrschaft von der punk8 Der Meeresgott Jam erscheint im Psalm unter wohlbekannten Titeln und Bezeichnungen, die kein intensives Bemühen erkennen lassen, die in kanaanäischen Mythen bezeugte Göttlichkeit des Elementes sorgfältig zu kaschieren: iinnj „Ströme" in V. 3, die das ugaritische Jam-Epitheton tpt nhr „Herrscher/Richter Strom" anklingen lassen und allenfalls durch den Plural eine gewisse Distanznahme des Dichters erkennen lassen; D' „ M e e r " und D'm O'a „massige Wasser" in V. 4; zu dem Jam-Epitheton tpt nhr vgl. T O I S. 109f.; zum Baal-Jam-Mythos vgl. ebd. S. 107ff.; W.H.Schmidt, Königtum S. 10ff.

184

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

tual-präteritalen Einzelaktion (zweimaliges Perfekt in V. 3 a) zur präsentisch-iterativen Offensive (Imperfekt in V. 3 b). Ist die Jahweherrschaft angesichts der scheinbar unabwendbaren Theomachie mit gewaltigem göttlichem Widersacher noch zu retten? Während der Dichter in V. 4 a noch die mythische Hochrüstung des Meeres(gottes) vorführt, hat er bereits leise, aber in zielstrebiger, das ganze Trikolon umgreifender syntaktischer Periode die Gegenbewegung eingeleitet. Die schlimmsten Waffen Jams (filVj? und D'iat?) werden unerwartet in ihrer Gefährlichkeit relativiert, durch ja in Beziehung gesetzt zu einer Macht, die den Vergleich nicht scheut. Ist im ersten Kolon die Gegenbewegung allein durch ja angedeutet, tritt im zweiten das gewichtige numinose Attribut τ ι κ „gewaltig, furchtbar, herrlich" hinzu 9 , das hier nur noch bedingt, im Wissen um die größere Macht, das mythische Meer und seine Waffen charakterisiert, während diese andernorts ungeteilt über jene Eigenschaft verfügen (vgl. Ex 15,10). Hier jedoch macht Jahwe seinen Anspruch geltend und setzt ihn im dritten Kolon, wo sein Name wieder genannt ist, definitiv durch. Jahwe - gewaltig, furchtbar, herrlich in der Höhe: V. 4 b sagt fast dasselbe wie V. 2 b, jetzt nur nicht unter dem Aspekt der Unanfänglichkeit der Jahweherrschaft, sondern ihrer herr-lichen Überlegenheit. Zu ihrem Erweis bedarf Jahwe keiner bramarbasierenden Heeresschau wie Jam, muß auch keinen Kampf mit ihm führen. Allein seine königliche Gegenwart in der Höhe weist die Attacke des Meeres(gottes) zurück, der aber allem Anschein nach potentieller Rivale Jahwes bleibt. Theologie der königlichen Jahweherrschaft ist keine Ideologie des himmlischen Friedens auf Erden, konstruiert in realitätsfernen Räumen einer konfliktlosen Scheinwelt. Der Blick auf die potentielle Bedrohung wird ausgehalten. Er ist jedoch mit gutem theologischem Recht nüchtern, denn die Bedrohung ist im Vergleich mit der Jahweherrschaft nicht mehr als die „unmögliche Möglichkeit". Der „Jahwe in der Höhe", dessen Überlegenheit über die bedrohliche Gegenwelt in V. 4 b gepriesen wird, erfährt im abschließenden Trikolon V. 5 überschwengliches Lob in den irdischen Manifestationen seiner Macht. „Deine Zeugnisse" und „dein Haus" machen Jahwes himmlische Herrlichkeit je auf ihre Weise erfahrbar und anschaulich, sind als Gottes Wort und Gottes Ort die konstitutiven Elemente, die seinem himmlischen Thronen Sprache und Raum unter den Menschen geben. Die himmlische Thronvision in V. 1 b. 2 steht also tatsächlich - wie schon vermutet - in fester Verbindung zu Tempel und Kult. Der königlich thronende „Jahwe in der Höhe" ist der in Wort und Tempel erfahrbare Deus praesens. ' S.u. S.231 f. A. 16.

Die Bedrohung der ewigen Königsherrschaft: Ps 93

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Der Dichter von Ps 93 hat diesen Zusammenhang in einer gewissen komplementären Gestaltung von V. 1 b. 2 und 5 angedeutet. Unerschütterlich wie die Gründung des Erdkreises sind auch Jahwes my „Zeugnisse, Worte" verläßlich (USRJ), bei denen man nicht aufgrund fragwürdiger Parallelbelege an göttliche Bundessatzungen im Rahmen einer im Text nicht erwähnten David-Zion-Theologie denken sollte, sondern allein an das, was die Wurzel n y hi. „bezeugen" selbst zu tragen vermag: an Jahwes Zeugnisse im (doch wohl priesterlich vermittelten) Wort als Gebot, Gebet(sformular) oder Orakel 10 . Theologisch überlegt läßt der Dichter der Vision des himmlischen Königsthrones Jahwes in V. 2 a das Lob des irdischen Tempels in V. 5 aß entsprechen. Himmlischer Gottesthron und irdische Wohnstatt Jahwes sind zwar zu unterscheiden, doch zugleich auf eigentümliche Weise identisch, so daß der überschwengliche Ton des Tempellobes nicht wundernehmen kann. Die schwer übersetzbare Prädikation des Tempels als νΐρ Π1Κ3 „begehrenswert, schön an Heiligkeit" kommt fast einer Liebeserklärung gleich, aus deren Wortschatz mm stammt 11 . Wo Jahwe seine Gegenwart so reichlich gewährt, überträgt der beschenkte Mensch seinerseits die Gottesliebe auf den Ort, an dem er all das Gute erfährt. Hier weiß er sich geliebt, und hier liebt er selbst. Hier ist er in der Vision des von Ewigkeit her thronenden Gottes (V. 2 b) der eigenen Vergänglichkeit enthoben, und hier will er bleiben, in der heilsamen Nähe des Gottes, der auf immer und ewig herrscht (V. 5 b)12. Außer dem Jahwenamen, den Ps 93 fünfmal nennt (samt viermaliger Anrede), enthält der Hymnus ähnlich wie Ps 29 nichts Israel-Spezifisches. Doch auch hier bringt der Gott mit dem Namen Jahwe gegen10 Zur Datierung des Belegspektrums von my bzw. imy „Zeugnis" (vor allem im Plural) vgl. Lipinski, Royaute S. 143 ff.; van Leeuwen, T H A T II Sp.218ff. Der parallele Gebrauch von ima „Bund" und nny „Zeugnis" (2Kön 17,15; Ps 25,10; 132,12) und die Verwendung von p x ni. „zuverlässig sein" in bundesorientiertem Kontext (Ps 78,37; 89,29) haben neben weiteren Belegen (besonders Ps 19,8; 119 passim) Lipinski dazu veranlaßt, y i n y in Ps 93,5 mit „ton alliance" zu übersetzen und dabei an den Bund Jahwes mit David zu denken, der in Form altorientalischer Suzeränitätsverträge vorgestellt sei (vgl. Royaute S. 152). Damit wird dem Wort in diesem Psalm jedoch zuviel aufgebürdet. Für ihn ist geradezu typisch, daß das Wortfeld von Bund und Gebot, das Lipinski zur entsprechenden Assoziation geführt hat, völlig fehlt. Nimmt man das aufgrund vieler Kriterien zu erschließende, erheblich geringere Alter der Texte mit den vermeintlichen Parallelbelegen hinzu, wird die Gefahr virulent, daß die theologische Fixierung der jüngeren Texte zum Schlüssel für das Verständnis der älteren wie Ps 93 gemacht wird. In Ps 93 erweist aber fast jedes Wort eine bundes- und gesetzestheologische Deutung als Fehlinterpretation zumindest im Hinblick auf die ursprüngliche Intention des Dichters. 11

Nicht von ungefähr ist das Wort am häufigsten im Hohenlied belegt (Cant 1,5; 2,14; 4,3; 6,4); in abgeflachter Bedeutung: Ps 33,1 (vgl. 147,1); Prov 17,7; 19,10; 26,1. 12 Die Wendung O'B' "|"ik hat hier dieselbe Bedeutung wie oViy und ähnliche Ausdrücke, vgl. Ps 21,5 (s.u. S.216f.); 23,6 (s.u. S.273f.); T h r 5 , 1 9 f .

186

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

über den mythischen Vorstellungen Kanaans seine eigene Wirklichkeit zur Geltung. Wiederum ohne Polemik wird das kanaanäische Motiv der Theomachie Baals gegen Jam in die ewige, unerkämpfte Königsherrschaft Jahwes transformiert, die sich allerdings ihrer ständigen potentiellen Bedrohung bewußt ist. Hat Jahwe damit auch dem Baalmythos seine eigene Wirklichkeit aufgeprägt, so ist sie doch in dieser Modifikation ganz und ausschließlich mit den Elementen des kanaanäischen Mythos sagbar. Jahwe ist hier ganz er selbst als königlicher Tempelgott.

3. Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48 2aa 2 aß 2 ba

Groß ist Jahwe und hochgelobt in der Stadt unseres Gottes.

2 bß .3 aa Sein heiliger Berg: gipfelschön 1 , 3 aß Entzücken der ganzen Welt. 3ay 3b

Der Berg Zion: äußerster Nord(berg), Stadt des Großkönigs.

4a 4b

.Jahwe" 2 ist in ihren Palästen, der sich erwiesen als Schutz.

5a 5b

Denn siehe, die Könige hatten sich versammelt, rückten gemeinsam an.

6a 6b

Da sie hinblickten, ergriff sie sogleich Entsetzen; vom Schrecken wurden sie gepackt, stürzten davon.

7a 7b

Zittern erfaßte sie dort. Wehen wie die Gebärende.

8a 8b 9aa 9aßy 9a6ba

9bß

Mit dem Oststurm zerbrichst du Tarschisch-Schiffe. Wie wir gehört, So haben wir (es) gesehen in Jahwe Zebaoths Stadt, in der Stadt unseres Gottes Jahwe", die er auf ewig fest bewahren möge 3 !

Die Übersetzung stammt von Buber, Schriftwerke S. 75. Wegen der Zugehörigkeit des Textes zum elohistischen Psalter ist in V. 4. 9 - 1 1 . 15 Elohim gegen Jahwe ausgetauscht worden. Da es sich in V. 2 a offensichtlich um eine nicht mehr veränderbare liturgische Formel handelt (vgl. 96,4 a), ist in ihr das Tetragramm nicht redaktionell verändert worden. Dasselbe trifft f ü r die Verbindung Jahwe Zebaoth in V. 9 zu. 3 Zur Verdeutlichung: V. 9aßy und V . 9 b ß bilden zusammen ein Bikolon. 1

2

Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48 10a 10b IIa IIb 12a 12b 13a 13b 14 aa 14 aß

14ba 14 bß

15aa 15 aß

15ba 15 bß

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Wir bedenken hiermit, J a h w e " , deine Huld inmitten deines Tempels. Wie dein Name, „Jahwe", so (reicht) dein Ruhm über die Enden der Erde hin; mit Gerechtigkeit ist deine Rechte gefüllt. Es freue sich der Berg Zion, jubeln sollen die Töchter Judas um deiner Gerichte willen! Zieht um Zion herum und umschreitet ihn, zählt seine Türme! Gebt acht auf seine Ringmauer, mustert seine Paläste! Damit ihr erzählen könnt dem künftigen Geschlecht: So ist J a h w e " , unser Gott, auf immer und ewig. Er ist es, der uns leiten wird. 4

(Hebräische Textrekonstruktion s. u. S. 323)

Die rekonstruierte Grundfassung des Psalms: 2aa 2 aß

G r o ß ist Jahwe und hochgelobt.

2 bß. 3 aa Sein heiliger Berg: gipfelschön, 3 aß Entzücken der ganzen Welt. 3ay 3b

Der Berg Zion: äußerster Nord(berg), Stadt des Großkönigs.

4a 4b

J a h w e " ist in ihren Palästen, der sich erwiesen als Schutz.

5a 5b

Denn siehe, die Könige hatten sich versammelt, rückten gemeinsam an.

6a 6b

Da sie hinblickten, ergriff sie sogleich Entsetzen; vom Schrecken wurden sie gepackt, stürzten davon.

7a 7b

Zittern erfaßte sie dort, Wehen wie die Gebärende.

4 Die Bedeutung von Jii» Vy ist völlig dunkel (vgl. 9,1). Vielleicht handelt es sich um eine redaktionelle Anweisung zum Vortrag des Psalms.

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

9aßy 9bß

So haben wir (es) gesehen in Jahwe Zebaoths Stadt, die er auf ewig fest bewahren möge!

13a 13b

Zieht um Zion herum und umschreitet ihn, zählt seine Türme!

14aa 14 aß

Gebt acht auf seine Ringmauer, mustert seine Paläste!

14ba 14 bß

Damit ihr erzählen könnt dem künftigen Geschlecht:

15 act 15 aß

So ist „Jahwe", unser Gott, auf immer und ewig.

Jahwes Gegenwart, schon in Ps 29 und 93 im Mittelpunkt des theologischen Interesses, wird unter verändertem Aspekt auch in Ps 48 bedacht. Bevor jedoch die hymnische Gedankenführung nachgezeichnet werden kann, müssen erst die Stimmen identifiziert werden, die sich im Laufe des Traditionsprozesses immer wieder in den Psalm eingeschaltet haben, um ihn um weitere theologische Akzente zu bereichern oder auch nur vorhandene stärker hervorzuheben. Die inhaltliche und formale Geschlossenheit der Grundfassung hat dadurch allerdings gelitten. Bereits zu Beginn ist die ursprüngliche Fassung erweitert und zudem durch unsachgemäße Versabtrennung gestört worden. Wie aus Ps 96,4 a ersichtlich, ist die einleitende hymnische Formel in 48,2 durch irni>R "ryn „in der Stadt unseres Gottes" redaktionell erweitert worden. Das geht aus der Fortführung durch itnp in „sein heiliger Berg" hervor, die durch späteren Eingriff irrtümlich von V. 3 abgetrennt worden ist5. Sie hat grammatisch die Position des Subjektes inne, ist also ohne Zusammenhang zur vorhergehenden adverbiellen Bestimmung des Ortes konstruiert und macht damit deutlich, daß es im folgenden um die Rühmung des Ortes selbst und nicht um die Lokalisierung des Gotteslobes geht. Indessen ist dieser merkwürdige Gedanke von dem Redaktor wahrscheinlich unbeabsichtigt, während ihm daran lag, durch irn^K „unser Gott" von Anfang an den gemeinschaftlich-nationalen Bezug des Psalms zu apostrophieren. Diese Intention kommt auch weiterhin zur Geltung. Die nächsten Texterweiterungen sind in V. 8 f. zu beobachten. V. 8 ist in seinem Kontext in jeder Hinsicht auffällig: Ubergang zur präsenti5 Wahrscheinlich in der Absicht, V. 2 als zwei Bikola zu lesen. Dieses Folgeproblem bestätigt zusätzlich, daß „in der Stadt unseres Gottes" nicht von Anfang an zum Text hinzugehört hat.

Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48

189

sehen Schilderung gegenüber der präteritalen in V. 5-7, Anrede Gottes in der 2.ps.m. sg., künstlicher Parallelismus membrorum (das Akkusativ-Objekt in V. 8 b ist zur grammatischen Vollständigkeit von V. 8 a unverzichtbar), überraschende und mit dem Kontext kaum zu vermittelnde inhaltliche Umorientierung. Die Zerstörung der TarschischSchiffe durch den von Jahwe entfesselten Oststurm (vgl. Ez 27,25 f.) kann nur als Steigerung seiner Schreckensmacht über die feindlichen Könige gemeint sein, wenn auch mit dieser Erklärung die mangelnde formale und inhaltliche Einbindung nicht aus der Welt zu schaffen ist6. V. 8 mag auf denselben Redaktor wie die Nachträge im Kontext zurückgehen, obwohl über die redaktionelle Nachwirkung in Y. 9 hinaus keine weiteren Indizien zu finden sind. Hier ist seine Hand nämlich gut zu erkennen. V. 9 ist sichtlich überfüllt, bedingt durch die schon aus V. 2 ba bekannte, nachklappende Apposition irnVs Tyn „in der Stadt unseres Gottes" (zusammen mit dem folgenden, den unterbrochenen Grundtext wiederaufnehmenden Tetragramm). Außerdem ist V. 9 im Gefolge der Einfügung von V. 8 am Anfang durch ΊΒΚ3 „wie wir gehört haben" ergänzt worden, weil man in der Gottesstadt schlecht die Zerstörung von Tarschisch-Schiffen sehen kann. Der Wortlaut des jetzigen Textes schließt diese Unmöglichkeit zwar immer noch nicht bündig aus („wie wir gehört, so haben wir gesehen ..."), schafft aber durch die „mündliche Uberlieferung", welche dem eigenen Erleben vorangeht und jene gleichsam nur bestätigt, Distanz. Hier ergänzt jemand, dem im Blick auf das wunderbare Gotteshandeln die Tradition mindestens ebensoviel gilt wie die eigene Zeugenschaft. Die umfangreichste Erweiterung hat der Psalm in V. 10-12 erfahren. Das Thema „Rettung der Gottesstadt" sollte nicht ohne das lobende Echo der Geretteten und ihrer Nachkommen abgeschlossen werden. Aber das Gotteslob hat eine eigenartige Form. Es ist weniger unmittelbare hymnische Reaktion auf die eine bestimmte Gottestat (wie V. 13 ff.) als vielmehr Reflexion allgemein über Gottes Tun, das schlüssig denkend zur Lobaufforderung gelangt. Man erwägt, bedenkt Jahwes 6 Ewald (1/2 S. 139) harmonisiert V. 8 mit V . 5 - 7 , indem er die Schilderung von V. 8 zum Gleichnis uminterpretiert: „Nach berathung rücken sie wohlgeordnet heran: aber so wie sie in der nähe Sions sind, wie sie es wagen den frechen blick gegen das Heiligthum zu erheben, werden sie durch jähen schreck und todesfurcht verscheucht, als triebe sie ein furchtbarer, die stärksten schiffe (die Tarshish-schiffe) serschmetternder Sturm vom heiligsten orte zurück .. Olshausen (S.209), der eine Textergänzung erwägt, stellt zuvor nüchtern fest: „Der Vers fügt sich nicht bequem an und ermangelt einer regelmässigen Gliederung ..." Diese Erkenntnis hat in der weiteren Forschung so gut wie kein Echo gefunden, während die Metaphorik von V. 8 die Phantasie der Kommentatoren stark beschäftigt hat (am kühnsten Bentzen S.271).

190

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Huld und Gnade (V. 10 a), indem man die Äquivalenz von seinem Namen und seinem Ruhm (im Sinne von Ruhmestat und Rühmung der Tat) konstatiert (V. I I a ) . Und das geschieht mp>n „inmitten deines Tempels" (V. 10b): Wie in der Ergänzung V. 2 b a wird aus dem Gegenstand des Hymnus der „Sitz im Leben", der hymnischem Singen und Denken Raum gibt. V. 10 fällt gleichsam aus dem Bild, indem Jahwes Residenz hier mit einem Namen benannt wird, der zur konventionellen sakralen Terminologie gehört: Vdti „Tempel", wenn auch ebensogut Bezeichnung für den Palast. Doch die Bildsprache des Grundtextes verzichtet offensichtlich bewußt auf diese Form der religiösen Transparenz, wenn sie zweimal den Ausdruck nunix „Paläste" (Plural!) wählt, welcher ganz und gar der profanen Sphäre entstammt 7 . Es wird zu untersuchen sein, welche Intention den Verfasser des Grundtextes dabei geleitet hat. Der Ergänzer teilt sie jedenfalls nicht, sondern transzendiert die Metaphorik von Gottesberg und Gottesstadt nicht nur auf den Tempel, sondern auch auf die nationale Dimension hin. In V. 12 werden in zitathafter "Wiedergabe von Ps 97,8 neben dem Zionsberg die Tochterstädte Judas zum Lob aufgefordert "pisDtfö „um deiner Gerichte willen". Damit endet die Fortschreibung, wie sie begann: mit dem Uberblick über Gottes „Gerichte" (O'BDtPn), die seine Rechte voller Gerechtigkeit (pis) tut (vgl. V. 11 b). Ältere Psalmtheologie hätte bei der Fülle von der Erde und Gottes Herrlichkeit gesprochen (vgl. Jes 6,3; Ps 24,1), bei Gerechtigkeit und Recht ( B D » a i p i s ) von den Stützen des Gottesthrones (vgl. Ps 89,15; 97,2). Doch Kombination und Umformung der Vorstellungen in späterer Psalmtheologie sind auch anderweitig belegt (vgl. Ps 33,5; 119,64). Nachdem die redaktionellen Erweiterungen abgehoben worden sind, steht die Erstfassung des Psalms mit klarem Aufbau und leicht erkennbarer Gedankenführung vor Augen. Die drei Teile sind mit je vier Bikola gleichmäßig komponiert (I: V.2-4*; II: V.5-9*; III: V.13-15a), wobei jedesmal das letzte Bikolon mit einem besonderen theologischen Akzent versehen ist. Die wahrscheinlich aus der liturgischen Tradition übernommene Einleitung des ersten Teiles (V. 2-4*) in V. 2 a läßt die Preisung Jahwes in seinem Wesen und Wirken erwarten. Hingegen folgt in den nächsten zwei Bikola das Lob „seines heiligen Berges", der mit lockerem syntak7 Neben Ps 48,4. 14 sind als weitere Ausnahmen nur Thr 2,5. 7 zu nennen, Stellen, die allerdings nur als Rückbezug auf Ps 48 verständlich sind, denn das im Kontext auffällige Suffix der 3.ps.f. sg. ist beidemal durch den Rückbezug auf „(Tochter) Zion" bedingt (Thr 2,4. 6; vgl. P s 4 8 , 3 . 13). Die in Ps 48 apostrophierte Verbindung von Gottesstadt/ Zion und Palästina ist in Thr 2 assoziiert worden.

Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48

191

tischem Bezug im Nominalstil eine Reihe von hymnischen Prädizierungen erfährt. In V. 2 bß. 3 aaß ist die Perspektive universal. Der Gottesberg ist Weltberg 8 : heilig, schön 9 und deshalb von aller Welt gerühmt. Das nächste Bikolon (V. 3ayb) will anscheinend den gerade genannten „heiligen Berg" mit dem „Zionsberg" identifizieren, womit nun die engere, spezifisch israelitische Perspektive zur Geltung käme. Doch die Fortsetzung läßt dieses Verständnis sofort wieder fraglich werden, denn in asyndetischer Aufzählung folgen der „äußerste Nord(berg)" 10 und die „Stadt des Großkönigs". Welcher Sinn steckt hinter dieser verwirrenden, gleichsam im theologischen Stenogrammstil vorgetragenen Reihe? Eine Formulierung aus dem ugaritischen Baalzyklus hilft beim Verständnis weiter. Baal fordert Anat auf, zu ihm zu kommen, daß er ihr eine Botschaft mitteile 2 9 ) . . . btk. g r y . il. s p n . . . m i t t e n a u f m e i n e m h e i l i g e n Berg, d e m Z a p h o n , 3 0 ) b q d s . bgr. n h l t y i m H e i l i g t u m , auf d e m B e r g m e i n e s E r b b e s i t z e s , 3 1 ) b n f m . b g b r . tliyt am (Ort des) Entzücken(s), auf d e m Berggipfel des Triumphes11.

Wegen der Einheitlichkeit der Vorstellung geht hier aus der asyndetischen Folge der Ortsbestimmungen eindeutig hervor, daß sie sich alle auf etwas Identisches richten, den Götterberg Zaphon nördlich von Ugarit 12 . Da die Vorstellungsreihe in Ps 48, 2 bß. 3 sichtlich auf ein kanaanäisches Vorbild, das mit dem zitierten ugaritischen Text verwandt sein muß, zurückgreift, wird auch hier trotz der Variabilität der Bifder immer derselbe Ort gemeint sein, wie oben schon vermutet, der Zion, der freudig und ohne religiösen Purismus mit der ganzen Pracht des kanaanäischen Götterberges geschmückt wird. Es ist frappierend, in welchem Umfang die kanaanäischen Vorstellungen in hebräischer Adaption übernommen worden sind. Nicht nur der „heilige Berg" und der „Zaphon" haben in Ps48,2bß. 3ay Aufnahme gefunden, sondern 8 Diese Vorstellung ist im alten Orient breit belegt. Es sei nur erinnert an sumerische Tempelnamen wie e-hur-sag-(gal-)kur-kur-ra „(Großes) Berghaus der Länder" und ehur-sag-kalam-ma „Berghaus des Landes". Zum „heiligen Berg" («ηρπ ηη/ιβηρ i n u. ä.) im Alten Testament vgl. Jes 11,9; 27,13; 56,7; 57,13; 65,11. 25; 66,20; Jer 31,23; Ez 20,40; 28,14; Jo 2,1; 4,17; Ob 16; Z e p h 3 . l l ; Sach8,3; P s 2 , 6 ; 3,5; 15,1; 43,3; 99,9; D a n 9 , 1 6 . 20; zu den traditionsgeschichtlichen Problemen von Jes 14,12 ff. und Ez 28,11 ff. vgl. W. H.Schmidt, Königtum S . 3 4 f . ' Vgl. die ähnliche Charakterisierung des Heiligtums in P s 9 3 , 5 (s.o. S. 185). 10 Zur semantischen Bestimmung von . ,.'ΪΟΤ vgl. Lutz, Jahwe S. 164f. 11 K T U 1.3 111,29-31 (vgl. T O I S.166; M L C S.184); vgl. K T U 1 . 3 IV, 19f.; I . 1 0 1 , 2 f . ; W . H . S c h m i d t , Königtum S . 3 2 f f . 12 Vgl. Eißfeldt, Baal Zaphon S. 1 ff.

192

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

man wird auch in V. 3aaß „gipfelschön, (Ort des) Entzücken(s) der ganzen Welt" das hebräische Pendant zum ugaritischen „(Ort des) Entzückens^)" und „Berggipfel des Triumphes" erkennen dürfen. Womöglich noch aufschlußreicher sind allerdings die Abweichungen von der kanaanäischen Vorgabe. Die dem Heiligtum geltenden Termini (vgl. KTU 1. 3 111,30) sind nicht übernommen, sondern durch die Vorstellung von der „Stadt des Großkönigs" ersetzt worden 13 . Man kann kaum umhin, diesen Austausch als theologisch beabsichtigt zu verstehen und über den selbstbewußten, nachgerade spielerischen und zugleich theologisch ernsten Umgang des Dichters mit der altorientalischen Vorstellungswelt zu staunen. Denn er wechselt - soweit die Trennung überhaupt möglich ist - die geistliche Sphäre gegen die weltliche aus, das Heiligtum gegen die Stadt, und wählt konsequent mit m „Großkönig" für Jahwe ein typisch weltliches Epitheton, das als solches im Alten Testament nur hier 14 und im alten Orient für Götter überhaupt nicht belegt ist, während der bedeutungsgleiche Königstitel sarru rabü im akkadisch sprechenden Orient seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends sehr häufig vorkommt 15 . Eben diesen profanen Sprachgebrauch hat der Dichter von Ps 48 bewußt übernommen, um schon vor dem Angriff der feindlichen Könige (O'D^sn) in V. 5 ff. klarzustellen, daß sie es in Jahwe mit dem Großkönig (an η^η) zu tun bekommen. Der Gott (je)des heiligen Berges ist Großkönig der Stadt, ist Jahwe in ihren Palästen, als Schutz seit eh und je bewährt (V. 4). Das unersättliche, jeden Daseinsbereich okkupierende Wesen dieses Gottes wischt die Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment gründlich hinweg. Jahwe übernimmt hier nicht nur das Geschäft des irdischen Königs, sondern beansprucht auch, in rein weltlichen Kategorien sein Wesen zur Geltung zu bringen. Wodurch? Wie in Ps 29 und 93 allein durch den Jahwenamen, dessen Träger hier in den Palästen, nicht (primär) im Tempel präsent und angriffsbereit ist. Ps 48 ist in sensu stricto keine Tempellyrik, sondern Hofdichtung für den Groß13

Die Gleichsetzung mit Jerusalem , die von Tsevat (TWAT III Sp. 935 ff.), nicht aber im Psalm vollzogen wird, ist kaum legitim. Diese Objektivierung scheint bewußt vermieden zu sein, weil Zion/Zaphonberg und Gottesstadt mehr und anderes als Jerusalem sind. Im Unterschied zum Zion ist Jerusalem aus naheliegenden Gründen überhaupt erst in exilisch-nachexilischer Zeit ein Psalmthema (zuweilen in redaktionellen Nachträgen) geworden: Ps 51,20; 68,30; 79,1. 3; 102,22; 116,19; 122,2f. 6; 125,2; 128,5; 135,21; 137,5-7; 147,2. 12. 14 Zu vergleichen sind allenfalls die Belege, in denen Jahwe das Epitheton Vna "j^a „großer König" erhält (Mal 1,14; P s 4 7 , 3 ; 95,3). Jedoch ist der jeweilige theologische Kontext viel konventionellerer Art, worauf auch schon die Wahl des Adjektivs Viu hindeutet. 15 Vgl. Seux, ER S. 298 ff.; zum alttestamentlichen Echo vgl. Seybold, T W A T IV Sp. 940.

Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48

193

könig Jahwe. Das ist sachlich kein unversöhnlicher Gegensatz, doch die μετάβασις εις αλλο γένος will beachtet sein, weil sich in ihr ein eigentümlich erweiterter theologischer Herrschaftsanspruch artikulieren will. Ist auch im ersten Teil die Überlegenheit Jahwes deutlich herausgestellt worden, kann die Bedrohung seiner Herrschaft dennoch nicht einfach übergangen werden. Ihr ist der zweite Teil des Psalms gewidmet (V. 5-9*). Ähnlich wie in Ps 93 oder der Grundfassung von Ex 15 muß Jahwe seine Königsherrschaft verteidigen, hier nicht gegen mythische Chaosmächte, sondern gegen Könige, die aber exakt dieselbe bedrohliche Funktion haben 16 . Ob es Zufall ist, daß die Völker gar nicht erwähnt werden, sondern nur ein Kampf in den oberen Rängen (in ferner Erinnerung an das Götterkampfmotiv) angedeutet ist? Außerdem ist die Rede von Kampf nicht exakt, denn das Hinsehen der Könige - doch wohl auf den in den Palästen seiner Stadt anwesenden Großkönig Jahwe - reicht aus, um sie in die Verwirrung der Besiegten zu versetzen, die nur noch an Flucht zu denken vermögen. Ist die Bedrohung von Jahwes Königsherrschaft auch real, so erweist sie sich doch schnell als eine grandiose Fehlkalkulation der Feindesmacht, was auch dadurch verdeutlicht wird, daß die Bedrohung als Kapitel der Vergangenheit erzählt wird. Ehe die Schilderung beginnt, ist die Gefahr bereits gebannt (beachte die Perfecta in V. 5-7). Den Bericht geben (in der poetischen Fiktion) die Augenzeugen, ρ l r m „so haben wir (es) gesehen" (V. 9 aß), die in dem Sieger den Gott wiedererkennen, den sie nicht als Großkönig, sondern als Jahwe Zebaoth verehren, in seiner Stadt, deren Schutz ihm auf ewig anbefohlen wird (V.9aybß) 17 . Heimlich sind mit diesem Gottesnamen auch Jerusalem und Tempel präsent. Doch sie bleiben ungenannt zugunsten der mythisch-theologischen Metaphorik von Gottesberg und Gottesstadt, mit der nur der Zion als konkreter israelitischer Ort verträglich ist. Ihm wendet sich der Dichter im abschließenden dritten Teil (V. 13-15 a) ausführlich zu, auch hier nicht als Tempelberg, sondern als Festungs- und Palastanlage. Immer wieder ist hinter den Aufforderungen zum Umschreiten des Zion und zur Begutachtung seiner Bauten ein liturgischer Vorgang vermutet worden 18 . Doch das Zählen und Inspizieren von Türmen, Ringmauer und Palästen paßt weder der Tätigkeit 16

Vgl. Gese, RM 10/2 S.60f.; vor allem Day, Conflict S. 125ff. (auch zu Ps 46 und

76). 17 Der Gebrauch des Verbs ps pol. „fest erhalten" in V. 9bß macht deutlich, wie sehr es seiner ursprünglichen Konzeption nach der Bestands- und nicht der Schöpfungsaussage dient (s.o. S.80ff.). 1B Geradezu rührend die Schilderung von Kittel (S. 179), der den Abschnitt V. 13-15 kurzerhand „Die Prozession" nennt (ähnlich Weiser S.258f. u.a.).

194

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

noch den Objekten nach gut zu Priestern oder Kultteilnehmern, wohl aber zu Feldherren und Soldaten 19 . Nicht von ungefähr endet die Musterung bei den schon aus dem ersten Teil des Psalms bekannten Palästen (vgl. V. 4 14 a), in denen der Großkönig, und nicht primär der Tempelgott Jahwe zu Hause ist. Von diesem Jahwe, der gleichsam via eminentiae aus seiner PalastFestung Zion erkannt werden kann, soll die Kunde an spätere Generationen weitergegeben werden (48,14b). Denn - so die abschließende Quintessenz in V. 15 a, ähnlich hymnisch konstatierend wie der Anfang V. 2 a - Jahwe ist als Schutz bewährt (vgl. V. 4) nicht nur im großköniglichen Eigeninteresse, sondern vor allem als „unser Gott", und zwar verläßlich und unbefristet, kurz: „auf immer und ewig" (V. 15 a). Hier meldet sich durch den Dichter die (Volks-)Gemeinschaft zu Wort, um Jahwe mit U'nVK „unser Gott" ihren theologischen Ehrentitel zu verleihen. Sie fühlt sich im Wirken des Großkönigs Jahwe, der durch „Jahwe Zebaoth" (V. 9 ay) und „Jahwe, unser Gott" (V. 15 a) nach und nach ins theologisch Vertraute zurückgeholt wird, geborgen und geschützt (vgl. ajp» in V. 4). Der Tenor von Ps 48 ist eminent wehrhaft, kommt aber ohne Waffengeklirre aus. Der kriegerische Gott Jahwe, der aus der Wüste kam, hat sich mit dem militanten Baal, dem Herrn des Zaphon, zusammengetan. Die daraus resultierende Mischung von Jahwekrieg und kanaanäischem Götterkampf mag dazu geführt haben, daß Jahwes Feinde „lediglich" Könige sind, allerdings vereint zu einer Gegenmacht von universaler Dimension. Aus dieser Keimzelle wird das Völkerkampfmotiv mit seinen verwandten Aspekten erwachsen sein20. Doch nur in dieser Hinsicht haben Jahwe und Baal zu dem Pakt in paritätischer Weise beigetragen. Darüber hinaus ist Baal der gebende Teil gewesen - bis hin zu seinem Wohnsitz und schließlich seiner Identität. Jahwe nimmt sich, was er gebrauchen kann, ohne Bescheidenheit und ohne Herkunftsan" Der Gedanke an eine Prozession wäre wahrscheinlich nicht aufgekommen, wenn nicht die Verben 33B „um etwas herumgehen" und ηρ>3 hi. „umkreisen" auch im Zusammenhang der rituellen Stilisierung der Einnahme Jerichos verwendet würden (vgl. Jos 6,3. 11 u.ö.). Daß darin seltener Sprachgebrauch vorliegt, hätte man selbst Jos 6,3 entnehmen können, w o es noch die nnni>an ' i m „Soldaten" sind, die zur Umzingelung der Stadt aufgefordert werden. Es ist die technische („kreisförmig umgeben") und die militärische („umzingeln") Nomenklatur, der ηρι hi. (häufig parallel zu aao/n'no) normalerweise angehört: 1 Kön 7,24 par. 2 C h r 4 , 3 ; 2 K ö n 6 , 1 4 ; 11,8 par. 2 C h r 2 3 , 7 ; Jes 15,8. Kein anderer als der militärische Sprachgebrauch hat den Feindklagen der übrigen Psalmstellen als Vorbild gedient: Ps 17,9; 22,17; 88,18. Auch die anderen in Ps 48,13 f. gebrauchten Verben (JOD „mustern" ist Hapaxlegomenon) gehören nicht speziell zur kultischen Sprache. 20 Vgl. za den betreffenden Texten Lutz, Jahwe S. 11 ff.; vgl. ebd. S. 213 ff. die Kritik an Wanke, Zionstheologie.

Gottesberg und Gottesstadt: Ps 48

195

gäbe. Sein Name - d. h. er selbst - dominiert sachlich und dispositionell in Ps 48, schützt wirksam vor Überfremdung, so daß das abschließende Urteil, angesichts des Inhaltes verwunderlich genug, lautet: „So ist Jahwe, unser Gott, auf immer und ewig" (V. 15a). Die Grundfassung von Ps 48, die mit ihrer ungebrochenen, von geschichtlichen Katastrophen noch unberührten jahwistischen Absorptionskraft eigentlich nur der vorexilischen Zeit entstammen kann, steht in mancher Hinsicht in einem psalmtheologischen Umfeld. Ex 15 wäre in Erst- und Letztfassung ohne Texte wie Ps 48 nicht gut vorstellbar. Nicht von ungefähr wird Jahwe in Ex 15,3 mit dem Titel nun^a „Krieger" eingeführt, der auf dem Weg zum Berg des Erbbesitzes (hier mit Tempel) und zum ewigen Königtum ist (vgl. V. 17 f.). Ähnlich auch Ps 24, wo die sich steigernde Wesensbestimmung des „Königs der Ehren" durch nnn^n π η ϊ „Kriegsheld" und Jahwe Zebaoth erfolgt (vgl. V. 8. 10). In Ps 2 rotten sich ebenfalls Könige und Völker gegen die Jahweherrschaft zusammen (vgl. V. 1-3). Hier reicht das Wort des „Himmelsthroners", um sie in Panik zu versetzen (vgl. V. 5 f.). Doch im Unterschied zu Ps 48 teilt sich Jahwe das Königtum mit seinem irdischen Mandatar „auf Zion, meinem heiligen Berge" (V.6). Hier gewinnt ein anderer Aspekt derselben Vorstellungswelt Gestalt, welche noch näher untersucht werden muß 21 . Mit sachlichem Recht kann man Ps 48 einen Zionspsalm nennen und ihn mit Ps 46 und 76 zusammenstellen. Doch sollte das nicht unter Voraussetzung einer besonderen Psalmgattung geschehen, da die Texte keine formale differentia specifica aufweisen und inhaltlich allein darin übereinkommen, daß sie die Präsenz Jahwes in der Gottesstadt und/ oder auf Zion thematisieren. Allerdings geschieht das in Ps 46 und 76 im Geiste einer merklich jüngeren Zeit. Ps 46, in welchem der Zion nicht erwähnt wird, kompiliert unterschiedliche Elemente unter dem als Refrain wiederholten Thema „Jahwe Zebaoth ist mit uns, Schutz (alt?») ist uns der Gott Jakobs" (V. 8. 12; vgl. V.2). Das Völkerthema (V.7), etwas unglücklich mit einem Theophaniemotiv kombiniert (vgl. den anders akzentuierenden Gebrauch der Metaphorik in V. 3), ist ebenso locker in den Kontext gestellt wie die „Jahwestadt" und die „Wohnungen Eljons" (V. 5). nona „Zuflucht" (V.2) und 3J®a „Schutz" (V.8. 12) werden folglich auch ganz und gar spiritualisiert und ohne direkten Bezug zum Gottesstadtmotiv gebraucht (anders 48,4). Schließlich ist der Appell an die Völker in 46,9-11 - teils von menschlichen Sprechern (V. 9 f.), teils von Gott ausgehend (V. 11) - ähnlich theologisch allgemein gehalten (die Taten Jahwes, seine Überlegenheit über Völker und Welt) wie die Ergänzung 21

S.u. S.208ff.; zu Ps 2 vgl. Thiel, Versuche III S . 5 3 f f .

196

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

in 48,10-12, in der die zionstheologische Perspektive deutlich verlassen ist. Was hier vom Teil gilt, kann man bei Ps 46 vom Ganzen sagen: Legt man an ihn einen scharfen inhaltlichen Maßstab an, erscheint die Bezeichnung Zionspsalm kaum als sachgerecht, obwohl er auch zionstheologische Elemente in sich aufgenommen hat. Demgegenüber trägt Ps 76 diese Bezeichnung mit etwas größerem Recht, doch stammt auch er aus einer späteren Zeit als Ps 48. Unverkennbar archaisierend ist von „seinem Zelt in Salem und seiner Wohnung auf Zion" die Rede (76,3; vgl. Gen 14,18; Ps 15,1; 27,5 f.; 78,60), um dann dieses Thema schnell zu verlassen und ausführlich eine Verschränkung von Gottessieg und Gottesgericht („Wer könnte vor dir bestehen?" 76,8 vgl. 130,3) zu schildern, wobei den besiegten nV ' τ ι κ „die stolzen Herzens sind" (76,6) ρ κ 'uy Va „alle Demütigen der Erde" als Gerettete gegenüberstehen (V. 10). Die Transformation der mythischen Mächte in fromme Feind- und Idealbilder liegt auf der Hand. Für die vorexilische Zionstheologie ist von den drei genannten Psalmen demnach nur Ps 48 in seiner Grundfassung aufschlußreich 22 . Dabei ist, streng genommen, bisher die Welt und das, was zu ihr gehört, nur in negativer Weise in den Blick gekommen. Wie sich von Gottesberg und Gottesstadt her beides in theologischer Positivität ausnimmt, wird an Ps 24 zu studieren sein.

4. Jahwe, der König der Ehren: Ps 24 ι aß lb

J a h w e s ist die W e l t u n d ihre Fülle, der Erdkreis u n d s e i n e B e w o h n e r 1 .

2a 2b

D e n n er ist's, der sie ü b e r d e n M e e r e n g e g r ü n d e t , über d e n S t r ö m e n b e w a h r t .

3a 3b

W e r darf s t e i g e n auf J a h w e s Berg, w e r s t e h e n an s e i n e m h e i l i g e n Ort?

22 Sollte diese Einschätzung berechtigt sein, ist bei der Rekonstruktion der Zionstradition aus Elementen von allen drei Psalmen große Vorsicht geboten (vgl. Schreiner, Sion S. 219 ff. u. a.). Das gilt in mancher Hinsicht auch für den weiterführenden Beitrag von Jeremias, FS von Rad S. 183 ff. v. a. 188 ff. Die Ablösung der Lade/Jahwekriegs- durch die Zionstradition scheint noch rigoroser gewesen zu sein, als Jeremias vermutet (vgl. ebd. S. 186 f.). Da die Lade in den sog. Zionspsalmen nirgendwo erwähnt wird, sollte man sie auch nicht allein wegen des Namens Jahwe Zebaoth in die Texte eintragen (gegen ebd. S. 193 ff.). Schließlich hat der Ladegott Jahwe das Epitheton Zebaoth erst unter Einfluß der kanaanäischen Religion in den (okkupierten) Tempeln des Landes angenommen (vgl. Mettinger, Y H W H Sabaoth S. 109 ff. v.a. 135), so daß es ebensowenig fest mit der Lade verknüpft war wie Jahwe selbst. 1

Zum Status constructus des Partizips mit Präposition vgl. GK § 130 a.

Jahwe, der König der Ehren: Ps 24

4aa 4 aß 4b

Der unschuldiger Hände und reinen Herzens ist, der mich nicht zu Nichtigem mißbraucht hat, der nicht falsch geschworen hat 2 .

5a 5b

Er wird Segen empfangen von Jahwe, Gerechtigkeit vom Gott seines Heils.

6a 6b

197

Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt 3 , die dein Antlitz suchen, (nämlich) Jakob.

7aa 7 aß 7b

Hebt, Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr ewigen Pforten, daß der König der Ehren einziehe!

8aa 8 aß 8b

Wer ist es, der König der Ehren? Jahwe, der Recke und Held, Jahwe, der kriegerische Held.

9aa 9 aß 9b

Hebt, Tore, eure Häupter, „erhebt euch"4, ihr ewigen Pforten, daß der König der Ehren einziehe!

ίοaa Wer ist denn Er, der König der Ehren? ίο aß Jahwe Zebaoth, lob Er ist der König der Ehren. (Hebräische Textrekonstruktion s. u. S. 320)

Die rekonstruierte Grundfassung des Psalms: ι aß ιb

Jahwes ist die Welt und ihre Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner.

2a 2b

Denn er ist's, der sie über den Meeren gegründet, über den Strömen bewahrt.

3a 3b

Wer darf steigen auf Jahwes Berg, wer stehen an seinem heiligen Ort?

4aa 4b

Der unschuldiger Hände und reinen Herzens ist, der nicht falsch geschworen hat.

5a 5b

Er wird Segen empfangen von Jahwe, Gerechtigkeit vom Gott seines Heils.

2

Zur Verdeutlichung: V . 4 a a und 4 b bilden zusammen ein Bikolon. Die Lesart des Ketib ist beizubehalten; das Qere gleicht die Form sekundär an das folgende pluralische Partizip an. 4 Statt ι κ π ist mit wenigen hebräischen Handschriften und den Versionen ix®jm wie an der parallelen Stelle in V. 7 zu lesen. Der Fehler ist durch unachtsame Wiederholung des ΊΚΡ vom Satzanfang entstanden. 5

198

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

7aa 7 aß 7b

Hebt, Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr ewigen Pforten, daß der König der Ehren einziehe!

8ao 8 aß 8b

Wer ist es, der König der Ehren? Jahwe, der Recke und Held, Jahwe der kriegerische Held.

9ao 9aß 9b

Hebt, Tore, eure Häupter, „erhebt euch", ihr ewigen Pforten, daß der König der Ehren einziehe!

lOaa Wer ist denn Er, der König der Ehren? ίο aß Jahwe, Zebaoth, lob Er ist der König der Ehren.

Auf den ersten Blick scheint Ps 24 aus zwei auch formal sich unterscheidenden Teilen zu bestehen: V. 1-6 und V. 7-10. Bei näherem Hinsehen wird jedoch schnell klar, daß V. 1-6 aus inhaltlichen Gründen noch einmal unterteilt werden müssen. Von der Preisung Jahwes aus universaler Perspektive in V. 1 f.* hebt sich die Frage-Antwort-Passage mit speziellem religiösem Thema in V. 3-6* deutlich ab, so daß in Ps 24 ein dreiteiliger Aufbau vorliegt, der allerdings in seinem jetzigen Zustand formale Prägnanz vermissen läßt. Indessen sind die Ursachen für diesen Mangel leicht erkennbar, da die formstörenden Teile im zweiten Abschnitt am besten als Resultat einer Fortschreibung zu erklären sind. So ist V. 4 der jetzigen Form nach ein einzelnes Trikolon im Kontext von Bikola, während der Ubergang zu Trikola, gepaart mit inhaltlichem Neueinsatz, erst in V. 7 erfolgt. Die formale Auffälligkeit in V. 4 wird noch dadurch verstärkt, daß das zweite Kolon V. 4 aß unvermittelt in die Gottesrede überwechselt, während in den beiden umgebenden Kola V. 4 a a und V. 4 b ein Mensch, wahrscheinlich ein Priester spricht. Das mittlere Kolon V. 4aß ist mit größter Wahrscheinlichkeit sekundär in den jetzigen Kontext eingearbeitet worden, zumal Form und Inhalt das Motiv der Fortschreibung gut erkennen lassen. Die in V. 4 aa genannten ethischen Normen haben die Assoziation an den Dekalog herbeigeführt, der nun durch den Redaktor in V. 4 aß mit dem Verbot des blasphemischen Umgangs mit Gott(es Namen) selbst zu Wort kommt (vgl. Ex 20,7 = D t n 5 , l l ) . Dabei „zitiert" der Redaktor das Verbot nicht wie im Dekalog auf den Namen (DW), sondern auf Gott selbst bezogen, was allerdings keine sachliche Differenz impliziert (vgl. Am 6,8), und gibt ihm die Form der Gottesrede, während es im Dekalog selbst der erste Satz ist, in dem von

Jahwe, der König der Ehren: Ps 24

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Jahwe in der 3.ps. gesprochen wird 5 . Die minimalen Abweichungen können allerdings nur ihrerseits bestätigen, daß es sich bei der Ergänzung in Ps 24,4 aß tatsächlich um ein freies Dekalogzitat handelt, das den vorgefundenen ethischen Katalog um das gleichsam kanonisch legitimierte religiöse Kriterium bereichern sollte6. Literarkritisch verdächtig ist ferner der ganze V. 6. In ihm sind eher gedankliche Bruchstücke stilistisch unbeholfen (Personenwechsel) zusammengestellt, so daß die Suche nach einem festen syntaktischen Zusammenhang erfolglos sein muß und auch nicht durch textkritische Emendationen erzwungen werden darf. Der Gedanke an das „Geschlecht" der Gottessucher, nämlich an Jakob ( = Israel) ist dem übrigen Psalm fremd, die Apostrophierung dieser Gruppe darüber hinaus schlecht placiert, denn ihre Identifizierung mit den ethisch und religiös Untadeligen wäre im Anschluß an V. 4 und damit vor dem Segenszuspruch in V. 5 sinnvoller gewesen. Allerdings ist die kollektivierende und nationalisierende Intention, die aus V. 6 spricht, als Redaktionstendenz im Psalter mittlerweile gut bekannt, und sie verhilft auch hier am ehesten zur ungezwungenen Erklärung. Wahrscheinlich ist V. 6, vielleicht sukzessive von mehreren Händen zunächst als Randbemerkungen), als Ergänzung zu dem in V. 4 f. konturierten idealen Gottverhältnis gedacht gewesen, bei dem der Hinweis auf die Israel geltende Exklusivität vermißt wurde. Ob der Nukleus der Fortschreibung, der vermutlich in V. 6 a (plus „Jakob" aus V. 6 b) vorliegt, auf denselben Redaktor wie V. 4 aß zurückgeht, ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen 7 . Betrachtet man den Psalm ohne die redaktionelle Nacharbeit, ist die gezielte formale Organisation unverkennbar, obwohl es sich um kein bekanntes Schema handelt; ja nicht einmal eine einzige Formparallele kann ihm an die Seite gestellt werden. Aber der Aufbau, der im ersten s

Die Darlegungen setzen voraus, daß in V. 4 aß nicht mit vielen hebräischen Handschriften und den Versionen die lectio facilior lPDJ „seine Seele, sich" gelesen werden darf. Wegen der stilistisch störenden, aber intendierten Form der Gottesrede ist das durch M T bezeugte '593 „meine Seele, mich" beizubehalten und als Äquivalent des Personalpronomens aufzufassen (zu Belegen für '»BJ, auf Gott bezogen, vgl. Westermann, T H A T II Sp. 91 f.; unverständlich Galling, Beichtspiegel S. 169, der die hinter M T stehende Absicht erkennt, um dann doch die lectio facilior zu bevorzugen). Das breit bezeugte IWDJ ist durch die Redewendung PDJ K P J + V/VK „das Verlangen auf jmdn/etwas richten" bedingt (vgl. Dtn 24,15; H o s 4,8; P s 2 5 , l u.ö.). Die Annahme, daß in Ps 24 V. 4 aß und nicht V. 4 b ergänzt worden ist, kann im Blick auf die redaktionelle Tendenz entschieden besser erklärt werden (gegen Baethgen S.69; Buhl S. 174 u.a.). 6 Die Wiedergabe von V. 4 b in LXX bestätigt zusätzlich, wie nahe die Assoziation von Dekalogformulierungen lag, denn sie ergänzt mit τφ πλησίον αύτοϋ „seinem Nächsten" typische Dekalogsprache (vgl. LXX zu Ex 20,16f.). Daß auch hier der Dekalogbezug sekundär ist, kann als weitere Bestätigung des literarhistorischen Urteils über V. 4 aß gelten. 7 Auch Steingrimsson (Tor S.90) beurteilt V.6 als Ergänzung.

200

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Teil mit zwei Bikola beginnt, im zweiten auf drei Bikola erweitert wird und im dritten mit vier Trikola (wahrscheinlich durch Traditionsübernahme bedingt) schließt, ist so stark gestaltet, daß er kein Zufallsprodukt sein kann. Hinzu kommt das metrische Argument, in der Regel wegen der bekannten Unsicherheiten ohne nennenswerte Beweiskraft, hier jedoch die schon auf anderem Wege erkannte formale Geschlossenheit bestätigend. Alle Kola haben drei Hebungen bis auf eine Ausnahme in V. 10, wo aber leicht ersichtlich das metrische Gleichmaß bewußt als stilistisches Signal für eine inhaltliche Akzentsetzung „gestört" worden ist. Entspricht nun dem nachweislich sorgfältigen formalen Aufbau eine ebenso überlegte inhaltliche Disposition? An einer positiven Antwort sind kaum Zweifel möglich, denn man könnte die drei Teile des Psalms unter die Titel „De mundo", „De homine" und „De Deo" stellen, eine sinnvolle Anordnung, deren theologische Implikationen in genauer Untersuchung erhoben werden müssen 8 . Der erste Teil (V. l a ß b . 2) setzt sogleich ohne Aufforderung und Anrede mit einer gewichtigen, dem Inhalt nach hymnisch-theologischen Aussage ein: der Proklamation Jahwes (exponiert vorangestellt) als Eigentümers der Welt und ihrer Fülle. Damit ist gleich zu Beginn ein Hinweis gegeben, daß hier ein tempeltheologisch geschulter Psalmdichter am Werke ist, denn gerade in diesem Traditionsraum wird die Beziehung von Gott und Welt nicht primär als die des Schöpfers zu seiner Schöpfung, sondern als die des Eigentümers zu seinem Eigentum gedacht 9 , welches das Signum dieser Beziehung in der „Fülle" (KiVa) eine andere Bezeichnung für die emanierende, allanwesende Gottesherrlichkeit - an sich trägt. Die Herrlichkeit des Jahwe Zebaoth, die die Fülle der ganzen Welt ist (vgl. Jes 6,3), ist der authentische Kommentar der Jerusalemer Tempeltheologie zu Ps 24,1 aßb 10 .

• Anders Petersen (Mythos S. 95), dem bereits auf der ersten Seite seiner Auslegung klar ist: „Es lassen sich keinerlei Verbindungslinien zwischen den einzelnen Stücken erkennen." 9 S.o. S.80ff.; vgl. auch Metzger, FS Kraus S.37ff., der allerdings eine enge Verbindung zwischen Eigentumsdeklaration und Schöpfungsaussage meint erkennen zu können; ungenau Albertz, Weltschöpfung S. 96, der von „Weltherrschaft Jahwes" spricht. 10 Die Erde bzw. der Erdkreis und ihre bzw. seine Fülle sind ein gut belegter Topos (vgl. Dtn 33,16; Jes 34,1; Jer 8,16; 47,2; Ez 12,19; 19,7; 30,12; 32,15; Mi 1,2; viel seltener: „das Meer und seine Fülle" vgl. Jes 42,10; literarisch voneinander abhängig Ps 98,7; 96,11; 1 Chr 16,32), der in Ps 24,1 f.; 50,12 und 89,12 mit Gründungs- und/oder Eigentumsaussagen verbunden wird. Zu diesen drei Belegen ist auch noch Ps 104,24 zu stellen (s.o. S.23 A . l l ) . Darüber hinaus wird durch Jes 6,3 deutlich, daß in der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie die Fülle der Erde als Präsenz der göttlichen Herrlichkeit ( t o s ) verstanden worden ist („Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit."). Diese Vorstellung hat

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Jahwe, der König der Ehren: Ps 24

Nicht von ungefähr ist dieser Eigentumsdeklaration die Konstitutionsaussage in V. 2 nachgeordnet, denn sie steht in tempeltheologischer Denkweise nur am Rande, was auch daraus hervorgeht, daß sie die Konstitution als anfängliche „Gründung" ( " T 0 ) also ohne eigene Schöpfungsterminologie formuliert. Es ist das Handeln eines Baumeisters, der die Welt wie einen Tempel-Palast oder eine Stadt errichtet. Zur soliden Gründung - in D'S' by „über den Meeren" und n n n j by „über den Strömen" klingt noch in kanaanäischer Manier der mythische (Götter-)Kampf um den (Bau-)Grund an - gehört die Beständigkeit, die in V. 2 b durch göttliche Bewahrung (|13 pol.) garantiert wird 11 . Dabei sind die Tempora sorgsam gewählt. Der punktualen abgeschlossenen Tat des Anfangs (10' Pf.) folgt das durative, zeitlich unbegrenzte bewahrende Handeln (pa pol. Impf.). Damit wird der Welt dieselbe conservatio Dei zuteil, die in Ps 48,9 für die Gottesstadt D^iy „auf immer" erbeten wird 12 . Was innerhalb der alten Jerusalemer Psalmtheologie über die Welt gesagt wird, ist strikt auf den Tempel-Palast (bzw. sein Äquivalent) und auf den in ihm anwesenden Gott hingeordnet (vgl. Ps 93,1b. 2). So drängt auch Ps 24 vom Weltkreis schnell weiter ins Innere (zweiter Teil: V. 3-6*) - und stößt zunächst auf den Menschen, nicht belanglos allgemein, sondern in einer spezifischen, ihn auszeichnenden Situation: als denjenigen, der vor Gott will, „auf Jahwes Berg", „an seinen heiligen Ort" (V. 3). Man hat gemeint, in diesem Teil eine Einzugsliturgie, auch Toraliturgie u. ä. genannt, erkennen zu können 13 . Diejenigen, ,

)

nachgewirkt (vgl. Num 14,21; Jer 23,24; E z 4 3 , 2 ; Ps 72,19) und verschiedene theologische Anpassungen erfahren: „Seine Herrlichkeit (nin) bedeckt den Himmel, und sein Ruhm (liiVnn) erfüllt die Erde" (Hab 3,3); ferner kann die Erde erfüllt sein von Jahwes Huld (τοπ, Ps 33,5; 119,64) und der Erkenntnis (der Herrlichkeit) Jahwes (Jes 11,9; Hab 2,14); zu Ps 48,11 s.o. S.190). Im priester(schrift)lichen Schrifttum der exilisch-nachexilischen Zeit füllt schließlich die Gottesherrlichkeit das Heiligtum (Ex 40,34f.; l K ö n 8 , l l ; E z 4 3 , 5 ; 44,4 u.ö.; vgl. Ez 10,4; Hag 2,7). 11 Zu pa und 10' s.o. S.8Off. 12 Bezeichnenderweise ist bei der Gottesstadt in Ps 48 die Gründung überhaupt nicht erwähnt. 13 Dazu vgl. Galling, Beichtspiegel S. 168 ff., der Gunkels Ideen weiter ausbaut. Vergleicht man das von Galling konstruierte Ritual (1. Frage nach dem Zutritt, 2. Angabe der Bedingungen, 3. entsprechende Versicherung des um Einlaß Bittenden: der Beichtspiegel) mit dem Befund in Ps 24, sind die Differenzen auffälliger als die Übereinstimmungen. Für die Angabe der Bedingungen sollen in Ps 24 „überwiegend Negationen" gebraucht sein (S. 170). Doch ohne literarkritisches Urteil sind in V. 4 positive und negative Formulierungen gleichstark vertreten, während sich bei Berücksichtigung der Literarkritik ein Ubergewicht der positiven Formulierungen ergibt. V. 5, der in Gallings Ritual nicht paßt, wird als „die kultgelöste Schlußfolgerung und eine (futurische) Feststellung" verstanden (S. 174). Wieso ist sie aber an so unpassende Stelle vor die Aussage des Laien, den Beicht-

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Jahwe, der H e r r seines Heiligtums

die ins Heiligtum wollen, fragen an den Tempeltoren nach den Einlaßbedingungen ins Heiligtum, worauf ihnen von den Priestern Fragen

Spiegel, geraten, als welcher V. 6 dienen muß? Dieser vermag die ihm aufgeladene Bürde natürlich nur durch kräftige Emendationen zu tragen, erbringt aber selbst in manipulierter Gestalt nicht die Aussage, die er leisten soll: „So ist das Geschlecht derer, die Eintritt begehren" (S. 174). Die Schlußfolgerung kann eigentlich n u r lauten, daß man den Texten (auch Ps 15 und Jes 33,14-16) einen größeren Gefallen tut, wenn man sie mit der Einzugsliturgie verschont und diese zu den Akten übertriebener formgeschichtlicher Bemühung legt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, d a ß ihre Scheinexistenz als f r o h e K u n d e von einem Psalmenkommentar zum anderen weitergegeben wird (mit unterschiedlichen Akzentsetzungen Gunkel S.47ff.; Gunkel/Begrich, Einleitung S.408f.; H . Schmidt S.23, wenn auch merklich zurückhaltend; Weiser S. 112 f.; Bentzen S. 59 f.; Castellino S.736; Deissler S.66; Kraus S . 2 5 3 f f . 342ff.; Beaucamp I S.83. 120f.; Anderson S . 2 0 0 f f . u.a.). Monographisch sind die betreffenden Texte jüngst von Steingrimsson (Tor) behandelt worden, mit großem methodischem Aufwand und wenigen neuen Einsichten. Ps 15 soll in seiner Grundfassung (V. l f . 5 b, so auch Koch, Tempeleinlaßliturgien S. 46 ff-, aber mit anderen Gründen) als Einzugsliturgie gebraucht worden sein (Steingrimsson, T o r S. 130), und zwar zwischen Josias Reform und Jerusalems Fall (S. 19. 132). Doch die ausschlaggebenden Spekulationen über den Fremdling sind müßig (S.20ff. 145 f.). Das Verb π ι „als Fremdling, Gast weilen" meint in V. 1 dasselbe wie p® „wohnen". Schließlich sind ja auch „Zelt" und „heiliger Berg" in dem Vers als Synonyma gebraucht und nicht als Kultorte unterschiedlichen Ranges zu differenzieren; vgl. zu Ps 15 die in Literarkritik und Datierung wohl insgesamt überzeugendere Auslegung Beyerlins (Heilsordnung). Ps 24,3-5 soll nach Steingrimssons Einsicht als ursprünglich selbständiges nachexilisches Stück erst nachträglich mit den sehr viel älteren Teilen V. 1 f. und V . 7 - 1 0 verbunden worden sein. Demgegenüber wird hier zu zeigen versucht werden, daß V. 3 - 5 sachlich fest in den Kontext eingebunden sind und auch sprachlich keinen Anlaß zur Spätdatierung geben. H a t man sich durch die terminologisch unnötig komplizierten A u s f ü h r u n gen Steingrimssons hindurchgearbeitet, kann man von der theologischen Insuffizienz des Resultates nur enttäuscht sein: „Ps 24,3-5 beschreibt den P r ü f u n g s a k t von außen her. Diese Beschreibung wird als Situationskontrolle verwendet mit dem Ziel, die kultische Reinheit der Tempelbesucher zu verherrlichen" (S. 130). D a ß Ps 24,3-5 dann auch noch von Ps 15,1-3. 5 b abhängig sein soll (so auch schon Baethgen S.68 - ohne Begründung), vermag man wohl nur einzusehen, wenn die Alternative „situative A n k n ü p f u n g des T e x tes an den P r ü f u n g s a k t im Tempeltor" - „Prüfungsakt von aussen her" (S. 130) zum Entscheidungskriterium geworden ist. Was das Verhältnis der Texte Ps 15; 24,3-5 und Jes 33,14-16 zueinander anbelangt, hat Duhm 2 (S.58) der Forschung den richtigen W e g gewiesen, auf dem man nur fortschreiten muß. Auf literarischer Bekanntschaft mit Ps 24,3-5 beruht die Gestaltung von Ps 15: Die einleitende Doppelfrage ist übernommen, aber durch die E i n f ü g u n g der Zeltvorstellung archaisiert worden (wie sonst auch im Psalter, vgl. 27,5f.; 61,5; 78,55. 60. 67). Die anschließenden ethischen Bedingungen sind im Generellen und Speziellen kräftig vermehrt. Weit über die fiktive Befragungssituation hinaus ist dem Verfasser an ihrer Erfüllung gelegen, nicht an ihrer Überbietung im theologischen Zuspruch wie in 24,5. Den gibt es in Ps 15 überhaupt nicht. In ihm wird Gerechtigkeit „gemacht" (V. 2) und in Korrespondenz zu den opera resümiert: „Wer solches tut, wird nicht wanken in Ewigkeit" (V. 5 b). Schließlich ist Jes 33,14-16 am besten aufgrund literarischer Bekanntschaft mit Ps 15 zu verstehen. In Jes 33,14 ff. haben die ethischen Forderungen noch größere Bedeutung

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ethischen und religiösen Inhaltes (zum Teil in Anlehnung an den Dekalog) gestellt werden, von deren Beantwortung Erlaubnis oder Verweigerung des Zutrittes zum Tempel abhängen. Ob tatsächlich ein derartiges Einlaßritual hinter V. 3-6 steht, ist allerdings sehr zweifelhaft. Der Dekalogbezug in V. 4 aß ist bereits oben als literarisch sekundär erkannt worden, so daß die Verbindung mit bekanntem kodifiziertem Gottesrecht wegfällt. Was in V . 4 a a b an ethischen Forderungen übrigbleibt, ist eine gut psalmtheologische Charakterisierung des coram Deo integren und damit auch in seinem Heiligtum willkommenen Menschen 14 . Hand, Herz und - wie man wohl ergänzen darf - Mund (Zunge, Lippen) erfassen den Menschen als ethisches Subjekt in den drei Grundbereichen des Handelns, Denkens und Redens, wobei die religiöse Dimension lediglich implizit mitgedacht ist. Es spricht für das Alter der Aufzählung, daß die Zulassungsbeschränkungen für den Tempelbesuch keine religiöse Klausel über die Schuld enthalten. Sie ist noch kein Thema der Psalmtheologie. Der Abschluß der Antwort ist nicht in Korrespondenz zu den Eingangsfragen formuliert („Wer darf hinauf" - „Der darf hinauf ..."), so daß ein als Ritual vorgestellter Wechsel von Laienfrage und priesterlicher Belehrung störend unvollständig bliebe. Darüber hinaus würde auch der Inhalt von V. 5 einen rituell gestalteten Einlaß in den Tempel sprengen. Was im Blick auf V. 4* allenfalls noch vorstellbar wäre, wird angesichts der theologisch gewichtigen Aussage in V. 5 endgültig unwahrscheinlich. Sie handelt nicht mehr von der ethischen Qualifikation des Tempelbesuchers, sondern von Segen und Gerechtigkeit als der gnädigen Imputation Gottes, die weder als Verheißung noch als Zuspruch ins Tempeltor, sondern in den Tempel selbst gehört. Für ein Einlaßritual wäre die Botschaft von V. 4 f. um vieles zu groß, denn sie als in Ps 15, denn sie ergehen angesichts des „Heulens und Zähneklapperns" der D'Kan „Sünder" und O'DJii „Ruchlosen" auf Zion. Die aus Ps 15,1 bekannte Doppelfrage ist in Jes 33,14 vom Weilen im Heiligtum zum Weilen in der Nähe der Höllenstrafen umgeschrieben worden. Verständlich, daß denjenigen, der sich durch Halten der nochmals radikalisierten ethischen Forderungen qualifiziert hat (Jes 33,15), Höheres erwartet: nicht mehr nur das Wohnen (pp) „auf deinem heiligen Berge" (Ps 15,1), sondern das Wohnen (p®) „in den Höhen" (D'ans, Jes 33,16). 14 Zu D'B3 'pJ „der unschuldiger Hände ist" vgl. das Waschen der Hände in Unschuld Ps 26,6; 73,13; vgl. ferner P s 7 , 4 ; Hi 9,30; 16,17; 31,7 u.ö. und die „schmutzigen Hände" Ps 9,17. Zu aal» na „der reinen Herzens ist" vgl. Ps 73,1; man wird ihn ohne falsche Vereinnahmung zu der Gruppe zählen dürfen, die häufig die Bezeichnung ai> HP' „die redlichen Herzens sind" trägt, P s 7 , l l ; 11,2; 32,11; 36,11; 64,11; 94,15; 97,11; vgl. 119,7; 125,4; u n s ai> „reines Herz" Ps 51,12; vgl. auch Ps 73,13; 78,72; 101,2. Zu naia^ ya®j κίη „der nicht falsch geschworen hat" vgl. die zahlreichen Psalmstellen über das falsche Reden: 5,7; 10,7; 17,1; 34,14; 35,20; 36,4; 38,13; 43,1; 50,19; 52,6; 55,12. 24; 109,2; vgl. auch Prov 12,17 u.ö.

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ist in äußerster Konzentration geradezu der ganze theologische locus „De homine coram Deo", d. h. in seinem Heiligtum. Dabei muß das Verhältnis von ethischer Qualifikation des Beters (V. 4*) und Gabe Gottes (V. 5) genau erfaßt werden. Zwar stehen beide Sätze zweifellos im Verhältnis von Voraussetzung und Folge, doch nicht in der Weise, daß die Voraussetzung die Folge präformiert. V. 5 sagt nicht, wie zu erwarten gewesen wäre: Wer sich den ethischen Normen entsprechend verhält, der ist in den Augen Jahwes gerecht und wird von ihm Segen empfangen. Vielmehr ist der ethisch qualifizierte Beter derjenige, der noch heillos ist und alles vom „Gott seines Heils" zu empfangen hat: Segen und πρτχ „Gerechtigkeit", was man hier ohne falschen Klang auch mit „Rechtfertigung" übersetzen könnte 15 . Voraussetzung und Folge sind theologisch ganz ungleichgewichtig. Der Psalm kennt keine Rechtfertigung des Gottlosen, sondern erklärt das jahwegemäße Verhalten zur conditio sine qua non, ohne ihr den Rang einer ίδια δικαιοσύνη zu geben. Denn die erfolgreich bestandene ethische Prüfung endet nicht mit dem Gerechtigkeitszertifikat. Vielmehr kommt die rechtfertigende Gerechtigkeit von Gott allein, nicht aus der Voraussetzung ableitbar, sondern gratuito. Voraussetzung und Folge stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Der Dichter will jedoch nicht bei der Frage nach dem Menschen vor Gott stehenbleiben, sondern drängt entschieden weiter ins Zentrum: zur Gottesfrage (dritter Teil: V.7-10). Dieser überlegte inhaltliche Aufbau sollte davor warnen, in Ps 24 zwei bzw. drei ursprünglich selbständige Einheiten erkennen zu wollen 16 . V. 1 f.* und V. 3-5* - obwohl unter Verwendung von Traditionselementen entstanden - sind offensichtlich auf V.7-10 hin komponiert worden und folglich nie selbständig gewesen. Anders V.7-10 selbst. Dieser Abschnitt ist eine in sich abgeschlossene, durchaus selbständig vorstellbare Liturgie, die der Dichter vorgefunden und die ihn zur Komposition seines Psalms durch Vorschaltung von zwei Abschnitten angeregt hat. Dabei hat er seinen eigenen Teil formal deutlich von dem überkommenen Text abgesetzt. Der erste und zweite Teil sind (gegenüber den vorgegebenen Trikola) in Bikola komponiert und um eine (zweiter Teil) bzw. zwei Zeilen (erster Teil) kürzer als der dritte Teil, so daß der in ihm liegende inhaltliche Schwerpunkt auch äußerlich sichtbar ist. Das im dritten Teil vorgefundene, liturgisch 15

Vgl. Olshausen S. 131 und Duhm 2 S. 101 f., wobei letzterer sachgemäß übersetzt („Rechtfertigung") und unsachgemäß kommentiert („göttliche Anerkennung der Rechtschaffenheit durch das äußere Wohlergehen und die Hilfe Gottes"). 16 Die Aufteilung in zwei selbständige Einheiten (A: V. 1-6, B: V . 7 - 1 0 ) geht auf Ewald (1/2 S. 16ff.) zurück, in drei selbständige Einheiten (A: V. 1 f., B: V . 3 - 6 , C: V . 7 - 1 0 ) auf Duhm 1 (S.75; Duhm 2 S. lOOff.).

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komplette Frage-Antwort-Schema hat der Dichter im zweiten Teil imitiert, aber nicht als weiteres, in sich geschlossenes liturgisches Stück ausgeführt, um kein die Proportionen störendes Gegengewicht zur Liturgie im dritten Teil zu schaffen. Worin aber liegt der Sinn der Liturgie mit ihrer Frage nach (dem Namen) Gott(es)? Da (Tempel-)Tore sich zum Einzug des „Königs der Ehren" weit öffnen sollen, ist häufig an eine Ladeprozession gedacht worden, zuweilen auch an die Uberführung der Lade zum Zion: „Dies ist deutlich das festlied womit die bundeslade nach Sion gebracht, dort ihren festen siz bekam 2 Sa. c. 6; und hat völlig die frohe heiterkeit und unschuld, die bildreiche einfalt und hohe naturpoesie der Davidischen zeit" 17 . Kraus, der den Psalm als Einheit auffaßt, sieht in ihm Stücke einer Liturgie versammelt, „die den gottesdienstlichen Akt der Lade-Einführung in das Heiligtum begleitet": Bekenntnis der Festgemeinde (V. lf.), Tora-Liturgie (V.3-6) und Tor-Liturgie (V.7-10) 18 . Sosehr der liturgische Charakter von V.7-10 auf der Hand liegt, sowenig hat der Versuch Aussicht auf Erfolg, den „Sitz im Leben" der Frage-Antwort-Liturgie noch ermitteln zu können. Der Gedanke an die Lade ist zwar wegen des Gottesnamens Jahwe Zebaoth verständlich, aber bei weitem nicht so selbstverständlich, wie es in den meisten Kommentaren vorausgesetzt zu sein scheint. Denn die Lade, mit der nur für die begrenzte Zeit ihrer wichtigen religiösen Funktion im Lande (von der Landnahme bis zur älteren Königszeit) der Name Jahwe Zebaoth verbunden gewesen ist, wird überhaupt nicht erwähnt. Schließlich muß es verwundern, daß die ganze Liturgie „vor den Pforten des Heiligtums" - wenn auch auf verschiedene Örtlichkeiten des Tempels aufgeteilt - ihren „Sitz im Leben" gehabt haben soll19, so daß der Gottesdienst in allen wichtigen Teilen (Segens- und Heilszuspruch in V. 5, Proklamation des Gottesnamens in V. 10) zwar auf dem Tempelareal stattfindet, aber nicht dort, wo er eigentlich hingehört, im Tempel selbst. Trotz der Aufforderung an die Tempeltore gehört die Liturgie ihrem theologischen Kern nach, der Frage nach dem Namen und damit dem Wesen Gottes, in den innersten Bereich des Tempels, ohne daß noch auszumachen wäre, welche agendarische Position ihr einst zugefallen ist. Indessen ist ihre Funktion im Psalm, ihr „Sitz in der Literatur", klar 17

Ewald 1/2 S. 16; als Beispiel aus jüngster Zeit vgl. Jeremias, Königtum S . 6 0 f f . Kraus S.343. 19 Vgl. Kraus S. 343 ff. Wieso Ps 24 „die Periode erster Übertragungen amphiktyonischer Ladetraditionen in den Bereich jebusitischer Kultüberlieferungen" widerspiegeln soll (ebd. S.348), ist schwer begreiflich. Unvoreingenommen betrachtet, fällt in V . 7 - 1 0 die Abwesenheit alles dessen auf, was als genuin israelitische Tradition gelten könnte bis auf den Jahwenamen. 18

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ersichtlich. Wird die Frage nach dem vor Gott gerechten Menschen in unterweisendem Stil beantwortet, gerät die Frage nach Gott zum Gotteslob. Obwohl Ps 24 gewiß als ganzer Hymnus sein soll, findet hymnische Diktion erst in V.7-10 zu Form und Sprache: im repetierend-klimaktischen Parallelismus membrorum und in (durch Stammesmodifikation gesteigerten) Imperativen in V. 7 und 9, gerichtet an die - halb personifizierten, halb mythisierten - Pforten des Tempels (DD'ffin „eure Häupter"), welche an der Sphäre des oViy „der Ewigkeit" Anteil haben, in der Jahwe selbst ist (Ps 93,2b. 5b), wohnt und thront (Ex 15,18; l K ö n 8,13b; Ps 29,10; 93,2a) 20 . Zwei konvergierende Bewegungen durchziehen den ganzen Psalm. Die eine von unten nach oben: von (den Fundamenten) der Erde hinauf zu Jahweberg und Heiligtum, von dort zu den sich für den Ehrenkönig aufmerksam erhebenden Pforten, welche die Grenze zwischen Erde und Himmel überragen. Die andere von außen nach innen: vom Erdkreis hinein in den heiligen Bezirk (als ersehnter Bleibe des Menschen, vgl. Ps 23,6; 27,4) und weiter mit dem einziehenden „König der Ehren" ins Zentrum selbst, wo er unter seinem ureigensten Namen angerufen werden soll. Doch welcher ist das? Der dritte Teil verweilt bei dieser Frage ausführlich, weil Namenskunde Wesenskunde ist, die sich durch eine Reihe von Namen auch gleichsam von außen dem Wesenskern nähert. In der sich steigernd wiederholenden Liturgie mit Aufforderung, Frage und Antwort (V.7f. und V.9f.) ist es das Epitheton "riaan -|Va „König der Ehren", das als schon bekanntes vorausgesetzt (vgl. V. 7 b. 9 b) und in der Funktion des cantus firmus für die hymnische Namenskunde nicht weniger als fünfmal in vier Trikola erklingt (V. 7-9 je einmal, V. 10 zweimal). Es ist in seinen beiden Elementen, der Königsprädikation und der naa-Eigenschaft bzw. -Zueignung, von dem kanaanäischen Gott El entliehen, wie bereits aus Ps 29 bekannt 21 . Der „König der Ehren" bekommt nun dreimal einen Namen (V. 8 zweimal, V. 10 einmal), der dreimal derselbe ist: Jahwe, begleitet durch variierende Epitheta. In V. 8 ist es der kriegerische Wesenszug Jahwes, der durch nry man „Recke und Held" und, repetierend-klimaktisch, durch nanV» n a i 20 Die Suche nach einem „Haupt" äquivalenten Bauteil in einer Toranlage ist deplaciert. Das „Heben des Hauptes" ist Aufmerksamkeitsgestus, genauso mythisch personifiziert gesagt, als wenn in akkadischen Texten Tempel ihre Häupter bis an den Himmel erheben (vgl. C A D N/II S. 108 s.v. nasü A 6 resu d - f ) . Und die oiny >πηο „ewigen Pforten" dürfen nicht dazu verführen, den Toren ein hohes Alter zuzusprechen und daraus womöglich Rückschlüsse auf die Datierung des Psalms gewinnen zu wollen, oiny ist (Anteilgabe an) Gotteseigenschaft und damit Absage an die Dimension der Zeit (vgl. auch Jeremias, Königtum S.61). 21 S.o. S. 172; vgl. W.H.Schmidt, Königtum S.23ff.

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„kriegerischer Held" zu erfassen versucht wird. Dabei ist der Gedanke an den Gott der Jahwekriege in diesem kanaanäisch tingierten Kontext kaum leitend gewesen 22 . Vielmehr wird sich Jahwe die kriegerischen Epitheta von dem Götterkämpfer Baal genommen haben, so daß in 24,7-10 eine ähnliche Einbettung von Charakteristika des Baal in solche des El vorliegt wie in Ps 2923. In weiterer Analogie zu dem genannten Ps 29, aber auch zu Ps 93 und mit Einschränkungen ebenso zu Ps 48, ist es der Jahwename allein, der den kanaanäischen Inhalten die interpretatio israelitica verleiht. Anders gesagt: Wo der Jahwename erklingt, geschieht Wesenskundgabe des Gottes Israels, nie Wesenspreisgabe, selbst wenn er sich so sehr in die kanaanäischen Tempel hineinwagt, daß Israel mit seinen spezifischen Jahwe-Erfahrungen an den Tempeltoren zurückbleibt - nicht unwillig, sondern in dem Bewußtsein, daß Israels Sache bei Jahwe auch in kanaanäischen Tempeln in besten Händen ist. Indessen geht es in Ps 24 nicht mehr um kanaanäische Tempel im allgemeinen, sondern um das Jerusalemer Heiligtum mit seiner kanaanäischen Vorgeschichte im besonderen. Wahrscheinlich in voller Übereinstimmung mit Jerusalemer Tradition (vgl. Jes 6,3; Ps 48,9) erklingt in 24,10 als höchste Namenskundgabe nicht der Jahwename allein, sondern erweitert um ein altes, in kanaanäischer Vorstellung gedachtes, aber schon früh israelitisiertes Element, das geradezu Bestandteil des Eigennamens geworden ist: Jahwe Zebaoth. Kunstvoll wird auf die Kulmination dieser Namensnennung hingearbeitet. In V. 7-10 hat nämlich jedes Kolon gleichmäßig drei Hebungen, mit Ausnahme der beiden Kola in V. 10 a. V. 10aa ist bewußt mit vier Hebungen überdehnt, um dann in V. 10 aß zweihebig allein den Namen Jahwe Zebaoth folgen zu lassen. So steht am Anfang und Ende des Psalms gewichtig der Name Jahwe (Zebaoth). Die formale Umklammerung soll den theologischen Anspruch von der weltumspannenden Wirklichkeit dieses Gottes signa-

" Vgl. Mettinger, StTh 39 S.25. 23 S.o. S. 178; den Tatbestand der Mischung von El- und Baal-Charakteristika verkennt Cross bei seiner Applikation des „Canaanite myth-and-ritual pattern" völlig (Myth S.93f.). Vergleichbar mit den in V. 8 genannten Titeln für Jahwe sind die ugaritischen Baal-Epitheta aliyn „der Siegreiche" und aliy qrdm „der Stärkste der Helden", vgl. Kapelrud, BRST S.47ff. 62. 98ff.; T O I S.74f.; die alttestamtentlichen Belege, die ähnliche Epitheta wie Ps 24,8 enthalten, weisen alle keine Beziehung zur Tradition der Jahwekriege, wohl aber zum Jerusalemer Tempel auf (vgl. Ex 15,3, s.o. S. 104; Dtn 10,17; Jer 32,18; VK TDJ Jes 9,5; 10,21); gegen die Verbindung mit dem ugaritischen El, wie sie Cross (Myth S.40) u.a. vorgenommen haben, mit Recht Caquot, FS Terrien S.28.

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lisieren, der in ihr heilsam gegenwärtig ist (vgl. V. 5), ohne sich in ihr zu verlieren24. War zu Beginn der Auslegung festgestellt worden, daß die drei Teile des Psalms treffend mit „De mundo", „De homine" und „De Deo" zu titulieren seien, so ist angesichts des weltumspannenden Anspruches nunmehr evident, daß die drei Titel exemplarisch für das Ganze stehen und somit in diesem Psalm nichts Geringeres als eine kleine tempeltheologische Dogmatik vorliegt. Sie geht den Weg zurück, den Jahwe zuvor vom Heiligtum aus zum Menschen und in die Welt gegangen ist. Zeichnet sie sich somit durch ein induktives, erfahrungsorientiertes Vorgehen aus, weiß sie doch sehr wohl darum, daß Erfahrung - zumal Glaubenserfahrung - nichts allfällig Neutrales, sondern ein Geschenk ist, weshalb der locus „De mundo" bekenntnishaft beginnt: „Jahwes ist die Welt und ihre Fülle ...". Und sie endet dort, wo menschliche Erkenntnis nur noch lobend nach Gott fragen kann, um sich in der Namensoffenbarung seine Gegenwart zusagen zu lassen: „Jahwe Zebaoth, Er ist der König der Ehren". Es ist durchaus bemerkenswert, daß in das dogmatische Kompendium vorexilischer25 Psalmtheologie der König nicht eigens aufgenommen worden ist. Wo nach der theologischen Quintessenz gefragt wird, ist der locus „De homine" wichtiger als der „De rege". Indessen ist das Verhältnis von „Thron und Altar" im Milieu des vorexilischen Tempels von nicht geringer Bedeutung. Welche religiöse Stellung dem König dabei zukommt, wird im folgenden zu untersuchen sein.

5. Der König von Jahwes Ehren: Ps 21 2a 2b

J a h w e , ob deiner M a c h t erfreut sich der K ö n i g , ob deiner H i l f e - wie „jubelt" 1 er laut!

3a 3b

W a s sein H e r z begehrte, hast du ihm geschenkt; w o r u m seine Lippen baten, hast du nicht abgeschlagen.

24

Vgl. die ebenso sorgfältig gewählten und placierten Gottesnamen in Ps 48, s.o. S.

194. 25 Man kann das Alter des Psalms selbstverständlich nicht so exakt bestimmen, wie Cross es immerhin in bezug auf V . 7 - 1 0 zu kennen glaubt: „a tenth-century B . C . liturgical fragment" (Myth S . 9 1 ) . Doch die Nähe zu Jes 6 , 3 und den obengenannten Psalmen läßt als Entstehungszeit keine andere Periode als die vorexilische wahrscheinlich sein. 1 Bei der V e r b f o r m ist mit dem Ketib das Imperfekt und nicht nach dem Qere der Jussiv zu lesen.

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

4a 4b

Ja, du begegnest ihm mit Segen und Glück 2 , setzest auf sein Haupt eine goldene Krone.

5a 5b

Leben, um das er dich bat, hast du ihm geschenkt, Länge der Tage auf immer und ewig.

6a 6b

Groß ist seine Ehre durch deine Hilfe, Hoheit und Pracht legst du ihm an.

7a 7b

Ja, du machst ihn zum Segen auf ewig, ergötzest ihn mit Freude „von" deinem Antlitz 3 .

8a 8b 9a 9b

209

Denn der König vertraut auf Jahwe, durch die Huld des Höchsten wird er nicht wanken. Deine Hand wird alle deine Feinde finden, deine Rechte wird deine Hasser erreichen.

ίο aa Du machst sie einem Flammenofen gleich; ίο aß wenn du erscheinst 4 , ίο ay Jahwe vertilge sie in seinem Zorn, 10 b „läßt" du sie vom Feuer „verzehren" 5 . 11 a üb

Ihre Frucht wirst du aus dem Lande ausrotten, ihren Samen unter den Menschen.

12 a 12b

Ja, haben sie (auch) gegen dich Böses geplant, Tückisches ausgeheckt, obsiegen werden sie nicht.

13 a 13b

Denn du wirst sie in die Flucht schlagen 6 , mit deiner Bogensehne auf ihr Angesicht zielen.

Ha 14b

Erhebe dich, Jahwe, in deiner Macht, (dann) wollen wir singen und spielen deiner Kraft.

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.316)

2 Wörtlich: „du kommst ihm mit Segnungen an Gutem entgegen"; zu ähnlichen Übersetzungen wie die oben vorgeschlagene vgl. Hupfeld/Riehm II S. 31; Baethgen S. 59; Buhl S. 147. 3 Es gibt kaum eine andere Möglichkeit, als der Lesung des Targums zu folgen, der die hebräische Präposition rinn „von" (im Sinne des Ausgangspunktes oder der Veranlassung) entspricht. Die übliche Ubersetzung „vor deinem Antlitz" ist nicht einmal aus M T zu rechtfertigen, da das Moment der Verursachung nicht zum Ausdruck kommt. 4 Wörtlich: „zur Zeit deines Angesichtes"; zum Erscheinen des Königs, formuliert mit

•'3D, v g l . 2 S a m s

17,11.

Zur Verdeutlichung: V. 10 aß und 10b bilden zusammen das zu V. 10 act gehörige Kolon. Das Waw vor dVskti ist redaktionsbedingt; zur Umpunktierung s.u. S.211 f. ' Wörtlich: „denn du wirst sie zum Rücken machen."

210

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Die rekonstruierte Grundfassung des Psalms: 2a 2b

Jahwe, ob deiner Macht erfreut sich der König, ob deiner Hilfe - wie „jubelt" er laut!

3a 3b

W a s sein H e r z begehrte, hast du ihm geschenkt, worum seine Lippen baten, hast du nicht abgeschlagen.

4a 4b

Ja, du begegnest ihm mit Segen und Glück, setzest auf sein Haupt eine goldene Krone.

5a 5b

Leben, um das er dich bat, hast du ihm geschenkt, Länge der T a g e auf immer und ewig.

6a 6b

Groß ist seine Ehre durch deine Hilfe, Hoheit und Pracht legst du ihm an.

7a 7b

Ja, du machst ihn zum Segen auf ewig, ergötzest ihn mit Freude „von" deinem Antlitz.

9a 9b

Deine H a n d wird alle deine Feinde finden, deine Rechte wird deine Hasser erreichen.

10 aa D u machst sie einem Flammenofen gleich; lOaßb wenn du erscheinst, „läßt" du sie vom Feuer „verzehren". 11 a 11 b

Ihre Frucht wirst du aus dem Lande ausrotten, ihren Samen unter den Menschen.

12 a 12 b

Ja, haben sie (auch) gegen dich Böses geplant, Tückisches ausgeheckt, obsiegen werden sie nicht.

War im letzten Abschnitt vorausschauend die Wichtigkeit des Themas „Thron und Altar" in der vorexilischen Psalmtheologie des Jerusalemer Tempels betont worden, so erweist sich die Formel angesichts von Ps 21 als unpräzis. Nicht „Thron und Altar", sondern Jahwe und der König stehen im Mittelpunkt dieses und einiger weiterer Psalmen. Beides ist wichtig, will man nicht von vornherein die Interpretation mit einer leicht verzerrenden Perspektive belasten: die Ersetzung der institutionellen Symbole durch die personellen Subjekte und die Umkehrung der Reihenfolge. Bevor in der Auslegung die Begründung dafür gegeben werden kann, muß jedoch geklärt werden, welche ursprüngliche Textgestalt für den Psalm rückzugewinnen ist, weil sie in erster Linie auf das Verhältnis von Jahwe und König hin befragt werden soll. Daß der Psalm in seinem jetzigen Zustand nicht mehr die Grundfassung repräsentiert, ist an manchen Stellen - etwa in V. 10 - gut erkenn-

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

211

bar7. D o c h erweist sich der Weg von den ersten Beobachtungen hin zur kompletten Rekonstruktion des Redaktionsprozesses als schwierig, weil nicht alle literarkritischen Auffälligkeiten durch Kompilations- und Fortschreibungsprozesse bedingt zu sein scheinen. Das gilt vor allem für die sprachlichen und inhaltlichen Doppelungen, die die Abschnitte V. 2 - 4 und V. 5 - 7 aufweisen. Würde man V. 5 - 7 auf eine andere Hand zurückführen als V. 2-4, ergäbe der von weiteren redaktionellen Eingriffen befreite Bestand zwar immer noch einen vollständigen Psalm, aber einen theologisch verarmten, der die Stellung des Königs nur noch blaß konturieren würde. Deshalb wird man beide Teile für die Grundfassung reklamieren und prüfen müssen, ob hinter den Wiederholungen nicht theologische Absicht erkennbar wird. Demgegenüber ist V. 8 leicht als erster redaktioneller Eingriff zu identifizieren. Nach dem mit affirmativem 'D eingeleiteten V. 7 ist derselbe Beginn in V. 8 (vielleicht mit kausaler Nuancierung) schon verwunderlich genug. Es kommt hinzu, daß gegenüber der vorhergehenden Anrede an Jahwe nunmehr von ihm in der 3.ps. gesprochen wird, ein Wechsel, der in hymnischen Texten nicht unbedingt Verdacht erregen muß, sich hier aber mit einer gerade für diesen Vers spezifischen Intention verbindet. V. 8 tritt nämlich bewußt aus der Situation der Anrede, die in V. 9 ff. ihre Fortsetzung findet, heraus, um zu resümieren. Der König ist der umfassenden Begabung durch Jahwes Huld aufgrund seines Gottvertrauens (nun) würdig und wird deshalb nicht wanken. Soviel kann und muß vom König gesagt werden, aber auch nicht mehr, denn der Redaktor will mit V. 8 den Abschluß des Themas „König" markieren, weil er die Anrede in V. 9 ff. weiterhin als an Jahwe gerichtet begreift. Für ihn ist der Psalm deutlich zweigeteilt: V. 2-8 die Begabung des Königs durch Jahwe, V. 9-14 der über seine Feinde siegreiche Jahwe. Daß dieses Verständnis von V. 9 ff. nicht das ursprüngliche war, wird ebenso zu zeigen sein wie die weitere Textauslegung ebenjenes Redaktors. Bereits in V. 10 hat er einen unmißverständlichen Kommentar hinzugesetzt. Im Kontext konsequent durchgehaltener Anrede erfolgt in V. 10ay wieder der Wechsel zur Rede von Jahwe in 3.ps. Der kleine, syntaktisch nicht eingebundene (vom Nachtrag der Kopula in V. 10 b einmal abgesehen) und Zusammengehöriges auseinanderreißende Satz „Jahwe vertilge sie ( = die Feinde) in seinem Zorn!" steht an einer Stelle, die nach Meinung des Redaktors unbedingt einen Hinweis auf ihr (in seinen Augen) einzig mögliches Verständnis verlangte. Denn das „Erscheinen deines Angesichtes" (vgl. V. 10 aß) war ihm nur als Aussage über Jahwe denkbar (vgl. V. 7), womit auch die Jahwe-bezogene Interpretation des Kontextes feststand 8 . Schließlich haben mit großer Wahrscheinlichkeit die Masoreten in V. 10 b das Verb unabsichtlich anders punktiert, als ursprünglich gedacht. Sie haben was grammatisch möglich ist - Vit „Feuer" als Subjekt zum vorangehenden 7 Eine angeblich passende Struktur für den gesamten Psalm zu finden, haben keine Schwierigkeiten Quintens, Bibl 59 S. 516 ff. und Auffret, V T 30 S. 91 ff. 8 Zur Analyse von V. 10 vgl. Buhl S. 150.

212

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Verb (3.ps.f. sg.qal) aufgefaßt, während ursprünglich doch wohl an die 2.ps. m.sg.hi. von i>DK „verzehren", konstruiert mit doppeltem Akkusativ, gedacht war, wodurch sich volle Übereinstimmung mit den Verbformen des Kontextes der Grundfassung ergibt, die erst redaktionell aufgelöst worden ist. Auch der dritte und letzte Eingriff in die Textgestaltung (V. 13 f.) läßt sich gut aus der Intention des bereits bekannten Redaktors verstehen. Bereits in V. 12 wird der Inhalt von V. 9 ff. abschließend gebündelt, so daß die Fortführung in V. 13, durch ein weiteres »3 „denn" eingeleitet und mit konkreten Kampfeshandlungen gegen die Feinde befaßt, die allenfalls im Anschluß an V. 9 sinnvoll placiert gewesen wären, verwundert. Die Absicht des Redaktors ist nicht inhaltlicher, sondern formaler Art. V. 9 ff., nach seiner Meinung der zweite Teil des Psalms, sollen ebenfalls mit einem doppelten 'D-Satz enden, wie es durch seinen Eingriff auch im ersten Teil der Fall ist (V. 7 f.). Daran schließt er seine auf den ganzen Psalm zurückblickende Bitte in V. 14 an, Jahwe möge sich doch so kraftvoll (vgl. V. 2 a) erheben, wie es der Psalm schildert, so daß es den Gläubigen leichter fällt, seine Stärke zu rühmen. In schon bekannter Weise (vgl. Ps 29,11 u. ö.) spricht hier durch den Redaktor die angefochtene Gemeinde („wir" in V. 14 b), die neidvoll-wehmütig die einstigen Segens- und Machterweise Jahwes liest und ihn auch in ihrer eigenen, offenbar dürftigen Zeit zu solchem Handeln veranlassen möchte. Die abschließende Bitte ist ein weiterer Beweis dafür, daß auf redaktioneller Ebene der ganze Psalm als an Jahwe gerichtet gelesen wurde, aus naheliegendem Grunde, denn zur Zeit der Redaktion gab es keinen König mehr'. V o n diesen geschichtlichen Voraussetzungen sind die der Grundfassung des Psalms klar zu unterscheiden. Sie ist zweifellos auf einen irdischen König, genauer: angesichts des formularhaften Charakters auf irdische Könige gemünzt, weshalb sie am ehesten in die vorexilische Zeit gehören wird. Als formularhaft ist vor allem zweierlei zu bezeichnen. Zum einen die den ganzen Psalm bestimmende Anrede durch eine nicht genannte Person, in V. 2 - 7 eindeutig an Jahwe in Gegenwart des Königs gerichtet, in V. 9 - 1 2 * höchstwahrscheinlich an den König selbst, der nicht explizit genannt wird, weil er, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, bei dem Vorgang selbst anwesend ist. Der Sprecher, der sich an Jahwe und den König wendet, kann kaum ein anderer als ein hoher Priester sein. Er wird nicht eigens genannt, weil seine beiden Reden an dem Ort erfolgen, w o die Identität des Sprechers ohnehin keine Frage ist: im Tempel. Zum anderen sind die Inhalte formularartig allgemein. Was von dem König gesagt und ihm verheißen wird, gilt jedem König, sofern er in die Sukzession der von Jahwe gewollten, also in die Linie der davidi' Die späten theokratisierenden Elemente in P s 2 1 hat Becker (ThPh 52 S.578) zu Recht betont. Doch die ältere zugrunde liegende Tradition ist besser erhalten, als er annimmt.

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

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sehen Dynastie gehört. Ihre religiöse Stellung, von der der politisch-militärische Erfolg abhängig ist, wird in diesem Psalm definiert. Das geschieht in drei Abschnitten. Der erste (V. 2-4) schildert den König als von Jahwe in jeder Hinsicht Begünstigten. Die Hilfe Jahwes, die dem König Grund zur Freude gibt, besteht zunächst einmal darin, daß er ihm seine Wünsche von den Lippen abliest und erfüllt (vgl. V. 3). Das ist ohne spezifisch religiösen Unterton gesagt, wie auch die Segnungen des Königs 10 und die Krönung seines Hauptes fraglos Gaben Jahwes sind, die sich aber ganz und gar irdisch manifestieren. Jahwe stattet den König mit allem aus, was er braucht, um sich vor den Menschen als guter und gottgewollter Herrscher zu legitimieren. Doch damit ist seine spezifisch religiöse Stellung noch nicht bezeichnet. Ihr ist der zweite Teil (V. 5-7) gewidmet, der noch einmal an den Königswunsch anknüpft (V. 5, vgl. V. 3), ihn nun aber konkretisiert und seine eigentümliche Erfüllung durch Jahwe mitteilt. Der König bittet um Leben, was nicht einfach verengend als Wunsch nach langem Leben interpretiert werden darf. Es ist vor allem die Bitte um Bewahrung in der Lebenssphäre, über die Jahwe herrscht, denn über das Reich des Todes mit seinen zahlreichen Vertretern und Manifestationen (Feinde, Finsternis, Krankheit, Grube, Unterwelt etc.) hat er keine Macht. Nach der unmittelbaren Erfüllung des Wunsches durch Jahwe (V. 5 a) variiert das zweite Kolon (V. 5 b) überraschend nicht nur das bereits im ersten (V. 5 a) Gesagte, sondern qualifiziert theologisch, was der überschwenglich schenkende Gott Jahwe gibt. „Länge der Tage auf immer und ewig" (V. 5 b) ist ebensowenig nur die Verheißung hohen Alters, wie der Königswunsch allein auf langes Leben zielt. Vielmehr zieht Jahwe mit dieser Wunscherfüllung das Leben des Königs so entschieden in seine eigene Nähe, wie es der König nicht zu erbitten gewagt hätte. Denn „Länge der Tage" ist Ewigkeit, Zeit, die nicht vergeht, die anfangs-, ausdehnungs- und endlose Allgegenwart Jahwes selbst (vgl. Ps 23,6; 93,5). An nichts Geringerem als an dieser Qualität erhält der König Anteil. Als Mensch, der er ist und bleibt, zieht Jahwe ihn nur dialektisch faßbar - in seine allernächste Nähe 11 . Und dasselbe Handeln Jahwes, seine nyitr „Hilfe" (V.2. 6), be10

Der Plural von nam ist vornehmlich in poetischen Texten früh und spät belegt; neben Ps 21,4. 7 vgl. Gen 49,25f.; Dtn 28,2; Mal 2,2; Ps 84,7; Prov 10,6; 28,20. 11 Vgl. Jenni, ZAW 65 S. 8 ff. (dort weitere Belege), der allerdings auch Ps 21 aus übergeordneten Gesichtspunkten heraus in den Gegensatz von altorientalisch-zyklischer Zeitvorstellung und alttestamentlich-geschichtlichem Zeitbewußtsein gestellt sieht und deshalb hier von „überschwenglich hyperbolischem Gebrauch von o^iy" reden will (S. 9). Der Gegensatz ist jedoch an Ps 21 herangetragen, welcher sich ganz aus altorientalischer Denkungsart verstehen läßt, für die Anteilgabe an der Ewigkeit keine sprachliche Hyperbel, sondern ein dialektischer Sachverhalt ist.

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

schreibt auch V. 6. Des Königs "Tins „Ehre, Herrlichkeit" erhält Jahwe stets groß und legt ihm n m 7ΊΠ „Hoheit und Pracht" an. Die Übersetzung dieser theologisch gewichtigen Begriffe ist wie immer schwierig, was auch aus den Versuchen von LXX und selbst Vulgata iuxta Hebraeos hervorgeht, die sich nicht anders zu helfen gewußt haben, als 1133 und im jeweils mit δόξα bzw. gloria wiederzugeben. Es sind Be-( griffe, die Jahwes Nähe, ihn selbst, auf herrscherlich-machtvolle und herrlich-prachtvolle Weise anzeigen, woran der König überreichen Anteil bekommt. Kleidet sich Jahwe nach Ps 104,1 in im und ττπ, so gibt er nach Ps 21,6 gleichsam Herrschergewänder an den König ab, indem er nun ihm im und n n anlegt. Aus der Identität der Begriffe bei Jahwe und König zu folgern, daß Tin und ΠΠ als ursprünglich königliche Attribute sekundär auf Jahwe übertragen worden seien12, hieße, das Alte Testament profaner zu machen, als es wirklich ist. Im alten Bestand von Ps 29 und 104 gehören die Herrlichkeitsprädikationen zur Sphäre Jahwes, und in Ps 21 ist es ebenfalls Jahwe, der den König an seiner Herrlichkeit teilhaben läßt, so daß das theologische und gleichfalls traditionsgeschichtliche Begründungsgefälle eindeutig ist. Es kann nicht verwundern, daß ein wie der König von Jahwe Gesegneter zum Segensmittler für andere wird (V. 7). Darin gipfelt der zweite Teil, der zugleich noch einmal alles Vorhergehende zusammenfaßt. Der König kann und soll weitergeben, was er von Jahwe empfangen hat: ίΐΐ3Ί3 „Segen" (V. 4 und 7), und zwar so, daß die Weitergabe nicht als bloß königlich-menschlicher Gunsterweis mißverstanden werden kann, sondern so, daß es „auf ewig" geschieht (V. 7, vgl. V. 5), also transparent auf den göttlichen Ursprung der Gabe hin. Bezeichnenderweise wird in V. 7 nicht gesagt, für wen der König zum Segen werden soll. Wie wohl selbstverständlich an das eigene Volk gedacht werden muß, ist es ebenso selbstverständlich, daß das Volk nicht explizit genannt wird, weil alte Psalmtheologie an ihm nicht eigens interessiert ist. Auf jeden Fall ist eine universalistische Interpretation von V. 7 - der König als Segen für die Völker - mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen, obwohl der Vers in dieser Interpretation seine bekannteste Wirkungsgeschichte in Gen 12,3 und den damit zusammenhängenden Belegen gehabt hat (vgl. auch Ps 72,17). Doch ehe man den Blick von dem König, der Segen an das eigene, existente Volk weitergibt, zum Patriarchen Abraham mit Segen für alle Geschlechter der Erde, aber ohne eigenes Volk lenkte, mußte noch viel Zeit vergehen 13 . 12

Vgl. Gunkel S.410f. 447. Vgl. zu Gen 12,1-3 die vorzügliche Analyse von Köckert, Vätergott S. 248 ff., v. a. S.297f. 13

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

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Schließlich ist das unterschiedliche theologische Gewicht der Segensvermittlung in beiden Texten zu beachten. Hat sie in Gen 12 geradezu programmatischen Charakter, nimmt sie im Abschlußvers des zweiten Teiles von Ps 21 zwar eine wichtige Stellung ein, ohne jedoch den Abschnitt zu prägen. Das geschieht vielmehr durch die überschwengliche Begabung des Königs durch Jahwe, die folgerichtig auch in V. 7 zuletzt zu Wort kommt: „du ergötzest ihn mit Freude ,νοη' deinem Antlitz". Selbst die Freude des Königs (vgl. V. 2) kommt von Jahwe, und zwar von seinem Antlitz, womit das Milieu des Tempels wieder ins Spiel kommt, welches erlaubt, die Teilgabe an der Gottesnähe so konkret wie möglich vorzustellen, ohne Jahwe selbst mit unangemessenen Identifikationen zu nahe zu treten. Doch wagt sich der Psalmdichter zur Heraushebung des Verhältnisses Jahwe - König allemal weit vor. Der dritte Teil (V. 9-12*) fährt im Anschluß an die beiden vorausgehenden Abschnitte mit der Anrede eines „Du" fort, das nun aber nicht mehr Jahwe, sondern den König selbst meint, denn die Verheißung des Sieges über die Feinde ist als Zuspruch für Jahwe kaum, für den König hingegen sehr sinnvoll. Gleichwohl ist, wie bereits gezeigt, der dritte Teil in redaktioneller Sicht als an Jahwe gerichtet verstanden worden - aus naheliegenden Gründen. Denn der Dichter der Grundfassung unternimmt nichts, um dieses Mißverständnis wirksam auszuschließen, so daß er es möglicherweise sogar theologisch nicht ohne Absicht toleriert hat. Der erste und zweite Teil einerseits und der dritte Teil andererseits sind nämlich sehr eng aufeinander bezogen. Spricht der Priester jene beiden zu Jahwe gewandt in Stellvertretung für den König, spricht er diesen zum König gewandt in Stellvertretung für Jahwe 14 . Die umfassende Begabung des Königs durch Jahwe mündet ein in die Verheißung erfolgreicher Herrschaft, welche sich im alten Orient in erster Linie immer in der siegreichen Behauptung gegen die Feinde manifestiert. Wer Freude von Jahwes Angesicht empfangen hat (vgl. V. 7), kann sein königliches Angesicht für die Widersacher in verheerender Weise erscheinen lassen (vgl. V.10*). Es ist abwegig, den dritten Teil mit einer von den ersten beiden unterschiedenen speziellen Situation im Leben des Königs verbinden zu wollen. Als solche ist bei den älteren Kommentatoren die Übermittlung eines Orakels an den in die Schlacht ziehenden oder aus ihr siegreich heimkehrenden König beliebt 15 . Der dritte Teil ist jedoch nicht weniger

14

Vgl. Beaucamp I S. 106. Häufig in Verbindung mit Ps 20; vgl. Ewald 1/2 S. 84 f. (obwohl er die eigentliche Veranlassung für den Psalm in der „feier des königlichen geburtstages" erkennt); Olshau15

216

Jahwe, der Herr seines Heiligtums

theologisch grundsätzlich als die ersten beiden und insofern kaum auf eine von diesen unterschiedene Situation hin konzipiert. Er hält fest, daß der dermaßen in die Jahwenähe gestellte König nicht entrückt auf Wolken dahinschwebt, sondern in seiner Herrschaft bedroht ist wie die Herrschaft Jahwes selbst (vgl. 93,3 f.) oder die Gottesstadt (vgl. 48,5 ff.). Der König muß kämpfen, aber er darf es immer unter der Verheißung tun: „sie werden nie obsiegen" (21,12). Will man überhaupt nach einer Situation suchen, in der der Psalm gesprochen worden ist - ein gewagtes, aber angesichts seines agendarischen Charakters gewiß kein illegitimes Unterfangen - , so wird man in Anbetracht seines theologisch grundsätzlichen Inhaltes am ehesten an die (jährliche Feier der) Inthronisation des Königs zu denken haben 16 . Muß das auch Spekulation bleiben, steht doch das Wichtigere fest, daß der König nach Ps 21 Weihen empfängt, die ihn beträchtlich über alle Menschen, selbstverständlich auch Priester, in die Jahwenähe emporheben. Wie unerträglich, vielleicht sogar blasphemisch späteren Kritikern des Königtums diese Vorstellung gewesen sein muß, läßt sich der Erzählung von Salomos Traum zu Gibeon entnehmen (1 Kön 3,4 ff.), die sich wie eine Korrektur des Psalms liest. Die Geschichte hat eine knappe vordeuteronomistische Grundlage, die alle in diesem Zusammenhang interessierenden Elemente enthält. Indessen dürfte ihre Entstehung aufgrund ihres gebrochenen Verhältnisses zur Institution des Königtums dem Exil - wenn überhaupt - nicht wesentlich vorausliegen 17 . Im Traum - man beachte die veränderte spiritualisierte Kommunikationssituation - bittet der im Laufe der Jahrhunderte immer weiser gewordene Salomo beim Königswunsch nicht um Leben, sondern um ein „hörendes" bzw. „weises und verständiges Herz" (V. 9. 12), um das Herrscheramt meistern zu können. Jahwes Wohlgefallen an diesem Wunsch wird ausdrücklich betont, nicht zuletzt in Konfrontation mit den sonstigen Königswünschen, die Jahwe aufgrund ihrer formularhaften Vorformulierung sattsam bekannt und, je häufiger vorgetragen, desto bedenklicher geworden sind (vgl. V. 11). Ihre negative Formulierung spiegelt das spätere Verständnis von Ps 21 wider, als das Königsamt als Thema der Tempeltheologie in Verruf geraten war. Aus dem Wunsch nach „Leben" und seiner überschwenglichen Erfüllung in der sen S. 119; Briggs I S. 183; Kittel S.79 (Das Lied „mag in der Weise des ,Heil dir im Siegerkranz' bei vielen Gelegenheiten verwandt worden sein."); Castellino S.552f. u.a. " Vgl. Baethgen S.59; Duhm 2 S.88; Gunkel S.85; Weiser S.143; Bentzen S. 107; Kraus S.316 (Inthronisationsfeier oder „königliches Zionsfest") u.a.; allesamt mit sehr unterschiedlichen Datierungen und Vorstellungen vom Geschehensverlauf. " Zur Analyse von 1 Kön 3,4 ff. vgl. Veijola, Verheißung S. 146 ff.

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

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„Länge der Tage auf immer und ewig" (Ps 21,5) ist der Wunsch des rechten Weltkindes königlicher Herkunft nach Q ' n 0'»' „vielen Tagen" geworden, aus der göttlichen Begabung mit ΤΠ3 „Ehre, Herrlichkeit", n m Tin „Hoheit und Pracht" (21,6) das Verlangen nach „Reichtum", aus der nicht angeforderten Verheißung des Sieges über die Feinde des Königs (21,9 ff.) die Machtgier, die um "i'a'K »DJ „das Leben deiner Feinde" bitten läßt. Das Königsbild, das aus den Wünschen in 1 Kön 3,11 zu gewinnen ist, entspricht in etwa dem in 1 Sam 8,11 ff. gezeichneten. Hier spricht jemand, der die Gott-König-Theologie des Tempels nicht mehr verstehen wollte oder konnte. Die ursprüngliche Intention von Ps 21 wird nicht einmal mehr schemenhaft sichtbar, so daß man die Divergenz der Standpunkte nur suffizient durch einen beträchtlichen Unterschied der Zeiten erklären kann. Ps 21 steht mit seiner vorexilischen Gott-König-Theologie im Psalter nicht allein, obwohl es verständlicherweise nur wenige Texte sind, die die späteren königslosen Zeiten überdauert haben. Ohne die in jedem Einzelfall schwierige Analyse hier vornehmen zu können, seien Ps 2; 18,33-47; 20?; 45; 72; 110? genannt, die in unterschiedlicher Deutlichkeit einen vorexilischen Grundbestand erkennen lassen18. Lediglich eine Passage aus Ps 45 soll noch kurz betrachtet werden, weil sie das aus Ps 21 gewonnene Bild des Gott-König-Verhältnisses weiter erhellt. Wahrscheinlich ist Ps 45 ein königliches Hochzeitslied, dessen Herkunft aus dem Nordreich wegen der Erwähnung der Elfenbeinpaläste (V. 9) und der Stadt Tyrus (V. 13) immer wieder vermutet worden ist, ohne daß diese Anhaltspunkte sonderliche Evidenz hätten. Auch die Verbindung des Psalms mit einem bestimmten Herrscher kann nicht gelingen, und nicht einmal ist aufgrund von V. 3-5 der Schluß auf einen jungen König, „in vollkommener Jugendschönheit prangend", der nun in seine erste Schlacht zieht, erlaubt, da königliche Schönheit und „Pracht der schimmernden Wehr" Topoi sind, die der " In dieser Hinsicht ist das Urteil über Ps 20 am unsichersten, s. o. S. 160, A. 5 zu Ps 2 s.o. S. 195 A.21. Einige weitere Psalmen sind in der Aufzählung bewußt nicht genannt worden, weil ihre Zugehörigkeit zu den vorexilischen Königsliedern aus inhaltlichen und zeitlichen Gründen unwahrscheinlich ist: Ps 89 (vgl. Veijola, Verheißung passim); 101 (ein „Herrscherspiegel" für jeden Frommen in nachexilischer Zeit); 132 (s.o. S.94f.); 144 (gattungsmäßig undefinierbare, anthologische Dichtung, die Ps 8; 18 u.a. verwertet). Zu den Königspsalmen insgesamt vgl. die guten Darlegungen von Mettinger, King S . 9 9 f f . Mit Recht plädiert er bei den Königspsalmen für einen stark eingeschränkten Gebrauch des Begriffs „Gattung". „Actually, various Gattungen are represented among them, and different situations may be assumed to be their Sitz im Leben. The group is held together more by a common motif, which I should like to define in quite general terms as 'the king and his God', than by a set of formal characteristics" (S. 99); zum Thema der Gottessohnschaft des Königs vgl. ebd. S. 254 ff.

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

theologisch-poetischen, nicht der biographisch-historischen Deutung bedürfen 19 . Der obenerwähnte Passus ist in diesem Zusammenhang von Interesse, weil der Dichter in ihm auf die göttliche Begabung des Königs eingeht: (3)

„Viel s c h ö n e r bist du", als M e n s c h e n es sind; g e g o s s e n ist A n m u t auf d e i n e Lippen; s o hat dich . J a h w e " g e s e g n e t auf e w i g .

(4 f.)

G ü r t e d e i n S c h w e r t an „deine" Lende, d u H e l d ; deiner H o h e i t u n d Stärke « » g e l i n g e es w o h l ; besteige den W a g e n für Wahrheit und « » Recht!

(5)

D e i n e R e c h t e „erzeige" furchtbare T a t e n ; deine g e s c h ä r f t e n P f e i l e - V ö l k e r unter dir; m u t l o s s o l l e n die F e i n d e d e s K ö n i g s w e r d e n 2 0 .

Wie in Ps 21,6 sind auch hier die schwer übersetzbaren Begriffe "Tin „Hoheit" und π π „Stärke" gebraucht (45,4 f.). Würde man diesen Text isoliert betrachten, könnte man den Eindruck gewinnen, im und ττπ seien ganz profane Termini, die auf königliche Macht- und Prachtentfaltung hinweisen 21 . Doch dieser Deutung kann nach den Beobachtungen zu im und n n in 21,6 nur mit Skepsis begegnet werden, die sich bei Berücksichtigung des Kontextes auch schnell als berechtigt erweist. Denn die in 45,3 b konstatierte Segnung des Königs durch Jahwe ist sowohl als Schlußfolgerung aus V. 3 a als auch im Blick auf die Fortsetzung in V. 4-6 gemeint. Wie in kaum einem anderen Psalm laufen hier zwei Bewegungen zugunsten des Königs aufeinander zu. Einerseits die Herabsendung von "Tin und n n aus der Sphäre Jahwes - so weit, daß beide Begriffe nun völlig auf das Kriegsglück des Königs ausgerichtet sind, der aber in seinem Kampf für na« „Wahrheit, Treue" und pHX „Recht, Gerechtigkeit" gleichsam für den Erhalt der Gottesherrschaft streitet (vgl. Ps 89,15). Andererseits die Erhöhung des Königs, dessen Schönheit - Indiz der Zuwendung Jahwes - ihn über alle Menschen " Zitate aus Gunkel S. 189 f. Die Uberlieferung von M T ist mit vielen Fehlern behaftet, so daß bei der Übersetzung Unsicherheiten bestehen bleiben. Folgende Abweichungen von M T mußten vorgenommen werden: statt des unverständlichen 'fl'B'D' in V. 3 die Lesung TTD' 19' „du bist viel schöner"; Austausch des Gottesnamens Elohim gegen Jahwe wegen des elohistischen Psalters; in V. 4 Ergänzung des Suffixes der 2.ps.m.sg. bei "1"P „Lende"; in V. 5 Auslassung des durch Dittographie entstandenen "ρτπι „und deine Stärke"; durch die irrtümliche Einfügung ist wahrscheinlich die folgende Imperativform vom Plural in den Singular geändert worden; Auslassung von may „Demut", eine typisch nachexilische „Sekundärtugend", die die ursprüngliche Zusammenstellung von „Wahrheit und Recht" zerreißt; statt des unverständlichen -pilil die Lesung mm „sie soll erzeigen". 21 So die Deutung von Deissler S. 185. 20

Der König von Jahwes Ehren: Ps 21

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stellt, dessen Rechte so furchtbar für die Feinde ist wie sonst nur noch Jahwes eigene Hand (vgl. Ex 15,6) und dessen Königtum letztlich Abglanz von Jahwes eigenem Königtum ist (vgl. Ps 45,7) 22 . So kennt auch das Alte Testament sakrales Königtum in dem Sinne, daß Jahwe den König in seine Herrlichkeitssphäre einläßt und ihn mit allem, was er selbst ist und ihn umgibt, reichlich beschenkt. Aber die Nähe des Königs zu Jahwe selbst hat nicht die Grenze zwischen beiden unscharf werden lassen. Die göttlichen Herrlichkeitsprädikationen sind in die königliche Sphäre eingegangen, ohne profan zu werden. Der irdische König ist durch Jahwes Segnung über alles Weltliche hinausgehoben, ohne göttlich zu werden. Die Verbindung des einen mit dem anderen ist nur als dialektischer Prozeß vorstellbar, als Vorgang des Dedizierens und Identifizierens, in dem das, genauer: der Nichtidentifizierbare seine Freiheit zu wahren gewußt hat. Es ist bemerkenswert, daß die Königspsalmen bei all ihrem Überschwang in bezug auf die königliche Jahwenähe nie Jahwe selbst als König titulieren oder mit königlicher Metaphorik beschreiben, wie andererseits die Jahwe-Königs-Psalmen auch nie den irdischen König erwähnen 23 . Hier gibt es unsichtbare Grenzen, die - ungeschriebenen Anstandsregeln gleich - in der vornehmen Tempeltheologie nie ausgesprochen, aber allenthalben beachtet worden sind. Man war sich bewußt, daß man sich mit den Aussagen über die sakrale Stellung des Königs auf theologisch empfindlichem Terrain bewegte, und hat es erreicht, von der dem König von Jahwe gewährten Gunst der Nähe so zu reden, daß Jahwes Unnahbarkeit nicht tangiert worden ist. Wie wenig diese Bevorzugung des Königs sein Vorrecht geblieben ist, wird noch zu zeigen sein.

22 Ps 45,7 a ist nachträglich durch Einfügung des Gottesnamens Elohim (seinerseits redaktionell für Jahwe) theokratisiert worden, weil man in der Spätzeit die Aussage über die ewige Gründung des Thrones, bezogen auf den irdischen König, nicht mehr ertrug (vgl. Thr 5,19; ebenso Loretz, Liebeslied S.68f.; anders Noth, TB 6 S.225f.; Mulder, Studies S. 33 ff.). Doch diese Ewigkeitsaussage ist ebenso wie diejenige in Ps 21,5 zu verstehen. Durch den redaktionellen Eingriff in Ps 45,7 a ist eine singulare Mischung von theologischen Aussagen über Gott und den König in ein und demselben Psalm zustande gekommen, welche in den vorexilischen Dichtungen strikt vermieden worden ist. 23 Ps 48 ist nur scheinbar eine Ausnahme. Schließlich sind auch in ihm nicht der König Jahwe und der König auf dem Davidsthron zusammen erwähnt. Vielmehr ist es der „Großkönig" Jahwe (V. 3), dem die ihm völlig wesensfremden „Könige" (Plural! V. 5) gegenübergestellt werden.

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

6. Theologia gloriae Die Psalmen, die in diesem Kapitel analysiert worden sind, haben einen theologischen Zusammenhang eigener Art erkennen lassen, der in den vorhergehenden Kapiteln immer schon bruchstückhaft präsent war, aber anhand der dort behandelten Themen Schöpfung und Heilsgeschichte nicht in Gänze dargestellt werden konnte, weil beide erst sekundär mit ihm in Berührung gekommen sind. Der im Vorhergehenden konturierte theologische Zusammenhang ist durch eine starke räumliche Komponente geprägt: den Tempel auf dem Zion in Jerusalem, in dem und von dem aus Jahwe unverfügbar in der Welt präsent ist. Sosehr von den äußeren Umständen auch alles darauf angelegt ist, Jahwe in Jerusalem „ortsansässig" zu machen, sowenig hat er sich definitiv in den Wohntempel als „goldenen Käfig" locken lassen. Die Zusage seiner Präsenz ist auf verschiedene Weise dialektisch konterkariert durch die Betonung ihrer Kontingenz. Bereits die Sichtweise des Tempels selbst spiegelt dieses Verhältnis wider. Das Gotteslob, das zu Beginn von Ps 29 Jahwe wahrscheinlich in seiner himmlischen Wohnstatt von den D'Vk 'Ja „Göttersöhnen" gezollt wird, mündet ein in dasjenige von „all den Seinen" wahrscheinlich in seinem irdischen Tempel-Palast. Eine eindeutige Abgrenzung der himmlischen gegenüber der irdischen Wohnstatt Jahwes ist jedoch bewußt ausgeschlossen. Das eröffnende Gotteslob der Göttersöhne ist ebensowenig eindeutig auf den Himmel beschränkt wie das abschließende auf den irdischen Tempel-Palast. Die Abgrenzung ist nicht durchzuführen, weil eine sachlich-theologische Identität besteht, die sich striktem Definieren entzieht und Sprache in die Dialektik zwingt. Folglich hat Tempeltheologie ihre eigene Artikulationsweise, welche das, was Jahwe ist und tut, ebensosehr verbirgt wie enthüllt. Sie ist durch eine umfassende Herrlichkeitsterminologie charakterisiert, die den inneren Vorstellungszusammenhang zu konturieren ermöglicht. Mit einer Vielzahl von Wörtern, die den auf semantische Differenzierung bedachten Übersetzer in die Verzweiflung treiben können, wird das eigentlich Unsagbare umkreist. Zu ihnen gehören 7133 „Ehre, Herrlichkeit", im „Majestät", n n „Pracht", aber auch na „Macht", „ K r a f t " u. a. m. Sie umschreiben das herrlich-herrscherliche Wesen und Walten des Gottkönigs Jahwe in den sich darbietenden vielfältigen Aspekten und Bereichen. Die in ihnen waltende theologische Systematik ist durch die Abfolge der Psalmenauslegungen dieses Kapitels anzudeuten versucht worden. Der Einfachheit halber wird im folgenden primär von 1133 „Ehre, Herrlichkeit" gesprochen, wofür aber alle genannten Begriffe und viele

T h e o l o g i a gloriae

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mehr ohne große semantische Differenzen eingesetzt werden können 1 . Der König Jahwe läßt vom himmlisch-irdischen Tempel-Palast aus seinen ΤΊ33 allen, die bei ihm weilen, also zunächst seinem himmlischen Hofstaat, zuteil werden und schenkt damit nichts allenfalls auch Verzichtbares, sondern das schlechterdings Lebensnotwendige, welches Jahwes Umgebung allererst zur Wahrnehmung ihrer Bestimmung instand setzt: zur Rückgabe des Π33 im Gotteslob als Betätigung und Bestätigung des Ti33-Empfanges. Ps 29 dokumentiert diese beabsichtigte Form der hymnischen Existenz, ohne ihre Bedingungen explizit darzulegen 2 . Jahwes Aussendung des 1133 vollzieht sich jedoch nicht als unbehinderter, sondern als erkämpfter Siegeslauf. Jahwes Königsherrschaft ist stets bedrohte Herrschaft, die ihren Anspruch immer wieder durchsetzen muß. Die metaphorisch changierende Rede von den Feinden Jahwes bedient sich vor allem des kanaanäischen Mythenschatzes, der das Motiv des Götterkampfes in vielfältiger Weise variiert. In Ps 29 ist es gleich eine ganze Ansammlung von Feinden mit mythischer Vergangenheit, gegen die „Jahwes Stimme" ( = Jahwe selbst) Π33 „in Macht" und ΤΤΠ3 „in Pracht" siegen muß: die Meereswasser, die Zedern des Libanon, die Jungstiere u.a. (vgl. V. 3ff.). Demgegenüber hat Ps 93 ein klareres Feindbild. Der mit mxj „Hoheit" und ty „Macht" gewappnete König Jahwe stößt auf den von Baal geerbten Rivalen, den Meeresgott Jam (vgl. V . l . 3f.). Schließlich kann es nach dem Zeugnis von Ps 48 auch die Versammlung der weltlichen Herrscher sein, die dem 3Ί „Großkönig" Jahwe den Herrschaftsanspruch streitig machen will (vgl. V. 3. 5 ff.). Sosehr es von vornherein außer Frage steht, daß Jahwe in allen Kämpfen die Oberhand behält, sowenig kann auf das Motiv der Bedrohung einfach verzichtet werden, weil in ihm die religiöse Grunderfahrung aufgehoben ist, daß die prinzipielle Überlegenheit Jahwes und sei1 Zu 1133 vgl. von Rad, T h W N T II S. 2 4 0 f f . ; Westermann, T H A T I S p . 8 0 2 f f . ; Weinfeld, T W A T I V Sp. 23 ff.; zur priester(schrift)lichen Ti23-Theologie vgl. besonders Mettinger, Dethronement S. 80 ff.; zu den analogen Herrlichkeitsphänomenen in der sumerischen und akkadischen Literatur sei noch einmal auf die aufschlußreiche Abhandlung von Cassin (Splendeur) verwiesen. 2 Wie bereits erwähnt, ist die Formulierung von Ps 29,1 f. wörtlich (vgl. P s 9 6 , 7 f . ; 1 Chr 16,28 f.) und abgewandelt rezipiert worden (vgl. Ps 66,2; 115,1). Dabei ist die C o n structus-Verbindung in® 1133 „die Ehre, Herrlichkeit seines N a m e n s " (Ps 29,2; 66,2; vgl. 79,9) von besonderer Prägnanz dafür, wie sich Jahwe als D e u s praesens erfahrbar macht. 1133 und dp sind die leitenden theologischen Vorstellungen, durch die Tempeltheologie diese Erfahrung zur Sprache bringt. Andere Begriffskombinationen haben demgegenüber kompilatorischen Charakter (vgl. Ps 145,5. 11. 12). Die Vorstellung von der hymnischen R ü c k g a b e des Tt33 hat von den Psalmen her bis in die prophetische Literatur hinein gewirkt (vgl. Jes 42,12; Jer 13,16; Mal 1,6; 2,2; zu J o s 7,19 s . o . S . 1 7 2 A.12).

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

ner Königsherrschaft die aktuelle Gefährlichkeit und Macht des Bösen in mythischer und - kaum davon ganz zu trennen - weltlicher Gestalt nicht ausschließt, sondern geradezu herauszufordern scheint 3 . Dabei steht Jahwes Kämpfen und Siegen nicht unter einem eschatologischen Vorbehalt. Tempeltheologie ist überhaupt nicht eschatologisch orientiert. Vielmehr hat Jahwes Kämpfen und Siegen jedesmal endgültigen Charakter, weil es sein Kämpfen und Siegen ist. So nimmt das Verhältnis von Jahwes Königsherrschaft und ihrer immer neuen Bedrohung an der die ganze Tempeltheologie bestimmenden Dialektik teil. Sie manifestiert sich mit aller Deutlichkeit vor allem darin, daß Jahwe nach Kampf und Sieg in seinen Tempel-Palast (Ps 48 nennt zudem die Gottesstadt) zurückkehrt und in ihm in Zeit und Vergänglichkeit aufhebender ewiger Gegenwart als König thront, wie die häufige Rühmung besagt: „Jahwe auf immerdar!" (Ps 93,5), „So ist Jahwe, unser Gott, auf immer und ewig" (48,15; vgl. 29,10; Ex 15,18). Würde man diese hymnischen Rufe objektivierend verstehen und sie damit ihrer Dialektik berauben, entzöge man der ganzen Tempeltheologie die theologische Spannung, die ihr als Ansage der ewigen Gottesgegenwart mitten in der vergehenden Zeit wesensnotwendig ist. Da es in erster Linie der (Jerusalemer) Tempel ist, der diesem Unfaßlichen Raum gibt, kann es nicht verwundern, daß der Tempelbau selbst in ausgezeichneter Weise an den Charakteristika der Gottesgegenwart partizipiert. E r ist mitten in seiner irdischen Vorfindlichkeit voller Hinweise auf den, den er umgeben soll und doch nicht fassen kann. Nicht von ungefähr nimmt Jahwe in Ps 29,9 f. in seinem Tempel-Palast von all den Seinen die "ms-Akklamation entgegen, um dann als über der himmlischen Urflut thronender König prädiziert zu werden 4 . Ragte der irdische Tempel nicht in die himmlische Sphäre hinein, wäre er für die ihm zugedachte Funktion auf Erden untauglich. In jedem der oben ausgelegten Psalmen wird der sich in ihm besonders manifestierende Abglanz der Gottesgegenwart in irgendeiner Weise erwähnt. Der Tempel ist t n p ΠΊΚ3 „heilig-schön" (Ps 9 3 , 5 ) , nichts Äußerliches, sondern bis ins Ästhetische numinos. Ebenso „sein heiliger Berg" (48,2; vgl. 24,3), welcher das Prädikat ηυ ΠΒ' „gipfelschön" bekommt (48,3) und in der Identifizierung von Zion und Zaphon in ähnlicher Weise in den Himmel ragt, wie es in Ps 29 für den Tempel-Palast 3 Zu den verschiedenen Ausformungen des Kampfesmotivs im Alten Testament und seiner charakteristischen Verbindung mit dem Königtum Jahwes vgl. Mettinger, StTh 39 S. 24 ff. 4 In diesem Vorstellungskreis dürfte auch der Ausdruck t u 3 kos „Thron der Herrlichkeit" seinen Ursprung haben (Jer 14,21; 17,12; zum semantisch sekundären Gebrauch vgl. 1 Sam 2,8; Jes 22,23).

Theologia gloriae

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anzunehmen war. Dieser hat nach Ps 24,7. 9 oViy 'njiQ „ewige Pforten" zum γ τ ΐ 3 3 p & a Dlptt „Ort, da deine Ehre wohnt" (26,8) 5 , nicht primär empfangsbereit für diesen oder jenen Beter, sondern für den "man „König der Ehren", der zu seinem Tempel kommt (24,7 ff.). Einmal mehr kommt die die Tempeltheologie auszeichnende Dialektik von Präsenz und Kontingenz der Gottesgegenwart zum Vorschein, nicht nur in der Gegenüberstellung von Ps 26,8 und 24,7 ff., sondern ebensosehr in der Binnenstruktur von Ps 24 selbst. In diesem tempeltheologischen Kompendium ist gezielt "man als das Epitheton, das von seiner kanaanäischen Herkunft her wie kaum ein anderes mit der Vorstellung vom wohnenden und thronenden Gott zusammengehört, mit dem siegreich heimkehrenden Jahwe Zebaoth verbunden worden. Soll wie in Ps 24 der Kern tempeltheologischen Denkens enthüllt werden, gehört die die souveräne Freiheit Jahwes achtende und wahrende Dialektik von Präsenz und Kontingenz der Gottesgegenwart dazu. Jahwe, der König der Ehren, sucht seine eigene Ehre auch in der Ehrung anderer, allen voran in der Herrlichkeitsbegabung des (davidischen) Königs: „Groß ist seine Ehre (maa) durch deine Hilfe, Hoheit und Pracht ( n n i im) legst du ihm an" (Ps 21,6) 6 . Der Geehrte und Gesegnete (vgl. V. 4) wird als solcher selbst zum Segensmittler (vgl. V. 7) und zugleich zum Verderben für seine Feinde (vgl. V.9ff.), wodurch deutlich wird, daß einzig und allein der König von Jahwes Ehren zur erfolgreichen Ausübung seines Herrscheramtes instand gesetzt ist. Jahwes Herrlichkeitsfülle drängt jedoch weiter über den Bereich des himmlisch-irdischen Tempels und des königlichen Palastes hinaus in die Welt, der er als ganzer durch seinen 1133 das Siegel seiner Urheberschaft und seines unanfechtbaren Eigentumsrechtes aufgeprägt hat: „Jahwes ist die Welt und ihre Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner" (Ps 24,1). Der Ps 24 einleitende hymnische Ruf mit unpolemisch universalem Anspruch gehört seiner theologischen Rangordnung nach in den äußersten Kreis der Tempeltheologie, die ihre Mitte in der Herrlichkeitsentäußerung Jahwes im Tempel und letztlich in der anschaulich-unanschaulichen Herrlichkeitsgegenwart Jahwes selbst hat. 5 Ps 102 verknüpft in seinem (nach)exilischen Teil (ab V. 13, vgl. Becker, Israel S. 43 ff.) eng alte (nns, d®) mit jüngeren Vorstellungen (Vijlker, Könige als Jahweverehrer, das Erscheinen, π in ni., der Herrlichkeit Jahwes): „Dann werden die Völker den Namen Jahwes fürchten und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit, wenn Jahwe Zion (wieder) erbaut haben (und) in seiner Herrlichkeit erschienen sein wird." 6 Für die Verbindung von Vnj „groß" und n a s „Ehre, Herrlichkeit" läßt sich eine (ansonsten zeitlich und sachlich disparate) Belegreihe zusammenstellen, die aus einem Einzelaspekt heraus das sachliche Gefalle der ganzen Tempeltheologie noch einmal verdeutlichen kann: „Groß ist Jahwe ..." (Ps 48,2; vgl. 104,1); „denn groß ist Jahwes Herrlichkeit" (138,5); „größer wird die Herrlichkeit dieses neuen Tempels sein als die des früheren ..." (Hag 2,9); schließlich die gerade zitierte Stelle über den TQ3 des Königs.

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Jahwe, der Herr seines Heiligtums

Deshalb gerät Ps 24 - das „Welt"-Bild der Tempeltheologie sachgerecht widerspiegelnd - auf seinem Höhepunkt zum Tempel- und Gotteslob (V. 7 ff.). Deshalb hat die asyndetische nominale Folge „Sein heiliger Berg: gipfelschön, Entzücken der ganzen Welt" in Ps 48,2bß. 3 aaß nicht primär den Wert freier poetischer Assoziation, sondern theologische Stringenz, weil Heiligkeit und Schönheit des Zentrums Äquivalente der Herrlichkeit sind, die von dort ausstrahlt, das Nichts zur Fülle macht und damit das Gott lobende Entzücken der Welt allererst ermöglicht. Und ebensosehr hat es theologisch seinen guten Sinn, daß in Jes 6,3 der Chor der Seraphen die Herrlichkeitsfülle der ganzen Welt in sachlicher und zeitlicher Folge auf das Jahwe Zebaoth geltende Trishagion - vom Tempel aus verkündet 7 . Die Aussage von der Herrlichkeitsfülle der Welt ist psalmtheologisch in manchen Variationen formuliert worden. Wenn in Ps 57 zweimal refrainartig der Ruf erschallt: Erhebe dich über die Himmel, Jahwe', über die ganze Erde deine Herrlichkeit ("pias, V.6. 12), stehen Gottesname und Π33 ebenso wie Himmel und Erde in sachlich und syntaktisch austauschbarer Position, so daß göttliche Identität und Universalität des 1133 keinen Zweifel leiden 8 . Ebenso verhält es sich in Ps 19,2, wo es allein der Himmel ist, der dem 1133 „der Gottesherrlichkeit" Heroldsdienste leistet, womit die Schöpfung (pars pro toto) ihre doxologische Funktion wahrnimmt wie in Ps 29 die Götter(söhne) 9 . Und nicht von ungefähr ist in Ps 104 an der Stelle, an der von der Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott die Rede ist (V. 27 ff.), die Doxologie der Gottesherrlichkeit von einem Späteren durch V. 31 nachgetragen worden 10 , theologisch fein komplementiert durch den Wunsch der Gottesfreude über die Schöpfung, die sich im Gotteslob des Empfanges und der Abhängigkeit von der Gottesherrlichkeit bewußt bleibt. Das Bewußtsein der bleibenden Bindung an den Geber des "7133 läßt noch eine weitere wichtige Komponente der Tempeltheologie zum 7

Zu den mit Jes 6,3 und Ps 24,1 zusammengehörenden Belegen s.o. S.200f. A. 10. Der Refrain gehört zu dem Textbestand, der in Ps 108,6 übernommen worden ist. Eine ähnliche Aussage ist (vielleicht nicht ohne Kenntnis von Ps 57,6. 12) in Ps 113,4 formuliert. Indessen hat ein Dichter der Spätzeit mit dem überkommenen tempeltheologischen Gedankengut in Ps 85,10 geradezu eine Kontrastaussage zur oben konturierten Theologie geschaffen: «Ja allen, die ihn fürchten, ist nahe sein Heil, so daß Herrlichkeit wohne in unserem Lande." Hier ist die Vorstellung vom Wohnen der Herrlichkeit strikt nationalisiert, nicht mehr verbunden mit dem Tempel, sondern mit „unserem Land". ' S.o. S.62f.; zur späteren Abwandlung vgl. Ps 96,2f.; 97,6. 10 S.o. S.42. 8

Theologia gloriae

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Vorschein kommen. Die göttliche Entsendung des Tiaa zu Mensch und Welt begründet kein Haben, sondern stellt in die dialektische Spannung von Ti33-Gewährung und "riaa-Entzug bzw. -Verlust. Nach Ps 63 geht der Klagende in den Tempel, um in der Gottesschau „deine Macht ( " | T y ) und deine Herrlichkeit (TTiaa) zu sehen" (V. 3) und dadurch wieder „ermächtigt" zu werden, wie die Götter(söhne) in Ps 29 Jahwe ty und T133 im Gotteslob zurückzugeben (vgl. 63,4 ff.). Es ist leicht vorstellbar, daß diese dialektische Spannung der Π33Teilgabe und des Ti33-Entzuges am zeitlichen Ausgang des Alten Testaments in die eschatologische Spannung des „Schon" und „Noch nicht" der "nas-Teilhabe umgewandelt worden ist: „danach nimmst du mich in Herrlichkeit auf" (Ps 73,24). Wann? „Vergeht mein Fleisch und mein Herz, ... dann bist du, Jahwe', mein Teil in Ewigkeit" (V. 26; vgl. dagegen 142,6). Aus dem "nas-Empfang auf Seiten des Menschen ist der "Tiaa-Empfang bei Gott für den Menschen geworden - eine erhebliche theologische Gewichtsverlagerung. Doch nicht einmal hier haben die alten tempeltheologischen Kategorien (vgl. auch 'p^n „mein Teil", D^iy „Ewigkeit") ihren Dienst versagt. Wo also in den Psalmen zu den verschiedensten Zeiten und in verschiedenen Perspektiven von "7133 und verwandten Phänomenen gesprochen wird, ist Jahwe niemals fern. Darin liegt überhaupt die Eigenart der göttlichen Herrlichkeit in der hier konturierten Tradition: Sie ist überall als Entäußerung des (im Tempel thronenden) Deus praesens, ohne in den Pantheismus abzugleiten, weil sie - schon in ihrer terminologischen Unfaßbarkeit aufscheinend - unverfügbare, freie Gnadengabe Jahwes bleibt. Sie gründet den Menschen und gewährt ihm Heil, ohne auf Heilsgeschichte zu basieren. Jahwe gibt dem Menschen und der Welt Herrlichkeit, ohne sich zu berauben. Und Aufgabe des Menschen und der Welt ist die Rückerstattung des Empfangenen, ohne sich ihrerseits zu berauben, nämlich als Gotteslob. Wahres Leben kann nur Loben sein11, „denn von dir ist alles, und von deiner Hand geben wir dir" (1 Chr 29,14 b). Kennen die Psalmen theologia gloriae? Eindeutig ja - in Form des Soli Deo gloria.

11

Vgl. Westermann, Lob S. 121 f.

IV. Jahwe, mein König und mein Gott Ein wichtiger Aspekt der Psalm- und Tempeltheologie ist im vorhergehenden Kapitel bewußt ausgeklammert worden. Es handelt sich um den Teil, der in dem tempeltheologischen Kompendium Ps 24 unter dem Titel „De homine" (V. 3-6*) kurz zur Sprache gekommen ist. Wie schon aus der Fülle der Individualgebete im Psalter ersichtlich ist, nimmt dieser Teil im Rahmen der Tempeltheologie eine derart prominente Stellung ein, daß ihm ein eigenes Kapitel gewidmet werden muß. Allerdings ist die beachtliche Zahl an Klagen des einzelnen, Dankund Vertrauensliedern für den Exegeten, dessen Augenmerk auf die vorexilische Gestalt der Tempeltheologie gerichtet ist, ein ambivalentes Geschenk. Vergleicht man sie etwa mit der Gruppe der Königspsalmen, wird der Unterschied im Traditionsprozeß, der die Freude über die hohe Belegfrequenz bei den Individualgebeten trübt, sofort evident. Während bei jenen das Überlieferungsinteresse in dem Moment stark zurücktrat, als es die Institution des Königtums nicht mehr gab, haben diese jederzeit zur unverzichtbaren Gebetsgruppe gehört, die ständig durch neue, „zeitgemäße" Dichtungen vergrößert wurde. Doch nicht nur das: War die kleine Zahl überkommener Königspsalmen wegen der stark reduzierten Verwendungsmöglichkeiten in königsloser Zeit nur geringem Redaktionsinteresse ausgesetzt, trifft auf die Individualgebete das Gegenteil zu. Neben der Schaffung neuer Lieder sind auch die alten vorexilischen in späterer Zeit weitergebetet und dabei in teilweise erheblichem Umfang fortgeschrieben worden, manche so sehr, daß man mit größerem Recht von kompletter Reformulierung als von Bearbeitung sprechen kann. Gelingt es nicht, den Fortschreibungsprozeß zu rekonstruieren und damit ältere von jüngeren theologischen Vorstellungen literarisch zu sondern, bleibt nur der mit mancherlei Unsicherheit gepflasterte Weg der Traditionsanalyse nach rein inhaltlichen Gesichtspunkten. Dabei werden bereits erzielte Resultate über die Gestalt der vorexilischen Tempeltheologie als Kriterien für die Identifizierung der verarbeiteten älteren Traditionen dienen müssen. Denn daß solche Traditionsrezeption in beträchtlichem Maße in späterer Zeit geschehen ist, die Tempeltheologie also offensichtlich in einem Traditionskontinuum auch in tempelloser Zeit gestanden hat, läßt sich an den Individualgebeten gut ablesen.

Der königliche Mensch: Ps 8

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Für die f o l g e n d e n A u s l e g u n g e n sind bewußt T e x t e ausgewählt w o r den, die wahrscheinlich allesamt ihre E n d g e s t a l t erst in relativ später Zeit erhalten haben, allerdings auf unterschiedliche Weise, so d a ß die verschiedenen R e k o n s t r u k t i o n s w e g e abgeschritten werden können. W e n n d a s V o r h a b e n gelingt, wird am E n d e der A u s l e g u n g s r e i h e die vorexilische T e m p e l t h e o l o g i e ein weiteres M a l , nun in die conditio hum a n a hinein und aus ihr heraus geredet, vor A u g e n stehen. 1. D e r k ö n i g l i c h e M e n s c h : P s 8 2a

2b 3aaß 3ay 3b 4aa 4aß 4ba 4 bß 5a 5b 6a 6b 7a 7b 8a 8b 9a 9b 10

Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt! Der „du" deine Majestät über den Himmel „gestellt hast". Aus dem Munde von Kindern «und Säuglingen» hast du machtvolles Lob gegründet um deiner Gegner willen, um Feind und Widersacher ein Ende zu machen. Wenn ich deinen Himmel sehe, das Werk 1 deiner Finger, Mond und Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, das Menschenkind, daß du seiner dich annimmst! Wenig von Gott ließest du ihm fehlen, krön(te)st ihn mit Ehre und Hoheit. Du läßt ihn herrschen über die Werke deiner Hände, hast alles ihm zu Füßen gelegt. Vieh und Rinder, sie alle, auch das Wild des Feldes, Vögel des Himmels und Fische des Meeres, was die Bahnen der Meere durchzieht. Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt!

1 Die Pluralform wird mit dem Singular wiedergegeben, weil das übergeordnete Pluraletantum i'B® „dein Himmel" ebenfalls singularisch übersetzt worden ist.

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Jahwe, mein König und mein Gott

Die rekonstruierte Grundfassung des Pslams: 2a

Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt!

3aap 3b

Aus dem Munde von Kindern hast du machtvolles Lob gegründet, um Feind und Widersacher ein Ende zu machen.

4 aa 4bo

Wenn ich deinen Himmel sehe, Mond und Sterne:

5a 5b

Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, das Menschenkind, daß du seiner dich annimmst!

6a 6b

Wenig von Gott ließest du ihm fehlen, krön(te)st ihn mit Ehre und Hoheit.

7a 7b

Du läßt ihn herrschen über die Werke deiner Hände, hast alles ihm zu Füßen gelegt:

8a 8b

Vieh und Rinder, sie alle, auch das Wild des Feldes,

9a 9b

Vögel des Himmels und Fische des Meeres, was die Bahnen der Meere durchzieht.

10

Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt!

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.314)

Schon bei flüchtiger Lektüre von Ps 8 ist unverkennbar, daß hier ein Hymnus vorliegt, der für die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch und für den „Stellenwert" des Menschen in Gottes Welt programmatische Bedeutung hat. Die Intensität der Reflexion scheint sich jedoch nur bedingt in einem vergleichbar sorgfältigen Aufbau widerzuspiegeln. Zwar deutet die Inclusio „Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt!" (V. 2 a = V. 10) auf den Willen zu kunstvoller Gestaltung hin, doch scheint er darüber hinaus gerade in der ersten Hälfte des Gedichtes nicht weiter hervorzutreten, da die formalen Mängel in der vorliegenden Gestalt schwerwiegend sind: Unklarheit in der Abgrenzung der Kola und in ihrer Aufteilung in Bikola oder Trikola 2 , extrem unterschiedliche Verslängen (vgl. etwa V. 4 mit V. 5) und Schwierigkeiten in Syntax und Semantik vor allem in V. 2 b. 3. 2

Vgl. das unterschiedliche Arrangement von V. 2 f. in BHK und BHS.

Der königliche Mensch: Ps 8

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Die Probleme sind zahlreich genug, um die Frage nach der literarischen Integrität des Textes aufkommen zu lassen3. Nach dem einleitenden, in sich geschlossenen hymnischen Ruf V. 2 a ist die Relativpartikel "i»K zu Beginn von V. 2 b schon an sich auffällig, ein Eindruck, der durch die Unbeholfenheit der Formulierung und das Fehlen des Parallelismus membrorum weiter verstärkt wird. Für den Versuch, auf textkritischem Wege Besserung zu erreichen, stellen die Versionen Varianten bereit, die zwar zur Rückgewinnung der wahrscheinlich ursprünglichen Verbform verhelfen 4 , aber die stilistisch und poetisch anstößige Relativkonstruktion im ganzen nicht aus der Welt schaffen können. Baethgen und Wellhausen, die zu Recht die Korrespondenz von V. 2 a und V. 2 b betonen („dein Name" - „deine Majestät", „Erde" - „Himmel"), halten die Relativpartikel für ein natürliches Kind der Textkorruption: „Not only nan, but also ups is false" 5 . Diese Lösung gleicht allerdings einem Gewaltstreich, zu dem sie sich haben verführen lassen, weil sie in V. 2 b einen „streng durchgeführten synonymen Parallelismus" zu V. 2 a meinten erkennen zu können 6 . Das stimmt jedoch schon im Blick auf die Form nicht, weil dem Trikolon V. 2 a nichts Adäquates in V. 2 b gegenübersteht. Exakter ist die Bestimmung, daß V. 2 b als Pendant zu V. 2 a intendiert, aber in der Relativkonstruktion unzureichend realisiert ist und deshalb kaum von derselben Hand wie der Kontext stammt 7 . Der Anlaß für die Ergänzung durch einen Redaktor ist unschwer zu erkennen: In Erinnerung an Formulierungen wie Ps 113,4 und 148,13b wollte er den Herrlichkeitserweis (von) Jahwes (Namen) auf Erden durch die Kundgabe seiner Majestät im Himmel komplettieren, weil er nur auf diese Weise ihre Omnipräsenz als angemessen artikuliert verstehen konnte. Darin zeigt sich bereits ein Unterschied der Zeiten, da die klassi-

3

Die von Beyerlin (ZThK 73 S. 1 ff.) favorisierte überlieferungsgeschichtliche Analyse behandelt den Psalm zu ihrem eigenen Schaden (fast vollständig) als literarische Einheit. Sie verbaut sich damit den Blick für den hohen Grad an theologischer Geschlossenheit, den die Grundfassung widerspiegelt. 4 Statt des Imperativs ru/i „gib" ist nach Peschitta, (wahrscheinlich auch) Symmachus u.a. die 2.ps.m.sg.pf. nnm zu lesen (vgl. auch den Apparat der BHS z.St.). Der Fehler wird durch Haplographie des π entstanden sein, worauf dann der Versuch folgte, durch Buchstabenumstellung eine korrekte Verbform von ]m „geben" zu retten (möglicherweise sogar mit einer bewußten Neuinterpretation verbunden, vgl. Beyerlin, ZThK 73 S. 17). Indessen ist ein Imperativ im Relativsatz grammatisch unmöglich (vgl. Hupfeld/Riehm I S. 226ff.; Buhl S.44 u.a.). Keine Wahrscheinlichkeit hat die von Duhm stammende Emendation x/m m'&x „laß mich besingen" (vgl. Duhm 1 S.27; Duhm 2 S.35; Donner, Z A W 7 9 S. 324 ff.; W . H . Schmidt, ThZ 25 S . 4 f . u.a.). Nachdem der einleitende Ruf V . 2 a als von einer Gemeinschaft gesprochen konzipiert ist („unser Herr"), wäre eine singularische (außerdem verspätete) Lobaufforderung in V. 2 b so störend, daß man den Text nicht damit belasten sollte. Das in V. 4 redende exemplarische Ich kann nicht als Argument für die Emendation in V. 2 b gebraucht werden, weil es im Blick auf V. 5 verständlich und sinnvoll ist, nicht aber im pluralischen Kontext von V. 2 f. 5 Wellhausen, Psalms S.76; vgl. ders., SuVVI S.167; Baethgen S.20. 6 Baethgen S.20. 7 Vgl. Rudolph, FS Zimmerli S.391.

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Jahwe, mein König und mein Gott

sehe Tempeltheologie dasselbe in der mit der Erde verbundenen Herrlichkeitsfülle adäquat ausgedrückt sah (vgl. Ps 8,10 ohne „himmlische" Ergänzung). V. 2 b ist jedoch nicht der einzige redaktionelle Nachtrag in diesem Psalm. Gleich V. 3 weist eine Uberlänge auf, die sich gegen jede Form des Parallelismus membrorum sperrt und deshalb wohl kaum ursprünglich sein kann. Inhaltliche Beobachtungen bestätigen diesen Verdacht. "|'Tm |y»V „um deiner Gegner willen" (V. 3 aγ), mit dem folgenden finalen Infinitiv kollidierend, ist als Verstehenshilfe für unsuffigiertes DpJTiSi 3ΊΚ „Feind und Widersacher" in V. 3 b gedacht und damit als redaktionelles Interpretament von der Vorlage zu unterscheiden. Nach dem Willen des Ergänzers - möglicherweise desselben wie in V. 2 b - ist vor allem an Gottes Feinde zu denken (vgl. 74,4), welche er durch kindliches Lob mundtot macht 8 . Schließlich unterliegt in Ps 8 auch das V. 3aaß überdehnende Wort D'pn „und Säuglinge" dem Redaktionsverdacht, obwohl für dieses Urteil keine allzu hohe Wahrscheinlichkeit reklamiert werden kann 9 . Immerhin ist zu beachten, daß mit D'pn D'^iy „Kinder und Säuglinge" in V. 3 aaß nicht die geläufige Redewendung, wohl aber die wahrscheinlich sekundär intendierte Angleichung an sie vorliegt10. Die letzten redaktionellen Erweiterungen des Psalms - wegen der besseren formalen Einfügung und der eigenständigen Intention wahrscheinlich von anderer Hand als die vorhergehenden - sind in V. 4 zu finden, der ebenfalls durch seine Uberlänge auffällt. Sie dürften in den beiden Appositionen "pnyass '®ya „Werk(e) deiner Finger"11 und niurs HPK „die du bereitet hast" zu erkennen sein, weil in ihnen eine theologische Intention, die Betonung des konstituierenden Schöpfungshandelns, hervortritt, die der Grundtext nicht in gleicher Weise teilt. In ihm sind die Schöpfungswerke Himmel, Mond und Sterne da, um durch ihre Anschauung den Hintergrund für einen weiterführenden theologischen Gedanken über den Menschen zu gewinnen. Die Grundfassung ist weniger durch den (natürlich auch in ihr vorausgesetzten) Schöpfungsgedanken als vielmehr durch die Eigentumsvorstellung bestimmt (-pa® „dein Himmel"), welche als charakteristisch für ein älteres Stadium der Psalmtheologie bereits bekannt ist12. Eine willkommene Bestätigung der bisherigen redaktionsgeschichtli8 Vgl. Gunkel S.29; H.Schmidt S. 14; Donner, Z A W 7 9 S.326 (allerdings mit abweichender Rekonstruktion). ' Vgl. (allerdings ohne stichhaltige Begründung) Gunkel S.29; H.Schmidt S. 14; Oesterley S. 139 f. 10 „O'pvi O'^iy scheint eine sprichwörtliche Redensart gewesen zu sein, wie unser ,Kind und Kegel'" (Baethgen S.20). Das stimmt so nicht. Die Redensart ist immer im Singular formuliert (vgl. 1 Sam 15,3; 22,19; Jer 44,7; Thr 2,11) und deshalb nicht ohne weiteres in den Plural zu setzen, was auch bei der Wendung „Kind und Kegel" unmöglich ist. Hingegen kann man sich gut vorstellen, daß ein Redaktor bei den D'^iy in Ps 8,3 die Redensart assoziiert und kontextgemäß ergänzt hat. 11 So auch (ohne Begründung) Beyerlin, Z T h K 7 3 S.3 A. 8. Der Ausdruck kommt nur hier vor; vgl. die pejorative Verwendung in bezug auf den Menschen in Jes 2,8; 17,8. 12 Vgl. Metzger, FS Kraus S. 45 f., der V. 4 zwar als literarische Einheit behandelt, aber die unterschiedlichen inhaltlichen Elemente genau erkennt; ferner s. o. S. 74 ff.

Der königliche Mensch: Ps 8

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chen Analyse ist die Gestalt des Textes, der für die Grundfassung verbleibt 13 . Sie erweist sich als formal genau durchdachtes Gebilde, das der Höhe der theologischen Reflexion des Psalms ebenbürtig ist und ihre Aussage wirksam unterstützt. Die Anlage - konzentrisch wie die Tempeltheologie selbst - enthält in V. 6 als Mittelpunkt die fundamentale theologische Verhältnisbestimmung des Menschen zu Gott, genauer: die Verhältnisstiftung durch die überreiche göttliche Begabung des Menschen. Daß sie unberechenbares, völlig überraschendes Geschenk ist, illustriert die Hinführung in V. 3-5; daß sie geistliches Geschenk mit wichtiger weltlicher Auswirkung ist, erläutert die Fortführung in V. 7-9. Alles steht schließlich in der Klammer des die äußerste Weite der Tempeltheologie signalisierenden hymnischen Rufes: „Jahwe, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in aller Welt!" (V.2a. 10). Das theologische Umfeld dieses Rufes ist leicht zu bestimmen. Die Preisung des Namens (a&) gehört zusammen mit derjenigen der Herrlichkeit (1133), da Jahwe beide als Anteilgabe an sich selbst in die Welt entlassen hat. Jes 6,3 sagt mit der Rühmung der Herrlichkeitsfülle der Welt nichts anderes als Ps 8,2 a. 10 (vgl. 24,1). Und zur hymnischen Rückgabe der Götter(söhne) in Ps 29 gehört nicht von ungefähr 7133 "ist? „die Ehre seines Namens" (V. 2), jene konzentrierte Verbindung zum Ausdruck der tempeltheologischen Gegenwartserfahrung Jahwes, deren Glieder auch je für sich das Ganze zu sagen vermögen 14 . Die Namensgegenwart „Jahwes, unseres Herrn," 15 in der Welt ist τ ι κ „herrlich", eine Ubersetzung, die die semantische Spannweite des Wortes nur ganz unzureichend wiedergibt. Es enthält sowohl das Element des Furchtbaren als auch des Ehrfurcht Heischenden 16 . Beide sind im 15 Von den vielen Versuchen, aus der Endgestalt des Psalms einen klaren Aufbau zu gewinnen, seien stellvertretend Steck, TB 70 S . 2 2 I f f . und Auffret, V T 34 S.257ff. genannt. 14 S.o. S.209f. ls m i n „unser Herr" als Epitheton Jahwes kommt außer in Ps 8,2. 10 nur noch in wenigen jungen Belegen vor: Ps 135,5; 147,5; Neh 8,10; 10,30 (ungefähr ebenso häufig für Respektspersonen: 1 Sam 25,14. 17; 1 Kön 1,11. 43. 47). Daraus für das Alter von Ps 8 Rückschlüsse zu ziehen, wäre voreilig, weil auch in einem Teil der anderen Belege geprägter Sprachgebrauch vorzuliegen scheint. Daß das von einer Gemeinschaft (dann aber auch von dem dieser Gemeinschaft angehörenden einzelnen) zu sprechende Epitheton U'JTX so selten belegt ist, entspricht lediglich der den Psalter beherrschenden Perspektive, welche die des Individuums, nicht die der (selbstverständlich vorausgesetzten) Gemeinschaft ist. 14 Die beiden Pole des Begriffs treten deutlich bei der zweimaligen Verwendung des von derselben Wurzel gebildeten synonymen Adjektivs π ι ο in Ex 15,6. 11 hervor (s.o. S. 104). τ τ κ kann auch zur Charakterisierung der „Gegenwelt" Jahwes dienen, etwa in der mythisch transparenten Gestalt der BH'TX O'» „gewaltigen Wasser" (Ex 15,10; Ps93,4). Doch w o diese zur Machtprobe mit Jahwe antreten, erweist er sich als onaa τ ι κ „gewaltig, herrlich in der Höhe" (Ps 93,4; s.o. S. 184; vgl. ferner 1 Sam 4,8; Jes 33,21; Ps 76,5).

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Jahwe, mein König und mein Gott

Verlauf von Ps 8 wie in jedem tempeltheologisch orientierten Psalm von Bedeutung. Das erstere Element gewinnt sogleich in V. 3 a a ß b Gestalt. Der rachedurstige Feind, menschlich und mythisch machtvoll 17 , wird von Jahwe „ruhiggestellt" (natp hi.) - durch kindliches Gotteslob 18 ! Scheinbar paradox wird ihm zugetraut, Mächtiges (ry) wie einen Tempel zu gründen (TO' pi.). Zur Deutung dieser zunächst überraschenden Aussage muß wiederum an die Herrlichkeitsakklamation des im Tempel königlich thronenden Jahwe durch die Götter(söhne) erinnert werden (Ps 29,1 f.). Geben sie dort Jahwe tyi 1133, gloria und imperium (Vulgata iuxta Hebraeos), „Herrlichkeit und Herrschaft", so geben sie Jahwe nichts anderes als das, was ihm ohnehin gehört und von ihm kommt. Im Hymnus geben sie, die ohne ihre Gabe nichts sind, dem Geber sein Eigentum zurück, ohne sich selbst zu berauben. Denn die hymnische Rückgabe der Gottesgabe ist die eigentliche Aufgabe der Gottessöhne). Zugespitzt kann man nun sagen, daß Ps 8,3aaßb diese Bestimmung der Angelologie in die Anthropologie eingezeichnet hat. „Die Doxa, welche Gott als Abglanz der seinigen der Kreatur verliehen hat, wird von dieser widergestrahlt und Gotte gleichsam bekenntnisweise zurückgegeben" 19 , und zwar unter Betonung der Alleinursächlichkeit und Alleinwirksamkeit der Gnadengabe Jahwes. Deshalb die pointierte Nennung der n'^iy „Kinder", der Menschengruppe also, die überhaupt noch nicht zum eigenen ty, zum meritum, fähig ist, sondern nur den ry Jahwes rühmen kann, mit dem er sie beschenkt hat und der ihm im kindlichen Lob wieder entgegengebracht wird. Indem sie sich gleichsam ihrer Schwachheit rühmen, rühmen sie Jahwes Stärke, die auch hier Und weil Jahwe τ ι κ in der Höhe ist, kann sein Name auch in der „Tiefe", auf Erden, τ ι κ sein (vgl. Ps 8,2 a. 10). So spiegelt ein Teil des Belegspektrums dieser Wurzel die für die Tempeltheologie typische Denkbewegung wider (zur Darstellung des gesamten Belegspektrums von τ τ κ vgl. Jenni, T H A T I Sp. 38 ff.; Ahlström, T W A T I Sp. 78 ff.). 17 Die Verbindung apanni a'i« „Feind und Widersacher" kommt nur noch einmal in Ps 44,17 vor, wo sie auf Israels Feinde in exilischer Zeit gemünzt ist. Dieselbe Interpretation auch für Ps 8,3 zu postulieren, ist kurzschlüssig, weil die Feindklage des Psalters sehr wohl eine mythische Tiefendimension hat. Beyerlins Kritik am mythischen Verständnis ist nur darin berechtigt, daß hinter V. 3 keine umfassenderen altorientalischen Mythologoumena stehen (vgl. Z T h K 7 3 S.7f.). 18 W.H.Schmidt konstatiert zu V.3: „Da eine zufriedenstellende, erst recht eine allgemein überzeugende Erklärung oder Konjektur bisher nicht gelungen ist, wird man den Sinn von V. 3 aus Vorsicht besser offenlassen und seiner Aussage, die im folgenden Hauptteil des Psalms keine Rolle spielt, auch kein besonderes Gewicht zumessen" (ThZ 25 S. 5 f.). Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, daß in V. 3 die entscheidende Weichenstellung für die theologische Zielrichtung des ganzen Psalms erfolgt (kritisch gegenüber Schmidt auch Beyerlin, ZThK 73 S.6). " Delitzsch S. 191.

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kein Kinderspiel ist, sondern als gott-kindliches Lob die Widersacher mundtot macht20. Das bisher implizit vorausgesetzte intime Verhältnis der Gotteskindschaft drängt nach Explikation, der die ganze anschließende Denkbewegung gewidmet ist: zunächst diskursiv (V. 4 a a b a . 5), dann affirmativ (V. 6), schließlich explikativ (V.7-9). In dem Moment, in dem der Dichter als exemplarisches Ich („wenn ich sehe . . V . 4 aa) Grundsätzliches über den Menschen sagen will, versenkt er sich nicht in sich selbst, sondern richtet seinen Blick betend zum Himmel, zu „deinem Himmel". Was ihm dadurch bewußt wird, ist nicht primär das, was man als das Wunder von Gottes Wirken als Schöpfer bezeichnen könnte. Das wird in der Grundfassung des Psalms stillschweigend vorausgesetzt, ist aber im theologischen Duktus nur insoweit von Interesse, als Himmel und Mensch in ihrem Bestand Gottes Eigentum sind und bleiben. Vielmehr ist es die unterschiedliche Art der Gottesbeziehung und Gottesnähe, die in V. 5 den Inhalt der Frage nach dem Menschen bestimmt. Der Mensch, der dem vordergründig gottnahen Himmel an Größe und Erhabenheit nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat, macht die religiöse Erfahrung, daß gerade er es ist, dessen Gott ganz besonders gedenkt (IDT) und sich annimmt (7ps) - keine „Gedächtnisleistung", sondern Inbegriff seiner gnädigen und heilvollen Zuwendung 21 . 20

Deshalb ist die Wiedergabe von ry an dieser Stelle in LXX (und danach im Zitat Mt 21,16) durch αίνος und auch in Vulgata iuxta Hebraeos durch laus durchaus sachgemäß (s.o. S.83, also keine Abschwächung, gegen Baumann, ZAW61 S. 121; W . H . Schmidt, ThZ 25 S. 5 A. 9; ders., T H A T I Sp. 737). Die theologisch radikalisierte Sicht der Anthropologie, die in Ps 8,3 im Ansatz vorliegt, ist in Mk 10,15 par. zu finden. Eine instruktive Zusammenstellung der Deutungen von Ps 8,3 in den älteren Kommentaren bietet Baumann, ZAW61 S. 121 ff. Die von Rudolph (FS Zimmerli S.388 ff.) vorgetragene Interpretation - Schrei des Kindes als „Triumph der göttlichen Schöpferkraft" (S.394) - ist von Görg mit guten Gründen kritisiert worden (BN 3 S. 7 ff.). Sein eigener Erhellungsversuch unter Rückgriff auf die Vorstellungen vom königlichen Kinde in der ägyptischen „Königsideologie" dürfte eher für die Ps 8 weit vorauslaufenden Traditionen von Interesse sein als für die Theologie des Psalms selbst (vgl. ebd. S. 10ff.). Der Deutung Beyerlins (ZThK 73 S. 11 ff.), deren theologische Intention in mancher Hinsicht mit der hier vorgetragenen übereinstimmt, kann in bezug auf das historisierende Verständnis der „Kinder und Säuglinge" nicht zugestimmt werden. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Text, der so entschieden wie Ps 8 „fundamentaltheologisch" sein will, Antwort auf eine derart historisch begrenzte Situation geben will (Jahwes Manifestation auf Erden geschieht gerade an den preisgegebenen Kindern der trauernden Witwe Zion ..." ebd. S. 16). 21 Vgl. Perlitt, Mensch S. 15 ff.; es mag wohl sein, daß in der Verwendung von ®υκ insbesondere die Hinfälligkeit des Menschen betont werden soll, vgl. ebd. S. 15 (Seeligmann, SVT 1 S. 156, übersetzt sogar „der Sterbliche"); zum Bedeutungsspektrum von 13t vgl. Schottroff, T H A T I Sp.507ff.; Eising, T W A T I I Sp. 571 ff.; zu demjenigen von ipo vgl. Schottroff, T H A T II Sp.466ff.; Andre, Destiny besonders S.93.

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Jahwe, mein König und mein Gott

Was in V. 5 im Gewände der staunenden Frage artikuliert wird, erhält nun im Zentrum des Psalms (V.6) die positive theologische Antwort, an einer Stelle also, die gemäß seiner tempeltheologischen Orientierung eigentlich Jahwe selbst vorbehalten ist: Wenig von Gott ließest du ihm fehlen, krön(te)st ihn mit Ehre und Hoheit 22 .

Hieß es in Ps 21,6, daß der TQD „die Ehre" des Königs durch Jahwes Hilfe groß ist und daß er ihn mit n m im „Hoheit und Pracht" beschenkt, werden hier mit "Π33 und n n dieselben Gaben dem Menschen schlechthin zuteil, nicht indem die Herrlichkeit gleichsam „demokratisiert" würde 23 , sondern indem Jahwe jeden Menschen im Blick auf die 113D- und ττπ-Begabung königlich erhöht, ihn in seine unmittelbare Nähe holt und damit Ο'Π^κη ays „wenig von Gott" vorenthält. Der letzteren Aussage gemäß macht Jahwe den Menschen so reich, wie es nicht einmal für den König überliefert ist. Indessen wird sie nur adäquat in ihrem dialektischen Gehalt erfaßt 24 . Es ist der schlechthin bedürftige Mensch, den Jahwe angesichts der Weite und Erhabenheit des Kosmos in die Fülle seiner Herrlichkeit holt. Ja, es ist gerade der glanzlose, unscheinbare Mensch, der sich Jahwe wegen seiner mangelnden Selbstherrlichkeit zum Herrlichkeitsempfang empfiehlt. Nur als solcher darf er im Zentrum des Psalms stehen, weil in seiner Bestimmung zum Herrlichkeitsempfang keine Verherrlichung des Menschen droht, sondern ganz und gar Jahwe die Ehre gegeben wird. Nicht ohne Grund ist Jahwe das handelnde Subjekt in V. 6, also die unpersönlich konstatierende und definierende Redeweise vermieden 25 . Wird auch der bedürftige Mensch - man denke an die Kinder in V. 3* zurück! - zum königlichen in der Gottesnähe, so ist doch die Distanz zu Jahwe selbst scharf - haarscharf - markiert. Bewußt heißt es in der Positionsbestimmung „wenig geringer als Gott (θ'ηί>κ)", nicht: als Jahwe. Zur Bestimmung des Menschen in der Gottesnähe den Jahwenamen zu verwenden, wäre Mißbrauch des Namens. Ihn kann man (je22 Die in V. 6 chiastisch angeordneten Tempora stellen vor ein Ubersetzungsproblem, weil nicht klar ist, ob der Wechsel vom einleitenden Impf. cons, zum abschließenden Imperfekt einen Unterschied im Aktionsmodus andeuten soll (Narrativ-Durativ) oder ob bloß der Chiasmus den Verzicht auf ein abschließendes Impf. cons, erzwungen hat. Mangels stichhaltiger Argumente muß das Problem offengelassen werden. 23 Der Ausdruck ist in diesem Zusammenhang unter Exegeten beliebt (vgl. W. H. Schmidt, ThZ 25 S. 10; Perlitt, Mensch S. 17 u.a.). Er ist nicht glücklich gewählt, weil er das Mißverständnis begünstigt, mit der Generalisierung sei eine theologische Nivellierung verbunden. Das ist jedoch nicht der Fall. 24 Die Dialektik von Ps 8,5 f. (im Unterschied zu Gen 1) betont auch W.H.Schmidt, Schöpfungsgeschichte S. 191; ders., ThZ 25 S. 13. 25 Eine traditionsgeschichtlich jüngere Variante des Gedankens von Ps 8,6 b ist in 103,4 b zu finden.

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denfalls in diesem Zusammenhang) nur rühmen: „Jahwe, unser H e r r . . . " (V.2a. 10)26. Daß die Erhöhung des Menschen in königliche Stellung nicht nur ein schöner theologischer Gedanke ist, erweist die Explikation von V. 6 in V. 7-9. Dem königlichen Menschen überträgt Jahwe die Herrschaft über die Kreatur, ganz so, wie einem siegreichen König die Machtausübung zukommt: „alles hast du unter seine Füße gelegt" (V. 7 b)27. Die „Untertanen" des Menschen brauchen nicht erst geschaffen zu werden, sie sind längst da. Deshalb besteht die immer wieder betonte Ubereinstimmung zwischen Ps 8 und Gen 1 nicht primär in der Schöpfungsthematik (dies allenfalls peripher wegen der „Werke deiner Hände" in Ps 8,7 a), sondern vor allem in der dem Menschen übertragenen Herrschaftsstellung (vgl. Gen 1,28)28. Sie ist in Ps 8 allerdings deutlicher als in Gen 1 als Königsamt ausgewiesen. Der Psalm über den königlichen Menschen endet ebensowenig mit einer anthropologischen Aussage, wie er mit einer solchen begonnen hat. Vielmehr kommt dem cantus firmus des Gotteslobes das erste und letzte Wort zu (V. 2 a. 10), was über die formale Geschlossenheit hinaus von theologischer Relevanz ist. Die königliche Erhöhung des Menschen ist und bleibt die Folge der Kondeszendenz der Gottesherrlichkeit, die dem Menschen in besonderem Maße zuteil wird, aber sich zugleich auch durch die Herrlichkeit des Namens in aller Welt Geltung verschafft. Deshalb zielt das Lob in allen Teilen des Hymnus auf die Entäußerung der Gottesherrlichkeit und nur in diesem Rahmen auf den in seiner schlechthinnigen Bedürftigkeit und kindlichen Empfangsbereitschaft von Gott „verherrlichten" Menschen. Ps 8 verdichtet die tempeltheologische Anthropologie umfassender als es in Ps 24 (V. 3-6*) geschehen ist. Indessen darf die theologische Konvergenz beider Texte im Blick auf ihre konzentrisch organisierte Universalität der Gottesherrlichkeit nicht übersehen werden, was häufig genug zugunsten der Zusammenstellung von Ps 8 mit Gen 1 geschieht, in der Meinung, der Psalmdichter habe Gen 1 verwertet und gehöre deshalb mit seinem Hymnus in die nachpriesterschriftliche Zeit. Die Affinität beider Texte erscheint vielen so selbstevident, daß etwa Wellhausen lapidar feststellt: „Mit Gen. 1 stimmt Ps. 8"29. Allerdings mangelt es an Übereinstimmung über die königliche Herrschaftsposition des Menschen hinaus so sehr, daß ein wie auch immer " Vgl. auch W. H. Schmidt, T h Z 25 S. 11 f. 27 Vgl. Keel, Welt S.50. 270 ff. 28 Zu den Unterschieden zwischen Gen 1 und Ps 8 s.u. S.235ff. 29 Prolegomena S.30 Α. 1; vgl. ferner W.H.Schmidt, Schöpfungsgeschichte S. 140ff. (mit Literatur); ders., ThZ 25 S. 11 f. (ohne Annahme einer unmittelbaren Abhängigkeit des Psalms von Gen 1).

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gearteter Zusammenhang beider Texte durchaus unwahrscheinlich ist. Man kann mit Grund bezweifeln, daß in dem „wenig geringer als Gott" in Ps 8,6 a das sachliche Pendant zur Aussage der Gottebenbildlichkeit in Gen 1,26 f. vorliegt 30 . Daß die Begriffe oVx „Bild" und r u n „Abbild" in Ps 8 fehlen, ist kein Zufall, sondern Resultat des differenten theologischen Ansatzes 31 . Wo der Psalmdichter staunend vor dem Wunder der Dialektik der Frage „Was ist der Mensch?" und der Antwort „wenig geringer als Gott" steht, hat der Priester mit und n m Begriffe von definitorischem Rang parat, die für ein dialektisches sie et non keinen Raum lassen. Kann der Priester über die Gottebenbildlichkeit des Menschen staunen wie der Psalmdichter über das „wenig geringer als Gott"? Man könnte auch fragen: Hätte der Priester das „wenig geringer als Gott" nachsprechen können? Wohl kaum, woran als weiterer wichtiger Unterschied die divergierende Einschätzung des Verhältnisses Gottes zu seiner (in Gen 1 entstehenden, in Ps 8 bestehenden) Schöpfung sichtbar wird. Während der Psalmdichter sie unbefangen in der Gottesnähe sucht und sich bis zum „wenig geringer als Gott" vorwagt, achtet der Priester peinlich auf die Distanz aller Schöpfungswerke zu ihrem Schöpfer. Er realisiert sie sprachlich durch Interpretation (man denke etwa an den unanschaulichen Terminus s i a „erschaffen") und Selektion der vorliegenden Überlieferung (man denke etwa an die lediglich in Umschreibung geduldete Nennung von Sonne und Mond in Gen 1,16). Demgegenüber kennt Ps 8 keine ängstlichen Ausklammerungen und ist der Anthropomorphismus bis in die Redaktion hinein unanstößig (man denke an die -pryaxx '»y» „Werke deiner Finger" in Ps 8,4). „herrschen" und sein nominales Derivat, welche der Priester in Gen 1,16. 18 nach Kräften „wegzuinterpretieren" sucht, weil er den potentiell divinen Klang der Worte fürchtet 32 , gebraucht der Psalmdichter freimütig zur Beschreibung der Herrschaftsübertragung Jahwes an den Menschen hi.)33. 30 Diese Verbindung ist ganz und gar üblich, vgl. als Beispiel für viele (auch im Blick auf Hi 7,17f.) Habel, FS Wolff S.382f. 31 Es kommt hinzu, daß ηϊ>ϊ in den beiden Belegen im Psalter einen ganz anderen theologischen Stellenwert hat als in Gen 1. In Ps 39,7 und 73,20 ist ot>s Gleichnis für die Nichtigkeit des Lebens (der Frevler), vgl. Wildberger, T H A T II Sp. 558. Ebenso begegnet m m mit seinem einen Psalmenbeleg in der „vergifteten" Atmosphäre der Frevler (58,5). Diese Stellen machen den Gedanken der Gottebenbildlichkeit in Ps 8 natürlich nicht unmöglich, doch als günstiges semantisches Umfeld werden sie auch nicht gerade gelten können. 32 Vgl. W.H.Schmidt, Schöpfungsgeschichte S. 109ff. 33 Ferner ist noch auf die unterschiedliche Folge der Schöpfungswerke hinzuweisen: in Gen 1,20 ff. zuerst die Wasser- und Flugtiere (Vögel als [n'nsn] ηι?), dann die Landtiere

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Die sich in beiden Texten im großen und im kleinen manifestierende Divergenz des theologischen Ansatzes macht einen Zusammenhang zwischen ihnen unwahrscheinlich und läßt auch die damit nahezu automatisch verbundene Spätdatierung von Ps 8 zweifelhaft werden. Die Skepsis nimmt noch weiter zu, wenn man die beiden Texte berücksichtigt, die ganz offenkundig Ps 8 auf je eigene Weise „zitieren": Ps 144,3 f. und Hi 7,17 f. Auch der Dichter des stark anthologischen Psalms 14434 staunt in theologisch eher verhaltener Anlehnung an Ps 8,5 über das Wunder der Zuwendung Jahwes zum hinfälligen Menschen (144,3), doch er steht bereits in einer von Skepsis geprägten Tradition, so daß sein Folgesatz nichts von der Herrlichkeitsbegabung des Menschen zu sagen weiß, sondern mit geliehenen Worten (vgl. Ps 39,6. 12; 62,10; 102,12) bei seiner Vergänglichkeit verharrt: „Der Mensch gleicht einem Hauche, seine Tage sind wie ein vorüberziehender Schatten" (144,4). Am interessantesten ist jedoch die Rezeption von Ps 8,5 f. in Hi 7,17 f.: (17) W a s ist der M e n s c h , d a ß d u ihn großachtest, d a ß du auf ihn dein A u g e n m e r k CpV) richtest? (18) D a ß du ihn h e i m s u c h s t j e d e n M o r g e n , j e d e n A u g e n b l i c k ihn auf die P r o b e stellst?

Wird man in Ps 8 ein poetisches Kompendium klassischer psalmtheologischer Anthropologie erkennen dürfen, so enthält der Text Hi 7,17f(f.) nichts weniger als ihre schroffe Ablehnung, und zwar in negativer Rückbindung an Ps 8,5 f. Auch hier wird die positive theologische Aussage von V. 6 nicht mehr übernommen. Sie klingt allenfalls in dem Großachten (^u pi.) in Hi 7,17 a nach, um dann sofort ins Gegenteil verkehrt zu werden. Großachten heißt, in exponiertem Maße vom Menschenwächter (DIKH "IXJ, V. 20) observiert zu werden (V. 17 b) kein Grund zur Zuversicht, sondern zur Klage. Alles, was dem alten Psalmbeter heilig und hilfreich schien, ist lebensbedrohlich geworden, so daß Hiob nicht sein Heil, aber die Rettung des nackten Lebens vom Wegblicken Gottes erwartet (V. 19). Die Aufkündigung des Vertrauens gegenüber dem gnädig hinschauenden Gott ist das Ende der Theologie der Heilsgegenwart. In diesem Kontext bekommt V. 18 einen noch düstereren Klang, als er ihn schon aus sich selbst heraus hat. Das gnädige Gedenken (T3T, Ps 8,5) Gottes ist kein Thema mehr, wohl aber sein i p o , das nun nicht und der Mensch, in Ps 8,7 ff. nach der Herrschaftsübertragung an den Menschen die Landtiere, dann die Vögel (als D'A® TIBI), schließlich die Wassertiere. Die verwendete Terminologie stimmt, wie an den Vögeln demonstriert, an keinem Punkt genau überein. 34 Vgl. Deissler S.554f. u.a.

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mehr wie in Ps 8,5 die heilsame Zuwendung, sondern die grausame Heimsuchung bezeichnet (dazu parallel pejorativ verstandenes |M „auf die Probe stellen"): DnpaV „jeden Morgen". Die Zeit, die nach herkömmlicher Psalmfrömmigkeit Gottes Rettung bringt 35 , ist zur Zeit seines Angriffs geworden. Ps 144,3f. u.v.a. Hi 7,17f. sind nicht nur dafür aufschlußreich, welche negative Wirkungsgeschichte der klasssischen Psalmtheologie neben ihrer positiven Rezeption beschieden war, sondern auch dafür, daß Ps 8 zum überkommenen, zitablen Traditionsbestand gehörte und er folglich nicht in derart späte Zeit datiert werden kann, wo der Orientierungstext in Nachbarschaft zu seiner kritischen Rezeption gerät. Zugleich ist durch das Abhängigkeitsverhältnis der Texte deutlich geworden, daß die Frage nach dem Menschen nicht später Weisheit entsprungen, sondern von dieser einseitig im skeptischen Sinne übernommen worden ist36. Sie gehört nach dem Zeugnis von Ps 8 in den Kreis der Tempeltheologie, die sie positiv in der ihr eigenen dialektischen Weise bedacht hat. Das Votum gegen die Spätdatierung von Ps 8 darf nicht als Plädoyer für die Annahme vorexilischer Entstehung mißverstanden werden. Es ist schwer vorstellbar, daß die königliche Anthropologie des Psalms zu einer Zeit hätte niedergelegt werden können, als das Königtum (in Jerusalem/Juda) noch eine politisch intakte und damit auch theologisch lebendige Institution war. Schließlich wird in dem Text auch nicht auf den Tempel Bezug genommen, jedenfalls nicht explizit, sondern nur stark spiritualisiert in dem Gründungsterminus 10' beim Gotteslob der Kinder. Für diese theologische Aussage muß der Tempel nicht mehr existent gewesen sein. Spricht deshalb als Entstehungszeit des Psalms einiges für das Jahrhundert des Exils, muß auch dieses Ergebnis relativiert werden. Träfe nämlich die zeitliche Ansetzung in etwa zu, handelte es sich um eine Dichtung der Exilszeit ohne die geringste Bezugnahme auf die durch die Exilierung verursachte theologische Krise. Vielmehr ist es gerade die Kontinuität tempeltheologischen Denkens, welche Ps 8 charakterisiert. Das gilt auch in bezug auf die Frage nach dem Menschen, dessen Herrlichkeitsbegabung seit eh und je zum „dogmatischen" Bestand der Tempeltheologie gehört hat und hier nur durch das königliche Element überhöht worden ist. Ob das vielleicht doch schon vor 587 möglich war? Wichtiger als die möglichst exakte zeitliche Eingrenzung ist jedoch 35 Vgl. Ziegler, FS Nötscher S . 2 8 I f f . ; eine ähnlich düstere Einschätzung wie Hi 7,18 vertritt Ps 73,14; zur Interpretation von Hi 7,17 f. vgl. auch Seeligmann, SVT 1 S. 156. 36 Gegen W.H.Schmidt, ThZ 25 S.7(ff.) u.a.

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die Erkenntnis, daß Ps 8 in entwickelter Form die Summe tempeltheologischer Anthropologie bietet. Naturgemäß sind solche Texte selten, weil sie für die normale Gebetspraxis, die sie voraussetzen und auf ihre theologische Grundlage hin reflektieren, ungeeignet sind. Mit welchen Textformen die Tempeltheologie den Betern in konkreten Lebenssituationen beizustehen versucht hat, wird im folgenden geklärt werden müssen.

2. D e r heillose M e n s c h : Ps 22 2a 2b

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Fern von meiner Hilfe sind die Worte meines Klagens 1 .

3a 3b

Mein Gott, ich rufe am Tage, aber du antwortest nicht, (ich rufe) in der Nacht, aber Ruhe wird mir nicht zuteil.

4a 4b

D o c h du bist der Heilige, der thront über den Lobgesängen Israels 2 .

5a 5b

Auf dich haben unsere Väter vertraut, sie vertrauten, und du errettetest sie.

6a 6b

Zu dir schrien sie und fanden Rettung, auf dich vertrauten sie und wurden nicht zuschanden.

7a 7b

Ich aber bin ein Wurm und nicht (länger) ein Mensch, ein Spott für die Leute und verachtet von jedermann.

8a 8b

Alle, die mich sehen, verhöhnen mich, sperren das Maul auf (und) schütteln den Kopf 3 .

1 Der masoretische Text in V. 2 b bedarf keiner Änderung, obwohl die Mehrzahl der Kommentatoren anderer Meinung ist (vgl. die Zusammenstellung von Verbesserungsvorschlägen bei Buhl S. 156f.). Besonderer Beliebtheit erfreut sich die Idee Hitzigs (I S. 129 f.), statt viyii'p „von meiner Hilfe" 'Jisi?!? „von meinem Schreien" zu lesen, obwohl dadurch ganz unklare syntaktische Bezüge entstehen. Am einfachsten und sinnvollsten scheint es zu sein, pnm „fern" als Prädikatsnomen, 'inyisr „meine Hilfe" als paralleles Epitheton zu 'Vit „mein Gott" in V. 2 a und 'Jim® n m „Worte meines Klagens" als Subjekt aufzufassen. Die constructio ad sensum bei vorangestelltem Prädikat(snomen) ist nicht ungewöhnlich (vgl. V. 14 und GK § 145 or). Zu 'jijn®' „meine Hilfe" als Epitheton Gottes vgl. Jes 12,2; Ps 62,3. 7; 88,2; 89,27; 140,8). Aufschlußreich für Ps 22,2b ist die traditionsgeschichtlich erheblich jüngere Formulierung in 119,155 (ebenfalls mit constructio ad sensum). 2 Vgl. Olshausen S. 122, der mit Recht an das Jahwe-Epitheton B'aisn a®' „Kerubenthroner" erinnert. In Ps 22,4 könnte sogar eine bewußte Umbildung aus späterer Zeit vorliegen. 3 Die Übersetzung von V.8b nach Luther (I S.291).

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9a 9b

Jahwe, mein König und mein Gott

,„Er hat's" auf Jahwe gewälzt 4 , der helfe ihm, der errette ihn, denn er hat (ja) Gefallen an ihm.'

ίοa iob

Denn du bist es, der mich aus dem Mutterschoße herausgezogen, der mir an der Mutterbrust Vertrauen eingeflößt hat.

11 a lib

Auf dich bin ich geworfen vom Mutterleibe an, vom Mutterschoße an bist du mein Gott.

i2aa Sei nicht fern von mir, 12 aß denn die N o t ist nah, 12b denn keiner ist da, der hilft! 13 a 13 b

Es umringen mich viele Stiere, Basansbüffel umkreisen mich.

14a 14b

Es sperren ihren Rachen gegen mich auf reißende, brüllende Löwen.

i5ao Wie Wasser bin ich ausgegossen, 15 aß alle meine Gebeine haben sich getrennt. i5bo 15bp

Mein Herz ist geworden wie Wachs, zerflossen in meinem Innern.

i6aa 16aß

Trocken wie eine Scherbe ist mein „Gaumen", und meine Zunge ist angeklebt in meinem Mund 5 .

16b

In Todesstaub legst du mich.

17 aa 17aß 17b

Denn es umringen mich Hunde, die Rotte der Übeltäter umzingelt mich. [wie der Löwe - meine Hände und Füße]'

18 a 18 b

Ich kann alle meine Gebeine zählen, sie (aber) sehen zu, gaffen mich an.

19 a 19b

Sie teilen sich meine Kleider, um mein Gewand werfen sie das Los.

4 Die Umpunktierung vom Imperativ in die vom Kontext her zu erwartende Perfektform ist durch die Wiedergabe in LXX, Vulgata und M t 27,43 hinreichend abgesichert. 5 Im Anschluß an Saadia ist aus dem masoretischen 'na „meine K r a f t " durch Buchstabenumstellung das wohl ursprüngliche '3Π „mein G a u m e n " zu restituieren (vgl. Hitzig I S. 133). Erst dadurch wird der Vergleich mit der Tonscherbe verständlich. Zum Hapaxlegomenon η'πιρ^η und zu den weiteren grammatischen Besonderheiten in V . l 6 aß vgl. Olshausen S.124. 6 Zu den Textproblemen in V. 17 b und den zahlreichen Erklärungsversuchen vgl. Olshausen S. 124f.; Buhl S. 160ff. Olshausens eigener Vorschlag, V. 17b als eine Zusammenstellung von Glossen zu V. 14 und 15 zu betrachten, die an falscher Stelle (vielleicht wegen 'mos? „alle meine Gebeine" in V. 18) in den T e x t geraten ist, erscheint jedenfalls plausibler als gewagte Emendationen und lexikographische Kunststücke. Auch aus jüngerer Zeit mangelt es an solchen Versuchen nicht (vgl. Tournay, V T 23 S. 111 f.; Roberts, V T 2 3 S.247ff.; D a h o o d , V T 2 4 S.370f. u.a.).

Der heillose Mensch: Ps 22 20 a 20b

Du aber, Jahwe, sei nicht fern, meine Stärke, eile mir zu Hilfe!

2ia 21b

Rette meine Seele vor dem Schwert, vor den Hunden meine einzige!

22 a 22b

Befreie mich aus dem Rachen der Löwen, von den Hörnern der Stiere meine „elende" (Seele) 7 !

23 a 23b

Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, mitten in der Gemeinde will ich dich preisen!

241

24 aa 24aß

Ihr, die ihr Jahwe fürchtet, preist ihn, alle Nachkommen Jakobs, ehrt ihn!

24 b 25 a

Bebt vor ihm, alle Nachkommen Israels, denn er hat nicht verschmäht und nicht verachtet die N o t des Elenden!

25 bo 25bß

E r hat sein Angesicht nicht vor ihm verborgen; als er zu ihm schrie, erhörte er (ihn).

26 a 26b

V o n dir kommt mein Lobgesang in großer Gemeinde, meine Gelübde will ich erfüllen vor denen, die ihn fürchten.

27 aa 27aß

Die Elenden essen und werden satt, es loben Jahwe (alle), die ihn suchen.

27b

Euer Herz lebe auf für alle Zeit!

28 aa 28 aß

Es besinnen sich und kehren um zu Jahwe alle Enden der Erde.

28 ba 28 bß

Es werfen sich nieder vor dir alle Geschlechter der Völker.

29 a 29 b

Denn Jahwes ist das Reich, „er" ist Herrscher über die Völker 8 .

7 Als letztes W o r t in V. 22 bietet M T die suffigierte Verbform 'JJvay „du hast mich erhört", die weder eine syntaktische noch inhaltliche Verbindung zum Vorhergehenden hat. Indessen ist aus den Varianten von LXX (την ταπείνωσίν μου) und Symmachus (την κάκωσίν μου) wohl noch die ursprüngliche Lesart in Form von „meine elende (Seele)" (rückbezogen auf V.21) zu rekonstruieren (im Anschluß an Thrupp vgl. Wellhausen, Psalms S.79; Buhl S. 163; Briggs I S. 197. 205 u.a.). Dieser Rückbezug, der auch schon bei w i r „meine einzige" (seil.: die ich noch habe) vorlag (vgl. Ps 25,16; 35,17), ist später nicht mehr erkannt und deshalb zur Bestätigung der Erhörung umgeschrieben worden. Dieser Gedanke lag sehr nahe, weil bereits der ursprüngliche Konsonantenbestand als eine Verbform von my „antworten, erhören" aufgefaßt werden und zudem die Nahtstelle zwischen Bitte (v. 22) und Lobgelübde (V. 23) als sehr geeignet für eine solche Notiz erscheinen konnte. 8 Nach LXX wird man wohl in V. 29 b das syntaktisch unentbehrliche Hin einfügen dürfen.

242

Jahwe, mein König und mein Gott

30 aß

Es essen und werfen sich nieder alle Fetten der Erde, vor ihm beugen sich alle, die in den Staub hinabgefahren sind.

30 b

Aber er macht seine Seele nicht (wieder) lebendig.

31a

Die Nachkommen, die ihm dienen, sollen vom Herrn „erzählen" dem (künftigen) Geschlecht.

30 aa

31b

32 a 32 b

Sie sollen kommen und seine Gerechtigkeit verkünden dem Volk, das noch geboren wird. Denn er hat's getan.

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.317f.) Hatte in Ps 8 die positive Wertschätzung des Menschen in der T e m peltheologie ihren reifsten und wohl auch sachlich unüberbietbaren Ausdruck gefunden, steht dem in Ps 22 der Mensch gegenüber, den kein numinoser Glanz (mehr) umgibt, der vielmehr nur noch aus der Erniedrigung zu Gott schreien kann. Indessen ist auch die Sprache der Klage ganz von tempeltheologischen Vorstellungen beherrscht, so daß man Ps 22 aus dieser Tradition heraus wird verstehen müssen. Das gilt jedoch nicht für den ganzen Psalm, der deutliche Spuren nachträglicher Überarbeitung aufweist, welche zunächst identifiziert werden sollen 9 . Der Psalm beginnt wie ein Klagelied des einzelnen und behält im Kern die Diktion dieser Form bei. Sie wird aber immer wieder durch Passagen unterbrochen, die den Duktus des Klagegebetes massiv stören, ja geradezu den Eindruck erwecken, sie wollten den Psalm theologisch in eine andere Richtung drängen. Als eine solche Stelle sind sogleich nach der Anrufung (V. 2 f.) die Verse 4-6 anzusprechen. Kaum ist die die Klage präludierende Anrufung beendet, folgt in V. 4-6 ein Vertrauensbekenntnis, bevor die Klage des Beters überhaupt richtig zur Sprache gekommen ist. Auffällig wie die Stellung ist der Inhalt, der die Situation des einzelnen Beters merklich transzendiert, indem er sich auf das Vorbild „unserer Väter" beruft. Ihr Vertrauen hat sich gelohnt, wie ihre Rettungserfahrungen beweisen, und wird deshalb als nachahmenswert hingestellt. Der theologische Assoziationsrahmen ist hier nationaler, heilsgeschichtlicher Art, ' Zur Auslegung von Ps 22 vgl. Stolz, ZThK 77 S. 129ff. (Literatur); ders., Psalmen S. 35 ff., der den als literarisch einheitlich betrachteten Psalm zu den nachkultischen Dichtungen rechnet (vgl. ZThK 77 S. 136ff.). Seine Auseinandersetzung mit dem redaktionsgeschichtlichen Ansatz ist allerdings kaum als suffizient zu bezeichnen, so daß seine Analyse ausschließlich für die Letztfassung des Psalms von Bedeutung ist. Ansätze zur redaktionsgeschichtlichen Analyse, die sich fast immer nur auf V. 28-32 bezieht, bei Gelin, Sacra Paginal S.308ff.; Becker, Israel S.49ff.; Martin-Achard, Approche S. 34f.; vgl. auch die intensive Beschäftigung mit der Deutung von V. 28-32 bei Lipinski, Bibl 50 S. 153ff.; Krahmalkov, Bibl 50 S.389ff.; Keel-Leu, Bibl 51 S.405ff., ohne daß bereits ein befriedigendes Ergebnis erreicht wäre.

Der heillose Mensch: Ps 22

243

denn der Vertrauenswürdige ist nicht mehr einfach „mein Gott", sondern „der über den Lobgesängen Israels Thronende" 10 . Höchstwahrscheinlich enstammen V. 4-6 damit einer kollektivierenden Bearbeitung, die die Klage des einzelnen zum Klage wie Vertrauen gleichermaßen artikulierenden Gebet der Gemeinschaft umschreiben wollte 11 . Es wird zu prüfen sein, ob sich dieser Bearbeiter noch weiterhin zu Wort meldet. Der nächste redaktionelle Nachtrag liegt wahrscheinlich in V. 10 f. vor, ebenfalls in Gestalt eines Vertrauensbekenntnisses, aber kaum von derselben Hand wie V. 4-6. Vielmehr lehnt es sich in seiner individuellen Formulierung enger an den Grundtext an (vgl. auch V. 11 bß mit V. 2 act) und wird deshalb der kollektiven Bearbeitung vorausgegangen sein, zumal diese offensichtlich das mit naa formulierte Vertrauensmotiv aus V. 10 übernommen und weiter entfaltet hat. V. 10 f. unterbrechen den Klageteil an unpassender Stelle und auf ungeschickte Art. Nachdem gerade in V. 9 die das Unglück anderer begleitenden Voyeure mit dem spöttischen Kommentar zu Wort gekommen sind „Er hat's auf Jahwe gewälzt, der helfe ihm, der errette ihn, denn er hat ja Gefallen an ihm", ist der Anschluß des Vertrauensbekenntnisses in V. 10 stilistisch hart (Personenwechsel und erneutes '3 „denn"). Es wäre besser nach V. 12aa placiert gewesen, was aber mit dem folgenden Text der Erstfassung Konflikte verursacht hätte. So läßt sich immerhin einsehen, wieso das Vertrauensbekenntnis an seiner jetzigen Stelle steht. In der Sicht des Bearbeiters verlangte Jahwes Gefallen an dem Beter, von seinen Gegnern in V. 9 eher abschätzig artikuliert, nach positiver Begründung, die er in V. 10 f. im Umkreis der Schöpfungstheologie zu geben versucht. Im Geschenk des Gottvertrauens von Geburt an wird das Fundament des bleibenden göttlichen Wohlgefallens erkannt, dessen Geltung weder unlautere Künder noch die aktuelle Notsituation des Beters in Frage stellen können. So begegnen in den ersten beiden, von verschiedenen Redaktoren stammenden Fortschreibungen des Psalms nacheinander die beiden theologischen Themen, die auch schon im Blick auf das Traditionswachstum des Psalters insgesamt als sekundär erkannt worden sind: (Heils-)Geschichte und Schöpfung 12 . 10

Vgl. Görg, T WAT III Sp. 1029 f. Vgl. Vorländer, Gott S.273f. 12 Es ist zweifelhaft, ob die folgenden Ergänzungen der Individualklage (V. 12 b. 16 b. 17) von demselben Bearbeiter stammen, der für V. 10 f. verantwortlich ist. Sie sind hier lediglich wegen ihrer Orientierung am Gebet des einzelnen zu derselben Schicht gerechnet worden. Eine spezifische theologische Tendenz weisen sie hingegen nicht auf. V. 12 doppelt den vorhergehenden Begründungssatz und verstärkt ihn allenfalls. Ähnlich V. 16 b. 17 a, w o der T o d beim Namen genannt wird, welcher auch vorher schon in den Metaphern präsent war. In V. 17 aa sind die „Hunde" nachgetragen, damit sie auch in der Klage erwähnt sind und nicht erst in der Bitte vorkommen (V. 21). Diese harmonisierende Tendenz ist der Erstfassung ganz fremd, die eher ein Interesse daran hat, die eindeutige Identifikation des Gegners auszuschließen. Die Orientierung am Kontext treibt der Bearbeiter in V. 17aa so weit, daß er jedes eigene Wort vermeidet: '3 „denn" wie in V. 12, 'iinao „sie umringen mich" wie in V. 13, und wegen der pluralischen Verbform dann auch pluralisches Subjekt 11

244

Jahwe, mein König und mein Gott

Die umfänglichste Fortschreibung aber ist im Anschluß an das ursprüngliche Psalmende in V. 23 erfolgt. Dem dortigen Lobgelübde fügt sich in V. 24 ff. durchaus ungewöhnlich der „versprochene Lobgesang selbst" an13. Daß diese Fortsetzung mit ziemlicher Sicherheit redaktionellen Ursprungs ist, geht aus der sprachlichen Anknüpfung an V. 23, nun aber auf einen anderen Personenkreis bezogen, hervor (^Vn pi. „preisen" in V. 23 und 24): Aus dem individuellen Lobgelübde V. 23 ist die Lobaufforderung an die Volksgemeinschaft Jakob/Israel geworden, welche aus den „Jahwefürchtigen" besteht (V. 24), die sich im folgenden unter der „corporate personality" des geretteten Elenden ('jy V. 25) begreifen. Die Identität des Redaktors erhellt aus V. 26, durch den die gedankliche Nähe zu der Fortschreibung in V.4-6 zutage tritt und sich damit auch die Zuweisung zu derselben Hand aufdrängt. Die „Lobgesänge Israels", über denen Jahwe thront (V. 4), sind nichts anderes als Rückgabe der Gabe, die Jahwe selbst gestiftet hat: „von dir kommt mein Lobgesang in großer Gemeinde" (V. 26). Hier erweist sich in einer vergleichsweise jungen Redaktionsschicht der alte tempeltheologische Gedanke von der Herrlichkeitsentäußerung Jahwes, formuliert auf der Ebene des Gotteslobes, als nach wie vor lebendig. Ob V. 27-29 von demselben Redaktor stammen wie V. 24-26, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Man könnte gegen die Zusammengehörigkeit einwenden, daß das Motiv des Preisens (V^n pi.) erneut aufgegriffen wird und nun aus der „corporate personality" des Elenden ('jy) die Gruppe der Elenden (O'iay) geworden ist, in V. 27 b noch einmal mit einem Personenwechsel zur Anrede in der 2.ps.m.pl. verbunden. Solche Ungereimtheiten sind jedoch bereits alten Texten nicht fremd und nehmen in jüngeren eindeutig zu. Außerdem schließt sich die Zukunftsvision von V. 27-29 an den vorhergehenden Text inhaltlich bruchlos an. Die Vorstellung von Gotteslob und Gelübde „in großer Gemeinde" (V. 26), die sich als in dieser Zeit gerettete weiß, läßt an ihr Geschick „in Ewigkeit" denken (V. 27). Da verbindet sich das Gotteslob mit dem endzeitlichen Freudenmahl der „Elenden" (V. 27; vgl. 69,33) und der Bekehrung aller O'U „Heidenvölker" zu Jahwe (22,28), so daß seine nsi^n „Königsherrschaft", in der älteren Psalmtheologie immer bedroht gedacht, in der Endzeit unangefochten triumphiert (V. 29)14. Erst nach V. 29, der ganz offenkundig abschließend-klimaktisch gemeint ist, läßt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch eine weitere Stimme identifizieren, im Unterschied zu kollektivem „Hund(e)" in V. 21. Mit V. 17 aß will der Bearbeiter dann V. 18 b vorbereiten. B'ym „Übeltäter" ist im Psalter ein überwiegend spät belegtes Wort (Ps 26,5 [redaktionell]; 27,2 [27,1-6 wohl im Kern vorexilisch]; 37,1. 9; 64,3; 92,12; 94,16; 119,115), ein Befund, dem in 22,17a insgesamt nichts widerspricht; zu V. 17b s.o. S.240 A.6. 13 Olshausen S. 126; auf dem richtigen Wege ist Duhm gewesen, der Ps 22 A (V. 2-22) von Ps 22Β (V.23-32) unterschied (vgl. Duhm 1 S.68ff.; Duhm 2 S.91 ff.). 14 In V. 28 f. findet wieder ein störender Personenwechsel in bezug auf Jahwe statt (von der 3.ps. in V . 2 8 a zur 2.ps. in V . 2 8 b und wieder zur 3.ps. in V.29). Literarkritische Schlußfolgerungen sind hier jedoch ebensowenig plausibel wie in V. 25 ff. In V. 29 a begegnet die alte tempeltheologische Eigentumsdeklaration (vgl. Ps 24,1) in später Gestalt. mii>n, bezogen auf die Herrschaft Jahwes, kommt nur noch in Ob 21 vor.

Der heillose Mensch: Ps 22

245

die in V . 3 0 zwar sprachlich an den vorhergehenden Text anknüpft 15 , diesen aber inhaltlich in einer bestimmten Hinsicht korrigieren will. Von der endzeitlichen Verbrüderung der Jahwefürchtigen, den „Elenden", mit allen anderen Menschen unter Jahwes Königsherrschaft will der Redaktor, der sich hier zu Wort meldet, nichts wissen. Endzeit gilt ihm als Zeit der Sonderung, die nicht alle, die ihre Knie vor Jahwe beugen, unbeschadet überstehen werden. Der Redaktor nennt - allerdings mit unklaren Ausdrücken - scheinbar zwei Gruppen: „alle Fetten der Erde", womit Reiche und Mächtige gemeint sein könnten 16 , und „alle, die in den Staub hinabgefahren sind". Ist dabei nun in Analogie zu den „in die Grube Gefahrenen" an die Toten als einer weiteren Gruppe zu denken 17 ? Ihrer Zusammenstellung mit den Reichen wäre kaum ein Sinn abzugewinnen. Vielmehr wird wohl ein und dieselbe Gruppe gemeint sein, worauf auch die wiederholte Apostrophierung derselben Handlung, nämlich des Kniebeugens, hinweist. V o n den in den Staub hinabgefahrenen Reichen, die durch den Gestus des Kniebeugens um Jahwes Erbarmen bitten, gilt im Gegensatz zu den elenden Jahwefürchtigen (V. 27), daß Jahwe sie nicht ins Leben zurückkehren lassen wird 18 . Diese Deutung von V. 30 b scheint die nächstliegende zu sein, wenngleich man gut daran tut, ihre Evidenz (wie die aller anderen) nicht zu überschätzen 19 .

15

Alle Wörter in V. 30 aa, ferner vjDi> und Π'Π haben, von den kontextbedingten und bewußten inhaltlichen Modifizierungen einmal abgesehen, eine Entsprechung in V. 27 f. 16 Vgl. de Wette S. 163; Olshausen S. 128 u.a.; ist in dieser Bedeutung auf jeden Fall singular, so daß die Grundlage für die semantische Bestimmung denkbar schmal und damit sehr unsicher ist. In dem V. 30 einleitenden, doch wohl präsentisch oder futurisch zu übersetzenden „sie (werden) essen" liegt kaum eine bewußte Aufnahme der Vorstellung vom endzeitlichen Mahl aus V. 27 a vor, sondern eher eine Art catch-word, das dem ursprünglich am Rand notierten V. 30 seine Stellung im Text nach V. 27 sichern sollte. Jedoch hat derjenige, der ihn später in den Text übernommen hat, den Zusammenhang von V. 27-29 nicht zerreißen wollen und ihn deshalb hinter V. 29 gestellt, erweitert um eine Abrundung in V. 31 f., die das Gotteslob durch den Traditionsprozeß für ferne Generationen gesichert wissen will. 17 Die τ ο »Tiv „diejenigen, die in die Grube hinab(ge)fahren (sind)" dienen in den Psalmen häufiger als Bezeichnung für die Toten (vgl. 28,1; 30,4 [mit Π'Π pi.!]; 88,5; 143,7). Ebenso wird man die ifly m v „diejenigen, die in den Staub hinab(ge)fahren (sind)" zu verstehen haben (und nicht im Lichte von Jes 47,1; Ps 113,7), zumal lay auch schon in Ps 22,16 b im Zusammenhang mit der Todessphäre vorkommt. Schließlich ist an die rhetorische Frage zu erinnern, ob der Staub Jahwe loben könne, welche auch das Bild des Staubes für die Toten gebraucht (vgl. Ps 30,10; ähnliche Formulierungen in 6,6; 88,11-13 u.ö.). 18 Als Subjekt von Π'Π xV „er macht nicht (wieder) lebendig" ist demnach Jahwe anzunehmen (vgl. 30,4), und 1V93 ist nicht auf das Subjekt von n>n xV, sondern auf die im Todesstaub knienden Reichen bezogen zu verstehen. Der Wechsel von der pluralischen (V. 30 a) zur singularischen Fassung (V. 30 b) ist stilistisch störend, aber in späten Texten keineswegs singular (vgl. 39,7; 126,5 f.), weshalb eine literarkritische Auswertung kurzschlüssig wäre (eine gute Zusammenstellung älterer Deutungen bei Buhl S. 166). " Zu V.31 f. s.o. A. 16.

246

Jahwe, mein König und mein Gott

Sollte in der redaktionsgeschichtlichen Analyse der Werdegang von Ps 22 in etwa zutreffend nachgezeichnet worden sein, wäre der Umfang seiner Grundfassung um die Hälfte geringer gewesen als in seinem jetzigen Zustand. Immerhin sprechen die auf diese Weise eruierte inhaltliche Geschlossenheit und die klare Gliederung für die rekonstruierte Grundfassung. Auf die Anrufung (V. 2 f.) folgt die ausführliche Klage (V. 7-9. 12-19*), welche in die Bitte einmündet (V. 20-22) und von einem Lobgelübde abgeschlossen wird (V. 23). Das Leitmotiv, das den Psalm theologisch strukturiert, ist die Klage über die Gottesferne, die, formuliert mit der Wurzel j?m „fern sein", in Anrufung (V. 2), Klage (V. 12 a) und Bitte (V.20) zur Sprache kommt. Gottesferne und ihre Folgen - dieses Klage und Bitte dominierende Thema wird in einer Perspektive bedacht, deren Prägung durch die klassische Form der Psalmtheologie als Tempeltheologie unverkennbar ist. Allerdings begegnet sie hier in einem entwickelten Stadium, in dem der Tempel als Zentrum der Gottesgegenwart keine unmittelbare Relevanz mehr besitzt. Aber die starke räumliche Komponente, die aus dem tempeltheologischen Denken herrührt, ist erhalten geblieben. Wo Gott, der als 'VK und 'nV» „mein Gott" ganz im Sinne des persönlichen Gottes wie in d«r mesopotamischen Gebetsliteratur angerufen wird (V. 2 f.)20, den Beter verläßt (aty), sich von ihm entfernt (pm), wird das Beziehungsvakuum sofort durch andere Mächte gefüllt. Gottesferne, genauer: Gottes Entfernung ist Preisgabe an spottende Voyeure, an Stiere, Löwen, Hunde, kurz: an die mythologisch schillernden Repräsentanten der Gegenwelt Gottes, die ebenso real ist wie die seine (vgl. V. 7ff.). Zwar kann der Beter Gott dringlich nach dem Warum seiner Preisgabe fragen (vgl. V. 2)21, doch erhält er darauf weder von Gott Antwort (etwa durch Hinweis auf seinen Zorn) noch vermag der Beter selbst den Grund seiner Verlassenheit zu erkennen (etwa durch das Zugeständnis eigener Schuld). Das Fehlen sowohl des göttlichen Zornes als auch der Sünde des Beters als Erklärungsmodell(e) der Gottverlassenheit ist ebenso typisch für die ältere Gestalt der Psalmtheologie wie die breite Ausführung der Feindklage. Nicht daß den Psalmen auf ihrer tempeltheologischen Stufe die Gedanken der menschlichen Schuld und des göttlichen Zornes bzw. ihrer beider Verbindung völlig fremd wären, aber es ist für die Motivgeschichte dieser Vorstellungen von hohem Erkenntniswert, daß sie im gesamten Psalter bis in die späten Dichtungen hinein (mit gewissen Unterschieden) eher spärlich belegt sind. Sosehr sie vom theologischen Vorstellungsgehalt her auch in älterer Zeit 20 21

Vgl. Vorländer, Gott S. 245 ff. Zur Warum-Frage in den Psalmen s.o. S. 127 v.a. A. 14.

D e r heillose Mensch: Ps 22

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als bekannt vorausgesetzt werden müssen, ist ihre vorexilische Bezeugung in Texten des Psalters ganz und gar peripher und damit ihr geringer theologischer Stellenwert in der betreffenden Zeit unzweifelhaft 22 . Die Erklärung der Notlage des Beters durch feindliche Bedrohung steht derjenigen durch seine persönliche Schuld ursprünglich alternativ gegenüber. Beide sind nur selten, sekundär und spät miteinander komn Folgende Belege f ü r die persönliche Schuld des Beters/der Beter sind im Psalter zu finden: Ps 4,5 (nach)exilisch; 19,13nachexilisch(s.o.S.70f.);32,1 f . 5 (nach)exilisch; 39,9. 12 (s.u. A.23); 41,5bß (redaktioneller Nachtrag zu vorexilischem Klagelied des einzelnen in V. 5-13*); 51 passim, (nach)exilisch (prägnanter T e x t f ü r die Vorstellung von der persönlichen Schuld, vgl. V.6); 65,4 (nach)exilisch; 69,6 (als Teil des redaktionellen N a c h trages V . 6 f . ) ; 69,27 (als Teil der Fortschreibung V. 18-37); 78 passim, (nach)exilisch (Israels Schuld, s.o. S. 133ff.); 7 9 , 8 f . exilisch (Sünden der Väter - Sünden der eigenen Generation); 85,3 (nach)exilisch (Israels Schuld); 90,8 nachexilisch; 103,3. 10. 12 (nach)exilisch; 106,6. 43 (nach)exilisch (Sünden der Väter - Sünden der eigenen Generation); 109,14 nachexilisch (Sünden der Eltern); 130,3 nachexilisch; 143,2 (nach)exilisch; zu einigen weiteren Belegen, die neben der Vorstellung der persönlichen Schuld die Feindklage bieten s.u. A.23. Die Vorstellung von Gottes Z o r n ist in wahrscheinlich vorexilischen Texten nur dreimal belegt (allesamt Klagen des einzelnen), ohne d a ß ihr Verhältnis zur gleichzeitigen Feindklage ausgemittelt wäre: P s 6 , 2 ; 27,9; 102,11 (V. 1-12 F r a g m e n t e i n e s Klageliedes des einzelnen). Von der Exilszeit ab ist diese Vorstellung merklich häufiger belegt: Ps 18,8. 1 6 ( a l s T e i l der redaktionellen Theophanieschilderung V. 8-16); 21,10ay (redaktioneller Nachtrag, s.o. S.211); 38,2.4 (s.u. A.23); 44,10.24 (Volksklage); 56,8b (redaktioneller Nachtrag, Gottes Zorn gegen die Völker); 60,3 (Volksklage); 60,12 = 108,12; 74,1 (Volksklage); 76,8. 11; 77,8. 10 (Volksklage); 78,21. 31. 38. 40. 49f. 58f. 62 (Gottes Zorn gegen Israel und Ägypten); 79,5 f. (Volksklage); 80,5 (Volksklage); 85,4-6 (übernommenes Element der Volksklage); 88,8. 15. 17f.; 89,39. 47 (Volksklage); 90,7. 9. 11. 15; 94,14; 95,11; 103,9; 106,23. 29. 32f. 40. 43 (Volksklage); 118,18? Bei der Vorstellung vom Zorne Gottes tritt deutlicher als bei derjenigen von der persönlichen Schuld zutage, welch prägenden Einfluß die Volksklage der Exilszeit f ü r sie gehabt hat. Dasselbe ist jedoch auch f ü r den Gedanken der persönlichen Schuld anzunehmen. D a ß die geringe vorexilische Bezeugung beider Vorstellungen kein Zufall ist und d a ß einschneidende Ereignisse der Volksgeschichte in dieser Hinsicht religiöse Veränderungen bewirken können, ist der akkadischen Gebetsliteratur zu entnehmen, in die, o f f e n sichtlich durch die Kassitenherrschaft bedingt, die Gedankenverbindung von göttlichem Zorn und individuellem Sündenbewußtsein Einzug gehalten hat (vgl. von Soden, Z D M G 89 S. 156 ff.; vgl. ferner Vorländer, Gott S.99f.; Mayer, U F B G S. 93 ff.; Gerstenberger, Mensch S. 103 ff.). D e r sumerischen und altbabylonischen Literatur sind diese Vorstellungen weitgehend fremd. Eindeutig dominiert in ihr die Ätiologie des Übels durch das Wirken von D ä m o n e n (vgl. Falkenstein, Haupttypen S. 56. 61). Bei den im altorientalischen Vergleich spätgeborenen Israeliten wird davon auszugehen sein, daß ihnen die unterschiedlichen Erklärungsmöglichkeiten des Bösen bekannt waren. Sie haben demnach in der älteren Psalmtheologie durch die Bevorzugung des Feindmodells bewußt eine theologische Entscheidung getroffen. Damit stimmt auch die Beobachtung überein, d a ß klassische Psalmtheologie dort, wo sie Jahwes Wesen und Wirken auf den Begriff zu bringen versucht, die Vorstellung vom Zorn Gottes in eine untergeordnete Position verweist: Ex 34,6 (vgl. Ps 86,15; 103,8; 145,8) und Ps 30,6 (s.u. S. 262).

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biniert worden, wobei der Ätiologe der Notlage durch das Unwesen der Feinde im Psalter ganz unstrittig die Priorität zukommt 23 . Das im Kern positive Menschenbild der älteren Psalmtheologie favorisiert diese Erklärung, nicht diejenige durch die persönliche Schuld. Ps 22 ist ein gutes Beispiel dafür, was das Feind,,bild" in den Psalmen zu leisten vermag und was nicht 24 . Seine Stärke liegt in dem reichen Angebot an Metaphern, die dem betroffenen Beter in seiner Not Sprache verleihen, ihm erlauben, eine Sphäre zu bezeichnen, aus der die Ursache seiner Not kommt, ohne den konkreten Verursacher identifizieren zu müssen. Der häufigen Unklarheit der Ätiologie der Not kommt die Vielzahl der (rational miteinander unvereinbaren) Metaphern entgegen, die keine Eindeutigkeit erzwingen, wo sie unerreichbar ist, und gleichwohl hilfreiche Klage ermöglichen, wo Schweigenmüssen grausam wäre. Hilfreich ist die Sprache der Feindklage, weil sich ihre Bilder nicht in sich erschöpfen, sondern offen sind für eine tiefere Dimension, für einen religiösen Machtbereich mit negativem Vorzeichen, der mit Jahwes positiv bestimmtem konkurriert. Die Offenheit der Metaphern wird in Ps 22 durch ihre dichte, abrupt wechselnde Folge erreicht. Die spottenden und kopfschüttelnden Zuschauer, aus deren Mund erstmalig im Psalm der Jahwename ertönt (vgl. V. 8 f.), sind für den Beter nicht weniger bedrohlich als die (im Grundtext folgenden) Stiere und Basansbüffel (V. 13). Sie wiederum sind nichts anderes als die „reißenden, brüllenden Löwen" (V. 14 b), vom Psalmdichter offenbar bewußt überraschend eingeführt, da er das MißVerständnis bei der Zuordnung von V. 14 a man bedenke die Sachparallele im Verhalten der Spötter (V. 8 b ) - zum Vorhergehenden oder zum Folgenden zu beabsichtigen scheint. Denn das Fehlen eines expliziten Subjektes in V. 14 a suggeriert die inhaltliche Fortführung von V. 13, bei der allerdings die Unstimmigkeit der Metaphorik (Stiere - Aufsperren des Rachens) stört. Die inhaltliche Schwierigkeit löst sich bei der Wahrnehmung des nachgestellten Subjektes in 23

Vgl. Ps 7 , 4 - 6 (nach)exilisch (Bedrohung durch Feinde als akzeptierte Strafe im Falle persönlicher Schuld); 25,2 b. 7. 11. 18 f. nachexilisch (deutliche Dominanz der persönlichen Schuld gegenüber der Feindklage als dem Traditum mit schwindendem Eigengewicht); 38,4-6. 13. 19-21 Zeit? (offensichtlich stark überarbeitet); 39,2 spätnachexilisch (Klage, die nicht laut werden darf, weil der Frevler sie zur Schuld des Beters ummünzen könnte). 24 Zum Problem der Feinde immer noch grundlegend Mowinckel, PsSt I; weiterführend Keel, Feinde (mit forschungsgeschichtlichem Überblick) und Vorländer, Gott S. 248 ff. (zu Ps 22 S.275f.). Aufs Ganze gesehen kann man bei der Schilderung der Widersacher des Beters zwei Stadien unterscheiden: ein älteres, in dem sie in unterschiedlichen Gestalten die dämonische Gegenwelt repräsentieren, und ein jüngeres, in dem sie eine moralisch-rationalistische Metamorphose hin zu Frevlern u.ä. erfahren haben.

Der heillose Mensch: Ps 22

249

V. 14 b auf (Löwen), nicht aber die stilistische der constructio ad sensum (Verb in V. 14 a im Plural - zugehöriges Subjekt in V. 14 b im doch wohl kollektiv gemeinten Singular). Rechnete man dem Dichter deshalb stilistische Schwächen vor, hätte man sein bewußt inszeniertes Verwirrspiel nicht verstanden, das die oberflächliche Deutung der Metaphern zum Nennwert ausschließen soll. Dazu gehört auch noch die Rückführung der Feindesschilderung in die menschliche Sphäre (V. 18 f.), um mit der symbolisch transparenten Handlung des Kleiderteilens durch die Widersacher den drohenden Tod des Beters zeichenhaft vorwegzunehmen. Der Angriff der Gegenwelt der Feinde setzt den Beter der denkbar schlimmsten Gefahr aus: dem Verlust seines Menschseins. Was durch das Bild des Kleiderteilens am Ende der Klage Sprache gewinnt, ist als Erfahrung bereits in der einleitenden Metapher präsent: „Ich aber bin ein Wurm und nicht (länger) ein Mensch" (V. 7 a)25. Das Urteil ist sowenig wie die Feindbilder wörtlich, aber wie diese theologisch ernst zu nehmen. Wo die Herrschaft der Feindesmacht an diejenige Jahwes tritt, ist es um das Menschsein der Betroffenen geschehen. Die in V. 7 a formulierte religiöse Erfahrung hat tempeltheologische Voraussetzungen, ohne deren Explikation die Tragweite der Aussage nicht verstanden werden kann. Um sie zum Vorschein zu bringen, muß ein anderer Text herangezogen werden, der denselben Gedankengang vollständiger darbietet. Es handelt sich um eine Passage aus dem vierten Gottesknechtslied Jes 52,13-53,12. Das Problem seines Verhältnisses zu den anderen Gottesknechtsliedern und zum Korpus der Deuterojesaja-Texte kann unerörtert bleiben, weil der in diesem Zusammenhang relevante Charakterzug unstrittig ihnen allen eigen ist: ihre starke Abhängigkeit von der Gedankenwelt der Psalmen. Nur sie läßt die Stelle Jes 52,14*; 53,2 f.* über den Gottesknecht, wer auch immer damit gemeint ist, verständlich werden: (52,14 aß) So unmenschlich „entstellt" war sein Aussehen, (52,i4b) U n d seine Gestalt den Menschen nicht (mehr) ähnlich. (53,2ay) (53,2b)

(53,3 aa) (53,3 aß)

Keine Gestalt hatte er noch H o h e i t . . . U n d kein Aussehen, daß wir ihn liebten. Verschmäht und menschenverlassen, Ein Schmerzensmann, vertraut mit Krankheit,

25 Das Bild ist später aus der Individualklage auf zweierlei Weise rezipiert worden: kollektivierend in Jes 41,14 und im anthropologisch grundsätzlichen Sinne in Hi 25,6 (zu letzterem Beleg s.u. S.250).

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Jahwe, mein König und mein Gott

(53,3ba) Wie einer, vor dem „man" das Angesicht „verbirgt", (53,3 bß) Verschmäht, wir achteten seiner nicht26. Der Text besagt, daß da, wo der Mensch weder " i k j i „Gestalt" noch n n „(göttlichen) Glanz, Hoheit" hat, seine humanitas unkenntlich wird und seine Relationsfähigkeit erstirbt ("ran „begehren, lieben", vgl. 52,14aßb; 53,2 ayb). Fehlen des göttlichen ττη ist Verlust des Menschseins, wie andererseits dessen Konstituierung in der ungeschuldeten Anteilgabe am göttlichen n n durch den Deus praesens erfolgt. Ohne Ps 8,6 wäre das deuterojesajanische Gottesknechtslied an dieser Stelle nicht angemessen zu verstehen. In dasselbe theologische Bezugssystem gehört auch Ps 22, nach dessen Zeugnis der Rückzug des Deus praesens den Beter der gott- und menschenfernen Sphäre der niederen Kriechtiere und der schmähenden Gegner preisgibt (vgl. Ps 22,7 mit Jes 53,3; vgl. 53,3bß mit Ps 144,3), beide Repräsentanten der Gegenwelt, die an Jahwes Tin keinen Anteil hat. Der letzte Gedanke ist in Ps 22 nicht formuliert, doch aufgrund seines inneren Zusammenhanges mit Jes 52,14*; 53,2 f.* (und darüber hinaus auch mit Ps 8,6) zwingend vorauszusetzen. Erst auf diesem Hintergrund wird die deprimierende Perspektive der anthropologischen Bestimmung in der Freundesrede Hi 25,6 ( „ . . . d e r Mensch, die Made, der Menschensohn, der Wurm") voll erkennbar, in der die zeitweilige Notsituation des Beters von Ps 22 durch bewußte Isolierung von ihrem psalmtheologischen Kontext zur Wesensdefinition des Menschen schlechthin geworden ist27. Nachdem aufgezeigt worden ist, welche Erklärungsmöglichkeiten für die Not des Beters die Annahme einer feindlichen Gegenwelt zu der Jahwes bieten, muß aber auch auf die theologische Problematik dieser Vorstellung hingewiesen werden. Die Eigenständigkeit des Machtbereiches der Feinde neben demjenigen Jahwes hat nämlich zur Folge, daß das Verhältnis zwischen Verursachung der Not und Rettung aus der Not im unklaren bleibt, weil beide auf zwei miteinander konkurrierende Machtträger - Feinde und Jahwe - verteilt sind. Ist aber die Machtergreifung der Feinde ohne Jahwes Einverständnis überhaupt vorstellbar? Könnte andererseits Jahwe den Beter aus Feindesmacht ret26

Vgl. Marti, Jes S.347f.; Duhm, Jes S . 3 9 6 f . In 52,14 aß ist mit Marti das Partizip ho. zu lesen, ebenso in 5 3 , 3 b a . In 5 3 , 2 b ist das erste Wort wahrscheinlich durch einen Uberlieferungsfehler entstanden und deshalb mit Duhm wegzulassen. Ob man dem Vorschlag Martis folgen darf, 52,14 aß b hinter 53,2 b zu stellen, ist zweifelhaft. Zwar fügt sich 52,14aßb in seinen jetzigen Kontext tatsächlich nicht gut ein, doch die von Marti vorgeschlagene Zusammenstellung kann auch nicht befriedigen, da die beiden Zeilen wie D u bletten wirken. Die Kompositionsstruktur muß jedoch für die hier behandelte Problemstellung nicht unbedingt geklärt werden. 17 Vgl. Habel, FS Wolff S. 377 ff.

D e r heillose Mensch: Ps 22

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ten, wenn seine Macht nicht doch in ihre Gegenwelt hineinreichte? Worüber aber hat er Macht und worüber keine? Jedenfalls keine über den T o d (Ps 30,10 u.ö.)· Die primär räumliche Konzeption von Jahwe- und Feindesherrschaft, die sich selbst da noch als wirksam erweist, wo ihr Ursprung im tempeltheologischen Denken von späteren Entwicklungen überlagert worden ist, läßt Fragen offen. Ps 22 will angesichts dieser Problematik durch den Gedanken der Gottverlassenheit zur Klärung beitragen. Nur dort, wo der Deus praesens sich zurückzieht, können die Feinde Fuß fassen, während die Wiederherstellung der Gottesnähe durch seine Rückkehr dem Unwesen der Widersacher ein Ende macht (vgl. auch Ps 71,10-12). Diesem Ziel gilt die Bitte des Beters in Ps 2 2 , 2 0 - 2 2 , die überwiegend in konventioneller Psalmensprache verfaßt ist und damit diesen Aspekt der Theologie des Klageliedes ebenso treffend repräsentiert wie die Feindesschilderung zu ihrem Teil. Die Formulierung der Bitte läßt sorgsam gesetzte theologische Akzente erkennen. Dem die Klage einleitenden 'D381 „ich aber" (V. 7) wird nun ein betontes Πίΐκι „du aber" gegenübergestellt (V. 20). Der Beter blickt von sich weg auf Gott, den er erstmalig mit dem Jahwenamen anruft, welcher bisher nur einmal im Zitat der Feinde (vgl. Ps 3,3) vorgekommen ist (22,9). In der Bitte entreißt der Beter den Feinden den spöttisch zitierten Jahwenamen und macht ihn sich zu eigen (vgl. auch Vx: hi. „erretten" in V. 9 und V. 21). In deutlicher Korrespondenz zur einleitenden Anrufung in V . 2 appelliert er als noch immer heillos der Feindesmacht Ausgelieferter an den, dessen Heilssphäre ihm einst vertraut war und von dem er nun - immer noch und immer wieder neu - Hilfe erwartet. „Mein Gott" (V.2) ist „Jahwe" (V.20), ' n j n · ' „meine Hilfe" (V.2) erweise sich als 'ίϊΐ^'Κ „meine Stärke", die 'mryV „zu meiner Hilfe" fähig ist (V.20); die Gottesferne (ary, pirn V . 2 ) soll wieder der Gottesnähe weichen (pmr VR, »in V.20) 2 8 . In der Bitte V . 2 0 ff. führt der Jahwename 2 8 D e r Gebrauch der Wurzeln y®' und u y samt ihrer Derivate bringt in Ps 22 und einigen anderen Psalmen den tempeltheologischen Hintergrund zum Vorschein. Jahwes Heil und Hilfe gehören zu seinen Wesensmerkmalen, an denen er den Menschen in seiner Nähe Anteil gibt. Umgekehrt wird die erfahrene Hilfe zum Erweis der heilvollen Gottespräsenz und damit der Hilfeschrei zur exponierten Bitte (vgl. Ps 3,8; 6 , 5 ; 7,2; 2 2 , 2 2 ; 31,17; 54,3; 5 9 , 3 ; 6 9 , 2 ; 109,26 u.ö.). Weil Jahwe >yr A i i y i r /'jijnwi >π*κ „Gott meines Heils/meiner Hilfe" (Ps 18,47; 2 5 , 5 ; 2 7 , 9 ; 51,16; 88,2; vgl. 3 5 , 3 ; 38,23; 62,3. 7 f . ; 89,27; 140,8 u.ö.), nty /'inry „mein Helfer/meine Hilfe" ist ( P s 2 7 , 9 ; 40,18 = 70,6), kann er 'JTUyi» „zu meiner Hilfe" herbeieilen (»in, vgl. Ps 2 2 , 2 0 ; 38,23; 4 0 , 1 4 = 7 0 , 2 ; 71,12), kann er mir nyirV „zur Hilfe" werden (Ex 15,2; Jes 12,2; Ps 118,14. 21; vgl. 9 , 1 5 ; 13,6; 6 2 , 2 ; 6 9 , 3 0 u.ö.).

Dieser Zusammenhang von Wesen und Wirken Jahwes ließe sich am gesamten W o r t feld für Heil, Hilfe, Schutz, Rettung und Beistand im Psalter nachweisen.

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Jahwe, mein König und mein Gott

die Heilssphäre des Deus praesens herauf, aktualisiert in der konkreten Hilfserwartung. Eine Bitte wie V. 20 ist in vielen Klagegebeten Israels zu finden (vgl. etwa 38,22 f.; 71,12 u.ö.), aber vorher auch schon - natürlich an andere Götter gerichtet - in solchen Mesopotamiens 29 . Die Nennung des Jahwenamens reicht (wie auch sonst zuweilen) aus, um der Wirklichkeit dieses Gottes Geltung zu verschaffen, und zwar so eindrücklich, daß der von dämonischer Feindesmacht geplagte Beter von nichts anderem sein Heil erwartet - weder von Magie, wie es der religiösen Normalität des alten Orients entspräche, noch von Bekenntnisformeln national-religiöser, schöpfungstheologischer oder heilsgeschichtlicher Art, was den Erwartungen manches Alttestamentlers entgegenkäme. Mehr als des realitätssetzenden Namens bedarf es nicht. Kein Wunder, daß ihm das abschließende Lobgelübde gilt (ηηΐΡ „dein Name" V.23). Nach den bisherigen Darlegungen dürfte die vorexilische Zeit für die Entstehung der Grundfassung von Ps 22 die wahrscheinlichste sein. Sowohl der theologische Hintergrund der Erstfassung als auch die umfangreiche Fortschreibung sprechen dafür, den Psalm in die Phase zu datieren, in der sich Psalmtheologie vornehmlich als Tempeltheologie darstellt. Sie bildet auch die Grundlage für die Ps 22 prägenden Vorstellungen, obwohl ihre Inhalte nicht explizit zur Sprache kommen. Aber das Denken in Machtbereichen (demjenigen Jahwes und demjenigen der Feinde), die stark räumlich bestimmte Vorstellung von Jahwes Heilsentzug, der nicht zum Schuldbekenntnis des Beters, sondern zur Feindklage führt, die in der Schilderung der Not des Beters vorausgesetzte Herrlichkeitstheologie und die Formulierung des Rettungswunsches als Bitte um Wiederherstellung der Gottesnähe (kaum an beliebigem Ort, sondern im Tempel und dem zugehörigen Bereich) machen den genannten theologischen Kontext zur unabdingbaren Voraussetzung 30 . Eine Reihe höchstwahrscheinlich vorexilischer Individualklagen stimmt in dieser theologischen Ausrichtung mit Ps 22 überein (vgl. notabene im Grundbestand - Ps 3; 5; 6; 13; 26; 27 B; 28; 35; 41-43; 54; 57; 59; 61; 63; 69; 70), wobei manche von ihnen den Ort, von dem her der Beter Gottes Hilfe erwartet, explizit nennen: „Mit meiner Stimme rief ich zu Jahwe, und er hat mich von seinem heiligen Berge erhört" (Ps 3,5). Und wo Jahwe rettend seine Nähe kundgetan hat, darf der Beter an der Nähe Gottes auf Erden wieder teilnehmen. Deshalb die Bitte: " Vgl. Mayer, UFBG S.21 i f f . 50 Als Kontrast zu dieser im Grundentwurf vorexilischen Theologie der Klage lese man den spätnachexilischen Ps 39, um der beachtlichen Wandlung ansichtig zu werden (vgl. die guten Ausführungen von Stolz, Psalmen S. 40ff.).

Der heillose Mensch: Ps 22

253

„ S e n d e d e i n L i c h t u n d d e i n e T r e u e , d a ß sie m i c h leiten, d a ß sie m i c h führen zu deinem heiligen Berge und deinen W o h n u n g e n ! " (43,3). D e s h a l b die E r g ä n z u n g d e s V e r s p r e c h e n s z u m L o b d e s N a m e n s : „Ich will dir f r e i w i l l i g O p f e r b r i n g e n " ( 5 4 , 8 ) . W o R e t t u n g W i r k l i c h k e i t g e w o r d e n ist, k o m m t d e r D a n k z u W o r t . A u c h dafür hat die T e m p e l t h e o l o g i e eine charakteristische D e n k - u n d Sprechweise entwickelt, w e l c h e naturgemäß eng mit derjenigen der K l a g e v e r w a n d t ist. Sie s o l l n u n e x e m p l a r i s c h an P s 30 u n t e r s u c h t w e r den.

3. Der begnadete Mensch: Ps 30 2a 2b

Erheben will ich dich, Jahwe, denn du hast mich heraufgeholt, hast nicht meine Feinde über mich frohlocken lassen.

3a 3b

Jahwe, mein Gott, da ich zu dir schrie, machtest du mich gesund.

4a 4b

Jahwe, du hast meine Seele aus dem Totenreich heraufgeführt, hast mich aus den zur Grube „Fahrenden" ins Leben (zurück)gerufen 1 .

5a 5b

Singet Jahwe, ihr seine Getreuen, preiset sein heiliges Gedenken!

6a 6b

Ein Augenblick in seinem Zorn, ein Leben in seiner Huld, am Abend « » Weinen, doch gegen Morgen Jubel 2 .

7a 7b

Ich aber sprach in meiner Selbstsicherheit: Nimmermehr werde ich wanken.

8a 8b

Jahwe, durch deine Huld hast du meinem „Innern" Macht verliehen; verbargst du dein Antlitz, war ich verstört 1 .

1

In V. 4 b ist der Lesung des Ketib zu folgen. Das V. 6 einleitende '3 ist dem sog. δτι recitativum vergleichbar (vgl. GK § 157 b). In V. 6 b ist die Verbform j'$>* „es ( = das Weinen) währt die Nacht über" unschwer als Glosse zu erkennen, die den konzentrierten Nominalstil des Verses stört. 3 Die von MT bezeugte Form '"nn^ in V. 8 ist nach strengen philologischen Maßstäben unübersetzbar. Die durch den Uberlieferungsfehler verdeckte ursprüngliche Lesart kann auf zweierlei Weise rekonstruiert werden. Zum einen wäre eine fehlerhafte Punktierung anstelle des Status constructus Plural von in denkbar (einzige Form mit sicheren Belegen für die Reduplizierung des "i), so daß sich als ursprüngliche Lesung ry '-m^ „den Bergen der Kraft (?)" ergäbe (vgl. Targum). Damit ist jedoch nichts erreicht, weil der singulare Ausdruck weder für sich genommen noch im Kontext verständlich ist. Wie soll man schließlich den Dativ im Zusammenhang mit Tay hi. übersetzen? „Du hast (mich) auf feste Berge gestellt" würde eine weitere Korrektur im Kontext verlangen, ist aber auch von Konstruktion und Sinn her ganz unwahrscheinlich (vgl. Ps 31,9). Die zweite Rekonstruktionsmöglichkeit ist ungleich besser zu begründen, weil man 2

254 9a 9b

Jahwe, mein König und mein Gott Zu dir, Jahwe, rufe ich, zu „meinem Gott" flehe ich um Erbarmen 4 .

10 a Was ist (dein) Gewinn an meinem Blute, wenn ich hinabfahre zur Grube; iob kann Staub dich preisen, deine Treue verkünden? 11 a Höre, Jahwe, erbarme dich meiner, üb Jahwe, sei mir ein Helfer! 12 a D u hast mir meine Trauer in Tanz gewendet, 12b hast mein Sackkleid gelöst und mich mit Freude gegürtet, 13a So daß „meine" Ehre dich besinge und nicht verstumme; 13b Jahwe, mein Gott, immerdar will ich dich preisen 5 ! (Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.322)

„Ps 30 ist in poetischer Hinsicht einer der besten, ausgezeichnet durch leichten, trotz des schwierigen Metrums flüssigen Stil, durch schöne und treffende Bilder, durch klare Disposition und einheitliche Stimmung"6. Sosehr man nach erster Lektüre geneigt ist, Duhms ästhetischem Urteil beizupflichten, sowenig kann nähere Beschäftigung davon absehen, daß die ebenmäßig gestaltete Form des Dankliedes des einzelnen eine Fülle disparater Vorstellungen und Intentionen zusamsich auf das Zeugnis der LXX, allerdings nicht auf das der meisten Kommentatoren (Ausnahmen: Briggs I S.257. 260. 262 f. mit kaum haltbarer Interpretation; Weiser S. 179. 182 f.) stützen kann. Demnach ist die Verschreibung eines 1 in ein Ί für die Textverderbnis verantwortlich, als ursprüngliche Lesart also 'iiriV anzunehmen, vgl. LXX τφ κάλλει μου „meiner Schönheit, meinem Glanz". Der zunächst befremdliche Ausdruck ist aus alter tempeltheologischer Anschauung heraus zu erklären (s.u. S.259f.). Damit paßt auch die Wendung "my hi. + b „jemandem etwas verleihen" zusammen (vgl. 2 Chr 33,8 und Ewald 1/2 S. 110, eine wieder in Vergessenheit geratene Beobachtung, weshalb Bentzen S. 153 über den angeblich ungeschickten Ausdruck betrübt sein muß). 4 Welcher Gottesname in V. 9 b ursprünglich gestanden hat, ist nicht mehr mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls spricht für 'ΠΚ „Herr" (MT) nicht gerade viel, weil der Name in Ps 30 singular wäre. Auch das in hebräischen Handschriften bezeugte Tetragramm repräsentiert kaum die ursprüngliche Lesart, sondern scheint seine Existenz eher einer Angleichungstendenz an V. 11 zu verdanken. Indessen bietet LXX mit τον Οεόν μου = 'nbx „(zu) meinem Gott" eine Lesart, die dem Gebrauch der Gottesnamen in Ps 30 am ehesten entspricht (vgl. V. 3. 13). Sie ist natürlich vom Verdacht der lectio facilior nicht ganz zu befreien, sowenig er auch in diesem Falle zwingend ist. 5 In der Ergänzung des Suffixes der l.ps.c.sg. bei n a s „Ehre" ist noch einmal der LXX zu folgen (ή δόξα μου). Die damit verbundene Vorstellung wird im folgenden erläutert werden. 6 Duhm 2 S. 124. Ist Duhms ästhetisches Urteil im großen und ganzen nachvollziehbar, zeigt seine darauf folgende religiöse Einschätzung des Psalms, daß er vom Inhalt überhaupt nichts verstanden hat. Was hat die vom Beter mehrfach gepriesene Rettung aus der Todessphäre mit der „leichtherzige(n) Genügsamkeit einer glücklichen Seele" zu tun?

Der begnadete Mensch: Ps 30

255

menhalten muß, weshalb die Frage nach seiner gedanklichen und literarischen Einheit doch nicht von vornherein als gegenstandslos gelten kann. Zum einen fällt nämlich auf, daß - bedingt durch die hymnische Diktion des Dankliedes - das „Du" der Anrede Jahwes dominiert, welchem das „Ich" des lobenden und dankenden Beters gegenübersteht. Dieses Verhältnis ist in V.9b unerheblich 7 , in V. 5 f. hingegen stark gestört. Der V. 5 einleitende Imperativ nimmt die Lobaufforderung von V. 2 wieder auf, richtet sie nun aber an die Gemeinschaft der Frommen und begründet sie in V. 6 nicht mit einer konkreten Rettungstat, sondern mit einer Sentenz, die weit über das Anliegen des Psalms hinaus das Geheimnis von Gottes Wirken zu erhellen sucht. Insofern ist der Umschlag in die Rede über Gott in V. 5 f. konsequent und in Texten mit hymnischer Diktion auch nicht ohne Parallelen. Jedoch wäre die Lobaufforderung an die Gemeinde eher am Ende des Psalms zu erwarten gewesen. Daß V. 5 f. der „Vorgeschichte" des Beters (V. 7-11) vorangestellt sind, läßt den Verdacht aufkommen, es solle zu einem möglichst frühen Zeitpunkt die kollektive Perspektive im Psalm artikuliert werden, verbunden mit einer systematisch-theologischen Lesehilfe, die das Verständnis des Folgenden präformieren soll8. Zum anderen stellt die bereits erwähnte „Vorgeschichte" vor Probleme, denn der Inhalt von V. 7-11 ist nur mit großen Einschränkungen als solche zu bezeichnen. Der in V. 7 betonte Einsatz mit 'JKi „ich aber" wird im folgenden nicht durchgehalten, sondern schnell durch das „Du" Jahwes wieder in den Hintergrund gedrängt, dessen Wirken in V. 8 ähnlich übergreifend wie in V. 6 charakterisiert wird (hier wie dort unter Verwendung des Begriffs „Huld") 9 . Wodurch jedoch am stärksten der Eindruck einer lediglich präludierten, aber nicht realisierten Vorgeschichte entsteht, ist der Tempusgebrauch. V. 9 f. sind präsentisch formuliert und V. 11 Imperativisch, formal ein entscheidender Hinweis darauf, daß es sich eigentlich um Klage in actu und nicht um Rückblick auf Klage im Kontext des Dankliedes 7 Der nur vorübergehende, fast unmerkliche Wechsel von der Anrede Gottes (V. 9 a) zur Rede über Gott (V. 9 b) ist nicht ungewöhnlich und auf jeden Fall ohne literarkritische Relevanz. Wer weiß, ob nicht sogar mit Peschitta und Targum die Anrede im M T wiederhergestellt werden darf, was allerdings eine Bevorzugung der lectio facilior wäre. ' Zudem fällt als sprachliche Besonderheit auf, daß die Objekte in V. 9 mit i eingeführt werden (vgl. GK § 117n). Das ist in Verbindung mit den Verben nar pi. „singen" und nv hi. „preisen" zwar ohne weiteres möglich; da jedoch in V. 13 beide Verben mit dem Akkusativ konstruiert sind (vgl. auch V. 10), liegt der Verdacht literarischer Uneinheitlichkeit sehr nahe. V. 13 könnte in Verbindung mit späten liturgischen Formeln wie Ps 97,12 als Vorbild für 30,5 gedient haben. ' Noch eine weitere Wiederholung fällt ins Auge: Die Unterweltsmetaphorik von V. 4 hat ein Pendant in V. 10. Es wäre jedoch übertrieben, von Dubletten zu reden.

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Jahwe, mein König und mein Gott

handelt. Die unterschiedliche Perspektive läßt sich am Psalm selbst dokumentieren. V. 9 a hat eine Sachdublette in V. 3 b α, hier aber - wie in einem Danklied zu erwarten - korrekt perfektisch formuliert 10 . Der Versuch, die aufgezeigten Ungereimtheiten für die Klärung des Entstehungsprozesses von Ps 30 auszuwerten, darf nicht von der formalen Geschlossenheit der Endfassung absehen. Schließlich kann es kaum Zufall sein, daß den ganzen Psalm hindurch längere Bikola (mit in der Regel vier Hebungen pro Kolon, V.2. 4. 6. 8. 10) mit kürzeren (mit zwei bzw. drei Hebungen pro Kolon, vgl. V. 3. 5. 7. 9. 11) wechseln, bis die Bewegung in zwei abschließenden langen Bikola zur Ruhe kommt (V. 12 f.). In diese einheitliche Formgebung sind die disparaten inhaltlichen und stilistischen Elemente eingebettet, was wohl nur die Deutung zuläßt, daß der Psalm in relativ später Zeit seine literarische Gestaltung erfahren hat, nachdem seine inhaltliche Anreicherung durch Elemente theologischer Systematik (V. 8) und der Klage (V. 9-11) bereits erfolgt war. Dafür spricht auch der zum Teil für die Spätzeit typische Sprachgebrauch11. 10 Gunkels Kommentierung ist eher dazu angetan, den Sachverhalt zu verdunkeln als zu erhellen. Er entdeckt in Ps 30 eine „kunstvolle Gliederung" mit folgenden Teilen: V. 2 Einführung mit „vorläufige(r) Erzählung von der Errettung", V. 3 f. ausführlicher Bericht, V. 5 f. eine Art Chorschluß mit hymnischem Charakter. „Mit solchem Hymnus hat das Lied einen vorläufigen Schluß erreicht. Nun setzt es noch einmal ein, um einige Hauptgedanken nochmals ausführlicher vorzutragen" (alle Zitate S. 127). Ist eine solche Anordnung nicht eher Unordnung als „kunstvolle Gliederung"? Gunkels Verweis auf die ähnliche Disposition von Ps 102 ist nicht stichhaltig, weil er ganz offenkundig literarisch nicht aus einem Guß ist (vgl. Becker, Israel S.43ff.). Ebensowenig hilft für Ps 30 die allgemeine Feststellung weiter, später sei es im Danklied „Sitte geworden, an der Stelle der Erzählung, wo von der Anrufung Jahwes geredet wurde, die Worte anzuführen, die der Dichter in seiner Todesangst gesprochen h a t . . . Sie tragen die Form des Klageliedes und werden gewöhnlich mit ,anT 'ämartl,einst habe ich gesprochen' eingeführt" (Gunkel/Begrich, Einleitung S.275). Ps 30 enthält eben beides, den Bericht von der Anrufung Jahwes (V. 3) und die Klage selbst (V. 7-11), in der aber wiederum durch V. 8 die spezielle Klagesituation durchbrochen wird. Es hat den Anschein, daß formgeschichtliche Erklärungsversuche hier nicht weiterhelfen. Diese kritischen Einwände treffen teilweise auch auf Westermann (Lob S. 76 ff.) zu. 11 Folgende Wörter gehören im Psalter (und literarisch verwandten Texten) in den Bereich überwiegend spät belegter Sprache (Dokumentation im folgenden nur exemplarisch): Π'Π pi. „am Leben erhalten, (wieder) lebendig machen" (Ps 22,30; 33,19; 41,3; 71,20; 80,19; 85,7; 119 passim; 138,7; 143,11); zum Hapaxlegomenon ii>e (etwa) „Selbstsicherheit" vgl. das Synonym m1?® in Ps 122,7 (positiv) und Prov 1,32 (negativ); ]ΙΪΊ „Huld, Wohlgefallen" (Ps 19,15; 40,9; 51,20; 89,18; 103,21; 106,4; 143,10; 145,16. 19; wahrscheinlich ältere Belege: 5,13; 69,14; die ältere Psalmtheologie bevorzugt anstelle von p n das Synonym "τοπ, das allerdings auch bis in die spätesten Psalmen hinein Verwendung gefunden hat); j:n hitp. „(um Erbarmen) flehen" (Ps 142,2; vgl. auch Dtn 3,23; l K ö n 8,33. 47; Hi 8,5; 9,15; 19,16 u.ö.); jine „Grube" (Ps 7,16; 9,16; 16,10; 49,10; 94,13; 103,4; wahrscheinlich ältere Belege: 35,7; 55,24).

Der begnadete Mensch: Ps 30

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Wird sich im folgenden das Erklärungsmodell „traditionsgeschichtliche Vielschichtigkeit in literarisch einheitlicher Gestalt" für V. 2-4. 7-13 als tragfähig erweisen, so doch nicht für V. 5 f., obwohl auch sie in die formale Letztgestalt des Psalms integriert sind. Aber sie zeichnen sich durch so viele Auffälligkeiten gegenüber dem Psalmkontext aus (Rede von Jahwe in der 3.ps.m.sg., Lobaufruf mit kollektivierender Tendenz an unpassender Stelle mitten im Psalmkorpus, in V. 6 Vorwegnahme und damit Doppelung des theologischen Grund-Satzes von V. 8), daß sie besser als ein literarischer Nachtrag mit formaler Anpassung an die Vorlage verstanden werden 12 . Nimmt man V. 5 f. aus dem Kontext heraus, entsteht durch den Anschluß von V. 7 an V. 4 ein sinnvollerer inhaltlicher Zusammenhang als vorher, weil auf den Rettungsbericht gleich (der Rückblick auf) die zugehörige Notsituation folgt. Nur an dieser Stelle des Psalms ist durch eine literarkritische Operation ein schlüssigerer und deshalb wohl auch ursprünglicherer Zusammenhang zu erreichen. Wieso dem Psalm durch die Zufügung von V. (5 und) 6 in ausgesprochen geglückter Weise ein weiteres theologisches Licht aufgesteckt worden ist, wird später zu erläutern sein. Betrachtet man zunächst die Fassung von Ps 30 ohne die Erweiterung V. 5 f., drängt sich ein ähnlicher Eindruck wie im vorhergehenden Abschnitt bei Ps 22 auf: Trotz der späten Sprach- und Formgebung ist Ps 30 Vers für Vers von tempeltheologischem Gedankengut geprägt, wie es auch in einer vorexilischen Dichtung hätte stehen können, vielleicht ebenso ohne explizite Erwähnung des Tempels wie hier. Schon mit der einleitenden Selbstaufforderung zum Lob für die Rettung steht die Welt der klassischen Psalmtheologie vor Augen. Der Dichter will Jahwe erheben (απ pol.), weil er selbst heraufgeholt worden ist (π^τ pi., wie ein Eimer aus dem Brunnen, vgl. Ex 2,16. 19). Die Rettungsbewegung von unten nach oben spiegelt sich in der Bewegung des Gotteslobes wider 13 . Dem entspricht als tempeltheologische Voraussetzung die rettende Erhöhung des Menschen durch Gott, die in V. 2 durch den Gebrauch von o n pol. lediglich anklingt. Mit diesem Verb wird in der Sprache der Hymnen und Danklieder auch - und sachlich sogar primär - das Handeln Gottes, des „Erhabenen" (vgl. Ps 118,16; Neh 9,5), zum Ausdruck gebracht, das auf Rettung und Er12 Westermann (Lob S. 77) spricht im Blick auf V. 5 f. von „Erweiterung" - allerdings ohne nähere Erläuterungen. Wenn man diese mit denen in den „Ausgewählten Psalmen" vergleicht (S. 121 ff.), kann wohl kaum ein literarischer Nachtrag gemeint sein. Crüsemann (Studien S. 235 f.) findet in V. 5 f. seinen Imperativischen Hymnus wieder, bemerkt aber immerhin, daß er „gegenüber der Normalform eigentümlich variiert" ist (S. 236). 13 Die Ab- und Aufwärtsbewegung wird auch weiterhin in Ps 30 zur Umschreibung von N o t und Rettung verwandt (vgl. V. 4. 10).

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höhung des Menschen in die Sphäre der Gottespräsenz zielt (vgl. 1 Sam 2,7 ί.; 2 Sam 22,49 = Ps 18,49; 9,14; 27,5; 37,34; 75,11) und das das mit demselben Verb bezeichnete Gotteslob gleichsam nur prolongiert (vgl. Ex 15,2 ss Ps 118,28; Jes 25,1; Ps34,4; 99,5. 9; 107,32; 145,1). Ps 30 lebt auch darin ganz aus Erfahrungsbereich und Gedankenwelt der Tempeltheologie, daß Rettung Verhinderung des Triumphes der Feinde über den Beter (V. 2 b), Heilung (V. 3 b), Heraufholen aus Totenreich und Grube bedeutet (V.4). Hier waltet das Formular, damit viele Gerettete in diesen Dank einstimmen können 14 . Die Plerophorie in der Kennzeichnung der Gegenwelt (Feind, Krankheit, Todeswelt, Grube) mag durch Traditionssynthese zustande gekommen sein, aber sie liegt der literarischen Fixierung in diesem wie in anderen Psalmen weit voraus, denn die Pluralität der Vorstellungen erzeugt keine inhaltliche Spannung mehr. Sie steht für den lokal und spirituell der Jahwesphäre (gedacht als Wirkungsfeld des Tempels und dessen, was sichtbar und unsichtbar zu ihm gehört) entgegengesetzten Bereich, für das den Jahweverehrern Bedrohliche, für das widergöttlich Nichtige und zugleich mythisch-magisch höchst Potente. Wie ernst diese Gegenwelt zu nehmen ist, läßt sich aus der Konstruktion von V. 2 ersehen. In der Objektposition der beiden Kola stehen sich dem Anschein nach gleichwertig die Repräsentanten der beiden Machtbereiche gegenüber: Jahwe und die Feinde. Daß beider Machtkompetenz dann doch nicht gleichwertig ist, tut der Gefährlichkeit der letzteren keinen Abbruch. Was folgt für den Beter aus der Bedrohung durch Feinde, Krankheit und Tod? Er kann nicht loben. Wo Feinde triumphieren, erstirbt das Gotteslob (vgl. V.2b; 25,2; 35,18f.; 38,14-17). Das kann nach Meinung des bedrängten Beters nicht in Jahwes Sinne sein, weshalb er Gottes Zuwendung gerade durch den Verweis auf den ihm durch seine Existenzgefährdung entstehenden Schaden zu erreichen sucht 15 . Und konsequenterweise manifestiert sich die Rettung des Beters in der Wiederaufnahme des Gotteslobes, welches in Form von Selbstaufforderung zum Lob und Lobgelübde das erste und letzte Wort in Ps 30 hat (V. 2 a. Auf das Absinken des Beters in die Todeswelt der Feinde wird in V. 2-4 als einen Vorgang zurückgeblickt, der durch nichts anderes als ihre 14 Seybold (Gebet S. 123 ff.) meint in ihm allerdings durch eine fragwürdige Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte einen „Lobpreispsalm des Geheilten" erkennen zu können (vgl. S. 128). 15 Zu V.10 vgl. Ps 6,6; 88,11-13; 115,17; Jes 38,18; vgl. auch Westermann, Lob S. 120 ff.

Der begnadete Mensch: Ps 30

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Machtgier ausgelöst worden zu sein scheint. Jedenfalls fällt kein Wort über ein schuldhaftes Verhalten des Beters, für das er durch Preisgabe an die Feinde gestraft würde. Nicht daß diese Gedanken prinzipiell ausgeschlossen wären, aber ihr Fehlen ist auch kein bloßer Zufall, sondern deutet einmal mehr auf die hier bestimmende tempeltheologische Vorstellungssphäre hin, für die Schuld und Strafe des Beters keine theologischen Leitbegriffe sind. In V. 7, der in der Grundfassung des Psalms unmittelbar auf V. 2-4 gefolgt ist, deutet sich hingegen eine leichte Akzentverschiebung gegenüber dem Vorhergehenden an. Die Gedankenwelt bleibt zwar in V. 7-11, dem Teil, der der zugrunde liegenden Konzeption nach die Vorgeschichte des Beters ausführlicher zur Sprache bringen soll, weiterhin die tempeltheologische. Doch wird in V. 7 an eine Handlung des Beters erinnert, die nicht als Schuld deklariert wird, wohl aber bei ihm eine Haltung offenbar werden läßt, durch die er sich selbst aus der Jahwenähe entfernt: „Ich aber sprach in meiner Selbstsicherheit: Nimmermehr werde ich wanken". Selbstsicherheit ist eine Form der Selbstherrlichkeit, die den Herrlichkeitsempfang durch Jahwe nicht als die existenzgründende Gabe wahrhaben will und deshalb auch nicht in der Herrlichkeitsrückgabe im Gotteslob ihre Bestimmung erkennen will. Vielmehr sucht sie ihr Ziel in Selbstgründung, eigener Ordnung, Autonomie. DVIJ^ BIÖR Va „Nimmermehr werde ich wanken" 16 . Was der Mensch D^iyV tut, ist weit über den zeitlichen Aspekt hinaus immer von existentieller Tragweite. D^iy^ wählt man einen Lebensweg, zum Bösen (V. 7) oder zum Guten (V. 13). Auf diese Weise bedenkt Tempeltheologie menschliche Schuld, ohne daß das Verhältnis zur dominierenden Feindbedrohung ausgemittelt wäre. In V. 8 folgt eine Art theologischer Grundsatzerklärung, die die im vorhergehenden Vers angesprochene Schuldfrage nicht weiterführt und trotz ihrer festen literarischen Einbindung durch die übergreifende Perspektive den Rahmen des Dankliedes sprengt. Gleichwohl ist der Sinn ihrer Stellung nach V. 7 unschwer erkennbar. Der eigenmächtigen existentiellen Entscheidung des Menschen wird Jahwes Entscheidungsgewalt über den Menschen als die einzig legitime gegenübergestellt, in deren Kompetenz beides fällt: göttliche Zuwendung und Abkehr. Es ist der tempeltheologische Gedanke der existenzgründenden Anteilgabe Jahwes an sich selbst und des existenzvernichtenden Entzuges dieser 16

Zum Wanken bzw. Nicht-Wanken vgl. Ps 10,6; 13,5; 15,5; 16,8; 21,8; 62,3. 7; 112,6 (Zitat aus Ps 15,5?) u.ö.; besonders interessant 10,6, weil es der Frevler ist, der sich in seiner Vermessenheit mit dem Nicht-Wanken brüstet, und 15,5, weil das Nicht-Wanken ainyi» einzig im Zuspruch Gottes seinen angemessenen Platz hat.

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J a h w e , mein K ö n i g und mein G o t t

Gabe, der hier in später Formulierung vorgetragen wird. Der Wille des Gebers wird durch Jim „ H u l d " charakterisiert, die Gabe durch ty „Macht" und der Empfänger durch die bereits empfangene Gnadengabe Τ7Π „Hoheit, Pracht, Inneres", die für ihn selbst stehen kann, weil er ohne sie überhaupt keinen Bestand hätte, n n hat hier eine ähnlich konstitutive Funktion inne wie "Tina „Ehre" und n n in Ps 8,6. Wenn auch in nachgeordneter Stellung hat und realisiert Jahwe noch die andere Möglichkeit. Wo der Deus praesens seine Nähe entzieht, wo er nicht hinschaut 17 , tritt Chaos ein, werden Zeichen der Ankunft Gottes (vgl. Vm ni. „verstört sein/werden" in Ex 15,15; Ps 6,11; 48,6; 83,18) zu solchen der Gottesferne (vgl. Vnn ni. in Ps 30,8; 104,29; jüngere Vorstellung in 90,7). Ohne völlige inhaltliche Abstimmung will 30,8 b im Rückblick auf V. 7 verdeutlichen: Selbstsicherheit führt gerade das herauf, was sie verhindern möchte. Sie ist Präludium des Chaos oder - mit Sinuhe gesprochen - „Geschmack des Todes" 1 8 , wobei die Situation des Selbstsicheren prekärer als die des Ägypters auf der Flucht ist. Dieser erkennt seine tödliche Bedrohung, jener nicht. Daß die Vorgeschichte des Beters innerhalb des Dankliedes in V. 9-11 ganz in das Genus der präsentischen Klage umschlägt und daß die literarkritische Separierung dieses Teiles nur um den Preis der Beschädigung der Gesamtform zu haben wäre, ist bereits dargelegt worden. Bleibt zu fragen, mit welcher Absicht die Klage an dieser Stelle des Dankliedes aktualisiert worden ist. Wahrscheinlich steht hinter der Integration ungestillter Klage in den Dank für Rettung der theologische Gedanke, daß der Beter in Erhörungsgewißheit klagen darf. Diese Reflexion ist nicht einfach nur erbaulich fromm, sondern, wie V. 10 zeigt, genau kalkuliert. Klage kommt schließlich aus der Unterbrechung des Gotteslobes, an dessen Wiederaufnahme beide ein Interesse haben, der existenzgefährdete Beter und der Lobpreis heischende Gott. Zugespitzt gesagt: Das sich in Einfügung der Klage in Lob und Dank manifestierende Vertrauen auf Erhörung ist eine Art Gotteslob aus der Tiefe. Sie ist ein Festhalten daran, daß Klage nie das erste und letzte Wort sein kann 19 . Der Psalm schließt, wie er begonnen hat: mit dem Jubel über die Rettung und der Selbstbestimmung des Beters zum Lobpreis Jahwes (V. 17 Z u m Verbergen des Antlitzes vgl. Ps 13,2; 2 2 , 2 5 ; 27,9; 4 4 , 2 5 ; 6 9 , 1 8 ; 88,15; 102,3; 143,7 u . ö . 18 Sethe, Lesestücke S . 4 , 17; Galling, T G I 2 S . 3 ; Lichtheim, A E L I S . 2 2 4 . " Sachtheologisch, nicht im Sinne der Disposition eines T e x t e s gemeint. D e n n aus derselben theologischen Ü b e r l e g u n g heraus können auch ein D a n k - und ein K l a g e g e b e t hintereinandergestellt werden, wie es in Ps 40 der Fall ist. H i e r ist der R e d a k t i o n s p r o z e ß noch genau rekonstruierbar, weil der an das Danklied ( 4 0 , 2 - 1 2 ) angehängte K l a g e p s a l m auch separat überliefert ist ( 4 0 , 1 4 - 1 8 = 70); vgl. auch G u n k e l / B e g r i c h , Einleitung S. 275.

D e r begnadete M e n s c h : Ps 30

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12 f.). Die beiden letzten Zeilen bündeln alles im Psalm Gesagte, indem sie alles in den zentralen tempeltheologischen Kategorien der Teilgabe und Teilnahme an der Jahwenähe auszudrücken versuchen. Nicht haben die Feinde den Jubel letztgültig für sich reklamieren können (vgl. na® pi. in V. 2), sondern Jahwe hat ihnen die nnair „Freude" entrissen und gürtet damit den Geretteten (V. 12), wie er sich selbst in Ps 93,1 als König mit Ty „Macht" gürtet (vgl. 30,8 und - in dieser Reihenfolge 29,1b und 8,3). Daß der Beter in 30,13 von 'TOD „meiner Ehre", seinem innersten Wesen als der zuständigen Instanz für das nie verstummende Gotteslob spricht, läßt die die älteren Psalmen bestimmende Herrlichkeitstheologie in ihrem ganzen Reichtum anklingen: der "TinD, der nirgendwo anders als bei dem König Jahwe selbst zu Hause ist (vgl. 24,7-10), der als Teilgabe Jahwes den König zum König (vgl. 21,6) und den Menschen zum Menschen (vgl. 8,6) und schließlich die ganze Welt zum Ort der Jahwegegenwart macht (vgl. 19,2; J e s 6 , 3 ) und dessen Rückgabe im Gotteslob die vornehmste Bestimmung der Götter(söhne) und Menschen ist (vgl. 29,1 f. 9; 30,13). Die naa-Theologie von Ps 30 ist ganz dicht bei derjenigen von Ps 29, weshalb wohl auch beide hintereinandergestellt worden sind. Weil das Gotteslob für Götter(söhne) und Menschen, selbst für den Kosmos (vgl. 19,2 ff.), schlechterdings existenzgründend und existenzsichernd ist, wäre das Lobgelübde in Klage- und Danklied als ein bloßes „Dankeschön" gründlich mißverstanden. Mit dem Gotteslob nehmen alle, die die Gunst der Gottesnähe erfahren haben, ihre Existenzbestimmung in der Jahwesphäre wahr. Kein Wunder, daß der Beter von Ps 30 das Lob für „Jahwe, meinen Gott" so anstimmt, wie es seiner fundamentalen theologischen Bedeutung gemäß ist: D^iyV „auf ewig" (V. 13) 2 °. „Jahwe" (V. 2. 4. 8. 11 zweimal) und „Jahwe, mein Gott" (V. 3. 9 [nach L X X ] . 13) - mit diesen Namen verschafft sich die vox israelitica in der Grundfassung dieses Dankliedes, das ansonsten stark von den Konventionen der internationalen altorientalischen Gebetssprache geprägt ist, Geltung. Die Identität des Volksgottes Jahwe ist durch kein Theologoumenon, sondern allein durch seinen Namen gesichert - dadurch aber zureichend. Und dasselbe gilt für Jahwe als persönlichen Gott, wie er in der Tempeltheologie neben seiner Prädikation als König mit kosmischem Herrschaftsanspruch von 'vorrangigem Interesse ist. Der als 'Π^κ ΠΊΠ' „Jahwe, mein Gott" Angerufene ist souverän genug, 2 0 Z u den mit V . 13 z u s a m m e n g e h ö r i g e n Belegen vgl. Beyerlin, F S Elliger S. 17 ff., o h n e dessen F r a g e nach den M o d a l i t ä t e n der Realisierung des „fortdauernd-berichtenden L o b preises" f ü r sonderlich sinnvoll zu halten (vgl. S . 2 4 ) .

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Jahwe, mein König und mein Gott

seine Wirklichkeit jedem Gebet und jedem Beter einzuprägen, woher auch immer die Worte entliehen sein mögen. Diese Macht des Namens, die von hymnischen Dichtungen her bereits vertraut ist, erweist sich bis ins alltägliche Individualgebet hinein als wirksam. Immer deutlicher kommt dem Namen die Valenz eines Theologoumenons zu, über das hinaus die Psalmtheologie in ihrem ursprünglichen bzw. der Sache nach ursprungsnahen Stadium keines weiteren bedurfte. Kehrt man nach der Auslegung der Grundfassung des Psalms zu den bereits als Fortschreibung erkannten Versen 5 f. zurück 21 , steht die in ihnen sich dokumentierende theologische Weiterführung und damit auch der Anlaß ihrer Einarbeitung klarer vor Augen. In V. 5 wird parallel zum Jahwenamen i t n p "DT „sein heiliges (erbarmendes) Gedenken" genannt 22 , anstelle des Namens also die Sache, für die er in diesem Psalm steht, und damit Namenstheologie in einem fortgeschrittenen Stadium der Reflexion. Sie soll die Sentenz V. 6 vorbereiten, die Ähnliches wie V. 8 sagt, nun aber theologisch pointiert. Während V. 8 lediglich die Existenzgewährung durch Jahwes Huld (pm) und die Existenzminderung durch seine Abwendung gegenüberstellt, gewichtet V.6 dieses Verhältnis in der Weise, daß Jahwe seinem sich in der Abwendung manifestierenden Zorn nur einen Augenblick (y:n), seiner Huld (fim) aber ein Leben lang Raum gibt. Und V. 6 b „Am Abend Weinen, doch gegen Morgen Jubel" sagt nicht, aber meint dasselbe. Durch die Vorausstellung von V. 6 vor V. 7-13 soll die Folge von Klage und Rettung/Lob als Konkretisierung ebenjener Sentenz verstanden werden, die durch den „Triumph der Gnade" Tempeltheologie profilierter vertritt als der ganze Psalm in seiner Grundfassung. Sie gehört zusammen mit dem bedeutungsgleichen, vielfach rezipierten tempeltheologischen Grund-Satz, daß Jahwe Vs τοπ am D'SK "pK ]iam Dim „ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und von großer Huld" sei23. Beide Formeln und mit ihnen auch Ps 30 sagen, worauf Tempeltheologie ihrem innersten Wesen nach zielt: auf das Lob des gnädigen Gottes aus dem Munde des begnadeten Menschen 24 .

21

S.o. S.257. Zu iDt als Wechselbegriff für Jahwe vgl. Schottroff, Gedenken S. 292 ff. 23 Vgl. Ex 34,6; Jo 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8 u.ö.; zur Interpretation vgl. vorerst Dentan, V T 13 S.34ff. 24 Daß die Sentenz Ps 30,6 (genau wie diejenige in Ex 34,6 u.ö.) nicht mehr in erster Linie individuelle religiöse Erfahrung, sondern theologische Quintessenz formuliert, wird bereits an der Kollektivierung in Ps 30,5 deutlich. Deshalb ist auch erklärlich, wieso Deuterojesaja in Anknüpfung gerade an diese Sentenzen Hoffnung für ganz Israel zu verkünden vermag: Jes 54,7f. (vgl. auch Westermann, FS Wolff S. 155 f.). 22

Der beheimatete Mensch: Ps 23

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4. Der beheimatete Mensch: Ps 23 lb 2a

J a h w e ist m e i n H i r t e , ich leide k e i n e n M a n g e l , auf g r ü n e n A u e n läßt er m i c h lagern.

2b 3a

Z u r u h i g e n W a s s e r n leitet er mich, er erneuert m e i n e Lebenskraft 1 .

3ba 3bß

Er f ü h r t m i c h auf r e c h t e n W e g e n um seines N a m e n s willen.

4acc 4 aß

G e h e ich a u c h d u r c h s finstere T a l , f ü r c h t e ich nichts B ö s e s ,

4ayba 4bß

D e n n du bist bei mir, d e i n S t e c k e n u n d Stab sie t r ö s t e n mich.

5aa 5 aß

D u bereitest v o r mir e i n e n T i s c h in G e g e n w a r t m e i n e r F e i n d e .

5ba 5 bß

D u salbst mit O l m e i n H a u p t , m e i n B e c h e r ist reichlich gefüllt.

6aa 6 aß

Ja, G ü t e u n d H u l d f o l g e n mir alle T a g e m e i n e s Lebens.

6ba 6bß

U n d ich w e r d e „ w o h n e n " in J a h w e s H a u s auf immerdar 2 .

(Hebräische Textrekonstruktion s.u. S.319)

Wer sich von formgeschichtlichen Distinktionen für Ps 23 Erkenntnisgewinn verspricht, findet in der weithin phantasievollen Forschungs-

1

Die Übersetzung von V. 3 a im Anschluß an Mittmann, Z T h K 77 S. 3. D e r insgesamt vorzüglich überlieferte Text weist lediglich in V . 6 b eine masoretische Fehlpunktierung auf: Statt 'fi?fi „ich will zurückkehren" wird höchstwahrscheinlich mit L X X (και τό κατοικείν με) 'flail „und mein W o h n e n (wird sein) - und ich werde w o h nen" zu lesen sein (zur wohl auch möglichen Lesung 'flaip;[i] vgl. Mittmann, Z T h K 77 S. 14 A.41; eine abwegige D e u t u n g von V . 6 b bei Eißfeldt, KS V S. 115ff.). Diese Änderung kann sich auf die wichtige Formulierungsparallele Ps 27,4 stützen, zunächst einmal dahingestellt, ob es sich bei 27,4ay8 um eine Entlehnung aus 23,6 handelt oder nicht. Die masoretische Lesart resultiert aus dem Mißverständnis, der Psalmdichter wolle den von G o t t geführten und behüteten Beter zum Schluß des Gedichtes in den Tempel zurückkehren lassen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist diese Interpretation der Bildsprache des Psalms zu vordergründig, ganz zu schweigen davon, d a ß die Deutung bereits an der merkwürdigen Konstruktion von ai® „zurückkehren" mit der Präposition a scheitert (eine unsichere Stelle wie H o s 12,7 kann als Gegenargument wohl nicht ernsthaft in Frage kommen, vgl. Utzschneider, Hosea S. 192). 2

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Jahwe, mein König und mein Gott

debatte An- und Aufregendes genug 3 . Vom Danklied 4 über den „psalm of trust in a specific historical circumstance which has meaning for the life of faith" ... „during the coronation ritual" mit Prozession, Festmahl und Königssalbung 5 bis hin zur Bekundung der Rettungserfahrung, „durch die kultische Institution eines Gottesgerichtes vermittelt", gipfelnd in einer „sädäqerneuernden Mahlfeier", bestehend aus „Bekenntnis an sich" (V. 1 b-6 a) und „Gelöbnis fortdauernd-zukünftiger tödä" (V. 6 b „im Grunde") 6 , des genaueren zu verstehen als „lebenslang wiederholtes Wallfahren zum ,Hause Jahwes' "7, ist geflissentlich kein Aufwand vermieden worden, um das bis dahin unentdeckt gebliebene Geheimnis von Ps 23 an den Tag zu bringen. Nun hätte gerade den formgeschichtlich versierten Exegeten auffallen sollen, daß die Sprache von Ps 23 ausschließlich affirmativ und deskriptiv, nicht - wie beim Danklied zu erwarten - adhortativ, appellativ und narrativ ist und zudem ganz ohne Rettungs-, Dank- und Lobvokabular auskommt. Weder diese Fehlanzeige noch diejenige an rituellen bzw. kultisch-institutionellen Hinweisen haben offensichtlich viele Forscher daran zu hindern vermocht, von der jeweiligen Gesamtschau her im Einzeltext hinzuzudenken, was er nicht selber sagt, frei nach der Devise: Einer trage des anderen Last. Weitere Deutungen ließen sich referieren und kritisieren, worauf jedoch verzichtet werden soll, weil sie nur die Farbenpalette, nicht aber das Bild von Ps 23 bereichern würden. Statt dessen soll im folgenden der Versuch unternommen werden, seine prägenden theologischen Gedanken im Anschluß an das schlichte, aber kundige Urteil de Wettes zu erhellen, das in nuce alles enthält, was über diesen Psalm formgeschichtlich zu wissen not tut: „Ein Frommer drückt sein Vertrauen auf den Schutz und die Leitung Jehovas aus, zuerst in zwey Bildern: 1) im 3 Die Arbeiten aus den letzten fünfzig Jahren sind umfassend gesammelt bei Beaucamp I S. 115; auf folgende Studien aus jüngerer Zeit sei noch hingewiesen: Freedman, The Twenty-Third Psalm S. 275 ff.; Mittmann, ZThK 77 S. 1 ff.; Barre/Kselman, FS Fredman S.97ff.; profunde Kritik an gängigen Forschungspositionen bei Hammershaimb, Salmer S.74f. 1 Vgl. Mowinckel, PsSt I S. 126. 131; kann man mit ihm Ps 23 auch im weitesten Sinne als „Ausdruck der Dankbarkeit" verstehen, so reicht das nicht aus, ihn im formgeschichtlichen Sinne zum „Dankpsalm für das Dankopferfest" des Geretteten zu erklären. Die kultische Ausdeutung von V. 5 f. ist nicht die überzeugendste (vgl. auch das viel zurückhaltendere Urteil von Mowinckel, Psalms I S.220). Breit ausgeführt findet sich diese Interpretation bei Vogt, Bibl 34 S. 195 ff. Er ist der Meinung, „that Ps 23 had its origin in the ceremony after thanksgiving: it is not itself a 'Danklied', but a general statement and expression of confidence phrased in the present tense" (S.210); auf derselben Linie Stamm, FS de Quervain S. 120 ff. und Mittmann, ZThK 77 S. 17 ff. 5 Vgl. Merrill, V T 15 S.254ff. (Zitate S.359f.). ' Vgl. Beyerlin, Rettung S. 111 ff. (Zitate S.115f.). 7 Ders., FS Elliger S. 24.

Der beheimatete Mensch: Ps 23

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Bilde des Schafes und des Hirten (1-4.); 2) im Bilde des Gastmahls (V. 5.), sodann auch in eigentlicher Rede (V.6)" 8 . Die Gliederung, die de Wette in Ps 23 erkennt (I: V. 1 b - 4 = 5 Bikola; II: V. 5 = 2 Bikola; III: V. 6 = 2 Bikola), leidet auf den ersten Blick an fehlenden Proportionen. Träfe sie zu, wäre der Psalm kopflastig. Sollte sie vielleicht doch auf einem Mißverständnis beruhen? Man kann immerhin versuchen, durch Auswertung des Personenwechsels zu einer besseren Disposition zu kommen: er, Jahwe, - ich, der Beter, (V. 1 b-3), ich - du (V.4), du - ich (V.5), ich - er (V.6). Die besseren Proportionen dieser Gliederung sind jedoch nur schöner Schein, der inhaltlich nichts zu erhellen vermag. Im Gegenteil: Hier wird einerseits das V. 1 b - 4 bestimmende Hirtenbild dispositionell auseinandergerissen, während andererseits dem Personenwechsel - Jahwe in 3.ps. und in 2.ps. - keine erkennbaren dispositionellen Einschnitte und inhaltlichen Akzente entsprechen. Er ist von dem Dichter (wie von vielen anderen vor und nach ihm) offensichtlich als legitimes Stilmittel ohne nennenswertes Eigengewicht gebraucht worden. Bleibt als weitere Möglichkeit zu prüfen, ob die jetzige Gestalt von Ps 23 vielleicht Resultat redaktioneller Überarbeitung ist, so daß die Unausgewogenheit der Gliederung auf diese Weise eine überzeugende Erklärung fände. Mittmann hat diesen Weg beschritten und dabei in erster Linie der metrischen Gestalt Beachtung geschenkt, für die weitgehend der „Satzstil im Fünfer" (mit 3 + 2 Hebungen je Bikolon) charakteristisch sein soll9. Demnach stellt er „Jahwe ist mein Hirte" (V. 1 ba) als Mottovers dem ganzen Psalm voran und erreicht dadurch im ersten Bikolon V. 1 bß. 2 a ein Metrum von 2 + 3 Hebungen. Als metrisch überladen beurteilt er auch V. 4ayb (bei Mittmann: V. 4bc) mit seinen 4 + 2 Hebungen und erklärt ihn mit weiteren inhaltlichen Argumenten insgesamt als Zusatz, so daß für die Grundfassung des Liedes „zwei Hälften mit je zwei Doppelversen im Fünfertakt" verbleiben, „die inhaltlich eine Einheit bilden und demgemäß als Strophen zu bezeichnen wären" (ΙΑ: V. 1 bß-3a; IB: V.3b-4aaß; IIA: V.5; IIB: V.6) 10 . Nun ist die Analyse metri causa in der hebräischen Poesie bekanntlich mit so vielen Unsicherheiten behaftet, daß durch sie nur selten stichhaltige Rekon8 De Wette S.249; damit konvergiert, was Gunkel/Begrich (Einleitung S.256) über Ps 23 sagen, ohne daß sie sich zu dem Eingeständnis durchringen können, daß dieser Psalm für ihre These von der Entwicklung des Vertrauensliedes aus der Vertrauensäußerung des Klageliedes überhaupt nichts austrägt (vgl. ebd. S. 154 ff.). „Was noch an den Ursprung erinnert, ist die gelegentliche Anrede Jahves und das Auftauchen der Feinde in V.5" (ebd. S.256). Diese Kriterien sind jedoch nicht zwingend mit dem Klagelied, sondern ebensogut mit dem Danklied verbunden. Im Blick auf Ps 23 sind solche Herkunftsfragen müßig; sie lenken nur die Aufmerksamkeit von dem speziellen theologischen Profil des Textes ab.

' Vgl. die gleichnamige Studie Begrichs von 1934 (TB 21 S. 132 ff.) und Mittmann, ZThK 77 S. 2 ff. 10 Mittmann, ZThK 77 S. 16.

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Jahwe, mein König und mein Gott

struktionen zu gewinnen sind. An diesem Mangel an Stringenz partizipiert auch Mittmanns metrische Analyse, gegen die sich zudem inhaltliche Bedenken erheben. Schon metrisch fällt im ersten Bikolon störend auf, daß Mittmann durch die Abtrennung des Mottoverses „Jahwe ist mein Hirte" einen Rhythmus von 2 + 3, und nicht, wie sonst, von 3 + 2 Hebungen erzielt. Doch auch inhaltlich wirkt das erste Kolon in rekonstruierter Form verstümmelt. Die Einleitung des Psalms, sei es nun ein Vertrauens- oder Danklied, durch eine Negation statt durch eine Affirmation ist formal und inhaltlich defizitär, weil Behebung des Mangels eine Begründung erheischt, wie sie mit der Prädikation „Jahwe ist mein Hirte" inhaltlich unverzichtbar und deshalb auch formal unabtrennbar vorausgeht. Das metrische Argument fällt demgegenüber nicht ins Gewicht: Wieso sollen auf -ιοπκ ιό „ich leide keinen Mangel" in V. 1 bß zwei Hebungen entfallen, auf κτκ ιό „ich fürchte nicht(s Böses)" in V.4aß aber nur eine Hebung? Ahnliche Fragen sind an Mittmanns Aussonderung von V. 4 a y b zu stellen. Die Abweichung von dem „Satzstil im Fünfer" ist nur dann auffällig, wenn man diesen überall in Ps 23 meint finden zu können. Dabei weisen wahrscheinlich außer V . 4 a y b auch V.4aaß und V . 6 a 4 + 2 Hebungen auf, ganz zu schweigen von dem schon besprochenen Metrum des ersten Bikolons mit seinen 4 (3) + 3 Hebungen. Den Ausschlag gibt jedoch, daß V . 4 a y b inhaltlich unverzichtbar ist. Nicht V. 3 b und V. 4 aaß sind stark aufeinander bezogen 11 , sondern V. 4 aaß und V. 4ayb. Schließlich kann der Beter aus Jahwes gewöhnlich geltender Führung „auf rechten Wegen" (V. 3 b) keinen Trost für die Ausnahme (vgl. das im Blick auf die rechten Wege einschränkende und im Blick auf Jahwes Beistand entschränkende '3 DJ „selbst dann, wenn"), das Wandern „durchs finstere Tal", gewinnen (V. 4 aaß), wohl eher daraus, daß er auch dort - nicht nur auf den rechten Wegen - der Nähe Jahwes gewiß sein darf (V. 4ayb, man beachte auch den in der „Wenn-denn-Struktur" zum Vorschein kommenden Argumentationszusammenhang der beiden Bikola). D i e U b e r p r ü f u n g der Analyse Mittmanns hat deutlich werden lassen, d a ß auf literarkritischem W e g e keine t r a g f ä h i g e n Erkenntnisse über Ps 23 zu gewinnen sind, weshalb sein jetziger Z u s t a n d zugleich als seine ursprünglich konzipierte literarische Gestalt z u betrachten ist. D e r sie bestimmende poetische und theologische Gestaltungswille muß nun in s o r g f ä l t i g e r Einzelanalyse möglichst fernab von allen anderweitig gewonnenen T h e o r i e n herausgearbeitet werden. W o h l nur auf diesem W e g e sind Erkenntnisse über die z u n ä c h s t einmal u n a u s g e w o g e n wirkende G l i e d e r u n g zu erwarten. M a n m a g in der einleitenden Prädikation „ J a h w e ist mein H i r t e " eine Art M o t t o erkennen, da die p r ä g n a n t e und konzentrierte A u s s a g e tatsächlich weit mehr leistet, als das M o t i v des in V. 1 b - 4 a u s g e f ü h r t e n Bildes beim N a m e n zu nennen. D i e explizit geäußerte Vorstellung von J a h w e als Hirten, b e z o g e n auf den einzelnen Beter, ist nur hier belegt, " So Mittmann, ZThK 77 S.7f. 11.

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während das Alte Testament mit der altorientalisch weit verbreiteten Hirtenprädikation für Gott/Götter und König(e) gut vertraut ist12. Hat der Dichter von Ps 23 durch die Beziehung des Hirtentitels und Hirtenberufes auf Jahwe dem Individualgebet offensichtlich eine neue Dimension erschlossen, so besteht diese nicht einfach im Gebrauch von „farbenreiche(n) Einzelszenen aus dem Alltag der alten Israeliten", in diesem Falle aus dem Alltag von Herde und Hirt, „der ihr sicher und des Landes kundig vorangeht, die schwere Hirtenkeule über der Schulter .. ."13. Vielmehr ist das Neue dezidiert theologischer Art, aber nur so, daß im Neuen altbekannte theologische Tradition erneu(er)t zur Sprache kommt. Sucht man nämlich nach Parallelen zu der prominenten Stellung von ' J N ΠΊΓΡ „Jahwe ist mein Hirte" zu Beginn des Psalms, ist eigentlich nur eine Formel in vergleichbarer Position zu finden: η^η mrr „Jahwe ist König" (Ps 93,1; 97,1; 99, l) 14 . Diese Parallelität ist alles andere als zufällig. Wie oben erwähnt, ist das Bild vom Hirten im alten Orient wie im Alten Testament gerade von Gott und König in bezug auf das Volk und die Menschen in ihrer Gesamtheit ( = die Herde) bekannt, und es 12 Alle einschlägigen alttestamentlichen Belege samt der wichtigen Literatur zum H i r tenmotiv sind zusammengestellt bei Soggin, T H A T II Sp. 791 ff. u n d M i t t m a n n , Z T h K 77 S. 2 0 f . A. 55. Die P r ä d i k a t i o n Jahwes als H i r t e erfolgt im Individualgebet n u r in Ps 23,1 (sicher nicht auf das Volk zu beziehen, wie Buhl S. 167 u n d viele von ihm genannte V o r gänger meinen), w ä h r e n d das Bild vom Weiden des Volkes durch J a h w e von d e r Exilszeit ab in verschiedenen W e n d u n g e n gut d o k u m e n t i e r t ist: vgl. Jes 40,11; H o s 4,16 b; M i 7,14; Ps 28,9; 74,1; 77,21; 7 8 , 5 2 f . (ohne njn, aber vgl. 78,72); 79,13; 80,2; 95,7; 100,3 u . ö . (vgl. auch Metzger, FS K r a u s S.47 A.31). In diesen Z u s a m m e n h a n g g e h ö r t auch G e n 48,15 (mit Buhl S. 167, sowohl gegen M a a g , H i r t e S. 121, als auch gegen V o r länder, G o t t S. 196 f.), w ä h r e n d die T e x t g r u n d l a g e in 49,24 zu unsicher ist, um bei der literarhistorischen A u s w e r t u n g berücksichtigt zu werden.

D e r Belegbefund der H i r t e n p r ä d i k a t i o n im Alten T e s t a m e n t spricht k a u m d a f ü r , „ d a ß der Titel sehr alt ist, ja bis in die Zeit der Väterreligion z u r ü c k g e h t " (Soggin, T H A T II Sp.793). Vielmehr scheint die V e r w e n d u n g des Hirtenbildes f ü r J a h w e im Individualgebet der auf das V o l k bezogenen n o c h nachgefolgt zu sein (vgl. G u n k e l S.98 u.a.; anders Vorländer, G o t t S.276), womit die alttestamentliche Artikulation dieser Vorstellung allemal in die nachexilische Zeit fällt. D e r Unterschied z u m alten O r i e n t ist in dieser H i n sicht beachtlich. In M e s o p o t a m i e n sind neben d e r V e r w e n d u n g des Hirtentitels in Götterepitheta (vgl. Tallqvist, A G E S. 164 f.) auch P e r s o n e n n a m e n , gebildet nach dem Schema G o t t e s n a m e + re , u, die J a h r t a u s e n d e hindurch G a n g u n d G ä b e gewesen (vgl. A H w S . 9 7 7 f . s.v. r e ^ m ) Β 2; W a e t z o l d t , RLA IV S.424), w ä h r e n d es sie im Alten T e s t a ment ü b e r h a u p t nicht gibt. Auch in Ägypten ist die Vorstellung vom persönlichen G o t t mit dem Bild des „guten H i r t e n " v e r b u n d e n w o r d e n (vgl. Assmann, LA II Sp. 773. 785; Helck, LÄ II Sp.1222). 13

H.Schmidt S.40f. M a n kann auch noch den A n f a n g des Vertrauensliedes Ps 27,1 'jw'i η ι κ mn' „ J a h w e ist mein Licht u n d mein Heil" vergleichen, doch es ist der Vergleich mit der Einleitungsf o r m e l der J a h w e - K ö n i g - P s a l m e n , der beim Verständnis sowohl von Ps 23,1 als auch von 27,1 weiterhilft. 14

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Jahwe, mein König und mein Gott

ist gut vorzustellen, daß die dem Bild inhärente Beziehung eines einzelnen zu einer Gruppe der Applikation auf das Verhältnis von Jahwe und dem einzelnen Beter nicht günstig gewesen ist. Daß in Ps 23 als einem individuellen Vertrauenslied der Spätzeit die tempeltheologisch geprägte Gott-König-Vorstellung dann doch durch das Hirtenbild konkretisiert worden ist, wird mit der ihm eigenen Transparenz für Gottes fürsorgliches und bewahrendes Handeln zusammenhängen, wodurch ja auch die Ausführung des Bildes in V. 1 b - 4 bestimmt ist 15 . Sollte die Deutung der Hirtenprädikation Jahwes als einer spät erfolgten Konkretion der tempeltheologischen Gott-König-Vorstellung im Individualgebet zu Recht bestehen, würde es nicht wundernehmen, in der Ausführung des Hirtenbildes auch weitere Hinweise auf diese theologische Herkunft zu finden. Tatsächlich gebraucht der Dichter zur Ausführung des Hirtenmotives Bilder, die keinen bukolischen Eindruck erwecken, weil die gewählte Sprache sich durchgängig nicht in der Metaphorik erschöpft, sondern eine zweite, religiös und theologisch bedeutsame Ebene hat. So sind die κϊπ iilKJ „grünen Auen" mehr als nur die ergiebigen Weidegründe. Das Wort nu hat neben „Weideplatz" auch die Bedeutung „Wohnstätte", womit nicht zuletzt Jahwes Wohnung (auf dem Zion) gemeint sein kann (vgl. E x 15,13; 2Sam 15,25; Ps 83,13 u.ö.) 1 6 . Wenn ferner in Ps 23,2 b von den mniB '» „ruhigen Wassern" die Rede ist, an die der Beter geführt wird, spricht neben dem ungebräuchlichen Ausdruck auch die Vorstellung dagegen, daß hier lediglich eine geeignete Stelle zum Tränken der Herde gemeint sei; „denn in einem wasserarmen Lande kann es den um das Wohlergehen seiner Herde besorgten Hirten und die durstigen Tiere wenig kümmern, ob das lebenswichtige

15 Aufschlußreich für die Verbindung von Gott-König-Vorstellung und Hirtenbild ist das exilische Volksklagelied Ps 74 (s.o. S. 122ff.), das traditionsgeschichtlich sowohl der Zeit als auch dem Inhalt nach eine Mittelstellung zwischen der Gott-König-Theologie des vorexilischen Tempels, wie sie etwa Ps 93 repräsentiert, und deren nachexilischer Adaption im individuellen Vertrauenslied Ps 23 einnimmt. Zu Beginn der Klage gebrauchte der Dichter das Hirtenbild in Ps 74,1, um Jahwe die Verletzung seiner Fürsorgepflicht gegen die „Schafe deiner Weide" vorzuhalten. In dem Moment aber, in dem der Dichter seine Zuversicht auf ebenjenen Hirten bekunden will, macht er Gebrauch von der Königsprädikation Jahwes, wie sie ihm aus dem Individualgebet vertraut ist und sich als verläßlich erwiesen hat: „Aber Jahwe' ist mein König von uran" (74,12). Es scheint noch viel Zeit vergangen zu sein, ehe das Hirtenbild vertrauenswürdig genug war, um der Prädikation 'jn mn> .Jahwe ist mein Hirte" die Position von n w „Jahwe ist mein König" ohne Vertrauensverlust überlassen zu können.

" Vgl. Ringgren, T W A T V Sp.293ff.

Der beheimatete Mensch: Ps 23

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Naß nun steht oder dahinschießt, unmerklich hochquillt oder kräftig hervorsprudelt" 17 . Als nnu» „Ruhe(stätte)" gilt neben dem verheißenen Land gemäß dem von der Exilszeit ab belegten Sprachgebrauch der Tempel auf dem Zion (vgl. Ps 132,8. 14;Jes 66,1; 1 Chr 28,2) 18 . Ja, man wird in der Deutung des auffälligen, nur hier belegten Ausdruckes mn:n '» „die ruhigen Wasser" noch einen Schritt weitergehen dürfen 19 . Die sich aufdrängende Assoziation der gut bekannten ;imn;i „Urfluten" 20 ist kaum zufällig, sondern läßt sich sachlich untermauern. Ließen sich nämlich die ΠΊΠ3» 'ö in Ps 23,2 als bewußt gewähltes Gegenbild zu den mann verstehen, gewännen die „ruhigen Wasser" umfassende theologische Transparenz, weil sie nichts anderes als die ruhiggestellten Chaoswasser bezeichneten. Die Sphäre, in der sich der Beter geborgen wissen darf, wäre dann nicht die freundliche Natur, sondern - ganz in Übereinstimmung mit der in V. 2 a durchscheinenden Sachebene - der Tempel über der beruhigten Urflut (beachte die semantisch ambivalente Präposition ty zu Beginn von V. 2 b!), von der es unter dem Namen bin» in Ps 29,9 heißt, daß Jahwe auf ewig als König über ihr throne. Diese Deutung wird ferner durch die in 23,3 a genannte Folge der Führung Jahwes für den Beter unterstützt. Die „Wiederbringung des Lebens" (aip pol. mit tfDJ) schillert semantisch wie die vorhergehenden Metaphern zwischen dem Nennwert des Bildes (Erhaltung des Lebens durch Nahrung, vgl. Thr 1,11. 19) und der theologisch-spirituellen Konnotation (Erhaltung des gefährdeten Lebens durch Jahwes Schutz, vgl. Thr 1,16)21. Im folgenden Bikolon von Ps 23 läßt der Dichter die theologische Sachebene deutlicher als bisher zu Wort kommen 22 . Die p7X '^jyn „rechten Wege" in V. 3 b sind nicht allein die mühelos und sicher begehbaren, sondern die „Wege der Gerechtigkeit", nicht der eigenen, son17 Mittmann, ZThK 77 S.4; so schon kurz Ewald 1/2 S. 101; Olshausen S. 129 und ausführlich Hupfeld/Riehm II S.88. 18 Vgl. Vogt, Bibl 34 S.205; Merrill, V T 15 S.358. 19 Vor allem auch deshalb, weil der Plural von nnus überhaupt äußerst selten ist. Er kommt nur noch einmal in Jes 32,18 vor. In 1 Chr 2,52 handelt es sich hingegen ganz offensichtlich um einen Textfehler (vgl. Benzinger, Chr S. 10 u.a.). 20 Vgl. Ex 15,5. 8; Jes 63,13; Ps 33,7; 77,17; 78,15; 106,9; 135,6; 148,7; Prov3,20; 8,24. 21 In Thr 1,16 kommen außerdem zwei theologische Motive vor, die im weiteren Verlauf von Ps 23 ebenfalls noch begegnen werden: Dnj pi. „trösten" und die Erwähnung der Feinde (vgl. 23,4 b. 5 a). An den genannten drei Thr-Stellen wird aw allerdings im Hifil gebraucht (vgl. ferner Ps 19,8; Ruth 4,15); zu den möglicherweise mit der Stammesmodifikation verbundenen semantischen Unterschieden vgl. Mittmann, ZThK 77 S. 5 ff. 22 Vgl. zum Folgenden Mittmann, ZThK 77 S. 8 und die dort genannte Literatur zum Verständnis von ρπϊ/πρπχ „Gerechtigkeit".

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Jahwe, mein König und mein Gott

dem derjenigen Gottes, wie aus der abschließenden finalen Bestimmung „um seines Namens willen" klar ersichtlich ist. Der Dichter läßt hier für einen Moment die Sprache der Bilder hinter sich, um dem naheliegenden Mißverständnis der rechten Wege als Wege der gottgewollten Rechtschaffenheit des Beters zu wehren. Den Kommentar zum intendierten Verständnis von pis „Gerechtigkeit" liefert Ps 24,5: Der ethisch integere Mensch „wird Segen (nana) empfangen von Jahwe, Gerechtigkeit (πρτχ) vom Gott seines Heils", nicht im angemessenen Gegenwert zu seiner Integrität, sondern als freie, ungeschuldete Gabe Jahwes 23 , (n)fnx ist in diesem Zusammenhang ebensowenig wie in 23,2 ein forensischer Begriff, sondern bezeichnet zusammen mit Π3Ί3 die Fülle des Guten, die Jahwe dem Menschen durch seine Gegenwart zuteil werden läßt: iDt? „um seines Namens willen" (23,3 b). Wie Ps 24 auf die lobende Kundgabe des Namens „Jahwe Zebaoth" hinauswill (V. 10), so geschieht nach 23,3 b die fürsorgliche Führung des Menschen nicht primär um seiner selbst willen, sondern zur Ehre des Namens Jahwes, der seine eigene Gegenwart anzeigt. In dieser Hinsicht hat sich Tempeltheologie in den zwischen Ps 24 und 23 liegenden Jahrhunderten nicht verändert. Die sie bestimmende theozentrische Struktur hat sie bis ins Vertrauenslied der Spätzeit beibehalten. Und auch darin ist sich die von der Gegenwart Jahwes im Tempel geprägte Psalmtheologie treu geblieben: Jahwes Fürsorge für den Menschen bedeutet für diesen nicht eine schöne, aber allenfalls auch verzichtbare Rückversicherung, sondern sie ist in ganz fundamentaler Weise Bewahrung in einer Welt tödlicher Bedrohung. Auf nichts anderes soll das finstere Tal in V. 4 hinweisen, das als eine der „Schluchten schon im schwarzen Schatten" der Nacht nur vordergründig 24 , in der Übersetzung der Vulgata iuxta Hebraeos mit vallis mortis (vgl. auch LXX: σκιά θανάτου wegen Xiia-Vs) der Sache nach richtig verstanden worden ist. In einer ganzen Reihe von Texten erschließt nm^x „Finsternis" die Welt des Todes 25 , in die Jahwes Macht nach herkömmlicher psalmtheologischer Anschauung nicht oder nur bedingt hineinreicht. Hier jedoch weiß sich der Beter sogar in dieser gottfernen Welt von Jahwes Nähe umgeben (bekräftigt durch den Übergang zur Anrede), dessen Rolle als Beschützer in einer letzten Aufnahme des Hirtenmotivs mit Stecken 23

S.o. S.203f. H.Schmidt S.41. 25 Das „Tal der Finsternis" nur in Ps 23,4, häufiger jedoch das „Land der Finsternis", vgl. Jes 9,1; Jer 2,6; Hi 10,21 f. In die Sphäre von Untergang und T o d weisen auch fast alle anderen Belege, vgl. Jer 13,16; Ps 44,20; 107,10. 14; Hi 3,5; 16,16; 38,17 u.ö.; vgl. auch Mittmann, ZThK 77 S . 9 f . 24

Der beheimatete Mensch: Ps 23

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und Stab konkretisiert wird, um das Bild in demselben Augenblick so gründlich von der theologischen Sachebene her zu sprengen, wie es bislang noch nicht der Fall gewesen ist. Von Stecken und Stab wären Schutz und Ermutigung zu erwarten, nicht jedoch Tröstung 26 , eine Vorstellung, die in den Psalmen ohnehin keinen nennenswerten Rückhalt hat und in Ps 23 ohne den in der Exilszeit von Threni und Deuterojesaja forcierten Gebrauch kaum zu finden wäre 27 . So paradox das Bild von der Tröstung durch Stecken und Stab sein mag, theologisch hat es seinen guten Sinn. Kann der Beter selbst im „Tal des Todes" auf Jahwes Nähe vertrauen, so doch nicht in der Weise, daß Jahwe nun Macht über die Todeswelt hätte. Vielmehr ist er der Tröster, machtvoll und machtlos zugleich, der in dieser äußersten Tiefe mitgeht und nach einem Weg sucht, der aus ihr herausführt zurück in seine eigene Machtsphäre. Hier hat sich Psalmtheologie in der Spätzeit über ihren angestammten Bereich hinausgewagt, um den Jahwegläubigen auch in der Welt des Todes nicht ohne Hoffnung zu lassen. In Ps 23,4 hat sie diesen Schritt sehr vorsichtig getan, so daß sie ihre von alters her überlieferten Voraussetzungen dabei nicht verlassen hat. Zurück in der Machtsphäre Jahwes: Das Bild von der fürstlichen Bewirtung des Beters durch Jahwe in V. 5 mit den drei altorientalischen Grundaspekten des Essens, Salbens und Trinkens stammt vermutlich aus königlicher Tradition, die aber als solche für Ps 23 nicht mehr von Bedeutung ist, es sei denn darin, daß ihre Herkunft aus der Königssphäre die Integration in den latent von der Gott-König-Vorstellung bestimmten Psalm begünstigt hat 28 . 2 ' Eine Überlegung, die nicht dazu verleiten sollte, nach semantischen Auswegen zu suchen, wie es Köhler (ZAW 68 S.231) u.a. getan haben; zu den realgeschichtlichen Kenntnissen über den Hirtenstab vgl. Dalman, AuS VI S. 238 ff. " nnj pi. „trösten" noch in Ps 69,21; 71,21; 86,17; 119,76. 82; wie bereits oben angedeutet, ist die Belegfrequenz im Verhältnis zum Textumfang in Threni (1,2. 9 . 1 6 f . 21; 2,13) und bei Deuterojesaja (40,1; 49,13; 51,3. 12. 19; 52,9) am höchsten; zur Darstellung des Belegspektrums vgl. Stoebe, T H A T II Sp.61ff.; Simian-Yofre, T W A T V Sp. 379 ff. 28 Zu entsprechenden alttestamentlichen Belegen s. o. S. 35 f. A. 36; eine Zusammenstellung einschlägiger akkadischer Belege für das Motiv des königlichen Festmahls bei Barre/Kselman, FS Freedman S. 104 ff. Der Ubereinstimmung mit diesem einen Aspekt ihrer Interpretation von Ps 23 steht der fundamentale Dissenz zur Grundthese der Studie gegenüber (Erahnung einer demokratisierten Restauration des Bundesgedankens für die aus dem Exil zurückkehrenden Israeliten). Mit der oben vorgetragenen Deutung von V. 5 ist zugleich sein Verständnis als Beschreibung eines Dankopfermahles zurückgewiesen. Hier tut der Beter nichts, und Jahwe alles, womit sich der Gedanke des Opferns überhaupt nicht verträgt. Schließlich wird die Bedrohung durch die Feinde nicht als vergangen und bewältigt gekennzeichnet (wofür das Dankopfer abgestattet würde), sondern als gegenwärtig und gleichsam in Sichtweite

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Jahwe, mein König und mein Gott

Ist auch das knapp und prägnant skizzierte Bild von der Bewirtung in Gegenwart der Feinde (V. 5) als Fortsetzung des ausführlich dargestellten Hirtenbildes (V. 1 b-4) vom Vorstellungsgehalt her nicht bruchlos, so harmonieren beide Bilder vom hier wie dort durchscheinenden Sachgehalt her gut miteinander. Es ist die Fürsorge für Leib und Leben, die beide Teile bestimmt, welche sich auch darin einig sind, daß sie die Fürsorge für den Leib (in sensu lato) durch Metaphern der Versorgung (V. 2 f.)/Bewirtung (V. 5), die Fürsorge für das Leben durch Metaphern der Bewahrung in Bedrohung konkretisieren (der tröstende Stab im finsteren Tal, V. 4/ der gedeckte Tisch im Angesicht der Feinde, V. 5 a). Unter diesem Aspekt ist V. 5 zunächst einmal nichts anderes als eine durch ein weiteres Bild cachierte Sachdublette zu V. 1 b-4. Wollte man deshalb V. 5 lediglich als metaphorische Tautologie zum Vorhergehenden beurteilen, hätte man die spezifische Funktion des Bildes im Kontext verkannt. Gegenüber der vielfachen Bewegung im Hirtenbild zeichnet sich dasjenige von der Bewirtung durch eine gewisse Statik aus. Der Tisch, den Jahwe für den Beter deckt, hat seinen Ort weder am Wiesenrain mit Blick auf die grasende Herde noch bei irgendwelchen gastfreundlichen Menschen „im Angesicht derer, die ihn verfolgt und gehetzt haben und enttäuscht aus der Ferne im Abreiten noch einmal hinübersehen" 29 . Vielmehr gehört Jahwes Tisch in ein Haus, in sein Haus, womit schon hier kein anderes gemeint sein kann als der Tempel, von dem V. 6 expressis verbis redet 30 . Damit steht nun aber auch die Funktion des Bildes in V. 5 klar vor Augen. Die Bewirtungsszene (V. 5) vermittelt den Ubergang von der durch das Hirtenmotiv geprägten Bildrede (V. 1 b-4) zur - in de Wettes Worten - „eigentlichen Rede" (V. 6), wobei zu berücksichtigen ist, daß die sich in V. 6 explizit äußernde Tempeltheologie der Sache nach in den Bildern von Anfang an da ist und durch sie hindurchscheint, ja sich als das zunächst geheime und dann immer weiter sich enthüllende Movens des ganzen Psalms erweist. Vor allem die Raum- und Zeitvorstellung der altüberlieferten Tempeltheologie erscheinen im späten Ps 23 in ungebrochener theologihöchst real (zum Verständnis der Präposition "m „gegenüber von, in Gegenwart von" vgl. Bardtke, FS Ziegler S . 1 7 f f . v.a. 21). " H. Schmidt S. 41. 30 Man wird V. 5 kaum anders als auf den Tempel bezogen verstehen können, obwohl das Bild vom durch Jahwe bereiteten Tisch in Ps 78,19 auf die Versorgung Israels in der Wüste angewendet wird. Es versteht sich jedoch von selbst, daß hier der gedeckte Tisch nicht seinen angestammten Ort hat. Literarisch hängen die beiden Belege kaum zusammen (anders Barre/Kselman, FS Freedman S.98: „The opening words of Ps 23:5 ... allude directly to Ps 78:19 ..."). Weder für die eine noch für die andere Stelle ist das Bild erdacht worden, was durch seine bereits erwähnte Herkunft aus der Königssphäre ohnehin ausgeschlossen ist.

Der beheimatete Mensch: Ps 23

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scher Kraft. Der Tempel als Vorort der Gottesgegenwart ist für den Menschen Heilsraum, in dem er sich nicht nur versorgt, sondern auch beschützt wissen darf (V. 5). Gegenüber ("Π3) der Machtsphäre Jahwes, konkretisiert im Tempel, befindet sich - gleichsam gut erkennbar - die Gegenwelt der Feinde, die sich an der Schwelle zur „eigentlichen Rede" nicht mehr wie in V. 4 ins Bild bannen lassen („das finstere Tal"). Ihr Herrschaftsbereich ist von Jahwe auf ein bestimmtes Terrain eingeengt worden, doch gefährlich sind sie nach wie vor, zum Gegenschlag mit dem Ziel des Menschenfanges bereit. Sie sind aus der Psalmtheologie in dieser Rolle bereits gut bekannt, ebenso aber auch die Gottesgegenwart als einziger Schutz gegen die von ihnen ausgehende Bedrohung. Wie umfassend diese Heilserfahrung ist, zeigt V. 6. Die Pointe der theologisch direkten Rede tritt nur hervor, wenn ihre Beziehung zur vorher genannten Gegenwelt der Feinde berücksichtigt wird. Gerade deren dunkles, für andere lebensgefährliches Geschäft ist nämlich in den Psalmen und über sie hinaus ebenjenes Verfolgen (ηπ), weshalb der Beter ihnen selbst zuweilen nichts sehnlicher als solche Verfolgung wünscht 31 . Werden nun in V. 6 die Feinde als Subjekt von ητι durch "Τ0ΠΊ ans „Güte und Huld", Inbegriff von Jahwes heilvoller Zuwendung in tempeltheologischer Tradition 3 2 , verdrängt, bietet der Tempel als Machtbereich Jahwes nicht nur Schutz vor ihnen, sondern umwirbt Jahwe auch mit seiner Heilssphäre den Beter ebenso intensiv, wie ihn vorher die Feinde mit ihrem Unheil bedroht haben. Diese Heilserfahrung ist lebensbegründend und lebensbegleitend: "Π ' » ' Va „alle T a g e meines Lebens" (V. 6 a) und damit der Grundintention nach in Ubereinstimmung mit der Sentenz „Ein Augenblick in seinem Zorn, ein Leben lang in seiner Huld (uima) . . . " (Ps 30,6). Bereits der konzentrierte Nominalstil in 23,6 b zeigt an, daß hier Klimax und Quintessenz des ganzen Psalms formuliert werden sollen. Der Tempel Jahwes, der in Bildern und Theologoumena von Anfang an Orientierungs- und Zielpunkt des Psalms war, wird nun explizit ge31 Zu dieser negativ bestimmten Bedeutung von η π gehören im Psalter alle Belege (7,2. 6; 18,38; 31,16; 35,3. 6;.69,27; 71,11; 83,16; 109,16; 119 passim; 142,7; 143,3) mit Ausnahme von 23,6; 34,15; 38,21; vgl. den anders akzentuierenden Sprachgebrauch in Prov 21,21. 32 Die Kombination mm nia (vgl. auch Barre, ZAW 98 S. 100 ff., mit zum Teil anderen Ergebnissen) ist in dieser Form nur hier belegt, häufig jedoch in dem Ruf „Lobt/dankt Jahwe, denn er ist gütig (3ΊΒ), ewig währt seine Huld ("τοπ)!" (so und ähnlich Ps 100,5; 106,1; 107,1; 118,1.29; 136,1; vgl. auch 63,4). Der Einfluß dieser Formel reicht sogar so weit, daß zuweilen dort, wo vom Loben (des Namens) Jahwes die Rede ist, sekundär '3 31» ergänzt worden ist (vgl. Ps 54,8; 69,17 [ursprünglich wahrscheinlich "|"70Π3]; 109,21). (n)3is in den Psalmen mit ähnlicher Bedeutung wie in 23,6: 21,4; 25,13; 65,12; 86,17; 103,5; 104,28; 107,9; vgl. auch 34,9; 52,11; 54,8; 73,1; 86,5; 135,3; 147,1 u.ö. Zu τοπ in den Psalmen s.u. S . 2 8 9 f f .

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Jahwe, mein König und mein Gott

nannt, indem seine Funktion als Heilsraum des Beters eine noch tiefere theologische Interpretation erfährt. Das Wohnen des Beters im Tempel α'»' "pK^ „für die Länge der Tage, auf immerdar" umschreibt nämlich weder seinen ständigen Aufenthalt dort noch besagt es dasselbe wie die Zuwendung von Güte und Huld "Π '»' „alle Tage meines Lebens". Vielmehr will V. 6 b darauf hinaus, daß Jahwes Anteilgabe an Güte und Huld im Heilsraum des Tempels auf Lebenszeit ("Π 'ö' bl) zugleich Anteilgabe an der Heilszeit ist (o'»' "psV), die des Menschen Zeit und jegliche Zeit sprengt, an der jedoch partizipiert, wer Jahwes Gegenwart aufsucht, so daß in ihr selbst der ewig weilte, der auch nur einen Moment seinen Fuß über die Schwelle des Tempels gesetzt hätte 33 . Man mag hier von „sublimer Kultmystik" sprechen 34 . Treffender dürfte es sein, darin die die Tempeltheologie seit alters bestimmende Dialektik zu erkennen, die - konkretisiert in den unterschiedlichen Machtsphären - die Endlichkeit des Menschen und sein Geworfensein ins finstere Tal mit der Anteilgabe an Jahwes Ewigkeit und seinem Geborgensein in Güte und Huld der Jahwenähe zusammenzubringen sucht. Menschliche Existenz realisiert sich zugleich in gefahrvoller Wanderschaft und bergender Gottesheimat in dieser Welt, doch nicht von dieser Welt. Solange ihre Wirklichkeit sichtbar (Tempel) und spürbar (Führung, Bewahrung) bleibt, ist menschliches Leben möglich, und sei es im „Tal des Todes". Was schließlich die in diesem Vertrauenslied sich verdichtende Glaubenserfahrung als vox israelitica ausweist, ist wie schon so häufig gleichviel ob alte oder junge Psalmdichtung - allein der Jahwename, dessen Nennung zu Beginn (V. 1 b) und am Ende (V. 6 b) den ganzen Psalm formal und inhaltlich in (s)eine Klammer stellt und dessen Ehre und Ehrung auch letztes Ziel der Führung und Bewahrung des Menschen sind: „um seines Namens willen" (V. 3 b).

" Zur Vorstellung des Wohnens bei Jahwe bzw. in seinem Tempel vgl. zum Überblick Hugger, Jahwe S. 138 ff.; von Ungern-Sternberg, KuD 17 S.209ff. (zu den Texten Ps 15,1; 23,6; 27,4f.; 61,5; 65,5; 84,4f.; 91,1 u.a.). Daß die Zeitbestimmung ο'»' -ριό „auf immerdar" tatsächlich eine andere Qualität hat als "π Ό' ^3 „alle Tage meines Lebens", geht eindrücklich aus Ps 93,5 hervor, wo sie der klimaktischen Prädikation Jahwes selbst dient (s.o. S. 185). Dagegen läßt sich auch nicht die mit 23,6b nahezu identische Zeile 27,4ay8 ins Feld führen, in der lediglich D'»' "pnV gegen "Π 'n' ^3 ausgetauscht ist. Man kann in 27,4 ayδ kaum anderes als eine freie Zitation von 23,6 erkennen, die die Zeitbestimmungen in V. 6 a und 6 b verwechselt hat. Sie ist höchstwahrscheinlich sekundär in 27,4 eingefügt worden, wofür jedenfalls die mangelnde formale Kongruenz mit V. 4 b spricht. Der bestimmte gedankliche Duktus von 23,6 ist bei der Übernahme unberücksichtigt geblieben (zur Gegenüberstellung von Ps 23 und 27,1-6 vgl. Vogt, Bibl 34 S.210f.; Barre/Kselman, FS Freedman S.115 A . l ) . 34

Vgl. von Rad, Gerechtigkeit S.241.

Des Menschen G o t t

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5. D e s Menschen G o t t Dieser Abschnitt enthält nichts anderes als die natürliche Fortsetzung zu den Ausführungen über die theologia gloriae des Jerusalemer Tempels zum Abschluß des vorhergehenden Kapitels. Nachdem in den ausführlichen Textauslegungen - ausgewählt nach den theologischen Schwerpunkten Lob (Ps 8), Klage (Ps 22), Dank (Ps 30) und Vertrauen (Ps 23) - deutlich geworden ist, wie sehr auf der anthropologischen Ebene der Tempeltheologie bis in ihre Adaptionen in der Spätzeit hinein das Individuum und nicht das Volk (das Individuum aber gewiß, wenn auch unausgesprochen, als Glied des Volkes) von Interesse ist, muß die bisher geschaffene exegetische Basis dieses Ergebnisses noch verbreitert werden. Die These stimmt partiell mit der Sichtweise Gunkels überein, der im Zusammenhang der Auslegung von Ps 23 feststellt: „der Einzelne rückt in der Religion der Psalmen an die Stelle, die in der älteren Religion die Gemeinde innegehabt hat" 1 . Fraglich an dieser Auffassung erscheint nur, ob es sich tatsächlich um einen Entwicklungsprozeß von der „älteren Religion" der Gemeinde zur jüngeren, am Individuum interessierten „Religion der Psalmen" handelt. Immerhin sprechen Psalmen aus offensichtlich ganz unterschiedlichen Zeiten dafür, daß Psalmtheologie von ihren Anfängen an keine andere als die individuelle Orientierung gekannt hat und ihr, aufs Ganze gesehen, die Beschäftigung mit der „Gemeinde" des Gottesvolkes durch die Widrigkeiten der Nationalgeschichte des 6. Jahrhunderts gewissermaßen aufgezwungen worden ist, ohne damit ihre grundsätzliche theologische Ausrichtung zu ändern 2 . Die Bevorzugung bestimmter Gottesnamen bzw. -bezeichnungen kann hier Klarheit schaffen. Man braucht sich nur am Sprachgebrauch der vier ausgelegten Psalmen zu orientieren, um einen repräsentativen 1

Gunkel S.98f. Diese Einschätzung weicht allerdings entschieden von der Rekonstruktion der „Geschichte der Psalmendichtung" durch Gunkel/Begrich ab (Einleitung S. 415 ff.), deren Gewinnung von Datierungskriterien an psalmverwandten Texten, vor allem in Prophetenbüchern, wegen der dortigen literarhistorischen Probleme kaum nachahmenswert erscheint. Die marginale Rolle, die dem Exil dabei zufällt, kann nach den bisherigen Beobachtungen nur verwundern: „Was die vorexilische Zeit geschaffen hatte, war so lebenskräftig und in seiner Geltung so unbestritten, daß die exilische und frühnachexilische Zeit gesungen und gesagt hat wie die vorexilische" (ebd. S. 432). 2

Die Ansicht ist in dieser Pauschalität ebenso abwegig wie die Alternative von poetischer K r a f t und theologischer Reflexion: „Seit etwa 500 beginnt die K r a f t der Psalmendichtung zu erlahmen . . . An die Stelle der lebendigen frischen Empfindungen tritt eine merkbare D ä m p f u n g des Tones und endlich gar der verständige Gedanke. Die Reflexion nistet sich in die Psalmendichtung ein . . . " (ebd. S. 432). W e r Poesie und Reflexion gegeneinander ausspielt, wird ζ. B. Ps 23 kaum angemessen verstehen können, w o f ü r Gunkels Auslegung des „zarten Gedichtes" ein eindrückliches Beispiel ist (vgl. Gunkel S. 98 ff.).

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Jahwe, mein König und mein Gott

Eindruck zu gewinnen. Wenn man zunächst einmal vom Jahwenamen absieht, der in den vier Psalmen wie in den meisten anderen von besonderer Bedeutung ist und deshalb später noch genauerer Betrachtung bedarf, begegnen die zwischen Eigennamen, Appellativum und Epitheton changierenden Bezeichnungen i r n » mn' „Jahwe, unser Herr" (Ps 8,2. 10), 'bR und 'hVk „mein Gott" (Ps22,2f.) neben 'iiyw „meine Hilfe" (V. 2) und 'Til^X „meine Stärke" (V. 20, der Jahwename in V. 9 und 20), 'hVk Π1Π' „Jahwe, mein Gott" (Ps 30,3. 13, vgl. V.9 neben häufiger Nennung des Jahwenamens) und »jn nirr „Jahwe (ist) mein Hirte" (Ps 23,1, vgl. V. 6). Nicht alle Bezeichnungen sind (in der zitierten Form) häufig belegt, aber alle sind für die Theologie der Psalmen signifikant, weil sie ganz in Ubereinstimmung mit der altorientalischen Gebetsliteratur am persönlichen Gottesverhältnis des Beters orientiert sind, das sich mit der Verhältnisdeklaration begnügt („mein Gott bist du" u.ä.), und allein dem Jahwenamen den Ausweis des spezifischen Gottesverhältnisses zutrauen 3 . Das pluralisch suffigierte Epitheton in Ps 8 i r m „unser Herr" fällt nur scheinbar aus dem Rahmen der angeführten Bezeichnungen heraus. Es deutet in Entsprechung zum grundsätzlichen theologischen Inhalt des Hymnus auf die Gemeinschaft hin, die in das Lob der königlichen Erhöhung des Menschen gemeinsam einstimmen will. Dem Inhalt nach geht es auch in Ps 8 um das persönliche Gottesverhältnis, dessen individuelle Bestimmtheit schon aus der königlichen Investitur des Menschen schlechthin hervorgeht, die das in der alten Tempeltheologie herausgehobene Verhältnis zwischen Gott und König anthropologisch generalisiert 4 . Schließlich ist das Epitheton bzw. Appellativum |VTR „Herr" in der masoretischen Kunstform 'jiit „Herr", hinter der bekanntlich nichts anderes als ursprüngliches 'jig „mein Herr" steht, nirgendwo so häufig wie im Psalter und mit ihm theologisch verwandten bzw. von ihm traditionsgeschichtlich abhängigen Texten belegt 5 . Darin hat sich Israel wie 3 Zur Vorstellung vom persönlichen Gott und zur persönlichen Frömmigkeit im alten Orient und im Alten Testament vgl. Ringgren, T W A T I Sp. 285 ff.; Vorländer, Gott; Jacobsen, Treasures S. 145 ff.; Albertz, Frömmigkeit; Hartmann, Monotheismus S. 55 ff.; Assmann, Ägypten S. 258 ff. 4 Zur Interpretation von Ps 8 s.o. S.227ff.; zum Epitheton i m * s.o. S.231 A. 15. s Vgl. Ex 15,17 (V.2 „mein Gott", V. 18 Gott als König); Jes 6,1. 8. 11 (V. 1 ff. Gott als König) und auch sonst häufig bei dem Jerusalemer Jesaja; Ps 2,4 (Gott als Himmelsthroner); 16,2; 22,31; 30,9 (doch s.o. S.254 A.4); 35,17.22.23 („mein Gott und mein Herr"); 37,13; 38,10. 16 („mein Herr [und] mein Gott"). 23 (V.22 Jahwe parallel >η*κ „mein Gott"); 39,8; 40,18 = 70,6 (neben '[ji]-ity „meine Hilfe", 'bVbs „mein Retter", 'πί>κ; die Abweichungen im Gebrauch der Gottesnamen sind redaktionell bedingt); 44,24 (V. 5 nach LXX u.a. 'πϊ>κι '3i>a „mein König und mein Gott"); 51,17; 54,6 (neben 'i> ity ,mn··'

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so häufig in den Psalmen an altorientalische Sprachregelung angelehnt, bei der in diesem Falle auch im Alten Testament die Identität des Titels für Gott und König geduldet worden ist6. Die in Ps 22 und 30 zu findenden Gottesnamen und Appellativa haben für die starke Apostrophierung des persönlichen Gottesverhältnisses im Psalter eine noch höhere Evidenz. Das Appellativum VK „Gott", ohnehin schon im Psalter am häufigsten belegt, kommt in der „persönlichen" Form '^κ „mein Gott" abgesehen von einem hymnischen Beleg (Ex 15,2) und einer ironisch zitierten Gebetsbitte (Jes 44,17) nur in den Psalmen vor. In der Formel Πίΐκ „mein Gott bist du" kann sich das Spezifische der psalmtheologischen Gotteserfahrung in äußerster Kürze verdichten (Ps 22,11; 63,2; 118,28; 140,7), wobei in unmittelbarer Nähe zu wie in Ps 22,2 Epitheta der Bewahrung und Rettung zugleich halb Gottesnamen und halb Appellativa - zu finden sind: 'abeai 'irmni 'yi>o mrr Jahwe, mein Fels, meine Burg und mein Retter, in ποπκ m s ^tt mein Gott, mein Hort, wohin ich mich flüchte, 'ysr ppi Ή » mein Schild, H o r n meines Heils, meine Feste (Ps 18,3) 7 .

Indessen sind es nicht diese im Psalter häufig belegten Epitheta, die die Dominanz des persönlichen Gottesverhältnisses in der Psalmtheologie am stärksten beleuchten, sondern es ist das Appellativum '^x selbst8. Es ist nämlich die einzige suffigierte Form, die von dem in den Psalmen die Jahrhunderte hindurch gut vertrauten ^κ gebildet wird. Da „Jahwe' ist mein Helfer"); 55,10; 57,10; 59,12; 62,13; 66,18; 68 passim; 73,20; 77,3. 8; 78,65; 79,12; 86 passim (V. 12 „mein Herr [und] mein Gott"; V. 15 neben ... |um DIM VR „ein barmherziger und gnädiger Gott..." vgl. V.5); 89,50f.; 90,1. 17; 110,5; 130,2f. 6; Thr 1-3 passim; 'πχ πιπ' Jahwe, Herr" in Ps 68,21; 109,21; 140,8 (neben 'jiyi®' ty „Kraft meiner Hilfe" und in V.7 'I>K „mein Gott"); 141,8; NW 'JTK „Herr Jahwe" selten im Psalter, vgl. Ps 71,5. 16; 73,28; häufig im prophetischen Schrifttum, vor allem in Botenformel und Gottesspruchformel bei Ezechiel (vgl. Zimmerli, Ez S. 1250 ff.); ins „Herr" in Verbindung mit der Vorstellung von Jahwes Königtum in Ps97,5; 114,7; vielleicht auch 136,3; vgl. ferner die statistische Tabelle bei Jenni, THAT I Sp. 32. 6 Vgl. Jenni, THAT I Sp. 36 ff., der auch auf die mit ':ηκ „mein Herr" gebildeten Eigennamen hinweist und die Anrede mit der Jerusalemer Kulttradition in Zusammenhang bringt; vgl. ferner Eißfeldt, TWATI Sp. 62 ff. 7 Vgl. auch die Parallele 2 Sam 22,2 f., die einige Abweichungen aufweist. Jeder der genannten Termini könnte im Psalter auf breiterer Basis untersucht werden, wodurch die hier unternommene Analyse des persönlichen Gottesverhältnisses in der Psalmtheologie noch anschaulicher, nicht aber um weitere Aspekte bereichert würde; vgl. zu einigen Bestandteilen des Wortfeldes Hugger, Jahwe S. 58 ff.; Eichhorn, Gott S.30ff. Die Häufung der begleitenden Epitheta in Ps 18,3, die auf ein traditionsgeschichtlich fortgeschrittenes Stadium hinweist, ist selten (vgl. 62,7f.); vgl. ferner Ps 89,27; 140,7f. * Außer an den bereits genannten Stellen kommt es noch in Ps 68,25 und 102,25 vor.

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parallel zu ^κ auch die Belege für 'Vk in der ganzen inhaltlichen und literarhistorischen Spannweite des Psalters vorkommen, wird man diesen Befund zweifellos als Hinweis darauf werten müssen, daß sich in der Apostrophierung des persönlichen Gottesverhältnisses - Erbe der Gebetspraxis des alten Orients - eine Grundstruktur der Psalmtheologie von ihren Anfängen an durchgehalten hat. Im Resultat nichts anderes, wenn auch von der Belegstruktur her verwickelter, lehrt die Bezeugung von θ'ΠΪ>Ν „Gott" und 'nVs „mein Gott" in den Psalmen. War das synonyme Appellativum Vk von der Wortbildung (gemeinsemitisch * , il-) bis hin zu den in alten Psalmen begegnenden D'^K 'ja „Götter(söhne)n" (Ps29,2; 89,7; vgl. 82,1) tief im alten Orient verwurzelt, ist das bei der dem Hebräischen eigenen Pluralbildung D'H^S mit singularischem Sinn nicht der Fall9. Damit stimmt der dominierende nationalreligiöse Gebrauch dieses Appellativums überein. Q'nVs ist der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs, der Gott Israels - und nicht (primär) der Gott der Psalmen. Diesem Urteil scheint die Statistik, die für den Psalter (365x) die zweithöchste Belegfrequenz im Alten Testament nach dem Deuteronomium (374x) ausweist, diametral entgegenzustehen. Doch der Schein trügt. Die hohe Belegfrequenz geht zum größten Teil auf das Konto der ziemlich späten Edition bzw. Redaktion eines umfangreichen Textkomplexes, des sog. elohistischen Psalters (Ps 42-83), in dem der Jahwename vielfach redaktionell gegen D'nVx ausgetauscht worden ist. Sieht man einmal von diesem schwer erklärbaren redaktionellen Eingriff ab, bleiben im Psalter aufs Ganze gesehen zwei Gruppen von D'n^K-Belegen zurück, die dem Exegeten keine Rätsel aufgeben. Die eine spiegelt im kleinen den vielfältigen Gebrauch von D'H^K im Alten Testament wider und bestätigt damit noch einmal die These, daß der Psalter im fortgeschrittenen Traditionsstadium zum theologischen Kaleidoskop des Alten Testaments geworden ist. Außer dem zu erwartenden national-religiösen Aspekt in der Verwendung von D'nVit (Gott Jakobs, Gott Israels usw.) fällt die beachtliche Anzahl von Belegen für die suffigierte Form irnVs „unser Gott" ins Gewicht. Beide Merkmale weisen darauf hin, daß aus der Gebetssammlung primär des einzelnen immer mehr diejenige der (Volks-)Gemeinschaft geworden ist10. ' Die von W.H.Schmidt ( T H A T I Sp. 153f.) genannten parallelen Erscheinungen im Akkadischen (Amarnakorrespondenz) und Phönizischen sind eher dazu angetan, die Sonderstellung des Hebräischen in dieser Sache zu bestätigen; vgl. zum Folgenden ebd. Sp. 154 ff., vor allem die Belegstatistik Sp. 154. 10 Die Belege für υ*ΠΪ>κ im Psalter sind fast ausschließlich in exilisch-nachexilischen Dichtungen bzw. späten redaktionellen Ergänzungen anzutreffen (vgl. Ps 18,32; 20,6. 8; 40,4; 44,21; 48,2. 9; 50,3; 66,8; 67,7; 90,17; 92,14; 94,23; 95,7; 98,3; 99,5. 8f.; 105,7; 106,47; 113,5; 115,3; 116,5; 122,9; 123,2; 135,2; 147,1. 7). Der einzige Beleg aus vorexi-

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Die andere Gruppe von O'nVx-Belegen führt auf psalmtheologisch vertrautes Terrain. Es ist das auch in Ps 22 und 30 gebrauchte Appellativum 'hVk „mein Gott", das von den suffigierten Formen im Psalter am häufigsten belegt ist11. Sowohl in dieser Hinsicht nähert sich also der Befund bei Ο'Π^χ demjenigen beim synonymen b« an als auch darin, daß die Gottesbezeichnung Epitheta der Rettung und Bewahrung an sich zieht, die bei D'nVs sogar häufig die enge Status-constructus-Verbindung eingehen. Jahwe ist 'p"TX 'Π^Κ „Gott meiner Gerechtigkeit" (Ps4,2), der Gerechtigkeit, die er als 'JW 'πί>κ „Gott meiner Hilfe" schenkt (25,5; 18,47; 27,9; vgl. 51,16; 88,2 und vor allem 24,5). Deshalb ist er Hon „Gott meiner Huld" (59,11. 18), >nya 'π^κ „Gott meiner Stärke" (43,2) und schließlich 'JiVnn 'nV» „Gott meines Lobes" selbst in der Bedrängnis (109,1). In diesem Gebrauch der Gottesnamen kommt die von frühen Dichtungen an bekannte psalmtheologische Denkform der Anteilgabe an der Gottessphäre, die im Tempel erfahren wird, und ihrer Rückgabe im Gotteslob zum Vorschein. Sie hat ihre prägende Kraft bis in die Spätzeit hinein bewahrt, wie die oben zitierten Belege, die ganz verschiedenen Zeiten entstammen, beweisen. Im Rahmen des Individualgebetes kommt der Königsprädikation Jahwes keine bedeutende Funktion zu. Seine Anrufung als t i V k i 'dVe „mein König und mein Gott", die diesem Kapitel den Titel gegeben hat, ist - ganz in Ubereinstimmung mit der mesopotamischen Gebetsliteratur - selten (5,3; 84,4; 44,5 nach LXX u.a., kollektiviert; 74,12 „ J a h w e ' ist mein König", kollektiviert; vgl. 68,25; 145,1). Der Königstitel ist zu sehr Bestandteil der offiziellen, „höfischen" Tempeltheologie, um die Intimität des persönlichen Gottesverhältnisses adäquat ausdrücken zu können, weshalb er ja auch nie für sich, sondern immer in Kombination mit einem Appellativum der persönlichen Frömmigkeit vorkommt. lischer Zeit dürfte Ps 48,15 sein (zu den drei Belegen in Ps 48 s. o. S. 186ff.). Wer glatte Lösungen liebt, wird Mittel und Wege finden, auch diese Stelle später zu datieren, wenngleich die historische Plausibilität darunter leidet. Denn der Gemeinschaftsbezug einer Dichtung wie Ps 48 müßte postuliert werden, wenn sie ihn nicht selbst böte. Indessen ist er in der älteren Psalmdichtung wegen ihres Hauptinteresses am Individualgebet selten, so daß man das Verhältnis zwischen vorexilischen und exilisch-nachexilischen Belegen für 13'nVR als charakteristisch für den jeweiligen Stellenwert des Gemeinschaftsbezuges betrachten darf. 11 'πί>κ „mein Gott": Ps 18,30; 22,3; 25,2; 35,23 (mit 'ΠΚ „mein Herr"); 40,9. 18; 42,7; 59,2; 69,4; 71,4. 22; 83,14; 84,11; 86,2. 12 (mit 'ΠΚ „mein Herr"); 118,28 (parallel '