Wahn im Spektrum der Selbst- und Weltbilder [1 ed.] 9783896449139, 9783896732026

Der Mensch ist grundsätzlich gefährdet, sich in seinen Selbst- und Weltentwürfen zu verirren. Aber nur wenige solcher So

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Wahn im Spektrum der Selbst- und Weltbilder [1 ed.]
 9783896449139, 9783896732026

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Christian Scharfetter

WAHN im Spektrum der Selbst- und Weltbilder

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-89673-202-1

© Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2003 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Vorwort Im Bewusstsein des Menschen konstituiert sich als mentale Gestalt ein Bild der Welt und des Selbst in dieser Welt - Welt (etymologisch von der wer-old) meint ursprünglich durchlebte Menschenzeit. Sol­ che Gestalten können explizit und formulierbar oder implizit und unausgesprochen bleiben. Sie können deutlich (gar eindeutig), klar, prägnant konfiguriert und stabil sein, oder verschwommen, wech­ selhaft, mehrdeutig, unscharf. Dann können sie eher fluktuieren, je nach den persönlichen Voraussetzungen (intellektuelle und affektive Grundlagen) und je nach soziokulturellen Einflüssen (Zeitgeist, Ideo­ logie, Kultur, Subkultur). Solche Selbst- und Weltbilder können unre­ flektiert die Lebensführung bestimmen oder Gegenstand reflexiver Bearbeitung, Erweiterung, Modifikation (gar Wandlung, Konversion) werden. Sie können in recht unterschiedlichen Graden von Gewiss­ heit, subjektiver Überzeugung, mit oder ohne subjektiven Konsens als Gruppenüberzeugung oder in einsamer Gewissheit ausgetragen werden. Sie treten auf im Gewände von Wissen, Irrtum (im besten Fall korrigierbar), Meinen, Vermuten, Wähnen.

Selbst- und Weltbilder dienen der Orientierung in der Welt, seinen Ort und seine Aufgabe im Kosmos (das heisst das Geordnete) zu fin­ den, seine Relation zu anderen Wesen. Erst dort, wo das Meinen, ausgestaltet zum Privatmythologem, den Menschen von der Ge­ meinschaft Gleichgesinnter entfremdet (alieniert), des bisher beste­ henden Bezugs beraubt (also privativ wird) und zum Versagen ange­ sichts der Aufgaben der Lebensbewältigung führt (Infirmität, Dys­ funktionalität), darf von Wahn im Sinne der Psychopathologie ge­ sprochen werden.

Der Mensch ist grundsätzlich gefährdet, sich in seinen Selbst- und Weltentwürfen zu verirren. Aber nur wenige solcher Sonderwege (im religiösen, philosophischen, politischen, fachspezifischen, all­ tagspraktischen Sinn) führen in den Wahn im Sinne der Psychiatrie. Wahn ist keine "nur" in der Pathologie des Gehirnes, seiner vernetz­ ten Bahnen zu suchende "Sache", auch keine grundsätzliche Neu­ schöpfung eines kranken Menschen. Aber die Mehrzahl der Men-

VORWOR!

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sehen bleibt in ihrem Glauben, Meinen, Wissen in die common­ sense Weltbilder eingebettet, auch wenn diese einer subliminalen oder marginalen Subkultur angehören, oder sie können mit ihrer Weltanschauung in ökologischen Nischen leben.

Dieser Text entstand aus einer Ausarbeitung von zwei Vorträgen zum Themenbereich Wahn im Jahre 2002. Der erste Aufsatz ent­ stand aus Vortragsnotizen für die Wahntagung zu Ehren von Prof, em. Dr. Rainer Tölle in Münster am 8.6.2002. Dieser Text sollte in einem Sonderheft der Fundamenta Psychiatrica erscheinen.1

Der zweite Aufsatz ergab sich aus dem Nachdenken über esoteri­ sche Weltbilder und die Bewegung der Tierkommunikation, die, aus den USA kommend, viele Elemente der New-Age-Esoterik enthält ein Anlass, die Abgrenzung solcher naturmythischer Weltbilder vom Wahn im Rahmen des 9. Frankfurter Psychiatriesymposiums zum Thema Wahn am 23. November 2002 didaktisch auszuarbeiten. Dieser Text sollte in dem Wahnsymposiumstext im Verlag Wissen­ schaft & Praxis publiziert werden. Die beiden Aufsätze gehören inhaltlich zusammen und sollten des­ halb so zugänglich gemacht werden.

Zürich, April 2003

1

C. Scharfetter

Der erste Aufsatz (Kap. 1-9 in diesem Buch) erscheint unter dem Titel Wissen - Meinen - Irren - Wähnen in einem Sonderheft WAHN zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Rainer Tölle in FUNDAMENTA PSYCHIATRICA, Schattauer Verlag 2003

Inhalt Vorwort....................................................................................................................... 5

Inhalt.............................................................................................................................7

1

Der Wahn - ein Fenster in die Seele................................................... 9

2

Der Bedeutungshof von Wahn: "DieWahn-Familie".................. 15

3

Kosmopoiesis und Autopoiesis: Konstitution von Selbst und Welt im Bewusstsein................................................................ 21

4

Wege in den Wahn..................................................................................27

5

Das Selbst - Gestalter des Wahns...................................................... 33

6

Selbstzeugnisse........................................................................................... 39

7

Vom therapeutischen Umgang mit dem Wahn............................ 45

8 Warnung vor der Pathologisierung von sonderbaren Weltanschauungen...................................................49 9

Weltanschauungen und Mythen........................................................ 53 9.1 Mythik - Mystik.................................................................................57

10

Esoterische Weltanschauungen des NewAge............................... 59 10.1 Die Topographie der esoterischen Welt................................ 63 10.2 Naturmythik: Chiffren des allverbindenden Geistes....... 65 10.3 Kollektive und private Mythen................................................... 78

11

Die Werkstatt der Mythopoiese........................................................... 79

12

Naturmythik am Beispiel der Tierkommunikation........................ 87 12.1 Die Kommunikation mit dem Tier........................................... 91

12.2 Ein heuristischer Entwurf zur Psychologie der Tierkommunikation...................................................... 91

13

Die esoterischen Mythen - kein Wahn..............................................97 13.1 Die Ernte............................................................................................100

Literaturverzeichnis........................................................................................... 103

1 Der Wahn - ein Fenster in die Seele Wahn ist ein unerschöpfliches Thema, schon im engeren psychiatri­ schen Sprachgebrauch als psychopathologisches Symptom und noch mehr im übertragenen Gebrauch. So z.B. bei Nietzsche (1955, S. 156):

Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas Seltenes - aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. Da ist die Sozialpathologie angesprochen und das tragisch Unzu­ längliche des Humanum, das Thema homo homini lupus, die zwi­ schenmenschliche Destruktivität der sogenannten Normalen, die Abwertung, Pathologisierung, Marginalisierung, gar Extinktion von Non-Konformen. In der Antipsychiatrie wurde der Protest gegen die Verrücktheit (schliesslich deklamiert zur Pathogenität) der Normen­ gesellschaft bis zur Umkehr getrieben, der Geisteskranke sei der ei­ gentlich Gesunde in einer verrückten Gesellschaft. Wahn im engeren psychopathologischen Sprachgebrauch entzieht sich immer wieder souverän den oft so hilflos wirkenden Versuchen, ihn terminologisch zu fassen, ihn eindeutig definitorisch als pathognostisches Zeichen abzugrenzen und in das Gebiet der Krank­ heit zu verbannen, von dem die, die sich selbst für geistesgesund halten, so gesichert weit weg zu sein wähnen.

Dieses Sich-entziehen von der Gefangenschaft im Experten "wissen" lockt immer neue Autoren, sich daran zu versuchen - im weiten Spektrum zwischen Daseinsauslegung, biographischem Verstehen, psychopathologischem Beschreiben, neurowissenschaftlichem Kor­ relieren mit Hirnregionen, -bahnen, -stoffwechsel bis hin zum phar­ makologischen Abtöten des Wahns, ohne zu fragen, was dem Sub­ jekt denn im Wahn gewonnen sei, was für Bedürfnisse und Defizite sich im Wahn kundgeben.

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Der Wahn -

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Fenster

in die

Seele

Wähnen ist kein ausschliesslich einer Krankheit zuzuschreibendes mentales Geschehen. Wähnen scheint eine grundsätzlich men­ schenmögliche Weise der Selbst- und Welt-Deutung. Es zeigt, wie andere sogenannte Positivsymptome der Psychopathologie1 auch, wie die Psyche2 arbeitet im kontinuierlichen Spektrum von gesund und krank. Das meinte Ideler, als er 1847 schrieb: Studium des Wahnsinns heisst Studium des Menschen auch im nicht-kranken Zustand (14).

Deshalb konnte Ideler auch "die Irrenhäuser als die Hochschulen der anthropologischen Forschung" erhoffen (1848, 180). Manche dieser Alienisten des 19. Jahrhunderts hatten auch eine weitere Per­ spektive auf die Krankheit als nur das Abweichungs- und Defizitmo­ dell. In der Denklinie von Stahl lag die Einsicht in die autotherapeu­ tische Anstrengung, die in Krankheitssymptomen zu sehen sei. Von Stahl kamen diese Gedanken über Langermann zu Ideler, der 1835 schrieb:

Krankheit ist nicht Leiden der unterliegenden, sondern heilkräftiges Streben der gegen Schädlichkeiten ankämpfenden Natur... (86). Krankheit als eigenmächtige und wohlgeregelte Abwehr der Natur gegen Störungen ... ihre unleugbare Heilkraft (87). Die Pathogenese wurde von diesen anthropologisch orientierten Au­ toren in der "Totalität der Bedingungen", der Lebensgeschichte, he­ reditären, exogenen und endogenen Faktoren, die nur teilweise er­ kennbar waren, gesehen (Heinroth, 1827, 174). Dazu einige Belege:

Genetische Ableitungen der Formen des Wahnsinns. 1

2

Die drei Grunddimensionen veränderter Wachbewusstseinszustände, die Dittrich (1996) als ätiologieunabhängig zeigen konnte, die positiv erlebte Ich-Grenzaufhebung (kosmische, im re­ ligiösen Sinn mystische Union), die negative Ich-Auflösung (desintegrative Krise, bad oder hor­ ror trip) und die perzeptiv vermittelte Umgebungsveränderung haben ihre Parallelen in der Psychopathologie (Scharfetter, 1996). Es sind menschengemeinsame Grundmuster, vor der (un­ scharfen) Unterscheidung gesund-krank. "Die Seele als Archetypus wohnt allen Bildungsprozessen im dunklen Bewusstsein inne" (Ide­ ler, 1835, 76).

Der Wahn -

ein

Fenster

in die

Seele

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Falscher Lebensweg führt in eine Bewusstseins­ zertrümmerung. Spaltung des Bewusstseins in das Ich und das Nicht-Ich (192). Ideler 1835

Die psychologische Entwicklungsgeschichte des verdüsterten und zerrissenen Bewusstseins, die geheime Geschichte des Verstandes und des Herzens (707). Ideler 1838

Der Wahnsinn deckt die innersten Entwicklungs­ vorgänge aus dem früheren Leben auf(11). Ideler 1847

Der Grund liegt in der ganzen Lebensweise und Lebensgeschichte (553). Heinroth 1827

Die aktive (freilich nicht gezielt gezielt-intentional als bewusste Ak­ tion) Leistung der Kreation von Wahn unter dem Druck von uner­ träglichen Affekten (passiones, Leidenschaften) und des Untergangs des zertrümmerten Bewusstseins, die äusserste Anstrengung zur Re­ organisation des Bewusstseins und die darin errungene Neugestal­ tung des Bildes von Selbst und Welt war einigen Psychiatern aner­ kennenswert: Wahn - ein in sich geschlossenes systematisches Kunst­ werk. Methode im Wahnsinn (301). Sie [die Wahnkranken] setzen nach und nach eine Welt von Bildern an die Stelle der Wirklichkeit: Verrücktheit (310). Feuchtersleben 1845

Wahnkranke leben in ihrer selbstgeschaffenen Welt (742). Sie leben den Roman ihrer selbst (627). Ideler 1845

Der Wai in -

ein

Fenster

in die

Seele

Ist also der Wahnsinn der Untergang des Bewusstseins der wirklichen Welt in einer unendlichen Sehnsucht, welche sich eine neue Welt in Bildern und Begriffen schafft, ... (10).

Ein angestrengtes Arbeiten an der Reorganisation des Bewusstseins (11). Ideler 1847

Der Bildungsgang des Wahns ... die märchenhafte Poesie eines masslosen Herzensbedürfnisses (142).

Die Poesie des Wahnsinns (146). Der hochpoetische Charakter des Wahnsinns (191). Ideler 1848

Die tiefen personal-biographischen Einsichten in das dynamische Geschehen des Wähnens standen unter der bescheidenen Einsicht der verwandtschaftlichen Nähe von Gesunden und Kranken, von Psychologie und Psychopathologie, fernab der naiven Selbstsicher­ heit der Experten, sie seien sicher abgeschirmt im Reich der Gesun­ den3. Das humanum commune des Patienten und seiner Betreuer, das nie endgültig zu stillende Bedürfnis zu verstehen, was in der menschlichen Psyche vor sich gehe, und dazu Interpretationen, Deutungsmodelle zu entwerfen, leitete manche dieser Autoren.

Viele sind heute leider fast vergessen. Kraepelin und Eugen Bleuler, Gaupp und Kretschmer präsentierten sich als innovative Entdecker ohne oder mit despektierlicher Erwähnung der Vorgenerationen der Alienisten (E. Bleuler, Kraepelin)4. Seither wähnen viele Psychiater, eine ernstzunehmende "wissenschaftliche" Psychiatrie habe erst mit Kraepelin (und Bleuler) begonnen. Dazu gehört die seither dominan­ te Nosologie, die sich besonders im Bereich der sogenannten endo­ genen Psychosen auf die krude Dichotomie mit der ihr vorangehen­ 3

4

Ideler soll mehrere Phasen wahnbildender Depression erlitten haben (Bonhoeffer K., 1940: Die Geschichte der Psychiatrie in der Charite im 19. Jahrhundert: Zeitschrift für Neurologie und Psychiatrie, 168, 43-48). s. Scharfetter C. 2001, 33, Fussnote 4, 34, Fussnote 5

Der Wahn -

hn

Fenster

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Seei e

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den Union der affektdominanten und der nicht-affektiven Psychosen stützt und sich so weltfremd über die Polymorphie und die neuro­ biologischen und genetischen Grundlagen, die sich nicht an die No­ sologie halten, setzt und die sich im 20. Jahrhundert wieder in im­ mer weiter gehende Aufsplitterungen verliert, die an die nosographische Ära des 19. Jahrhunderts erinnert. Diese Nosologie ist mit dem biologistischen Bekenntnis des Primats des Hirnorgans über die Psyche, das Bewusstsein, verbunden. Beide Orientierungen, die nosologische und die biologistische, sind ge­ fährdet, die Person des Kranken in ihrer Werdensgeschichte, ihrem Charakter, ihrer Biographie, ihrem Ringen um Bestand, ihrem Nie­ derbruch und den Selbstrettungsmassnahmen, sowie den sozio­ kulturellen Einflüssen aus dem Gesichtskreis zu verlieren. Wo Wahn nur mehr ein Symptom ist, das auf "unterbrochene Assoziationsbah­ nen" (Wernicke, 1893) verweist oder heute auf Störungen in der Er­ regungsleitung und im Stoffwechsel bestimmter in Schleifen verbun­ dener Hirnareale, wo Wahn mittels Neuroleptika ausgelöscht wer­ den soll - was soll da die Person in ihrer Lebens-, in ihrer Zerbre­ chens-, in ihrer Selbstrettungsgeschichte?5

Manche dieser Ideologien, die in der Geschichte der Psychiatrie do­ minierten, nicht nur die Hirnmythologie (die noch nicht überwunden ist), muten als wahnverwandte Monomanien und autistische Weltund Menschenfremdheit an. Ideologien können in ihrer Eingleisigkeit die Sache "Mensch" so sehr verfehlen. Auch Ideologen können von "para-noetischen" Meinungen dominiert werden, deren charakterologisch-motivationaleGrundlage hinterfragt werden könnte. Psychopathologie erlaubt Einblicke in die Psyche. Da wird wie bei einem Steinbruch das Innere der Erde sichtbar, ihr Bau und ihre Bausteine. Was könnte es am alten Thema Wahn noch zu sehen ge­ ben (wovon nicht vieles schon gesagt worden ist)? Welche Mosaik­ steinchen des Humanum dürfen (bei diesem Anlass und in dieser Zeitspanne) gezeigt werden? 5

Bei dieser Gelegenheit erinnere ich an die fast vergessene Schrift von Wyrsch Jakob, 1949: Die Person des Schizophrenen, Bern, Haupt.

2

Der Bedeutungshof von Wahn: "Die Wahn-Familie"

Zu der Festlegung, was Wahn genannt werden solle, dürfe, - und zwar im Rahmen der Psychopathologie, nicht im losen populären Gebrauch - gibt es viele Versuche, die meist die falsche Meinung, die Irrigkeit der Überzeugung von der Person des Wahnträgers in Bezug zu seiner Welt hervorheben. Das mag in vielen Fällen auch als praktische Orientierung in Klinik, Diagnostik und Therapie, in Gutachten brauchbar sein. Aber die implizite Selbstpositionierung des Experten, er wisse, was richtig, was falsch sei, ist selbst nahe an einer wahnähnlichen Selbst­ zuschreibung. Das gilt auch für die von Voreingenommenheiten überladenen Versuche, echten von unechtem Wahn zu unterschei­ den, verständlichen vom unverständlichen, Prozess und Entwicklung (Jaspers). Zu den trügerischen Definitionen gehören auch die Formu­ lierungen "krankhaft entstandener Irrtum", "falscher Glaube" u. ä. Wähnen wir zu wissen, was Wahn sei, was nicht? Er erscheint oft im Gewand des Wissens, ist aber nicht begründbare, argumentations­ zugängliche, korrekturfähige Episteme, Resultat von Dianoesis, sorg­ fältig unterscheidendem Denken. Er wird zwar oft wie Gewissheit, Sicherheit präsentiert, bleibt aber auch im Vermuten, Argwöhnen, Misstrauen. Er kann als Glaube im populär weiten Sinn erscheinen, d. i. ein Meinen, Annehmen, Vermuten, ist aber vom Glauben im engeren religiösen Sinn zu unterscheiden, mit all den Schwierigkei­ ten, an die uns das Stichwort Aberglaube erinnert.

Brauchbar erscheint mir die Formulierung: Wahn sei ein privates und privatives, d.h. der Gemeinschaft entrückendes Konstrukt von Selbst und Welt mit der Folge der Dysfunktionalität, Infirmität. Aber auch dazu bedarf es verschiedener Erläuterungen, auch dagegen gibt es manches 'Aber'. Wahn - eine idiosynkratische Annahme, also ein Meinen, Vermu­ ten, Zuschreiben. Wähnen - ein präverbales Ahnen, das erst nach­ träglich mühsam eine begriffliche Sprachgestalt erhält und in eine

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Dir Bedeuwngshof von Wahn: "Die Wahn-Familie"

textuelle bedeutungsträchtige Narration übergeführt wird. Diese kann dann autistisch starr festgehalten, gar systematisch ausgebaut werden.

Bedenken wir genug die nachbarschaftlichen Phänomene im Um­ kreis des Wahns? Die Veränderung des leiblichen Selbsterlebens in der Zoenaesthesie, in der Grenzaufhebung, in der Konsistenz- und Kohärenzänderung, in der Metamorphose der Geschlechts-, der morphologisch-physiognomischen Identität, in gender dysphoria und body dysmorphic disorder, die Einschätzung der eigenen Gestalt bei Anorexie - das alles sind private und privative Überzeugungen, die dysfunktionell-infirm-krank machen. Ja die Depersonalisation - wa­ rum nennt man sie nicht einen Wahn? Und die Derealisation, die Abblassung und Entrückung der Umwelt, gar die Bedeutungsverän­ derung der Umwelt in der Illusion? Die Missidentifikationen, fal­ schen Identifizierungen, das vermeintliche Wiedererkennen - sie gehören zum BedeutungshofWahn. All die vielen möglichen Veränderungen des Selbstbildes, die hohe, tiefe Selbstbewertung, -einschätzung, gehören sie nicht auch in den Bedeutungshof "Wahn"? Die Selbstentwertung bis Annihilation des Ich in der Depression, die Nichtung von Selbst und Welt - sie gehö­ ren zum Paranoid. Die Umgestaltung der eigenen Geschichte - wo ist die Grenze zwi­ schen einer wahnhaften Biographie und einer Konfabulose, einer Pseudologie, einem sogenannten "pathologischen Lügen"? Was ist mit dem false-memory-syndrom, der Überzeugung, Opfer eines Missbrauchs zu sein - ist das ein induzierter Wahn? Oder ist die Negation von Missbrauch durch die Angeschuldigten über die Lüge hinaus eine wahnhafte Abwehr?

Schwere Zwänge, ich-dystone Impulse, quälende Obsessionen - ge­ legentlich wächst eine Schizophrenie aus solchen Verläufen heraus, die Ich-Dystonie verformt sich zur Fremdbestimmung - da sind wir an solche Übergangsreihen gemahnt. Ähnliches gilt von der häufigen Vergemeinschaftung von Wahn und Halluzinationen. Sie sind auch im differenzierten Erfahrungsbe­ wusstsein von introspektiv begabten Kranken oft sehr nahe beiein­

Der Bedeejtungshof

von

Wahn: "Die Wahn-Familie"

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ander; Wahn erhält Bestätigung von quasiperzeptiven Halluzinatio­ nen, Halluzinationen werden in narrativer Textualisierung als Wahn ausgestaltet.

Bei der dissoziativen Identitätsstörung ist vieles zum traditionellen Begriff Wahn gehörig: wahnhafte Multiplikation, Identitätsaufsplitte­ rung, wahnhafte Konfabulationen, Scheinerinnerungen (z.T. bei Sata­ nismus). Wahnverwandt erscheint zumindest manches im Umkreis von Ideo­ logie, überwertiger Idee, Monomanie, Fanatismus, Orthodoxie. Die Selbstzuschreibung als "wissend", gar verfügend über Eingreif­ möglichkeiten in sogenannten paranormalen, "übernatürlichen" Welten, die Begabung davon zu wissen, zu künden, heilend damit umzugehen - wo ist die Grenze vom selbsternannten Neoschama­ nen zur wahnhaften Identitätsformung, zur Leih-Identität?

Wenn wir zu all dieser hoffentlich heilsamen (weil zu Vorsicht ge­ mahnend) Verunsicherung noch die kulturell-subkulturellen Einflüs­ se auf das Selbst- und Weltbild, die Bedeutungsverleihung in My­ thos, Glauben, Aberglauben, in der Selbst- und Fremdattribution, z.B. als Bhagwan, Avatar, Buddha, Guru, als spirituell erwacht usw. bedenken, werden wir zögernder in der Attribution "Wahn" an Phä­ nomene, die uns befremden. Die Eigenwelten parapsychologisch Begabter, ihre Fähigkeit, über räumliche und zeitliche Grenzen zu sehen (Telepathie) oder auch als Heiler zu wirken, die Entwicklung von kommunikativem Aus­ tausch mancher Medien mit Tieren (animal communication), mit Pflanzen, Steinen, Fluss und Wolken - das sind Sonderwelten, die nicht pathologisiert werden sollten. Das Berührt-, gar Ergriffen werden vom Heiligen, die Hierophanie, die religiös-spirituell-mystische Erfahrung - wie viele Psychiater sind ihr gegenüber uninformiert, unerfahren, stumpfsinnig - und neigen zu einer Pathologisierung solcher Erlebnisse, was wie eine entwer­ tende Abwehr des als unheimlich, nicht-verstanden, nicht-verfügbar Empfundenen anmutet.

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Der Bedeutungshof-

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Wahn: "Die Wahn-Familie"

Wir werden in kritischer Selbstreflexion mancher paranoid anmutender eingleisigen Monomanie und Verstiegenheit der Psychiater eingedenk: Im Gewände von Hirnanatomie, metapsychologischer Libidohydraulik, in selbstherrlich-naivem Normen "wissen", aus­ schliesslicher Psycho- und Soziogenese, extremer Antipsychiatrie; noch schlimmer die Verirrungen in der Rassen-Eugenik, Zwangssteri­ lisation, Vernichtung Geisteskranker, in manchen Akten der Gehirn­ chirurgie (Leukotomie).

Der Mensch ist im persönlichen, beruflichen, politischen Bereich ständig gefährdet, sich in wahnähnliches Meinen mit schweren Fol­ gen für Hilfsbedürftige und Abhängige, für Andersgläubige und Fremdstaatliche zu verrennen. Das geht mit der narzisstischen Selbsterhöhung als Führer, Vertreter des rechten Glaubens, recht­ mässiger Landeigner an, setzt sich in der Spaltung der Welt in gut und böse, Freund (Mitkämpfer) und Feind fort und wird in Kriegen ausagiert. Die Leidenschaften, die Passiones treiben die Menschen zueinander und gegeneinander, in Phantasien, Ideologien, Mythologemen. Die Kognitionen sind von den Emotionen determiniert. Die Menschen wissen wenig Gesichertes und robben sich mit Mei­ nungen durch die Welt (das gilt auch für Philosophen und Psychia­ ter). Wir wähnen uns durch unsere Welten hindurch - und den Überschneidungsbereich unseres Wähnens nennen wir Realität.

Was für implizite, oft unreflektierte normative Entscheidungen flies­ sen in die Feststellung "Wahn" ein? Das Befremdende, Unwahr­ scheinliche, gar Abstruse, das oft zur Wahn-Diagnose und zur Be­ zeichnung "bizarre delusion" führt, ist ein heikles Kriterium, das der Einschätzung des Beurteilers gar viel Spielraum lässt und ihn zur Fehleinschätzung verleiten kann.

Was bleibt? Es ist das private und privative (d.h. der Gemeinschaft beraubende) Überzeugtsein von sich und der Welt, es ist die Ein­ samkeit, Entfremdung und das Versagen im Leben, die Infirmität, die die Berechtigung zur Feststellung "krank, wahnkrank" gewähren.

Der Bedeutungshof von Wahn: "Die Wahn-Familie"

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Aber: Sind diese pragmatischen Kriterien mehr als klinische Orien­ tierungen? Halten sie stand?

.

Einsam ist der Weise, der Heilige, der tiefe Denker, der reife Mensch (Lao Tse). Wer echt und ehrlich sein Selbstsein austrägt, unter Umständen auch abseits der Gesellschaft, ihren Normen und Illusionen, ist einsam.



Eine Privatmythologie (ich bin ein Genie, ein Erfinder, ein Heiler, Wahrsager, Telepath, etc.) kann unter Umständen in ökologi­ schen Nischen ihrem Träger den Austrag einer marginalen Exis­ tenz ohne Infirmität erlauben.

Es ist oft gesagt worden: Es ist nicht der Inhalt einer Überzeugung allein, der als Wahnkriterium genommen werden darf. Sondern es ist die Einbettung, das gesamte Lebensgefüge, der Kontext der Erlebnisund Verhaltensweisen, das Syndrom, in welchem das Symptom Wahn vorkommt. Die anderen Symptome:



Hauptlehrer Wagner "hatte" nicht nur den Beziehungswahn ("alle wissen von mir, reden über mich") und reagierte deshalb so de­ struktiv-aggressiv; er hörte auch Stimmen. Und er war in einem autistischen lebensfeindlichen Weltbild gefangen.

.

Michael Kohlhaas fühlte sich durchaus begründet ins Unrecht ge­ setzt und wehrte sich dagegen expansiv-aggressiv, schliesslich masslos. Aber das ist kein Wahn. Den Wahn entwickelte er erst im Gefängnis: nämlich den messianischen Wahn, er sein Welten­ retter.

Gerade bei alltäglichen, banalen, säkularen Überzeugungen sollten die Psychiater nicht zu leicht Wahn diagnostizieren, z.B. bei Eifer­ sucht, bei Verfolgungs-, Vergiftungsangst.

Eifersucht ist oft real begründet. Und doch kann zusätzlich ein Wahn bestehen. Groteske Formen von Eifersuchtswahn können auf dem Boden depressiver Selbstherabsetzung entstehen: "Ich bin so eklig und nichtswürdig, man kann mich nicht lieben, nicht begehren. Da ist klar, dass der Partner sich an andere hält".

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Der Bedeutungshoe

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Wahn: "Die Wahn-Familie"

Ein Mann wurde mit der Diagnose "Verfolgungs-, Vergiftungswahn" (durch die Ehefrau) hospitalisiert, entlassen - und starb bald darauf tatsächlich, vergiftet von seiner Frau und deren Freund. Das ist eine eindrückliche Mahnung an die Psychiater, nicht gar zu leichtfertig Wahn zu diagnostizieren - und dabei die Möglichkeit eigener Irr­ meinung gar nicht selbstkritisch in Betracht zu ziehen.

3 Kosmopoiesis und Autopoiesis: Konstitution von Selbst und Welt im Bewusstsein Im Bewusstsein konstituiert sich die mentale Gestalt SELBST und die diesem Selbst zugehörige WELT. Dieses Bild von Selbst und Welt wird in sprachliche Gestalt gebracht, mit Bedeutung erfüllt und in einen (mehr oder weniger) kohärenten Text verbunden, vernetzt: Das ist die mythopoietische narrative Konstruktion. In dieser gestaltbildenden Potenz des Bewusstseins liegt die Mög­ lichkeit, eine interpersonellen und kulturellen Konsens findende, in diesem Sinne reale Welt zu konstituieren - oder in eine private und privative, idiosynkratische, autistische, dereeile, paranoetische, eben Wahn-Welt zu geraten. Mit anderen Worten: Der Mensch ist grund­ sätzlich wahnfähig aufgrund der Weise, wie ihm in seinem Bewusst­ sein Welt und Selbst gegeben sind. Das Stichwort dazu heisst heute epistemischer Konstruktivismus. Dass die Alltagswelt des Menschen einer bestimmten Kultur (ordina­ ry or common sense reality) eine Gestaltung des menschlichen Be­ wusstseins sei, diese Auffassung ist in der östlichen (indischen) Phi­ losophie seit den Upanishaden und in der occidentalen seit den Vorsokratikern nachweisbar.

Die indische Lehre von maya, dem Schein des Alltagswirklichen, als Bewusstseinsgestaltung, die der Unwissende in seiner Verblendung für das Wahre hält, hat eine verwandte Wurzel wie die abendländi­ sche: Die wahre Wirklichkeit ist dem Menschen verschleiert, nicht zugänglich. Diese Einsicht ist in der indischen Tradition als Erwa­ chen, als Ablegen der Unwissenheit und Täuschung Ziel spiritueller Bewusstseinsentfaltung [so z.B. Chandogya Upanishad: tat twam asi. Das bist du. Du selbst (ätman) bist Brahman], Die gegenüber dem Einen Ganzen, das dem Menschen im Alltags­ bewusstsein nicht erfassbar ist, partikulare Wirklichkeits-Erkenntnis ist in Indien im Gleichnis der Blinden vor dem Elefanten dargestellt. Je nach dem perzeptiven Erfahrungsbereich liefern die Menschen andere kognitive Konstrukte - keiner erfasst, begreift das Ganze. Daher kann keiner seine Wahrnehmung als partikular relativieren.

Kosmopoiesis UND Aluoioesis

Ein Elefant ist... ein Speer... eine Schlange ... ein Baum ... ein Fächer... eine Wand... ein Seil...

Die abendländische Tradition ist mindestens bis Demokrit zurückzu­ führen: Die eigentliche Wirklichkeit ist nicht erfassbar. Die Linie geht durch die abendländische Philosophiegeschichte über die An­ schauungsformen Kants, geschaffen von der Einbildungskraft unter der Kontrolle der Vernunft, und die Formulierung Husserls (1973, 3. Teil, S. 546), die Welt sei "ein psychisches Gebilde, Ideengebil­ de", jeder habe "sein Ideengebilde Welt", bis zum epistemologi­ schen Konstruktivismus (Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld), die evolutionäre Epistemologie (Lorenz, Riedel, Wuketits, Maturana und Varella), mit Einflüssen aus Ethologie, Ethnologie (Hallowell), Psychologie (Piaget, Bateson, Watzlawik). Sie treffen sich in dem Bekenntnis: Wahrnehmung und Erkenntnis sind konstruktive Akte (Poiesis). "Wissen" im Sinne von gesichertem Erkennen der Wirklichkeit im Sinne von Gegenständlichkeit (Objekthaftigkeit) stützt sich auf perzeptive Erfahrungen, spontane oder (im experimentellen Setting) konstellierte. Aber nicht nur das sensorisch vermittelte gegenständi­ ge Unausweichliche der mesokosmischen Welt erfahre ich als wirk-

Kosmopoiesis und Autopoiesis

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lieh. Auch innere Erfahrungen erscheinen in meinem Bewusstsein als wirklich - und sie können auch wirksam werden. Dennoch gilt die ernüchternde Besinnung: Die Wirklichkeit einer Erfahrung er­ laubt nicht den Rückschluss, dass das Erfahrene, das Bewusstseins­ bild, wirklich sei.

Das Spektrum der Erfahrungen, die die Bewusstseinsgestalten Selbst und Welt entstehen lassen, ist weit: externe, perzeptive, psychosozi­ ale, oder interiore, Selbstgefühl, Zoenaesthesie (also eigenleibliches Spüren), Emotionen und Affekte, Einfälle, Vorstellungen, Phantasien. Alle diese Erfahrungen werden im Erleben des wachen, vollbewuss­ ten Menschen mittels der Funktion Erfahrungsbewusstsein kognitiv eingeordnet: Mit der Erfahrung ist der Modus der Erfahrung gegeben (Bewusstsein, Beiwissen, con-scientia). Erfahrungsbewusstsein ermöglicht Realitätsbewusstsein. Vorausset­ zung dieser Bewusstseinsfunktion sind eine mittelgradige Afferenz (weder sensorische Überflutung noch Deprivation), stabile Wachheit und eine ausgeglichene emotional-affektive Grundlage - sowie ein genügend (ausreichend) stabiles zentrales Verarbeitungszentrum (das Selbst/Ich). Bei einem bedrohten, gar fragmentierten Ich-Bewusstsein geht Erfahrungs- und Realitätsbewusstsein in den Affekten Angst, Verzweiflung, Untergang verloren. Damit ist ein Weg in den Wahn offen. Erfahrungen sind dem Menschen in unterschiedlichen Graden der Evidenz, der Intensität (präsentisch und longitudinal), der Lebhaftig­ keit, der Realitätsbestimmung, der Gewissheit gegeben. Evidenz ist das, was von sich her (ohne Dazutun vom Objekt und vom Beob­ achter) einleuchtet, sich überzeugend darbietet: Von der Perzeption, der Bedeutung (Schlüssigkeit, Klarheit, Eindeutigkeit, Plausibilität), den begleitenden Emotionen (= emotionale Erkenntnis), von der so­ zialen, interpersonellen Bestätigung. Evidenz muss also als Resultat der Interaktion von Beobachtetem und Beobachter (seiner Offenheit, Suchperspektive, Bedeutungsgebung, Auslegung etc.) gesehen wer­ den. Gewissheit hingegen meint das Sicherheitsgefühl (Überzeu­ gung), das ein Mensch betreffend seiner Erfahrung und deren Deu-

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Kosmopoiesis

und

Autopoiesis

tung, betreffend seiner Meinung, allenfalls seinem (religiösen) Glau­ ben hat. Welt und Selbst sind dem Menschen als Erfahrung gegeben, in einer Weise, die in der biologischen Evolution und in der Kulturgeschich­ te, in persönlich-biographischer und zeitgeschichtlicher Prägung ge­ staltet ist.

Auf Erfahrung stützt sich "Wissen" als argumentationszugängliches, korrigierbares, überprüfbares und interpersonell bestätigbares Wis­ sen über externe (nicht ichhafte) Realität. Es gibt kein vergleichbares Wissen über Ich-Zustände, über das Selbstgefühl, über interiore Er­ eignisse wie Zoenaesthesie. Und doch werden solche Erfahrungen als Wirklichkeiten erlebt - und auch handlungsbestimmend. Dabei geht es um Wirklichkeiten als mentale Ereignisse in einem Subjekt, gegeben durch ein Erspüren, Gewahren, Vernehmen. Da gibt es keine Überprüfung, Bestätigung oder Verwerfung, unter Um­ ständen wegen der Einzigartigkeit nicht einmal durch Wiederholung. Wissen im Sinne von Episteme, welches systematisch in der Wissen­ schaft angestrebt wird, kann richtig oder falsch sein: es ist irrtumsan­ fällig und kann korrigiert werden, es ist nie letztgültig, es kann keine Aussagen über ein Absolutes tätigen (das ist Sache des Glaubens, der Konfession, der Spekulation), es erfasst immer nur Partikuläres, nicht das Ganze.

Wo Wissen gegeben ist, braucht es kein Meinen in unterschiedli­ chen Gewissheitsgraden: Meinen, Annehmen, Vermuten (Glauben im umgangssprachlichen Sinn im Gegensatz zu Wissen), belief­ system, bezeichnet die subjektive Gegebenheit von Selbst und Welt zwischen Unsicherheit, Zweifel (im negativen Sinn Argwohn, Miss­ trauen) bis zur Gewissheit, Überzeugung. Das Meiste unserer Vorstellungen, Bilder, Annahmen von Selbst und Welt ist ein Meinen, kein Wissen (wir glauben zu wissen, meinen zu wissen). Das Spektrum des Meinens, der Annahmen, ist viel grösser als das des Wissens. Meinen gibt sich nicht (wie Wissen) in über­ prüfbaren (gar falsifizierbaren) Sätzen kund und wird oft präverbal, non-explizit verhaltenswirksam. Das Meinen im Sinne von Für-wahr­

Kosmopoiesis und Autopoiesis

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halten kann argumentationszugänglich sein, muss es aber nicht (im Gegensatz zum Wissen).

Das Vermeinte, die Annahmen betreffend Selbst und Welt, sind Ge­ bilde der Phantasie, der kreativen Gestaltung des Bewusstseins. Die mythopoetische Phantasie schafft mehr oder weniger kohärente Weltbilder. Sie kümmert sich nicht um Wahrheit (wie immer diese definiert werden mag), um Überprüfbarkeit. Wichtig ist, dass das Phantasiegebilde subjektiv stimmig ist, befriedigt (sic Affekt), als plausibel erlebt wird. Das Reich der Phantasie ist immun gegen, erhebt sich souverän über Argumente, Logik, die elementaren Anschauungsformen von Raum und Zeit. Es ist das Reich, das jeder für sich ohne Rücksicht auf Prüf­ barkeit und intersubjektiven Konsens spielen lassen kann. Jeder kann für sich sein Weltbild ausformen: Privat-Mythologem; oder er sucht Anschluss an kulturell-subkulturell vorgegebene Muster der WeltDeutung.

Ganz ohne Rückgriff auf Vorliegendes (u.U. nur implizit, bewusstseinssubliminal Gegebenes der eigenen Personifikation, Sozialisa­ tion, Enkulturation) geschieht kaum eine kreative Gestaltung, nicht in Kunst und Wissenschaft, nicht in sub- oder parakulturellen Welt­ anschauungen, nicht im Privatmythologem und auch nicht im Wahn (sogen, pathoplastische Einflüsse). Erfahrungen konstituieren das Bild von Selbst und Welt. Diese wer­ den als bedeutungserfüllt, sinnträchtig erlebt. Die Sinnherstellung (eine Poiesis) geschieht aus verschiedenen Quellen: Perzeptionen (exteriore und intrinsische, zoenaesthetische) werden mittels des Gedächtnisses mit früheren und begleitenden Erfahrungen, Erfah­ rungsmustern (persönlichen, familiären, sozio-kulturellen) verknüpft. Erfahrungen (und alle Erfahrungen tragen zur Selbsterfahrung bei) werden in vergleichbarer Weise mnestisch verbunden, es werden ihnen Bedeutungen zugeschrieben, sie werden zu einem sinnhaften Gewebe verknüpft (Gewebe = Netz = Text = Tantra) (s. Kohärenz­ theorien Barthelroth u. Scholz 2001, Stenger 1993). Alle Erfahrun­ gen haben einen emotional-affektiven Gehalt, welcher für den Pro­ zess der Sinn-Gestaltung als Motiv wirksam wird: Sehnsucht,

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KOSMOPOiESIS UND AUTOPOIESIS

Wunsch, Trieb, Bedürfnis. Dafür stand im 19. Jahrhundert "Leiden­ schaft", Passion (z.B. Esquirol, Ideler). Alle diese Elemente werden zum Zwecke der Bedeutungs-Gebung, Sinn-Bildung verbunden (reflexiv oder nicht reflektiert), d.h. es ist ein funktionell-final-telephrenes Geschehen. Es wird in narrativer Gestaltung ein Mythos gewoben - ein Bedeutungs- und Sinnträger: Als kulturell gemeinsamer koinös mythos oder als idiosynkratischautistisches Privatmythologem (fdios mythos).

Der französische Philosoph Marc Richir (2000, 2001, Trinks 2002) versucht auf dem von Husserl beackerten Boden in einer hyperboli­ schen (d.h. übertreibenden) Hermeneutik eine "revolutionäre Phä­ nomenologie" zu pflanzen. Er geht bohrend der Frage nach der Sinngestaltung nach, die, genährt von Bedeutungsstiftung und Phan­ tasie, schon vorsprachlich in einem fluktuierend-germinativen Be­ wusstseinsbereich, aus dem auch Phantasmen stammen, beginnt. Er spricht im Blick auf dieses Kreative der Sinn-Poiesis auch von einer "Trunkenheit des Sinns" (2000, 86). Die Genugtuung, Befriedigung, ja Begeisterung, der Rausch der Sinngestaltung übergeht (sic "hyper­ bolisch") die nüchtern-profane Frage nach dem Verhältnis des Ange­ nommenen zu einer (womöglich noch intersubjektiv prüfbaren) Ob­ jektivität, nach der Verifikation. Die Überzeugung, die Gewissheit triumphieren über die differenzierenden Funktionen des Erfahrungsund des Realitätsbewusstseins. Sie kümmern sich nicht um sathipatthana, die achtsame Introspektion, die mit dem tibetischen Heili­ gen Milarepa mahnen könnte: "Doch hüte dich und lerne unter­ scheiden" (s. dazu Scharfetter 1997, 22). Nietzsche schrieb trunken in der Engadiner Höhenluft: "Bist du schon selig in Nüchternheit, wie selig wirst du trunken sein". Trun­ ken sind wenige erdenthobene beseligt-glückliche Wahnkranke, trunken in der illusionären Befreiung von den Fesseln der für sie un­ erträglichen Alltagswirklichkeit ihres Lebens-Elends. L. sagte zu ih­ rem Glückswahn von Liebe, Ehe, Mutterschaft: "Ich habe Luft unter den Füssen ... mein Leben, meine Freiheit, mein Ziel ... ein schönes Weltbild".

4 Wege in den Wahn In dem angedeuteten kognitiv-affektiven Prozess der Bildung von Wissen, Meinen, Annehmen, Vermuten, Vorstellen und Phantasie­ ren - und den Überwachungsfunktionen von Verstand und Ver­ nunft, verschiedenen und repetierten Perzeptionen und sozial-inter­ personellem Austausch müssen wir die Weichenstellung in das Wähnen suchen. Es sind von vorneherein mehrere Abirr-Möglichkeiten in den Wahn in Betracht zu ziehen; in dieses autistischidiosynkratische, mit der Mitweltsicht inkompatible Konstrukt, diese private und privative, dysfunktionell-infirm machende Annahme von sich selbst in seinem Bezug zur Welt.

Unter verschiedenen Bedingungen überbordet die phantastische Ei­ genwelt über die Alltagsrealität. Beim Dichter mit kreativer Gestal­ tungskraft wird daraus ein Roman, beim Kranken mit infirmem Selbst kann das zum Scheitern in der Lebensbewältigung führen, zur Dys­ funktionalität und zur Deprivation von der Sozietät, zur Isolation und Alienation. Dann wird nicht mehr erkannt, dass die Wirklichkeit der Erfahrung nicht den Schluss erlaubt, dass das Erfahrene real sei. Wie wird aus einem privaten Meinen, einem Privatmythologem, ei­ nem System von Meinungen, Ansichten, Vorstellungen, Bedeutun­ gen, Gewichtungen (kognitive und affektive), ein Wahn im psycho­ pathologischen Sinn? Ein de-lira-ire (delirium, delirio), ein paranoetisches Denken, ein idiosynkratisches realitätsinkompatibles Über­ zeugtsein, eine delusion (Verschleierung der Realität), ein Abirren von der sozio-kulturellen einbettenden Intersubjektivität, die autisti­ sche Verrückung? Ausgangssituation für die Wahnproduktion ist die Erfahrung der Be­ troffenheit: es fehlt mir etwas, es ist etwas verändert in mir, in der Umwelt. Es ist zuerst ein vorsprachliches Angemutetwerden, kogni­ tiv noch nicht zu fassen (vg. Tremaphase bei Conrad). Daraus wird spontan oder durch Befragung in Sprache gefasster mitgeteilter Wahn. Indem das Bewusstsein dem präreflexiven Erlebnis formend Sprachgestalt gibt, erfolgt eine Bestimmung und Fixierung: Wahn als mitgeteilter Wahninhalt ist anders eingebettet in das Subjekt als prä­

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Wege !n

den

Wahn

reflexiv handlungswirksames Wähnen. Eine weitere Stufe ist dann die "Verarbeitung" des Wahns, seines Inhaltes sowohl wie seines Daseins, durch den Wahnträger (Systematisierung). Einen narrativ ausgestalteten Wahn sehen wir am ausgeprägtesten bei den chroni­ schen systematischen Wahnentwicklungen (vom Typ der Paranoia). Dagegen bleibt bei der Demenz mit ihren mnestischen und intellek­ tuellen Werkzeugstörungen des Ich das Paranoide meist flüchtig und ist dann nicht einfach von der Konfabulose abzugrenzen.

In der Wahnformung erhält ein unbestimmtes, protopathisches Zumutesein Profil, Gestalt, Physiognomie - und wird damit schon ver­ ändert (wie ein erzählter Traum nicht gleich ist dem Traumerlebnis). Gedanken werden in der Versprachlichung fixiert, das engt das Spektrum der Möglichkeiten ein. Ein Erlebnis wird in der Erzählung zur Geschichte, gewissermassen hinausgegeben, externalisiert. Auch für die narrative Ausgestaltung der Wahnfabel gilt, was Gernot Böhme zur Wandlung vom Erlebnis zur Geschichte sagt: "Die Dar­ stellung lässt das, was man darstellt, nicht unverändert ... Ein Erleb­ nis, das man erzählt, gerät einem zur Geschichte, es verliert den Kontingenzcharakter, mit dem es einen traf" (Böhme, 1994, S. 162)6. Der Gewinn im Wahn: Wahn - das Wort hat etymologisch mit "Gewinn" zu tun. Und tatsächlich ist es auch in der Praxis der Klinik und Psychotherapie sinnvoll, in dieser teleologischen Perspektive nach der Funktion des Wahns im Gesamtbild des Lebensweges und der Entwicklung der Psychopathologie eines Patienten zu fragen.

Auch da ist das Spektrum der funktionellen Bedeutungen von Wahn gross: Von der erleichternden Einsicht "Aha, das geschieht mir da"7, "Das ist im Gange", "Nicht ich bin geistesschwach und gedächtnis­ gestört, sondern man hat mich bestohlen" bis zur plausiblen Deu­ tung des Wahns als Flucht, Kampf, Abwehr unaushaltbarer Psychalgie, die das Ich zerbrechen lässt in Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Angst, Einsamkeit, Wut, Ohnmacht8. 6 7 8

Frau E. sagte: "Ich habe zwei Welten - aber man muss Ordnung machen". Frau S.: "Ich habe immer gedacht: Etwas stimmt nicht ... jetzt weiss ich." Frau G.: "Die Ohnmacht des Bewusstseins ... das Gehirn ist zertrümmert.

Wege

in den

Wae