Selbst und Raum: Eine raumtheoretische Grundlegung der Subjektivität 9783839440872

Each individual has a more or less clearly defined view of himself or herself, of that aspect which is also termed one&#

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Selbst und Raum: Eine raumtheoretische Grundlegung der Subjektivität
 9783839440872

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Erster Hauptteil: Der Raum
Kapitel I.1
Kapitel I.2
Kapitel I.3
Kapitel I.4
II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst
Kapitel II.1
Kapitel II.2
Kapitel II.3
III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst
Kapitel III.1
Kapitel III.2
Kapitel III.3
Kapitel III.4
Kapitel III.5
Anhang
Literatur

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Matthias C. Müller Selbst und Raum

Edition Moderne Postmoderne

Matthias C. Müller (Dr. phil.), geb. 1970, hat seit 2005 regelmäßig Lehraufträge für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe wahrgenommen und wurde 2015 von Peter Sloterdijk und Michael Hampe promoviert. 2005 gründete er die Akademie »Der Philosophische Garten« in Stuttgart und Berlin. Er veröffentlichte u.a. den Lebenskunst-Essay »Alle im Wunderland. Verteidigung des gewöhnlichen Lebens« (Diederichs Verlag, München, 2010).

Matthias C. Müller

Selbst und Raum Eine raumtheoretische Grundlegung der Subjektivität

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die aktualisierte Fassung der Dissertation »Raumselbst. Die Geburt des Selbst aus dem Geist der Wand«, die der Verfasser im Jahr 2013 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe eingereicht hat und die 2015 als Hochschulschrift veröffentlicht worden ist.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt Einleitung  | 11 Die These | 12 Eine sehr kurze Erläuterung | 12 Allgemeine begriffshistorische wie begriffsmethodologische Anmerkung | 15 Innenraum | 16 Intaktheit und Öffnungen des Innenraums | 17 Phänomenales Selbst | 18 Kurze Rechtfertigung des Vorhabens | 20 Erstens: Der phänomenologisch beschreibbare Grund: Die existentielle Dimension von Selbst und Raum | 21 Zweitens: Eine wissenschaftshistorische Voraussetzung | 23 Zusammenfassung der Rechtfertigung des Vorhabens | 29 Prämissen | 29 Prämisse wissenschaftlich-empiristische Methode | 29 Prämisse Phänomenales Bewußtsein (und Intentionalität) | 30 Prämisse Innen-Außen-Spannung | 39 Prämisse Übertragung | 42 Prämissenfazit | 45

I. E rster H auptteil : D er R aum Kapitel I.1 Der hier zunächst verwendete Raumbegriff und mögliche Erweiterungen  | 49 Allgemeine Anmerkung: Raum, wo wohnst du? | 49 Sprachgeschichtlicher Hinweis auf den Begriff des ›Spatiums‹ | 50 Raumarten | 51 Natürliche Räume | 51 Gebaute Räume | 52 Metaphorische Räume | 52 Heterotopische Räume | 53 Generell unzählbar viele Begriffskombinationen | 54

Kapitel I.2 Historischer Rückblick und raumbezogene Begriffe. Von Anaximandros bis Kant  | 59 Antike Raumbegriffe im kurzen Überblick – Polaroids | 59 Chóra | 59 Tópos | 59 Periéchon | 60 Diástema | 60 Kénon | 60 Ápeiron | 61 Kosmos | 61 Spatium | 61 Erstes Charakteristikum ›Grenze‹ | 61 Grenze und Aufrechterhaltungsstreß | 66 Chora – ein schillernder Begriffsmutterkuchen: Vier Ansichten | 67 I Chora bei Platon | 67 II Chora – Eine Zwischenbemerkung | 68 III Chora – ein Bezug zur Hauptthese | 69 IV Chora jenseits von Platon | 70 Topos bei Aristoteles – eine Anmerkung | 71 Der Kosmos und die neuzeitliche Weltbildexplosion: ›Der Mittelpunkt der Welt ist überall und nirgends‹ | 72 Der physische Raum und der psychologische Raum | 74 Zu Aspekten der instrumentell-taktilen wie der optischen Raumerschließung | 76 Sprung zu Kant und der apriorischen Anschauung des Raumes | 77 Übertragungs- und Verschränkungsmöglichkeit der Räume – Ein Beispiel aus der Eisenbahn | 78

Kapitel I.3 Neuere Raumbegriffe seit dem 19. Jahrhundert  | 81 Die Brentano-Husserl-Wende | 81 Husserl, der Leib, das Ich und der Raum sowie Positionen von Heidegger, Sartre, Schmitz | 83 Industrialisierung als Raumzerstörerin und Raumschöpferin sowie Subjektivierung der Räume in Physik und Biologie | 89 Martin Heidegger und der existentielle Raum | 90 Heidegger und das Innen des Raumes | 90 Heidegger und das Aus-der-Welt-sein | 92 Das In-der-Welt-sein und die menschliche Ontogenese: Pubertät als Raumkrise | 93 Peter Sloterdijks Kritik an Heideggers Abkehr vom Wo | 94 Maurice Merleau-Ponty im Lichte von Bollnow | 95 Gaston Bachelards Topophilie | 98 Bachelard und die glücklichen Räume, von den unglücklichen zu schweigen | 98 Bachelard und das Haus als Integrationsmacht und Große Wiege | 100

Bachelard und noch ein Wort zum Kauern sowie Emilys Selbstentfremdung auf dem Schiff | 104 Bachelard und das Treppenhaus im Zeitalter von Fahrstühlen und Fahrtreppen | 108 Bachelard und die Phänomenologie von Schwelle und Tür | 108 Otto Friedrich Bollnow – eine phänomenologische Raumtheorie | 110 Bollnow und der Mensch und sein Raum | 110 Bollnow, die bergende Mitte des Raums und das Bett | 111 Bollnow und das Menschenpaar in der Wohnung | 112 Bollnows drei Bereiche des Wohnens: Der Leib, das Haus, der Raum überhaupt | 112 Bollnow, der Schlaf und das aufgelöste Selbst | 114 Hermann Schmitz und der Raum. Noch eine Anmerkung | 118 Bernhard Waldenfels und der Raum als leibliche Situation | 120 Gernot Böhme, die Atmosphäre und der leibliche Wahrnehmungsraum | 122 Philosophische Anthropologie – Helmuth Plessner und Peter Sloterdijk | 125 Helmuth Plessner und die exzentrische Stellung des Menschen | 125 Paläopsychologisch gefärbte Raumanthropologie. Notiz zu Peter Sloterdijks Begriff des ›Menschentreibhauses‹ | 128 Annäherung an den Sphärenbegriff von Peter Sloterdijk I | 131 Innenraum denken | 132 Annäherung an den Sphärenbegriff von Peter Sloterdijk II. Dyade und Dividuum | 133 Zur Dyade | 134 Zum Dividuum | 136

Kapitel I.4 Resümee des Raumbegriffsteils  | 141

II. Z weiter H auptteil : D as S elbst Kapitel II.1 Allgemeiner Hinweis zum Selbstbegriff  | 145 Kürzeste Klärung wichtiger virulenter Allgemeinbegriffe – Das Selbst, seine Doppelgänger und sonstige Anverwandten | 146

Kapitel II.2 Historische Landschaftsskizze der philosophischen Selbstbegriffe in Antike, Neuzeit und Moderne  | 161 Antike in West und Ost | 161 Das Selbst im abendländischen Kontext | 161 Das Selbst im asiatischen Raum und die Reflexivitätsthese. Allgemeiner Hinweis | 165 Neuzeit und Moderne | 179 Das anfängliche Quartett des Selbstbegriffs | 179

Kapitel II.3 Diskussion zeitgenössischer Selbstbegriffe  | 207 Kapitel II.3.a: Diskussion zeitgenössischer Selbstbegriffe in Hinsicht auf einzelne Fachgebiete. Psychologie, Psychoanalyse, Medizin, Biologie und Anthropologie sowie Literatur- und Kognitionswissenschaft | 207 Die Psychologie und das Selbst. Kursorische Anmerkungen | 207 Anthropologische und konstruktivistische Aspekte des Selbst | 229 Literatur- und Kognitionswissenschaft. Personale ›Identität‹ via Zeitlichkeit, Prozesse, Narrativität und Dialog | 240 Kapitel II.3.b: Selbstbegriffe in der zeitgenössischen analytischen Philosophie des Geistes sowie in der zeitgenössischen phänomenologisch inspirierten Philosophie | 259 Kapitel II.3.c: Ich-Skeptizismus oder die Auflösung des Selbst | 284 Kapitel II.3.d: Resümee des Selbstbegriffsteils | 304

III. D ritter H auptteil : D as R aumselbst Kapitel III.1 Theorie: Entwicklung des Begriffs eines ›Raumselbst‹  | 309 Das Arbeitszimmer als Innenraum und nicht als Außenraum | 313 Rekapitulation der Ableitung des Begriffs ›Raumselbst‹ | 322

Kapitel III.2 Praxis: Teil eins (von zweien)  | 325 Phänomenologische Untermauerung der These anhand von Beispielen | 325 Abschnitt 1. Der Mensch als Raum | 326 Abschnitt 2. Haus und Wohnung als Selbstrepräsentation | 330 Abschnitt 3. Stufen von der vertrauten zur unvertrauten Räumlichkeit | 342

Kapitel III.3 Praxis: Teil zwei (von zweien)  | 351 Empirisch-neurowissenschaftliche Untermauerung der These und Ausblick auf mögliche zukünftige Forschung | 351

Kapitel III.4 Zusammenfassung. Die Befunde dieser Arbeit  | 357 Selbstbegriffe | 358 Selbst aus der Innenperspektive | 359 Selbst aus der Außenperspektive | 359 Multiperspektivisches und facettenreiches Selbst | 360 Raumbegriffe | 360

Kapitel III.5 Schlussüberlegungen oder Die Eudämonie des Raumselbst  | 363 Jemand und Niemand | 363 Freiheit des Selbst | 364 Selbst und Tod | 365 Das Selbst, sein Urbegleiter und die Glückseligkeit | 366

Anhang  | 369 Methodologischer Exkurs. Mögliche Kritik an der Verwendung eines repräsentationalistischen Bewußtseinsbegriffs | 369 Zwei Mythen. Mythos des Gegebenen und Mythos des Mittelbaren | 372 Fazit des Exkurses | 376

Literatur  | 379

Einleitung Ich betrachtete den Wundergarten des Raumes mit der Empfindung, in die tiefste Tiefe, die verborgenste Verborgenheit meiner selbst zu blicken, und ich lächelte, denn ich hatte mir niemals träumen lassen, so rein, so groß, so schön zu sein! Oscar Milosz 1

1 | Oscar Vladislas de Lubicz Milosz: L’amoureuse initiation, zitiert nach: Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, (La poétique de l’espace, 1957), aus dem Französischen von Kurt Leonhard, Frankfurt a.M. 92011, S. 191.

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Selbst und Raum

D ie These Eine sehr kurze Erläuterung In dieser Schrift vertrete ich folgende These: Das Erleben eines intakten Innenraums ruft das Erleben eines phänomenalen Selbst hervor.2,3

2 | Die naheliegende Frage, inwiefern diese Selbst-Evolution nicht allein bei Menschen, sondern auch bei Tieren zu beobachten sei, lasse ich allein aus formalen, den Umfang begrenzenden Gründen weitgehend unberücksichtigt. Vgl. zu dieser Frage etwa Otto Friedrich Bollnow: Das Territorium der Tiere, Kapitel in: Bollnow: Mensch und Raum, (Stuttgart 1963), Würzburg 2011 (beruht auf Stuttgart 71994), S. 242-246; siehe des weiteren Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 21921, sowie Jakob von Uexküll und Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre, Hamburg 1956, S. 110ff.; beachte auch Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, (1928), Berlin und New York 31975, S. 240; vgl. zudem Hans Peters: Über die Beziehungen der Tiere zu ihrem Lebensraum, in: Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden, 10. Jahrgang, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1957; vgl. dazu auch Daniel Dennett über Biberdämme und Spinnennetze, in: D. D.: The Reality of Selves, Kap. 1: How Human Beings Spin a Self, in: D. D.: Consciousness Explained, Boston 1991; siehe auch Donald Davidson: Vernünftige Tiere, (1982), in: D. D.: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2004, S. 167-185. Zudem erinnert Peter Sloterdijk in ›Sphären III‹ an einen triftigen Passus im Matthäus-Evangelium (8, 20), in dem sich ein topologischer Verweis auf die Lebensräume von Gottes-, Menschen- und Tierwelt findet: »Von dem berühmtesten Obdachlosen [sic!, M.M.] ist der Ausspruch überliefert: ›Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hin lege.‹« (P. S.: Sphären III. Plurale Sphärologie: Schäume, Frankfurt a.M. 2004, S. 543.) – Um das theologische Spiel auf die Spitze zu treiben, läßt sich daraus der Schluß ziehen: Gott, in dem alle Menschen aufgehoben sind, ist selbst nirgends aufgehoben, hat keinen Raum, der ihn bergen könnte. Die Menschen haben ein transzendentes (jenseitiges, übersinnliches) Obdach in Gott, nur Gott selbst, der Einsame, bleibt ein transzendenter Obdachloser. (Georg Lukács prägte in seinem Frühwerk ›Die Theorie des Romans‹, Berlin 1920, S. 23f., den Begriff der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ [deren Ausdruck die Form des Romans sei]; dabei verwendet er – statt ›transzendent‹ – das in einer scholastischen Tradition stehende Adjektiv ›transzendental‹, das sich auf die allgemeinsten Begriffe und die die Schranken der Einzelwissenschaften überschreitenden Grundsätze bezieht und hier im weitesten Sinne mit ›metaphysisch‹ gleichzusetzen ist.) Um folglich – weil nicht sein kann, was nicht sein soll – doch wohnen zu können, benötigt Gott die Menschen, die an ihn glauben: Wenn sie an ihn glauben, kann er in ihren Herzen wohnen und dort eine bescheidene, wenn auch unruhige Kammer beziehen. Raumbegrifflich formuliert: Der umfangende absolute Raum ist selbst nicht umfangen; es sei denn, man läßt ihn in einer paradoxen Inversion in unendlich vielen Kammern enthalten sein. 3 | Ich verwende das Wort ›Erleben‹ weder in einem spezifisch psychologischen noch in einem ausdrücklich diltheyschen noch in einem rein husserlschen, sondern in einem phänomenalen Sinn: ›erleben‹ verweist daher zunächst einfach auf den Wachzustand eines Menschen – ›wachsein‹ oder ›bei Bewußtsein sein‹ heißt nichts anderes als ›etwas erleben‹.

Einleitung

Für ein präzisiertes Verständnis des erwähnten ›phänomenalen Selbst‹ führe ich hier den Begriff Raumselbst in einem bestimmten Sinne ein.4 Die Verwendung des Begriffs Raumselbst findet ihre erste Begründung schon in der Sache selbst, nämlich in dem von Menschen implizit erlebten Ineinandergehen von Raum- und Selbstwahrnehmung bzw. in dem kaum voneinander trennbaren gleichzeitigen Erleben eines Raums und der eigenen Person. Die Verwendung des Begriffs erfüllt jedoch im folgenden auch den Zweck, diesen noch spatiologisch aufzuklärenden Selbstbegriff von geläufigen Begriffen des Selbst, besonders des ›phänomenalen Selbst‹, zu unterscheiden und damit künftigen Mißverständnissen vorzubeugen. Umgekehrt formuliert lautet die Hauptthese daher: Das Erleben eines phänomenalen Selbst bedeutet das Erleben eines intakten Innenraums. Pointiert gesagt: Ich erlebe einen Raum, also bin ich. Die These wird aus einer Alltagsperspektive zunächst kontraintuitiv erscheinen, ist es entsprechend dieser doch das Selbst, welches die Raumwahrnehmung ermöglicht und auch dadurch den Raum erst hervorbringt, und nicht umgekehrt. Es macht die Erläuterung der These dabei nicht einfacher, daß sich in zeitgenössischen analytischen wie kognitions- und neurowissenschaftlich angeregten Philosophien des Geistes kaum Theorien und Theorieansätze finden, die das phänomenal unauflösliche Ineinanderverwobensein von Raum- und Selbsterleben zum Thema machen und begrifflich zu klären versuchen. Freilich, vor allem in der Phänomenologie sowie in phänomenologisch gefärbten Philosophien wie der ›Neuen Phänomenologie‹, ausgehend von Hermann Schmitz, und in daran anknüpfenden psychiatrischen Therapiekonzepten finden sich thematisch breit aufgefächerte und analytisch tief ausgearbeitete Darstellungen des atmosphärischen Raum-, Leib- und Selbsterlebens – ebenso in der von Peter Sloterdijk erschlossenen Sphärologie wie auch in neueren transdisziplinär ausgerichteten neurowissenschaftlichen Ansätzen und in der Raumpsychologie im allgemeinen.5

4 | Der Begriff ›Raumselbst‹ taucht meines Wissens erstmals bei Peter Sloterdijk auf, siehe P. S.: Sphären III, a.a.O., S. 545; dort spielt er allerdings keine systematische Rolle, ist zunächst eingebettet in die Kapitelüberschrift ›Die Wohnmaschine oder: Das mobilisierte Raumselbst‹ und zielt nicht zuletzt auf die Wohnung als Wohnmaschine bzw. als mobile home. – Bernhard Waldenfels verwendet peripher den Begriff des ›räumlichen Selbst‹, ohne daß dieser zu einem Hauptbegriff ausgearbeitet wäre; er zielt bei Waldenfels vor allem auf die räumlichen Orientierungsaspekte eines Menschen und nicht, wie in dieser Arbeit, auf die Evolution des Selbst aus dem Raumerleben; vgl. Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, in: Gerhart Schröder und Helga Breuninger (Hg.): Kulturtheorien der Gegenwart, Ansätze und Positionen, Frankfurt a.M. 2001, S. 191. 5 | Der Begriff ›Phänomenologie‹ im Sinne einer streng wissenschaftlichen Methode geht auf ihren ›Begründer‹ Edmund Husserl zurück, vorbereitet durch dessen Lehrer Franz Brentano (der Begriff selbst ist jedoch älter – siehe Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, 1807); seit einiger Zeit jedoch findet er auch in US-amerikanisch und analytisch geprägten Philosophien weite Verbreitung, allerdings in vereinfachter, weniger technischer Bedeutung – im Sinne von ›Alltagsperspektive‹ oder Beschreibung der ›subjektiven Erfahrung‹ und des ›subjektiven Erlebens‹. Die Phänomenologie der Schmerzen betrifft dann die Frage, wie es sich

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Selbst und Raum

An dieses weite Feld gliedert sich meine Arbeit an. Allerdings läßt sich aus den genannten Darstellungen nicht meine These ableiten, daß das phänomenale Selbsterleben buchstäblich aus dem Raumerleben geboren wird; respektive: daß Raum und Selbst im phänomenalen Erleben und in einem bestimmten repräsentationalistischen Sinne identisch sind. Neben Sloterdijks Sphärologie ist Otto Friedrich Bollnows phänomenologisch herausragende und reichhaltige Studie ›Mensch und Raum‹6 eine weitere prominente Darstellung, welche Raum und Selbst auf eine mit meinem Ansatz verwandte Weise analytisch engführt und geradezu wie siamesische Zwillinge ›aneinandernabelt‹. Auf diese werde ich mich im folgenden maßgeblich beziehen. für mich anfühlt, zum Beispiel Zahnschmerzen zu haben, betrifft meine Zahnschmerzen aus der Erste-Person-Perspektive. Phänomenologie im orthodox-husserlschen Sinn hingegen meint zunächst den Versuch, die Bewußtseinserfahrung ohne Rückgriff auf Theorien oder wissenschaftliche Annahmen darzustellen (Epoché) bzw. während der Bewußtseinserfahrung die Welt auszuklammern (eidetische Reduktion) und sich so auf die ›Wesenserscheinung‹ des Gegenstandes selbst zu konzentrieren. Zu beachten ist, daß es aus dieser Perspektive den ›Gegenstand an sich‹ nicht gibt, auch nicht das ›Subjekt an sich‹ (beide wären nur Abstraktionen); sondern lediglich den Gegenstand (das Phänomen) für das Subjekt – zum Beispiel der alte Schreibtisch in meinem Zimmer, den ich unter bestimmten Aspekten wahrnehme, etwa perspektivisch (ich kann ihn nicht gleichzeitig von allen Seiten sehen und betrachten) oder historisch-biographisch (meine Urgroßmutter schrieb an ihm sitzend einen Dankesbrief an Präsident Lincoln, ich schrieb an ihm ein Sonett über den Gettysburger Urgroßvater) etc. Wissenschaftshistorisch bedeutsam ist der phänomenologische Ansatz, weil er das Konzept der ›Trennung von Bewußtsein und Außenwelt‹ als falsch zurückweist: Das Bewußtsein ist nicht als eine von den Gegenständen getrennte Sphäre zu verstehen, in der die Vorstellungen gleich einer inneren Welt enthalten wären, sondern vielmehr stets als ein Bewußtsein von etwas – was bedeutet, daß ich damit immer schon ›bei den Sachen‹ bin. Der Mensch steht nicht der Welt gegenüber (Subjekt-Objekt-Dichotomie), sondern ist eingebettet in die Welt – leiblich, sozial, epochal, kulturell (wobei das Eingebettetsein nicht an die Horizontale geknüpft ist). Der Schlachtruf der Phänomenologen ›Zu den Sachen selbst!‹ bedeutet demnach, Eulen nach Athen zu tragen, denn wenn Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas ist und es die Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht gibt, dann sind die Menschen immer schon bei den Sachen – sie müssen nicht erst zu ihnen hin. Diese Pointe des phänomenologischen Ansatzes sollte man nicht vergessen. Was den von mir verwendeten Phänomenbegriff betrifft, so ist anzufügen, daß damit nicht nur Phänomene für jemanden zu einer bestimmten Zeit gemeint sind, sondern daß an ihrer erlebten Erscheinungsweise auch nicht zu zweifeln ist, sie folglich einen zunächst alltagsperspektivischen Sinn haben: ›Phänomen‹ ist das, was mir jetzt unzweifelhaft so und so erscheint – etwa die untergehende Sonne am Horizont. Damit stimmt mein Phänomenbegriff weitgehend mit dem der Neuen Phänomenologie überein, die ihn wie folgt definiert: »Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, daß es sich um eine Tatsache handelt.« (Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg und München 2009, S. 12.) – Den Begriff ›Phänomenologie‹ verwende ich im übrigen je nach Zusammenhang im ›einfachen‹ amerikanisch-analytischen oder im strengen brentano-husserlschen Sinn. 6 | Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O.

Einleitung

Allgemeine begriffshistorische wie begriffsmethodologische Anmerkung »Klarheit hinsichtlich der einschlägigen Begriffe und Kategorien ist unabdingbar« – an diese so schlichte wie tiefgründige wissenschaftsmethodische Maxime erinnerten jüngst der Neurowissenschaftler Maxwell Bennett und der Philosoph Peter Hacker 7. Abgrenzung der Begriffe voneinander ist in der Tat in jeder Wissenschaft 7 | Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker, John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie. Gehirn, Geist und Sprache, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Berlin 2010, S. 15. (Siehe auch ihre ausführlicheren Diskussionen in: Maxwell Bennett und Peter Hacker: Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, aus dem Englischen von Axel Walter, mit einem Vorwort von Annemarie Gethmann-Siefert, Darmstadt 22012.) Mit Bennets und Hackers Klarstellungen gehe ich weitgehend d’accord, wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Wie Bennett und Hacker zeiht auch Thomas Fuchs etliche Neurowissenschaftler – etwa Wolf Singer, Gerhard Roth, Michael Gazzaniga, Francis Crick etc. – eines mereologischen Fehlschlusses: sie übertragen Zuschreibungen für Personen auf das Gehirn etc.: »Nicht Neuronenverbände, nicht Gehirne, sondern nur Personen fühlen, denken, nehmen wahr und handeln.« (T. F.: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 22009, S. 283.) Allgemeiner formuliert, besteht der mereologische Fehlschluß, in den Worten von Thomas Fuchs, darin: »Einem Teil des Organismus, dem Gehirn, werden […] psychologische und personale Tätigkeiten zugeschrieben, die nur dem Menschen als ganzem zukommen.« (Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 66) Fuchs formuliert gegenüber der Neurowissenschaft – als dem paradoxen Zwilling des subjektiven Idealismus – auch den Vorwurf des Dualismus: »Im Innenraum des Bewußtseins empfängt das Subjekt, der einsame Gefangene seines eigenen Palastes, die Bilder von der unerreichbaren Außenwelt. Nur sind diese Bilder nicht mehr Konstrukte der Kantischen Verstandesvermögen, sondern der zugrundeliegenden Hirnprozesse.« (a.a.O., S. 30) Was die Neurowissenschaften insgesamt somit liefern, sei »begrifflicher Un-sinn« (a.a.O., S. 67). Zu bedenken wäre hier die prinzipielle Sprach- und Begriffsschwierigkeit in der Transitzone zwischen Neurowissenschaften und Philosophie. Die Schwierigkeit besteht etwa in der Frage, wie man ›Vorgänge‹ des Körpers, im speziellen auch des Gehirns, sprachlich und gedanklich in den Griff bekommt, ohne daß einem der Vorwurf gemacht werden kann, man verwechsele die Kategorien. Um es anhand der fragwürdigen Wendung ›das Gehirn entscheidet‹ zu sagen: Natürlich ›entscheidet‹ das Gehirn nicht in dem Sinne, wie ein Feldherr sich aufgrund bestimmter Erwägungen für den Rückzug der Truppen entscheidet oder wie ich mich aus bestimmten Gründen für den Kauf eines Elektroautos entscheide. Obwohl das so ist, lohnt sich hier doch die Erinnerung an etwas selbstverständliches, nämlich daran, daß das Gehirn einen eminent wichtigen organischen Teil von mir als einem organischen Ganzen und von mir als einem kognitiven Lebewesen bildet und ›ich selbst‹ ohne es nicht ›da‹ wäre. So sollte unstrittig sein, daß jede Entscheidung auf der personalen Ebene mit bestimmten Gehirnprozessen einhergeht. Anders gesagt: Entscheide ich mich auf der personalen Ebene, so entsprechen meiner Entscheidung auf der subpersonalen oder zerebralen Ebene bestimmte Gehirnprozesse. Daß folglich die Redeweise ›das Gehirn entscheidet‹ in bestimmten Grenzen womöglich doch zulässig sein könnte, scheint auch durch folgende Überlegung gestützt zu werden: So würden sicher viele Beobachter der Tatsache zustimmen, daß Menschen oftmals Dinge tun,

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Selbst und Raum

die entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung von Thesen – an erster Stelle in der Philosophie, die seit jeher die Metareflexion des Wissens und damit auch der Wissenschaften zu ihrer ureigensten Bestimmung zählt. Doch ist es offensichtlich trotz dieser Selbstverständlichkeit eine zugleich machtvolle und verborgene Gewohnheit in der wissenschaftlichen Praxis geworden, daß begriffliche Mißverständnisse zu Problemen führen und so erst neue Forschungsgegenstände produzieren – was die Rede von den ›produktiven Mißverständnissen‹ miterklärt. Nichtsdestotrotz halte ich es für sinnvoll, die Mahnung von Bennett und Hacker zu beherzigen und Mißverständnissen vorzubeugen, indem ich bereits in dieser Einleitung – zwar vorläufige, aber verbindliche – Hinweise zum Verständnis der These und der für die Arbeit zentralen Begriffe ›Innenraum‹ und ›phänomenales Selbst‹ gebe.

Innenraum Unter einem Innenraum begreife ich auf der phänomenologischen Beschreibungsebene zunächst einen buchstäblichen Innenraum wie das Schlafzimmer, die Küche, die Bibliothek, den Fahrgastraum eines Autos usw.; hiervon ausgehend dann

von denen niemand behaupten kann, sie seien das Resultat einer abgewogenen, bewußten Entscheidung. Das zeigt sich oftmals schon im alltäglichen Leben, erst recht jedoch in Extremsituationen: etwa bei meinem unbewußt ›initiierten‹ Versuch, dem von einem Polizisten abgefeuerten, auf mich zufliegenden Gummigeschoß auszuweichen oder in einer plötzlichen Gefahrensituation auf der Autobahn einen Unfall zu vermeiden. Offensichtlich passiert dabei im Gehirn und anderswo im Körper irgendetwas, das als ›Reflex‹ nur unzureichend beschrieben wäre: Habe ich nicht (mehr oder weniger unbewußt) das Gummigeschoß wahrgenommen? Und ›beschließe‹ ich nicht (mehr oder weniger unbewußt), meine aktuelle Position so zu verändern, daß ich davon nicht getroffen werde? Dieser Tatsache eingedenk und auch in Erinnerung des im Absatz zuvor Gesagten, scheint es also nicht ganz unvernünftig zu sein (sofern man den von Fuchs monierten Dualismus zwischen ›Ich‹ und ›mein Gehirn‹ umgehen will), in bestimmten Beschreibungssituationen psychologisch-propositionale Verben auf zerebrale und körperliche Vorgänge anzuwenden – also zu schreiben: das Gehirn ›entscheidet‹ etc. Im übrigen sei daran erinnert, daß Aristoteles auf die uneigentliche Redeweise von einer »Seele« hinweist, die »sich betrübe oder freue, Mut und Furcht habe«; doch seien Affekte wie Lieben oder Hassen genau genommen nicht Affekte der Seele, sondern Affekte des Menschen, der sie habe (siehe Aristoteles: Über die Seele, in: Aristoteles: Philosophische Schriften, Band 6, nach der Übersetzung von Willy Theiler bearbeitet von Horst Seidl, Hamburg 1995, Buch I, Kapitel 4, S. 408b [S. 18f.]). Eine sachlich auf zwei Buchseiten zusammengefaßte Aufklärung über »Denkfallen« der Leib-Seele-Debatte bietet darüberhinaus Michael Pauen: Mein Gehirn und ich. Vorsicht vor Denkfallen der Leib-Seele-Debatte, in: Carsten Könneker (Hg.): Wer erklärt den Menschen?, Frankfurt a.M. 22007, S. 186. Pauen listet dort fünf mögliche Irrtümer und Fehler auf. – Zum Kategorienfehler siehe auch Peter Bieris Debattenbeitrag im Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹: Unser Wille ist frei, in: Der Spiegel, Nummer 2, 10. Januar 2005, S. 124f.

Einleitung

im weiteren einen metaphorischen Innenraum, wie die Familie8, das Orchester, die Richard-Wagner-Gesellschaft, den Fanblock im Stadion, die internationale Sphäre der Frankophonie etc.9 Weil das Erleben des Innen-Seins aus einer anthropologisch-biologischen Perspektive jedoch auf das Erleben angenehmer Gefühle im weitesten Sinn zurückführbar ist (ich komme darauf im III. Hauptteil zurück), muß aus dieser Perspektive letztlich das Erleben angenehmer oder unangenehmer Gefühle das entscheidende Kriterium dafür sein, daß ein Mensch sich unbewußt oder bewußt als innen seiend oder als außen seiend empfindet. In der Küche, deren unaufgeräumter Zustand mich abstößt, oder in der zerstrittenen Familie bin ich lediglich aus der Außenperspektive sowie aus meiner naiv-realistischen Innenperspektive tatsächlich ›innen‹; hingegen bin ich aus der Perspektive des subjektiven Empfindens jeweils praktisch ›außen‹. Dieses subjektive Empfinden bleibt in der Regel zunächst unreflektiert und unbewußt, also im Schatten meiner gerichteten Aufmerksamkeit – das heißt ich denke zunächst nicht ausdrücklich darüber nach, daß der Zustand der Küche mich abstößt, sondern: der Anblick der Küche stößt mich schlicht ab.

Intaktheit und Öffnungen des Innenraums Intakt ist der Innenraum dabei nur dann, wenn ich mich in ihm halbwegs wohlfühle, wenn ich mit einer gewissen Lust und freiwillig in der Küche weile und zufrieden oder mit einer erkennbaren Lebensfreude in der Familie mein Leben führe. Die Vagheit der bewußt verwendeten Adverbien bzw. Adjektive wie ›halbwegs‹ oder ›gewiß‹ ist der Vagheit und Ambiguität des ›Gegenstands‹ (der Gefühle und Empfindungen) geschuldet. Es ist nicht bei jedem erlebten Raum in vollem Umfang stets klar, was man ihm gegenüber oder in ihm empfindet, es ist auch nicht immer leicht zu sagen, wie man sich selbst gerade fühlt. Jedenfalls ist der angenehm erlebte Innenraum zwar rundum geschlossen und grenzt sich damit vom Außenraum ab, doch ist er weder von außen noch von innen verriegelt oder wider Willen abgesperrt. Jeder intakte Innenraum hat demnach membranhafte Öffnungen, mit deren Hilfe ich10 in umfänglichen geistig sinnlichen Austausch mit der Außenwelt treten 8 | Vgl. hierzu Albrecht Koschorke: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz 2010. 9 | Gemäß Alexander Gosztonyi und seinem indispensablen Standardwerk ›Der Raum‹ lassen sich üblicherweise drei große Problembereiche zur Untersuchung des Raums festmachen: 1. der philosophische Bereich (inklusive Phänomenologie und Sinnespsychologie), 2. der geometrische Bereich und 3. der mathematisch-physikalische Bereich; siehe A. G.: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, 2 Bände, Freiburg und München 1976, S. 35. In dieser Untersuchung konzentriere ich mich vor allem auf den ersten Bereich, wobei je nach Fall auch Elemente der beiden anderen Bereiche für den ersten bedeutsam sein können. 10 | Das in dieser Arbeit verwendete Personalpronomen der 1. Person Singular steht entweder für den Verfasser (im Sinne eines reflexiven Demonstrativpronomens) oder es wird im Sinne eines allgemeinen abstrahierten Beispiel-Ichs verwendet, wobei der eine oder andere Gebrauch aus dem jeweiligen Zusammenhang hervorgeht. In diesem Fall handelt es sich um das Beispiel-Ich.

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sowie in sonstige Berührung mit dieser gelangen kann.11 Dank dieser Öffnungen und Gassen in jeder Form kann ich den Innenraum zeitweilig verlassen, um Besorgungen jeder Art zu machen oder die für mein Leben und weiteres Streben und Weben notwendigen Medien im weitesten Sinne – Lebensmittel, Bücher, Menschen etc. – zu beschaffen respektive nachhause einzuladen. Ich kann den aktuellen Innenraum selbstverständlich auch für immer verlassen, um im Außenraum einen neuen Innenraum aufzubauen und einzurichten. Hätte mein Innenraum weder Öffnungen noch Schnittstellen für den Austausch mit der Außenwelt, wäre er auch dem subjektiven Gefühl nach nichts anderes als ein Kerker.

Phänomenales Selbst Um es zunächst abstrakt-allgemein zu sagen: Unter einem phänomenalen Selbst verstehe ich bestimmte Gefühle in bezug auf die eigene existentielle Situation. Der Begriff des phänomenalen Selbst bezieht sich dabei lediglich auf einen bestimmten, funktional wichtigen Aspekt aller selbstbezüglichen Prozesse bei Menschen; zu diesen Prozessen zählen maßgeblich unbewußte, organische Körperprozesse, inklusive Gehirnprozesse. Neurowissenschaftlich beschrieben beruht das phänomenale Selbst eines Menschen demnach auf bestimmten dynamischen, sich ständig verändernden und bewerteten Situationswahrnehmungs- und Lageanpassungsprozessen – Prozessen, die der Mensch auf der phänomenalen Ebene jedoch nicht als Prozesse wahrnimmt, sondern einfach als ›sich selbst‹, und zwar in Form eines – vereinfacht gesagt – wie auch immer vielschichtigen Wohlgefühls, eines Gefühls der gleichgültigen Mittellage oder eines Gefühls unangenehmer Empfindungen – oder gar einer schwer auseinanderzuhaltenden Melange aus unangenehmen und angenehmen Gefühlen gleichzeitig.12 Das Adjektiv ›phänomenal‹ bezieht sich dabei im Zusammenhang mit dem Begriff Selbst (›phänomenales Selbst‹) einfach auf den wahrgenommenen, zunächst nicht ausdrücklich reflektierten Innenraum, in dem sich ein Mensch befindet und den er erlebt, und es bezieht sich im Zusammenhang mit dem Begriff Bewußtsein (›phänomenales Bewußtsein‹) schlicht auf die Welt, wie sie ihm in seiner naivrealistischen Erste-Person-Perspektive erscheint. ›Naiv-realistisch‹ bezeichnet hier die nichtwissenschaftliche, alltägliche Art und Weise, die Welt zu sehen; die Bezeichnung impliziert keinerlei moralisch oder epistemologisch qualifizierende Bewertung dieser Sichtweise. Beispiele für diese Sichtweise wären: »Die glutrote Sonne versinkt im Meer«, »ich bewundere das zitternde Blinken der Sterne am Nachthimmel«, »der aufragende Baum im Park trägt kupferrote Blätter« etc.13 Wenn ich träume oder wach bin, dann erscheint mir die Welt – das heißt, die Welt ist einfach da, ohne daß ich mir darüber zunächst groß Gedanken machen müßte. Wobei ich mir prinzipiell nicht vorstellen kann, sollte ich mir das vorzustel11 | Terrassen und Gärten werden als angenehme Innenräume erlebt, obwohl sie nicht unbedingt rundum geschlossen sind, also oft mehr als membranhafte Öffnungen zur Außenwelt haben; sie sind jedoch in der Regel Teil eines eingehegten Raumensembles. 12 | Vgl. Heideggers Begriff der ›Stimmung‹. 13 | Thomas Fuchs spricht statt von ›naivem Realismus‹ von »lebensweltlichem Realismus«, siehe T. F.: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 179.

Einleitung

len versuchen, wie es wäre, wenn die Welt nicht da wäre. Im traumlosen Tiefschlaf, dieser Black Box des Bewußtseins, in dem die Welt und ich phänomenal nicht da sind, weiß ich schließlich nicht, daß die Welt und ich nicht da sind – kann es eben nicht wissen, da der bewußt-wache Zustand des Etwas-wissen-könnens nicht gegeben ist.14 (Die kognitions- und neurowissenschaftlich wie auch phänomenologisch und existentiell durchaus wichtigen Unterschiede zwischen Traumbewußtsein und Wachbewußtsein spielen an dieser Stelle keine Rolle – im Traum sind oft andere Welten da – ›Traumwelten‹; hier kommt es allein darauf an, daß sowohl im Traumwie im Wachzustand die Welt oder eine Welt da ist.) Mitbestimmend in diesem Erscheinungsprozeß ist die Intentionalität, die stetige für mich selbst phänomenal erlebbare Bezogenheit auf die Gegenstände der Welt. Anders gesagt: die Gegenstände der Welt erscheinen im Normalfall nicht beziehungslos, sondern sie erscheinen mir.15 Es ist immer ein erlebendes Ich, das die Welt sieht, sie wahrnimmt, dem sie so und so erscheint, in gleichzeitiger umfassender Einheitlichkeit und besonderer innerweltlicher Raumvielschichtigkeit. Daraus folgt, daß das phänomenale Selbst – in einer außenperspektivischen Beschreibung – immer jenem Bereich des phänomenalen Bewußtseins zugeordnet werden kann, dem die Welt erscheint, in die es zugleich auf abgegrenzte Weise eingebettet ist. Wenn ich mich also naiv-realistisch gesehen immer schon von der Welt abgrenze, sind ›wir‹ (die Welt und ich) außenperspektivisch-repräsentationalistisch betrachtet doch Teil eines einheitlichen, wenn auch in sich differenzierten Bewußtseinsraums des Menschen. Entsprechend der naiv-realistischen Alltagsperspektive bezieht sich die IchSphäre lediglich auf jeden konkreten Menschen, der seine eigene körperliche Oberfläche zu einem großen Teil sehen, anfassen, ertasten, riechen, hören, erspüren und fühlen kann; dieser Mensch könnte mit dem Schriftsteller Hermann Lenz zu sich sagen: »Vor deiner Haut beginnt die Fremde.«16 Diese naiv-realistische Sicht 14 | Inwiefern Komapatienten sich und die Welt zum Teil phänomenal erleben, ist eine umstrittene Frage. Bei jenem Phänomen, das man Schwarz-vor-Augen-werden nennt, erlebt man dieses Schwarz-vor-Augen-werden gerade noch; was aber danach geschieht, bleibt für einen selbst im dunkeln. 15 | Zum Begriff der Intentionalität siehe unten den ausführlichen Hinweis in der Prämisse Phänomenales Bewußtsein (und Intentionalität). 16 | In Hermann Lenz’ Roman ›Die Augen eines Dieners‹ spricht der Diener Anton Wasik im Gespräch mit sich selbst die Worte: »Vor deiner Haut beginnt die Fremde. Du hast nur ein Haus in dir selbst; und alles andere verändert sich«; und wenig später: »Der Mensch hatte nur ein Zuhause, und das war sein Leib […]«, in: H. L.: Die Augen eines Dieners, Frankfurt a.M. 1997, S. 115. – Mit dem fiktiven Diener, der frei nur im inneren Haus ist, geht der reale Industrielle Walter Rathenau nicht d’accord, wenn er trotzig, fast aus der Haut fahrend, konstatiert: »Daß die Grenzen meines Ich ist die Haut [sic!, M.M.] – gemeinster aller Gedanken.« (Walter Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes. Aphorismen aus seinen Notizbüchern, hg. von Karl G. Walther, Wiesbaden 1953, S. 60, zitiert nach: Deutsche Aphorismen, hg. von Friedemann Spicker, Ditzingen 2012, S. 117.) Ohne auf die nicht zu überschätzende Rolle der Haut in biologischer und kultureller Hinsicht eingehen zu können, eine Wichtigkeit, die sich in kultur- und ›rassen‹politischer Hinsicht zum Beispiel an der weltweit nach wie vor virulenten Frage nach der ›Hautfarbe‹ zeigt, sei hier

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auf sich selbst und die eigenen Körpergrenzen ist in ihrem Rahmen eine Alltags­ evidenz. Jenseits dieser Alltagsevidenz versuche ich im Zuge meiner Ausführungen zu zeigen, daß sich der Blick auf die Ich-Sphäre verändert, wenn man ihn um neurowissenschaftlich informierte, repräsentationalistische und phänomenologisch wie sphärologisch inspirierte Perspektiven erweitert – und zwar dahingehend, daß die Ich-Sphäre sich als Raum-Sphäre offenbart. Das Resultat dieser Perspektivenerweiterung wird also das Verständnis der Aussage befördern, daß das Ich bzw. das phänomenale Selbst in seinem tatsächlichen Erleben abhängig ist bzw. überhaupt erst hervorgerufen wird vom Erleben von Innenräumen. Das heißt, anders gesagt, daß ich nicht auf den konkreten Menschen reduziert werden kann, der in einem naiv-realistischen Sinn von seiner Haut begrenzt wird und an ihrer Oberfläche augenscheinlich aufhört zu existieren – eine triviale Alltagsevidenz –, sondern daß ich darüberhinaus aus einer neurowissenschaftlich-repräsentationalistischen und phänomenologischen Perspektive auch der erlebte Innenraum bin, daß also die Haut, die ich als mich umschließende erlebe, nicht deckungsgleich mit der Körperhaut sein muß, sondern etwa von den Zimmergrenzen gebildet werden kann. Der phänomenal erlebte Innenraum – so meine These – ist es, der mich als erlebendes Selbst hervorbringt. Am Anfang war der Raum, den ich erlebe und der ich bin. Anders gesagt: Weil ich einen mich auf angenehme Weise umschließenden, intakten Raum erlebe, bin ich überhaupt erst da.

K urze R echtfertigung des V orhabens Zur Rechtfertigung, die Begriffe Raum und Selbst in ihrem Zusammenklang zu untersuchen, sind existentielle, wissenschaftshistorische und allgemein philosophische Gründe vorzubringen.

nur noch ein phänomenologisches Beispiel für den Einfluß der Bewertung der eigenen Haut auf die Selbsteinschätzung angeführt. Der Schriftsteller John Updike, unter Psoriasis – einer Form der Schuppenflechte – leidend, berichtet in eindrücklichen Passagen seiner Erinnerungen, wie sehr sein Ich vom Zustand seiner Haut in Mitleidenschaft gezogen wird: »Man haßt seine anomale, von Ausschlag blühende Haut […]. Nur die Natur kann Psoriasis vergeben; der Leidende in seiner Selbstverachtung billigt anderen Menschen diese Macht nicht zu.« (S. 65) »Ich war immer in Gefahr zu vergessen, daß ich das Opfer meiner Haut war, nicht ihr Verursacher […] und ich gab mir Mühe, mich nicht zu krümmen vor Scham.« (S. 91) (Siehe John Updike: Selbst-Bewußtsein. Erinnerungen, aus dem Englischen von Maria Carlsson, Reinbek bei Hamburg 22002.) (Original: Self-Consciousness. Memoirs, New York 1989.) Zur Geschichte der Unterwäsche als zweiter Haut siehe etwa Monika Burri: Bodywear. Geschichte der Trikotkleidung 1850-2000, Zürich 2012. Erinnere auch neutestamentliche und gnostische Schriften, in denen ›Selbst‹ und ›Gewand‹ semantisch gleichbedeutend gebraucht werden.

Einleitung

Erstens: Der phänomenologisch beschreibbare Grund: Die existentielle Dimension von Selbst und Raum Der phänomenologisch beschreibbare Grund für den Versuch, Raum und Selbst, neben ihrer phänomenologischen Differenz, als phänomenal unzertrennliches Erlebenspaar vorzustellen, enthüllt sich zuerst in der offensichtlichen existentiellen Dimension, die sich jedem Menschen durch das ganz alltägliche Erleben eines Raums und durch das Erleben von Raumwechseln wie von selbst eröffnet. So gilt es etwa als ein verallgemeinerbarer Befund, daß Menschen sich in dumpfen, moderig düsteren Kellern entschieden weniger gut fühlen als in einer großzügigen, frisch gelüfteten Jugendstilwohnung mit Aussicht auf einen parkartigen Garten mit alten Bäumen. Die nächstliegenden Gründe dafür wären: mehr Platz, mehr Sicherheit, mehr Licht, reinere Luft in der Jugendstilwohnung – Konstellationen, welche für das Wohlergehen und damit für das Leben, folglich auch für das Überleben, ohne jeden Zweifel von Nutzen sind. In der hellen Wohnung fällt es mir leichter, einen intakten Innenraum zu erleben, als im »Kellerloch« (Fjodor Dostojewski17), und so ist das Selbsterleben in der lichten Wohnung insgesamt wohnlicher, angenehmer und den existentiellen Bedürfnissen von sich aus entgegenkommender als im Keller. Aber auch diesseits einer solch drastischen Gegenüberstellung zweier sich stark voneinander unterscheidenden Wohnräumlichkeiten offenbaren sich dem Menschen die unterschiedlichen Formen des Innenraumerlebens, auch wenn er nicht explizit über sie reflektiert oder ihm das eigene Befinden in unterschiedlichen Räumen nicht ausdrücklich zum Thema seines Nachdenkens wird. Es ist offensichtlich, daß Räume und die Art, wie sie einem Menschen aufleuchten, bestimmenden Eindruck auf ihn machen und ihn in eine bestimmte Form bringen. Ob die Türe im Luftzug immer wieder nervtötend schlägt, durch die geöffneten Fenster der Sommerwind weht, ob Passanten am Fenster vorübergehen und nebenbei in die Wohnung hereinschauen, all das beeinflußt jeweils das Wohnerleben auf maßgebliche Weise. Es handelt sich daher bei der Bewertung von Wohn- und Aufenthaltsräumlichkeiten mitnichten nur um eine ästhetische Frage, vielmehr hat sie auch und zuvor eine existentielle, die Gesundheit und das eigene Überleben betreffende Dimension; wobei das Ästhetische letztlich auch als ein Teil der existentiellen Dimension zu interpretieren ist – wo es schön ist, ist es oft auch wahrhaft gut. Das heißt, die Art, wie ich eine Wohnung erlebe, teilt mir implizit etwas über meinen existentiellen Zustand mit. Willst du wissen, wie es dir geht, frag deine Wohnung. Aber auch, wenn Menschen übertragene Innenräume wahrnehmen, sie mit ihren Liebsten oder ihren Freunden zusammen sind, oder mit unfreundlichen Kollegen zusammenarbeiten müssen, im ausverkauften Stadion in der wogenden Menschenmenge sich verlieren – dann handelt es sich hier jeweils um unterschiedlichste Formen des mehr oder weniger bewußten Selbsttunings. Dabei eröffnet sich früher oder später auch die Dimension des Raumwechsels. Fragen, die sich dabei stellen, sind zum Beispiel: Was geschieht mit mir, wenn ich von einem Raum in den anderen hinüberwechsle? Wie fühle ich mich, wenn ich 17 | Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Stuttgart 1986.

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die Haustüre hinter mir zuziehe und die Straße betrete? Was empfinde ich, wenn ich eine Kunstgalerie besuche, eine Römische Trattoria, ein gutes elsässisches Restaurant? Wieso fühle ich mich beim Gehen in bestimmten Straßen oder in bestimmten Stadtvierteln animiert, in anderen hingegen schlaff, in wieder anderen unwohl? Welche Empfindungen spüre ich beim Betreten einer modernen, in unverputztem Beton aufgeführten Kirche, beim Betreten des Berliner oder des Kölner Doms, und welche beim Abstieg in die Kapuzinergruft in Wien? Dieselben Fragen stellen sich wieder in bezug auf übertragene wie auch fiktive Räume, etwa eine aufgrund eines Krieges auseinanderbrechende Clique, eine neue Schulklasse, eine mir unvertraute Reisegruppe, eine zwischen den Gleisanlagen gelegene Schrebergartenkolonie von Eisenbahnern, ein im Grünen gelegenes Villenviertel draußen am See, oder etwa die Raumwelten eines Romans, die Sphäre einer ›Nation‹ etc. Auch in Gaston Bachelards animierter ›Poetik des Raumes‹ (ich gehe unten auf sie ein) findet sich ein reizvolles, der Dichtung entnommenes Beispiel für das Erlebnis des Raumwechsels und dessen bestimmenden Einfluß auf das Selbsterleben. Auf den Dichter Philippe Diolé und dessen Werk ›Le plus beau désert du monde!‹ eingehend, kann Bachelard das folgende protokollieren: »Und am Schluß seines Buches kommt Diolé zu der Folgerung: ›Ins Wasser hinabtauchen oder durch die Wüste wandern, heißt den Raum wechseln‹, und indem man den Raum wechselt, indem man den Raum der gewohnten Empfindungen verläßt, tritt man in Verbindung mit einem seelisch erneuernden Raum. ›In der Wüste ebensowenig wie in der Meerestiefe vermag man sich eine kleine, plombierte, unteilbare Seele zu bewahren.‹ Dieser konkrete Wechsel des Raumes kann keine bloße Operation des Geistes mehr sein, wie sie etwa das Bewußtmachen der Relativität der Geometrie wäre. Man wechselt nicht nur die Stelle, man wechselt die Natur.«18

Was in diesen Worten mit zur Aussage kommt, ist die phänomenologisch beschreibbare Tatsache, daß jeder Mensch beim Eintreten in einen neuen Raum sich neu orientieren, sich erst an den Raum anpassen, ihn gewissermaßen erkennen muß – eine kognitive, subkutan den ganzen Menschen fordernde Leistung, die freilich in der vertrauten Umgebung nahezu unbemerkt binnen Millisekunden, in unvertrauten Umgebungen in unterschiedlich langen Zeitphasen vollbracht wird. Diese in unterschiedlichen Graden erfolgende Neuanpassung ist letztlich nichts anderes als die während des Raumwechsels erfolgende Erneuerung des Selbst oder wie konkretisierter zu sagen wäre: des Raumselbst. Weil Menschen also in der Regel spontan, ob sie wollen oder nicht, stark auf erlebte Räume und den Raumwechsel reagieren, so ließe sich sehr verkürzt das Gegenteil hiervon, die Nichtreaktion auf Räume und die Gleichgültigkeit Raumwechseln gegenüber, als allgemeine Form der Depression umschreiben. Das heißt konkret: Lösen sich die Räume, in denen ich bin, in einer empfundenen Gleichgültigkeit ihnen gegenüber auf, verschwindet mit ihnen auch mein phänomenales Selbst, ich hänge selbstlos in den Seilen, die kein Raumgebilde mehr ergeben.19 18 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 206. 19 | Ausführlich zum Zusammenhang von Raum und Depression vgl. Hubertus Tellenbach: Die Räumlichkeit des Melancholischen. Über Veränderungen des Raumerlebens in der endogenen Melancholie, in: Der Nervenarzt, 7, 1956; sowie Peter Sloterdijk: Zwischenbemerkung:

Einleitung

Wie erwähnt debattieren bislang vor allem Phänomenologen, Sphärologen und Psychologen jene existentiellen Fragen nach dem Raumerleben des Menschen. Sie alle haben auf unterschiedliche Weise gezeigt, daß »der Mensch ein Effekt des Raums ist, den er zu erzeugen imstande war«20 und man daher über den Raum nicht sprechen darf, wenn man über den Menschen schweigen will bzw. niemand über den Menschen reden sollte, wenn er über den Raum nichts zu sagen hat. Raumtheoretiker sind Anthropologen, und Anthropologen Raumtheoretiker.

Zweitens: Eine wissenschaftshistorische Voraussetzung Eine der wissenschaftshistorischen Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit Raum und Selbst beruht zunächst auf der bloßen Existenz der in den letzten rund drei Jahrzehnten neu entfachten, bisweilen mit fast überstürzter Intensität geführten und auf noch nicht absehbare Zeit unabgeschlossen bleibenden, weiterdrängenden Debatten auf eben diesen Feldern des Raums und des Selbst. Allerdings handelt es sich bei diesen Debatten um Paralleldebatten, überwiegend je für sich geführt und sich gegenseitig kaum befruchtend. Beide jedoch gehören im weitesten Sinne in das Feld einer »Anthropologie des Nahen« oder einer »Anthropologie des Hier und Jetzt«21.

Punkt 1: Der geschichtlich-politische Anlaß (Raum) Für den Befund einer Wiederkehr des Themas ›Raum‹ in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen darf man zunächst an eine nicht unbeeindruckende Liste erinnern, die der Phänomenologe Bernhard Waldenfels erstellt hat 22 – in Soziologie, Biologie, Physik, Linguistik, Geschichtsforschung (Gedächtnisortwissenschaft), Kulturanthropologie, Ethnologie, Geographie, Geopolitik, Globalisierung (auch: Neue Medien, Internet), Kunstpraxis, Raumkunst, Architektur, Mathematik, Psychoanalyse, Philosophie: Phänomenologie der Räumlichkeit (Whitehead, Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Bachelard, Levinas, Foucault [Heterotopologie]) – in all diesen Wissenschaftsfeldern lasse sich ein neues Interesse am Thema Raum beobachten.23 Ein konkreter, von außerhalb der Akademia kommender jüngster geschichtlich-politischer Anlaß für eine in der Wissenschaft sich ereignende Raumwende, Von der Depression als Ausdehnungskrise, in: P. S.: Sphären II. Makrosphärologie: Globen, Frankfurt a.M. 1999, S. 612-616. – Beachte zudem die klugen, »kritisch neurophilosophischen« Überlegungen zur Psychologie und zur Psychoanalyse des depressiven Ichs in: Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich. Eine neurophilosophische Kriminalgeschichte, München 2009, S. 154ff. 20 | Peter Sloterdijk: Architekten machen nichts anderes als In-Theorie: Peter Sloterdijk im Gespräch mit Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert, in: P. S.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel, Hamburg 2007, S. 230-284, Zitat S. 230. 21 | Marc Augé: Nicht-Orte, aus dem Französischen von Michael Bischoff, München 22011, S. 19. 22 | Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 179. 23 | Siehe Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 181f.

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also für einen spatial turn, eine geographische Wende oder einen topographical turn24 und einer damit einhergehenden sich verdichtenden Auseinandersetzung mit dem Thema Raum innerhalb der Disziplinen waren und sind dabei jene Prozesse, die mit den Begriffen Globalisierung und Fall des Eisernen Vorhangs einerseits und Vernetzte Welt oder »telekommunikative Globalisierung« (Peter Sloterdijk) andererseits lediglich stichwortartig zu benennen und mit dem Begriff Allgemeine Raumkrise vorerst zu charakterisieren sind. Nach der über fünfhundertjährigen, von europäischen Häfen auslaufenden und auf brechenden Geschichte der nautischen und terrestrischen Erkundung, Vermessung und Eroberung der Erdkugel, samt deren schließlich aviatisch angebahnten Betrachtung und Observanz aus höheren Luftschichten und aus dem erdnahen Weltraum25, und nach dem dramatisch sämtliche Zeitzeugen überraschenden Fall des Eisernen, die Geopolitik über vierzig Jahre in zwei politische Lagerhälften teilenden und die gerade eroberte Kugel politisch wieder verengenden Vorhangs, sowie mit der telekommunikativ und multimedial erschlossenen echtzeitlichen Vernetzung der Weltzonen, ist der Blaue Planet, jenseits konkreter natürlicher oder politisch-staatlicher und ökonomischer Grenzverläufe und Vielfachräume, zu einem einzigen Weltinnen- oder eigentlich Erdinnenraum umgestaltet und ausgebuchtet worden, für den die Fragen nach den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ethnischen, religiösen und ökologischen Innenräumen zu drängenden existentiellen Fragen für das Überleben der Menschheit geworden sind.26

24 | Edward Soja verwendet den Ausdruck spatial turn in seiner Schrift ›Postmodern Geographies. The Reassertation of Space in Critical Social Theory‹, London und New York 1989, S. 16 und S. 39ff. – Jaques Lévy spricht von der geographischen Wende in seiner Schrift ›Le tournant geographique. Penser l’espace pour lire le monde‹, Paris und Berlin 1999 unter Berufung auf eine Bemerkung von Marcel Gauchet im Vorwort zum Dossier ›Nouvelles géographies‹ in: Le débat 92 (1996), S. 42. – Sigrid Weigel schreibt über den topographical turn in ihrer Schrift ›Zum ›topographical turn‹ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften‹, in: KulturPoetik 2/2, S. 151-165. (Angaben zitiert nach: Jörg Dünne und Stephan Günzel [Hg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 12f.) 25 | Laut neuen Berechnungen hat im Jahr 2012 zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Raumsonde unser Sonnensystem verlassen. NASAs ›Voyager 1‹ hat nach Angaben von Don Gurnett und dem Plasmawellenforschungsteam an der Universität Iowa den interstellaren Raum erreicht. Die Sonde schwebt seit fünfunddreißig Jahren mit sechzigtausend Stundenkilometern durch das All und ist mittlerweile knapp neunzehn Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt. (Quelle: ›NASA Science‹, Ausgabe vom 12. September 2013.) 26 | Peter Sloterdijk beschreibt im zweiten Band seiner ›Sphären‹-Trilogie drei Formen der Globalisierung. Für die griechische Antike und die vormodernen Imperien werde die Welt und der Kosmos durch die Gestalt der Kugel repräsentiert (erste, metaphysische Globalisierung). In der Neuzeit stelle die von Europa ausgehende Eroberung der Erde die zweite, terrestrische bzw. nautische Globalisierung dar. Die dritte, aktuelle Globalisierung erfolge durch die Virtualisierung aller Verhältnisse. Gerade diese Virtualität führe zu einer allgemeinen Raumkrise. P. S.: Sphären II, a.a.O.

Einleitung

Entscheidend dabei ist: »Es gibt kein Draußen mehr. Die Welt schließt sich. Die Erdeinheit ist da.« (Karl Jaspers27) Die Überlebensfähigkeit der Menschheit in dem von politischen wie klimatischen Krisen und Kriegen in Mitleidenschaft gezogenen wirklichen und virtuellen Innenraum des »Raumschiffs Erde« (Buckminster Fuller) wird sich also darin zeigen, inwiefern sie diese Fragen nach der Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit der einzelnen Räume auf diesem »Raumschiff ohne Notausgang«28 zureichend schnell und sinnvoll beantworten kann.

Punkt 2: Philosophiegeschichtliche Anlässe (Selbst) Ein wenigstens indirekter philosophiegeschichtlicher Anlaß für die intensivierte Hinwendung zum Thema ›Selbst‹ zeigt sich unter anderem in den Bestrebungen einer Revision der klassischen Metaphysik und der mit ihr verbundenen einwertigen Ontologie (Sein ist, Nicht-Sein ist nicht) und zweiwertigen Logik (Wahres ist nicht falsch, Falsches ist nicht wahr, tertium non datur), wie sie maßgeblich Gotthard Günther stimulierte29; damit besteht die Möglichkeit, Ausformungen des »objektiven Geistes« (Hegel), also Phänomene wie Zeichen, Kunstwerke, Maschinen, Sitten, Bücher usw., ontologisch angemessen zu beschreiben – nämlich als Information. Müßte man eine ontologische Ausgangslage benennen, so fände sie in der Aussage ›Es gibt Information‹ eine mögliche Formulierung.30 (Unabhän27 | Karl Jaspers: Weltgeschichte der Philosophie. Einleitung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hans Saner, München 1982, S. 72. 28 | Zum Raumschiff Erde vgl. Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S 491ff., sowie Peter Sloterdijk: Kopenhagener Rede (Dezember 2009), in: Paul Crutzen, Mike Davis, Michael D. Mastrandrea, Stephen H. Schneider, Peter Sloterdijk: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, aus dem Englischen von Ilse Utz, Berlin 2011. Daß daher ein »Ruf an alle« zur Veränderung auch des Lebensstils nötig sei, verdeutlicht Sloterdijk in seinen Überlegungen über die Möglichkeit eines »absoluten Imperativs«, siehe P. S.: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. 2009, S. 699-714. 29 | Gotthard Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bände I, II, III, Hamburg 1976, 1979, 1980. 30 | Vgl. hierzu ausführlicher Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie, Weimar 2001, S. 62ff. Der Satz »›es gibt Information‹« steht auf S. 64. Eine wenn auch anders gerichtete, doch ähnlich starke ontologische These formulierte Galen Strawson mit Verweis auf Parmenides, Spinoza und Nietzsche: »Es gibt ausschließlich […] eine Substanz: das Universum.« Sofern man ›Universum‹ mit ›Informationsprozesse‹ gleichsetzen würde, wären die beiden Thesen differenziert kombinierbar. (Siehe Galen Strawson: Radical Self-Awareness, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi [Hg.]: Self, No Self? Perspectives from Analytical, Phenomenological, and Indian Traditions, Oxford 2011, S. 274-307, Zitat S. 277.) Auch Donald Davidson sieht den an sich »offenkundigen« Dualismus »einer kritischen Überprüfung« ausgesetzt, und »das Ergebnis verspricht einen Umbruch im zeitgenössischen philosophischen Denken zu kennzeichnen: einen Wandel, der so tief reicht, daß wir seinen Vollzug womöglich gar nicht erkennen« (D. D.: Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Stuttgart 1993, S. 84). Und in ähnlicher Weise schreibt er: »[…] denn nach meinem Eindruck läuft der am meisten versprechende und

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gig von Kants transzendentalistischer Wende, träte die traditionelle Differenz zwischen Materialismus und Idealismus respektive Realismus und Idealismus zurück und löste sich in einer Form von aufgeklärtem Informationismus auf.) Mit dieser ontologischen Revision verlieren traditionelle Theoriefiguren wie die Subjekt-Objekt-Beziehung oder die Gegenüberstellung von Ich und Welt ihr Alleinstellungsmerkmal. Sobald man also den Gedanken an das ontologische Konzept der Information im Sinne einer Art der informierten ›Materie‹ akzeptiert, ergeben sich einschneidende Konsequenzen für das überlieferte Selbstverständnis und seine Einteilung in Subjektives (Selbst) und Objektives (Welt). Man könnte hier in einem bestimmten Verständnis von einer offenbar von etlichen teilnehmenden Beobachtern empfundenen ontologischen »Enteignung des Selbst«31 sprechen; man könnte jedoch auf diesen Vorgang auch einen positiv getönten Blick werfen und von einer Vergrößerung des Selbst sprechen – ich bin ontologisch nicht nur ich selbst, sondern auch diese Sachen, dieser Raum. Auch Karl Marx beschrieb auf arbeitsprozeßtheoretischem Feld jene Magie, die in Herstellungsvorgängen zu beobachten ist: wenn der Zimmermann einen Stuhl herstellt, so verwandelt sich ein Teil des Zimmermanns in den Stuhl; der Stuhl ist so, wie er da steht, nicht nur ein Stuhl mit seiner stuhlgemäßen Funktion, sondern er ist auch der Zimmermann, der ihn herstellte. Selbes gilt natürlich auch auf buchpolitischem Gebiet: Platons Geist oder Goethes Geist sind jeweils in ihre Bücher geflossen, der jeweilige Geist ist dort gegenwärtig für die jetzt lebenden Leser ihrer Bücher; Platon und Goethe sind als Menschen, wie alle Gestorbenen, interessanteste Wandel, der sich heute in der Philosophie abspielt, darauf hinaus, daß diese Dualismen [Subjektives – Objektives, Schema – Inhalt, Geist – Welt, M.M.] auf neue Weise in Frage gestellt oder gründlich umgestaltet werden. Es bestehen gute Aussichten, daß diese Dualismen zumindest in ihrer jetzigen Form preisgegeben werden. Die Veränderung wird gerade erst sichtbar, und ihre Konsequenzen sind auch von denen, die diese Veränderung herbeiführen, bisher kaum erkannt worden. Und natürlich wird jetzt und künftig von vielen erheblicher Widerstand dagegen geleistet. Was uns bevorsteht, ist der Blick auf das Auftauchen einer radikal umgemodelten Auffassung der Beziehung zwischen Geist und Welt.« (S. 91) Im folgenden verwende ich ›Information‹ in der Regel in einem technischen, nicht unbedingt in einem psychologischen Sinne. Das heißt etwa, daß es sich aus diesem Blickwinkel bei den Wirkungen von Magneten aufeinander, bei Elektrizität oder bei den Prozessen von Pflanzen im Zuge der Photosynthese im weitesten Sinne um Informationsprozesse handelt. Wenn auf einem alltäglichen Feld die Deutsche Bahn die am Bahnsteig wartenden Menschen über eine Verspätung informiert, so handelt es sich dabei um eine sozial kontextualisierte, anonymisiert ablaufende, wortsprachliche Unternehmensmitteilung an die entsprechenden Kunden; diese Art von Information mit entsprechend psychologischen Wirkungen bei den Wartenden basiert ursprünglich und letztlich ebenfalls auf unterschiedlichen neurobiologischen, technischen und sonstigen Informations- und Rückkoppelungsprozessen. Wenn Issac Newton Magneten noch für etwas lebendiges oder ›beseeltes‹ halten konnte, so sei ausdrücklich angemerkt, daß Informationsprozesse dieser Art in dieser Arbeit nicht als etwas lebendiges oder ›beseeltes‹ verstanden werden. Der Unterschied zwischen lebendigen und nicht lebendigen Prozessen besteht nicht zuletzt in der Frage, ob sie Teil eines lebendigen Ganzen, das heißt Teil eines selbstbezüglichen Organismus sind oder nicht. 31 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 65.

Einleitung

natürlich wirklich und vollständig gestorben; doch die Art ihres Geistes, die Kunst ihrer Gedanken kann über die Leser ihrer Bücher weiterhin Wirkung entfalten. In diesem Sinn, und nur in diesem, sind die berühmten Toten noch am Leben (was leider für die aus moralischer Sicht monströs zu nennenden Menschheitsverbrecher natürlich ebenfalls gilt). Dazu kommen weitere wissenschaftstheoretische wie wissenschaftspraktische Anlässe für die verstärkte Konfrontation mit dem Thema ›Selbst‹ – Anlässe in Form von diversen Thesen und Forschungsbefunden auf dem Feld der Neurowissenschaften. Auch hier stellt sich, und zwar trotz zum Teil primitiv-szientistisch ideologisierter ›reduktionistischer‹ Ansätze32, die wichtige Frage, inwiefern es überhaupt Sinn haben kann, von einem Selbst zu sprechen oder ob das Selbst nicht etwa nur eine Illusion sei.33 32 | Für Thomas Metzinger sind diejenigen Ansätze Teil einer »primitiven szientistischen Ideologie«, deren Vertreter zwischen Beschreibungsebenen nicht unterscheiden können und damit den mereologischen Fehlschluß ziehen, also Phänomene auf Theorien reduzieren, wo es doch nur sinnvoll sein könne, bestimmte Theorien auf andere Theorien zurückzuführen (zu reduzieren) (siehe Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewußtseinsethik, Berlin 2009, S. 35). Metzinger schreibt: »Kein seriöser Forscher und kein Philosoph will ›das Bewusstsein reduzieren‹. Allenfalls lässt sich eine Theorie darüber, wie der Inhalt des Bewusstseins entstanden ist, auf eine andere Theorie reduzieren. Unsere Theorien über die Phänomene verändern sich, aber die Phänomene bleiben gleich. Ein schöner Regenbogen bleibt auch dann ein schöner Regenbogen, wenn er mit den Begriffen einer Theorie über elektromagnetische Strahlung erklärt worden ist.« (Die Frage allerdings, ob sich die Wahrnehmung eines Phänomens nicht doch auch ändern kann, wenn man eine andere Erklärungstheorie als die übliche zugrundelegt, werde ich hier lediglich stellen und nicht weiter verfolgen.) Eine szientistisch verkürzte Form der Reduktion, wie sie Metzinger erwähnt, wäre zum Beispiel jene berühmtgewordene, von Francis Crick vorgenommene Reduktion, gemäß welcher das Selbst nichts anderes als ein Haufen Neuronen sei, siehe F. C.: The Astonishing Hypothesis. The Scientific Search for the Soul, New York 1994, S. 3: »›Your’re nothing but a pack of neurons.‹« (Deutsche Ausgabe: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, aus dem Englischen von Harvey P. Gavagai, München und Zürich 1994, wo das entsprechende Zitat auf S. 17 steht: »›Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.‹« Und kurz zuvor auf derselben Seite heißt es konkreter, ausführlicher und in dankenswerter und zur Kenntlichkeit entstellender Klarheit: »Die Erstaunliche Hypothese besagt folgendes: ›Sie‹, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen.« Auf S. 24 weist Crick geradezu kognitiv-schizophren präventiv den möglichen Vorwurf des Kategorienfehlers entschieden zurück: Kategorien sind »nichts Absolutes«, sie sind »Erfindungen, die von Menschen gemacht« werden und sich als »verfehlt« und »irreführend« erweisen können.) 33 | Insbesondere Thomas Metzinger versucht die Selbst-Illusions-These plausibel zu machen, siehe etwa T. M.: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, Mass. 2003. Das größte Problem hier ist meines Erachtens nach die Frage, wie die Begriffe Illusion, Fiktion, Virtualität zu verstehen sind und welche Ontologie ihnen zugrundeliegt. Thomas Metzin-

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Ein weiterer hiermit verknüpfter Anlaß für die Auseinandersetzung mit dem Thema ›Selbst‹ liegt auf praktischem Gebiet in den zunehmend technisch handhabbaren neuromedizinischen und neuropharmakologischen Zugriffsmöglichkeiten des Menschen auf das Gehirn und den damit gegebenenfalls einhergehenden Folgen auch für das Selbstverständnis und das Selbstbild des Menschen. Darüberhinaus stellen die in rasend alternden Gesellschaften vermehrt virulenten Krankheiten oder Erscheinungen wie Demenz, Depression oder allgemeine Hinfälligkeit neue eindringliche Fragen nach dem Selbstverständnis des alternden und älteren Menschen, nach seiner Persönlichkeit und nach seinem Selbsterleben.34 Auch im Rahmen einer Phänomenologie der gegenwärtigen Epoche lassen sich Gründe für die Auseinandersetzung mit dem Thema ›Selbst‹ und für mögliche Selbstkrisen finden – stichwortartig notiert stellt die erhöhte gesellschaftliche Mobilität in allgemeiner Hinsicht die Frage nach der eigenen Verortung: Flucht, Vertreibung, Migration, sowie berufliche Mobilität, Freizeitmobilität und soziale Mobilität etc.35 Überdies spielen die Fragen nach dem ›wirklichen‹ Selbst und der ›wirklichen‹ Identität in einer ihre Kommunikationen und Selbstpräsentationen immer stärker auf telekommunikative Plattformen und in weltweite Netzwerke sowie in virtuelle Reiche verlagernden ›Weltgesellschaft‹ eine dramatisch wachsende Rolle. Dabei erhöht der zeitgeistliche Selbstoptimierungsgedanke den Druck auf den einzelnen Menschen. Wer dabei dem Druck aus welchen Gründen auch immer nicht entsprechen kann, sieht sich womöglich mit dem Gefühl konfrontiert, ›nichts besonderes‹ zu sein – in optischer, intellektueller, sozialer oder sportlicher Hinsicht. Peter Sloterdijk hat die gefährdete Situation des Selbst in der Moderne einmal wie folgt pointiert: »Es ist klar, daß das traditionell ausgelegte personale Subjekt in diesen Vorgängen nichts mehr von dem wiederfindet, woran es gewohnt war – weder die Selbstseite, wie sie sich in den moralischen Traditionen darstellte, noch die Dingseite, wie man sie in lebensweltlicher Umgänglichkeit und szientifischer Verfremdung kannte. Deswegen scheint es dem menschlichen Subjekt, es sei mit dem Ernstfall von Antihumanismus konfrontiert: es kommt ihm vor, als tue sich in der aktuellen Biotechnik der schärfste Gegensatz auf gegen das humanistiger gibt hierzu keine ausreichenden Hinweise. Wenn man, wie ich hier, eine Informationsontologie zugrundelegte, dann stellte sich Metzingers Selbst-Illusions-These in einem anderen Licht dar (und man würde vielleicht statt von Illusion besser von Virtualität sprechen, also: von einem virtuellen Selbst). Vgl. zu der Frage auch Bettina Walde: Die Naturalisierung von Ich und Selbst, in: Franz Josef Wetz, Volker Steenblock und Joachim Siebert (Hg.): Kolleg Praktische Philosophie, Band 1: Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, Stuttgart 2008, S. 27. 34 | Zum höchst differenzierten Selbsterleben älterer Menschen siehe die instruktiven Arbeiten von Corinna Löckenhoff, etwa: Corinna E. Löckenhoff und Laura L. Carstensen: Aging, Emotion, and Health-Related Decision Strategies: Motivational Manipulations Can Reduce Age Differences, in: Psychology and Aging, (2007), 22, S. 134-146. 35 | Zum Thema der sozialen Beschleunigung in der Moderne vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.

Einleitung sche und olympische Programm, sich als menschliches Subjekt oder Geist-Person die Welt heimatlich anzueignen und ihre Äußerlichkeit ins Selbst zu integrieren. Es sieht im Gegenteil jetzt so aus, als solle das Selbst ohne Rest in die Dinglichkeit und Äußerlichkeit versenkt werden und dort verloren gehen.« 36

Zusammenfassung der Rechtfertigung des Vorhabens Der im alltäglichen Erleben kontinuierlich erfahrene, wenn auch mutmaßlich meist nicht bewußt vor Augen geführte und eigens reflektierte Einfluß, den Räume auf das je eigene Befinden und damit das Selbsterleben ausüben, die Allgemeine Raumkrise in Zeiten der Globalisierung sowie die neuen, durch Neurowissenschaften und Virtualisierungs- und Telekommunikationsdynamiken hervorgerufenen Fragen nach dem Selbst und seiner möglichen Verortung rechtfertigen den Versuch, die Frage nach dem Raum hier vor allem als eine Frage nach dem Selbst zu stellen und zu begreifen.

P r ämissen Die Prämissen hinsichtlich der wissenschaftlich-empiristischen Methode, des Bewußtseinsbegriffs (und des Intentionalitätsbegriffs), der Innen-Außen-Spannung sowie der Übertragung erläutere ich im folgenden.

Prämisse wissenschaftlich-empiristische Methode Auch wenn es selbstverständlich sein dürfte, so schicke ich stichwortartig ausdrücklich voraus, daß ich in dieser Arbeit auf der ontologischen Ebene keinerlei Leib-Seele- oder Körper-Geist- oder Gehirn-Bewußtsein- oder Materie-ImmaterieDualismus voraussetze, sondern nur davon ausgehe, daß alles, was sich über Geist, Bewußtsein, Selbst sagen läßt, sich auf eine Weise sagen lassen können muß, die im weitesten Sinne wissenschaftlich-monistischen Beschreibungen entspricht. Was freilich nicht heißt, daß mit einer solchen Beschreibung andere Beschreibungen wie etwa die phänomenologische ausgeschlossen wären – ganz im Gegenteil. (Jene Sphäre, in welcher der Begriff ›Dualismus‹ in gewisser Weise noch sinnvoll eingesetzt werden könnte, betrifft den Unterschied zwischen Außenperspektive und Innenperspektive: denn wie es ist, ich selbst zu sein, kann letztlich nur ich erleben; selbst wenn man alle ›Daten‹ über meine Körperprozesse vorliegen hätte und auch meine bewußten Gedanken kennen würde, wüßte man nicht, wie es für mich ist, ich zu sein; einzig und allein anhand und angesichts von erhobenen Daten und Befunden wüßte ich es übrigens selbst auch nicht, wie es ist, ich zu sein – ich kann mich nur erleben, die Daten sagen mir nichts. Doch halte ich die Verwendung des Begriffs ›Dualismus‹ hier für zumindest verfrüht, solange nicht ausreichend geklärt ist, was Innenperspektive [sogenannte Erste-Person-Per36 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 67. Letzteres sieht Sloterdijk jedoch lediglich als eine »hysterische Illusion« und als solche als ein »Negativ der falschen metaphysischen Grundeinteilung des Seienden«. Der Mensch werde sich wohl eher gemäß der Deleuzeschen »Lehre von den Vielheiten« begreifen lernen.

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spektive] bzw. Außenperspektive [sogenannte Dritte-Person-Perspektive] etwa in entstehungsgeschichtlich-neurowissenschaftlicher oder repräsentationalistischer Hinsicht wirklich heißt.)

Prämisse Phänomenales Bewußtsein (und Intentionalität) Eine der Voraussetzungen für den Versuch, Raum- und Selbsterleben phänomenologisch sowie kognitions- und neurowissenschaftlich auf einen gemeinsamen vielschichtigen Begriffsnenner zu bringen, ist ein zureichend geklärtes Verständnis des verwendeten Bewußtseinsbegriffs – hier somit des Begriffs des ›phänomenalen Bewußtseins‹.37 Wiederholte ausführliche Begriffserläuterungen, einflußreich für die jüngere, neurowissenschaftlich inspirierte Philosophie des Geistes, hat wie eingangs bemerkt der Mainzer Bewußtseinsphilosoph Thomas Metzinger vorgelegt, auf die ich mich hier stütze.38 Davon abgesehen lassen sich in allgemeiner Hinsicht für den Begriff des Bewußtseins wenigstens drei unterschiedliche Aspekte oder ›Zustände‹ benennen: 1. Wachheit oder Wachsein; dies korrespondiert mit dem phänomenalen Bewußtsein (in welchen Bereich auch die in Debatten der Philosophie wie der Neurowissenschaft virulenten sogenannten Qualia39 gehören). Es fühlt sich für mich 37 | Im Journal of Consciousness, das eine Ausgabe allein dem Begriff ›Bewußtsein‹ widmet, erläutert Ram Lakhan Pandey Vimal in seinem Beitrag Meanings Attributed to the Term ›Consciousness‹ vierzig (sic!) verschiedene Bedeutungen oder Aspekte (Journal of Consciousness: Defining Consciousness, hg. von Chris Nunn, Band 16, Nummer 5, Mai 2009). – Zu Hermann Schmitz’ kritischer Durchdringung des Bewußtseinsbegriffs und der Geburt des Gegenstands im Zuge der Introjektion, siehe unten den Abschnitt ›Husserl, der Leib, das Ich und der Raum sowie Positionen von Heidegger, Sartre, Schmitz‹. 38 | Sehr ausführlich in Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O. – In kürzeren Darstellungen in: Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, a.a.O., insbesondere S. 21f.; sowie in: Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 1: Phänomenales Bewußtsein, Paderborn 2006, S. 16f., S. 421-476, insbesondere S. 425-432. – Den hier verwendeten Bewußtseinsbegriff habe ich in früheren Versuchen, auf die ich zum Teil rekurriere, dargestellt, so in: Das Zimmern der Zeit. Essay über die SelbstEntstehung durch die Innen-Außen-Spannung, in: Marc Jongen (Hg.): Philosophie des Raumes. Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie (2008), München 22010, S. 35-58; in: Rooming Self. Draft of a Theory of Inside-Outside-Stress, unveröffentlichtes Paper, vorgetragen im Kolloquium von Michael Pauen an der Berlin School of Mind and Brain (Humboldt-Universität Berlin), September 2008; in: Das Seifenblasenspiel oder Sphären des Selbst. Skizze einer Bewußtseinstopologie, in: Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen und Koenraad Hemelsoet (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München 2009; in: Alle im Wunderland. Verteidigung des gewöhnlichen Lebens, München 2010; in: Die Konstitution des Selbst als Effekt des Raums. Über den Zusammenhang von phänomenalem Raum- und Selbsterleben (Anthropotopologie), Vortrag auf dem Symposium ›Architektur erleben und verstehen. Leiblich-szenische Sensitivität als Grundlage einer neuen Ästhetik?‹ am 21./22. Mai 2012 an der TU Berlin. 39 | Zum Problem oder zur Problematik der Qualia siehe Thomas Metzinger: Why qualia don’t exist, in: T. M.: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O., S. 69-86; sowie

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einfach auf eine bestimmte Weise an, einen Schmerz zu spüren, verliebt zu sein oder das Rot einer roten Rose zu bewundern.40 Zu letzterem sei eine Anmerkung eingeschaltet: Statt ›das Rot einer roten Rose zu bewundern‹ – was schon eine nicht ganz übliche Aussage ist –, finden sich an dieser Stelle in der Literatur der analytischen Philosophie des Geistes regelmäßig Formulierungen wie: ›eine Rotempfindung haben‹ oder ›Röte empfinden‹ – Aussagen, die im Alltag offenbar völlig unüblich sind: Menschen haben im täglichen Leben im Umgang mit alltäglichen Sachen keine Rotempfindung, sondern sie sehen rote Rosen, sie sehen eine Frau in Blue Jeans mit rotem Top, sehen deren rote Lippen etc. – man trennt das Rot der Lippen nicht von den Lippen und hat dann losgelöst vom Zusammenhang eine Rotempfindung, sondern es sind die roten Lippen, die einen betören oder einem auffallen. Eine sogenannte Rotempfindung hat man womöglich in Extremsituationen, etwa unter Drogeneinfluß. Davon abgesehen läßt sich die Redeweise des ›wie es sich anfühlt‹ auch prinzipiell kritisieren; denn das Erleben ist nicht immer unbedingt mit ausdrücklich bewußten Gefühlen verbunden, es kann auch sein, daß ich einen Eßtisch sehe und dabei nichts empfinde; freilich, auch diese Nicht-Empfindung ließe sich als eine Art Gefühl interpretieren.41 2. Das kognitive Bewußtsein (»ich finde, daß Don Giovanni Mozarts beste Oper ist«, »ich meine, daß Willy Brandt der wichtigste deutsche Politiker seit Bismarck war« etc.). 3. Selbstbewußtsein. Das explizite Bewußtsein, das eine Person von sich selbst hat. Hier handelt es sich um ein Bewußtsein zweiter oder höherer Ordnung.42 Diana Raffman: Die Beharrlichkeit der Phänomenologie, in: Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 1: Phänomenales Bewußtsein, a.a.O., S. 479-501. 40 | Vgl. von dieser Einteilung abweichend Michael Pauen: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes, München 2007, S. 113f. Pauen trennt Wachheit und Phänomenales Bewußtsein und sieht in ihnen zwei unterschiedliche Zustände. Diese Trennung erscheint mir sinnlos, denn wenn ich wach bin, dann empfinde oder erlebe ich auch irgendetwas, habe also phänomenales Bewußtsein. 41 | Vgl. hierzu Maxwell Bennett und Peter Hacker: »Doch wenn man eine normale Person fragt, wie es sich anfühlt, den Eßtisch, den Stuhl, den Schreibtisch, den Teppich usw. usf. zu sehen, wird sie sich fragen, worauf wir hinauswollen. Es hat nichts Besonderes an sich, diese prosaischen Gegenstände zu sehen. Natürlich ist das Sehen des Eßtischs etwas anderes als das Sehen des Stuhls, des Schreibtischs, des Teppichs usw., aber der Unterschied besteht nicht darin, daß sich das Sehen des Schreibtischs anders anfühlt als das Sehen des Stuhls. Das Sehen eines normalen Tischs oder Stuhls löst unter normalen Umstände gar keine emotionale oder einstellungsbezogene Reaktion aus.« (In: Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker, John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie, a.a.O., S. 66.) 42 | Maxwell Bennett und Peter Hacker unterscheiden beim Bewußtsein zwischen transitivem Bewußtsein und intransitivem Bewußtsein: »Zum transitiven Bewußtsein gehört, daß man sich einer Sache bewußt ist bzw. sich bewußt ist, daß sich etwas so oder so verhält. Das intransitive Bewußtsein hingegen hat kein Objekt. Gemeint ist, daß man nicht bewußtlos ist bzw. schläft, sondern bei Bewußtsein, also wach ist.« (In: Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker, John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie, a.a.O., S. 236.) Bennett und Hacker unterscheiden ebendort stichwortartig noch zwischen perzeptuellem, somatischem, kinästhetischem und affektivem Bewußtsein, sowie zwischen dem Bewußtsein von den ei-

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Der Begriff ›Phänomenales Bewußtsein‹ bezeichnet also all das, was ich wahrnehme, wenn ich wach bin (oder träume), schlechterdings einfach die Welt, die mir (im nichtpsychiatrischen Fall) so und so erscheint und die ich so und so erlebe. (Auf die für meine These wichtige Interpretation des phänomenalen Bewußtseins als eine Art Innenraum gehe ich im III. Hauptteil ein.) Er entspricht damit praktisch jenem bestimmten im Alltag verwendeten Begriff von Bewußtsein, der in der Rede zum Ausdruck kommt, wenn man sagt – ›jemand sei bei Bewußtsein‹ bzw. ›nicht bei Bewußtsein‹: sobald ich bei Bewußtsein bin – indem ich also aus dem Schlaf oder aus einer Ohnmacht erwache –, erlebe ich die Welt, erlebe ich mich in der Welt, bin ich ein diese wahrnehmender, in ihr handelnder und mich auf sie beziehender Teil von ihr. Dabei nehme ich mich auch immer, wie fein oder implizit auch immer, selbst wahr (wobei es sich bei dem soeben unter Punkt 3 erwähnten ›Selbstbewußtsein‹ wie gesagt um ein explizites Bewußtsein meiner selbst handelt). ›Bei Bewußtsein sein‹ heißt also stets auch in einer gewissen Weise ›sich selbst erleben‹. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die bereits erwähnte ›Intentionalität‹: der Begriff bedeutet im wesentlichen, Franz Brentano führte das aus, zweierlei: Erstens die notwendige Bezugnahme des Menschen auf die Welt oder auf etwas. Damit kommt zum Ausdruck, daß Bewußtsein stets Bewußtsein von etwas 43 sei und die Vorstellung eines leeren Bewußtseins, das sich erst auf Gegenstände oder Sachverhalte beziehe, keinen Sinn ergebe. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Relationalität des Bewußtseins, einer sozusagen gerichteten Beziehung zu etwas – ich blicke aus dem Fenster und sehe die Linde, ich stelle mir morgens vor, wie ich am Abend im See baden gehen werde.44 Das ist im übrigen losgelöst von der Frage, inwiefern das, worauf man sich bezieht, ontologisch existiert oder nicht: beziehe ich mich auf ein Einhorn, so liegt eine intentionale Struktur vor, unabhängig davon, wie der ontologische Status des Einhorns zu bewerten sei. Zweitens nehmen, so Brentano, nur psychische Phänomene Bezug auf einen Gegenstand, nicht hingegen physische.45 Nur psychische Phänomene haben eigenen Motiven, dem reflexiven Bewußtsein, dem Bewußtsein von den eigenen Handlungen und dem Selbstbewußtsein. 43 | Was bei Brentanos Begriff der Intentionalität noch fehlt, ist die zwischenmenschliche Bezugnahme aufeinander, die entwicklungspsychologisch der Bezugnahme auf etwas vorgelagert ist. Erst entsteht die interfaziale Bezugnahme von Mutter und Kind aufeinander, dann der gemeinsame Bezug auf ein Objekt. Siehe hierzu unten den Abschnitt zu Michael Tomasello. 44 | Zunächst ließe sich das Gerichtetsein jedoch auch auf alles mögliche, auch auf unbelebte Phänomene, beziehen, etwa auf einen Lawinenabgang oder einen aufsteigenden Ballon. Vgl. zum Begriff der Intentionalität allgemein und zu den erwähnten und weiteren Beispielen auch Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 3: Intentionalität und mentale Repräsentation, Paderborn 2010, allgemein S. 11-32, die Beispiele auf S. 12. 45 | Franz Brentano: »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir […] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes [psychische Phänomen, M.M.] enthält etwas als Objekt

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nen Inhalt (und das meint: sind auf einen Gegenstand gerichtet). (Im Rahmen der erwähnten möglichen monistischen Informationsontologie ließe sich dieser Unterschied zwischen psychischen und physischen Phänomen nicht in der gleichen Weise machen; innerhalb dieser wäre für die Frage des Unterschieds zwischen psychischen und physischen Phänomenen eher entscheidend, inwiefern ein Phänomen lebendig sei und von sich selbst, also von seiner Existenz, wisse – ›lebendig sein‹ hieße damit automatisch auch ›ein psychisches Phänomen sein‹. In dieser Hinsicht ist es zumindest wahrscheinlich, daß Magnete keine psychischen Erlebnisse haben, Pflanzen vielleicht auch nicht, hingegen sehr wohl bestimmte Tiere, Hunde beispielsweise.46) Das Konzept der Intentionalität machte im Anschluß an Brentano bei dessen Schüler Edmund Husserl und dem Schülersschüler Martin Heidegger Epoche. Stellte Husserl vor, wie Auffassungssinn bzw. Bewußtseinsakt (nóesis) und Bewußtseinsinhalt (nóema) von Anfang an zusammengehören47, so faltete Heidegger aus, daß Menschen qua ihres In-der-Welt-seins sich immer schon bei den (zuhandenen) Dingen befinden48.49

in sich […]. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.« (Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, hg. von Oskar Kraus, Erster Band, Leipzig 1924, Zweites Buch, Erstes Kapitel, § 5, S. 124f.) 46 | Zur Frage, was Leben sei, siehe etwa Erwin Schrödinger: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet (Cambridge 1944), aus dem Englischen von L. Mazurcak, mit einer Einführung von Ernst Peter Fischer, München 92008; sowie aus jüngerer Zeit den sowohl physikalisch wie chemisch-biowissenschaftlich ausgerichteten Band ›Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit‹, hg. von John Brockman, aus dem Englischen von Kurt Beginnen und Sigrid Kuntz, mit Beiträgen von Freeman Dyson, J. Craig Venter, George Church, Robert Shapiro, Dimitar Sasselov und Seth Lloyd, Frankfurt a.M. 2009. 47 | Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana III/1, hg. von Karl Schuhmann, Den Haag 1976, §§ 128ff., § 145. 48 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 171993, §§ 19ff. 49 | Eine frühe Vorform des Konzepts der Intentionalität und des In-der-Welt-seins hat Hegel in seinen Jenaer Vorlesungen dargestellt. Es gebe keine Lücke zwischen dem erkennenden Subjekt und den Objekten, der subjektive Geist befinde sich vielmehr immer schon in einem sozial vorgeprägten Umfeld, in Funktionszusammenhängen, die in den Medien der Werkzeuge objektive Gestalt angenommen haben, im vertrauten Horizont eines muttersprachlich artikulierten Hintergrundwissens und in den Gewohnheiten und Üblichkeiten gemeinsamer sozialer Praktiken. Menschen sind also auch nach Hegel eigentlich immer schon bei den Sachen, bei den Symbolen, bei den Anderen. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden mit Registerband – Gesamte Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band 2: Jenaer Schriften 1801-1807, Frankfurt a.M. 1986.

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Das Bewußtsein besteht also praktisch aus allen Aspekten des Erlebens, die immer aus der sogenannten Innenperspektive heraus zugänglich sind – es fühlt sich für mich so und so an, wenn ich Zahnschmerzen habe, wenn ich verliebt bin, wenn ich traurig bin etc., oder ganz allgemein: es fühlt sich irgendwie an, sich selbst zu sein. Das heißt auch, daß es in der Regel kein Bewußtsein ohne irgendeine (wenn auch zunächst vielleicht unbemerkte) Form von Ich-Bewußtsein geben kann.50 Wo es Bewußtsein gibt, muß es auch ein Ich geben. (Wobei der Ausdruck ›ein Ich‹ hier selbstredend nicht ontologisch-substantiell, sondern alltagssprachlich zu verstehen ist: das Entstehen jeder Form von Ich-Erleben ist stets gebunden an ein komplexes neuronal prozessierendes Geschehen.) Das, was bewußt ist, wird immer für jemand bewußt sein. Es kann nicht sein und ist undenkbar, daß etwas, was bewußt ist, niemandem bewußt ist. (Das heißt aber wie gesagt nicht, daß einem das Ich stets explizit, also reflexiv, höherstufig bewußt wäre.) Diese von mir, mit mir als Bezugs›zentrum‹, erlebte, in sich meist mehrteilige, doch als einheitlich und gegenwärtig erscheinende Welt – das phänomenale Bewußtsein – ist aus einer repräsentationalistischen51 Perspektive gesprochen der 50 | Siehe zur Diskussion über die Frage, ob Bewußtsein immer zugleich mit Selbstbewußtsein einhergehe, auch Susan L. Hurley: Non-Conceptual Self-Consciousness and Agency: Perspective and Access, in: Communication and Cognition, Vol. 30, 1997, (Part 1 of Special Issue: Approaching Consciousness) Nr. 3/4, S. 207-248; sowie besonders Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O., S. 564ff. 51 | Der Repräsentationalismus bezeichnet ein so maßgebliches wie umstrittenes Modell in der Philosophie des Geistes. Im Kern geht es um die Annahme, daß das Gehirn Vorgänge der biologisch-physikalischen Wirklichkeit mental-zerebral darstellt. Repräsentationen sind Darstellungen, Interpretationen oder »Ideen« (John Locke), mittels derer sich der Mensch seine Umwelt erschließt. (In diesem Zusammenhang interessieren lediglich interne, mental-zerebrale Repräsentationen und nicht externe, semiotische Repräsentationen, wie etwa Verkehrsschilder, Landkarten, Bücher etc.) Wichtig ist, daß bestimmte Strömungen der repräsentationalen Theorie des Geistes davon ausgehen, daß »es propositionale Einstellungen und mentale Repräsentationen wirklich gibt. Es handelt sich demnach nicht um spekulative Modellbildungen, durch die bestimmte Abläufe beschrieben werden, sondern um reale Elemente, die eine kausale Rolle übernehmen« (Dieter Teichert, in: D. T.: Einführung in die Philosophie des Geistes, Darmstadt 2006, S. 119; ich stütze mich hier auf Teicherts Einführung und sein Referat im Kapitel ›Mentale Repräsentation‹ [S. 108-133]; zum Begriff der Repräsentation siehe auch ausführlich Thomas Metzingers zahlreiche Aspektanalysen des Begriffs in: Being No One, a.a.O.). Ein wichtiger Vertreter dieser Strömung, Jerry A. Fodor, spricht von der »Sprache des Geistes« (›The Language of Thought‹, Cambridge, MA 1975); diese Sprache des Geistes bestehe aus mentalen Repräsentationen, die letztlich durch physisch-neuronale Zustände und Funktionen verwirklicht seien. Nicht unerheblich für den Zusammenhang dieser Arbeit ist jedoch folgende Nuancierung: Der Repräsentationalismus ist die Arbeitshypothese, daß im Gehirn jedes Menschen Körperwahrnehmungen wie auch Wahrnehmungen aus der Umwelt wie auch immer physisch repräsentiert oder dargestellt werden. Wenn ich einen Baum sehe, so sehe ich eine Repräsentation des Baums. Die Repräsentation ist ein unaufhörlicher Prozeß, der auch zu Fehl-

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mir erscheinende phänomenale Bewußtseinsinhalt, das Repräsentat, das durch kontinuierliche transparente, also in diesem Fall von mir unbemerkte, neuronale Prozesse hervorgerufen wird; diese neuronalen Prozesse wiederum verarbeiten sensorische, aus der Umwelt kommende und innerkörperliche Wahrnehmungen – das Gehirn ist Teil des Körpers, und der Körper ist Teil der Umwelt. (Insofern dabei die erlebte Unmittelbarkeit der Wahrnehmung das Resultat eines neuronalen Prozesses ist, hat sie konstruktiven Charakter.) Das Repräsentat der Welt verstehe man dabei nicht als Substanz, sofern unter Substanz eine von Einflüssen unabhängige, nur aus sich selbst existierende Entität verstanden wird52; sondern: das Repräsentat als phänomenales Bewußtsein erscheint mir – der ich, repräsentationalistisch gesehen, auch nur ein nichtsubstantielles Repräsentat bin – aufgrund des transparenten, also unbemerkten bzw. undurchschauten, Repräsentationsvorgangs in einer quasisubstantiellen Weise – etwa als mein Zimmer hier oder als die Welt da draußen jenseits der Fensterwand –, und zwar im Zusammenspiel mit den an meinem phänomenalen Ich beteiligten Prozessen – ohne daß ich dieses Erscheinen als Erscheinen wahrnehme, vielmehr erlebe ich einfach die Welt. Das phänomenale Bewußtsein, die von mir so und so erlebte Welt, befindet sich daher, repräsentationalistisch und nur repräsentationalistisch gesehen, ausschließlich in meinem Kopf, als Erscheinungsform von neuronalen Verarbeitungs- und Informationsprozessen. Bei einem so repräsentationalistisch verstandenen Bewußtsein repräsentieren also bestimmte Zustände ›mir‹ die Umgebung; wobei ich im Sinne meiner These wahrnehmungen führen kann (in einem toxischen Zustand erscheint mir der Baum als Riese – Goethe in ›Willkommen und Abschied‹: »[…] Schon stand im Nebelkleid die Eiche,//
Ein aufgetürmter Riese, da […]«). Dabei ist der Begriff ›Repräsentation‹ unter anderem insofern problematisch, als er wörtlich betrachtet behauptet, einen wahrgenommenen Gegenstand zu re-präsentieren, ihn also im Bewußtsein wieder zu präsentieren. Aber der Gegenstand in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit wird mir nicht wieder präsentiert, sondern er wird mir überhaupt präsentiert. Davon abgesehen schlagen manche das Handeln ins Zentrum stellende Kognitionsforscher neuerdings vor, auf den Begriff ›Repräsentation‹ komplett zu verzichten und stattdessen von »directives« zu sprechen und sich auf die Frage nach der Entstehung von Handlung zu konzentrieren. Siehe Andreas Engel, Alexander Maye, Martin Kurthen, Peter König: Where’s the Action? The Pragmatic Turn in Cognitive Science, in: Trends in Cognitive Science, Heft 5, Band 17, 22. April 2013, S. 202-209. 52 | Für Aristoteles gilt, daß die Substanz, während sie der Zahl nach ein und dieselbe bleibe, fähig sei, gegensätzlichen Qualitäten Raum zu geben. (Aristoteles: ›Metaphysik‹, 2. Halbband, Kapitel VII [Z] bis XIV [N], Griechisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Horst Seidl, Hamburg 1980, S. 1028a.) – Immanuel Kant dekonstruiert den Begriff ›Substanz‹ zur bloßen inneren Erfordernis des Denkens. ›Substanz‹, als akzidenteller Begriff, lasse sich allein vom Erscheinen des zeitlich Beharrenden her begreifen und daher zu den Kategorien zählen, als eine dem menschlichen Subjekt a priori innewohnende Denkform, die nur das Ding als Erscheinung, nicht aber das Ding an sich erfasse. – Friedrich Nietzsche sieht für den Begriff der ›Substanz‹ keinen Grund mehr: »Geben wir die Seele, ›das Subjekt‹ preis, so fehlt die Voraussetzung für eine ›Substanz‹ überhaupt.« (F. N.: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 8. Abteilung, Band 2: Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Berlin 1970, hier: Herbst 1887 10[19], S. 131.)

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so differenzieren möchte, daß die Zustände nicht nur die Umgebung repräsentieren, sondern gleichzeitig die Umgebung in einen Innen- und Außenraum einteilen. Auf der neurowissenschaftlichen Ebene ist mit dem Neurowissenschaftler Gerald M. Edelman zu beachten, daß das Bewußtsein nicht von Gehirnaktivitäten verursacht wird (causes), sondern daß Bewußtsein mit neuronaler Aktivität einhergeht (entails); so ist Bewußtsein auch von dieser Seite her kein Ding, sondern Teil eines vielschichtigen Prozesses.53 Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge: daß dir das Dasein eines Baums gelinge, wirf Innenraum um ihn, aus jenem Raum, der in dir west. […] Rainer Maria Rilke54 Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen und der Explizitheit zuliebe sei angefügt: Es existiert – aus der Sicht der repräsentationalistischen Beschreibungsperspektive – natürlich eine Wirklichkeit unabhängig von meinem Erleben. Ich, als Gesamtheit aller meiner organischen Prozesse, führe jedoch immer schon unbewußt und unbemerkt im Zuge gewisser körperlicher Wahrnehmungsprozesse, auch unbewußter Gehirnprozesse, eine Art Darstellung oder Interpretation dieser Wirklichkeit durch. (›Darstellung‹ und ›Interpretation‹ sind vorläufige, weil irreführenkönnende Behelfsausdrücke; bekanntlich ist die Frage, wie Wahrnehmung und Erkenntnis überhaupt möglich sein können und wie sie funktionieren, auf der neurowissenschaftlichen Ebene noch unzureichend verstanden und im übrigen umstritten; statt ›Darstellung‹ oder ›Interpretation‹ ließe sich vielleicht auch ›für das Überleben adäquate Einstellung der Wirklichkeit gegenüber‹ sagen. Um ein ontologisches Mißverständnis hier auszuschließen: ›Darstellung‹ oder ›Interpretation‹ impliziert nicht die These, daß es mein Erleben gäbe und ›dahinter‹ noch eine wahre Wirklichkeit; sondern verweist lediglich darauf, daß ich diese ›wahre‹ Wirklichkeit nur auf eine bestimmte, von meinem Organismus abhängige Weise erleben kann; eine ›wahre‹ Sicht auf die ›Welt an sich‹, einen ›Blick von Nirgendwo‹, gibt es weder logisch noch ontologisch; sondern es gibt nur konkrete, organismusabhängige Perspektiven.) Das Erleben dieses von mir nicht durchschauten Darstellungs- oder Interpretationsrepräsentats ist wie gesagt das, was mir in meinem gewöhnlichen, naiven Realismus als ›das Erleben der Welt‹ erscheint. 53 | Siehe Gerald M. Edelman: Second Nature. Brain Science and Human Knowledge, New Haven and London 2006, S. 40f.; im englischen Original: »[…] neural action in the core entails consciousness«, und: »Consciousness is not a thing, it is a process.« 54 | Die Verse stammen aus der zweiten Strophe eines titellosen Gedichts von 1924, das im ganzen wie folgt lautet: »Durch den sich Vögel werfen, ist nicht der/vertraute Raum, der die Gestalt dir steigert./(Im Freien, dorten, bist du dir verweigert/und schwindest weiter ohne Wiederkehr.)//Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge:/daß dir das Dasein eines Baums gelinge,/wirf Innenraum um ihn, aus jenem Raum,/der in dir west. Umgieb ihn mit Verhaltung./Er grenzt sich nicht. Erst in der Eingestaltung/in dein Verzichten wird er wirklich Baum.« Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt a.M. 152004, S. 953f.

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Ein Beispiel, wie alltägliches Erleben in einer repräsentationalistischen Perspektive interpretierbar wäre: Ich blicke zum Fenster hinaus auf eine im Wind rauschende Platane. Dieser Baum ist als grüner rauschender Baum ausschließlich eine phänomenal erlebte, von mir undurchschaute Darstellung oder Interpretation oder auch ein Modell55 eines ›Baums‹ in meinem phänomenalen Bewußtsein, ohne daß ich den Darstellungs-, Interpretations- oder Modellcharakter erkennen könnte. Zwar gibt es in der Wirklichkeit, jenseits von mir, eine bestimmte, auch physikalisch und biologisch beschreibbare Form eines bestimmten, zusammenhängenden Informationsprozesses als ›Baum‹, doch gibt es auf der ontologischen Ebene keine farbigen ›Gegenstände‹ wie das Grün eines grünen rauschenden Baums, sondern lediglich ein Universum von elektromagnetischer Strahlung, ein unermeßliches, wogendes Meer von Wellenlängen, von denen ein winziger Teil in Wechselwirkung mit meinem visuellen System in meinem Bewußtsein mir beispielsweise als das Grün des grünen rauschenden Baums erscheint. Diesen gesamten Informations- und Wahrnehmungsprozeß nehme ich freilich nicht als solchen wahr, sondern einfach nur als grüne, im Wind rauschende Platane. Eingeschaltet sei an dieser Stelle ein Hinweis auf eine von Thomas Fuchs vorgebrachte, durchaus bedeutsame, wenn auch zum Teil inkonsistente Kritik an jenen Bewußtseinsbegriffen, denen gemäß das Bewußtsein eine Innenwelt darstelle. Fuchs schreibt: »Denn das so verstandene Bewußtsein [das Bewußtsein als eine körperlose Innenwelt, M.M.] trägt weiterhin das Erbleiden der res cogitans mit sich, dualistisch abgetrennt im Nirgendwo zu schweben, so daß es in Ermangelung eines anderen Kleiderhakens scheinbar unausweichlich dem Gehirn angehängt werden muß: Das Gehirn ›hat Bewußtsein‹. Doch Bewußtsein ist keine eigene Entität, keine Innenwelt für sich, sondern es ist eine Eigenschaft von Lebewesen: genauer: eine Weise ihres Lebensvollzugs. Es manifestiert sich in Lebensäußerungen und Tätigkeiten […].« 56 55 | Ein Modell ist zunächst in seiner lexikalischen Grundbedeutung soviel wie die Abbildung der für wesentlich gehaltenen Elemente eines Prozesses, die in der eindeutigen Zuordnung entsprechender Zeichen zu diesen Elementen besteht. In meinem Verständniszusammenhang des Begriffs Modell spielt die Frage, ob das Modell Ähnlichkeit mit dem Gegenstand aufweist, keine Rolle; das heißt: ein Weltmodell, wie es konkret physisch im Gehirn realisiert wird, hat mit der phänomenal erlebten Welt auf der phänomenologischen Ebene nichts zu tun (denn ich erlebe ja nicht das im Gehirn realisierte Weltmodell, sondern eben das, wofür es steht, nämlich die Welt); insofern ist der Begriff Modell als Metapher zu verstehen, als Metapher für die vereinfachte Darstellung einer Wahrnehmung, hier der biologisch-physikalischen Wirklichkeit (oder auch des eigenen Körpers), welche ich aber nicht als Modell, als Darstellung einer Wahrnehmung, erlebe, sondern als die Welt (oder als den eigenen Körper). (Die Problematik des Begriffs ›Modell‹ und die Frage, inwiefern es sich bei dieser Beschreibungsart um eine mythische, nichtwissenschaftliche Beschreibungsform handeln könnte, diskutiert Lambert Wiesing in seinem phänomenologischen Manifest ›Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie‹, Frankfurt a.M. 2009. Ich gehe unten im methodologischen Anhang darauf ein und versuche, Wiesings Kritik zum Teil zurückzuweisen.) 56 | Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 67.

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Selbst und Raum Und er fügt hinzu: »Bewußtsein läßt sich […] nicht als eine unsichtbare Kammer auffassen, die sich im Kopf hinter den Sinnesorganen verbirgt. Es ist überhaupt nicht ›im Körper‹, sondern es ist verkörpert [um dualistische Anklänge, und seien sie noch so leise, zu vermeiden, würde ich anstelle von ›verkörpert‹ den Ausdruck ›körperlich‹ vorziehen, M.M.]: Bewußt sind bestimmte, integrale Tätigkeiten eines lebendigen, sinnesempfänglichen und eigenbeweglichen Organismus. Die primäre Dimension des Bewußtseins [mit ›Dimension des Bewußtseins‹ meint Fuchs hier wohl die ›Funktion des Bewußtseins‹, M.M.] ist damit die wechselseitige, sensorisch-motorische und aktiv-rezeptive Beziehung von Lebewesen und Umwelt. Erst in der Selbstreflexion tritt das menschliche Bewußtsein sich als erlebendem und tätigem Bewußtsein noch einmal gegenüber und scheint so zu einer Innenwelt zu werden. Diese dem Menschen mögliche Selbstdistanzierung hebt aber sein primäres, verkörpertes In-der-WeltSein nicht auf. Wir sind keine Bewußtseinsmonaden, denen ein Bild der Welt vorgespielt wird, sondern Lebewesen: Wir bewohnen unseren lebendigen Körper und durch ihn die Welt.« 57

Was Thomas Fuchs im ersten Absatz des Zitats anspricht, betrifft letztlich die Frage, wie überhaupt phänomenale Erlebnisinhalte aufgrund von körperlichen und neuronalen Prozessen hervorgerufen werden können, eine Frage, die in den letzten Jahren nach der berühmtgewordenen Aussage von David Chalmers in der amerikanisch-australischen Philosophie des Geistes oft als das so genannte ›schwierige Problem‹ des Bewußtseins zu firmieren pflegt (im Vergleich zum ›einfachen Problem‹ der theoretisch lösbaren Erforschung der Funktionsweise des Gehirns58): wie also kann es sein, daß im Zuge bestimmter Prozesse im Gehirn dem Menschen ›die Welt‹ erscheint – der Anblick eines Blumengartens, der Genuß eines lukullischen Essens, die tiefempfundene Freude beim Besuch eines Chorkonzerts etc. Was Fuchs also in diesem ersten Absatz kritisiert, ist genau diese Trennung zwischen Gehirn-Sphäre und Bewußtseins-Sphäre, die gewissermaßen etwas Mysteriöses behaupte, nämlich: daß es neben den physischen Gehirnprozessen quasi eine ›immaterielle‹ Erlebenswelt, eine Innenwelt, eine res cogitans zu beobachten gebe, und gerade durch diese Behauptung eben wieder eine dualistische Figur in die Philosophie des Geistes einfüge. Doch als Phänomenologe ist für Fuchs eben schon der Grundgedanke falsch – denn Gehirne haben kein Bewußtsein, es sind Menschen, in deren Lebensvollzug Bewußtsein eine Rolle im Wechselverhältnis zwischen ihnen selbst und ihrer phänomenal erlebten Umwelt spielt. Nicht mehr und nicht weniger. Und so weit, so gut. In gewisser Hinsicht scheinen die kritischen Anmerkungen von Thomas Fuchs demnach plausibel zu sein – insonderheit was die möglichen in den Dualismus führenden Konsequenzen berührt; gleichwohl bleibt aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive das angedeutete ›schwierige Problem‹ bestehen; ein Problem, das vor allem deshalb schwierig zu lösen ist, weil der Gesamtzusammenhang der einzelnen, auch nicht-neurowissenschaftlichen Perspektiven noch nicht zureichend geklärt ist – also was vor allem die Begriffe Außen- und Innenperspektive in Hinsicht auf die Gehirnprozesse und das (Ich-)Erleben konkret bedeuten. Wenn man folglich zugibt, daß hier eine Schwierigkeit besteht, also ein Unterschied zwischen Außen- und Innenperspektive, dann muß das keineswegs in den Dualismus führen, und zwar erst recht dann nicht, wenn man mögliche monistisch-informati57 | Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 95f. 58 | David J. Chalmers: The Conscious Mind, Oxford 1996.

Einleitung

onsontologische Ausgangsannahmen in die Betrachtung mit aufzunehmen bereit sein sollte. Die Kritik von Fuchs ist also zum Teil zwar berechtigt; sie trifft aber, was das Wechselspiel der unterschiedlichen Perspektiven und die realen Unterschiede zwischen diesen berührt, nicht den Punkt. Was nun den zweiten Absatz des Zitats angeht, so sei vermerkt, daß Fuchs am Ende selbst einen kapitalen dualistischen Bock schießt, wenn er schreibt, daß wir unseren lebendigen Körper bewohnen würden. Nein, läßt sich hier entgegen, wir bewohnen nicht »unseren lebendigen Körper«, auch nicht unseren toten Körper, sondern wir leben einfach (sofern wir nicht gestorben sind). Und diese Lebensweise ist natürlich eine körperliche; wobei es auf einer biologischen wie informationsontologischen Ebene zwischen körperlichen und geistigen Prozessen ohnehin keinen Unterschied gibt, körperliche Prozesse sind geistig, und geistige Prozesse sind körperlich; (es gibt allerdings einen Unterschied zwischen unbewußten Prozessen einerseits und bewußten und selbstreflexiven andererseits – welche letzteren man auf der phänomenologischen Ebene auch Gedanken nennt). Menschen bewohnen folglich Räume, buchstäbliche wie auch übertragene; sie bewohnen aber nicht ihren buchstäblichen Körper, als wäre dieser ein beziehbares Haus, das man bei Umzugswünschen auch wieder verlassen könnte. Und hinsichtlich des letzten Halbsatzes von Thomas Fuchs ist anzufügen, daß wir nicht durch unseren Körper die Welt bewohnen, sondern wir wohnen einfach in einer bestimmten Sphäre der Welt, zum Beispiel in einem Haus, in einer Stadt, in einem Land; über unsere Körperlichkeit sind wir allerdings – und das hat Thomas Fuchs vielleicht gemeint – mit der Umwelt verbunden, oder wie man heute in der Regel sagt: in die Umwelt eingebettet. Der wichtigste Punkt dieser Andeutungen ist also der, daß für den hier verwendeten Begriff des phänomenalen Bewußtseins sonstige Bewußtseinsbegriffe zweiter oder höherer Ordnung keine maßgebliche Rolle spielen. Begriffe also wie der Begriff des kognitiven Bewußtseins (»Ich finde, daß Nürnberg eine im öffentlichen Bewußtsein unterschätzte Stadt ist«, »Ich weiß, wie es zu einer Totalen Sonnenfinsternis kommt« etc.); oder der Begriff des Selbstbewußtseins (»Ich weiß unmittelbar, wer ich bin, und ich weiß auch, daß ich das weiß«, »Ich sitze jetzt gerade in der Sonne, ich spüre die Wärme, und daß mir dies jetzt bewußt ist, ist mir auch bewußt«).

Prämisse Innen-Außen-Spannung Die dritte Prämisse lautet, daß eine Innen-Außen-Spannung in sämtlichen Organismen, damit auch in Menschen, sich zwangsläufig entfaltet, und zwar auf eine entweder unbewußte, spontane, automatische oder reflektierte Weise. Der theoretische Ansatz hierfür findet sich in dem biologischen Konzept der Homöostase, des stabilen Gleichgewichts der Körperfunktionen, wie es in jüngerer Zeit prominent Antonio R. Damasio dargestellt hat.59 Homöostase, so Damasio, 59 | Antonio R. Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (im Original New York 1994), aus dem Englischen von Hainer Kober, Berlin 52007, S. 298312, insbesondere S. 303-306; ders.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins (im Original New York 1999), aus dem Englischen von Hainer Kober, Berlin 72007, S. 54f.; ders.: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen (im Original Orlando

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»bezeichnet die koordinierten und weitgehend automatischen physiologischen Reaktionen, die erforderlich sind, um in einem lebenden Organismus stabile innere Zustände hervorzurufen«; sie beschreibt also »die automatische Regulation von Temperatur, Sauerstoff konzentration und pH-Werten« und umfaßt »die Wechselbeziehungen zwischen Hormon-, Immun- und Nervensystem«60. – Im Sinne eines »verfeinerten, kooperativen« Umgangs des Subjekts mit den Objekten ist der Begriff der Homöostase implizit auch in Sloterdijks Konzept der »Homöotechnik« zu finden.61 Kontinuierliche, situations- und umweltbezogene sowie erfahrungsgeprägte körperliche ›Bewertungen‹ bilden dabei die Basis für Emotionen und Gefühle und ermöglichen dadurch erst die Aufrechterhaltung des Lebens. Auch unterstreicht die Evolutionsbiologie die zentrale Bedeutung des Informationsaustauschs zwischen innen und außen für die neurobiologischen, essentiellen Prozesse des Organismus.62 Der Informationsaustausch erzwingt im übrigen eine Öffnung zwischen innen und außen im Sinne einer geregelten Durchlässigkeit in jede Richtung.63 Mit dem Begriff der Homöostase verwandt ist der in der zeitgenössischen Psychologie virulente Begriff der ›Regulation‹. Das Selbst dient dabei als Instrument zur Regulation von Lust- und Unlusterleben sowie auch als Instrument zur Organisation von Erfahrungen und des mit diesen einhergehenden labilen Selbstwertgefühls.64 Diese kognitiven Informationsstrukturen entstehen durch Informationseinfluß und entsprechende Rückmeldungen im Zuge von Aktivitäten und Umweltkontakten (Außenwelteinflüssen). Selbstregulation bezeichnet also selbst-

2003), aus dem Englischen von Hainer Kober, München 2003. – Zur Innen-Außen-Unterscheidung vgl. auch Michael Pauen: Selbstbewußtsein – Ein metaphysisches Relikt? Philosophische und empirische Befunde zur Konstitution von Subjektivität, in: Albert Newen und Kai Vogeley (Hg.): Selbst und Gehirn. Menschliches Selbstbewußtsein und seine neurobiologischen Grundlagen, Paderborn 2000, S. 101-122. 60 | Antonio R. Damasio, Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 54. 61 | Vgl. Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O.; besonders S. 71-77. 62 | Vgl. Daniel Dennett: The Reality of Selves, in: D. D., Consciousness Explained, a.a.O., S. 412-430; vgl. zur biologischen Innen-Außen-Unterscheidung und ihren Bezug zum Selbst insbesondere S. 414f. 63 | Auch Gerhard Neuweiler: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Berlin 2008, akzentuiert die zentrale Bedeutung des ›Informationsaustausches‹, welchen das Gehirn zwischen Außenwelt und Innenwelt des Organismus durchführe. – Detlev B. Linke führt die Überlegung aus, daß die Innen-Außen-Dichotomie auf den Schematismus des corpus amygdalae rückführbar sein könnte; vgl. Detlev B. Linke: Das Gehirn. München 1999, S. 17. Siehe dazu auch Linkes Hinweis auf die »räumlichen Metaphern Innen und Außen« und die »Alltags- und lebensweltlichen Erfahrungen mit Innen und Außen« (in: Radiogespräch ›Ich ist ein Anderer – Die Hirnforschung und unser Selbstbild‹. Gäste im Studio: Detlev Linke und Peter Sloterdijk. Sendung vom 13.5.1996, S2 Kultur). 64 | Vgl. etwa Hazel Markus und Elissa Wurf: The Dynamic Self-Concept: A Social Psychological Perspective. Annual Review Psychology 38, 1987.

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korrektive Anpassungen in Interaktionsprozessen mit der Umwelt65 und insbesondere auch mit der sozialen Dimension66 der Umwelt. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß ich bei der Entwicklung des Konzepts der Innen-Außen-Spannung zunächst von konkreten Räumen und der Erfahrung konkreter Räumlichkeit ausgehe. Dies rechtfertigt sich aufgrund der ontogenetischen wie phylogenetischen Erfahrung konkreter Räume – der Mutterbauch, der Stubenwagen, das Zimmer, bzw. die Höhle, das Erdloch, der Hohlbaum, die Waldnische sind beispielhaft zu nennende erste Raumerlebnisse. Diese Erfahrungen mit Innenräumen – Im-Zimmer-sein, In-der-Höhle-sein – verbinden sich für das Selbst überwiegend mit den Gefühlen der Vertrautheit, Nähe, Bekanntheit, Sicherheit, schließlich auch mit dem Alten, insofern im Innenraum Dinge – die bei der Raumbildung zunächst neu im Raum sind – liegenbleiben oder aufgehoben werden und dadurch binnen relativ kurzer Zeit das Gepräge des Alten annehmen. Gaston Bachelard schreibt zu diesem Punkt: »Nur innerhalb des Raumes finden wir die schönen Fossilien der Dauer, konkretisiert durch lange Aufenthalte.«67 Komplementär folgt daraus, daß ›außerhalb‹ mit den Gefühlen der Unvertrautheit, Ferne, Unbekanntheit, Unsicherheit und dem Neuen verknüpft werden kann. Das anfängliche Erlebnis konkreter Räume wird im Laufe der Zeit auf andere Zusammenhänge übertragen – woraus metaphorische Räume entstehen (siehe nächste Prämisse Übertragung). Die drei Begriffe – konkreter Raum, Selbst-Erleben, metaphorischer Raum – hängen ineinander und bilden das Raumdreieck des Ichs. Was die Genese der Innen-Außen-Spannung angeht, sei auf das Phänomen der Geburt und des buchstäblichen Zur-Welt-Kommens hingewiesen. Auch wenn das geborenwerdende Kind das, was vor sich geht, kaum begreifen wird, ist gleichwohl offensichtlich, daß es eine dramatische Veränderung seiner Situation erlebt und diese dramatische Veränderung Zeichen in seinem Urgedächtnis hinterlassen könnte. Der Geburtsvorgang läßt sich topologisch und außenperspektivisch zunächst beschreiben als das von einem Menschen durchlaufene Verlassen eines buchstäblichen Innenraums und das gleichzeitige erstmalige Erreichen eines buchstäblichen Außenraums. Diese Reise von vertrautem zu unvertrautem Terrain ist zumindest auf der buchstäblichen Ebene das erste Erlebnis des Wechsels von Innen nach Außen; auf der übertragenen Ebene könnte das Kind bereits im Mutterleib unangenehme Erlebnisse und damit im übertragenen Sinn ›Außen‹Erlebnisse durchlitten haben (als eine Vorform des Innen-Außen-Verhältnisses 65 | Vgl. hierzu Charles S. Carver und Michael F. Scheier: Self-Regulation and the Self, in: Jaine Strauss und George R. Goethals (Hg.): The Self: Interdisciplinary Approaches, New York 1991, S. 168-207. 66 | Vor allem Jaak Panksepp hat die entscheidende Bedeutung der sozialen Dimension für das Gehirn in Hinblick auf die Emotionen erforscht, siehe etwa J. P.: Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions. New York 1998; J. P.: The neuroevolutionary and neuroaffective psychobiology of the prosocial brain, in: Robin Dunbar und Louise Barrett (Hg.): The Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, Oxford 2007; J. P. und Georg Northoff: The trans-species core SELF: The emergence of active cultural and neuro-ecological agents through self-related processing within subcortical-cortical midline networks, in: Conscious and Cognition, Mar;18(1): S. 193-215. doi: 10.1016/j.concog.2008.03.002. Elektronische Veröffentlichung (Epub): 15. Mai 2008. 67 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 35.

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ließe sich im übrigen schon das ›Verhältnis‹ zwischen Fötus und Plazenta, mit der Nabelschnur als Öffnung, in Erinnerung rufen68). Dieses Wechselerlebnis von innen nach außen – und dann auch wieder von außen nach innen – dürfte einem Menschen im späteren Leben in räumlichen Zusammenhängen in unterschiedlicher Intensität immer wieder zuteilwerden, als Wechsel vom geschützten warmen Zimmer beispielsweise in den wilden, eisigen Wintersturm bzw. als Wechsel von etwas Vertrautem und Angenehmem zu etwas Unvertrautem und Unangenehmem, oder in umgekehrter Richtung: als Wechsel vom Schneesturm zurück in das stille, warme, schützende Haus.

Prämisse Übertragung Die vierte Prämisse besagt – es klang bereits an –, daß das Erleben konkreter oder buchstäblicher Räume auf metaphorische Räume übertragen werden kann, und ruht vor allem auf zwei theoretischen Konzepten. Zum einen auf dem Konzept der primären metaphorischen Strukturiertheit und Dynamik menschlichen Wahrnehmens, Erkennens und Handelns: Metaphern durchziehen, prägen und leiten das menschliche Leben. In jüngerer Zeit auf kognitionslinguistische Weise erläutert wurde dieser Befund von George Lakoff und Mark Johnson in ihrem Buch ›Leben in Metaphern‹, das seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1980 eine Flut von Metaphernforschungen auf den Gebieten der Literaturwissenschaften, Politologie, Rechtswissenschaften, Soziologie, Psychologie, Mathematik, Kognitionslinguistik und Philosophie auslöste, Forschungen, welche die Theorie im wesentlichen bestätigten respektive präzisierten.69 In ihrem Buch legen die beiden Autoren dar, auf welche Weise bereits elementare körperliche Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozesse selbst metaphorisch sind und so erst übertragen werden können in eine sprachlich-metaphorische Auffassung und Begrifflichkeit (»she’s a warm person«). Metaphern bilden so die Basis für die leitenden kognitiven Repräsentations-, Informations- und Kommunikationsprozesse aller Menschen. Die Verfasser zeigen auch, wie Begriffs- und Metaphernsysteme wiederum unsere Wahrnehmungen bewerten und strukturieren und die Weise beeinflussen, in welcher wir uns in der Welt bewegen und miteinander kommunizieren. Die Begriffe, nach welchen Menschen denken und handeln, sind somit »im Kern und grundsätzlich metaphorisch«; anders gesagt ist »unsere Art zu denken, unser Erleben und unser Alltagshandeln weitgehend eine Sache der Metapher« 70. Dabei ist wie angedeutet die Metapher als sprachlicher Ausdruck »gerade deshalb möglich, weil das menschliche [Begriffs- bzw., M.M.] Konzeptsystem [conceptual system, M.M.] Metaphern enthält« 71. Das heißt: weil das menschliche Denken selbst bereits 68 | Vgl. zum Verhältnis Fötus-Plazenta ausführlich Peter Sloterdijk: Sphären I. Mikrosphärologie: Blasen, Frankfurt a.M. 1998. 69 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, aus dem Englischen von Astrid Hildenbrand, Heidelberg 52007 (ohne das wichtige neue Nachwort der amerikanischen Ausgabe von 2003). (Amerikanische Ausgabe: Metaphors We Live By, with a new afterword, [1980], Chicago 2003.) 70 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 11. 71 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 14.

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metaphorisch geprägt ist, ist die Metapher als sprachlicher Ausdruck überhaupt erst möglich. Die allgemeinen leitenden konzeptuellen Metaphern sind dabei nach Lakoff und Johnson Strukturmetaphern, ontologische Metaphern und oft Orientierungsmetaphern. Strukturmetaphern strukturieren das Denken und Handeln; so strukturiert etwa die allgemeine konzeptuelle Metapher »Argumentieren ist Krieg« die besonderen sprachlichen Metaphern wie »Ihre Behauptung ist unhaltbar«, »sie griff seine Position an«, »er schmetterte ihr Argument ab«, »schießen Sie los!« etc.)72 . Orientierungsmetaphern hingegen strukturieren die Orientierung im Raum: oben-unten, innen-außen, vorne-hinten, dran-weg, tief-flach, zentral-peripher, wobei sich diese Metaphern dem Umstand verdanken, daß »der Körper eines Menschen so beschaffen ist, wie er ist, und daß dieser Körper so funktioniert, wie er in unserer physischen Umgebung funktioniert« 73. Eine wichtige Untergruppe innerhalb der Orientierungsmetaphern bilden die Gefäßmetaphern. »Jeder Mensch ist ein Gefäß mit einer begrenzenden Oberfläche und einer Innen-Außen-Orientierung«, schreiben Lakoff und Johnson74 und zeigen dabei die Wirksamkeit von Gefäßmetaphern etwa in bezug auf Landflächen (ich bin im Wald, es gibt viel Wein in der Provence), das Blickfeld (ich habe nicht alle Kinder im Blick) und auf Ereignisse, Handlungen, Tätigkeiten und Zustände (mitten im Rennen ging ihm der Sprit aus, in der Diskussion sagt sie nichts, sie ist in Liebe entbrannt, er fiel in eine Depression). Wichtig für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die Einsicht, daß es so etwas wie ›direkte physische Erfahrung‹ nicht gibt, sondern daß jede Erfahrung lediglich innerhalb eines Kosmos kultureller metaphorischer Vorgaben und Muster gewonnen wird.75 Die generelle positive Konnotation eines funktionierenden Immunsystems – und damit der Gesundheit – läßt es als sehr plausibel erscheinen, daß ich alles, was meine Immunität erhöht, ebenfalls positiv konnotiere: folglich werde ich 72 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 11-21, insbesondere S. 12ff. 73 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 22ff. Lakoff und Johnson weisen zudem darauf hin, inwiefern Metaphern trotz ihres physikalischen Charakters von Kultur zu Kultur verschieden sein und wirken können; etwa liege in einigen Kulturen die Zukunft vor den Menschen, während sie in anderen hinter ihnen liege (S. 22); vgl. zum Aspekt, wie Sprache die eigene Sichtweise beeinflußt, neuerdings auch Lera Boroditsky: Wie prägt die Sprache unser Denken?, in: Max Brockmann (Hg.): Die Zukunftsmacher, aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Frankfurt a.M. 2010, S. 134-149. – Ebenso weist Olivier Le Guen darauf hin, daß Orientierung im Raume sich keineswegs immer am Ich ausrichte (egozentrischer Referenzrahmen); Yucatec-Mayas etwa bevorzugten geozentrische Referenzrahmen, bei welchen die Position eines Objekts hinsichtlich stabiler äußerer Standpunkte und Winkel beschrieben werde. Siehe O. L. G: Geocentric Gestural Deixis among Yucatec Maya (Quintana Roo, México), in: 18th IACCP Book of Selected Congress Papers, Athens 2009, S. 123136 (www.iaccp.org/drupal/sites/default/files/spetses_pdf/15_LeGuen.pdf). – Vgl. auch O. L. G.: Cognitive Anthropological Fieldwork, in: Topics in Cognitive Science, Band 4, Heft 3, Juli 2012, S. 445-452 (doi: 10.1111/j.1756-8765.2012.01192.x). 74 | George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 39ff. 75 | Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern, a.a.O., S. 71.

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beispielsweise einen konkret erlebten Innenraum als positiv empfinden, wenn er mir Schutz bietet, im Winter Wärme erhält und auf diese Weise, im Kontrast zum unwirtlichen Außenbereich des Frostes, den Sinn der Wärme für mich erlebbar macht. Metaphern sind daher nicht nur eine Sache der menschlichen Kunst, mit Worten zu reden und sich zu unterhalten, vielmehr zeigt sich, daß Menschen bereits vor den wortsprachlichen Überlegungen metaphorisch denken und verstehen. Begriffsmetaphern (conceptual metaphors) sind also Teil des menschlichen Denkens, linguistische Metaphern hingegen Teil der menschlichen Sprache (language).76 Zum anderen basiert die Übertragungsprämisse auf der Sphärologie von Peter Sloterdijk. Darin zeigt dieser, daß »Übertragung die Formquelle von schöpferischen Vorgängen ist, die den Exodus der Menschen ins Offene beflügeln. Wir übertragen nicht so sehr unbelehrbare Affekte auf fremde Personen als frühe Raumerfahrungen auf neue Orte und primäre Bewegungen auf ferne Schauplätze. Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt« 77. So ist die Sphärologie eine globale Anthropologie in bezug auf alle Formen von Immunräumen; man kann sie als »Allgemeine Immunologie« 78 begreifen. Menschen evozieren Innenräume als immunologische Sphären, wobei Sphären jene Orte bezeichnen, die Menschen erzeugen, »um zu haben, worin sie vorkommen können als die, die sie sind« 79; Sphären üben daher eine Schutzfunktion gegenüber dem Außen aus. So eröffnet eine Sphäre »das innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen […]. In Sphären leben heißt, die Dimension erzeugen, in der Menschen enthalten sein können. Sphären sind immunsystemisch wirksame Raumschöpfungen für ekstatische Wesen, an denen das Außen arbeitet« 80; sie sind »ontologische Membranhüllen zwischen Innerem und Äußerem«81. Der immunologische Aspekt des Sphärenbegriffs stammt damit vom biologischen Begriff der Immunität ab (welcher wiederum auf die römische immunitas zurückgeht), wird allerdings von diesem biologischen Begriff aus übertragen auf politische, kulturelle, technische, ökologische, psychologische, rechtliche und religiöse Bereiche. In Sloterdijks historisch-zeitlich tief und phänomenologisch panoramal angelegter anthropotechnologischer Kulturgeschichte ›Du mußt dein Leben ändern‹ heißt es in bezug auf diese mit Hilfe von Übertragung immunisierten Bereiche: »Immunsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz: Das solidaristische System garantiert Rechtssicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todes76 | George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors we live by, (2003), a.a.O., S. 247 (Afterword). 77 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 11-14, Zitat S. 14. 78 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 709. 79 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 80 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 81 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 30.

Einleitung gewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: ›Leben‹ ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.« 82

Oder, um letztere Definition des Lebens explizit raumsprachlich umzuformulieren: ›Leben‹ ist die vorübergehend gelingende Aufrechterhaltung eines zusammenhängenden eigenen und zugleich sozial und umweltlich ausgerichteten Innenraumsystems. Wenigstens stichwortartig ist an dieser Stelle anzumerken, daß in Sachen Metaphorik der Räume eine im Ansatz verwandte Skizze bereits Johannes Scotus Eriugena in einem naturphilosophischen christlich-neuplatonischen Zusammenhang erläutert hat. Er stellt in seiner ›Einteilung der Natur‹ (Periphyseon) dar, daß Teile der alltäglichen Welt lediglich im metonymischen Sinne als Räume betrachtet werden können (»per metonymiam, id est transnominationem«83), sie durch Übertragung nach demjenigen benannt werden, was sie umfängt. So ergeben sich potentiell unzählige metonymisch ›umgetaufte‹ wie metaphorisch verwendete alltägliche wie wissenschaftliche Komposita mit dem Begriff Raum, etwa in Ausdrücken wie politischer Raum, gesellschaftlicher Raum, öffentlicher Raum, kultureller Raum etc. (auf die ich unten zu Beginn des Raum-Hauptteils in Stichworten zurückkomme). Entsprechend dieser Hinweise ist zu sagen, daß Menschen von ihren Anfängen an Übertragungswesen sind. Dem eingangs formulierten Satz »Ich erlebe einen Raum, also bin ich« läßt sich daher der folgende hinzufügen: »Ich übertrage einen Raum, also bin ich.« En passant sind diese beiden Sätze auch ein Ausdruck für den Befund, daß menschliches Leben kein statisches Phänomen darstellt, sondern einen unaufhörlichen Aufrechterhaltungsprozeß bildet: ich übertrage andauernd und rufe gerade in dieser Übertragungskonstanz stets aufs neue veränderte sowie neue Räume hervor, in denen ich leben und überleben kann. Nur wenn ich nachts schlafe, übertrage ich nicht, sondern der Schlaf trägt mich hinüber in den neuen Tag.

Prämissenfazit Neben den allgemeinen Geboten der Transparenz, Nachprüf barkeit und Wiederholbarkeit von Experimenten und Laborversuchen in den empirischen Wissenschaften zählt ausdrücklich-gemachtes Methodenbewußtsein zum zentralen, für das selbstreflexive Bewußtsein entscheidenden Charakteristikum neuzeitlicher Wissenschaft.84 Erst im ausdrücklichen Bewußtsein, einen bestimmten Experi82 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 709f. 83 | Johannes Scotus Eriugena: De divisione naturae (Periphyseon), Buch I, Kapitel 37. Jacques Paul Migne (Hg.): Patrologia Latina (MPL), Band 122, S. 480f. – Deutsche Ausgabe: Über die Einteilung der Natur, übersetzt von Ludwig Noack, Hamburg 31994. 84 | René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, (1637), aus dem Französischen von Kuno Fischer, Stuttgart 1990; Francis Bacon: Neues Organon, (London 1620), Teilband 1 und 2, Lateinisch-Deutsch, hg. von Wolfgang Krohn, deutscher Text von Rudolf Hoffmann, Hamburg 21999. In der antiken Philosophie hatte insbesondere Platon großes Methodenbewußtsein, welches sich allerdings nur implizit zeigt – in seiner Entscheidung, den geschriebenen Teil seiner Philosophie in Form von Dialogen,

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Selbst und Raum

menteweg einzuschlagen, eine bestimmte Perspektive einzunehmen, beziehungsweise eine bestimmte Art zu haben, Fragen zu stellen, um an ein Ergebnis zu gelangen, wird zureichend deutlich, inwiefern die Reflexion des Weges und der Fragestellung so bedeutsam und aufschlußreich ist wie die Befunde und die Antworten selbst; ja, es wird klar, daß erst in der reflexiven Spiegelung dieses methodischen Bewußtseins Ergebnisse, Resultate und Antworten sich verständig einordnen, in ihrer historischen, sozialen, epistemologischen Relativität begreifen und in ihrer wissenschaftshistorischen Kontingenz durchleuchten lassen: Welche teleologischen, funktionalen, zweckgebundenen Ziele verfolgen Gelehrte und Forscher hier oder da, wie gehen sie vor, welche Rolle spielen ihre Person, ihr historischer, wissenschaftshistorischer und ihr akademisch-sozialer Ort im Rahmen der Forschungsgeschichte und im Kontext der gewählten Methode? In Anwendung dieser historisch evolutionierten Verfahrensweise gelangen sie zu einem durchaus bedingten Resultat und einer durchaus fragwürdigen Einsicht, und in Anwendung jener anderen Promenierart kommen sie zu anderen, ebenfalls durchaus bedingten Schlußfolgerungen etc. Die Erinnerung an dieses Methodenbewußtsein ist von Belang, um die hier vorgenommene methodologische Einordnung dieser Arbeit andeuten zu können, die ich auch als eine Konvergenztheorie anzulegen versuche; in dieser sollen naturwissenschaftliche Methodik und alltagsperspektivische Phänomenologie aufeinander zugeführt werden. Dabei müssen dem Prinzip nach beschriebene Sachverhalte – wie das subjektive Raumerleben – letztlich von unterschiedlichen Perspektiven aus zu beschreiben und in Deckung zu bringen sein, aus der phänomenologischen, raumpsychologischen, funktionalen, konstruktivistisch-repräsentationalistischen und neurowissenschaftlichen Perspektive. Gerade der Perspektiven- und Beschreibungspluralismus liefert – so lautet zumindest der Anspruch – ein vollständigeres Bild der jeweiligen Frage und führt zu einem komplexeren und letzten Endes sachlich angemesseneren Verständnis des Problems. Die Erläuterung der Prämissen – hinsichtlich der wissenschaftlich-empiristischen Methode, des Bewußtseinsbegriffs (und des Intentionalitätsbegriffs), der Innen-Außen-Spannung sowie der Übertragung – hat die perspektivisch vielschichtige Einbettung der Frage nach dem Raum und dem Selbst zureichend deutlich gemacht.

Geschichten und Gleichnissen zu erzählen und nicht in Form einer logisch-philosophischen Abhandlung.

I. Erster Hauptteil: Der Raum

Wir gestalten unsere Gebäude, und dann gestalten unsere Gebäude uns. Winston Churchill1

1 | Im Original: »We shape our buildings, and afterwards our buildings shape us.« Rede am 28. Oktober 1943 vor dem House of Commons, zusammengetreten im House of Lords, über die Frage, ob die während des Blitz – NS-Deutschlands Luftkrieg gegen England – am 10. Mai 1941 vollständig zerstörte Kammer wiederaufzubauen sei; Churchill, der Jahrzehnte in diesem Gebäude gewirkt hatte, bejahte die Frage vehement. Die Kammer wurde schließlich rekonstruiert und 1950 wieder bezogen. In: Never Give In! The best of Winston Churchill’s Speeches, hg. von seinem Enkel Winston S. Churchill, New York 2003, S. 358. Erwähnenswert sind zwei weitere Hinweise auf mit Churchill verknüpfte Raumassoziationen. Der erste Hinweis richtet sich auf Churchills epochales Wort vom Eisernen Vorhang. Churchill war nicht der Erfinder dieser zu seiner Zeit durchaus nicht unüblichen Metapher, mittels derer man die Rede vom eisernen ›Brandschutzvorhang‹ der Theaterbühne auf die politische Sphäre übertrug; doch wurde sie erst durch seine Verwendung berühmt. Dies geschah in der Rede ›The Sinews of Peace‹, bekannt auch als ›Iron Curtain‹-Rede, die er am 5. März 1946 am Westminster College in Fulton, Missouri vor einer akademischen wie journalistischen Zuhörerschaft hielt. – Der zweite Hinweis ist onomastischer Natur und bezieht sich auf Churchills Name, der einen beim Kirchenhügel (church hill) wohnenden Menschen bezeichnet; theoretisch denkbar, wenngleich in der Onomastik nicht diskutiert, wäre auch die Anspielung auf einen Menschen, den es in der Kirche ›fröstelt‹ (church chill).

Kapitel I.1 Der hier zunächst verwendete Raumbegriff und mögliche Erweiterungen

A llgemeine A nmerkung : R aum , wo wohnst du ? Weil diese Arbeit vornehmlich die Frage nach dem dyadischen Zusammenspiel von Raum- und Selbsterleben behandelt, darf auf eine erschöpfende Diskussion der vielschichtigen Evolution des Raumbegriffs und dessen abwechslungsreichen Verständnisformen verzichtet werden. Stattdessen konzentriere ich mich ausschnittsweise auf geschichtlich augenfällige und gegenwärtig drängende raumtheoretische Standpunkte und rücke sie in den Zusammenhang und den Blickwinkel der Eingangsthese. Das heißt von einer phänomenologischen Perspektive ausgehend, begreife ich unter Raum zuerst eine in der Raumdiskussion so unstrittige wie griffige Raumform, nämlich den konkreten Innenraum. Etwa in der Form, in der vom eigenen Wohnzimmer die Rede ist, vom Schlafzimmer, von der Küche, vom Bad oder vom ›Stillen Ort‹1; oder auch von der Besenkammer, vom Zugabteil, von Raum 305 der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Die Ur-Fassung und Ur-Gestalt eines menschlichen Raums ist damit zunächst die »Umschließung eines Subjekts […]« (August Schmarsow2). Der bezeichnete Raum 305 wäre in diesem Fall ein geographisch und lokal bestimmbarer Seminarraum, oder aus einer physikalisch behördlichen Außenperspektive formuliert: ein bestimmtes Behältnis zum Zwecke des geregelten Aufenthalts der zur Hochschule gehörenden akademischen Subjekte.3 Wer beim Betreten dieses Raums die Türe hinter sich schließt, trennt sich von den übrigen Partien des Gebäudes ab und ist entsprechend für sich bzw. mit jenen 1 | Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort, Berlin 2012. 2 | August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, (Antrittsvorlesung Universität Leipzig, 8.11.1893), Leipzig 1894, zitiert nach: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie, a.a.O., S. 472. 3 | Zum zentralen heterotopischen Aspekt, welcher mit dem akademischen Raum von Anfang an verbunden ist, siehe Peter Sloterdijk: Die Akademie als Heterotopie. Rede zur Eröffnung des Wintersemesters an der HfG Karlsruhe, in: Marc Jongen (Hg.): Philosophie des Raumes, a.a.O.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

außer ihm selbst anwesenden üblichen Hochschulverdächtigen alleine. Das zentrale baulich charakteristische Merkmal eines so verstandenen Raums ist daher seine Begrenztheit bzw. seine Grenze, die schlichte Tatsache, daß er ringsumher sowie oben und unten umgrenzt ist und eine verschließbare Öffnung aufweist. Jenseits dieses zunächst ersten Verständnisses konkreter Räumlichkeit – zunächst auch deshalb, weil, wie ich im III. Hauptteil zu zeigen versuche, das Erleben auch eines konkreten Innenraums bereits Resultat eines vom Menschen durchgeführten unbewußten Konstruktionsvorgangs ist – sind unter Raum sämtliche komplexeren Raumgebilde zu verstehen – übertragene, metaphorische, virtuelle, telekommunikative oder wie auch immer ineinandergeschachtelte Raumarten (ich komme hierauf gleich zurück). Zu beachten bleibt, daß der Raum einerseits aus einer Außenperspektive betrachtet und bestimmt werden kann – der Raum als Objekt –, und andererseits aus der Innenperspektive, der Erlebensperspektive eines Menschen. Die Innen- oder Erlebensperspektive, die Frage, wie Menschen Räume erleben oder was Räume mit Menschen anstellen, steht vornehmlich im Zentrum der Fragestellung dieser Arbeit.

S pr achgeschichtlicher H inweis auf den B egriff des ›S patiums ‹ Diesseits dieses Erlebensverständnisses läßt sich der Raum bereits in einer sprachgeschichtlich inspirierten Draufsicht als jenes im alltäglichen Zusammenhang anfangs unauffällige Phänomen erfassen, welches sich den Menschen durch das Gehen oder allgemeiner durch die Körperbewegung überhaupt erst auftut, nämlich im Zuge des ›Spazierens‹. Der Begriff des Spazierens leitet sich etymologisch vom lateinischen spatium ab und meint in seiner Grundbedeutung so viel wie Zwischenraum, im Druckwesen den Zwischenraum nach und zwischen den Satzzeichen, und zielt auf das Wortfeld Entfernung, Raum, Größe, Weite, Umfang, Länge, Breite – auch auf Lauf bahn, Zeitraum, Freiraum. Ohne dieses Spatium, diesen Zwischenraum, und wäre dieser noch so verschwindend klein, wäre kein Wachstum möglich, anthropologisch-ontogenetisch gesprochen kein Wachstum eines Embryos und ontologisch überhaupt kein Sein. Am Anfang war der Zwischenraum. Man könnte es mit einer wenig verbreiteten descartesschen Formulierung ausdrücken, wenn auch in einem nicht-cartesianischen Sinn: »Ego ambulo, ergo sum«4 – ich spaziere (eröffne einen Raum), also bin ich. Erst wenn ich spaziere, 4 | Für René Descartes eröffnet sich durch das alltagssprachlich verstandene Spazieren kein sicheres Bewußtsein (cogitatio) von sich, sondern lediglich die (trügerische) Wahrnehmung, daß man spazierengehe (träume ich nur?). Siehe dazu diese Passage: »Cogitationis nomine, intelligo illa omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est. Atque ita non modo intelligere, velle, imaginari, sed etiam sentire, idem est hic quod cogitare. Nam si dicam, ego video, vel ego ambulo, ergo sum; & hoc intelligam de visione, aut ambulatione, quae corpore peragitur, conclusio non est absolute certa; quia, ut saepe fit in somnis, possum putare me videre, vel ambulare, quamvis oculos non aperiam, & loco non movear, atque etiam forte, quamvis nullum habeam corpus. Sed si intelligam de

Kapitel I.1

einen Raum eröffne, einen Raum einrichte, einen Raum imaginiere, einen Raum erlebe, erst dann komme ich wirklich zu mir, erst dann erlebe ich mich, erst dann erlebe ich das, was ich ›mein Ich‹ nennen muß. Weil ich spaziere und damit einen intakten Innenraum erlebe, erlebe ich ein intaktes Ich.

R aumarten Natürliche Räume Erinnert sei zunächst an jene in der Natur von sich aus vorfindbaren Phänomene, die von Menschen als Räume verwendet werden können. Höhlen. (Die Faszination von Höhlen entsteht einer Interpretation Hans Blumenbergs zufolge unter dem Aspekt eines möglichen Rückgangs in die eigene anthropologische Zeitraumtiefe.5) Erdlöcher.6 Canyons und Schluchten. Bäume: Baumdächer, Baumschatten, Baumaussichten (die natürlichen Vorläufer des Aussichtsturms); überhaupt Wälder und Lichtungen. Oasen. Bäche, Flüsse, Seen (die natürlichen Vorläufer des gebauten Bades, der Waschküche, des Lebensmittelladens). Meeresbuchten (die natürlichen Vorläufer des gebauten Hafens). Ausgehöhlte Holzstämme (die natürlichen Vorläufer des Kanus und indirekt des Schiffs), umgefallene Baumstämme über Bächen (die natürlichen Vorläufer der Brücke) etc. ipso sensu sive conscientia videndi aut ambulandi, quia tunc refertur ad mentem, quae sola sentit sive cogitat se videre aut ambulare, est plane certa.« (Kursive Hervorhebung M.M.), in: Œuvres de Descartes: Principia Philosophiae, Band VIII, Teilband 1, publiées par Charles Adam & Paul Tannery, Paris 1973, Pars Prima, Absatz IX, S. 7f. Eine weitverbreitete deutsche Übersetzung dieser Passage stammt von Artur Buchenau: »Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Einbilden, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: ›Ich sehe, oder: ich gehe, also bin ich,‹ und ich dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittels des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluß nicht durchaus sicher; denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt; ja, dies könnte geschehen, ohne daß ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder von dem Bewußtsein (conscientia) meines Sehens oder Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge.« (René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg 71965, S. 3.) – (Vgl. dazu auch René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. und übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg 1972, Anhang zu den zweiten Erwiderungen: Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes und der Unterschiedenheit der Seele vom Körper, nach geometrischer Methode geordnet. Erster Abschnitt der Definitionen, S. 145, insbesondere auch Fußnote 2.) 5 | Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989. 6 | Vgl. den Erdlochroman von J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K., München 1986, sowie Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, Frankfurt a.M. 1992, sowie Jan Philipp Reemtsma: Im Keller, Hamburg 1997. Vgl. auch das Schicksal von Kaspar Hauser.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Gebaute Räume Ins Blickfeld kommen nach den natürlichen Räumen die von Menschen gebauten Räume: Lager. Zelt. Zimmer. Haus mit all seinen Räumlichkeiten.7 Dorf. Stadt. Marktplatz und überhaupt Plätze und Straßen.8 Hallen. Spielfelder. Gärten. Parks etc. Bereits diese wenigen Beispiele machen anschaulich, daß menschliche Architektur ursprünglich nichts anderes ist als die technisch-geplante Fortführung oder künstliche Verdoppelung und Nachschöpfung der natürlich gewachsenen oder von selbst entstandenen Räumlichkeiten. Dabei ist für die Grundform jedes gebauten Wohninnenraumes entscheidend, daß er Wände, eine Decke, wenigstens eine Türe und in der Regel mindestens ein Fenster hat.9

Metaphorische Räume Nach den natürlichen und gebauten Räumen eröffnet sich jene Sphäre der metaphorischen oder übertragenen Räume mit ihren der Zahl nach prinzipiell ins Unendliche gehenden Ausprägungen. Die für die sozial-intime Einbettung des Ichs grundlegenden Humanräume sind Mutter-Kind, Eltern-Kind, Paare und Familien, darüberhinausgehend Verwandtschaften, Cliquen, Freundeskreise und auf dem allgemeinen sozialen Feld Nachbarschaften, Stadtbürgerschaften, Berufsgruppen, gegebenenfalls Nationen und die Menschheit. Zugleich erbaut jeder Mensch fast nolens volens Innenräume mit einer stark persönlichen Tinktur, von deren Existenz oft nur er weiß, der Raum gewisser, von einem Menschen hochgehaltener Gedichte etwa, der Raum einer heimlichen Leidenschaft, von der niemand etwas erfahren darf, der Raum alleine genossener musischer Handlungen wie das Morgens-im-See-schwimmen oder der Rückzug in den »Schilfpalast« (Stefan George), in dem ein Kind einsame Sommerstunden zubringt10. Schilfgewächse können demnach einen metaphorischen Raum bilden, ja sogar ein einzelnes Schilfrohr kann das erreichen, wie zumindest Blaise Pascal nahelegt, wenn er den Menschen als »denkendes Schilfrohr«11 deutet. Das Schilf7 | Friedrich Schiller: »Der Drang einer innern tätigen Natur, verbunden mit der Dürftigkeit der mütterlichen Gegend, lehrte unsere Stammväter kühner denken und erfand ihnen ein Haus.« (Dissertation) In: F. S.: Sämtliche Werke in fünf Bänden, auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, München und Wien 2004, Band V, S. 303f. 8 | Der polnisch-französische Autor Georges Perec hat in seinen Büchern zahlreiche phänomenologische Erkundungen des Raumerlebens durchgeführt und dabei etliche alltägliche Lebensräume dichterisch reflektiert, siehe etwa G. P.: Träume von Räumen, aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Bremen 1990; sowie G. P.: Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen, aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Lengwil 2010. 9 | Vgl. in Mexiko die offenen Häuserseiten zum geschlossenen Urwald hin. 10 | Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, Biographie, München 2007. 11 | Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände, aus dem Französischen von Ewald Wasmuth, Frankfurt a.M. 1987, Abteilung VI. Die Philosophen, Fragment 247, S. 167.

Kapitel I.1

rohr wird zum Innenraum, in dem der Mensch zu sich kommt, von dem aus er das ganze Weltall wie durch ein Teleskop erfaßt und begreift. So gesehen ist das Zimmer, in dem der Mensch sich findet und seine Situation versteht, auch ein gedankenvolles Schilfrohr. Eine Appartementanlage, was wäre sie anderes als ein in die Höhe transponiertes steinernes Schilf für denkende Schilfrohre? Raum-Begriffe können im übrigen ihrerseits als Metaphern für andere metaphorisch begründete Räume verwendet werden, so etwa der Ausdruck ›Kristallpalast‹ (Crystal Palace). War er ursprünglich eine satirische Wendung des englischen Satiremagazins ›Punch‹ in Anspielung auf das Ausstellungsgebäude der ersten Weltausstellung 1851 in London, verwendet Fjodor Dostojewski ihn in den ›Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‹12 als Metapher für den Westen und westliche Ideen; Peter Sloterdijk wiederum verwendet ihn in Anspielung auf Dostojewski als Metapher für die westliche Komfortzivilisation.13 (Man könnte ihn auch als Ausdruck für die säkularisierte Wiedergeburt der zerbrochenen Kristallschalen des Sphärenhimmels interpretieren. Der Kristallpalast – das neue glitzernde Gehäuse der Immunität.) Den Ausdruck ›Schäume‹ wiederum verwendet Peter Sloterdijk als Metapher für das »multifokal, multiperspektivisch und heterarchisch«14 entfaltete Leben moderner, in Staaten gefaßter Gesellschaften. Andererseits läßt sich auch eine Übertragung von gebauter Architektur auf eine Landschaft beobachten, so daß mit Hilfe eines Hauses auch eine Landschaft erfaßt und verstanden werden kann. So etwa das im Lied besungene ›Hotel California‹; mit ihm läßt sich ein vom Klima begünstigter, vom Pazifik stimulierter Küstenstrich als längste Komfortabsteige der Welt interpretieren – Zimmerservice inklusive.15

Heterotopische Räume Heterotopien sind konkrete, von Menschen ins Leben gerufene, aber nicht jedermann zugängliche, umgrenzte Räume, die sich gerade in ihrer Umschlossenheit von der Umgebung absetzen und damit über ihr konkretes Dasein hinausweisen.16 12 | Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, a.a.O. 13 | Zu diesem Zusammenhang vgl. Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a.M. 2005, S. 265. 14 | Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 23. – Ich gehe unten im ›Kapitel II.3.c: Skeptizismus oder die Auflösung des Selbst‹ kurz auf beispielhafte Modelle ›heterarchischer Selbste‹ ein. 15 | Eagles: Hotel California (Popsong), in: Hotel California (Asylum), 1976. Der Hinweis auf das ›Hotel California‹ ist zwar inspiriert von dem genannten Popsong, soll jedoch unabhängig vom eigentlichen Liedtext und der darin aufscheinenden Erzählung über einen zwielichtigen Ort – ein Drogenparadies? eine Drogenhölle? – verstanden werden. Zumal das Lied bei vielen Hörern textunabhängig einfach ein tiefes wohlgelauntes Strandfeeling hervorrufen dürfte, insbesondere wenn die Zeilen »Welcome to the Hotel California« und »What a lovely place« erklingen – und aufgrund dieser Tatsache ist meine angedeutete Interpretation zu rechtfertigen. 16 | Michel Foucault führte den Begriff Heterotopie am 14. März 1967 in einem Vortrag am Pariser Cercle d’Etudes Architecturales in die Raumtheoriedebatte ein, wörtlich übersetzt bedeutet er ›der andere Ort‹. Siehe M. F.: Andere Räume, deutsch in: Aisthesis. Wahrneh-

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Es handelt sich also um konkrete und zugleich metaphorische Räume: So beinhaltet Platons Akademie-Gründung vor den Toren der Stadt Athen wohl zugleich die These, daß der Ort des Nachdenkens – ein konkreter Hain – ein anderer sein sollte als der öffentliche vielstimmige und widersprüchliche Raum der Stadt. Platon trifft so mit seinem Auszug aus Athen auch eine Aussage über die Stadt. Michel Foucault nennt als Beispiele für Heterotopien Spiegel, Erholungsheime, Psychiatrien, Altersheime, Friedhöfe, Theater, Kinos, Gärten, Museen, Bibliotheken, Festwiesen, Feriendörfer, Kolonien, Hammams, Saunen, Motelzimmer, Bordelle und vor allem das Schiff als »die Heterotopie schlechthin«17. Peter Sloterdijk, Jürgen Hasse, Nadine Marquardt und Verena Schreiber listen weitere Formen der Heterotopie auf: neben der bereits genannten Akademie18 etwa Sportstätten, Ferieninseln, Wallfahrtsorte, Mirakelhöfe, verschiedene Arten von no-go-areas19, Parkplätze und Parkhäuser20, oder auch (nicht immer rein heterotopische) Räume wie Asyl, Augmented Reality, Banlieue, Bildungslandschaft, Borderlands, Castor, Cloud, Coworking Space, Dark Room, Deponie, Diaspora, Evakuierungszone, Fanmeile, Gated Community, in vitro, Kiez, Labor, Lager, Lounge, Niemandsland, Offshore, Outdoor, Quarantäne, Rechenzentrum, Reservat, Resort, Spa, Stall, Terminal, Übertragungsweg, Vertikale Farm, Zelt etc.21 Anzumerken ist an dieser Stelle, daß aufgrund der Übertragbarkeit konkreter Räumlichkeit auf metaphorische Räumlichkeit und umgekehrt, aus der Außenperspektive bestimmte buchstäbliche Innenräume auf Menschen wie übertragene Außenräume wirken können; ertrage ich zum Beispiel in einer Diskothek die laute Musik nicht, bin ich aus der Außenperspektive in einem metaphorischen Außenraum und zugleich in einem konkreten Innenraum (wobei ich in der Innenperspektive vor allem in dem erlebten Außenraum der mich quälenden lauten Musik bin – der konkrete Diskoinnenraum spielt dann für mein Erleben keine entscheidende Rolle).

G enerell unz ählbar viele B egriffskombinationen Nun erscheinen in der labyrinthischen Geschichte der Raumtheorie als auch in der alltäglichen Lebenswelt unzählige Zusammensetzungen mit dem Begriff ›Raum‹, und deren inkommensurabel hohe Zahl ist nicht nur ein Ausdruck dafür, wie geeignet der Raumbegriff sein kann, um in der Wissenschaft wie im Alltag untermung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Heidi Paris, Peter Gente u.a., Leipzig 41992. 17 | Michel Foucault: Andere Räume, a.a.O., S. 47. 18 | Peter Sloterdijk: Die Akademie als Heterotopie, a.a.O. 19 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 345f. 20 | Jürgen Hasse: Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007. – Zu weiteren, allzu leicht ›übersehenen‹ Räumen wie Flughafenlounges, Räumen der umbauten Stille, des abstoßenden Geruchs und Räumen unterschiedlicher Windstärken siehe auch Jürgen Hasse: Die Aura des Einfachen. Mikrologien räumlichen Erlebens, Band 1, Freiburg/München 2017. 21 | Nadine Marquardt und Verena Schreiber (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld 2012.

Kapitel I.1

schiedlichste Seinsverhältnisse und Situationen des Menschen sprachlich in den vereinigenden Griff zu bekommen, sondern sie ist auf einer anthropologischen Ebene auch ein Indiz dafür, wie sehr das Menschsein mit dem ›Denken und Fühlen in Raumzusammenhängen‹ verschmolzen ist. Stellvertretend führe ich hier nur wenige Beispiele für Kombinationen mit dem Raumbegriff und denkbare Komposita nahezu unkommentiert und listenartig an:22 Räume der Sinne und des Sinnlichen: • Sichtbarer Raum (Augenraum/Gesichtskreis; durchsichtige und gläserne Räume; opake und verhüllte Räume), Hörraum23, Tastraum, Fühlraum, Geschmacksraum, Geruchs- und Duftraum. Schmerzraum. Zeitraum (im Sinne von Unrast, Gelassenheit, immer mit der Ruhe etc.) • Tagraum, Nachtraum, Dämmerungsraum (morgens/abends), Sonnen- und Schattenraum.24 • Kinästhetischer Raum (anthropologisch: die durch Bewegungs- und Lageempfindungen erschlossene unmittelbare Situation, sozial: der private wie städtische Bewegungsraum). Emotionalisierte Räume, übertragen wie konkret: • Glückliche Räume – Räume der Liebe und der Freundschaft. Konkret zum Beispiel auch die nach persönlichen Maßstäben eingerichtete erwünschte eigene Wohnung in erwünschter Wohnlage. • Feindliche Räume – »Räume des Hasses und des Kampfes« (Bollnow25). Konkret zum Beispiel die als unangenehm empfundene Gefängniszelle. • Gleichgültige Räume. Konkret zum Beispiel die einen womöglich weder bedrängende noch erfreuende Bahnhofswartelounge.

22 | Eine ausführlichere, kommentierte, zum Teil von dieser hier präsentierten stark abweichende Liste bietet Alexander Gosztonyi: Der Raum, a.a.O., S. 36-51. 23 | Vgl. Friedrich Kümmel: Vom beherrschenden Raum des Sehens zum gelebten Raum des Hörens. Geistesgeschichtliche Reminiszenzen zum bedeutendsten Übergang in der Menschwerdung des Menschen, in: Christoph Ertle und Hartmut Flechsig (Hg.): Ganz Ohr, ganz Auge. Zugangswege zu musikalischen Bezugsfeldern in Schule und Lebenswelt, BaltmannsweilerHohengehren 1997, S. 46-91. – Siehe auch Peter Sloterdijk: Wo sind wir, wenn wir Musik hören?, in: P. S.: Weltfremdheit, Frankfurt a.M. 1993, S. 294-325, sowie Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995, darin das Kapitel III: ›Der Gehörraum‹, S. 102ff. – Zum Hörraum zählen auch bewußt wahrgenommene Räume der Stille; einen solchen Raum eröffnete etwa John Cage mit seiner Aufführung des (stillen) Musikstücks 4’33’’, vgl. dazu: Michael Rebhahn: Die Schwierigkeit, aus dem Rahmen zu fallen. John Cages Vertrauen in die Aura des Kunstwerks, in: Neue Zeitschrift für Musik, Heft 2, 2012, S. 20. 24 | Zum Tag- und Nachtraum sowie überhaupt zum Raum der Sinne siehe besonders Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 171ff. sowie S. 250. 25 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 252. Siehe auch Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld 2011.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Phänomenologische Raumwahrnehmung der eigenen Lebensräume: • Gelebter Raum (Dürckheim) oder erlebter Raum (Bollnow).26 • Gestimmter Raum/atmosphärischer Raum. Ästhetischer Raum. • Eigener Raum, untergliedert in Bewegungsraum, Lebensraum, Besitzraum. • Geteilter Raum (Dyade). • Fremder Raum. • Innenraum (Hypothetischer Innenraum als Bewußtsein [bei Hermann Schmitz])/Außenraum (öffentlicher Raum). Biologische Räume: • Leibraum/Bewußtseinsraum. Körperraum/Umwelt. Temporale Räume: • Vergangener Raum, präsentischer Raum (»Tanz«27), zukünftiger Raum. Transzendente Räume: • Mythischer Raum.28 Religiöser Raum/Heiliger Raum.29 Grotten, Tempel, Kirchen, Klöster, Wüsten, Moscheen etc. Mediale Räume I: • Alle Formen von telekommunikativen und zwischenmenschliche Resonanzen ermöglichenden Systemen, die man Räume technischer Medien oder mediale Räume nennen kann, historisch vom antiken Bergleuchtfeuersystem in Griechenland, dem natürlichen Vorläufer der modernen Fernsehtürme, bis zu den heutigen satelliten- und glasfaserkabelgestützten globalen Nachrichtenkommunikationen inklusive den Internetschäumen. Mediale Räume II: • Zeichen, Symbole, Sprache. Codes.

26 | Zum vor allem grammatikalisch motivierten unterschiedlichen Gebrauch von ›gelebtem‹ und ›erlebtem‹ Raum bei Dürckheim und Bollnow siehe Bollnows Erläuterung dazu in: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 5ff. – Der von Bollnow verwendete Ausdruck ›erlebter Raum‹ ist für ihn dabei insofern fragwürdig, als er zu dem Mißverständnis führen könne, daß er lediglich das »›Erlebnis des Raums‹ im Sinn einer nur psychischen Gegebenheit« bezeichne, wohingegen der von Dürckheim verwendete Begriff des ›gelebten Raums‹ zwar den Vorteil habe, tatsächlich den Raum zu bezeichnen, insofern der Mensch in und mit ihm lebt, jedoch zugleich den Nachteil einer grammatikalisch falschen Verwendung aufweise (›gelebt‹). 27 | Bollnow über den Tanz als präsentischen Raum siehe: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 250. 28 | Vgl. dazu Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 2 und S. 112. – Sowie: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Band II: Das mythische Denken, Darmstadt 51969. 29 | Siehe zu religiösen Imaginationen des Raums in griechischer Metaphysik (Philon von Alexandrien) sowie im Judentum die Hinweise in: Alexander Gosztonyi: Der Raum, a.a.O., S. 123ff. – Zu sakraler Architektur siehe auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke Band 14, Frankfurt a.M. 1983, S. 267: der »Tempel als Umschließung Gottes«; auch S. 283ff. sowie S. 318ff.

Kapitel I.1

Übertragene Räume: • Metaphorischer Raum. • Fiktiver Raum. • Virtueller (entgrenzter, enträumlichter) Raum. Internet, Cyberspace und Co. Zum virtuellen Raum zählen auch: illusorischer Raum, halluzinatorischer Raum, der Raum im Spiegelbild30. Naturwissenschaftliche Räume: • Mathematischer, euklidischer, geometrischer Raum. Physikalischer Raum. Optischer Raum. Akustischer Raum der Schallwellen. Zeitraum. • Behälterräume. Geographische31 wie kosmologische Räume: • Unterirdischer Raum (zu See und zu Lande), Erdoberflächenraum, Luftraum. Kartographischer Raum, geodäsischer Raum, geologischer Raum. Weltraum, Intergalaxien. Kulturwissenschaftliche Räume: • Archäologischer Raum. Historiographischer Raum. Archiv, Erinnerungsort. Utopie, Dystopie, Heterotopie. Soziologische Räume: • Wirtschaftlicher Raum. Politischer Raum.32 Sozialer Raum. Privater Raum.

30 | Vgl. zum Spiegel auch Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008 – 2011, Berlin 2012, S. 98f. 31 | Der gebürtige Karlsruher Geograph Friedrich Ratzel gilt als der explizite Erfinder der epochemachenden Anthropogeographie (Buchtitel: Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte, Stuttgart 1882), welche den Einfluß von Natur- und Klimabedingungen sowie von Flora und Fauna auf die geschichtliche Entwicklung der Menschen untersucht; er prägte auch den Begriff ›Lebensraum‹ (Buchtitel: Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, Tübingen 1901). Zuvor hatten schon Herder und in dessen Folge Schiller in ihren jeweiligen geschichtsphilosophischen und geschichtlichen Darstellungen das miteinander korrespondierende Durchdrungensein von klimatischen, geographischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umständen betont. – Über die fatale Identifizierung von Volk, Person und Bodenfläche notiert Franz Rosenzweig: Erst die »Vereinigung von Volkspersonen« zu einer mit dem Gebiet verbundenen nationalen Gemeinschaft transformiere die »leere geometrische Fläche« in ein »lebendiges Etwas«: Die »Verlebendigung des toten Gebiets: das ist das Reich«, in: F. R.: Cannä und Gorlice. Eine Erörterung des strategischen Raumbegriffs, in: F. R.: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, Gesammelte Schriften III, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 283-295, Zitate S. 295). 32 | Siehe Friedrich Ratzel: Politische Geographie (München und Leipzig 1897), darin wissenschaftshistorisch wohl erstmals vom »politischen Raum« (S. 319) die Rede ist; siehe auch Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, worin der Ausdruck ›Raum des Politischen‹ Verwendung findet.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Politisch-öffentliche Räume: • Öffentlichkeit und Ausnahmezustand. Parlament (Bannmeile) und Kabinett. Bahnhöfe, Schiffs- und Flughäfen, Straßen und Plätze (besetzbare, besetzte Räume, besetzbare, besetzte Plätze33). Soziale Verkehrsräume: • Städte, Land-, Stadt-, Wasser- und Luftstraßen, Plätze, Fußgängerzonen, Gehsteige, Schwimmbahnen. Freizeitliche Landschaftsräume: • Natürliche Natur, Gärten, Landschaftsparks, Nationalparks. Forst- und Bannwälder. Touristische Räume: • Ferienanlagen, Ferienhäuser. Gasthäuser und Hotels. Bed and Breakfast privat. Jugendherbergen. Strände. Körperliche Räume: • Geschlecht, Aussehen, Auftreten. Habitus und Physiognomie. Militärische Räume: • Kriegschauplatz, Front, Etappe, Kommandostand. Kartenraum. Bildschirmraum. Videoraum. ›Situation Room‹ (der Krisenmanagement-, Konferenz- und Befehlsraum im Keller des Weißen Hauses). Kriegsgräber etc. Künstlerische Räume: • Architektonischer Raum. Theaterraum, Bühne, Garderobe. Atelier der Malerei, der Bildhauerei, des Schreibens. Filmset. Cyberspace. Räume der Literatur, der Musik, des Tanzes. Einsiedelei. Elfenbeinturm.

33 | Zu den unterschiedlichen politischen Dimensionen demonstrativ besetzter Plätze sei erinnert an den von chinesischen Studenten im Jahr 1989 monatelang besetzten Platz des Himmlischen Friedens in Peking, den Mittleren Schloßgarten nahe des Hauptbahnhofs Stuttgart, den inoffiziellen Revolutionsplatz Tahir in Kairo, den Zuccotti-Park im Finanzdistrikt in New York, den Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, den Taksim-Platz und den Gezi-Park in Istanbul und weitere besetzte Plätze in Spanien, Seattle, Moskau etc. Zu den New Yorker Okkupisten siehe Carla Blumenkranz, Keith Gessen, Christopher Glazek, Mark Greif, Sarah Leonard, Kathleen Ross, Nikil Saval, Eli Schmitt und Astra Taylor (Hg.): Occupy! Die ersten Wochen in New York. Ein Dokumentation, Berlin 2011; zum Stuttgarter Schloßgarten siehe etwa Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg, Berlin 2012. – Das implizite Motto aller Platzbesetzer lautet: Der Raum wird von uns besetzt, umfunktioniert, er wird zu uns, wir sind der Raum (dieses Platzes); je nach symbolisch-politischer Bedeutung des Platzes entfaltet die Besetzung eine entsprechend unterschiedliche politische Dynamik.

Kapitel I.2 Historischer Rückblick und raumbezogene Begriffe. Von Anaximandros bis Kant

A ntike R aumbegriffe im kurzen Ü berblick – P ol aroids Vor der Erläuterung wichtiger Raumbegriffe notiere ich die antiken Hauptwörter für den Raum tabellarisch und verkürzt dem Überblick zuliebe.1 Das wären Chóra, Tópos, Periéchon, Diástema, Kénon, Ápeiron, Kosmos, Spatium.

Chóra bezeichnet das Raumfeld, den Raumplatz, auf dem das Werdende erscheint (siehe unten).

Tópos charakterisiert innerhalb eines Raumumfelds zunächst den konkreten Ort, an welchem sich etwas befindet; wichtiger jedoch ist das Merkmal des Umschließenden: der Topos »umschließt seinen Gegenstand« (Aristoteles, Physik 211a2) oder ist »die Grenze des umschließenden Körpers« (Aristoteles, Physik 211b) oder »die Hülle des umgebenden Mittels« (Aristoteles, Physik 212a) (siehe unten).

1 | Hier stütze ich mich zum Teil auf die Überblicksdarstellung zum Begriff ›Raum‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 8, Basel 1992, S. 67-111. – Für ein so erschöpfendes wie detailliertes historisches Referat über die Geschichte des Raumbegriffs siehe das erwähnte Standardwerk von Alexander Gosztonyi: Der Raum, a.a.O. 2 | Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur, in: Aristoteles: Philosophische Schriften, übersetzt von Hans Günter Zekl, Band 6, Hamburg 1995.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Periéchon ist das aktiv Umfassende, Umfangende, damit auch Umgrenzende; und als Umgrenzendes verweist es zugleich auf das vom Umgrenzenden umgrenzte Feld.3 (Dieser Begriff ist damit verwandt mit ›Tópos‹ im Sinne des Umschließenden.)

Diástema entspricht in etwa der Ausdehnung zwischen den Innenrändern eines Gefäßes, eines Behälters, eines Innenraums (Aristoteles, Physik 211b7).

Kénon bezeichnet das Leere. Diese Leere läßt sich vom Nichts unterscheiden, nämlich dann, wenn Leere die Leere von etwas, also umgrenzt ist: siehe die Leere eines leeren Eimers, der die Leere gewissermaßen enthält; diese Leere ist vorstellbar und gewissermaßen mit Händen zu greifen.4 Hingegen ist das Nichts die Nichtexistenz von irgendetwas; daher ist es letztlich nicht vorstellbar, sondern nur logisch ableitbar.

3 | Die Verschmelzung von Grenzen und die Vereinigung von Aktivischem und Passivischem zeigt sich in der Lyrik idealtypisch in Goethes hymnischem Gedicht ›Ganymed‹. Siehe vor allem in der letzten Strophe im Vers 29 den Ausdruck »umfangend umfangen«: »Hinauf, hinauf strebt’s Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken Neigen sich der sehnenden Liebe, Mir, mir! In eurem Schoße Aufwärts, Umfangend umfangen! Aufwärts An deinem Busen, Alliebender Vater!« (Zitiert aus: Johann Wolfgang Goethe: Hamburger Ausgabe, Band 1: Gedichte und Epen I, hg. von Erich Trunz, Hamburg 161996, S. 46f.) 4 | Gemäß der atomistischen Ontologie läßt sich, was das Gegebene betrifft, sinnvoll nur von Atomen und von Leere reden. Mit dem Begriff der Leere öffnet sich die Tür zur Unendlichkeit: denn ›Leeres‹ ist hier inhärent nur denkbar als unbegrenzt; was in der Folge auch heißt, daß der Weltraum unendlich ist. Damit ist alles, was auf der Erde atomistisch der Fall ist, nur ein begrenzter Teil eines unteilbaren Unendlichen. (Siehe Demokrit: Fragment B 125, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz [im folgenden abgekürzt als: Diels-Kranz], Band II, Dublin und Zürich 1966, S. 168.) – Vgl. auf anthropologischem Theaterfeld Peter Brooks Hinweis auf den leeren Raum, der zur »nackten Bühne« wird, sobald ein Mann »durch den Raum (geht), während ihm ein anderer zusieht«. P. B.: Der leere Raum, (The Empty Space, London 1968), aus dem Englischen von Walter Hasenclever, Berlin 31983, S. 9.

Kapitel I.2

Ápeiron bezeichnet das Unbegrenzte, das Unerfahrbare.

Kosmos Der geordnete Raum, insbesondere das geordnete Weltall.

Spatium Wie oben angemerkt (Kap. I.1.: Hinweis auf das ›Spatium‹), verweist Spatium auf den Zwischenraum, dann auf Entfernung, Lauf bahn, Zeitraum, Freiraum. Von diesem Begriff her leiten sich spätere Wörter wie space, espace, spazio sowie das ›Spazieren‹ ab.

E rstes C har ak teristikum ›G renze ‹ Bereits der flüchtigste Blick zurück auf die frühen überlieferten abendländischen Weltentstehungs- und Raumentfaltungslehren offenbart das Charakteristikum der wohlbestimmten Umgrenzung. Indirekt präsentiert es sich bei Anaximandros, nach dessen Lehre die Welt aus dem ápeiron, dem Unbegrenzten5, entspringt. (Die moderne Astrophysik wird dafür das sonopoetische Bild finden, nach welchem die Welt aus einem Urknall entspringe; dabei werden ontologisch gesehen Raum und Zeit ›vor‹ diesem Urknall als nicht-existent gedacht6.) Auf der ontologischen Ebene entsteht der Kosmos damit aus einer sich wie auch immer und warum auch immer ereignenden beispiellosen Ur-Grenzschöpfung und Ur-Grenzziehung. Am Anfang war die Große Mauer – der Kosmos lichtet sich als Domäne von Grenzen, zeigt sich beschränkt und endlich: und nur so, als Grenzregime, kann er überhaupt sein. Dabei bleibt wie gesagt auf der anthropologischen Ebene der gegenteilige Begriff zum Begriff des Begrenzten, das Unbegrenzte, zwar logisch darstellbar, aber in der Anschauung im Unvorstellbaren zurück, kann gerade als Unbegrenztes nicht in Erscheinung treten; das Umgrenzte und Begrenzte allein tritt ins Gesichtsfeld und überhaupt ins sinnliche Feld. Auf der religionshistorischen Ebene macht Ernst Cassirer den Punkt deutlich, daß »die Heiligung« erst damit beginne, »daß aus dem Ganzen des Raumes ein bestimmtes Gebiet herausgelöst, von anderen Gebieten unterschieden und gewissermaßen religiös umfriedet und umhegt wird« 7. Ähnlich schreibt Mircea Elia5 | Anaximandros: Fragment A 10, Diels-Kranz Bd. I, S. 83, 28-30. – Ähnlich auch Anaxagoras: seiner Lehre gemäß wirbelt sich der Kosmos aus dem Unendlich-Chaotischen hervor (Fragment A 88, Diels-Kranz Bd. II, S. 26). 6 | Ausnahmeposition hiervon etwa: Martin Bojowald: Zurück vor den Urknall. Die ganze Geschichte des Universums, Frankfurt a.M. 2009. 7 | Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Band II: Das mythische Denken, S. 123.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

de, die menschliche Strukturierung des Raumes sei »nur die Wiederholung einer urzeitlichen Tat: der Umwandlung des Chaos in Kosmos durch den göttlichen Schöpfungsakt« 8. Das bedeutet hinsichtlich beider Statements, daß jeder als heilig deklarierte Bezirk oder jeder menschlich strukturierte Raum letztlich das vorgebliche ontologische Urgeschehen wiederhole, wie es laut dem Standardmodell der Physik bzw. laut der mythologischen Genesis am Anfang des Universums vorzustellen sei.9 Auch Parmenides bringt etwas dem eben gesagten in ontologischer Perspektive sinngemäß verwandtes zum Ausdruck, wenn nach ihm das Sein in seiner »Kugel«10 -Form sich als eine alles enthaltende Groß-Gestalt zeige. Dieses Sein sei demnach »rings umzirkt« »in den Banden der Grenze«, »weil das Seiende ohne Grenze nicht sein darf«11; Grenzen erst zeitigen Strukturen12 und rufen räumliche Unterschiede hervor. Ähnlich zu verstehen ist dieser Punkt in Hesiods Weltenstehungsgesang Theogonie, der chronologisch früher als Anaximandros’ Lehre zu datieren ist und einen eigenen Hörraum stiftet, da er nicht, wie Anaximandros’ Lehre, in abstrahierender logischer Prosa für ›wissenschaftliche‹ Leser geschrieben, sondern vielmehr aufgrund seiner hexametrischen Verse von damaligen Zuhörern wie eine gesungene Wissenschaftsradiosendung zu hören war.

8 | Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 41998, S. 19. 9 | Über die das Judentum mitkonstituierende Metapher des Zauns vgl. Peter Daniel: Zaun. Normen als Zaun um das jüdische Volk. Zum Phänomen der Zeitüberdauer des Judentums, Wien 1995 sowie Günter Mayer: Der Zaun um die Tora. Tradition und Interpretation im Rabbinischen Recht dargestellt am Toseftatraktat Kil’ajim. Vgl. auch die auf über 700 Kilometer Länge geplanten, zum Teil gebauten, nach internationalem Recht illegalen Sperranlagen zwischen israelisch kontrollierten und palästinensischen Gebieten, deren Bau die damalige israelische Regierung im Jahre 2002 beschloß und die von israelischer Regierungsseite als Zaun, Sicherheitszaun, Terrorabwehrzaun oder Anti-Terror-Zaun bezeichnet werden; mancherorts bildet das Zentrum der Sperranlagen eine acht Meter hohe Betonmauer. (Siehe hierzu auch Peter Sloterdijk: Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft, Berlin 2013, S. 44ff.; S. 45 bezieht Sloterdijk das für das SelbstErleben zentrale Konzept der Innen-Außen-Unterscheidung auch auf das Selbsterleben von Gruppen, in dem Fall eben auf das »selbsteingezäunte« Judentum.) (Nota bene, das israelische Raketenabwehrsystem nennt sich ›Iron Dome‹.) – Vgl. zudem alle möglichen weiteren Mauern und Zäune der politischen wie symbolischen Geschichte und Gegenwart, die Große Mauer in China, die Berliner Mauer, die Mauer im nordirischen Belfast, die Mauer in Bagdad, die Grenze zwischen Nord- und Südzypern, die Grenzanlagen zwischen Nord- und Südkorea, der Grenzzaun zwischen Spanien und Marokko, die Grenzzaunanlagen zwischen den USA und Mexiko sowie konkrete wie metaphorische Frontiers der US-Geschichte. 10 | Parmenides: Diels-Kranz, Band 1, Kapitel 28, Fragment B 8, S. 237, Zeile 31 und S. 238, Zeile 43. 11 | Parmenides: Diels-Kranz, Band 1, Kapitel 28, B 8, S. 237f., Zeile 31f. 12 | Vgl. auf astrophysikalischem Feld zur Strukturbildung im Universum Volker Springel: On the Formation and Evolution of Galaxies, München 1999.

Kapitel I.2

In ihr läßt Hesiod die Welt aus dem chaos entspringen13 – wobei Chaos zuerst soviel wie einen gähnenden Abgrund meint; (noch der deutsche Gaumen leitet sich mittelbar von chaos her: zwar verweist das Wort heute auf die obere Wölbung der Mundhöhle, meinte jedoch zunächst wie im Griechischen Rachen oder Schlund). ›Abgrund‹ verweist also auf das Grundlose, Gestaltlose, aus welchem alles oder schlicht die Welt geboren wurde. Der Abgrund – und das ist der Sinn dieses Hesiod-Hinweises – ist in seiner Grund- und Gestaltlosigkeit eben grenzenlos; die Welt, die aus dieser Grenzenlosigkeit heraus entsteht, ist demnach ganz im Sinne Anaximandros’ eine Welt der Grenzen, kein Abgrund, sondern ein Grund, ein Gegründetes. Und auch bei dem zeitlich-biographisch auf Hesiod folgenden Akusilaos entsteht alles »aus unerkennbarem Chaos«14. Im übrigen verweist das spätere und noch heute geläufige Verständnis von Chaos als gestaltlosem Durcheinander implizit darauf hin, daß nur im Falle, wenn sich im Chaos eine wie fein auch immer sichtbare Struktur ausbildet und sich ein begrenzendes Muster zeigt, es sich in diesem Augenblick in seinem Charakter wesentlich verwandelt und tatsächlich etwas am Horizont des Chaos erscheint – eine erste gestaltende, gestaltete Ordnung. In Hinsicht auf das Chaos erinnert auch Bollnow in seiner historiographischen Übersicht über den Raumbegriff an das ägyptische Raumverständnis, wenn er in Bezugnahme auf den Ägyptologen Hellmut Brunner15 schreibt, »daß ›unsere Welt … von allen Seiten durch das Chaos eingeschlossen ist‹ (Brunner, S. 614f. [richtig: S. 614, M.M.]), aber er [Brunner, M.M.] kommt zu der Feststellung, daß man im Bereich dieses Chaos auch nicht eigentlich von Raum sprechen könne, daß es vielmehr ›raumlos‹ (Brunner, S. 614f. [S. 615, M.M.]) sei«16. Im Bild der Grenzen des Kosmos besingt Orpheus mittelbar den Raum. Denn Chronos (Zeit) zeuge aus sich heraus nur »grenzenloses Chaos« und den »nebligen Erebos«17 – eine Welt ohne klare Strukturen. Nur weil Chronos mit Adrasteia zusammenkommt, der Unausweichlichen, der Notwendigkeit, erfährt auch er Grenzen, denn Adrasteia ist es, die sich im »ganzen Weltall« ausdehnt und dessen »Grenzen berührt«18: erst so, wenn die Zeit notwendige Grenzen erfährt, kann man sagen, lichten sich Nebel und Chaos – und wird der Raum geboren. Was unter der Perspektive der Grenze den Begriff des Körpers betrifft (der in einer Raumtheorie schon allein insofern eine Rolle spielt, als er räumlich ausgedehnt ist), so hat Aristoteles – auf den Körper an sich zielend – auf seine Begrenztheit als zuerst auffallendes Merkmal hingewiesen: der Begriff Körper schließt von sich aus den Begriff der Grenze ein, ein unbegrenzt großer Körper wäre ein Widerspruch in sich. Das Unendliche ist nach Aristoteles daher auch unvollkommen, weil es zu 13 | Hesiod: Theogonie, Griechisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Albert von Schinding, Düsseldorf und Zürich 21997, Vers 116, S. 14f. 14 | Akusilaos: Diels-Kranz, Band 1, Kapitel 9, Fragment B 1, S. 53; vgl. Musaios: DielsKranz, Band 1, Kapitel 2, Fragment B 14, S. 25. 15 | Hellmut Brunner: Zum Raumbegriff der Ägypter, Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden, 10. Jahrgang, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1957, 10. Heft, S. 612-620. 16 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 43. 17 | Orpheus: Fragment B 13, Diels-Kranz Bd. I, S. 12, Zeile 9-11. 18 | Orpheus: Fragment B 13, Diels-Kranz Bd. I, S. 12, Zeile 5f.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

ihm »immer ein Weiteres gibt«19. Das Gegenteil zum Unvollkommenen ist somit das Vollkommene im Sinne von »vollendet und ganz« (τέλειον καὶ ὁλον20). Vom Konzept des Vollendet-Ganzen ließe sich ein entsprechender Bezug zur zeitlichen Lebensdimension des Menschen herstellen: Der Mensch hat während seines Lebens immer Zeit vor sich und ist damit im aristotelischen Sinn nicht vollendet und nicht ganz – sein Leben ist nicht vollendet begrenzt; er ist, obschon objektiv endlich, im subjektiven Erleben doch unendlich, grenzenlos. Weil jedoch das Unendliche und Grenzenlose dem subjektiven Erleben nicht das Gefühl des Vollendet-Ganzen vermitteln kann, der Mensch dieses Gefühl jedoch benötigt, um sich in abgegrenzter Ganzheit als ein Selbst erleben zu können, muß er das Vollendet-Ganze in einem anderen als zeitlichen Zusammenhang für sich erlebbar machen: und eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht eben in der Schöpfung oder im Aufsuchen von ihn umgrenzenden Räumen. Im intakten, begrenzten Raum bin ich vollendet und ganz. Mein Selbst ist in diesem Falle der vollendet-ganze oder begrenzte Raum. Was eine mögliche ontogenetische Perspektive auf die Entwicklung des Menschen berührt, so dürfte im übrigen das Kind in der Leibeshöhle der Mutter »eine vage Vorzeichnung von Raumgrenzen-Erfahrung durch Bauchwandwiderstand und elastischer Umwandung« (Peter Sloterdijk 21) spüren. Bollnow seinerseits betont auf phänomenologischer Ebene ausdrücklich den zwar selbstverständlichen, dennoch nicht trivialen Befund, daß sowohl der Leib als auch das Haus eine Grenze haben – und damit auch den »Charakter des Widerhallenden«22 –, eine Grenze, die »deutlich erkennbar den Eigenraum, mit dem ich mich identifiziere, der ich also in irgendeinem Sinn ›bin‹, von dem andern Raum scheidet, der ich nicht mehr bin, der nicht zu mir gehört und der mir fremd ist«23. Hier drückt Bollnow einen wichtigen phänomenologischen Aspekt dessen aus, was ich hier zu elaborieren suche, verwendet dabei allerdings distanzierende Gänsefüßchen, wodurch er das in der Aussage auftauchende »›bin‹« als ein nicht wörtlich gemeintes, vielmehr als ein quasi-bin kennzeichnet – was aus einer alltäglichen expliziten Außenperspektive auch verständlich ist, aus dieser sind ›ich‹ und ›das Zimmer‹ selbstredend nicht das Gleiche. Freilich erleben Menschen sich in der Regel nicht aus einer expliziten Außenperspektive, sondern aus einer phänomenalen impliziten Innenperspektive, und der gemäß bin ich das Zimmer – ohne Gänsefüßchen. Im übrigen notiert Bollnow selbst an einer anderen Stelle gänsefüßchenfrei: »wir sind unser Raum«24 – und zollt damit dem phänomenalen impliziten Gefühl Tribut, daß wir uns in bestimmten Räumen wie zuhause fühlen, als wären wir in der Tat eins mit ihnen – und wir sind es auf der phänomenal-impliziten Ebene ja auch. (Im III. Hauptteil werde ich zeigen, daß wir nicht nur mit dem Raum eins sind, sondern daß das Raumgefühl erst das Selbstgefühl hervorruft – ja, daß das Raumgefühl in einem bestimmten Sinne das Selbstgefühl ist: erlebe ich den Raum, erlebe ich mich selbst.) Jedenfalls deutet Bollnow nicht von ungefähr das 19 | Aristoteles: Physik, a.a.O., S. 207a (S. 69). 20 | Aristoteles: Physik, a.a.O., S. 207a (S. 69). 21 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 299. 22 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 248. 23 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 239. 24 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 248.

Kapitel I.2

begrenzte Haus als einen erweiterten Leib, »mit dem sich der Mensch […] identifiziert und durch den er sich entsprechend in einen größeren Umraum einordnet«25; deshalb »(gehört) der Raum zum Menschen wie sein Leib«26. Der Bewußtseinsphilosoph Alva Noë zieht in diesen Bollnowschen »Umraum« noch eine binnenräumliche Differenzierungsgrenze ein, indem er zwischen dem »peripersonalen Raum« (dem Raum unserer buchstäblichen Arme-und-Beine-Reichweite) und dem »extrapersonalen Raum« (dem Raum, in den wir buchstäblich nicht mehr reichen können) unterscheidet.27 Im übrigen erinnert Bollnow an den auch in der Psychopathologie hergestellten Zusammenhang von Mensch und Haus, etwa wenn der Umweltpsychopathologe Rudolf Bilz den Menschen aus seiner »archaischen Binität Subjekt: Haus«28 begreift; auch zeigt der Psychiater Markus Preiter anhand empirischer Fälle, inwiefern gestörtes Selbsterleben mit der Wahrnehmung unter25 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 239. 26 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 248. 27 | Vgl. Alva Noë: Du bist nicht dein Gehirn. Eine radikale Philosophie des Bewußtseins, aus dem Englischen von Christiane Wagler, München 2010. – Im übrigen haben Michael S. Graziano und Charles G. Gross zu zeigen versucht, daß bestimmte Hirnregionen den unmittelbaren Raum um den Körper herum darstellen; sie illustrierten dies anhand eines Affenexperiments, das sinngemäß so zusammenzufassen ist: Zunächst berühren sie den Handrücken des Affen mit einem Gegenstand, so daß der Affe seine Hand zurückzieht. Dann, in einer zweiten Phase, rücken sie mit dem Gegenstand lediglich bis auf 10 cm an den Handrücken heran; auch dabei zieht der Affe seine Hand zurück. Gezeigt werden soll damit auf dem neurowissenschaftlichen Feld zunächst, daß die Neuronen nicht nur den Körper darstellen, sondern auch den unmittelbaren Raum um den Körper, sowie auf dem psychologischen Feld, daß Affen – und im Schluß daraus auch Menschen – eben einen unmittelbaren Raum um ihren Körper herum für sich beanspruchen; wird dieser durchbrochen, reagieren sie entsprechend. (Siehe Michael S. Graziano und Charles G. Gross: A Bimodal Map of Space: Somatosensory Receptive Fields in the Macaque Putamen with Corresponding Visual Receptive Fields, in: Experimental Brain Research, 1993;97[1]: S. 96-109; sowie Michael S. Graziano, Gregory S. Yap, Charles G. Gross: Coding of Visual Space by Premotor Neurons, in: Science 1994 Nov 11;266[5187]: S. 1054-1057.) Siehe hierzu das bahnbrechende Buch von John O’Keefe und Lynn Nadel: The Hippocampus as a Cognitive Map, Oxford 1978, in dem die Autoren jahrelange Forschung über ›Ortszellen‹ im Gehirn zusammenfassen, Zellen, die die Umgebung eines Organismus darstellen. Ähnliches kennen Menschen aus jenen Alltagssituationen, in denen ein Gesprächspartner ihnen zu dicht auf die Pelle rückt; in solchen Fällen sind sie geneigt, einen Schritt zurückzugehen, um sich wieder etwas Luft zwischen sich und dem Pelleristen zu verschaffen. Diese Form des beanspruchten Raums um sich gilt auf dem Feld der Kulturpsychologie und der Kulturanthropologie als ›intimer Raum‹, als ›personaler Raum‹ sowie als ›sozialer Raum‹ (siehe Edward T. Hall: Die Sprache des Raumes, aus dem Englischen von Hilde Dixon, Düsseldorf 1976). Der intime Raum beanspruche etwa 15-45 cm, der personale 45-120 cm, der soziale etwa 120-360 cm. 28 | Rudolf Bilz: Pole der Geborgenheit. Eine anthropologische Untersuchung über raumbezogene Erlebnis- und Verhaltensbereitschaften, in: Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden, 10. Jahrgang, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1957, S. 552ff. – Die Erinnerung bei Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 240.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

schiedlicher subjektiver Raumvolumina und deren Grenzen verknüpft sein könnte – anders als Alva Noë macht Markus Preiter wenigstens vier Binnengrenzen aus – von der Grenze um den Raum dessen, was ich greifen kann, über die Grenze um den leicht erreichbaren Nahebereich und die Grenze um die Personen, die um mich und mit mir sind, bis zur Grenze um den Raum, den ich nicht sehen, aber hören [oder riechen, M.M.] kann.29 Doch auch auf dem Feld der modernen Soziologie sehen Vertreter in der räumlichen Grenze »die Krystallisierung oder Verräumlichung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse«30, wie Georg Simmel schreibt. An anderer Stelle führt Simmel weiter aus: »Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk […]: (es) gegen die umgebende Welt ab- und in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet […].«31 Im übrigen streicht auch der Anthropologe Marc Augé heraus, daß Menschen den »Körper mit seinen Grenzen und Lebenszentren«32 als einen Teil des Raumes empfinden. Was dazu führen könne, daß das Territorium »nach dem Bild des menschlichen Körpers gedacht« werde, beziehungsweise der »Körper als Territorium«33. Und der medizinische Psychologe Ernst Pöppel erinnert aus neurowissenschaftlicher Perspektive daran, »warum Grenzen notwendig«34 seien, nämlich weil nur anhand eines »formalen Rahmens« »Wirklichkeit überhaupt erfaßt werden« könne und weil es ohne Grenzen »nur das Chaos«35 gebe.

G renze und A ufrechterhaltungsstress Eigens hervorzuheben ist für die anthropologische Ebene das Phänomen, daß durch jede Raum-Umgrenzung unausbleiblich über kurz oder lang der Raumbewohner Streß empfindet: eine Spannung, immer wechselnd, zunehmend, abnehmend, jedoch in der Regel nie zur Gänze nachlassend, die zwischen innen und außen, zwischen dem Umschlossenen und dem Ausgeschlossenen entsteht.

29 | Vgl. Markus Preiter: Die Logik des Verrücktseins. Einblicke in die geheimen Räume unserer Psyche, München 2010. 30 | Georg Simmel: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, Kapitel IX in: G. S.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 623f. (zur Grenze) und S. 624ff. (Exkurs über die soziale Begrenzung). 31 | Georg Simmel: Soziologie des Raumes, in: G. S.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl, hg. von Heinz-Jürgen Dahme und Othein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1993, S. 226; siehe auch Georg Simmel: Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch, in: G. S.: Vom Wesen der Moderne. Essays zur Philosophie und Ästhetik, hg. von Werner Jung, Hamburg 1990. – Vgl. auch Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006. 32 | Marc Augé: Nicht-Orte, a.a.O., S. 66. 33 | Marc Augé: Nicht-Orte, a.a.O., S. 66. 34 | Ernst Pöppel: Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit? Frankfurt a.M. und Leipzig 2000. 35 | Ernst Pöppel: Grenzen des Bewußtseins, a.a.O., S. 198.

Kapitel I.2

Spannung deshalb, weil jeder einzelne bewohnte Raum nur solange erhalten bleibt, als auch seine Grenzen aufrechterhalten bleiben. Und angesichts eines Universums, in dem auf der physikalischen Ebene praktisch unaufhörlich Wechselprozesse stattfinden, aber auch in einer auf der phänomenologischen Ebene von sozialer Unruhe geprägten menschlichen Welt, ist die Aufrechterhaltung des Status quo, des umgrenzten Raums, niemals ein Selbstläufer. Die Grenze meines Innenraums bleibt für mich ausschließlich solange aufrechterhalten, wie ich (auch unbewußt) darauf achthabe, daß sie bestehen bleibt. Mache ich nichts für die Erhaltung der Grenzen oder der Mauern, ist es lediglich eine Frage der Zeit bis zu ihrer Schleifung, ihrem Verfall, ihrem Verschwinden; was selbstredend die Auflösung des Innenraums nach sich zieht. Die Aufrechterhaltung der Grenzen schließt aber die Frage nach der Grenzöffnung nicht aus, im Gegenteil. So ist es wie bemerkt für Menschen von überlebensnotwendiger Bedeutung, daß jede Form von Stoffwechsel im weitesten Sinne des Worts zwischen innen und außen möglich und konstant im Gange ist und bleibt; dieses hat freilich zur notwendigen Bedingung, daß die Öffnungen in den Grenzverläufen geregelt sind und kontrolliert funktionieren: Transitsphären, Durchlässigkeitsschleusen, Ein- und Ausgänge für Informationsaustausch und Botenstoffgänge jeglicher Art.

C hor a – ein schillernder B egriffsmut terkuchen : V ier A nsichten I Chora bei Platon Wenn die authentische Bedeutung des von Platon im ›Timaios‹36 erörterten Begriffs der Chora auch bis heute umstritten ist, wie Kyung Jik Lee jüngst wieder zeigte37, läßt sich dennoch eine halbwegs gesicherte Andeutung dazu wie folgt machen: zunächst spricht vieles für die These, daß Chora in einem bedeutungsbezogenen Sinne sich strukturanalog zum Begriff des gebärenden Chaos interpretieren läßt – beide Begriffe bezeichnen de-facto-Gebärsphären im weitesten Verständnis. Wörtlich übersetzt bezeichnet Chora dabei zunächst das »Raumgebende« (Tim. 52a), welches das Werdende aufnimmt wie eine Amme oder Kindswärterin (Tim. 49a); sie ist damit der Raum, in dem das Werden einen Ort hat. (Man vergleiche hierzu den ontologischen Satz des Thales: »Das Größte ist der Ort [tópos], denn er gibt allem Raum [choreî].«38) 36 | Platon: Timaios, Griechisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Hans Günther Zekl, Hamburg 1992. 37 | Kyung Jik Lee: Der Begriff des Raumes im ›Timaios‹ im Zusammenhang mit der Naturphilosophie und der Metaphysik Platons, Würzburg 2000. (Internetausgabe seiner Arbeit: http:// kops.ub.uni-konstanz.de/bit stream/handle/urn:nbn:de:bsz:352-opus-3595/359_1. pdf?sequence=1) Ich stütze mich in diesem Abschnitt zum Teil auf Lees Arbeit und rekurriere dabei auf die Internetedition. – Vgl. zum Thema Chora auch Jacques Derrida: Chora, hg. von Peter Engelmann, aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek, Wien 22005. 38 | Thales: Kapitel 11, Fragment A 1, Diels-Kranz, Band I, S. 71, Zeilen 11f. – Siehe zudem Plutarchs ›Gastmahl der Sieben Weisen‹, worin Thales auf die Frage, was das Größte sei, die

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Die Chora ist damit die dritte Gattung (génos) neben der Welt der Ideen (der Welt des Seins) einerseits und der Welt der Abbilder oder der sinnlichen vergänglichen Dinge (phainomena) andererseits. Das Problem des Werdens ist nun deshalb ein Problem des Raumes, weil alles, was wird, nur werden kann, insofern es sich räumlich ereignet. Die Ideen jedoch sind unräumlich, ihre Abbilder oder die sinnlichen Dinge hingegen räumlich (Tim. 52a): Wie soll man sich den Übergang von den unräumlichen Ideen zu den räumlichen Abbildern vorstellen? Um diesen Übergang logisch denken zu können, erfindet Platon die Chora (Tim. 49aff.). Die Chora ist also die empfangende, gebärende Sphäre. Platon verwendet das Bild der »Amme des Werdens« (Tim. 49a, 50d, 52d, 88d) bzw. den Begriff der »Mutter« (Tim. 50d, 51a) mehrfach; sie ist die Sphäre, in der überhaupt erst dasjenige werden kann, was ist, wobei das Werdende abhängig bleibt vom nährenden, ernährenden, Mutter-und-Amme-haften Grundzug des Raums.39 Um eine weitere, für diesen Zusammenhang vielleicht nicht unfruchtbare, mögliche Begriffsgegenüberstellung anzubieten, sei Peter Sloterdijks Interpretation des Phänomens des ›Mutterkuchens‹ angedeutet.

II Chora – Eine Zwischenbemerkung Platons Begriff der »Amme des Werdens« und Peter Sloterdijks Interpretation des Phänomens ›Mutterkuchen‹ Auch wenn folgendes nur skizziert werden kann, so ist gleichwohl festzuhalten, daß ein Bezug von Platons Begriff der Chora bzw. der »Amme des Werdens« zu Peter Sloterdijks Betrachtung des ›Mutterkuchens‹ in ›Sphären I‹ und zu Sloterdijks Konzept des symbolischen »externen Uterus« oder dem »Menschenbrutkasten«40 herstellbar ist, zumal Sloterdijk selbst, wenn auch an anderer Stelle, ausdrücklich auf Platons Begriff der Chora rekurriert. Die Chora, so nämlich Sloterdijk in dem Aufsatz ›Domestikation des Seins‹41, erscheine als »beherbergendes Wo des Sein-Könnens«, wobei er für »diesen nichtAntwort gibt: »Der Raum, denn die Welt umfaßt alle anderen Dinge, der Raum aber die Welt.« (Plutarch: Das Gastmahl der Sieben Weisen [Septem sapientium convivium], in: Moralische Schriften. 3. Bändchen: Politische Schriften, übersetzt von Otto Apelt, Leipzig 1927, S. 135180, hier S. 154 [S. 153cd].) Die Antwort auf griechisch: »Τόπος· τἄλλα μὲν γὰρ ὁ κόσμος, τὸν δὲ κόσμον οὗτος περιέχει.« (Plutarch: Των Επτά Σοφών Συμπόσιον, in: Plutarchi Chaeronensis: Moralia, recognovit Geregorius N. Bernardakis, Vol. 1, Athen 2008, S. 153cd [S. 375].) 39 | Erwähnt sei am Rande einer Fußnote die in der Forschung ungeklärte Frage, inwiefern Chora als absoluter Ort zu verstehen sei, im Gegensatz zum Topos als relativem Ort oder Ort der sinnlichen Dinge. Chora würde dabei den ontologischen Aspekt, tópos den physikalischen Aspekt des Raums bezeichnen (siehe Lee, a.a.O., S. 107 der Internetausgabe). Lee erinnert auch an die Interpretation der Chora als Materie: erwiese sie sich als Materie, dann wäre sie »weder der leere Raum, noch der geometrisch strukturierte Raum, noch der Aristotelische Örter-Raum, sondern der materiell gefüllte, dynamische Raum bzw. die räumlich strukturierte Materie« (Lee, a.a.O., S. 112 der Internetausgabe). 40 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 41. 41 | Peter Sloterdijk: Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung, in: P. S.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M. 2001.

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trivialen Raum den Ausdruck ›Sphäre‹«42 verwendet. Nach ihm wäre Sphäre (oder auch externer Uterus) auf der anthropologischen Ebene also ein synonymer Begriff für Chora. Das überrascht zunächst deshalb, weil die ›Sphäre‹ in ihrer Grundbedeutung den von (bereits geborenen) Menschen ›geteilten Raum‹ bezeichnet, wohingegen Platons (ontologisches) Verständnis der Chora eindeutig auf das erst Werdende abzielt, also eher das ›beherbergende Wo des Werden-Könnens‹ bezeichnet als das »beherbergende Wo des Sein-Könnens«. Doch ließe man eine Übersetzung der ›Chora‹ in das anthropologische Feld zu, so käme für das ursprünglich Werdende des Menschen eindeutig nur das Phänomen der Plazenta oder des ›Mutterkuchens‹ (bzw. des externen Uterus) in Frage. Wollte man nun den Begriff ›Sphäre‹ hinzuziehen, müßte dieser – seine Grundbedeutung erweiternd – auch auf den intrauterinen Plazenta-Bereich angewendet werden. So ließe sich im platonischen Licht ›Sphäre‹ als eine menschliche ›Chora des Werdens‹ beschreiben, eine zweieinige Ur-Sphäre, in welcher der werdende Mensch und sein nährendes Um-ihn-und-an-ihm, sein ›Gegenüber‹ nahezu eins sind, aus welchem Nahezu-Einssein beide erst mit der Geburt auseinandergerissen werden. Die so verstandene anthropologische Chora-Ur-Sphäre (bzw. Plazenta) fungierte damit de facto als jenes erste existentielle Zimmer, in dem der Mensch buchstäblich zu sich kommt, ohne davon Bewußtsein zu haben. Weil die Geburt die Zerstörung dieses Urzimmers darstellte, der Mensch aber ohne bergendes Wo nicht sein könnte, müßte dieses durch unmittelbare Zuwendung und Erste-Hilfe-Maßnahmen – Mutterwärme, Muttermilch, Muttersprache – neu und auch im übertragenen Sinne wiedererrichtet werden. Jedes Zimmer, auch der gegebenenfalls nötige Brutkasten, wäre so gesehen eine Art Plazenta-Installation oder ein Chora-Artefakt. Jede nachgeburtliche Sphäre wäre bereits eine Neuschöpfung der verlorengegangenen intrauterinen Ur-Sphäre.

III Chora – ein Bezug zur Hauptthese Wenn man den erwähnten Begriff der Chora als Räumlichkeit respektive als Prinzip der Individuation, des Werdens sinnlicher Dinge auf die Hauptthese dieser Arbeit anwendet, läßt sich in anthropologisch-ontogenetischer Perspektive festhalten: Der nährende Raum ist es, der mich bestimmt, der mich erst macht, in dem ich nicht länger nur eine (unräumliche) Idee bin, sondern das (stets mit den Raumverhältnissen sich verändernde) Abbild der Idee eines Ichs. Könnte der plazentale Mensch sprechen, er würde sagen: Ich bin in der Chora, also werde und bin ich, ich bin umfangen von der Plazenta – als Ur-Räumlichkeit –, also werde und bin ich. Mit der Herausbildung des eigenen Körpers in der Ur-Räumlichkeit beginnt zugleich der emanzipatorische Prozeß der aufgrund des Wachstums notwendig werdenden Abspaltung und Abnabelung des Menschen von ihr und beginnt der lebenslang andauernde Prozeß der sich stets erneuernden und erneuten Verzimmerung des menschlichen Lebens, der Prozeß aus den sich um einen Menschen bildenden (Raum-)Verkörperungs-Formen des Lebens. Allgemein sei zu Platon angemerkt, daß seine Philosophie in ihrer Grundintention auch eine Erziehung oder Anleitung zum Umzug in das Haus der logischen 42 | Peter Sloterdijk: Domestikation des Seins, a.a.O., S. 172.

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Besonnenheit war – statt Umzug könnte man auch Umgeburt sagen, eine Umgeburt mit Hilfe der Hebamme, heiße diese nun konkret Sokrates oder allgemein Philosophie. Philosophierend ziehst du in das Haus des Stadtstaates als Bürger und Förderer der Gerechtigkeit um; und sollte der Stadtstaat verfallen, so besteht doch noch die Chance zum Umzug in das Haus oder in die häusliche Stadt des Kosmos, womit du dich in einen Kosmopoliten verwandelst: so daß, egal wo du gehst und stehst, die Wände des hellen unerschütterlichen Logos dich vor allen sonstigen Unbilden der trüben Ding-und-Schatten-Welt zu schützen vermögen.

IV Chora jenseits von Platon Doch angemerkt werden muß auch, daß Chora über Platon hinaus zugleich direkt den buchstäblichen, offen-geräumigen Platz bezeichnet, auf dem das tägliche Drama des Lebens sich inszeniert und über die Bühne geht. Insofern die Chora umgrenzt ist, so wie die Lichtung im Wald von den Bäumen, ist sie in einem erweiterten Sinn eine Art schöpferischer Kreißsaal allen Lebens, in dem das Werdende und Erscheinende, die Physis, aus dem Dunkel an den Tag kommt, respektive aus dem schattigen Hintergrund in den hellen Vordergrund tritt. Wenn man diese Art der Chora auch als eine Form des Bewußtseins interpretiert, ist das Leben, wie Menschen es führen, die Ereigniskette im Bühnenlicht der Chora, wobei die Menschen selbst mit auf der Bühne stehen, handeln und sogar die Bühne selbst sind, ohne zu wissen, daß sie auf einer Bühne stehen und handeln und selbst die Bühne sind. So gesehen war der halbkreisförmige, Chora genannte Platz im antiken griechischen Theater auch ein Bild für das menschliche Bewußtsein. Auch stellte er eine Form des politischen Bewußtseins dar, an heiligen Festtagen öffentlich zelebriert.43 Bekanntlich verlor der Begriff Chora im Theater seine Bedeutung Erscheinungsplatz im Laufe der Jahre, und metonymisch wanderte sie zu den erzählenden, im Wechselgespräch fragenden und kommentierenden Sängern des Theaterchors, der auf dem Erscheinungsplatz tanzte und spielte. In den Vordergrund trat damit die im Hintergrund befindliche Szene (Skené), die ursprünglich die senkrechte Bühnenrückwand war. Der schmalen Türöffnung in ihr, aus welcher die Schauspieler aus dem Hinterbühnendunkel hervorschlüpfen und hervorkommen zur Welt, auf den Platz der Tragödie, der Komödie des Lebens, wird man in einer anthropologisch-psychoanalytischen Sicht die Funktion einer öffentlichen Geburtsvagina kaum absprechen wollen. Dieser Platz (die Chora) erhielt demnach, in einer zweiten metonymischen Verschiebung, den Namen der Rückwand – Szene. War die schwellende Öffnung in der Rückwand seit je »der Platz der Erwartung« (Goethe44), so verwandelte sich die Szene nun zum Platz der Erscheinung. Nimmt man Sloterdijks ›Mutterkuchen‹-Chora-Konstellation mit in den Blick, so war das griechische Theater immer auch die implizite Darstellung der Menschenwerdung im Mutterkuchen der Theaterbühne.

43 | Vgl. Volker Gerhardt: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewußtseins, München 2012. 44 | Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Siebentes Buch, Neuntes Kapitel, Lehrbrief, Frankfurt a.M. 1980.

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Topos bei A ristoteles – eine A nmerkung ›Topos‹, der eminente Hauptbegriff der antiken Raumtheorie, wird in der philosophischen Literatur allgemein mit ›Raum‹ übersetzt; diese Übersetzung wäre jedoch nicht nur unscharf, sondern letztlich sogar irreführend.45 Bei Aristoteles (Physik 208ff.) ist Topos zunächst in einem vielschichtigen Raumumfeld der konkrete Ort oder die konkrete ›richtige Stelle‹, an dem oder an der sich etwas befindet. Alltagsperspektivisch gesagt: der Fisch schwimmt im Aquarium, daher ist das Aquarium der Aufenthaltsort (der Topos) des Fisches; der Füller liegt im Etui etc. Der Topos ist also der entsprechende Platz, an den eine Sache gehört. Wichtiger als dieses erste Verständnis jedoch ist das weitere von Aristoteles beschriebene46: Demnach »umschließt« der Topos »seinen Gegenstand« (Physik 211af.), genauer: er ist »die Grenze des umschließenden Körpers« (Physik 211b) oder »die Hülle des umgebenden Mittels« (Physik 212a). Aristoteles schreibt auch, daß Topos »eine Art [bewegliches, M.M.] Gefäß« darstelle (Physik 209b), wohingegen der Raum im Sinn von Chora eine Art unbewegliches Gefäß sei (Physik 212a). Von hier ausgehend bezeichnet Bollnow in seiner Interpretation den Topos als »eine Art von Haut, die sich um ihn [den Körper, M.M.] zieht«47; Topos wäre anders gesagt »die von außen her vollzogene Umgrenzung des von einem Ding eingenommenen Volumens« (Bollnow48). Topos ist also nach Aristoteles, zusammenfassend, im wesentlichen eine Art Gefäß, Hülle, Umgrenzung, Haut. Evident ist damit, daß es in diesem aristotelischen Denken einen neuzeitlich verstandenen, sich homogen »bis in die Unendlichkeit erstreckenden mathematischen Raum«49 nicht geben kann, sondern eben nur einen Topos, einen umgrenzten Bezirk, »eine Art Gefäß«. Was dies in Hinsicht auf die Fragestellung dieser Arbeit betrifft, so ist unverkennbar, daß jeder alltagsperspektivisch verstandene buchstäbliche wie übertragene Raum, egal ob Wohnzimmer oder Verein, eine Grenze oder eine Umgrenzung notwendigerweise benötigt, mittels deren Wahrnehmung ich implizit in Erfahrung bringe, ob ich mich im Wohnzimmer befinde und im Verein Mitglied bin oder ob ich mich draußen und außerhalb aufhalte. Das heißt, der aristotelische Topos-Begriff ist zumindest in seiner umhüllenden und umgrenzenden Eigenschaft weitgehend mit dem hier in dieser Arbeit verwendeten Raumbegriff und dessen Merkmal der Umgrenzung kompatibel.

45 | Siehe Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 14 sowie die Fußnote auf S. 14. – Ich stütze mich an dieser Stelle auf Bollnows Diskussion des aristotelischen Toposbegriffs, weil Bollnows Raumverständnis für diese Arbeit zentral ist. Aristoteles zitiere ich in dieser Passage nach Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O. 46 | Vgl. Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 15. 47 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 15. 48 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 16. 49 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 17.

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D er K osmos und die neuzeitliche W eltbilde xplosion : ›D er M it telpunk t der W elt ist über all und nirgends ‹ 50 Die antike Vorstellung vom Kosmos begreift diesen als einen wohlgeordneten Wohnraum. In dessen Mitte schwebt eine Erde, die von durchsichtigen Kristallkugeln umschlossen und umgrenzt wird. Die Erde stellt dabei insofern einen kosmischen Schonraum dar, als es auf ihr für Menschen möglich war, auf ontologische Weise vollständig gehegt zu sein und auf existentielle Weise halbwegs gepflegt das Leben führen zu können. Die wissenschaftsöffentliche Auflösung dieser Kosmosvorstellung zu Beginn jener Epoche, die Heutige die Neuzeit nennen – weil das Neue die große Entdeckung dieser Epoche ist und seine bewußte Auffindung zum Anstoß der Wissenschaft und zum Curriculum des uomo universale wurde –, und die gleichzeitige, auf mathematischen Modellen und empirischen Erkenntnissen beruhende Wiederentdeckung eines unendlichen ›Raums‹ lassen sich auf der ontologischen Ebene nur mit einer riesenhaften Detonation der kristallenen Kugeln vergleichen. Zugleich fanden sich die von diesem Weltbildsturm nicht nur ontologisch aufgewühlten, vielmehr auch existentiell überwältigten Betrachter innerlich in die unbegrenzten Weiten des Universums hinausgestoßen.51 Die wissenschaftlich erzwungene Ablösung des geozentrischen Weltbilds und die politisch-öffentliche Durchsetzung des heliozentrischen Weltbilds in bezug auf unseren Bereich der Milchstraße konnte also bei einzelnen, auf der Höhe des Diskurses befindlichen Zeitgenossen auf der phänomenalen Ebene die gefühlte Zerrüttung des bergenden Raumgefühls bewirken – Blaise Pascal übertrug diese Empfindung in einen Satz, der als der astrophilosophische Epochensatz in die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft eingehen sollte: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.«52 Giordano Bruno hingegen, eine freundliche Optik auch gegenüber den schwer begreif baren Tiefen des Universums einnehmend, begrüßte begeistert, zum fatalen Ingrimm kirchlicher Bildhüter, die ontologische Aufschließung der himmlischen Sphären ins Unendliche.53 In Anbetracht von Brunos Lehre über das unendliche Universum empfand der eigentlich fromme Johannes Kepler wiederum, daß »gerade diese Überlegung ich weiß nicht welchen geheimen verborgenen Schrecken in sich trägt; tatsächlich irrt man in dieser Unermeßlichkeit umher, der Grenzen und Mittelpunkt und daher jeder feste Ort abgesprochen werden«54. 50 | Nikolaus von Kues: De docta ignorantia, in: Philosophisch-theologische Schriften, hg. von Leo Gabriel, übersetzt von Dietlind und Wilhelm Dupré, Lateinisch-Deutsch, Band I, Wien 1964, S. 390: »Centrum igitur mundi coincidit cum circumferentia.« – S. 391: »Der Mittelpunkt der Welt koinzidiert also mit ihrem Umfang.« – Siehe auch S. 392f. 51 | Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., insbesondere das Kapitel »Deus sive sphaera oder: Das explodierende All-Eine«. 52 | Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände, a.a.O., Abteilung III. Gegen die Ungläubigen, Fragment Nr. 206, S. 115. 53 | Giordano Bruno: Zwiegespräche vom unendlichen All und den Welten, übersetzt von Ludwig Kuhlenbeck, Jena 1904. 54 | Johannes Kepler: De stella nova in pede Serpentarii (1606), zitiert nach: Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, aus dem Englischen von Ralf Dornbacher, Frankfurt a.M. 1980, S. 65.

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Doch auch Petrarcas dazu zeitlich weit vorausliegende Besteigung des Mont Ventoux am 26. April des Jahres 1336 gehört in die Geschichte von den Wirkungen entgrenzter Räume auf den menschlichen Geist. Dabei liefert Bollnow eine zu Petrarcas Beschreibung nicht ganz passende Interpretation der Tatsache, daß der Dichter nicht lange von den räumlichen Ausblicken erzählt, den Fernsichten vom Gipfel in Richtung Italien und über französische Ländereien, sondern, betroffen von der Lektüre einer Passage in Augustinus’ Bekenntnissen, die Größe und das Bewundernswerte des Geistes erfaßt, neben der nichts anderes groß sei – schon gar nicht der Ausblick von einem Berggipfel. Petrarcas Geist sei nämlich, so Bollnow, durch die räumliche Weite so stark gestimmt worden, daß er sie unmittelbar »in eine neue Weite der Seele umsetzt«55 beziehungsweise übersetzt. Doch Petrarca schreibt lediglich: »Während ich dies eins ums andre bestaunte und bald an Irdischem Geschmack fand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele (anima) zu Höherem erhob, kam ich auf den Gedanken, in das Buch der Bekenntnisse des Augustinus hineinzuschauen […]. Ich […] habe es stets zur Hand: ein faustgroßes Werklein, von winzigstem Format, aber voll unendlicher Süße. Ich öffne es, um zu lesen, was mir gerade vor die Augen treten würde. […] Zufällig […] bot sich mir das zehnte Buch dieses Werkes dar. Mein Bruder stand voller Erwartung […] mit gespitzten Ohren da. Gott rufe ich zum Zeugen an und ihn eben, der dabei war, daß an der Stelle, auf die ich zuerst die Augen heftete, geschrieben stand: Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst. Ich war betäubt, ich gestehe es, und ich […] schloß das Buch, zornig auf mich selber, daß ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, daß nichts bewundernswert ist außer der Seele: Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß. Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst, und von jener Stunde an konnte keiner mich reden hören, bis wir ganz unten angelangt waren […].« 56

An dieser Passage fällt zunächst die Tatsache ins Auge, daß ihr Autor in der ungewöhnlichsten Phase seiner Besteigung, in der er das Ziel, den Gipfel, erreicht hat und die weiten Ausblicke bestaunt, allzubald auf die Idee kommt, in den Bekenntnissen zu lesen. Es ist nicht so, daß man nicht auf dem Mont Ventoux in den Bekenntnissen lesen könnte, und es ist auch nicht so, daß man sie nicht stets bei sich führen dürfte. Doch es fällt auf, daß Petrarca in Anbetracht der großen Natur, die sich vor seinen Augen eröffnet, das Buchformat erwähnt (»winzig«), dessen Inhalt jedoch »voll unendlicher Süße« sei; auch fällt die konkrete Stelle auf, die er »zufällig« gefunden haben möchte. Es scheint demnach, um dies religionspsychologisch zu interpretieren, als wäre es dem Dichter angesichts seines eigenen Bestaunens der Natur nicht ganz geheuer, als ginge der innere Bewunderungsgaul mit ihm durch – und als könnte darin eine Form der nicht adäquaten Einstellung 55 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 61. 56 | Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux, Lateinisch-Deutsch, hg. und übersetzt von Kurt Steinmann, Stuttgart 1995, Abschnitt 26f., S. 23ff.

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gegenüber Gott bestehen und also in seiner Seele eine Form der gotteslästerlichen Leidenschaft vorliegen. Die Augustinus-Stelle ermahnt ihn daher wie ein weiser, doch strenger Vater bzw. erinnert ihn daran, nicht die Größe der äußeren Natur zu bewundern, sondern die (unsterbliche) innere, wahrhaft große Seele. Raumpsychologisch gesprochen, könnte man sagen, der Dichter wird auf dem Gipfel des Mont Ventoux vom Anblick der geweiteten Räume schlicht überwältigt; und Überwältigung – mag sie auch noch so angenehm sein – bedeutet eine Form des Kontroll- und Selbstverlustes (in Petrarcas Sprache: des Seelenverlustes). Deshalb muß er sich in die Bekenntnisse hineinretten – in seinen übertragenen und tragbaren Glaubensinnenraum – und gewinnt so wieder, im Tempelraum Gottes, seine Selbst- bzw. Seelen-Fassung. Von der Vertikalen den Blick zur Horizontalen wendend, streicht Bollnow im übrigen auch die besondere »Veränderung des Raumgefühls« heraus, welche durch die kybernautischen Vorstöße in die »Weiten des Weltmeers« zu eben dieser neuen Zeit hervorgerufen worden seien.57 Auch Peter Sloterdijk sieht einen Hauptgedanken der Neuzeit von Magellan und nicht von Kopernikus bekräftigt, nämlich den von Magellans Erdumsegelung mitinspirierten Gedanken vom Kreislauf der Dinge, die zu ihrem Ursprungsort zurückkehren.58 Es beginnt also die Neuzeit in raumtheoretischer Hinsicht einerseits mit der kosmischen Sphärenzertrümmerung und der damit zugleich einhergehenden ontologischen Vertreibung aus dem Schalenparadies, andererseits mit der Vorstellung von der Erde in einem buchstäblich begreif baren Bild ihrer Kugelform, des Erdund Meeresglobus, und in der mittelbaren Folge davon auch mit der sich entfaltenden »terrestrischen [bzw. nautischen, M.M.] Globalisierung« (Peter Sloterdijk). Nachdem der Kosmos entgrenzt und in seiner sich neu erschließenden Größe nicht mehr vorstellbar und nahezu unbegreif bar geworden war – sein Umfang unendlich und sein Mittelpunkt überall –, der begrenzte Kosmos sich also zu einem unbegrenzten All verwandelt hatte, setzte die Vermessung der endlichen Kugel Erde ein, die wissenschaftliche Kunst, mittels Mathematik, Geometrie, Geographie, Nautik, Handel, Imagination und Ingenieurswesen die zunächst noch ungeheuere ›weite Welt‹ geheuer zu machen, zu einem dreidimensionalen relativen Ort, an dem kein Fleckchen Erde mehr geologisch und geometrisch unbekannt, unbefahren, unvermessen und unkartographiert bleiben sollte.

D er physische R aum und der psychologische R aum In der Folge der wissenschaftlichen Machtentfaltung zeigt sich die ›Säkularisation‹ des Leib-Seele-Dualismus auf raumtheoretischem Feld zunächst in der Aufteilung des Raums in den ›physischen‹ und den ›psychologischen‹ Raum. Als der physische Raum läßt sich der empirisch vermeßbare, dreidimensionale Raum fassen, vom landschaftlichen, fest- wie meerländischen Außenraum der Geographie bis zu den konkreten, so anschaulichen wie betretbaren Räumen des täglichen Lebens – Küche, Kutsche, Kanzel etc.

57 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 61. 58 | Siehe Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., S. 56 sowie S. 882ff.

Kapitel I.2

Hingegen zielt der Begriff des psychologischen Raums vornehmlich auf eine Funktion der Wahrnehmung von Raum; er ist damit auch Teil der Erkenntnistheorie, der Optik und der Medizin. Für John Locke ergibt sich die Raumwahrnehmung vor allem aus dem Seh- und dem Tastsinn und dem Vergleich der beiden miteinander.59 Denis Diderot und Étienne Bonnot de Condillac folgen ihm hier zumindest in der Betonung der taktilen Eindrücke.60 Darüberhinaus unterstreicht George Berkeley den Einfluß der Bewegung auf die Konstitution des psychologischen Raums: Visuelle Wahrnehmungen verwandeln sich in räumliche erst aufgrund der motorischen Empfindungen, die bei den Augen- und Tastbewegungen entstehen.61 Bemerkenswert ist diese Aussage von Berkeley unter anderem insofern, als er damit – nach sinnesphysiologischen Ansätzen bei Aristoteles62 – wissenschaftsgeschichtlich erstmals eine Theorie formuliert, in der das motorische Prinzip eine tragende Rolle bei der Konstitution des psychologischen Raums spielt. Somit wäre Berkeley auch als ein früher Vertreter der Kinästhetik zu würdigen: die Kinästhetik wird später unter anderem bei Edmund Husserl eine für das Leibbewußtsein wichtige Rolle spielen – »Kinästhese« (Husserl63) verstanden als die Einheit von Sich-bewegen und Bewußtsein dieser Bewegung (siehe unten die Abschnitte zu Husserl und zu Dorothée Legrand). Den modernen Begriff ›Kinästhesie‹ prägte 1880 der englische Neurologe Henry Charlton Bastian, um den Bewegungssinn zu kennzeichnen: der Bewegungssinn (»Sense of Movement« oder in einem Wort »Kinæsthesis«64) mache den Menschen mit der aktuellen Position und mit den Bewegungen der einzelnen Körperglieder vertraut und helfe dem Gehirn bei der Ausführung unbewußter, automatischer Bewegungen. Ein ähnlicher Ansatz findet sich im übrigen bei sensualistischen, in der Humeschen Tradition stehenden Raumtheorien während des Fin de siecle im 19. Jahrhundert, vor allem bei Ernst Mach, der den sichtbaren Raum als eine Folge des nichtsichtbaren motorischen Raums begreift.65 Mach unterscheidet dabei den physiologischen Raum der sinnlichen Empfindung vom davon getrennten (geo)me59 | John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Band I: Buch II, Kapitel 13, § 2, übersetzt von Carl Winckler, Hamburg 2006, S. 190f. 60 | Denis Diderot: Lettre sur les aveugles, (1749), (Über die Blinden), edition critique par Robert Niklaus, Genève und Lille 1951. – Étienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), Auvers-sur-Oise 1973. 61 | George Berkeley: An Essay Towards a New Theory of Vision, in: The Works of George Berkeley, Vol. I, Oxford 1901, sec. 122-148. 62 | Aristoteles referiert über das Zusammenwirken der unterschiedlichen Wahrnehmungssinne in: Über die Seele, a.a.O., Buch II, Kapitel 6f., S. 418a-419b (S. 44ff.) und Buch III, Kapitel 1, S. 425a-b (S. 63ff.). – Vgl. auch Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart und New York 51986. 63 | Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Husserliana IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, §§ 49ff., sowie Edmund Husserl: Ding und Raum. Husserliana XVI, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1973. – Siehe auch Ulrich Claesges: Edmund Husserls Theorie der Raumkonstitution, Den Haag 1964. 64 | Henry Charlton Bastian: The Brain as an Organ of Mind, London 1880, S. 543. 65 | Ernst Mach: Analyse der Empfindungen, (1886), Darmstadt 1985, Kapitel 7: Weitere Untersuchungen zum Raumempfinden.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

trischen Raum. Der physiologische (oder auch lebensweltliche) Raum sei der des Alltags (anisotrop und inhomogen); der metrische (oder auch wissenschaftliche) Raum hingegen gehöre in die Geometrie und Physik.66 Auch führten physiologische Untersuchungen über die Frage, ob es ein Raumorgan im Körperinneren gebe oder ob Menschen absolute Richtungen empfinden können, zu jenem Forschungsansatz, nach dem der Raum nicht mehr als einheitlich und gleichbleibend interpretiert wird, sondern als in direkter Abhängigkeit vom jeweiligen wahrnehmenden Organismus stehend.

Z u A spek ten der instrumentell- tak tilen wie der op tischen R aumerschliessung Der taktile Raum erschließt sich entweder mit unmittelbaren Körperberührungen oder mit Hilfe von Werkzeugen wie dem Blindenstock, dem teletaktilen Auge des Blinden (zur Raumwahrnehmung von Blinden siehe unten auch den Abschnitt zu Israel Rosenfield). Zum Werkzeuggebrauch ist festzuhalten, daß jedes Werkzeug praktisch zu einem (angenehmen, nützlichen) Teil des eigenen Körpers werden kann. Mit dem Stein öffne ich die Nuß, ohne mir die Hand zu verletzen. Mit dem Blindenstock berühre ich eine Fläche, bis zur der ich ohne Stock, nur mit dem Arm und der Hand, nicht hinreichen kann, und erschließe mir damit mein weiteres unmittelbares Umfeld; dabei bin ich es – in meinem Erleben –, der die Fläche berührt, und nicht der Stock. Gäbe es einen Stock, der von der Erde bis zur Mondoberfläche reichte und den man mit der Hand führen könnte, dann wäre wiederum ich es, der den Mond berührt – und nicht der Stock (wenn auch die Stockspitze in den Mondstaub taucht und nicht mein Digitus). Ich erreiche den Mond mit Hilfe des Stocks, doch bin ich es, der ihn berührt.67 Der optische bzw. sichtbare Raum impliziert die Aneignung des Raums über das Sehen. Sehen bedeutet hier soviel wie den Raum besitzen, ihn in Besitz nehmen. Nicht umsonst verknüpft Gaston Bachelard äugen mit eigen.68 Was ich mit meinen Augen erblicke (eräuge), das mache ich mir zu eigen, nehme ich in Besitz. 66 | Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, (1905), Darmstadt 1968, S. 337-352. 67 | Vgl. Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 37: »Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entsprechend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt nicht immer mit den Grenzen des Körpers exakt überein. So können auch Instrumente in das subjektive Körperschema integriert werden: Beim Tasten mit einem Stock empfindet man die Härte der betasteteten Oberläche nicht in der Hand, sondern an dessen Spitze. [Fußnote: ›Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden‹ (Merleau-Ponty: [Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S.] 173).] Der Autofahrer spürt die Qualität des Straßenbelags unter den Reifen seines Wagens. Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu ›inkorporieren‹, so daß sie für ihn buchstäblich zu einem neuen Leibglied wird. Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifiziert sich also der subjektive Leibraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Grenze, an der die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet.« 68 | Vgl. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 84.

Kapitel I.2

Für die empirisch-psychologische Wahrnehmungstheorie im allgemeinen zeigt sich somit, daß die Raumwahrnehmung aus den visuellen, den aktiv-taktilen und den damit einhergehenden motorischen Erfahrungen aufgebaut ist.

S prung zu K ant und der apriorischen A nschauung des R aumes Immanuel Kant spielt in dieser Arbeit vor allem hinsichtlich des Selbstbegriffs eine Rolle (siehe II. Hauptteil), hier genüge zum Raumbegriff nur eine Notiz: In der vorkritischen Schrift über den ›Ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raume‹ (1768) erinnert Kant daran, daß der Begriff des relationalen Raums den Begriff des absoluten Raums voraussetze69; wichtig aber ist hier vor allem sein Hinweis auf die drei Grundorientierungen des Körpers: Rechts und links, oben und unten, vorn und hinten (ich würde als eine ursprünglichere Orientierung hinzufügen: innen und außen). Das heißt, der Mensch erscheine sich von Anfang an als leibliche Instanziierung, begegne der Welt perspektivisch und erlebe vom körperlichen Standpunkt aus die Unterschiede der Gegenden. Damit kann Kant einerseits den physiologischen Wahrnehmungsraum begrifflich fassen, andererseits auch die physiologische Grundorientierung übertragen auf einen lebensweltlichalltäglichen Orientierungsraum.70 Mit der ›Kritik der reinen Vernunft‹ kommt es gewissermaßen zu einem Einschnitt in der Geschichte des Raumbegriffs: denn Kant begreift ›Raum‹ hier neben der ›Zeit‹ als »eine nothwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt« 71, beziehungsweise bestimmt den ›Raum‹ als reine Anschauung – ›Raum‹ wird damit erster formaler Grund der Sinnenwelt. ›Raum‹ ist folglich die Grundlage oder besser: die Voraussetzung für die Beschreibung räumlicher Konfigurationen. So habe jeder Raum neben der »empirischen Realität« der Objekte eine »transzendentale Idealität« 72 . Dazu komme, daß »die Qualität des Raums, worin wir« die Dinge »anschauen, das bloß Subjective meiner Vorstellung derselben« 73 sei. Wichtig hinsichtlich der Kantischen Raumphilosophie ist hier also sein phänomenologisch nachvollziehbarer physiologischer Hinweis auf die »Grundorientierungen des Körpers« einerseits, und sein Hinweis auf die »transzendentale Idealität« des Raums andererseits – der Raum als das Apriori, das allen meinen Vorstellungen zum Grunde liege. Gerade letzteres ist für die These dieser Arbeit 69 | Immanuel Kant: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, in: Akademie-Ausgabe, Band 2, Berlin 1905, S. 375-383. – Vgl. auch Friedrich Kaulbach: Die Metaphysik des Raums bei Leibniz und Kant, Köln 1960, 92ff. 70 | Hier schließe ich mich weitgehend der Interpretation von Stephan Günzel an, in: Stephan Günzel und Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie, a.a.O., S. 34. 71 | Immanuel Kant: Der transzendentalen Ästhetik Erster Abschnitt. Von dem Raume, § 2: Metaphysische Eröterung dieses Begriffs, in: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Band 3, Berlin 1911, S. B 38 (S. 52). 72 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 44 (S. 56). 73 | Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung, Kapitel VII, Akademie-Ausgabe, Band 5, Berlin 1913, S. 189.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

wichtig: Wenn der Raum das Apriori meiner Vorstellungen ist, dann bedeutet dies auch, daß der Raum ebenfalls meiner Vorstellung von mir selbst zum Grunde liegen muß: Ohne Raum ist die Vorstellung eines Selbst nicht möglich.74

Ü bertr agungs - und V erschr änkungsmöglichkeit der R äume – E in B eispiel aus der E isenbahn Wie oben erwähnt, ist der Ausgangspunkt für das Verständnis des Raumbegriffs seine alltägliche Bedeutung – der Raum als buchstäblich betretbarer, begehbarer Innenraum. Doch weil sich als entscheidendes Charakteristikum des Raumes die Umgrenzung gezeigt hat, kann diese ursprüngliche Raumerfahrung dank des Umgrenzungscharakteristikums übertragen werden – auf jedes Phänomen, welches sich von anderen abgrenzt, respektive welches abgegrenzt und von anderen Bereichen unterschieden ist. Jedoch können sich unter der Voraussetzung dieser Übertragungshandlung unterschiedliche Räume, buchstäbliche wie übertragene, ineinander verschränken. Folgende fiktive Szene soll dies illustrieren: Winter in Mitteleuropa: Im Expreßzug Hamburg – Frankfurt a.M. diskutiert ein Ehepaar, Mitte dreißig, alleine in einem Sechser-Coupé am Fenster sich gegenüber sitzend, lebhaft über die Eingangsszene von Dostojewskis Roman ›Der Idiot‹ und betrachtet beiläufig, in schweigsamen Pausen, die vor dem Fenster vorüberziehende Landschaft.75 Am Bahnhof von Wilhelmshöhe bei Kassel belegen zusteigende Reisegäste die noch freien Plätze des Coupés. Ein junger Mann vertieft sich sogleich in Jules Vernes Roman ›20000 Meilen unter den Meeren‹ 76; er befindet sich damit, neben seiner Vorfindlichkeit im Coupé, zugleich im fiktiven Innenraum des Romans und dortselbst in einem Boot wieder. Eine Archäologiestudentin wischt über ihr Telephon und betrachtet neue Ausgrabungsphotographien aus Troja, welche ein internationales Ausgräberteam auf die Plattform eines Wissenschaftsnetzwerkes hochgeladen hat; man glaubt, die Gemächer von Helena gefunden zu haben. Ein 74 | Wenigstens angemerkt sei, daß rund hundert Jahre nach Kant Vertreter des Neukantianismus trotz der Devise ›Zurück zu Kant!‹ nicht einfach dessen Raumbegriff übernehmen konnten, sondern versuchen mußten, Kants Annahmen hinsichtlich der Apriorizität von räumlicher Anschauung innerhalb eines veränderten wissenschaftshistorischen, empirisch und experimentell ausgerichteten Umfelds entsprechend anzupassen. 75 | Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 52011; darin unter anderem das Kapitel ›Der Raum der Glasarchitektur‹. – Vgl. zur cinemaskopisch-sinnlichen Eindrücklichkeit des Bahnreisens die Eingangspassagen von Thomas Mann: Der Zauberberg, (Berlin 1924), Frankfurt a.M. 2012, in denen ihr Erzähler schildert, wie sein Held Hans Castorp während des erstmaligen Erlebens einer Bahnfahrt in den Schweizer Hochalpen seelisch in Mitleidenschaft gezogen wird. – Vgl. zum Thema Ausblick aus einem Innenraum auch das Glashaus R128 von Werner Sobek in Stuttgart, etwa: Martin Vogelsang: Glasklar. Die Architektur von morgen hat eine Adresse: die Stuttgarter Römerstraße 128, in: Madame 09/2004, S. 208f. 76 | Jules Verne: 20000 Meilen unter den Meeren, aus dem Französischen von Volker Dehs, München 22011. – Zur ›Poetik des Schiffsraumes‹ siehe Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., S. 950ff.

Kapitel I.2

schwermütiger Hegel-Spezialist fällt, kaum setzt der Zug seine Fahrt fort, in einen unruhigen Schlaf und träumt davon, wie er vor Jahren mit seiner damaligen Affäre in Frankfurt im Kino den Spielfilm ›Matrix‹ sah; im Traum erlebt er Szenen des Films so, als wäre er ein Akteur in der dargestellten Matrix-›Wirklichkeit‹. Eine Frau in den besten Jahren betrachtet auf ihrem Laptop eine Dokumentation über das ausschweifende Leben im antiken Pompeji; der Film enthält nachgestellte Szenen, die den Alltag in der untergegangenen Stadt explizit vorführen. Der Zug rauscht inmitten der bergigen Landschaft zwischen Wilhelmshöhe und Fulda durch mehrere Tunnel und kommt in einem von ihnen im Zuge einer abrupten Notbremsung unvorhergesehen zum Stehen. Der Grund für den Halt ist den Reisenden zunächst nicht bekannt, eine Durchsage bleibt vorläufig aus; im Coupé gehen die Insassen weiter ihren Beschäftigungen nach. Plötzlich stürzt ein Bahnschaffner über den Gang an der Coupétür vorüber; drei weitere folgen ihm in kurzen Abständen nach. Die Coupéinsassen wundern sich nun über diesen zweifellos ungewöhnlichen Vorgang, schauen sich um, auch der Hegelianer ist aufgewacht, und alle sprechen unwillkürlich miteinander, kommentieren die Lage und die Frage, was passiert sein könnte. Was nun das Raumerleben berührt, so läßt sich festhalten, daß die Insassen neben dem buchstäblichen Coupéraum implizit auch die gemeinsame Sphäre des Verwundertseins, ja der Beunruhigung erleben. Zugleich bleibt das Paar aber doch ein Paar und bildet weiter eine gemeinsam geteilte Paarsphäre (sogar eine besonders innige, es hält nun Händchen), wenngleich für das Paar seine eigene Paarsphäre nicht mehr allein im Zentrum seines Raumerlebens steht. Davon abgesehen läßt sich aus einer Außenperspektive der Coupéraum als ein Innenraum des buchstäblichen Innenraums Zug begreifen. Dabei befindet sich der Zug selbst im buchstäblichen Innenraum Tunnel, der sich tief im Berginneren befindet. Die Tatsache, daß die Reisenden sich mit dem Zug in einem Tunnel und noch dazu in einem Berg befinden, erregt durchaus Besorgnis; nicht nur wirkt des Tunnels Dunkelheit und Abgeschnittenheit von der Oberflächenwelt unangenehm; auch beunruhigt die Vorstellung eines möglichen Lokbrandes: die damit einhergehende hochgiftige Rauchentwicklung würde den Tunnel bzw. den Zug binnen kurzer Zeit in einen Massensarg verwandeln, weil die Klimaanlage des Zugs die Giftwolken in den Passagierraum leiten würde. So ist der außenperspektivisch gesehen buchstäbliche Innenraum Tunnel für die Passagiere ihrem subjektiven Empfinden nach erst recht ein Außenraum, vor dem sie augenblicklich nur noch der vertraute, beleuchtete, aber unsicher gewordene Zuginnenraum schützt. Diese unterschiedlichen Räume – buchstäbliche, übertragene, telekommunikative, virtuelle und fiktive – sind ineinander verschachtelt und verschränkt, und anders, als es aus der alltäglichen Perspektive zunächst scheinen mag, ist das tatsächliche Raumerleben vielfältig, wechselhaft, gemischt, gleichzeitig und dynamisch. Um diese buchstäbliche Vielfältigkeit des Raumerlebens wissenschaftshistorisch weiter einordnen zu können, werden nun schlagwortartig neuere, im weiteren Sinne phänomenologische und die bisherige Raumtheorie erweiternde Raumbegriffe des 19., des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts diskutiert.

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Kapitel I.3 Neuere Raumbegriffe seit dem 19. Jahrhundert

D ie B rentano -H usserl-W ende Um zum Beispiel Martin Heideggers auch für die kontinentale Phänomenologie seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts folgenreiches Raumkonzept des In-der-Welt-seins in die Raumbegriffsgeschichte einordnen zu können, muß zuvor an den Zusammenhang des Raumdenkens mit der Geschichte des Bewußtseinsbegriffs wenigstens stichwortartig erinnert werden, vornehmlich an den oben erwähnten Begriff des intentionalen Bewußtseins bei Franz Brentano. Zunächst zeigte, wie bemerkt, Immanuel Kant, daß auch der geometrische Raum sich nach apriorischen Vorgaben des Verstandes richte; jede Erfahrung, die ich in der Welt mache, habe ihr Apriori in der verstandesmäßig gegebenen Anschauung des Raumes. Dabei werden nach Kant die relativen Veränderungen im Raum vor dem Hintergrund einer quasi überwölbenden unteilbaren Raumanschauung angesiedelt – der relationale Raum setzt den absoluten voraus. (In gewisser Hinsicht fragwürdig ist dieses Konzept insofern, als der so verstandene apriorische Raum »zu einem starren Gebilde«1 zu werden droht, so daß allein der Zeit das Nacheinander von Bewegung und Geschichte zugeordnet werden kann.) Weil nach Kant darüberhinaus der Schluß vom Ich denke zum Ich einen Paralogismus darstellt (siehe unten den Fichte-Schelling-Hinweis im II. Hauptteil) und weil das ›Ich‹ nur die Funktion hat, mich logisch-grammatikalisch zum ›Subjekt‹ meiner Vorstellungen zu machen, spielt eigentlich schon bei Kant, pointiert gesagt, weniger das Subjekt eine tragende Rolle, als die Beziehung von Bewußtsein und Gegenstand. Doch ist das Konzept, nach welchem Bewußtsein einerseits und Gegenstand andererseits getrennt betrachtet werden, zumindest phänomenologisch nicht nachvollziehbar. Darin liegt Brentanos Pointe: das Bewußtsein als intentionales ist immer Bewußtsein von etwas – ein leeres Bewußtsein, zu dem noch etwas hinzukommt, ergibt phänomenologisch keinen Sinn, somit auch nicht die Trennung von Bewußtsein (Innenwelt) und Gegenstand (Außenwelt). Oder, um es mit Edmund Husserl zu sagen: schon die Frage, inwiefern das Subjekt die Außenwelt erkennen könne, sei falsch gestellt. Denn das Bewußtsein 1 | So Stephan Günzel, in: Kopernikanische Wende, in: S. G. (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 77-89, Zitat S. 78.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

sei keine in sich geschlossene isolierte Sphäre, in der die Vorstellungen wie in einer inneren Welt enthalten wären. Nur gemäß dieser Ansicht ließe sich fragen, ob die Vorstellungen von den Gegenständen den Dingen auch entsprächen, also angemessene Repräsentationen der Dinge seien. Doch das Bewußtsein dürfe eben nicht als eine von den Gegenständen getrennte Sphäre verstanden werden, vielmehr, wie gesagt, als Bewußtsein von etwas, das so gesehen immer schon bei den Sachen sei. Husserl: »Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchen cogitationes bewußt seiende und mir geltende.«2 Bewußtsein und Gegenstände bilden damit einen unauflöslichen Zusammenhang. Bewußtsein und Welt sind gewissermaßen eins. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie löst sich auf: Der Mensch steht nicht der Welt gegenüber, sondern ist auf vielfältige Weise in sie eingebettet. (Das ändert natürlich nichts daran, daß ich aus alltagsperspektivischer Sicht in der Regel zwischen Innenraum und Außenraum unterscheiden kann.) Man könnte diesen Gedanken, daß Bewußtsein immer Bewußtsein von etwas und damit letztlich immer schon bei den Gegenständen sei, auch die ›BrentanoHusserl-Wende‹ nennen. Sehr knapp gesagt: Nach Kants Darlegung, daß Gedanken ohne Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind seien (womit er in Richtung einer Einheit von Bewußtsein und Gegenstand zielte, ohne freilich schon beides miteinander »vermischen«3 zu wollen), scheint erst mit dieser ›Wende‹ in der Moderne vollends der Versuch gelungen zu sein, die Subjekt-Objekt-Dichotomie aufzulösen. Kants kopernikanische Wende, nach der nicht wir uns nach der Natur richten, sondern die Natur sich nach uns, hatte eine starke erkenntnistheoretische Pointe; doch blieb in seinem Konzept der Trennung zwischen Erscheinungswelt und der Sphäre des ›Dings an sich‹ ein dualistischer Unterton erhalten. Kant selbst beklagte bekanntermaßen den »Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns […] bloß auf Glauben annehmen zu müssen […]«4. Erst mit der Brentano-Husserl-Wende, könnte man folglich überspitzt sagen, gelingt es in der Moderne, auf nachhaltige Weise den dualistischen Geist-Idealismus zu überwinden, an dem sich schon Aristoteles’ Platon-Kritik entzündete – eine Wende, die im 20. Jahrhundert unter anderem Martin Heidegger und Hermann Schmitz auf fruchtbare Weise phänomenologisch fortsetzen.5

2 | Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana I, hg. von Stephan Strasser, Den Haag 1963, S. 8. 3 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 75 (S. 75). 4 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B XXXIX (S. 23). 5 | Diese nur angedeutete Skizzierung einer Brentano-Husserl-Wende abstrahiert natürlich von den zum Teil sehr heterogenen Werken von Franz Brentano und Edmund Husserl, die sich eigentlich nicht ohne weiteres über einen Leisten schlagen lassen. Mir geht es allein um die Pointe, daß Menschen immer schon ›bei den Sachen‹ sind – und die Subjekt-ObjektDichotomie damit aufgehoben ist.

Kapitel I.3

H usserl , der L eib , das I ch und der R aum sowie P ositionen von H eidegger , S artre , S chmit z Wie sich eben schon andeutete, wird es zumindest hinsichtlich Edmund Husserl nicht möglich sein, die Bereiche Ich, Bewußtsein, Leib und Raum getrennt zu behandeln, sie gehören zusammen und sind ineinander verschmolzen. Deshalb folgen in diesem eigentlich dem Raumdenken gewidmeten Teil auch Andeutungen über Husserls Ich- und Leibkonzepte. Husserl streicht ganz im Brentanoschen Sinne heraus, daß in jedem Bewußtseinszustand ein bestimmter Bewußtseinsakt und ein Bewußtseinsinhalt immer schon zusammengehören; wobei anstelle des erkennenden Subjekts die Art und Weise, wie Objekte erscheinen, in den Betrachtungsfokus einrückt. Wichtig hinsichtlich des Begriffs der Wahrnehmung ist hier auch der Umstand, daß Wahrnehmungen einfach stattfinden und anders als Erkenntnisse nicht falsch oder wahr sein können. Dabei ist für Husserl das transzendentale Ich im wesentlichen der subjektive Pol der intentionalen Bewußtseinserlebnisse. Es sei das Einheitsprinzip, das bei unterschiedlichen Bewußtseinsakten identisch bleibe, Husserl nennt es auch ›reines Ich‹. Das Ich erfährt sich als Subjekt von intentionalen Erfahrungen.6 Husserl unterscheidet demnach personales Ich und reines Ich. Das personale Ich habe Überzeugungen, Motivationen etc., es beziehe sich intentional auf die Umwelt. Das reine Ich »liegt aber auch im personalen Ich beschlossen, jeder Akt cogito des personalen Ich ist auch ein Akt des reinen Ich« 7. Dabei habe das personale Ich das Bewußtsein einer beharrenden Identität in der zeitlichen Veränderung, wohingegen das reine Ich ohnehin numerisch identisch und unwandelbar sei. Das für das personale Ich prägende Bewußtsein einer beharrenden Identität werde über die narrative Herstellung eines Sinnzusammenhangs hervorgerufen. Es ist dabei der Leib, der für Husserl den räumlichen Bezugspunkt des wahrnehmenden Subjekts bildet. Vom Leib ausgehend, unternimmt das Subjekt die räumlichen, von Kant »Grundorientierungen« genannten Einteilungen rechts und links, oben und unten, vorn und hinten (ich füge wieder als ursprünglichere Orientierung hinzu: innen und außen). In dieser Funktion (orientierende Mitte für räumlich perspektivische Zuordnung zu sein) zeigt sich die konstitutive Leistung des Leibes hinsichtlich räumlicher Wahrnehmung. Jeder Gegenstand erscheint mir also perspektivisch und unter den individuellen Vorgaben meiner Wahrnehmungsfähigkeit und meiner biographischen Geschichte. Die Perspektivität setzt dabei notwendigerweise eine räumliche Position voraus, eine räumliche Position setzt wiederum einen Leib voraus. (Von hier kommt Husserl zum Ausdruck des inkarnierten Subjekts – ein Ausdruck, den ich wegen der dualistischen Anklänge für wenigstens fragwürdig halte, ich komme gleich sowie unten im Abschnitt über Bollnow darauf zurück.) 6 | Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Husserliana IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1991, S. 104. 7 | Edmund Husserl, zitiert nach: Rudolf Benet, Iso Kern, Eduard Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1989, S. 198.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Was die oben erwähnte »Kinästhese« 8 betrifft, die Einheit von Sich-bewegen und Bewußtsein dieser Bewegung, so zeigt dieses Phänomen, daß Sinneseindrücke nicht nur rein ›erlitten‹ werden, sondern aus der Bewegung des Leibes selbst mit hervorgehen – aus der Bewegung der Arme, der Hände, der Beine, des Kopfes etc. (Max Scheler setzt den »Tast-Handlungsraum« mit dem »kinästhetischen Raum«9 gleich.) Während ich im Handeln die Welt wahrnehme, bewege ich mich immer auch zielgerichtet und schärfe, präzisiere und korrigiere so meine Eindrücke: diese damit verbundenen Körperbewegungen sind folglich immer Teil des »Leibbewußtseins«10 – des Bewußtseins vom eigenen Leib als Wahrnehmungsund Empfindungsorgan, das ich willentlich bewege. (Neuerdings hat der Wahrnehmungspsychologe James J. Gibson an die Tatsache erinnert, daß Menschen mit beweglichen Augen sehen, die sich in einem drehbaren Kopf befinden, welcher wiederum Teil eines beweglichen, sich durch den Raum bewegen könnenden Körpers ist. Die ortsgebundene Perspektive ist folglich immer nur eine vorläufige.11 Das ändert freilich nichts daran, daß unabhängig davon, wohin ich mich bewege, es doch immer ich bin, der die Welt (die Umgebung) betrachtet – immer befinde ich mich im Zentrum meiner Weltwahrnehmung.) Nach Husserl besitze das Subjekt folglich nicht nur einen Leib, sondern es sei ein Leib – eine leibliche Subjektivität. Meine alltägliche Wahrnehmung – zum Beispiel am Schreibtisch – ist vom leiblichen Hier bestimmt – da liegt der Stift, hier das Blatt etc. Der Leib sei so gesehen das Zentrum eines egozentrischen Raums12, anders gesagt: die Welterfahrung werde immer durch die Leiblichkeit ermöglicht.13 Husserl spricht hinsichtlich der Leibwahrnehmung auch von Innen- bzw. Außenleiblichkeit. Mein Leib sei einerseits etwas inneres – ich erlebe meinen Willen, spü-

8 | Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, a.a.O., §§ 49ff., sowie Edmund Husserl: Ding und Raum, a.a.O. 9 | Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Werke in Einzelausgaben, Bonn 18 2010 (nach der 3. durchgesehenen Auflage von 1995 der Gesammelten Werke, Band IX), S. 32. 10 | Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Husserliana XI, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1966, S. 299. – Siehe auch Edmund Husserl: Ding und Raum, a.a.O., S. 176. 11 | James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979, S. 53 und S. 205. – Siehe zur Perspektive in kunsthistorischer Hinsicht auch Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, (1975), aus dem Englischen von Heinz Jatho, München 2002. 12 | Siehe Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, a.a.O., S. 298; sowie Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, a.a.O., S. 159; sowie Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie. Husserliana IX, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1962, S. 392. 13 | Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1962, S. 220; sowie Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, a.a.O., S. 56; sowie Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Husserliana V, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1971, S. 124.

Kapitel I.3

re mich, trete den Ball etc. Andererseits könne ich mich im Spiegel sehen und mich mit den Händen selbst berühren – als äußeres Objekt.14 Was die sogenannte rein phänomenologische Geisteshaltung betrifft, so sei diese von jeglicher Alltagswahrnehmung befreit (die mit Freude, Lust, Glück, Hoffnung, Sorge etc. einhergehe), die phänomenologische Methode erfordere »strenge Ausschaltung aller existentialen Stellungnahmen«15, die sogenannte eidetische Reduktion als ›Ausklammerung der Welt‹. Doch Husserls methodologische Aufforderung, die Welt auszuklammern, ist sowohl auf der biologischen wie der phänomenologischen Ebene unmöglich, eine Aporie in Form einer scheinbar möglichen Illusion, und das »reine Schauen« im streng Husserlschen Sinn bleibt eine tatsächlich reine, analytisch nicht gestützte Behauptung. Der Mensch sieht nie ausschließlich »die bloßen Phänomene« bzw. die Sachen selbst – diese Forderung, die bloßen Phänomene zu sehen, wäre so, als würde Kant behaupten, man könne bei entsprechend »reinem Schauen« das Ding an sich erkennen und erinnert an Thomas Nagels ebenfalls unmöglich einzulösende Forderung, auf die Welt einen »Blick von nirgendwo«16 zu richten. Der Mensch sieht einfach stets als der Mensch, der er ist, mit seinen historischen, sozialen, emotionalen, biologischen, intellektuellen Bedingungen und Bedingtheiten; und das wäre auch dann noch der Fall, wenn man versuchen sollte, von möglichst vielen dieser Bedingungen und Bedingtheiten abzusehen und auch von seiner ›Meinung‹, die man zu etwas hat – auch dann bliebe der Mensch qua Mensch doch in einer Weise bedingt, daß ihm das »reine Schauen« niemals zuteil werden könnte. Davon ganz abgesehen stellte sich die Frage, was der Mensch gewönne, sollte er ein Phänomen in seiner reinen Bloßheit erkennen können? Würde sich unter einem solchen, hypothetischerweise eingenommenen Blick das Phänomen, das im Normalfall in viele Weltbezüge eingebettet ist, nicht auflösen und unsichtbar werden müssen? Und würde ein Phänomen, das kein Phänomen mehr ist, noch ein Phänomen sein können? Vor dem weiter oben angedeuteten Hintergrund des immer schon Bei-denSachen-seins des Menschen wird Martin Heidegger das Konzept des In-der-Weltseins formulieren (siehe unten) und Maurice Merleau-Ponty sein Heidegger-analoges Konzept des Zur-Welt-seins (être-au-monde). Die Dinge sind mir immer schon zuhanden, vertraut, selbstverständlich, fraglos, sind eingelassen in ihre »Bewandtnisganzheit«17. Erst wenn sie aus dieser Bewandtnisganzheit bzw. aus ihrem Funktionszusammenhang fallen – etwa weil der Hammer kaputtgeht –, erscheinen sie mir in ihrer bloßen Vorhandenheit, öffnet sich vorübergehend eine Art cartesianischer Abgrund zwischen Bewußtsein und Gegenstand, zwischen 14 | Siehe Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II. Husserliana XIV, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, S. 337. 15 | Edmund Husserl: Brief an Hugo von Hofmannsthal, in: Edmund Husserl: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Waldenfels, Frankfurt a.M. 1993, S. 118-120, zitiert nach: Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, (Unseld Lecture Tübingen 2009), Berlin 2010, S. 30f. 16 | Thomas Nagel: Der Blick von nirgendwo, aus dem Englischen von Michael Gebauer, Frankfurt a.M. 1992. 17 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., §18, S. 84.

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Subjekt und Objekt. Mit Brentano jedoch läßt sich daran erinnern, daß die cartesianische Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Dichotomie nicht der alltäglichen Weise entspricht, die Welt wahrzunehmen. Der cartesianische Gegensatz Bewußtsein – Gegenstand ergibt auf der phänomenologisch-zuhandenen Ebene keinen Sinn. Im übrigen zeichnet auch Jean-Paul Sartre ähnlich wie Heidegger das Bild eines von Gebrauchsbezügen strukturierten Raums, in dem die Gegenstände stets auf ein praktisches Subjekt bezogen seien – der Leib als der Bezugsrahmen.18 Der Leib könne als Objekt vergegenständlicht werden; in der Regel jedoch sei er mir immer implizit mitgegeben. Sartre: »[…] denn die Seele ist der Körper, insofern das Für-sich seine eigene Individuation ist«19; und: »[…] ich bin meine Hand«20; und: »Ich lebe meinen Körper […]«21; und: »[…] ich bin mein Körper, insofern ich bin […]«22; und: »Der Körper gehört also zu den Strukturen des nicht-thetischen Bewußtseins (von) sich […]; der Körper ist das Unbeachtete, das ›mit Stillschweigen Übergangene‹, und doch ist er das, was das Bewußtsein ist; es ist sogar nichts anderes als Körper, der Rest ist Nichts und Schweigen.«23 Kurzum: Ich bin der Leib. Sartre unterscheidet dabei wie Husserl zwischen dem »fungierenden« (Husserl24), subjektiven, vorreflexiven Leib einerseits und dem thematisierten, objektiven Körper andererseits. Anders gesagt: Ich bin der Leib, und ich habe einen Körper. Ähnlich wird es Merleau-Ponty formulieren: »So bin ich selbst mein Leib […] und umgekehrt ist mein Leib wie ein natürliches Subjekt«25, und: »Der Leib […] (ist) gleichsam ein natürliches Ich und selbst das Subjekt der Wahrnehmung.«26 Was das Ich betrifft, so gilt es für Sartre als formales Prinzip der Vereinheitlichung, analog zu Kants Ich denke. Wie für Husserl ist für ihn naheliegend, daß der Bewußtseinsstrom kein äußeres Prinzip der Individuation benötige, da er per se individuiert sei.27 Im täglichen Leben sei das Ich in der Regel absorbiert und erscheine erst aus der reflektierenden Distanz als Bewußtsein des Ichs. Um an dieser Stelle wie angekündigt noch einmal die Frage aufzugreifen nach der Sinnhaftigkeit von Wendungen wie ›das inkarnierte Subjekt‹ (Husserl) oder ›Ich bin der Leib‹ (Sartre/Merleau-Ponty/Bollnow), erinnere ich zunächst auch hier an die (von mir grundsätzlich – mit Abstrichen – geteilte) differenzierende Kritik an solchen Ich-und-mein-Körper-Konzepten, wie sie Maxwell Bennett und Peter Hacker vorbringen:

18 | Siehe Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Traugott König, aus dem Französischen von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 566ff. 19 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 550. 20 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 572. 21 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 575. 22 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 577. 23 | Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 583. 24 | Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I. Husserliana XIII, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, S. 240. 25 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 234. 26 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 243. 27 | Vgl. dazu auch Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of the Self, a.a.O., S. 316-335, hier S. 323.

Kapitel I.3 »Ich bin […] nicht mein Körper – nicht der Körper, den ich habe. Natürlich bin ich ein Körper, nämlich der lebendige Mensch, der hier vor Ihnen steht, ein spezifisches, fühlendes, in Raum und Zeit fortdauerndes Wesen, das Verstand und Willen hat und daher eine Person ist. Aber mein Körper bin ich genausowenig, wie ich mein Geist bin. Ich bin auch kein verkörpertes Gehirn. Es ist falsch anzunehmen, Menschen seien überhaupt irgendwie ›verkörpert‹. Diese Auffassung ist Teil jener platonischen, augustinischen und cartesianischen Tradition, die man verwerfen sollte. Es wäre sehr viel besser, im Anschluß an Aristoteles zu sagen, der Mensch sei ein beseeltes (empsychos) Wesen, ein Lebewesen mit Fähigkeiten, die ihm in der für es natürlichen Lebensform den Status der Person verleihen.« 28

Ich lasse die Frage beiseite, ob es von Bennett und Hacker an dieser Stelle klug ist, Aristoteles’ Empsychos-Konzept als die bessere Alternative einzuführen (und damit auch das Verständnisproblem mit der nach Aristoteles den menschlichen Tod überlebenden Logos-Seele), und möchte nur betonen, daß Aussagen wie ›Ich bin der Leib‹ in einem bestimmten Sinne durchaus inhaltlich gerechtfertigt sein können, wenn und nur wenn man ihre genaue Verwendung und damit ihre Bedeutung kennt; weil jedoch die Einprägung jedes heutigen zumindest westlichen Menschen und damit auch Wissenschaftlers durch den jahrtausendealten Leib-Seele-Dualismus so stark ist, halte ich es aus explizit-taktischen Gründen für geboten, wann immer möglich jede Formulierung, die dualistisch mißverstanden werden könnte, unbedingt zu vermeiden. Daraus folgt, daß man Wendungen finden muß, die womöglich auf den ersten Blick tautologisch oder sinnlos klingen, Wendungen wie ›Ich bin ich‹ oder ›Ich bin einfach ich‹ oder ›Ich bin einfach dieser Mensch, der ich eben bin‹. Und wenn man noch das Adjektiv ›körperlich‹ hinzufügen wollte, um den scheinbaren tautologischen oder Null-Aussage-Charakter zu vermeiden, so wäre das in etwa so, als würde man zum Begriff ›Schimmel‹ noch das Attribut ›weiß‹ hinzufügen – also überflüssig. Jeder Mensch ist per se körperlich (und das, was man im Alltag ›Geist‹ nennt, ist biologisch gesehen eine körperliche Funktion des Menschen). Was nun auf dem neuphänomenologischen Feld die Leib-Raum-Lehre von Hermann Schmitz berührt, so ist vor allem daran zu erinnern, daß Schmitz im Zuge seiner Neuausrichtung der Phänomenologie im Sinne einer leibfokussierten Philosophie nicht nur den Psychologismus tadelt, insofern dieser die Einquartierung alles Erlebens in die nach Homer etwa während der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert entstandene »private Innenwelt«29 (›Seele‹) betreibe, sondern auch den Reduktionismus genannten Vorgang kritisiert, bei welchem die Außenwelt »bis auf wenige […] Merkmalsorten« – also die unspezifischen Sinnesqualitäten wie Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage, Anordnung und deren gedachte Träger (Atome) – »abgeschält« werde, wobei der »Abfall der Abschälung […] in den Seelen abgelegt« werde und folglich die zuvor ausgegossenen Gefühle quasi in die Seele hineinverlagert (introjektiert) würden.30 Diesen Gesamtvorgang nennt Schmitz 28 | In: Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker, John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie, a.a.O., S. 230f. – Vgl. hierzu auch Bernard Williams: Sind Personen Körper?, in: B. W.: Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956-1972, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Ditzingen 2001. 29 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 19ff. 30 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 22.

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mit einer sperrig anmutenden Formulierung die »psychologistisch-reduktionistischintrojektionistische Vergegenständlichung«31; man könnte auch von der Geburt des Gegenstands aus der Trias von Psychologismus, Reduktionismus und Introjektionismus sprechen oder vom Verlust der immer schon vertrauten räumlich-intentionalen Sachverhalte.32 Der philosophisch Hermann Schmitz verbundene Atmosphärologe Gernot Böhme erläutert den Sachverhalt der ›Introjektion‹ anhand des Umstands, daß man »Gefühle erfahren kann, die nicht meine sind und auch niemandes sonst [Böhme spielt auf die »Heiterkeit eines Frühlingsmorgens« an, währenddem ich womöglich »selbst traurig bin«, eine Heiterkeit, die also nicht meine ist, die mich aber doch anmutet und womöglich von meiner Traurigkeit abbringt, M.M.]. Sie [die Gefühle, M.M.] schweben gewissermaßen im Raum unbestimmt in die Weite ergossen […]. Hermann Schmitz […] macht geradezu eine Pointe daraus, daß Gefühle draußen sind ›nicht anders als Straßen‹. Er spricht von einer ›Introjektion der Gefühle‹, also einer Hereinverlagerung in eine menschliche Innenwelt […]. Gefühle seien [im Zuge dieser Hereinverlagerung, M.M.] […] im Sinne der Konzeption eines inneren Menschen und als Attribute oder Zustände einer Seele verstanden worden.«33 Hermann Schmitz’ Kritik an der Vergegenständlichung eröffnet indirekt wissenschaftstheoretische wie lebenspraktische Möglichkeiten, den Menschen sowohl in seinem leibräumlichen Empfinden wie auch in seinem Erleben der phänomenalen Außenwelt beziehungsweise der Umgebung zu begreifen. Der Mensch geht, könnte man mit Hermann Schmitz sagen, zum Teil in die Umgebung über (sein Lachen steckt an), und andererseits geht die Umgebung in den Menschen über (der heitere Morgen stimmt ihn fröhlich). (Dabei ist sicherheitshalber ausdrücklich zu betonen, daß der in dieser Arbeit verwendete Begriff des ›phänomenalen Bewußtseins‹ mit Hermann Schmitz’ Fokussierung auf den ›Leib‹, das ›leibliche Befinden‹ und das ›eigenleibliche Spüren‹ kompatibel ist. Wenn Schmitz also von Formen des leiblichen Erlebens spricht – etwa ›Freude erfüllt mich‹, ›Traurigkeit steigt in mir auf‹, ›Erinnerungen rühren mich an‹, ›ein Gedanke kommt mir‹ etc. –, so handelt es sich gemäß der hier eingenommenen Perspektive um phänomenale Erlebnisse oder explizit gesprochen: um phänomenale Bewußtseinserlebnisse. Der Begriff des ›phänomenalen Bewußtseins‹ bezieht sich also auf alles, was ich phänomenal erlebe, auf Schmerzen und auf Freude, auf Weinen und auf Lachen, auf Gedanken und auf Ideen etc.) Die voranstehenden stichworthaften Abschnitte über Brentano, Husserl und Co sollten nun vornehmlich den Gedanken der ›Brentano-Husserl-Wende‹ unterstützen, daß im Rahmen einer Phänomenologie die philosophiehistorische Subjekt-Objekt-Dichotomie in gewisser Weise aufgehoben wird und damit der Mensch und die Welt beziehungsweise das Selbst und der Raum zumindest aus phänomenologischer Perspektive nicht mehr als rein getrennte Sphären zu behandeln 31 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 22. 32 | Vgl. auch Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969. 33 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, in: G. B.: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 48. – Siehe auch Michael Hauskeller: Atmosphären erleben, a.a.O.

Kapitel I.3

sind. Ich bin in einem bestimmten Sinn der Leib, der Leib ist eingebettet in seine Umgebung, ich wirke auf die Umgebung ein, die Umgebung wirkt auf mich ein.

I ndustrialisierung als R aumzerstörerin und R aumschöpferin sowie S ubjek tivierung der R äume in P hysik und B iologie Von den Raumbegriffsveränderungen auf phänomenologischem Gebiet abgesehen, sei in einer Dazwischenschaltung an das Aufkommen neuer land- und stadtplanerischer Überlegungen über den Raumbegriff im Zuge der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert wenigstens erinnert. Erzwungen wurden diese Überlegungen durch die Umwälzungen der öffentlichen Raumanblicke, die mit den Industrialisierungsschüben in den Bereichen Verkehr (Schienen, Straßen, Flughäfen) und Stadt- und Wohnungsbau einhergingen, mitsamt den zum Teil drastischen Einschnitten in die gewohnten und über Jahrhunderte gewachsenen Umgebungen der Menschen (von den Kriegszerstörungen im Ersten und vor allem Zweiten Weltkrieg zu schweigen). Auch in der Physik wandelte sich das Raumverständnis von Newtons absolutem Raum zu Einsteins relativem Raum, von den weiteren Implikationen für das Raumverständnis auf der atomphysikalischen Ebene im Zuge der Quantentheorie nicht zu reden. Die Biologie skizzierte ihrerseits den subjektiven Raum, der entsprechend den Wahrnehmungsfähigkeiten eines Lebewesens dimensioniert sei: folglich hänge zum Beispiel der Raum einer Zecke, eines Hundes, einer Katze, eines Menschen im wesentlichen von der Organisiertheit des jeweiligen Organismus ab; für diesen Raum verwendet Jakob von Uexküll den (von Friedrich Ratzel seit 1899 eingeführten) Begriff ›Umwelt‹.34 (Dieser beeinflußte wiederum die phänomenologische Philosophie Heideggers insofern, als Heidegger das um-hafte Merkmal der Umwelt, die sich um einen Menschen herum offenbart, in seine anthropologische Überlegung mitaufnimmt.) Jedes Lebewesen lebe demnach in seiner eigenen Umwelt und nehme diese aufgrund der unterschiedlichen Physiologie auch jeweils anders wahr. Weil auch Menschen nicht identisch sind, folgt daraus, daß aus einer biologischen Perspektive gesehen keine zwei Menschen denselben Raum wahrnehmen, sondern jeder in seinem eigenen subjektiven Wahrnehmungsraum verbleibt. So läßt sich nur von einem subjektiven Raum oder von vielen subjektiven Räumen sprechen. (Dies gilt natürlich allein für die genannte biologische Perspektive auf das Raumerleben; gemäß einer alltäglichen wie auch sphärologischen Perspektive lassen sich Räume durchaus als gemeinsame, geteilte Räume erleben.) Im übrigen stellt Karlfried Graf von Dürckheim 1932 mit seinen ›Untersuchungen zum ge-

34 | Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere, (1909), Berlin 21921, S. 219, zitiert nach: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie, a.a.O., Einleitung von Stephan Günzel, S. 38. – Zu Friedrich Ratzels Einführung des Begriffs ›Umwelt‹ siehe Gerhard H. Müller: ›Friedrich Ratzel‹, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 186-188 [Onlinefassung]; URL: www.deutsche-biographie.de/pnd118598538.html, wo es heißt: »Ratzel begründete eine Schule des (bio-)geographischen bzw. des Umweltdenkens und führte den Begriff ›Umwelt‹ noch vor den Biologen seit 1899 in die Wissenschaftssprache ein.«

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lebten Raum‹35 in expliziter Weise die existentielle Frage nach der Interaktion des Menschen mit dem Raum und zeigt dabei, inwiefern der subjektive Raum auch ein geprägter Raum sei, der in seiner Prägung wiederum zurück auf seine Bewohner wirke.

M artin H eidegger und der e xistentielle R aum Heidegger und das Innen des Raumes Martin Heideggers für die phänomenologische Schule seiner Zeit epochemachendes Fragment ›Sein und Zeit‹ bleibt im Rahmen einer aktuellen Raumselbsttheorie von Interesse, insofern in ihm der Fokus auf einer Reflexion des In-der-Welt-seins, überhaupt des In-Seins und damit der Räumlichkeit des menschlichen Lebens ruht. Es handelt sich bei Heideggers Versuch mindestens ebensosehr um eine existentiell ausgerichtete Raum- wie um eine existentiell ausgerichtete Zeit-Analyse. Setzt Husserl die im Raum erscheinenden Dinge phänomenologisch in einen Bezug zum konkreten Leib-Subjekt, das den Welt-Raum von seiner besonderen Perspektive aus erfahre und jeden Gegenstand in räumlicher Hinsicht in einer Umwelt von unterschiedlich deutlichen Umgebungen auffassen könne, zeigt Heidegger in seiner Daseinsanalyse den Menschen als ein Lebewesen, das in eine immer schon vertraute Umgebung und Situation eingetaucht und dessen Merkmal damit das sogenannte In-der-Welt-sein sei. (Peter Sloterdijk wird in seiner Sphärologie sagen, wir seien nicht umstandslos in-der-Welt, sondern in einer »getönten Raumblase«36.) Unerachtet dieses anfänglichen Eingetauchtseins erfindet und erbaut der Mensch im Laufe seines Lebens unentwegt neue Innenräume – und der diesen Umstand beschreibende zentrale Satz lautet: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«37, und die beiden dazugehörigen Hauptbegriffe sind ›Ausrichtung‹ (Orientierung) und ›Ent-fernung‹ (als »Verschwinden-machen der Ferne«38 oder »umsichtige Näherung, in die Nähe bringen«39). Dabei versteht Heidegger dieses In-Sein nicht kategorial, sondern ›existenziell‹ (in der Weise des menschlichen Existierens), und rückt auch das alltägliche Erleben des buchstäblichen In-Seins vor den Horizont des etymologisch abgeleiteten Verständnisses von In-Sein im Sinne von Vertrautsein mit. Das führt dazu, daß entweder die vertraute, zuhandene Welt im Brennpunkt der phänomenologischen Daseinsbeschreibung steht oder die nicht vertraute, vorhandene Welt. 35 | Karlfried Graf von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum. Erlebniswirklichkeit und ihr Verständnis. Systematische Untersuchungen II, in: Neue Psychologische Studien, 6. Band, 4. Heft, München 1932, S. 383-480. Wiederveröffentlicht in: Natur – Raum – Gesellschaft, Band 4, hg. von Volker Albrecht, Jürgen Hasse und Ellen Sulger, Frankfurt a.M. 2005. 36 | Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 143. 37 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 23. Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins, S. 105. – Für das Thema Räumlichkeit vgl. allgemein auch die §§ 12 und 13 sowie 22-24. 38 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 23, S. 105. 39 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 23, S. 105.

Kapitel I.3

Räumlich weile ich also immer schon bei den mir zuhandenen Dingen, die in einem funktionierenden Gesamtzusammenhang meinen Alltag prägen; perspektivisch und interessegeleitet bin ich auf sie hin ausgerichtet. Und fallen sie aus dem Funktionszusammenhang, erscheinen sie mir nur noch als bloß vorhandene Dinge, versuche ich, sie zu ent-fernen, ihre Ferne und Funktionslosigkeit aufzuheben, sie mir wieder vertraut zu machen und in einen sinnvollen Bezug zu mir zu bringen.40 Ich bin also ein näherndes, ein ent-fernendes Wesen und versuche immer, einen intakten Innenraum hervorzurufen. Statt »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe« könnte man daher auch schreiben: Im Dasein liegt eine in der Regel unauflösliche Tendenz auf Innenraumschöpfung, Ich-Bildung, Ich-Einbildung. Ich bin nicht nur mein Körper, mein Geist, ich bin vielmehr alles das, was mir zuhanden ist – und dazu zählen nicht nur die offensichtlichen Dinge: mein Rechner, das Papier, der Stift, die Bibliothek, das Bett, die funktionstüchtige Küche etc., zählt nicht nur das allgemeine öffentliche Bürgerdasein (ich weiß mich im gesellschaftlichen Rahmen schlafwandlerisch zu bewegen und am Leben der bürgerlichen Gesellschaft teilzunehmen41); sondern dazu zählen auch das Gedächtnis, die Erinnerungen, auf die ich bewußten Zugriff habe, die mir zuhanden sind, und zählt ein allgemeines Wissen über mich und meine Umwelt, meine Launen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte etc. – all dieses zusammen ergibt mein mehr oder weniger intaktes Innenraumensemble. (Weniger intakt sind beispielsweise die Räume, die mit Ängsten, Befürchtungen, Krankheiten etc. verknüpft sind, die deshalb meinen Aktionsradius verringern und meine Phantasie lähmen.) Um die Übersetzung von Heideggers Satz auf lapidare Weise zuzuspitzen: Im Dasein liegt eine unauflösliche Tendenz auf Innenraum. Der Innenraum zeigt sich gemäß diesem Ansatz folglich in Form der Frage nach seiner Nähe bzw. seiner Zuhandenheit. Was einem Menschen das ihm Nächste ist, daraus besteht sein Innenraum, den er immer schon und immer neu erlebt und der in der Terminologie dieser Arbeit sein bewußtes Selbst konstituiert. Erlebt er keinen oder einen nur zum Teil intakten Innenraum, dann versucht er quasi automatisch, ihn wiederherzustellen, sich die Dinge so anzunähern, daß sich das alte Innenraumgefüge wieder schließt oder ein neues entsteht. Auf die Frage, wie Raum und Mensch zusammenhängen, kann man also mit Heidegger sagen: Der Mensch ist ein sich orientierendes und allgemein die Welt ›näherndes‹ Wesen. Er ist dann bei sich, wenn er nähert und im Näheerleben von den zuhandenen Dingen bestätigt wird. 40 | Zur Charakteristik des Zuhandenen siehe Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 22, S. 102 und S. 108f. – Zum Begriff der ›Ent-fernung‹ siehe Sein und Zeit, a.a.O., § 23, S. 105, zum Begriff der ›Ausrichtung‹ siehe Sein und Zeit, a.a.O., § 23, S. 108. Zum Begriff der ›Bewandtnisganzheit‹ (S. 84) bzw. eines funktionierenden Gesamtzusammenhangs vgl. Sein und Zeit, a.a.O., § 18, S. 83-88. 41 | Daß dies jedoch nicht unbedingt oder nicht mehr unbedingt reicht, dafür sprechen die von Bazon Brock und Peter Sloterdijk initiierten, auf große Resonanz stoßenden ›Studiengänge‹ zum Profibürgertum an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Vgl. Bazon Brock und Peter Sloterdijk (Hg.): Der Profi-Bürger. Handreichungen für die Ausbildung von DiplomBürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Rezipienten und Diplom-Gläubigen, Schriftenreihe der HfG Karlsruhe – Neue Folge, München 2011.

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Dabei ist der Mensch, auch wenn er im alltäglichen Sprachsinn draußen bei den Dingen ist, im Heideggerschen Sinne und auch im Sinne dieser Arbeit doch auch drinnen – das heißt: das, was buchstäblich draußen ist, ist doch, insofern es mir vertraut ist, übertragen drinnen. Das kommt auch in diesem Passus über das Erkennen zum Ausdruck: »Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem ›Draußen-Sein‹ beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne ›drinnen‹.« 42

Als Mensch bin ich also in einem alltagssprachlichen Sinn zwar draußen bei den mir begegnenden Dingen. Insofern sie mir jedoch vertraut sind, bin ich im übertragenen und heideggerisch existenziellen Sinn doch drinnen, eben mit ihnen vertraut.

Heidegger und das Aus-der-Welt-sein Das heißt im Umkehrschluß auch, daß ich immer dann, wenn mir meine Welt, meine Umgebung nicht mehr zuhanden ist, ich auch nicht mehr in einem intakten Innenraumgefüge weile und mein Ich-Erleben damit erschwert oder sogar zerstört wird. Wenn ich im Falle einer Demenzerkrankung meine Umgebung nicht mehr wiedererkenne, wenn ich mich an mein eigenes Leben nicht mehr erinnern kann, ja, wenn ich mich selbst nicht wiedererkenne und mir selbst fremd bin, dann gelingt es mir unter anderem nicht mehr, einen intakten Innenraum zu erfinden, zu imaginieren, zu erleben – so daß ich mich gar nicht mehr bemerke oder mich lediglich als etwas »vorhandenes« erlebe, das ich nicht mehr in einen auf mich bezogenen Zusammenhang einordnen, nicht mehr in ein Zuhandenes umwandeln kann, und von dem ich nicht einmal weiß, daß ich selbst es bin, der sich zum buchstäblichen Problem geworden ist. So bin ich aus meinem Innenraumzusammenhang hinausgeworfen in ein zusammenhangloses Außen. Worauf Heideggers Ansatz damit nicht zielt, ist eine zureichend ausführliche Beschreibung des Daseins im Fall, daß Näherung und Orientierung mißlingen, daß die Dinge nicht nur bloß vorhanden sind, sondern darüberhinaus unverständlich und unverstehbar bleiben (denn das im Normalfall vorhanden erscheinende Zeug fällt mir als vorhandenes noch auf, und ich kann es wieder in seine Zuhandenheit zurückübersetzen – kann den kaputten vorhandenen Hammer reparieren). Was ist, wenn mir alles fern und chaotisch erscheint – ist es dann aus der Welt, bin ich dann aus-der-Welt? Es fehlt eine Beschreibung des Daseins als Aus-der-Weltseins. Deutlich wird, daß der Heideggerschen Theorie des Innen und des In-Seins an einer ausformulierten Theorie des Außen und des Außen-Seins mangelt. Menschen werden regelmäßig mit einem relativen Außen konfrontiert, zugleich fürchten sie – in der Regel – das absolute Außen, das sich nicht mehr integrieren läßt in einen denkbaren Innenraum – sie fürchten die schwere Psychopathie, die unerträglichen Schmerzen und den Tod. 42 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 13. Die Exemplifizierung des In-Seins an einem fundierten Modus. Das Welterkennen, S. 62.

Kapitel I.3

Das In-der-Welt-sein und die menschliche Ontogenese: Pubertät als Raumkrise Um Heideggers These des immer schon mit der Welt vertrauten Menschen unter einem evolutionstheoretischen Aspekt nochmals aufzugreifen, so scheint sich hier eine phänomenologisch inspirierte Differenzierung hinsichtlich der menschlichen Ontogenese sowie eine quasi mythische These hinsichtlich der menschheitlichen Phylogenese anzubieten. Eine ontogenetisch betrachtet besonders heikle Phase eines in halbwegs normalen Bahnen ablaufenden Lebenslaufs, das heißt eines nicht durch Unfälle oder existentiell bedrohliche Umstände interruptierten Lebens, ist vielleicht weder die vorgeburtliche Phase im »fötalen Raum« (Peter Sloterdijk43) noch die frühkindliche Phase der Ich-Entwicklung44, sondern vielmehr die Pubertät. Nicht der Säugling oder das Kleinkind muß sich zurechtfinden und seinen Platz in der Welt suchen – dieser Platz ist unter friedlich verlaufenden Umständen und bei vorhandener umhegender Elternschaft quasi zuhanden. Die Mutterbrust und das Milchfläschchen sind zuhanden, die aus der Elternliebe geborene Liebe und Wärme sind zuhanden – das Kind lebt vertraut in seiner es umgebenden Blase. Erst auf dem Schwellenübertritt der Pubertät, im Übergang vom in mancher Hinsicht unselbständigen, aber geborgen lebenden Kindsein in der elterlichen Blase hin zum selbständig sein sollenden Erwachsenendasein, kann eine tiefgreifende Phase der Unsicherheit und Verunsicherung hinsichtlich des eigenen Orts in der Welt um sich greifen. Das Kind verläßt seine vertraute Umgebung, seine Umwelt, seinen Innenraum und muß im Zuge dessen selbst seinen eigenen Platz als Erwachsener in einer von Erwachsenen vorbestimmten Welt erschaffen, erfinden, imaginieren. In dieser Phase des Übergangs finden regelmäßige Versuche statt, den alten Innenraum abzustreifen und neue Innenräume zu schaffen, auszuprobieren, womöglich auch wieder zu verlassen, und mit diesen Versuchen gehen entsprechend unterschiedliche und unterschiedlich intakte oder prekäre SelbstErlebnisse einher. Unter der Voraussetzung eines ruhigen äußeren Gangs der Jahre ist daher die Phase der Pubertät, neben dem Sterbensprozeß, die prototypisch naturheikle Phase jedes menschlichen Lebenslaufs – der Heranwachsende entpuppt und verwandelt sich: welcher Schmetterling soll ich sein? Vor allem in dieser Zeit führt das sich verändernde menschliche Lebewesen wie bemerkt eine Reihe von oftmals waghal43 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt a.M. 1993, S. 77. 44 | Vgl. Jean Piaget und Bärbel Inhelder: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, aus dem Französischen von Rosemarie Heipcke, Stuttgart 1971. – Siehe aus psychoanalytischer Sicht Margaret S. Mahler, Fred Pine, Anni Bergman: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, aus dem Englischen von Hilde Weller, Frankfurt a.M. 19 2008. – Aus entwicklungspsychologischer Sicht siehe etwa Susan Harter: Developmental Perspectives on the Self-System, in: E. Mavis Hetherington (Hg.): Handbook of Child Psychology 4, New York 1983, S. 275-385; Sabina Pauen: Wie werden Kinder ›Selbst‹-Bewußt? Entwicklung in früher Kindheit, in: Albert Newen und Kai Vogeley (Hg.): Selbst und Gehirn. a.a.O., S. 291-314; sowie Birgit Elsner und Sabina Pauen: Vorgeburtliche Entwicklung und frühe Kindheit, in: Wolfgang Schneider und Ulman Lindenberger (Hg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim 72012.

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sigen Experimenten durch, um sich neu zurechtzufinden, sich ein neues eigenes Zimmer im Leben zu erschaffen, macht es sich Gedanken über sein zukünftiges Sein und seinen möglichen Beruf. (Insofern Philosophen gerade solche existentielle Fragen ihr Leben lang am Leben halten, so wie altrömische Priesterinnen das Herdfeuer, das nicht erlöschen darf, kann man Philosophie als eine Form immerwährender künstlicher Pubertät betrachten – das Philosophische Seminar ist in der Hinsicht eine regelmäßige Versammlung von Pubertierenden zweiter Ordnung.) Was die phylogenetische, quasi mythische These betrifft, so ließe sich auch von einer menschheitlichen Pubertät sprechen – die sich im Bewußtsein der Sterblichkeit und im Wissen um das eigene Schicksal manifestiert. Auch die Menschheit muß sich in der ›weiten Welt‹, auf dem Planeten zurechtfinden. Die Antwort auf die Notwendigkeit der Verortung bestünde in der Herstellung von kosmogonischen, kosmologischen, astrologischen Mythen, welche die Entstehung des Universums und die Entstehung der Menschheit auf der Erde auf eine aus menschlicher Sicht poetisch-immunisierende Weise plausibel machen. Jede Form von immunisierender Poesie – nenne man diese Literatur, Religion oder sonstwie – bedeutete so gesehen eine Form der Protektion vor der Unverträglichkeit gewisser dunkler Einsichten und ungeheuerlicher Fragen.

Peter Sloterdijks Kritik an Heideggers Abkehr vom Wo Peter Sloterdijks Kritik an Heideggers Theoriehakenschlag vom ›Wo‹ zum ›Wer‹ soll hier wenigstens erwähnt werden. Heidegger sei, so Sloterdijk, in ›Sein und Zeit‹ zu schnell, nämlich »mit einem Schlag«, von der existenzialen Wo-Analyse zur Wer-Analyse übergegangen.45 Hätte Heidegger sich weiter auf die Wo-Analyse konzentriert, hätten sich »unweigerlich die vielsinnigen Universen der existentialen Geräumigkeit aufgetan«46, welche Sloterdijk unter dem Leitbegriff ›Sphären‹ en detail und en gros zu beschreiben unternommen hat. Sloterdijk schreibt: »Das Einwohnen in Sphären läßt sich aber nicht ausführlich explizieren, solange das Dasein vor allem von einem angeblichen Wesenszug zur Einsamkeit her begriffen wird. Die Analytik des existentialen Wo verlangt danach, alle Suggestionen und Stimmungen von wesenhafter Einsamkeit einzuklammern, um sich der Tiefenstrukturen des begleiteten und ergänzten Daseins zu vergewissern. […] Seine [Heideggers, M.M.] eilige Wendung zur Wer-Frage läßt ein einsames, schwaches, hysterisch-heroisches Existentialsubjekt zurück, das meint, beim Sterben der Erste zu sein, und das über die verborgeneren Züge seiner Einbettung in Intimitäten und Solidaritäten kläglich im Ungewissen lebt.« 47

Überspitzt gesagt bleibt der Mensch alias ›Dasein‹ gemäß Heideggers Beschreibung in seiner existenzialen Einsamkeit alleine, wohingegen in Sloterdijks Untersuchungen der Mensch von Anfang an zweisam oder doch zweipolig lebt. Heideggers Mensch räumt die Welt einsam ein, Sloterdijks Mensch hingegen zweisam

45 | Peter Sloterdijk: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«, in: P. S.: Sphären I, a.a.O., S. 336-345, Zitat S. 343. 46 | Peter Sloterdijk: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«, a.a.O., S. 343. 47 | Peter Sloterdijk: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe, a.a.O., S. 343f.

Kapitel I.3

und zweipolig in Vibration mit anderen Raumvielheiten und Raumresonanzen (ich komme im II. Hauptteil darauf zurück).

M aurice M erle au -P ont y im L ichte von B ollnow Für den französischen Wahrnehmungsphänomenologen Maurice Merleau-Ponty ergibt sich der Bezug des Menschen zum Raum direkt über seinen Leib, der unmittelbar an seiner Umgebung und seiner Situation teilnimmt; wobei Merleau-Ponty den Welt-Begriff über den Rahmen des Heideggerschen ›Besorgens‹ hinaus erweitert und Dinge nicht nur im Zusammenhang ihres Zeug-Charakters bestimmt. Weil ich also die Welt immer leiblich wahrnehme, gehört zur Welt automatisch auch die Voluminosität und damit die Räumlichkeit.48 Die Räumlichkeit ihrerseits ist durch ein System der Bewegungsrichtungen geprägt – wie zuvor bei Kant und Husserl sind sie durch die Koordinaten oben und unten, rechts und links, vorn und hinten (und auch hier wieder: innen und außen) bestimmt und bilden so den alltäglichen Raum, den Merleau-Ponty vom objektiv vermeßbaren Raum unterscheidet. Der Leib jedenfalls ist immer der Mittelpunkt der Welt, dem alle Gegenstände ihr Gesicht zukehren.49 Wo bei Heidegger die Welt zuhanden ist, zeigt sich bei Merleau-Ponty gleich ein Gegenüber, ein Gesicht. Schon von daher spannt sich in Merleau-Pontys Welt ein dualer oder fazialer Innenraum auf, wohingegen bei Heidegger der Mensch tendenziell der einsam mit der Welt vertraute bleibt. Dabei begegne mir jeder Gegenstand zugleich auch in einer bestimmten Ausgerichtetheit auf mich hin, und weil das Wahrgenommene sich mir in einer räumlichen Welt darbiete, heiße Am-Leben-sein letztlich nichts anderes als Räumlich-orientiert-sein. Ich lebe und bin stets auf die Gegenstände um mich herum orientiert, die mir ihr Gesicht zukehren. Bollnow zeigt nun in seiner Interpretation von Merleau-Ponty, wie dieser »den Leib selber in seiner Raumhaftigkeit als die Urform aller andern Raumerfahrung«50 betrachte. Merleau-Ponty: »Der Leib ist […] die Matrize für jeden andern existierenden Raum.«51 Was bedeutet, daß der Mensch von diesem körperlichen Urraum her alle weiteren äußeren Räume verstehen lernt, die er in seinem Leben hervorruft, bildet, gestaltet, durchläuft. Es ist auch dieser Übersetzungsgedanke, den Peter Sloterdijk zu Beginn der Sphären aufgreift, wenn er dort die Übertragung ausdrücklich als die Ur- und Original-Handlung des Menschen umschreibt – als dessen natürliche Kunst, ursprüngliche gelungene Raumerfahrung auf postnatale und postkleinkindliche Verhältnisse zu übertragen und zu übersetzen.52 Im folgenden möchte ich nur kurz auf vier zum Teil problematische Wendungen hinsichtlich des Ich-Leib- und Ich-Raum-Verhältnisses hinweisen, welche Merleau-Ponty beziehungsweise Bollnow verwenden. Es sind die Wendungen:

48 | Vgl. Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 238. 49 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 106. 50 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 229. 51 | Maurice Merleau-Ponty: L’œil et l’esprit, S. 211, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 229. 52 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 11-14, besonders S. 14.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

1. 2. 3. 4.

Das in den Raum eingesenkte Ich. Der den Leib inkarnierende Mensch. Der den Leib bewohnende Mensch. Der durch den Leib in den Raum eingepflanzte Mensch.

1. Wenn Bollnow schreibt, daß wir »durch den Leib als ein selber räumliches Gebilde eingesenkt (sind) in den größeren umfassenden Raum«53, so läuft er mit dieser Aussage Gefahr, ein dualistisches Mißverständnis hervorzurufen; jenes nämlich, daß es zwischen dem Menschen und seinem Raum einen Unterschied, eine gewissermaßen gnostisch-manichäische Differenz im Sinne eines Ich-Raum-Dualismus gebe. Es ist deshalb sinnvoll, wie oben (im Abschnitt ›Husserl, der Leib, das Ich und der Raum sowie Positionen von Heidegger, Sartre, Schmitz‹) auch hier nochmals der Deutlichkeit zuliebe herauszustreichen, daß es in dieser Arbeit hinsichtlich ihrer Annahmen und ihrer These einen solchen wirklichen oder nur mißverständlich anwesenden Dualismus gemäß den Prämissen nicht geben kann. Es ist somit wichtig, die unterschiedlichen Perspektiven auseinanderzuhalten: Aus einer außenperspektivischen Beschreibung kann man natürlich sagen, daß ich einen Raum betrete, man könnte auch weitergehen und sagen, daß ich in einen Raum eingesenkt sei – auch wenn ich in der Regel in einen Raum mit Hilfe einer horizontalen Bewegung hineingehe, das Eingesenktsein jedoch eine vertikale Richtung unterstellt. Was Bollnow wohl sagen möchte, ist nur, daß Menschen über ihren dreidimensionalen Leib irgendwie selber Teil der räumlichen Sphäre seien – daß also eine nichträumliche res cogitans im Sinne Descartes’ für Menschen keinen Sinn ergeben kann. Sollte Bollnow dieses zum Ausdruck bringen wollen, so wäre das in jedem Falle sinnvoll. Doch wie sieht es mit der Perspektive impliziten Erlebens aus? Bin ich aus dieser Perspektive ebenfalls in den Raum eingesenkt? Die Antwort, die ich in dieser Arbeit verdeutlichen möchte, lautet: Nein, in diesem Fall, aus dieser Perspektive, bin ich nicht eingesenkt in den Raum, sondern ich bin der Raum. Ich betrete einen Raum, und mein Erleben eines mich umgreifenden Volumens wird sofort von diesem Raum bestimmt. Ich erlebe mich nicht verortet an einem geometrisch bestimmbaren Punkt im Weltganzen, an welchem ein Geograph mich theoretisch dingfest machen könnte, sondern erlebe die Umgrenztheit dieses Raums als meine Umgrenztheit. (Ich komme darauf zurück.) 2. Auch ist es problematisch, wenn Bollnow aus einer phänomenologisch-beschreibenden Perspektive notiert, daß Menschen den Leib »inkarnieren«54. Zwar ist der Leib naturgemäß Teil des Menschen, ich »inkarniere« jedoch nicht den Leib, sondern ich bin eben so, wie ich bin, einfach ›ich selbst‹; und die Redeweise zu sagen, »ich ›bin‹ mein Leib«, wäre – nochmals betont – zwar nicht falsch, wenn man unter Leib auch das Denken, das Gedächtnis, das Ich-Bewußtsein etc. rechnet, doch sie ist aufgrund der Tatsache, daß sie erklärungsbedürftig und dualismusverdächtig ist, in diesem Zusammenhang wenigstens riskant.

53 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 229 54 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 237f.

Kapitel I.3

Freilich verwendet Bollnow das Verb ›inkarnieren‹ im Sinne von Gabriel Marcel55, der bekanntlich schreibt: »Die Inkarnation ist die Situation eines Wesens, das sich als mit einem Leib verbunden erscheint.«56 Diese Formulierung läßt sich als eine schillernde verstehen; denn was soll es heißen, daß ich mich mit einem Leib verbunden fühle? Bin ich ich, und dann fühle ich mich zusätzlich noch mit einem Leib verbunden – als wäre der Leib etwas außer mir befindliches – so etwas wie ein geliebter Mensch, mit dem ich liiert bin und mit dem ich mich verbunden fühle? In meinem phänomenalen Erleben empfinde ich jedoch nicht so, sondern – um ein paar Beispiele zu nennen – ich bin zornig, ich bin müde, ich bin unruhig, ich fühle mich fit, ich konzentriere mich, ich fühle mich leer, ich habe Angst, ich habe Lust etc. – in all diesen Situationen gibt es also nicht ein ›ich‹, das sich dann noch auf eine bestimmte Weise mit dem Leib verbunden fühlt; sondern ich bin immer auf irgendeine Weise so und so. Weil das Bedeutungsfeld des Verbs ›inkarnieren‹ auch sprachhistorisch mit einem dualistischen Leib-Seele-Konzept verknüpft ist und also auch von dort her zu Mißverständnissen führen kann, erscheint es insgesamt sinnvoller zu sein, auf es ganz zu verzichten. Im übrigen schreibt Bollnow selbst an einer Stelle, das Wort ›inkarnieren‹ würde nichts erklären57: ein Wort aber, das nichts erklärt, ist zumindest in einem wissenschaftlichen Zusammenhang entbehrlich. Das »Geheimnis« (Bollnow) des menschlichen Verhältnisses zum Raum muß sich unmißverständlich beschreiben lassen. 3. Etwas weniger mißverständlich, doch immer noch nicht unproblematisch, wäre die Merleau-Pontysche Formel vom Wohnen im Leib.58 Der Leib, in dem ich wohne, womöglich wie in einer Wohnung, in die ich einziehe und aus der ich wieder ausziehe? Das könnte wieder eine nicht zu begründende dualistische Grundstellung insinuieren. Wenn man das Wohnen im Leib jedoch als poetisch-epistemische Formel beibehalten wollte, dann ginge das nur, wenn man der Deutlichkeit halber dazusagte: daß ich nicht nur in der Wohnung des Leibes wohne, sondern daß ich die Wohnung selber bin; aber die Wohnung besteht nicht nur aus meinem Leib, sondern auch aus den buchstäblichen und übertragenen Zimmern, in denen ich mein Leben führe. Die Formel ›Ich bin die Wohnung, in der ich wohne‹ klänge darüberhinaus auf einer logischen Ebene paradox; machte aber andererseits auf der existentiellen Ebene deutlich, daß ich nur dort wirklich wohnen kann, wo ich tatsächlich die Wohnung bin – aus der ich im übrigen nie bewußt ausziehen kann. Beschützt, immunologisch gesichert, wohne ich nur in der von mir hervorgerufenen, fingierten, aufrechterhaltenen und unterhaltenen Wohnung meiner selbst. Die existentielle 55 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 238. 56 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 238. Das Marcel-Zitat stammt aus: Gabriel Marcel: Être et Avoir, Paris 1935, S. 11: »[…] comme lié à un Corps […].« Deutsche Ausgabe: Sein und Haben, aus dem Französischen von Ernst Behler, Paderborn 1954, S. 12. – Die hier zitierte wörtliche Übersetzung des Marcel-Satzes stammt von Bollnow, sie weicht von Ernst Behlers Übersetzung ab (Behler: »Die Inkarnation ist die Situation eines Wesens, das sich leibhaftig erscheint.«). 57 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 238. 58 | Siehe Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S 238.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Miete, die ich überweise, besteht aus all den Maßnahmen, die ich treffen muß, damit die Wohnung als ganze intakt und protegiert bleibt: Stoffwechselvorgänge regeln, Körper und Bekleidung pflegen etc. 4. Insofern der Mensch räumlich ist, schreibt Bollnow weiter, sei ich »durch meinen Leib in den Raum eingepflanzt«59. Das ist eine ungewöhnliche Formulierung und ein poetisch suggestives Bild, das den Menschen der Fauna entreißt und als florale Zimmerpflanze neu in den Blick nimmt. Doch läuft auch sie in die Mißverständnisfalle des Dualismus: Ich werde nicht »in den Raum eingepflanzt«, als könnte ich auch ohne Raum sein, sondern ich entstehe erst aus dem erlebten Innenraumgefüge. Oder, um im Bild zu bleiben: der Raum ist die volumenreiche Pflanze, die ich selber bin. Sinnvoller jedoch erscheint einfach eine Formulierung zu sein wie: Der Mensch wohnt dem Raum ein, wobei Merleau-Ponty leider nicht vom Menschen spricht, sondern, wieder mißverständlich, vom Körper (Le corps n’est pas dans l’espace, il l’habite.60). Hierzu ein Fazit ziehend, läßt sich sagen: Maurice Merleau-Ponty hat dargestellt, wie sehr Menschen dank ihrer Leiblichkeit selbst dreidimensionale und damit räumliche Wesen sind. Dadurch rückt der Leib in den Brennpunkt einer existentialistischen sowie wahrnehmungstheoretischen Philosophie. War für Kant ›Raum‹ das transzendentale Apriori jeder Anschauung, so verwandelt Merleau-Ponty dieses transzendentale Raum-Apriori in ein phänomenologisches Leib-Apriori. Der Leib ist das Apriori jeder Wahrnehmung. Und weil der Leib wie gesagt räumlich gebildet ist, läßt sich sagen: Der erlebte Leib – und damit der erlebte Raum, in welchem der Leib sich befindet – wird zum A und O menschlicher Wahrnehmung. Darüberhinaus hat Merleau-Ponty daran erinnert, inwiefern die Welt um mich her auf mich hin ausgerichtet ist, so daß Menschen aufgrund der Bewegungskoordinaten nicht nur den Mittelpunkt ihrer Welt bilden, sondern zugleich stets orientierte Raumwesen sind.

G aston B achel ards Topophilie Bachelard und die glücklichen Räume, von den unglücklichen zu schweigen Der Wissenschaftshistoriker, Phänomenologe und selbsterfundene Topophilologe Gaston Bachelard (1884-1962) untersucht in seiner raumanalytischen, auf stilistischer Ebene in nahezu hymnischer Tonlage verfaßten ›Poetik des Raumes‹ bestechende und »anziehende« Bilder von Räumen und Raumerfahrungen.61 Sich in seinen Ausführungen hauptsächlich auf Beispiele aus der Dichtkunst stützend,

59 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 238. 60 | Maurice Merleau-Ponty: La phénomenologie de la perception, 1947, zitiert nach: Peter Sloterdijk: Für eine Architektur der Teilhabe – Notiz zur Kunst Daniel Libeskinds mit Rücksicht auf Maurice Merleau-Ponty und Paul Valery, in: P. S.: Der ästhetische Imperativ, a.a.O., S. 289. 61 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O.

Kapitel I.3

geht er auf subtile Jagd nach »Bildern des glücklichen Raumes«62 . Diese Erforschung und Interpretation der Bilder rubriziert er unter »Topophilie«63. Was ihn besonders interessiert und begeistert, ist »der menschliche Wert der Besitzräume […], der gegen feindliche Kräfte verteidigten Räume, der geliebten Räume«, die er auch »gepriesene Räume«64 nennt. Als Grundmerkmal des Raums streicht Bachelard dessen »ursprünglichen Schutzwert« hervor, die Tatsache, daß er (der Raum) »das Sein im Innern der Grenzen (konzentriert), die es beschützen«65, wobei mit Henri Bosco die Regel gelte: nur »›wenn das Dach fest, ist das Unwetter gut‹«66. Zu diesem Schutzwert treten »imaginierte Werte«67 hinzu. Jeweils entscheidend sei dabei die Art, wie der von der Einbildungskraft erfaßte Raum »erlebt« wird, das heißt, daß es nicht allein um seine buchstäbliche Erscheinungsweise gehe, sondern um »alle Parteinahmen der Einbildungskraft«, praktisch um das sinfonische Konzert von gefühlsmäßig gefärbten Assoziationen, die das Erleben eines »anziehenden« Raums auf einprägsame Weise instrumentieren.68 Dabei beschreibt Bachelard die Bilder der Intimität und der intimen Räumlichkeit, wie sie im zugrundeliegenden Wasserzeichen seiner Untersuchungen – dem Haus – aufscheinen und wie sie im konkreten Sinn von Höhle, Schlupfwinkel, einstöckiger Hütte und mehrstöckigem Haus (mit Keller und Boden) zu fassen und zu schildern sind, als »état d’âme« oder »›Stimmung‹«69. Für Bachelard zeigt sich in dem Bild des Hauses das starke Symbol einer integrativen Psychologie, welche beschreibende Psychologie, Tiefenpsychologie, Psychoanalyse, Phänomenologie und – man darf im Rahmen dieser Arbeit hinzufügen – auch Psychopathologie unter einem Dach vereint – eine Psychologie, die Bachelard explizit als »Topo-Analyse« 70 bezeichnet. Die erwähnte Psychopathologie läßt Bachelard außen vor, weil er sich gemäß seiner Ansage ausschließlich für die Bilder von glücklichen Räumen interessiert. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist ein glücklicher Raum, zugespitzt und verallgemeinert gesprochen, einfach ein Raum, der intakt ist, und ein unglücklicher Raum ein Raum, der entweder als ein nichtintakter buchstäblicher Raum oder als nichtintakter übertragener Raum erlebt wird. Läßt man hier deshalb auch Bilder von unglücklichen, nichtintakten Räumen zu, dann kommen unzählige Bilder von verfallenden Häusern in den Blick, von windschiefen Hütten im Wald, von verschüttet gehenden Kavernen im Tal, von zerlappenden, vom Winde halb verwehten Kartonhöhlen von Obdachlosen, von halbfertig gebaut scheinenden rohen Wohnhäusern im vormaligen Jugoslawien, von Hausinterieurs des totalen Chaos mit unaufgeräumten, zugestellten, verfüllten Fluren und Zimmern (›zwanghaftes

62 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 63 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 64 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 65 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 66 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 239. 67 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 68 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 25. 69 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 88. 70 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 26.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Horten‹, auch sogenanntes Messie-Syndrom71), von Schlössern und Burgen mit auf den ersten Blick labyrinthisch anmutenden Gängesystemen und in den Tapetenwänden sich öffnenden Geheimfluchten und Auftragsfluren sowie längst vergessenen Verließen und Kerkern, aber auch von mit sich unzufriedenen Menschen, von zerstrittenen Familien, Paaren, Gruppen, Gesellschaften. Das Haus ist nicht nur das Muster der »paradis artificiels« 72, sondern auch der künstlichen Höllen.

Bachelard und das Haus als Integrationsmacht und Große Wiege Das Haus begreift Bachelard also als umfassende Integrationsmacht, als Große Wiege, beides romantisch zusammengedacht in der »Mütterlichkeit des Hauses« 73, ein Haus, das den Menschen »gegen die rings anstürmenden Mächte« 74 beschützt. Er schreibt: »Das Haus beschützt die Träumerei, das Haus umhegt den Träumer, das Haus erlaubt uns, in Frieden zu träumen. […] Wir müssen zeigen, daß das Haus für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen eine der großen Integrationsmächte ist. […] Es vermehrt seine [des Menschen, M.M.] Bedachtheit auf Kontinuität. Sonst wäre der Mensch ein verstreutes Wesen. […] Bevor er ›in die Welt geworfen‹ wird, […] wird der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt. Und immer ist das Haus in unseren Träumen eine große Wiege.« 75

Dabei stellt Bachelard das Haus zum einen als »ein vertikales Wesen« vor, welches das menschliche »Vertikalbewußtsein« anregt, zum anderen als »ein konzentrier-

71 | Für Psychiater war ›zwanghaftes Horten‹ lange Zeit eine (bloße) Störung; seitdem es im Mai 2013 in die Neufassung des US-amerikanischen Klassifikationssystems für psychische Krankheiten, das DSM-5 (der 5. Auflage des ›Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders‹), aufgenommen wurde, gilt es offiziell als Krankheit. Entsprechend hortende Personen werden ›Hoarder‹ genannt (englisch für ›Hamsterer‹, ›Horter‹). Der Amerikaner Randy O. Frost, wohl der zur Zeit bedeutendste Hoarding-Forscher, hat erstmals 1996 zusammen mit der damaligen Studentin Tamara Hartl ein Modell der Hoarding-Störung entworfen: Randy O. Frost und Tamara Hartl: A Cognitive Behavioral Model of Compulsive Hoarding, in: Behaviour Research and Therapy, (1996), 34, S. 341-350. Den Begriff ›Messie‹ machte die amerikanische Lehrerin Sandra Felton mit einer Serie von autobiographischen Berichten berühmt: S. F.: The Messies Manual. The Procrastinator’s Guide to Good Housekeeping, Old Tappan, N.J. 1984. Eine neuere Diskussion der Hoarding-›Störung‹ oder -›Krankheit‹ findet sich in: Kiara R. Timpano, Cornelia Exner, Heide Glaesmer, Winfried Rief, Aparna Keshaviah, Elmar Bräher, Sabine Wilhelm: The Epidemiology of the Proposed DSM-5 Hoarding Disorder: Exploration of the Acquiring Specifier, Associated Features, and Distress, in: Journal of Clinical Psychiatry, 72 (6), (2011), S. 780-786. – Ausführlichere Diskussionen finden sich in: Randy O. Frost und Gail Steketee (Hg.): The Oxford Handbook of Hoarding and Acquiring, Oxford University Press 2014. 72 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 60. 73 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 34. 74 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 59. 75 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 33.

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tes Wesen«, welches das »Zentralisierungsbewußtsein« im Menschen erwecke.76 Auch versteht er es als »Haus der Dinge« 77, ein Haus im Haus praktisch mit all den Schubläden, Kästchen, Schreibtischen, Schränken, Truhen (mit doppelten Böden) und ihren verborgenen Geheimnissen. Diese Häuser nennt er die »wirklichen Organe des geheimen psychologischen Lebens« und sieht in ihnen die »äußeren Modelle der Innerlichkeit« 78. Und er nähert sich dem Haus der kleinen Tiere, dem Nest und der Muschel – die »Grotte des Tieres« 79 – und zieht von ihnen aus wiederum Rückschlüsse auf den Menschen, wie etwa mit seiner Erinnerung an die Gestalt des Quasimodo in Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris: »Für Quasimodo, sagt er [Victor Hugo, M.M.] […], ist die Kathedrale nacheinander ›Ei, Nest, Haus, Vaterland, All‹ gewesen. ›Man könnte fast sagen, er habe ihre Form angenommen wie die Schnecke die Form ihres Muschelhauses annimmt. Das war seine Wohnung, sein Loch, seine Hülle… Er hing daran wie die Schildkröte an ihrem Schild. Die zerklüftete Kathedrale war sein Panzer.‹« 80

Ein zweites Beispiel für den Rückschluß auf den Menschen gibt Bachelard mit einem Zitat des Malers Vlaminck, der in seinem Buch ›Poliment‹ aus dem Jahre 1931 schrieb: »›Das Behagen, das ich vor dem Feuer empfinde, wenn das schlechte Wetter sich draußen austobt, ist eine ganz tierische Empfindung. Die Ratte in ihrem Loch, das Kaninchen in seinem Bau, die Kuh im Stall müssen glücklich sein wie ich.‹ (Vlaminck, Poliment, 1931) So gibt uns das Behagen wieder dem ursprünglichen Erlebnis der Zuflucht zurück. Körperlich drängt sich das Wesen, das die Empfindung der Zuflucht hat, in sich selbst zusammen, zieht sich zurück, kauert sich hin, versteckt sich, rollt sich ein.« 81

Was die Funktion des Nestes für den Vogel betrifft, so glaubt Bachelard: »Für den Vogel ist das Nest zweifellos eine warme und weiche Wohnung. Für den Vogel, der aus dem Ei schlüpft, ist das Nest ein äußeres Gefieder, bevor die ganz nackte Haut ihr eigenes Körpergefieder bekommt.« 82 Und über die Ankunft eines Grünspechts in seinem Baum berichtet Henry David Thoreau, den Bachelard zitiert: »So eilt der Grünspecht durch das Labyrinth der Zweige, macht hier ein Fenster auf, kommt plappernd heraus, fliegt anderswohin, lüftet sein Haus. Bald oben, bald unten läßt

76 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 43; siehe zum »konzentrierten Haus« auch S. 83. – Vgl. auch auf dem Feld der Ethik zum Thema ›Hinauf‹ und zur »Kritik der Vertikalen« (S. 179) Peter Sloterdijks ausführliche Darstellung in Kapitel »I. Die Eroberung des Unwahrscheinlichen. Für eine akrobatische Ethik«, in: P. S.: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 171-325. 77 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 27. 78 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 94. 79 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 27. 80 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 104. 81 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 104f. 82 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 106.

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er seine Stimme erschallen, richtet seine Wohnung ein… und nimmt Besitz.« (Thoreau, Tagebuch 1850/1851)83 Von diesem Nestbild schließt Bachelard auf den Menschen: »Das Nest-Haus ist niemals jung. In schulmäßigem Stil könnte man sagen, es ist der natürliche Ort der Wohnfunktion. Man kehrt dahin zurück, man träumt davon, zurückzukehren, wie der Vogel in sein Nest zurückkehrt, wie das Lamm in seinen Pferch zurückkehrt.«84 Es geht also um eine existentielle Form der Rückkehr – Rückkehr in die »absolute Geborgenheit«85 –, auch um die Rückkehrmöglichkeit überhaupt. Und diese Geborgenheit mag mit ein wesentlicher Grund dafür sein, warum spielende Kinder sich bereitwillig und gerne in häuslichen Schlupfwinkeln und in natürlichen Büschen verbergen; Kinder, als Wesen ohne eigenes buchstäbliches Haus und mit eingeschränkten Rechten und dem Erleben übertragener und doch wirklicher Ohnmachten, können im Versteck und im Gebüsch des Gartens prägende Formen unabhängiger, ja implizit freiheitlicher »absoluter Geborgenheit« ausbilden und wahrnehmen. Vielsagende Unterschlupf beispiele finden sich hierzu in John Updikes Autobiographie ›Selbst-Bewußtsein‹: »Der andere Anlaß zu tiefer, kosmischer Freude […] ist […] das Gefühl, geschützt zu sein […]; ich kauerte mich unter Büsche, bis der Regen durchdrang; ich liebte Hauseingänge, wenn ein Schauer niederging. Meine bescheidene Pflicht war es, bei Regen die Korbsessel auf unserer Seitenveranda mit den Sitzen gegen die Wand zu kippen, und in diesen porösen geflochtenen Höhlen hockte ich dann, fast weinend vor Glück […]: der Körper ahmt in diesen entrückten Augenblicken die Position des innersten Ich im Geschlinge der Physiologie, im modernden Gestrüpp von Vererbung und Milieu nach. […] In einem Unterschlupf zu kauern und Phänomene vorbeiziehen zu lassen […] war Ekstase. Das innerste Selbst ist unschuldig […].« 86

Und er schreibt später: »Unter dem Schutzdach (wie die gegen die Wand gekippten Korbsessel auf der Seitenveranda), das ich mir aus ihren Büchern [den Büchern von Chesterton, Eliot, Unamuno, Kierke­ gaard, Karl Barth, M.M.] bereitete, habe ich mein Leben gelebt. […] Die hergestellte Wahrheit der Poesie und Prosa schafft einen Unterschlupf, in dem ich mich sicher fühle, geschützt im Wahrscheinlichkeitsgeflecht der Darstellung einer realen Welt, für die ich nicht verantwortlich bin.« 87

Und was die Rückkehr oder Nicht-Rückkehr in das Nest angeht, so gilt auch hier die Heideggersche Denk-Voraussetzung: spazieren kann man nur mit einem Haus im Rücken88. Nur der Auswanderer kappt die Taue, die ihn mit seiner Herkunft

83 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 109f. 84 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 111. 85 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 115. 86 | John Updike: Selbst-Bewußtsein, a.a.O., S. 52. 87 | John Updike: Selbst-Bewußtsein, a.a.O., S. 298f. 88 | Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, der in seiner Menschenpark-Rede Heideggers »berüchtigte Denkwanderungen über Feld- und Holzwege als typische Bewegungen von einem, der ein

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verbinden und an diese binden, und beginnt ein neues absolutes Leben in einem Land, wo ihn niemand kennt. Bachelard sieht also das Haus einerseits als Zelle, andererseits aber auch als Welt – die Zelle schenkt Sicherheit, die Welt Abenteuer.89 Die Zelle führt zur (guten) Zellteilung. So wie der Mensch größer wird, so kann er auch seine Wohnzelle vergrößern – hin zu einem Ensemble von Zellen, einer Wohnung, einem Haus, einem Familien-, Freundes-, Bekanntenkreis. Die Räume entfalten sich – und mit ihnen auch die Menschen.90 Die Welt ist so einerseits mein alltäglicher Kosmos, andererseits bleibt festzuhalten, daß die Welt, insofern ich sie als Außenwelt erlebe, auch stets außerhalb des Hauses bleibt: denn im Haus habe ich Weltpause, erlebe ich die Gunst der Weltlosigkeit, eine Form von Akosmismos – ich werde entlastet. Und insofern mich das Haus entlastet, könnte man es auch als eine »Institution«91 interpretieren, um einen umstrittenen Begriff von Arnold Gehlen ins Unumstrittene zu wenden. Das Haus wäre dann die Ur-Institution schlechthin, vielleicht die einzige, zu der man bedingungslos Ja sagen darf. Fühlt sich jemand allerdings am Meeresufer besonders wohl, dann fühlt er selbst dort ein Haus »ähnlich jenem des Meerwinds, aus dem Flattern der Möwen erbaut«92 . Diese Art Häuser seien »Behausungen der Unermeßlichkeit. Die Wände haben Ferien«93. Aber auch wenn man zuhause auf Zimmerreise94 geht, träumt der Mensch von Freiheit und Weite »in dem leicht gewordenen Zimmer, das allmählich die großen Räume der Reise aufrollte« (René Char95). Und Jules Supervielle, erinnert Bachelard den Leser, lasse gar »das All durch alle Türen, durch alle groß offenen Fenster in das Haus einkehren«96: »Alles woraus die Wälder die Flüsse die Lüfte bestehen Hat zwischen diesen Wänden Platz, die ein Zimmer zu schließen meinen Kommt rasch herbei Reiter die ihr die Meere durchquert Ich habe ein Dach wie der Himmel ihr werdet Platz haben. (Jules Supervielle, Les amis inconnus)« 97

Bachelard selbst deutet damit eine differenzierte Sicht auf das Erleben buchstäblicher und übertragener Räume und vor allem ihrer Wände und Mauern an; er Haus im Rücken hat«, bezeichnet, siehe P. S.: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999, S. 37. 89 | Vgl. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 71. 90 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 73. 91 | Siehe Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a.M. 6 2004; und auch Arnold Gehlen: Moral, Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a.M. 6 2004. 92 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 71. 93 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 72. 94 | Bernd Stiegler: Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen in und um das Zimmer herum, Frankfurt a.M. 2010. 95 | René Char: Fureur et mystere, S. 41, zitiert nach: Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 73. 96 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 83. 97 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 83.

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schreibt: »Wir werden sehen, wie die Einbildungskraft ›Mauern‹ aus ungreif baren Schatten baut, wie sie sich mit Illusionen von Umhegtsein stärkt – oder umgekehrt, wie sie hinter dicken Mauern zittert und die festesten Wälle in Zweifel zieht.«98 Von der Einbildungskraft hänge es also ab, ob ein Erleben als innenräumliches oder außenräumliches wahrgenommen werde. Ich kann daher auch mit Hilfe eines Schattenspiels mauern und beschützende Innenraumwände hochziehen, ich kann das Gefühl des Umhegtseins auf freien Fluren empfinden, sofern ich im Herbst in einer windgeschützten Mulde sonnenbade oder einfach nur, indem ich Sommers beim Wandern in den Hohen Hügeln fächelnde Winde auf der nackten Haut als angenehm und wohltuend empfinde – hier wird das Im-Wind-sein ein Zuhausesein. Dabei ist in Hinsicht auf Bachelards Verwendung des Begriffs Illusion eine Klarstellung sinnvoll: Um eine Illusion handelt es sich beim Schattenspielzimmer lediglich aus einer prosaischen Alltagsperspektive heraus – Schatten sind selbstverständlich nicht gleichzusetzen mit einer aus Ziegelsteinen hochgezogenen Mauer. Auf der Ebene des subjektiven Empfindens jedoch ist das Schattenspielzimmer keine Illusion, auf ihr bin ich tatsächlich von kühlenden Mauern umhegt und vor brennender Sonneneinstrahlung geschützt.

Bachelard und noch ein Wort zum Kauern sowie Emilys Selbstentfremdung auf dem Schiff Ein weiteres zentrales Merkmal des Wohnens ist für Bachelard die in einem Haus oder in einer Wohnung für den Bewohner gegebene Möglichkeit des Kauerns. »Mit Intensität wohnt nur, wer zu kauern versteht«99, notiert Bachelard. So erfährt die Inneneinrichtung einer Wohnung erst dann ihre Vollendung, wenn sie auch jene Winkel aufweist, in welche ihre Bewohner sich zurückziehen können, um nach den Regeln der Kunst zu kauern. Eine Wohnung ohne Kauerwinkel wäre eine, welche die Aussicht auf intimste Raumwechsel schmerzlichst vermissen ließe. So elementar, notwendig und hilfreich jede Art von Raumwechsel auch sein mag, vom Wohnzimmer über den Flur ins Arbeitszimmer, so stellt gerade dieser Raumwechsel doch einen Wechsel dar, bei dem ich vor der Gefahr zufällig vor mir über den Weg wechselnder Mitbewohner niemals restlos gefeit bin. Gerade für die allgemeine Wohnungsarchitektur gilt hier das nirgends angebrachte, doch deutlich lesbare Straßenverkehrszeichen: Achtung, Mitbewohnerwechsel! Anders hingegen sieht es beim Wechsel von einer Position im eigenen Zimmer hin zu einem Winkel in eben diesem Zimmer aus – die Wegstrecke vom aktuellen Aufenthaltsort, etwa dem Schreibtisch, zum Winkel ist in der Regel vor intrudierenden Wechselwesen sicher. Und der Winkel selbst wird aufgrund seiner Bauweise der existentielle Rastplatz sein, der zureichenden Schutz vor unerwarteten Zufallsbegegnungen bietet. Die Winkelregel lautet: Wer sich in den Winkel kauert, schlägt sich in die Büsche und ist und bleibt dort für sich alleine. Doch selbst wenn ich eine Wohnung als Alleinlebender bewohnen sollte, verliert der stille Kauerwinkel nicht seine charakteristisch ins Auge springende Form 98 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 32. 99 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 27.

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sinnreicher Nützlichkeit und einnehmender Fruchtbarkeit. Kann zwar auf den langen, solitären Wohnungswegen niemand mehr zufällig meinen Weg kreuzen oder mir über denselben laufen wie im Haushalt mit mehreren Lebewesen – Lebewesen deshalb, weil Tiere und Haustiere, oder auch Haustierpersönlichkeiten, neben den menschlichen Personen selbstredend miteinbezogen und dazugezählt werden müssen – und muß ich von daher keine überraschenden Begegnungen und vor mir auftauchenden Konterfeis fürchten, so erzeugt der vorhandene Winkel dennoch jenen starken Effekt, daß ich im Zuge eines unternommenen Wechsels von meiner üblichen Raumposition aus in ihn sogleich eine hautnahe Umschließung meiner selbst erleben kann, eine buchstäbliche intime Wärme, die mir eine embryonale Umschließung zweiter Ordnung ermöglicht, ja regelrecht beschert. Insofern läßt sich der Winkel an sich als ein naher Verwandter und Vorläufer des modernen Federbetts charakterisieren. Abschließend zum Winkel sei nochmals Bachelard angeführt: »Jeder Winkel in einem Haus, jede Ecke in einem Zimmer, jeder eingezogene Raum, wo man sich gern verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht, ist für die Einbildungskraft eine Einsamkeit, der Keim eines Zimmers, der Keim eines Hauses.«100 (In Parenthese festzuhalten bleibt Bachelards Hinweis auf den »Raum des Auges«, der die Dramen des täglichen Lebens in gewisser Weise komprimiere – denn einen Raum erfasse man buchstäblich mit einem Blick – auch aus dem Winkel heraus101; wohingegen die »Spur eines Duftes, ein sehr feiner Geruch« oft ein ganzes Klima »in der imaginären Welt bestimmen«102 könne, der Raum des Duftes damit leichter über sich hinaus in weite Erinnerungswelten verweise.) Nimmt man jedoch das Haus im Größen- und Weitenvergleich zur Welt in Betracht, so erscheint es als »unser Winkel der Welt« und als »unser erstes All«, das »wirklich ein Kosmos« ist und damit selbst die schlichteste Wohnung als »schön« (Bachelard) erscheinen läßt. Der zentrale Wert des bewohnten Raums ist dabei der, daß dieser als »Nicht-Ich das Ich beschützt«103. Diese Tatsache, daß der Raum das Ich beschützt, ist aus der Alltagsperspektive zwar eine offenkundige – die Höhle oder das Haus schützt mich vor Regen, Schnee, Sturm und Kälte, schützt mich dank der von innen erfolgten Abriegelung vor Wilden und Wildtieren, welche die Grenzen meines Innenraums einreißen und zerbrechen könnten etc. Aus einer 100 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 144. – In diesem Zusammenhang wären die unerläutert bleibenden Überlegungen Bachelards zur Größe von Schlaf- und Arbeitszimmer zumindest diskussionswürdig, Überlegungen, die er als »Rhythmo-Analyse der Wohnfunktion« (S. 82) bezeichnet: »Um gut schlafen zu können, darf man nicht in einem großen Zimmer schlafen. Um gut arbeiten zu können, darf man nicht in einem engen Schlupfwinkel arbeiten.« (S. 82f.) 101 | Siehe Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 178. – Vgl. hierzu auch: Friedrich Kümmel: Vom beherrschenden Raum des Sehens zum gelebten Raum des Hörens, a.a.O. 102 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 178. – Weil Bachelard seinen Fokus nur auf die glücklichen Räume legt, bleibt auch der Blick auf die Räume des unangenehmen Geruchs, insbesondere des Gestanks, außen vor. Siehe hierzu einschlägige Andeutungen in: Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., Exkurs 2: Merdokratie. Vom Immunparadoxon seßhafter Kulturen, S. 340-353, sowie auch Exkurs 3: Autokoprophagie. Zum platonischen Recycling, S. 429-434. 103 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 31.

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repräsentationalistisch informierten Raumphänomenologie jedoch wird sich im Sinne meiner Hauptthese sagen lassen: der intakte Innenraum, in welchem ich wohne oder mich aufhalte, ist nicht ein Nicht-Ich, welches das Ich beschützt, sondern das Ich selbst. Der Innenraum ist das Ich. Hingegen ist das Nicht-Ich jener Außenraum, auf den ich mich in meiner Identifizierung mit dem Innenraum auch aus logischen Gründen gleichwohl stets beziehe. Das wird durch einen Satz des Dichters Jules Michelet aus dessen Buch L’oiseau unterstützt, den Bachelard zitiert: »›Das Haus ist die Person selbst, ihre Form […].‹«104 Und dazu paßt ein Vers von Noel Arnaud aus L’état d’ébauche (Paris 1950), den wiederum Bachelard, an anderer Stelle, anführt: »Ich bin der Raum wo ich bin«105. Das folgende Bachelard-Zitat bietet nun ein eindrucksvolles Beispiel für die These vom ineinanderverschlungenen Gefüge zwischen Raumerleben und Selbsterleben: »In seinem Buch über Baudelaire zitiert Sartre einen Satz, der einen langen Kommentar verdient. Er stammt aus einem Roman von Hughes: ›Emily hatte gespielt, sich in einem Winkel, ganz vorn am Bug des Schiffes, ein Haus zu bauen…‹ [Endnote: »Hughes (frz. Übers.): Un cyclone à la Jamaique, Plon 1931, S. 133« (Bachelard: S. 242), M.M.] Nicht dieser Satz ist es, den Sartre für sich benützt, sondern der folgende: ›Von diesem Spiel ermüdet, schlenderte sie ziellos nach dem Hinterschiff, als ihr plötzlich der blitzhafte Gedanke kam, daß sie sie war…‹ […] Der blitzhafte Gedanke, ein Selbst zu haben, der das Kind in der Erzählung durchfährt, dieser Gedanke kommt ihm erst, nachdem es aus seinem ›Zuhause‹ herausging. […] Das Kind hat entdeckt, daß es ›es selbst‹ ist, indem es nach dem Draußen ausbrach […].«106

Hier kommen diverse interessante Momente zusammen, die berücksichtigt werden müssen: Zunächst die Schiffahrt als solche auf dem unendlich scheinenden Meer. Das Schiff als Ganzes bildet, jenseits seiner binnenräumlichen Vielschichtigkeit, den sicheren Lebensgrund – an Deck zunächst von einer Reling umgrenzt, an welcher Rettungsringe befestigt sind –; es ist das schwimmende Festland auf dem schwankenden unsicheren Meer, damit der existentiell schützende Innenraum inmitten eines uferlosen, alles zu verschlingen drohenden Außenraums. Schon allein diese Tatsache kann in jedem Passagier ein heftiges Gefühl der Erregung hervorrufen. Jede evolutionsperspektivisch betrachtet ungewohnte Situation – und um eine solche handelt es sich bei dem Schiffsaufenthalt auf See durchaus – ruft nicht nur nach Eingewöhnung, sondern wird zunächst einen alles befremdenden Effekt haben. Dann der Bau eines Hauses in einem Winkel am Schiffsbug, eines Hauses, dessen klar strukturierter Innenraum dem Mädchen ein umgrenztes Zimmergefühl verschafft und damit meiner These entsprechend ein klar konturiertes phänomenales Ichgefühl. (Der Schiffsbug ist auch der Ort an Deck, von welchem aus, neben dem Mastausguck, zuerst ›Land in Sicht‹ kommen und damit die Rückkehr auf festen Grund und Boden in erreichbare Nähe rücken wird.) Darauf der Wechsel von diesem Innenraum des Hauses (vom Ichraum und dem Icherleben) in den relativen Außenraum des vielschichtigen Schiffs (dem Be104 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 113. 105 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 145. 106 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 146.

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reich des nicht mehr klar konturierten Ichs), in Richtung Hinterschiff. Es ist genau in dieser Phase, in der das Mädchen den blitzhaften Moment der Befremdung erfährt: es ist, als würde sie aus der eigenen Haut fahren und von außen in ihr HausIch blicken, als wunderte sie sich jetzt, daß sie das sein soll. Das bin ich! Ihr wird bewußt, daß sie sie ist. Un-heim-lichster Gedanke. Einen ähnlichen blitzhaften Augenblick dieser Art der seltenen Selbsterkenntnis schildert Ernst Bloch in einem autobiographischen Report, woran Peter Sloterdijk in seinem Versuch über ›Weltfremdheit‹ erinnert: Bloch, so erzählt es Sloterdijk, »habe eines Tages, als Kind von zehn Jahren vielleicht, aus heiterem Himmel sein Ich gespürt; ja, es sei wie ein Blitz in ihn gefahren, daß er wirklich und unwiderruflich er selbst sei und daß er lebend aus sich selbst und seinem Körper nicht mehr herauskomme«107. Sloterdijk spricht hinsichtlich solcher Erkenntnisse von »schreckhaften Erleuchtungen«, von einer »panischen Selbsterfahrung des Daseins«; das Ich stoße »unvorbereitet auf sich selbst«, erfahre sich als »das unheimliche Wesen«, das »keine Zuflucht« mehr finde; der Mensch wisse nun, kein Stein, keine Pflanze, kein Tier, keine Maschine, kein Geist, kein Gott zu sein, und »mit dieser sechsfachen Verneinung umzirkle ich den unheimlichsten aller Räume«108. Die von Sloterdijk verwendeten charakterisierenden Adjektive dieser Erfahrung – schreckhaft, panisch, unvorbereitet, zufluchtslos, unheimlich – deuten wie Negative des Ichs indirekt auf das positive, im Normalfall aber unauffällig bleibende Selbsterleben: vertraut, intim, vorbereitet, zufluchtsvoll, heimlich (im Sinne von ansässig, verortet, zuhause, gewöhnt, drinnen). In den Momenten solcher Selbsterkenntnis wird dieser Normalfall aufgehoben, der von niemandem verhängte persönlich-unpersönliche Ausnahmezustand herrscht: plötzlich finde ›ich‹ mich absolut unsouverän in dem »unheimlichsten aller Räume« wieder: Es scheint dabei – daher die Panik –, als gäbe es keinen Weg mehr zurück ins Innere, als gäbe es keinen Noteingang, als wäre die Un-Situation gänzlich aussichtslos; und doch wird der Ausnahmezustand irgendwie wieder aufgehoben, der Normalfall tritt wieder ein. Es wird ein traumatisierter Normalfall sein – denn die Erfahrung, draußen gewesen zu sein, ist unauslöschlich. Und doch wird man mit der Zeit in der Regel so leben, als sei nie etwas gewesen. Im übrigen ist dieses Erlebnis von allen alltäglichen Erlebnissen vielleicht am ehesten mit einem wirklichen Alptraum zu vergleichen. Oft wähnt sich ein von einem Alptraum Gequälter in einer aussichtslosen, existentiell bedrohlichen Lage – in einem unheimlichen, eigentlich unentrinnbaren Raum, aus dem es dann doch eine Fluchtmöglichkeit gibt: das Aufwachen. Das Mädchen Emily, das plötzlich versteht, daß sie sie ist, kann nicht aufwachen; doch wird sie früher oder später die Selbstentfremdung überspielen und wieder ›ganz sie selbst‹ sein; ohne allerdings die Erfahrung der Selbstentfremdung jemals wirklich ganz vergessen zu können.

107 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 16. 108 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 16f.

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Bachelard und das Treppenhaus im Zeitalter von Fahrstühlen und Fahrtreppen Was Fahrstühle betrifft, so scheint es für Bachelard fraglos gewiß zu sein, daß sie »das Heldentum der Treppen«109 zerstören.110 Er reflektiert dabei nicht das seltsame Phänomen, daß die Menschheit auch im Zeitalter von Fahrstühlen und Fahrtreppen weiterhin Treppenhäuser baut. Und zwar trotz der Tatsache, daß sie über die längste Zeit ihrer Existenz ein Schattendasein fristen und wie unbeachtete Engel im Schatten auf ihre Stunde warten, den großen Notausgang. Wie notwendig es nämlich ist, Treppenhäuser wenigstens als Notausgänge und Fluchtwege weiterhin mitzubauen, auch und gerade in Wolkenkratzern, zeigte sich zuletzt der telekommunikativ versammelten Weltöffentlichkeit im Zuge der spektakulären Flugzeuganschläge auf die Zwillingstürme des World Trade Centers am 11. September 2001 in New York City. Viele der in den oberen Stockwerken davon betroffenen Opfer, von Flammen- und Rauchgastod unmittelbar bedroht, konnten sich über die Treppenhäuser retten und so den zu dieser Zeit noch unversehrten Ground Zero erreichen, mit dem in die Glieder gefahrenen Schrecken, doch halbwegs blessurenfrei. Treppen sind somit auch die stairways to life, und ihr von Bachelard angeführtes »Heldentum« beweist sich vielleicht nie eindrücklicher als im Rahmen solcher Anschläge oder entsprechender Unfälle.111 In der Reihe der in den Monaten nach den Anschlägen geehrten Helden aus der Riege der Rettungsdienste hätte man, im Sinne eines erweiterten Gemeinschaftsgedankens oder eines Parlaments auch solcher Dinge112, gleichfalls jenen beim Einsturz dann pulverisierten Treppen ein Denkmal setzen können (meines Wissens hat die Stadt eine solche Ehrung nie auch nur erwogen).

Bachelard und die Phänomenologie von Schwelle und Tür Bachelard lotet unterschiedliche Blickwinkel aus, wie der Mensch dem Phänomen von Tür und Tor begegnet und auf welche Weisen er diese erleben kann. Die buchstäbliche Tür, mit symbolischem Überschuß, zeige sich am Beispiel des Hinauswurfs: »Vor die Tür gesetzt, außerhalb des häuslichen Seins, eine Lage, in der sich die Feindlichkeit der Menschen und die Feindlichkeit des Weltalls zusammenballen.«113 Ich sitze vor der Tür und kann nicht glauben, daß ich vor sie gesetzt wurde; aber nicht allein, daß ich mich wider Willen vor ihr im Treppenhaus oder im Freien befinde, es kränkt mich noch mehr der symbolische Akt: der Mensch jenseits der Tür sagt Nein zu mir und enttäuscht meine Hoffnung, geachtet und vor allem geliebt zu werden. 109 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 50f. 110 | Zur Wendeltreppe siehe Bachelard S. 132, zum Treppenhaus siehe Bachelard S. 223. – Vgl. Peter Sloterdijks zeitdiagnostisch-symbollogische Kritik der Rolltreppe, in: P. S.: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a.M. 1989, S. 268ff. 111 | Freilich sind auch Feuerwehrleute in Gegenrichtung in das Inferno hinauf- und ihrem Tode entgegengeeilt. Für sie waren die Treppen die stairways to hell. 112 | Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 2001. 113 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 34.

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Prinzipiell jedoch identifiziert Bachelard in der Tür zunächst einen »Kosmos des Halboffenen« und weiß, daß sie zwischen zwei extremen Möglichkeiten hin und her schwingt: einmal sei sie »fest verschlossen, verriegelt« und einmal sei sie »offen, das heißt weit offen«114. Aber es finden sich auch »Türen des Zauderns«, in denen sich das Schicksal eines Menschen abzeichne; dann liege »in der Tür ein kleiner Gott der Schwelle«115 verborgen. Doch die Schwelle ist in ihrer klassischen Lesart »der Platz der Erwartung«116 und damit der Standpunkt der Verheißung dessen, was da kommen mag. Schließlich steht Bachelard noch vor den »Türen der bloßen Neugier«117, die man allerdings wie das Blaubart-Zimmer lieber nicht öffne. Doch Türen bleiben immer auch Instrumente der Verwandlung. Denn, fragt Bachelard rhetorisch, »ist es das gleiche Wesen, das eine Tür öffnet und das sie wieder schließt?«118 Doch ganz gleich, ob sie das öffnende und schließende Wesen verwandelt, es bleibt stets auch die Frage, wohin die Tür sich öffnet: Geleitet sie mich in die »Welt der Einsamkeit« oder in die »Welt der Menschen«119? Die Tür ist ein Vorhang, der die Bühne dahinter verdeckt. Öffnet er sich, durch den Wind, durch ein Kind, werde ich Teil der Bühne, ein Spieler inmitten der Einsamkeit, inmitten von Mitspielern und Freunden. Diese Ausführungen resümierend, betont Gaston Bachelard in seinem topophilen Ansatz den Schutzwert des Raums. Insofern zeigt sich im Raum eine übertragene Mütterlichkeit, im geglückten Fall die Möglichkeit einer absoluten Geborgenheit für Menschen. In phänomenologischen Beispielen kann Bachelard illustrieren, wie der Raum dem Menschen eine Form des intimen Sich-Erlebens ermöglicht. Das Emily-Schiffs-Beispiel veranschaulicht darüberhinaus, inwiefern der plötzliche Raumwechsel eine Erfahrung der Selbstentfremdung hervorrufen kann. Ich bin von mir selbst entfremdet in dem Augenblick, in dem ich den intimen Innenraum verlasse oder versehentlich in den Bereich außerhalb des Innenraums gelange. Insgesamt stützen die gemachten Hinweise auf Bachelards ›Poetik des Raumes‹ eindrucksvoll die These, daß es der Raum ist, der den Menschen hervorbringt und erst wirklich ganz macht.

114 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 221f. 115 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 221. Zur Schwelle siehe auch S. 112 sowie S. 221f. 116 | Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, a.a.O., Siebentes Buch, Neuntes Kapitel, Lehrbrief. 117 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 222. 118 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 222. 119 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 222.

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O t to F riedrich B ollnow – eine phänomenologische R aumtheorie Bollnow und der Mensch und sein Raum Otto Friedrich Bollnow, Geborgenheitsphilosoph und anthropologisch ausgerichteter Toposagoge, versuchte in seiner Arbeit, das existentialistische Konzept der Geworfenheit zu ergänzen, wenn nicht zu überarbeiten – dem Hinausgeworfensein ein Eingebettetsein entgegenzuhalten. Bis heute maßgebend für diese Arbeit sind die phänomenologisch detailliert ausgeführten anthropologischen Analysen in seinem Hauptwerk ›Mensch und Raum‹. Wenn man sachlich dem Gegenstand nicht ganz gerechtwerdende holzschnittartige Zuspitzungen zulassen wollte, so könnte man überblicksweise sagen, daß im Schwung der von Brentano und Husserl ausgehenden Raumwende und in einer phänomenologischen Parallelaktion zu Hellmut Plessners anthropologischer Renovation (siehe unten) es Martin Heidegger war, der mit seinen Überlegungen zur Räumlichkeit und zum In-Sein epochemachende Impulse für die anthropologische Raumtheorie seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegeben hat; wohingegen es nach dem Krieg zumindest in der kontinentaleuropäischen Sphäre eben Bollnow, Schmitz, Sartre, Merleau-Ponty und Bachelard waren, die je auf ihre Weise neue Theoriefelder hinsichtlich Raum und Leib erschließen konnten. Als anfängliche Trias der menschlichen Räumlichkeit umreißt Bollnow zunächst drei Formen des Raums:120 • den Raum, den man hat, • den Raum, in dem man ist, also der innerweltlich-objektive Raum, in dem die Dinge vorhanden sind, • den Raum der Intentionen oder der intentionale Raum, der sich in Abständen und Richtungen um das menschliche Subjekt auf baut. Dabei ist für Bollnow wichtig, daß Raum haben ursprünglicher sei als ›in‹ einem Raum sein121; das heißt, egal ob ich mich ›in‹ einem Innenraum befinde oder ›in‹ einem Außenraum – zunächst notwendig sei es, daß ich überhaupt ›Raum habe‹. Der konkrete Raum – immer mit einem Artikel verbunden – sei quantitativ bestimmbar; wohingegen der Raum, den ich habe, »sich jeder quantitativen Erfassung entzieht«122; dieser Raum, den ich habe, sei mein »Eigenraum«123. Dieses Raum-Haben ist auch gewissermaßen jene Haut, aus der ich nach der Redewendung fahren kann, wenn ich mich eingeengt oder heftig provoziert fühle; es ist folglich ein Ausdruck für das unmittelbare räumlich-körperliche Freiheitsgefühl. Unmittelbar Raum-Haben und das Freiheit-Haben-Gefühl sind zwei deckungsgleiche Empfindungen des beweglichen Menschen. Bollnow interessiert sich folglich vorgängig für den konkret »erlebten Raum«124 im Unterschied zum mathemati-

120 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 230f. 121 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 231. 122 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 231. 123 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 231ff. 124 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 5f.

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schen und euklidischen Raum125; eine Unterscheidung, die ähnlich Hermann Schmitz macht, wenn er von den »flächenlosen« Räumen im Unterschied zu den »flächenhaltigen« Räumen spricht (siehe unten zu Hermann Schmitz). Wenn ich in dieser Arbeit vom ›erlebten Raum‹ spreche, so meine ich damit zunächst einfach jeweils den Raum, wie er mir im täglichen Leben erscheint – und zwar in jeder Hinsicht, implizit oder auch explizit. Das Erleben meint ja im Kontext dieser Arbeit nichts anderes als ›bei Bewußtsein sein‹, also ›die Welt erleben‹. Das heißt auch, daß es aus der Alltagsperspektive durchaus den Raum gibt, in dem ich mich jetzt befinde, etwa das Wohnzimmer, und zwar auch dann, wenn ich ihn verlasse; es ist demnach offensichtlich, daß ich in einem Raum lebe und zugleich und sogar ursprünglicher – im Sinne Bollnows – mit dem Raum, den ich habe. Doch darüberhinaus ist aus einer repräsentationalistischen Beschreibungsperspektive der erlebte Raum tatsächlich ein ›innerer‹ (zerebral konstituierter), also von mir nichtbewußt transparent repräsentierter ›Raum‹, der mir auf der Bewußtseinsebene eben als das Wohnzimmer erscheint (hierzu gehe ich im III. Hauptteil ein). Bollnow macht sich im übrigen Dürckheims Charakterisierung des Raums zu eigen, nach welcher der Raum für das Selbst Medium seiner Verwirklichung sei126 und damit in den Worten Dürckheims Bewahrer und Bedroher, Fremde und Heimat – eine aus einer Alltagsperspektive gesehen mögliche existentialistische Beschreibung dessen, wie Menschen Räume erleben, nämlich emotional unterschiedlich gefärbt, je nach der Situation, in der sie sich befinden.

Bollnow, die bergende Mitte des Raums und das Bett Der konkrete Raum sei stets um eine Mitte aufgebaut. Und zwar unabhängig davon, wo ich mich im Raum aufhalte. »Wenn ich mich umsehe, nach links und nach rechts, sind meine Sehstrahlen gewissermaßen die Vektoren eines Systems von Polarkoordinaten, ich selber bin als der Sehende deren Nullpunkt.«127 Es ist also die Mitte, die in einem wichtigen Aspekt den einen Raum erlebenden Menschen bestimmt. Auch in der zeitgenössischen Selbsttheorie kommt der Begriff der Mitte im Rahmen der Diskussion der Ich-Perspektive bzw. der Erste-Person-Perspektive ins Spiel.128 Doch Bollnow beläßt es nicht bei der vektoralen Bestimmung der Mitte, sondern lädt diese emotional auf, wenn er schreibt, daß sie ein »bestimmter Raum« sei, ein »Herzraum«, ein »Raum der Geborgenheit«. Deutlich wird damit unter anderem, daß das Erleben der Mitte von dem jeweiligen Menschen als angenehm empfunden werde. Diese Mitte zeige sich im Haus in einem bestimmten Raum, an einer bestimmten Stelle; letztlich sei die Ur-Mitte des Hauses nichts anderes als das Bett.129

125 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 4f. und S. 17. 126 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 7. 127 | Vgl. Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 37. 128 | Siehe auch Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 129. 129 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 129f.

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Bollnow und das Menschenpaar in der Wohnung Auch betont Bollnow im Anschluß an Minkowski130, daß die Geborgenheit eines Hauses oder einer Wohnung erst dann vollständig gegeben sein könne, wenn ein Menschenpaar die Wohnung bewohne. Man könne das Wesen des Hauses allein »vom einzelnen Menschen her gar nicht hinreichend erfassen«131, so Bollnows These, die er »Erkenntnis«132 nennt, ohne sie zureichend zu erläutern. Nur einzelne Ausnahmen, »vor allem alleinstehende Frauen«133, könnten auch ohne Gegenüber eine gewisse Wohnlichkeit ihres Zuhauses herstellen. Nicht nur offenbart sich hier ein sexistisch gefärbter blinder Fleck (bei Minkowski ist es »der Mensch«, der einer »weiblichen Gegenwart« bedürfe – ›Mensch‹ steht hier also für ›Mann‹134); Bollnows These verkennt auch die verführerischen Möglichkeiten der »Selbstpaarungen im Habitat«135: Nach diesen kann der Mensch nicht nur alleine leben, sondern vor allem auch mit sich alleine leben, in einer intimen Wohngemeinschaft mit sich, dem inneren Anderen, sein Leben führen.

Bollnows drei Bereiche des Wohnens: Der Leib, das Haus, der Raum überhaupt Bollnow nimmt aus phänomenologisch-anthropozentrischer Sicht – zusätzlich zur oben erwähnten Trias der menschlichen Räumlichkeit (der Raum, den man hat, der Raum, in dem man ist, der intentionale Raum) – drei Räume ins Visier: den Raum des eigenen Leibes, den Raum des eigenen Hauses und den umschließenden Raum überhaupt. • Um mit dem Haus anzufangen, versteht Bollnow unter »Haus« jeden »über den Leib hinausgehenden abgeschlossenen Eigenraum […], in dem sich der Mensch aufhalten und mit Sicherheit bewegen kann«136. • Der »Raum überhaupt« bezeichnet jenen Raum, der »nicht mehr durch eine erkennbare Grenze als ein Innenraum von einem Außenraum unterschieden ist«137. • Als kennzeichnend für den »Raum des Leibes« sieht Bollnow nun zweierlei: • Einmal den Leib als Werkzeug zur Erkenntnis des Raums. • Andererseits den Leib als »eine Art von Innenraum«, der sich von einem Außenraum abgrenzt.138 Diese letztere Perspektive – der Leib als Innenraum – ist meines Erachtens lediglich aus einer außenperspektivischen Beschreibung nachvollziehbar (siehe unten den III. Hauptteil); denn in der erlebenden 130 | Eugène Minkowski: Espace, intimité, habitat, in: Situation. Beiträge zur phänomenologischen Psychologie und Psychopathologie. Utrecht und Antwerpen 1954, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 120. 131 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 121. 132 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 121. 133 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 121. 134 | Siehe Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 120. 135 | Peter Sloterdijk: Selbstpaarungen im Habitat, in: P. S.: Sphären III, a.a.O., S. 582-603. 136 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 233f. 137 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 234. 138 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 235.

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›Innen‹perspektive, also im täglichen Erleben, erlebe ich einfach die Welt, also zum Beispiel die Wohnung, in der ich lebe, den Garten, in dem die Rosen duften, die Stadt, in der ich spaziere etc. – hingegen erlebe ich meinen Leib nicht als »eine Art Innenraum«, sondern ich ›bin‹ einfach oder, wie Bollnow an einer anderen Stelle selber sagt: der Mensch ist »gewissermaßen schon immer über seinen Leib hinweg unmittelbar bei den Dingen seiner Welt«139. Den Leib oder besser: den Körper als konkreten Innenraum könnte ich davon abgesehen insofern erleben, als ich meine höherstufig-bewußte Aufmerksamkeit auf buchstäblich innere Bereiche richte – sei es, daß ich meinen Bauch abtaste, sei es, daß ich vor dem Spiegel in die geöffnete Mundhöhle hineinblicke etc. Was die von Bollnow behauptete »Unauffälligkeit des Leibes«140 betrifft, so ist hier des weiteren zu differenzieren. Sicher ist es richtig, daß Menschen in ihren alltäglichen Handlungen meist nicht explizit über ihren Leib reflektieren, sondern »unmittelbar bei den Dingen« ihrer Welt sind, zum Beispiel die Wasserflasche öffnen oder einen Nagel in die Wand hämmern, so daß Bollnow auch sagen kann, der Leib sei »gewissermaßen ein ›Unraum‹, wie gar nicht vorhanden«. Erst »bestimmte Grenzerfahrungen«, so Bollnow weiter, würden den Leib in die eigene Sichtbarkeit heben, ihn als »räumliches Gebilde zum ausdrücklichen Bewußtsein« bringen – wobei er unter die Grenzerfahrungen vor allem den Schmerz rechnet.141 Doch nicht erst im Schmerz – oder in Fällen von Anomalien jenseits des Schmerzes, wie etwa im Schwindel, bei Schwerhörigkeit, optischer Unschärfe etc. – kommt mir der Leib zu explizitem Bewußtsein: auch in Fällen großer Freude, von Lust, von Herzklopfen aus Liebe etc. macht sich die Existenz des Leibes bemerkbar, wenn auch motivierend, beglückend, bejahenswert.142 Darüberhinaus ist freilich zu der von Bollnow behaupteten Unauffälligkeit anzumerken, daß für Leben und Überleben eines Menschen gerade die anhaltende leiblich-bewußte Wahrnehmung der Gefühle von bestimmender Bedeutung ist. Der Mensch könnte ohne diese ihn ständig orientierenden Gefühle kaum überleben – was sind Gefühle funktional gesehen anderes als ein vielschichtiges System von Signalen, Impulsen, Informationen? Geschmack, Geruch, Sehen, Hören, Tasten – alle mit den Sinnen verbundenen Gefühle unterrichten mich implizit oder explizit so oder so. Ich gehe in diesem vielfältigen Informationenfluß unbemerkt 139 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 236. 140 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 236ff. 141 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 236. – Vgl. Walter Rathenaus Definition: »Individualität ist Einheit des Schmerzes.« (W. R.: Auf dem Fechtboden des Geistes, a.a.O., S. 117.) – Der Psychiater Dieter Beck legte nahe, daß Menschen auch in der Krankheit oder im Schmerz eine Einheitserfahrung machen und damit ein ›Selbst‹-Gefühl haben können; in: D. B.: Krankheit als Selbstheilung. Wie körperliche Krankheiten ein Versuch zur seelischen Heilung sein können, mit einem Nachwort von Elisabeth Kübler-Ross, Frankfurt a.M. 1985. – Ein Einheitsgefühl läßt sich wohl auch in der tiefen Gleichgültigkeit empfinden. 142 | Daß Freude und Leid auch gleichzeitig erfahren werden können, sprach Hugo von Hofmannsthal aus: »Wo ist dein Selbst zu finden? Immer in der tiefsten Bezauberung, die du erlitten hast.« (H. v. H.: Buch der Freunde, mit Quellennachweisen hg. von Ernst Zinn, Frankfurt a.M. 1967, S. 35, zitiert nach: Deutsche Aphorismen, a.a.O., S. 134.)

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geradezu auf, auch wenn mir die Informationen nur in unterschiedlichen Graden explizit bewußt sind und oft nicht ausdrücklich reflektiert werden. So gesehen ist der Leib das auffälligste – auch wenn mir gerade das oft nicht auffällt.

Bollnow, der Schlaf und das aufgelöste Selbst Der Einschlafende gibt sich hin, vertraut sich an; überläßt sich den Dingen, und seinem Körper, dem ersten Ding; stellt sich nach innen ein; verzichtet auf das, was in einiger Entfernung ist; zieht sich zurück, gehorcht; opfert das Wirkliche, wird ganz wirklich, stimmt zu, nur mehr er selbst zu sein; wechselt Art und Gestalt, tritt zurück in die Wehrlosigkeit der Geburt. Paul Valéry143

Zum Schlafaspekt schicke ich einen Überblick über die wichtigsten Aussagen Bollnows hierzu vorweg: • Das Ich bleibt sich im Schlafen nicht gleich.144 Das Ich verwandelt sich – und damit auch die es umgebende Welt. • Bewußtsein ist nur im Wachen (und im Traum).145 • Das bewußte Ich löst sich jeden Abend beim Einschlafen auf – und baut sich am Morgen neu wieder auf.146 • Beim Aufwachen ist der Mensch zunächst noch raumlos, findet sich nicht als Ich vor.147 • Der Auf bau des Raumbewußtseins mündet in Selbstbewußtsein. In Bollnows Worten: Mit dem Auf bau des umgebenden Raums geht »auch die Ausbildung des eigentlichen Selbstbewußtseins […] Hand in Hand. Auf bau des Außenraums [›Außenraum‹ meint hier den mich ›umgebenden Raum‹, etwa das Schlafzimmer, M.M.] und Auf bau des inneren Selbst entsprechen also einander beständig«148. Bollnow stellt im übrigen in seinen Ausführungen über das Stehen und Liegen sowie insbesondere über das Einschlafen und das Aufwachen einen Zusammenhang zwischen Raumwahrnehmung und Selbstkonstitution her, der wie eingangs gesagt für die These dieser Arbeit von zentraler Bedeutung ist.149 Zunächst verweist Boll143 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel, auf der Grundlage der von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt besorgten deutschen Ausgabe der Cahiers/Hefte in sechs Bänden, Frankfurt a.M. 2011, S. 220. 144 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 139. 145 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 140. 146 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 139 und S. 148. 147 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 141f. 148 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 144. 149 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., Abschnitt ›6. Das Liegen‹, S. 137-139 (Teil III, Kapitel 5: Das Bett), sowie Kapitel ›6. Das Aufwachen und das Einschlafen‹, S. 139-152 (Teil III).

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now auf die signifikante Differenz zwischen dem Stehen und Liegen.150 Der wache, stehende Mensch trete der Welt gegenüber, ihm sei alles erreichbar, greif bar, ein paar Schritte hierhin und dorthin und schon habe er das, wonach er greife und strebe; der stehende, agierende Mensch sei derjenige, der bei den Sachen und bei der Welt sei, der in einem Könnensmodus der Welt gegenübertrete. Alles das verändere sich im Moment des Sichhinlegens und besonders in der Phase des Einschlafens. Bollnow schreibt hierzu: »Der im Bett liegende Mensch hat ein andres Verhältnis zum Raum, oder besser, er hat einen andern Raum als der sich aufrecht bewegende.«151 Will ich vom Bett aus etwas im Raum befindliches erreichen, dann erfordere es bereits »einen erheblichen inneren Kraftaufwand«152, um dorthin zu kommen. Weil jedoch der Mensch nur in Notfällen bereit sei, diesen Kraftaufwand zu leisten, folge hieraus, daß der Raum zusammenschrumpfe und sich auf die Ausmaße des Betts beschränke. Betrachtet man nun die Erscheinungsweise des Selbst oder des Ichs während der Einschlaf- und Aufwachphasen sowie überhaupt während des Schlafs, so ist zuerst festzuhalten, daß das erlebte Ich offenbar während dieser Phasen nicht konstant gleichbleibt. Während des gewöhnlichen Einschlafens fühle ich vielleicht gerade noch, wie ich langsam wegdämmere. Während des Aufwachens hingegen komme ›ich‹ erst ›zu mir‹. Und während des traumlosen Tiefschlafs bin ich offenbar überhaupt nicht da. Bollnow bemerkt dazu: »Der Mensch taucht jeden Abend in eine größere Tiefe ein, in der sich sein bewußtes Ich in einem umfassenderen Medium auflöst, und jeden Morgen baut sich dieses – zusammen mit seiner umgebenden Welt – neu wieder auf.«153

Und weiter: »Der Mensch entgleitet dem übersichtlich um ihn ausgebreiteten Raum. Gleichzeitig entschwindet die Zeit: Wir leben einschlafend in einer gleichsam zeitlosen Zeit, einer Zeit, die sich im gegenwärtigen Augenblick verliert. […] Die Welt entgleitet unserm Griff. Aber eben damit löst sich zugleich auch das individuelle Ich auf.«154

Bollnow verweist auch auf die in eine ähnliche Richtung zielenden Gedanken Merleau-Pontys in dessen ›Phénoménologie de la perception‹, wo dieser schreibt: Die Nacht »ist nicht ein Gegenstand vor mir, sondern sie hüllt mich ein, sie dringt durch alle meine Sinne, sie erstickt meine Erinnerungen, sie löscht fast meine persönliche Identität aus«155. Zur Schutzfunktion des Schlafzimmers ist ein Verweis auf Peter Sloterdijks Ansatz zu einer Hypnologie einzufügen, welcher Bollnows Ausführungen stützt und ergänzt. Sloterdijk verortet das regelrechte, zu sich kommende Schlafen in 150 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 137-139. 151 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 138. 152 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 138. 153 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 139. 154 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 148. 155 | Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945, S. 328, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 183f. (Kursive Hervorhebung M.M.)

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einem »Immunhaus«, dessen naturgemäß wichtigste Stunde nachts schlägt – und erkennt im Haus den gebauten Hüter des Schlafs.156 So schreibt Sloterdijk über das Bett: »Hier wird das Haut-Ich zu einem Bett-Ich erweitert – umfangen von einem Zimmer-Ich in einem Haus-Ich.«157 Das Wohnen erst ermöglicht den tiefen Schlaf. Was also das Aufwachen betrifft, so finde sich, so Bollnow, der Mensch in den ersten Augenblicken oft »in einem Zustand völliger Raumlosigkeit«158 wieder – diese Augenblicke können unterschiedlich lang sein, von kaum bemerkbar bis mehrere Sekunden lang – je nach Umgebung und Situation, in welcher er aufwacht. Bollnow rekurriert hier auch auf Dürckheims ›Untersuchungen zum gelebten Raum‹, in denen dieser schreibt, daß es sich beim Erwachen um einen Zustand »ohne Raumbewußtsein und – bedeutsamerweise ohne eigentliches Selbstbewußtsein«159 handele. Das Selbst werde demnach beim Erwachen erst schrittweise aufgebaut. Man liege während des Aufwachens da und habe noch nicht die volle Richtungsorientiertheit erreicht, wisse noch nicht richtig, wo die Wand beginnt, wie groß das Bett ist, aber doch fühle man eine gewisse Zentriertheit »und damit ein fragmentarisches Selbstsein« (Dürckheim160). Weiter kläre sich die eigene Lage, sobald man beginne, sich zu bewegen. Wenn ich mit Hilfe einer tastenden Bewegung außerhalb des Betts die nächste Umgebung erkenne, dann sei plötzlich »die zentrierte und zugleich richtungsgeklärte Bewegungsfähigkeit da, und damit zugleich das Selbst erst ganz da, zu dessen ›Ganz-Dasein‹ offenbar Zentriertheit und Richtungsbestimmtheit«161 gehören. Was hier also beschrieben wird, ist – in den Worten Bollnows –, auf welche Weise »in unteilbarer Einheit mit dem Auf bau des umgebenden Raums auch die Ausbildung des eigentlichen Selbstbewußtseins […] Hand in Hand geht«. – Und dann, direkt im Anschluß, folgt der wichtige Satz: »Auf bau des Außenraums [›Außenraum‹ meint hier, wie oben bemerkt, den mich umgebenden Raum, sprich den Innenraum, hier das Schlafzimmer, M.M.] und Auf bau des inneren Selbst entsprechen also einander beständig«162 . Doch geht das Verhältnis von Raum und Selbst über eine bloße »Entsprechung« hinaus. Vielmehr ist das Erleben eines Innenraums auf der repräsentationalistischen Ebene und auf einer impliziten phänomenalen Ebene nichts anderes als das Erleben des Selbst. Es gibt gemäß dieser These auf den genannten Ebenen also nicht zwei ›Gegenstände‹ – Raum und Selbst –, sondern lediglich einen: den Raum bzw. das Selbst – sprich: das Raumselbst. Bollnow umreißt im weiteren Verlauf seiner Analyse diesen zuletzt genannten wichtigen Punkt sogar fast im Sinne meiner These, allerdings auf eine schillernde, nicht eindeutige Weise und zudem so, daß es seinem Umriß gemäß doch zwei ›Gegenstände‹ – Raum und Selbst – zu geben scheint. 156 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 541ff. 157 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 541. 158 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 141. 159 | Graf Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, a.a.O., S. 400, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O. S. 142. 160 | Graf Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, a.a.O., 401f., zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 143. 161 | Graf Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, a.a.O., 401, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 143. 162 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 144.

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Es ist notwendig, diese Passage ganz zu zitieren: »Den Raum zurückgewinnen bedeutet also zugleich das Selbst zurückgewinnen. Daraus ergibt sich die entscheidende Wichtigkeit des Raums für die Konstitution des Selbst. Die verbreitete Anschauung von der selbstverständlichen und für den Aufbau einer Erfahrungswelt grundlegenden Identität des Ichs kehrt sich gradezu um. Man könnte sich gar nicht fassen, weil man sich selbst im ständigen Wandel gegeben ist. Erst durch die Lokalisierung an einer bestimmten Stelle im Raum kann auch das Ich diejenige Festigkeit gewinnen, sich selbst als etwas Identisches festzuhalten. Darum ist der Raum die unentbehrliche Vorbedingung für die Ausbildung eines sich in Freiheit zu sich selbst verhaltenden Ich.«163

Diese Passage und frühere, hier zitierte Aussagen Bollnows nochmals im Sinne eines Fazits zu Bollnow auf den Punkt bringend: Der Raum ist für die Konstitution des Selbst von notwendiger Bedingung. Ohne Raum kein Selbst. Der Mensch muß sich verorten können, damit sein Ich die entsprechende Verankerung (»Festigkeit«) erfährt. Bollnow differenziert gleichwohl zwischen Raum und Selbst. Diese Differenzierung ist auf der alltäglichen und zum Teil auch phänomenologischen Beschreibungsebene natürlich durchaus richtig: Ich bin nicht das Schlafzimmer. Gleichwohl – nochmals sei es gesagt – versuche ich plausibel zu machen, daß diese Unterscheidung von Raum und Selbst nicht für jede Beschreibungsebene gültig ist, nicht für die neurowissenschaftlich informierte, repräsentationalistische Beschreibungsebene und auch nicht durchweg für die Ebene des impliziten phänomenalen Erlebens. Das heißt meine These lautet an dieser Stelle: Auf der neurowissenschaftlich informierten, repräsentationalistischen Beschreibungsebene und auf der Ebene des impliziten phänomenalen Erlebens bin ich das Schlafzimmer. Mein Selbst-Gefühl ist das Innenraum-Gefühl. Ich erlebe den intakten Innenraum des Schlafzimmers als mein Selbst. – Letzteres entspricht in etwa auch dem, was Bollnow hinsichtlich des Wohnens sagt, wenn er schreibt, daß »das Verhältnis des Menschen zu seinem Haus in der Innigkeit seines Verhältnisses zu seinem Leib begriffen wird. Auch das Wohnen in einem Haus ist eine Art von Inkarnation«164 – und das ergebe letztlich eine »unauflösliche Einheit von Wohnung und Bewohner«165 oder – in den Worten von Gaston Bachelard, den Bollnow zitiert – die »Verschmelzung des Daseins in einem konkreten Raum«166. Das bedeute – Bollnow weist ausdrücklich darauf hin –, daß das Verhältnis zwischen Mensch und Raum keines der Wechselwirkung sei167 – wobei man im Unterschied zu Bollnow schreiben sollte: daß das Verhältnis keines der bloßen Wechselwirkung ist, denn in einer Außenperspektive gilt natürlich, daß der Mensch auf den Raum einwirkt, genauso wie der Raum auf den Menschen Einfluß nimmt, es sich also durchaus auch um ein Wechselwirkungsverhältnis handelt –, 163 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 145. 164 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 227. – Auf meine Bedenken hinsichtlich des Begriffs ›Inkarnation‹ muß ich nicht nochmals hinweisen. 165 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 228. 166 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 236, zitiert nach: Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 241. 167 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 241.

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sondern »daß der Mensch nur in der Einheit mit einem konkreten Raum ein bestimmtes Wesen gewinnt«168 – ›ein bestimmtes Wesen gewinnt‹, das wäre in den Worten meiner Interpretation eben einfach ›ein Raumselbst erlebt bzw. ein Selbst‹. Erst der Raum macht den Menschen zu einem sich selbst als phänomenal bewußtes Selbst erlebenden Menschen. All das zeigt, daß der Raum zum Menschen »gehört wie sein Leib«169 und daß man mit Bollnow sagen kann: »Wir sind unser Raum.«170 Wir erleben uns selbst, indem wir den Raum erleben. Wir kommen zu uns, indem wir der Raum sind.

H ermann S chmit z und der R aum . N och eine A nmerkung Im Rahmen seiner neuphänomenologischen Philosophie und damit im Zuge der Orientierung an unwillkürlicher Lebens- und Leiberfahrung weist Hermann Schmitz den geläufigen, von der Fläche ausgehenden und auf diese Fläche fixierten Raumbegriff als einen für das menschliche Leben irrelevanten zurück. Im Gegenzug führt er den Begriff des »flächenlosen Raums« ein und rückt diesen zugleich in den Brennpunkt auch der psychologischen, psychotherapeutischen und alltäglichen Aufmerksamkeiten.171 Das von flächenhaltigen Räumen ausgehende, ursprünglich der griechischen Geometrie entstammende Raumdenken sei nichts anderes als »die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes, in dem es außer Flächen Punkte, Linien (Strecken) und dreidimensionale Körper gibt«172; diese Vorstellung herrsche heute in Naturwissenschaft und Alltag vor.173 Aufgrund der ausschließlichen Orientierung daran seien die flächenlosen Räume jahrtausendelang aus dem Blick geraten, in denen es eine Ruhe gebe, »die nicht von Orten abhängt«174. Flächenlose Räume seien beispielsweise die Räume des Wetters, des Schalls, der feierlichen oder drückenden Stille, der Gebärden, der leiblichen Regungen, der Gefühle, des Winds, des Wassers.175 In flächenlosen Räumen gebe es »mangels Flächen keine Punkte, Strecken und dreidimensionalen Gebilde […], wohl aber dynamisches Volumen mit Bewegungssuggestionen und Richtungen, die nicht umkehrbar sind, sich aber auf den absoluten Ort des spürbaren Leibes beziehen […]«176. (Insofern sich Schmitz auf den spürbaren Leib bezieht, findet sich eine frühe verwandte Auffassung des Raums im Empirismus bei John Locke, demzufolge 168 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 241. 169 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 248. 170 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 248. 171 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 71-78. – Siehe auch Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, hg. von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch, Bielefeld 32008. 172 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 71. 173 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 72. 174 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 74. 175 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O. S. 22f. und S. 74. 176 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 75. – Zum »absoluten Ort« siehe S. 75f.

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der Mensch die Vorstellung des Raums, wie oben erwähnt, »sowohl durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn«177 erlange.) Schmitz differenziert also vom leiblichen flächenlosen Raum den relativen Ortsraum.178 Dabei ließe sich der leibliche Raum und seine Struktur »mit den Kategorien der leiblichen Dynamik« beschreiben; etwa lasse sich der »Raum des eigenleiblichen Spürens […] beim Atmen feststellen«179. Dabei habe der Leib, im Gegensatz zum Körper, keine Flächen mit Lagen und Abständen und folglich seien keiner seiner Regungen solche Flächen anzumerken, »weder dem Schmerz noch dem Hunger oder der Wollust usw. noch dem leiblichen Ergriffensein von Gefühlen, also z.B. dem Frohsein oder dem Zornigsein«. Der spürbare Leib zeige sich meist als »ein Gewoge verschwommener Inseln«; eine solche »Leibesinsel« bilde sich etwa beim Ein- und Ausatmen in der Brust- oder Bauchgegend, sie kommen und gehen, wie »Kopf-, Zahn- oder Bauchschmerz«180. Flächen seien damit leibfremd. Mit dem Begriff der »Leibesinseln« will Hermann Schmitz die unterschiedlichen perzeptiv erschlossenen Felder sinnlicher Wahrnehmung begrifflich fassen. Ob ich ein Streicheln des Winds auf der Stirn spüre, ein Völlegefühl, einen Zahnschmerz, eine mich durchströmende große Freude – ich erlebe mich jedesmal konzentriert auf diese »Leibesinseln«, finde mich in diesen Räumen des Auges, des Geschmacks, des Dufts, des Geruchs, des Gefühls und des Hörens. Auch wenn das Konzept des flächenlosen Raums in Absetzung des geometrischen Körperraums allgemein schlüssig ist, so scheint es doch zweifelhaft zu sein, daß auf dem Feld des leiblichen flächenlosen Raums und der leiblichen Regungen keine Flächen anzumerken sein sollen: muß nicht jedes gefühlte Volumen auch eine Oberfläche besitzen und ihm damit auch eine Art Flächenwahrnehmung innewohnen? Wie empfinde ich ein Völlegefühl, einen Zahnschmerz oder Kopfschmerzen? Empfinde ich diese Gefühle nicht immer in bestimmter Weise als abgegrenzt? Der Kopfschmerz im vorderen Kopf bereich, die Zahnschmerzen links oben, das Völlegefühl im Bauchbereich? Es ergibt zwar Sinn, die leiblichen Gefühle in ihrer ihnen eigenen Qualität zu fassen zu versuchen, wie Schmitz das mit dem Begriff »Leibesinsel« tut; doch wie der Begriff »Leibesinsel« selbst andeutet, sind diese leiblichen Regungen immer verortbar, als abgegrenzte wahrnehmbar und eben damit durchaus in einem speziellen Sinne flächenhaltig. Um den Begriff des flächenlosen Raums aber auch in der einprägsamen Beschreibung von Hermann Schmitz am Stück zu präsentieren, führe ich folgende Passage an: »Flächenlos ist z.B. der Raum des Schalls, in dem sonore und dumpfe Klänge weit ausladen, schrille Pfiffe sich scharf und schmal zusammenziehen, Bewegungssuggestionen wie der Rhythmus und andere Schallgebärden (Aufstrahlen der Trompete u.a.) Bewegungen vorzeichnen, die mehr oder weniger auf den hörenden Leib überspringen, Höhe und Tiefe der Töne sich ebenso ereignen wie eine Entfernung ohne umkehrbaren Abstand, da man spontan zwar hört, ob ein Schall weiter weg ist als ein anderer, aber nicht wie beim Sehen unmittelbar 177 | John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Band I: Buch II, Kapitel 13, § 2, a.a.O., S. 190. 178 | Vgl. auch Hermann Schmitz: Was ist neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 59f. 179 | Hermann Schmitz: Was ist neue Phänomenologie?, a.a.O., S. 57. 180 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 76f.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum mit bemerkt, wie weit man selbst weg von ihm ist. Flächenlos ist ebenso der Raum der feierlichen oder drückenden Stille; jener ist weiter, dieser schwerer, aber beide sind dichter als die gleichfalls weite zarte Morgenstille. Flächenlos ist auch der Raum des Windes, von dem man getroffen wird, mit einer Bewegung, die frei von Ortswechsel ist, es sei denn, man deutet den erlebten Wind, ein Halbding, in bewegte Luft, ein Vollding um. Flächenlos ist das unauffällige Rückfeld, das man bei vorwärts gerichteter Tätigkeit durch Zurücklehnen, Dehnen, Biegen unaufhörlich in Anspruch nimmt. Flächenlos ist der Raum des Wetters, den man z.B. erfährt, wenn man aus dumpfer, überfüllter Stube mit befreiendem Aufatmen ins Freie tritt, in eine Atmosphäre, in der sich der spürende Leib reicher als zuvor entfalten kann.«181

Zusammenfassend läßt sich sagen, Hermann Schmitz’ Raumbegriff ergänzt die Raumtheorie unter anderem um das Konzept des flächenlosen Raums und erhöht damit deren Differenzierungsmöglichkeit. Konkret kommt es dabei stets auf die jeweilige Beschreibungsebene an, ob man von flächenhaltigen oder flächenlosen Räumen sprechen muß. In Hinsicht auf diese Arbeit erweitert das Schmitzsche Konzept somit die möglichen beschreibbaren Bereiche des Selbsterlebens, und es wird deutlich, wie auch Räume des Wetters, des Schalls, des Wassers etc. das Selbst mitformen.

B ernhard W aldenfels und der R aum als leibliche S ituation Bernhard Waldenfels zeigt nicht nur, daß Raum – auf der Wirkungsebene – kein leeres Schema oder kein Behälter sei, sondern daß er – insbesondere in seiner Verbindung mit dem Wohnen – »sich nicht denken (läßt) ohne eine innere Zugehörigkeit der Bewohner zu dem Ort, an dem sie sich aufhalten«182 . Jeder Mensch erlebe eine Situations- und Positionsräumlichkeit; letztere verweise lediglich auf »Stellen im Raum«, wohingegen erstere selbstredend stets »mit einer Situation zusammenzudenken«183 sei. Die Situationsräumlichkeit sieht Waldenfels dabei stets »verbunden mit einem leiblichen Hier«184 – ›hier‹ immer geknüpft an die Situierung eines Menschen und zugleich verstanden als Ausdruck für das Zusammengehören von Leib und Raum.185 Vom Hier aus werde dann auch die Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen möglich.186 Anders freilich, als Waldenfels nahezulegen scheint, ist das ›Hier!‹, das ein Sprecher äußert, nicht nur Teil eines »›Hier-jetzt-ich-Systems‹«187, sondern es bezeichnet auch den konkreten Raum selbst: Wenn mich jemand zuhause in der Wohnung sucht und nach mir rufend fragt, wo ich sei, und ich antworte, ich sei 181 | Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 74f. 182 | Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 183. 183 | Bernhard Waldenfels: Das Rätsel des Leibes – Raumzeitliche Orientierung und leibliche Bewegung, in: B. W.: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. von Regula Giuliani, Frankfurt a.M. 2000, S. 115. 184 | Bernhard Waldenfels: Das Rätsel des Leibes, a.a.O., S. 115, und auch S. 117, 118, 119. 185 | Siehe Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 183. 186 | Bernhard Waldenfels: Das Rätsel des Leibes, a.a.O., S. 117f. 187 | Bernhard Waldenfels: Das Rätsel des Leibes, a.a.O., S. 119.

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hier, dann meine ich mit ›hier‹ mitnichten die buchstäbliche Stelle zwischen Bücherwand und Schreibtisch, sondern das Zimmer, in dem ich mich aufhalte – die Bibliothek. Gerade dieses Beispiel zeigt (wie schon oben in meiner Kritik an Bollnows Begriff des ›Eingesenktseins in den Raum‹ gesagt), wie Menschen sich in dem sie gerade umgrenzenden Raum verorten: ›hier‹ ist eben kein Nullpunkt, sondern bereits ein umgrenztes, meine Hautgrenzen überschreitendes Volumen.188 Jedenfalls bewege sich der Mensch, so Waldenfels, in seinem Hiersein zwischen zwei Extremen, zwischen Hier und Anderswo; daher gebe es nicht nur eine »place identity«, sondern auch eine »place non-identitiy«189. Das ist insofern richtig, als das Hier ohne das Nicht-Hier schon grammatisch-semantisch und logisch undenkbar und phänomenologisch nicht erlebbar sein kann; allerdings wäre es falsch zu sagen, ich bewegte mich in meinem subjektiven Erleben zwischen Hier und Nicht-Hier hin und her – vielmehr ist es phänomenologisch in der Regel so, daß ich stets ›hier‹ bin, unabhängig davon, wo ich mich befinde – der Mensch entkommt seinem Hiersein nie. Was sich allerdings verändert, ist das Volumen des Hiers; in der direkten leiblichen Gefahr schrumpft es auf den Körper oder eine Körperstelle, in einer friedlichen Situation weitet es sich und wird zuhause etwa zur Bibliothek. Fazit zu Bernhard Waldenfels: Der kurze Blick auf Waldenfels’ Phänomenologie der menschlichen Situiertheit erinnert im Anschluß an Hermann Schmitz’ Kritik am ›flächenhaltigen Raum‹ an Waldenfels’ exemplarischer analoger Kritik am Raum als Behälter: der erlebte Raum wird – in phänomenaler Perspektive – eben nicht als Behälter erlebt, sondern als das, wozu der Raumbewohner eine »innere Zugehörigkeit« (Waldenfels) empfinde; dabei sei die Situierung im Raum immer mit einem leiblichen Hier verknüpft. (Wie eingangs gesagt, ließe sich ein Raum – etwa aus einer Außenperspektive – durchaus auch als Behälter beschreiben. Es kommt auch hier, wie überall, immer auf die Perspektive an.) Was die »innere Zugehörigkeit« zum Raum betrifft, so ließe sich diese aus der Perspektive meiner These einfach dadurch erklären, daß ich eben der Raum bin: wenn ich durch den Raum hervorgerufen werde, ist meine Abhängigkeit von ihm und damit mein Zugehörigkeitsgefühl für ihn unvermeidlich.

188 | Zur Voluminosität siehe unten meine Ausführungen zu Dorothée Legrand. – Siehe auch Maine de Biran: ›Mémoire sur la décomposition de la pensée‹, (1805), Paris 2000, referiert und kommentiert in: Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls, aus dem Englischen von Horst Brühmann, Frankfurt a.M. 2012, S. 294f. (gegen Descartes), S. 297 (zur Ausdehnung) und S. 298f. (zum Körper als innerem Raum). Maine de Birans Überlegungen zur inneren Leiblichkeit hatten großen Einfluß auf Merleau-Pontys Phänomenologie. Merleau-Ponty postulierte »eine Räumlichkeit des Körpers vor der objektiven Räumlichkeit, eine Präsenz des Äußeren im Inneren des Bewußtseins« (Maurice Merleau-Ponty: L’union de l’âme et du corps chez Malebranche, Biran et Bergson, Paris 22002, S. 67f., zitiert nach: Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn, a.a.O., S. 299). 189 | Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 191.

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G ernot B öhme , die A tmosphäre und der leibliche W ahrnehmungsr aum Für Gernot Böhme, den Phänomenologen der Atmosphäre, gehören die Begriffe ›Atmosphäre‹ und ›leiblicher Raum‹ ins Zentrum jeder phänomenologischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Raumerleben des Menschen.190 In Anschluß an Hermann Schmitz grenzt er wie dieser den leiblichen Raum vom geometrischen bzw. euklidischen Raum ab191 – der leibliche Raum zeichne sich nicht nur dadurch aus, daß ich in ihm anwesend sei, sondern in ihm zugleich ein beziehungsreiches Gefüge aus Nachbarschaften und Unterschieden in der unmittelbaren Umgebung wahrnehme und mich dabei doch stets als Zentrum des Raumes erlebe.192 Was den leiblichen Raum darüberhinaus ausmache, zeige sich zunächst anhand der bekannten basalen Orientierungen wie rechts und links, oben und unten, vorn und hinten (auch Böhme hat, wie schon Kant, Husserl und Merleau-Ponty, ›innen und außen‹ nicht auf der Orientierungstafel stehen). Den Menschen begegne der leibliche Raum zudem durch sogenannte »Leiberfahrungsanmutungen«193 – wie Helligkeit und Dunkelheit oder Enge und Weite (›Enge und Weite‹ sind für Bollnow die »ursprünglichsten Bestimmungen des Raumes«194). Dieser leibliche Raum sei damit immer der Raum, der meine Befindlichkeit mitpräge und mich wie auch immer umgestalte.195 Von hier aus eröffnet sich der Übergang zu dem für Böhme zentralen Begriff der Atmosphäre.196 Atmosphären seien »gestimmte Räume oder – mit Schmitz zu reden: räumlich ergossene, quasi objektive Gefühle. Atmosphären sind etwas 190 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 15. 191 | Der Unterschied zu den der Mathematik bekannten topologischen und metrischen Räumen spielt hier keine Rolle, vgl. hierzu Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 15. 192 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 16. 193 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 16. 194 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 18. 195 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 16. – Reizvoll wäre im übrigen eine Interpretation von Böhmes Interpretation des Gedichts ›Meeresstrand‹ von Theodor Storm; Böhme reflektiert darin über »Halbdinge« wie Wind, Licht, Ton (siehe Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 65ff.); interessanter jedoch im Lichte dieser Arbeit (und eingedenk von Bollnows Äußerungen zum Einschlafen) wäre die Möglichkeit, anhand dieses Gedichts eine Parallelität zwischen der abendlichen Dämmerung des Tags und der Dämmerung des Ichs aufzuzeigen: Abends verschwimmt der Raum, löst sich in der Dämmerung auf, und das Schwinden der Konturen geht mit dem Schwinden des Ichs einher. – Vgl. dazu unten den Abschnitt über Israel Rosenfield und die Befunde über das Raumerleben von Blinden. 196 | Böhme differenziert vom Begriff der ›Atmosphäre‹ den Begriff des ›Atmosphärischen‹, auf den ich hier kaum näher einzugehen brauche. Das Atmosphärische charakterisiert er dabei als »etwas, das schon deutlicher vom Ich abgesetzt ist [als die Atmosphäre, M.M.], also mehr auf die Seite der Dinge gehört, oder wie wir später mit Hermann Schmitz […] sagen wollen, zur Klasse der Halbdinge. Von dieser Art sind etwa die Nacht, der Herbst, die Beleuchtung« und die »Dämmerung, Wind, Stimme, Kälte«; dabei sei auch das Atmosphärische

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Räumliches«197 – das heißt: »wie wir uns befinden, vermittelt uns ein Gefühl davon, in was für einem Raum wir uns befinden«198. Anders formuliert seien Atmosphären »ergreifende Gefühlsmächte«199. So geht nach Böhme mit der Erfahrung der Schönheit, einer von vielen Atmosphären, »die Steigerung des Lebensgefühls«200 einher. Dabei sei die Atmosphäre naturwissenschaftlich nicht faßbar, weil sie phänomenal-subjektiv wirke, das heißt »nur in ästhetischer Zugangsweise erfahrbar« sei, also durch eine Wahrnehmung, die »in der Befindlichkeit die eigene Anwesenheit in einer Umgebung spürt«201. Und so, wie sich in der Begegnung mit dem Schönen das eigene Lebensgefühl steigert, läßt sich im Zusammenhang dieser Arbeit sagen: daß mit dem Erleben eines intakten Innenraums eine Steigerung des Selbst-Gefühls einhergeht. Das entsprechende gilt für andere, auch unangenehme Erlebnisse, etwa für das Erleben von Häßlichem: hier führt das Erleben eines gestörten Innenraums zu einer Unstimmigkeit des Selbst-Gefühls. Wichtig jedenfalls sei, daß Menschen von der Atmosphäre, in die sie geraten, »betroffen und umgestimmt werden«202 können. »Wir sind ständig Atmosphären ausgesetzt […]«203, schreibt Böhme, man werde sie nie los, paradoxerweise auch dann nicht, wenn keine Atmosphären vorherrschen: »Selbst die Atmosphärelosigkeit ist ja noch eine Atmosphäre.«204 Dabei sei die Wahrnehmung dieser Atmosphäre – und das ist sehr wichtig in Böhmes Konzept – eine Wahrnehmung vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung, das heißt, die Wahrnehmung einer Atmosphäre sei das Spüren von Anwesenheit – von mir als »Wahrnehmungssubjekt« einerseits als auch von etwas andererseits (eigentlich müßte Böhme an dieser Stelle statt des Begriffs »Wahrnehmungssubjekt« eine Formulierung wählen wie: Wahrnehmungsprotosubjekt, denn die Wahrnehmung

»raumartig« (siehe Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 46, S. 59, S. 65). 197 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 16. – Der Begriff ›gestimmter Raum‹ geht nach der falschen Darstellung von Gernot Böhme auf Elisabeth Ströker zurück: E. S.: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M. 1965, 21977, siehe G. B.: Architektur und Atmosphäre, Fußnote Nr. 117 auf S. 122, auch S. 49. – Zuvor jedoch führt den Begriff schon Ludwig Binswanger an; Otto Friedrich Bollnow verweist zurecht auf ihn (Mensch und Raum, a.a.O., S. 186). Siehe Ludwig Binswanger: Das Raumproblem in der Psychopathologie, in: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, 2 Bände, Bern 1947/1955, Band II, S. XXIII, sowie S. 151 und S. 195ff. – Doch über die Raumstimmung (und die »Raumseele«) hat, was Bollnow übersieht, zuvor schon Theodor Lipps instruktive Andeutungen gemacht, siehe T. L.: Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, Zweiter Teil: Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst, Band II, Hamburg und Leipzig 1906, S. 188-190. 198 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 16. 199 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 19. 200 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 21. 201 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 67. 202 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 25. 203 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 26. 204 | Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, a.a.O., S. 29.

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liegt ja noch vor der Subjekt-Objekt-Spaltung).205 Ein Beispiel hierfür wäre dieses: »Im Sirren spüre ich die bedrohliche Anwesenheit einer Mücke.« 206 Das heißt, das erste, was ich wahrnehme, sei nicht das Sirren, auch nicht die Mücke, sondern die Atmosphäre der Bedrohlichkeit. (Ähnliches gelte für das Beispiel Mir ist kalt: ich nehme zunächst nicht die Kälte als Kälte wahr, sondern ich – friere.) Die Atmosphären haben folglich zwar stets einen Ich-Pol und einen Objekt-Pol, die zur Atmosphäre gehören und nicht von einander zu trennen seien, doch entscheidend sei die Beziehung zwischen diesen Polen; die Atmosphäre sei nichts anderes als »die Relation [zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, M.M.] selbst«207. Explizit zu erwähnen ist auch das Phänomen, welches Böhme die Ingressionserfahrung nennt, worunter er jene Erfahrungen versteht, die man macht, wenn man einen bestimmten Raum mit einer bestimmten Atmosphäre betritt. »Ich betrete einen Saal, in dem eine festliche Atmosphäre herrscht oder Ich gehe auf eine Gesprächsgruppe zu, aus der mir eine betretene Atmosphäre entgegenschlägt.«208 Diese Beispiele verdeutlichen, wie stark das eigene Befinden von der jeweiligen Raumatmosphäre abhängig sein kann. Zugleich illustrieren sie die Anwendbarkeit des Atmosphärenbegriffs auf unterschiedliche Bereiche, hier auf einen bestimmten, konkreten Saal einerseits und auf den übertragenen Innenraum einer Gruppe andererseits. Fazit zu Gernot Böhme: Menschen sind im leiblichen Raum nicht nur orientiert bei den Sachen, sondern befinden sich in einem auf sie hin zentrierten Gefüge aus Nachbarschaften und differenzierten Nähe-und-Ferne-Beziehungen. Der Raum mutet die Menschen dabei immer irgendwie an – hell oder dunkel, eng oder weit etc. Dabei herrscht in jedem Raum eine bestimmte Atmosphäre, eine bestimmende, den Menschen stimmende, gegebenenfalls umstimmende Gefühlsmacht. Diese Gefühlsmacht ergreift den Menschen auf implizite Weise, vor der ausdrücklichen Subjekt-Objekt-Spaltung, als Relation zwischen Subjekt-Pol und Objekt-Pol. Ich spüre die Gefühlsmacht, stehe unter ihrem Bann, ohne sie zunächst in 205 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 45. – Zur Frage, inwiefern ich mir gegeben sein und damit Objekt sein könne, mithin eine Beziehung zu mir wie zu einem Ding haben könne, erinnere ich an Thomas Machos Begriff des ›Nobjekts‹ (Thomas Macho: Zeichen aus der Dunkelheit. Notizen zu einer Theorie der Psychose, in: Rudolf Heinz, Dietmar Kamper und Ulrich Sonnemann [Hg.]: Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit, Berlin 1993, S. 223-240). Unter einem Nobjekt versteht Macho ein auf paradoxe Weise nicht-gegebenes Objekt bzw. ein Objekt, das deshalb keines ist, weil ihm kein subjekthaftes Gegenüber entspricht. Anlaß für diese Begriffsschöpfung ist seine Kritik an der Psychoanalyse und deren in Machos Verständnis unzureichendem bzw. sogar falsch angelegtem Vokabular, das frühkindliche Kommunikation in Form von Objektbeziehungen zu fassen versucht; gerade dieses Objektbeziehungsvokabular kann aber frühkindliche, insbesondere auch prä-natale bzw. fötale Lebensphasen des Kindes nicht fassen. Was also das Kind in der Phase zum Beispiel der fötalen Fruchtwasserzeit vage erlebt oder wahrnimmt, sind etwa plazentales Blut, Fruchtwasser, Plazenta, Nabelschnur, Fruchtblase und eine Andeutung von einer Raumgrenze – und solche ›Objekte‹ nennt Macho Nobjekte – eben wegen ihres ›Mangels‹, Teil einer expliziten Subjekt-Objekt-Beziehung zu sein. 206 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 45. 207 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 54. 208 | Gernot Böhme: Atmosphären – Atmosphärisches, a.a.O., S. 46f.

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mein explizites oder distanziert-höheres Bewußtsein zu heben. Eine Pointe hierbei ist, daß Menschen ihrem Atmosphärenschicksal nicht entkommen können – überall herrschen Atmosphären, auch die »Atmosphärelosigkeit« hat ihre eigene Stimmung. In-der-Welt-sein heißt In-der-Atmosphäre-sein. Den räumlichen Charakter der Atmosphäre verdeutlicht Böhme dabei mit dem Hinweis auf die »Ingressionserfahrung«: ich komme zu einer Menschengruppe, »aus der mir eine betretene Atmosphäre entgegenschlägt«. Atmosphären sind also affektiv nur für denjenigen erlebbar, der direkt von ihnen betroffen wird. Ein bedrückendes Zimmer ist ein Zimmer, das mich bedrückt, während ich mich in ihm aufhalte oder weil ich mich an es erinnere (womit ich unterstelle, daß auch erinnerte Atmosphären den Menschen »stimmen« können). Atmosphären beeinflussen also die Selbstwahrnehmung. Erlebe ich eine heitere Wohnung, eine bedrückende Bleibe – dann bedeutet das in der Regel auch, daß ich mich, vor jeder Distanzierung und Reflexion über meine Umgebung, selbst als heiter oder als bedrückt wahrnehme. Die Atmosphäre ist damit der erste und zunächst entscheidende Raum, in dem ich mich affektiv immer schon bewege – unabhängig von der Frage, wie der Raum ansonsten noch zu beschreiben wäre. Indem ich folglich in einem Raum eine bestimmte Atmosphäre erzeuge, den Raum hinsichtlich der Atmosphäre gestalte, bedeutet dies auch, daß ich mein Selbst gestalte. Atmosphärenerzeugung ist Selbsterzeugung. Atmosphärendesign ist Selbstdesign. Woran Böhme insgesamt erinnert, ist folglich die Tatsache, daß Menschen in ständigem Kontakt mit ihrer unmittelbaren Situation stehen und daß sie vor jeder distanzierten Wahrnehmung eines Raums immer schon von diesem Raum oder von seiner Atmosphäre gestimmt werden und daß diese Stimmung mitentscheidende Informationen über die eigene Befindlichkeit liefert – ob ich mich wohl oder nicht wohl fühle und damit entsprechend Gefühle habe, die auf der anthropologisch-existentiellen Ebene die Frage nach meinem Überleben betreffen.

P hilosophische A nthropologie – H elmuth P lessner und P e ter S loterdijk Helmuth Plessner und die exzentrische Stellung des Menschen In seiner biologistisch-phänomenologisch angelegten Studie ›Die Stufen des Organischen und der Mensch‹209 zielt Helmut Plessner im Rahmen einer Diskussion des ›Raums‹ auf die Frage nach der Position von etwas; in der Erkenntnis der Position zeigen sich die Unterschiede zwischen dem Organischen und Anorganischen: die belebten (organischen) Körper seien nicht wie die unbelebten (anorganischen) irgendwie im Raum situiert, also »raumerfüllend«, sondern zeigen sich zunächst und vorgängig »als raumbehauptende«210 Körper. Wenn demnach die belebten Körper einen Raum »behaupten«, läßt sich auch sagen, daß sie den Raum erst schaffen, der aufs engste mit ihnen verknüpft wird 209 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, (1928), Berlin und New York 31975. 210 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. a.a.O., S. 131.

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und der damit die Differenz zwischen Eigenraum und Nicht-Eigenraum, zwischen Innen und Außen hervorruft – ich behaupte einen Raum, also bin ich, ich ziehe einen Zaun um ein Stück Wiese, also bin ich Besitzer. Der behauptete Innenraum ist mein Raum, er gehört zu mir, ich bin der Raum, den ich physisch, verbal, rechtlich erschaffe und verteidige. Zugleich aber hänge ich als Stoffwechselwesen von geregelter Zufuhr von außen und organisierter Ablagerung ins Außen ab. Ausgeliefert bin ich damit »dem Zwang zur Abgeschlossenheit als physischer Körper und dem [gleichzeitigen, M.M.] Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus«211. Was die Differenz zwischen Mensch und Tier berührt, so erschaffen beide jeweils einen Raum, beide seien, was ihr positionales Empfinden betrifft, von der Zentralität ihres Aufenthaltsortes betroffen.212 Was Mensch und Tier jedoch unterscheide, sei »die Positionalität der exzentrischen Form«213: »Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. […] Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.«214 Entscheidend für die Differenz zwischen Mensch und Tier sei also das menschliche Wissen um die eigene Position, das erst aus der reflektierten Distanz zu sich selbst geboren wird: Das Menschenwesen habe »sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol.«215 Damit bringt Plessner – wenn auch sprachlich etwas kompliziert – zum Ausdruck, daß das Ich eigentlich eine Art implizites Ich zweiter Ordnung sei, das aus der Distanz (aus der zweiten Ordnung) heraus auf sich und das »Szenarium« wie ein Zuschauer blicke. Dabei könne der implizite Blick zweiter Ordnung selbst nie während des Blicks in »Gegenstandsstellung« gebracht, also verobjektiviert werden, er bleibe einem selbst naturgemäß immer entzogen; und sollte ich doch versuchen, den Blick zweiter Ordnung mit einem Blick dritter Ordnung wie ein Zuschauer zu betrachten, so wäre dies zwar möglich, doch gewönne ich damit nichts, da er (der Blick zweiter Ordnung) nun verobjektiviert wäre und nicht mehr als Subjekt erlebt werden würde, mir also wieder das begehrte Ich (jetzt dritter Ordnung), der Zuschauerblick, das Zuschauerich, entzogen bliebe. Diese Figur entspricht im wesentlichen dem von Fichte und den Deutschen Idealisten entworfenen und in indirektem Gefolge bis heute in Schriften von Dieter Henrich, Manfred Frank und anderen virulenten Konzept des immer schon 211 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 218. 212 | »Jedes Tier ist der Möglichkeit nach ein Zentrum, für welches […] eigener Leib und fremde Inhalte gegeben sind. Es lebt körperlich sich gegenwärtig in einem von ihm abgehobenen Umfeld oder in der Relation des Gegenüber[s, M.M.]. Insofern ist es bewußt, es merkt ihm Entgegenstehendes und reagiert aus dem Zentrum heraus, d.h. spontan, es handelt.« Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 240. 213 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 288. 214 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 291f. 215 | Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 290.

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mit sich selbst vertrauten (präreflexiven) Ichs, welches eben, das ist der entscheidende Punkt, jenem reflexiven (gegenständlichen) Ich vorausliegt, das im Zuge einer Subjekt-Objekt-Distinktion bzw. einer bewußt auf sich gerichteten expliziten Reflektion von diesem reflektierenden Menschen erfaßt und beschrieben werden kann. Die ungegenständliche Selbstvertrautheit ist immer schon implizit (präreflexiv) gegeben, sie resultiert nicht erst aus einer äußerlichen Identifikation von mir mit etwas, wie etwa von mir mit einer Handlung. Plessners Ich, wie es hier zum Ausdruck kommt, bezieht sich also auf einen ganz bestimmten Aspekt des Menschen, auf dessen Fähigkeit, sich von sich selbst distanzieren und sich oder sein »Innenfeld« von der exzentrischen Position aus betrachten zu können. Zu reflektiertem Bewußtsein über sich selbst oder zum Wissen über sich selbst kommt der Mensch demnach erst, wenn er den zuvor unbemerkt gebliebenen Innenraum (das »Innenfeld«) gedanklich gewissermaßen verläßt, um von Außen, von der exzentrischen Position aus, in das verlassene Zentrum zurückzuschauen. Implizit steckt in dieser Figur ein Innen-Außen-Schema. Der Mensch ist, sofern er einen Raum behauptet, schon innen, kommt aber erst dann zu sich, wenn er gewissermaßen sich verläßt oder sich von sich selbst distanziert. Ich distanziere mich von mir, also komme ich zu mir.216 Zweierlei zeigt demnach der Hinweis auf Plessner: • Der Mensch muß seinen Raum behaupten. • Erst aus der Distanz zu sich selbst kommt der Mensch zu sich und erwirbt Wissen über sich. Dieses Konzept ist mit dem hier diskutierten mit Abstrichen kompatibel. Erst muß der Mensch einen Raum erfinden, bevor er ihn behaupten kann. Und erschafft oder fingiert der Mensch einen Raum, dann hat er sich auch schon gefunden. Gemäß meiner These kommt der Mensch also nicht erst durch die Exzentrizität zu sich, sondern schon durch das bloße Erleben eines Innenraums, der sich von einem Außenraum abhebt. Man könnte hier auch von einem impliziten Selbst (alias Raumselbst) sprechen; angewandt auf Plessners Konzept der Exzentrizität hieße das: erst wenn ich meinen Innenraum wirklich oder gedanklich verlasse, kann ich von außen (von der exzentrischen Position aus) auf das verlassene Zentrum zurückblicken und gewinne so ein explizites Wissen über mich.

216 | Diese Bewegungsfigur ließe sich auch anhand eines phänomenologischen Beispiels illustrieren: Wohnte man wie der Schriftsteller Arno Schmidt in einem kleinen Einraumhaus, träte hinaus, ginge ans Fenster und schaute durch es in den Innenraum hinein, dann würde man beim Hineinblicken gewissermaßen die Innenraumschale seiner selbst sehen. Der auf architektonischem Feld aktuelle Trend zu Einraumlofts und Wohnwürfeln in verdichteten Großstädten, zum Teil auch auf dem Lande, könnte hier einen psychologischen Grund haben: Selbstvergewisserung in einer zersplitternden Wirklichkeit durch das Erleben einer klaren Innenraumstruktur. Ein bekanntgewordenes Loftcube hat etwa der Architekt und Designer Werner Aisslinger entworfen. Die USA kennen, verstärkt seit Platzen der Immobilienspekulationsblase im Jahr 2008, den Trend zu Minihäusern, Tiny Houses. Japan, traditionell führend in der Kunst, auf wenig Fläche viel Raum zu schaffen, beobachtet in jüngerer Zeit den Hang zu Wohnkommunen, die aus Kleinsthäusern zusammengewürfelt werden, siehe etwa in Tokio das Moriyama House des Architekten Ryue Nishisawa.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Paläopsychologisch gefärbte Raumanthropologie. Notiz zu Peter Sloterdijks Begriff des ›Menschentreibhauses‹ Peter Sloterdijks thematisch enorm weit aufgefächerte philosophische Arbeiten verdeutlichen in ihrem zentralen archimedischen Angelpunkt eine anthropologischphänomenologisch inspirierte Raumphilosophie. Man könnte diese unter dem Begriff Anthropotopologie zusammenfassen, insofern die Lehre vom Raum sich in ihr als Menschenlehre kristallisiert. »Der Mensch ist ein Effekt des Raums«, so Sloterdijk. Selber charakterisiert er seine Raumphilosophie auch als »psychologische Topologie«217 oder wie oben gesagt als »Allgemeine Immunologie«218; mit letzterer abstrahierter Formel bringt er zum Ausdruck, daß »Menschenleben immer in drei Immunsysteme eingebettet« sei: in das rituelle oder symbolische Immunsystem, in das rechtliche oder soziale Immunsystem und in das körpereigene Immunsystem als Abwehrsystem gegenüber der mikrobischen Umwelt.219 Allgemein gefaßt seien Immunsysteme »verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden beruhen«220. Was nun zunächst die phylogenetische Menschwerdung berührt, so sucht Peter Sloterdijk die fruchtbare hominidengenerative Kraft des Raums unter die zentrale Metapher des »Menschentreibhauses«221 zu fassen. Menschentreibhäuser seien nach seinen Ausführungen sphärische Ortschaften, »am ehesten mit Treibhäusern zu vergleichen, in denen Lebewesen unter selbstbewirkten klimatischen Sonderbedingungen gedeihen«222 . Sloterdijk eruiert somit, unter anderem von Heidegger kommend, das Thema Innenraum und damit verwandte Existenzraum-Konzepte wie Haus, Nähe, Dimension, Heimat, Wohnen, Aufenthalt und le plan (= Sein223) aus einer paläopsychologischen und evolutionspsychologischen anthropologischen und zum Teil auch psychohistoriographischen Perspektive.224 Von der erlebten und geschaffenen Inselwelt weg und damit aus dem Innenraum und dem symbolischen »externen Uterus« oder »Menschenbrutkasten«225 hinaus kommen Menschen dabei in der Regel nie; geraten oder fallen sie doch hinaus in ein Außen und erfahren es in katastrophischer Stimmung, dann könne ihnen allein die Übertragung – eine neue restabilisierende und sie einhütende Gewohnheit – helfen, wieder anfängliche, Anfänge abermals ermöglichende Innenräume zu erleben und damit umfassende Innenraumgefühle zu empfinden. 217 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 83. 218 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 709. – Siehe auch Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite, darin enthalten: Peter Sloterdijk im Gespräch mit Stephan Maus, Berlin 2010, S. 141. 219 | Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite, a.a.O., S. 141. 220 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 709. 221 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie, Weimar 2001. 222 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 30. 223 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 27 und S. 28. 224 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 27f. 225 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 41.

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Um Sloterdijks Hauptaussagen im ›Menschentreibhaus‹ und in ›Sphären III‹ überblicksartig zusammenzufassen: Der Mensch sei ein offenes, veränderliches Produkt einer nicht-intentionalen Produktion226, die Menschwerdung eine »HausAffaire« oder ein »Domestikationsdrama«227. Dabei spiele die Entstehung des interfazialen Innenraums zwischen Menschen keine unwesentliche Rolle. Aus Tierschnauzen löse sich die menschliche Gesichtlichkeit heraus228, die »Lichtung als Gesicht«229. Die ›Sphäre‹ begreift Sloterdijk zunächst als Zwischen-Welt, als Membranhülle zwischen Innen und Außen.230 (Insofern man sie als Membranhülle auffassen möchte, ließe sich ein vergleichender Bezug zu Aristoteles’ Begriff des Topos als Umhüllung oder Umgrenzung herstellen [im oben erläuterten Bollnowschen Sinne].) Was das Wohnen angeht, so sei es älter als das buchstäbliche Haus, das Wohnen als Ge-Häuse sogar älter als der Mensch – sei doch das Ge-Häuse die übertragene Gebärmutter der Menschwerdung überhaupt.231 Der Sinn des Hauses sei dabei, das Gefälle zwischen Binnenklima und Umgebungsklima zu stabilisieren.232 Die vier Mechanismen der Menschwerdung sind nach Sloterdijk folglich diese: 1. Insulationsmechanismus. 2. Mechanismus der Körperausschaltung. 3. Mechanismus der Pädomorphose oder der Neotonie. 4. Mechanismus der Übertragung.

Zum Insulationsmechanismus Er beruhe, was die Welt der gesellig lebenden Tiere berührt, auf dem Umstand, daß die eher randständigen Exemplare den Effekt einer lebenden Wand bewirken.233 Raubtiere fallen zunächst die außen wandelnden und ›wandenden‹ Tiere an, wohingegen im Inneren der Herde die Muttertiere mit den Jungtieren verbleiben. Menschen nun seien »anthropogene Inseln«234: Insulation/Isolation/Verinselung bringen den Menschen hervor – dieser sei ein »Isolierungsphänomen«235. Dabei entstehe Insulierung durch Gruppeninklusion oder durch distanzerzeugende Selbsteinschließung.236 Weitreichend sei der oben erwähnte Begriff der Immunität bzw. der menschlichen Immunsituation.237 Dabei komme die Wohnung einem räumlich ausgebreiteten Immunsystem gleich.238 Insofern sie ein Immunsystem darstelle, sei das 226 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 25. 227 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 28. 228 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 29. 229 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 44. 230 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 30. 231 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 31. 232 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 31. 233 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 33. 234 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 357. 235 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 357. 236 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 359. 237 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 361. 238 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 534ff.

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Wohnen auch eine humanitäre Verteidigungsmaßnahme, durch die ein Bereich des Wohlseins gegen Invasoren und andere Bringer von Unwohlsein abgegrenzt werde.239 Was die hier nur stichworthaft erwähnte Evolution der Räume betrifft, so lauten die zentralen Begriffe Nest, Nische, Lager; später Hütten-, Häuser-, Siedlungs-, Dörfer- und Städtebau.240

Zum Mechanismus der Körperausschaltung Naturdistanzierung geschehe via Werkzeuggebrauch.241 Der Mensch stamme vom Stein ab.242 Steintechnik halte Kontakt mit dem Objekt und gebe den Weg zu seiner Beherrschung frei. (Beim Schlagen und Klopfen mit dem Stein entstehen keine Schmerzen an der Hand.243) Der Blick einem geworfenen Stein hinterher bilde dabei die »erste Vorform von Theorie«244. So sei der Horizont das, was kein Wurf mehr erreicht, kein Schlag beschädigt, kein Schnitt verletzt.245 Lichtung sei das Sichöffnen des Luxus-Raums, des Schon-Klimas – der Spielplatz der Menschwerdung.246

Zum Mechanismus der Pädomorphose oder der Neotonie Der menschliche Ort besitze »die Qualitäten eines technisch eingeräumten externen Uterus«247. Menschen kommen daher »zunächst nicht zur Welt, sondern ins Treibhaus«248; die eigene Kultur sei somit immer auch ein Uterus249, Sprache sei das »Zweithaus des Seins«250; und nur weil Menschen immer schon in GruppenHäusern und in Heinrich Heines »portativen Vaterländern«251 unterwegs seien, konnten sie auch ortsfeste Häuser bauen.252

Zum Mechanismus der Übertragung Was die ›Gewohnheit‹ betrifft, so kann man festhalten, daß Menschen versuchen, das Neue zu blockieren, wenn es bedrohlich werde.253 Gewohnheit sei dabei zunächst die quasi naturale Form des Rituals (so wie auch der Mythos).254 Gewohnheit werde als Begriff abgeleitet aus Sich-Gewöhnen an Neues, Gewohnheitsübertra-

239 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 535. 240 | Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 361. 241 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 34. 242 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 35. 243 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 36. 244 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 36. 245 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 37. 246 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 38. 247 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 41, auch S. 42, S. 46. 248 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 41. 249 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 43. 250 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 46. 251 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 48. 252 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 47f. 253 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 53, S. 55. 254 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 53.

Kapitel I.3

gung, Ent-Fremdung.255 Der Übertragungsmechanismus sei dabei deshalb existentiell wichtig, um nach Verletzungen und Zusammenbrüchen eine Wieder-Holung früherer Zustände von Ordnung und Integrität zu ermöglichen.256 Mit Hilfe von rituellen und psychischen Handlungen werden folglich integre Raumerfahrungen auf Zustände nach dem Unheil übertragen.257 (Was den historischen Umzug aus der griechisch-hellenistischen Welt in die neuchristliche betrifft, so könnte man sagen: Die christianisierten Menschen müssen aus dem griechisch verstandenen Haus des Kosmos ausziehen und ins »himmlische Haus« Gottes umziehen.258 Für die christliche Epoche gilt die Erde als nicht bewohnbares Jammertal, in der Neuzeit hingegen als gestaltbarer Ort. Wo Jammer war, soll Jubel werden.)

A nnäherung an den S phärenbegriff von P e ter S loterdijk I »Wir sind in einem Außen, das Innenwelten trägt.« 259

Peter Sloterdijk untersucht in seiner Raumtheorie zunächst jene Dimension oder jenen »Ort, den Menschen erzeugen, um zu haben, worin sie vorkommen können als die, die sie sind«260 – diesen Ort nennt er, einer jahrtausendelangen Überlieferung eingedenk, Sphäre. Sphären, anthropologisch gewendet, seien »das innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden«261. Sie seien so »immunsystemisch wirksame Raumschöpfungen für ekstatische Wesen, an denen das Außen arbeitet«262 . Dabei wirke in den Sphären eine »bipolare Innigkeit«263. Schon im geistigen Raum sei die einfachste Gegebenheit »eine mindestens zweistellige oder bipolare Größe«264. Dabei habe die primitive psychische Kugel »zwei Epizentren, die sich durch Resonanz gegenseitig evozieren«265. Sloterdijks Hinweis auf ein zweipoliges Selbst deutet damit zugleich an, daß das Selbst über eine Art Innen-Außen-Spannung verfügt.266 Und Menschen, die zusammenkommen, bilden selbst eine »gemeinsame innenraumhafte Sphäre«267, »eine dyadische Union«268. Sphäre sei also eine »zweihälftige, von An-

255 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 55. 256 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 54. 257 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 55. 258 | Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 57. 259 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 260 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 261 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 262 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 28. 263 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 40. 264 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 41. 265 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 100. 266 | Vgl. Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod, a.a.O., S. 143f. 267 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 45. 268 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 42.

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fang an polarisierte und differenzierte, gleichwohl innig verfugte, subjektive und erlebende Kugel – ein zwei-einig gemeinsamer Erlebnis- und Erfahrungsraum«269. In-der-Welt-sein bedeutet für Menschen nach Sloterdijk somit von Anfang an In-Sphären-sein.270 Oder im Sinne von Hermann Schmitz: Am-Leben-sein heißt vor allem Im-flächenlosen-Raum-sein. Oder im Sinne von Gernot Böhme: In-derWelt-sein bedeutet In-der-Atmosphäre-sein.

Innenraum denken Damit ist die erste Produktivität von Menschen gemäß Sloterdijks psychologischer Topologie der Versuch, an der eigenen »Einquartierung in eigensinnigen, surrealen Raumverhältnissen zu arbeiten«271. Menschen führen dabei »das Leben von Insulanern«272 und wohnen in einer Art zweiten Natur – »in ihren Sprachen, ihren Ritual- und Sinnsystemen, in ihren konstitutiven Delirieren«, anders formuliert: sie wohnen in »imaginären, sonoren, semiotischen, rituellen technischen Gehäusen«273. Was die Enthaltsamkeit der Menschen im Raum bzw. im Gegenüber angeht, so sei »jedes Subjekt im realen konsubjektiven Raum […] ein enthaltendes, sofern es anderes Subjektives aufnimmt und erfaßt, und ein enthaltenes, sofern es vor den Umsichten und Einrichtungen Anderer umfaßt und verzehrt wird«274. Das liebende Paar – umfangend umfangen! Sloterdijk: »Ein ›dichtes‹ Paar ist ein […] autogener Container, ein Selbstbehälter. Die verbundenen Zwei sind zuvor in ihrem selbsterzeugten Innenraum, und dann erst an ihrer äußeren Weltstelle.«275 Daß erlebte Räume implizit weniger in Behälterbegriffen als in Begriffen der Atmosphäre, der Stimmung, der Vertrautheit, des In-Seins im Heideggerschen Sinne des Worts zu fassen seien, zeige sich auch in Hannah Arendts Frage nach dem Ort, an dem wir seien, wenn wir denken. Hannah Arendt plädierte für »Nirgends«, Peter Sloterdijk zieht »Anderswo«276 vor und trifft die Sache damit genauer: denn »nirgends« sind wir eben nicht, wenn wir denken; doch auch Sloterdijks ›Anderswo‹ bedarf der Erläuterung. Prinzipiell nämlich bin ich immer ›irgendwo‹ – ganz egal, ob ich denke oder nicht. Im Grunde bietet bereits die Alltagssprache eine so einfache wie korrekte Antwort auf die Frage nach dem Wo des Denkens: Wenn ich denke, dann bin ich in Gedanken. Das Sloterdijksche Anderswo ergibt daher vor allem im Kontrast zu einem anderen Ort Sinn, was etwa der Fall ist, wenn ein Schüler der Erklärung des Lehrers nicht folgt, sondern stattdessen ›ganz woanders‹ ist, nämlich in Gedanken, in Träumen. Das Hier wäre dabei das Hier der pädagogischen Erläuterung, das Anderswo wären die Gedanken des Schülers. Entscheidend ist jedoch auch die Bewertung des jeweiligen Raums aus meiner Innenperspektive. Im konkreten Fall des Schülers heißt das: Versuche ich dem 269 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 45. 270 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 46. 271 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 83. 272 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 84. 273 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 84. 274 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 87. 275 | Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod, a.a.O., S. 143f. 276 | Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken, a.a.O., S. 53.

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Lehrer zuzuhören und mißfällt mir das, was er sagt, so befinde ich mich in einem Außenraum (auf der buchstäblichen Ebene befinde ich mich dabei im ›Behälter‹ namens Klassenzimmer), flüchte ich hingegen in das »Anderswo« meiner Gedanken und fühle mich dort wohl, so könnte man in diesem Fall sagen, ich sei in meinen Gedanken zuhause. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß die von Menschen bewohnten Räume oftmals schnell wechseln können und sie sich zum Teil wie oben bemerkt auch verschränken: Gerade bin ich im Gespräch noch Teil des dualen Dialograums, kurz darauf bin ich in Gedanken und höre die Worte des anderen, fast nicht bewußt, nur mehr wie ferne Wellen leise branden. Im übrigen entstehe »das Selbst« direkt aus der Resonanz, die mit dem Innenraumerleben einhergehe – Sloterdijk nennt das auch die »psychoakustische Evokation des Selbst«277. Dieser wichtige Satz muß dahingehend kommentiert werden, als er die These dieser Arbeit nicht nur stützt, sondern zum Teil geradezu mit ihr d’accord zu gehen scheint. Doch in zwei bemerkenswerten Nuancen ist eine Differenz auszumachen: Erstens läßt sich gemäß der von mir vertretenen These die Evokation des Selbst nicht ausschließlich auf das psychoakustische Merkmal einschränken – auch in der visuellen, ertasteten, imaginierten Evokation etc. erscheint das Selbst. Zweitens entsteht gemäß meiner These das Selbst nicht aus der Resonanz mit dem erlebten Innenraum, sondern es ist der erlebte Innenraum – das Innenraumerleben wird implizit als Selbsterleben wahrgenommen.

A nnäherung an den S phärenbegriff von P e ter S loterdijk II. D yade und D ividuum 278 Sie [die Liebe, M.M.] ist auch die Erfahrung, einen Anderen wie ein Selbst wahrzunehmen und dort dasselbe Hindernis vorzufinden wie bei sich, dasselbe reale Nichts, dasselbe latente Alles wie in sich. Paul Valéry 279

Den erwähnten bipolaren Menschen umschreibt Sloterdijk im weiteren als »Dividuum«280 – im Kontrast zum Individuum – und begreift das Paar oder die Dyade als vereint in einer Raumblase, einer »elliptischen Blase« der »Bi-Subjektivität oder Ko-Subjektivität«281. Menschen seien daher Pole einer Beziehung, Relationen: keine Subjekte, die irgendwie eigenständig wären, sondern »Teilselbständige«.

277 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 97. 278 | In diesem Abschnitt stütze ich mich auf einen – hier allerdings überarbeiteten – eigenen Essay: ›Das Seifenblasenspiel oder Sphären des Selbst. Skizze einer Bewußtseinstopologie‹, abgedruckt in: Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen und Konraad Hemelsoet (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München 2009, S. 95-111. 279 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 86. 280 | Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod, a.a.O., S. 144. 281 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 571. – Vgl. hierzu auch Juri Michailowitsch Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 300ff. Darin betrachtet Lotman

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

Hierzu mache ich zwei Anmerkungen, zum Begriff der Dyade als dem Raum des Paares, sowie zum Begriff des Dividuums.

Zur Dyade Es lassen sich wenigstens drei Formen der Beschreibung der Dyade differenzieren: Erstens: Ein Paar – Mutter-Kind, Liebespaar etc. – bildet aus sphärologischer Beobachterperspektive einen gemeinsamen Raum. Zweitens: Auch aus der phänomenalen Perspektive der beiden (oder auch von mehreren) in einem Raum befindlichen Menschen wird der Raum als ein gemeinsamer, geteilter, »konsubjektiver«282 Raum, als »eine gemeinsame innenraumhafte Sphäre«283 erlebt. Dabei kann der geteilte Raum ein tatsächlicher und auch phänomenal so erlebter konkreter Raum sein – etwa das Schlafzimmer, in dem sich ein Paar befindet; oder es kann der geteilte Raum ein übertragener, nur implizit erlebter sein – etwa dann, wenn ein verliebtes Paar inmitten einer Menschenmenge unterwegs ist und dabei eine gemeinsame, es überwölbende Innenraumsphäre bildet. Zu bemerken bleibt für die phänomenologische Beschreibungsebene, daß der gemeinsame Raum prinzipiell unterschiedliche Tönungen kennt, er je nach Personenlage gern oder ungern oder im Modus der Gleichgültigkeit geteilt wird. Diese beiden ersten Beschreibungsformen sind nach meinem Verständnis in Sloterdijks Sphärologie angelegt. Im folgenden erweitere ich die Dyadentopologie in einer Weise, die bei Sloterdijk zumindest mitangelegt zu sein scheint, da er die Möglichkeit der »Ineinanderverschränkung mehrerer Innenräumlichkeiten«284 zuläßt. Drittens: Menschen behalten in der Sphäre – ich beziehe mich der Einfachheit halber auf das Liebespaar – zugleich weiter den jeweils eigenen Blick auf den anderen. Das Ausschlaggebende scheint dabei nicht allein zu sein, daß beide aus der Außensicht eines Beobachters (Fall 1) oder auch in der phänomenalen Binnensicht der einzelnen, in der Sphäre schwebenden Menschen (Fall 2) einen gemeinsamen Raum bilden – und daß der jeweilige Eine sich implizit dividuell erlebt und zusammen mit dem Partner als virtuelles Ganzes und Vollständiges285; – das Besondere scheint vielmehr auch zu sein, daß der Andere – ursprünglich als NochFremder aus einer Alltagsperspektive dem Außensektor zuzuordnen – auf einer repräsentationalistischen und auf einer phänomenalen Beschreibungsebene als geliebter Partner bereits auf transparent-unbemerkte Weise integriert wurde in den Räume und ihre durch Grenzen geprägte Gestaltung als Anschauungsformen für soziale Beziehungen. 282 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 87. 283 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 45. 284 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 87. 285 | Zusätzlich zur oben im Abschnitt zu Gernot Böhme gemachten Anmerkung zu Thomas Machos Begriff des ›Nobjekts‹ siehe hier auch eine Anmerkung Sloterdijks zu diesem Begriff: »Dieses unaufgebbare intime Etwas, in dessen Gegenwart und unter dessen Resonanz das Subjekt allein vollständig ist, nennen wir hier, in Anlehnung an den von Thomas Macho geprägten Ausdruck, das Nobjekt. Nobjekte sind Dinge, Medien oder Personen, die für Subjekte die Funktion des lebenden Genius oder des intimen Ergänzers wahrnehmen.« (Sphären I, a.a.O., S. 474)

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phänomenalen Innenraum des Einen. – Und umgekehrt: daß der Eine bereits auf transparent-unbemerkte Weise integriert wurde in den phänomenalen Innenraum des Anderen. (›Auf transparente Weise‹ bedeutet hier wie oben bereits gesagt, daß der Organismus eine bestimmte Integrationsleistung vollzieht – das heißt, etwas, das auf der individuell-biologischen Organismus-Ebene äußerlich ist, hier: der andere Mensch, wird auf der repräsentationalistischen wie der phänomenalen Ebene des Bewußtseins in den repräsentationalistischen wie phänomenalen Innenraum integriert –, eine Integrationsleistung, die der Mensch zwar phänomenal erlebt [als Wohlgefühl etwa, wobei das Wohlgefühl nur solange anhält, wie der geliebte Partner tatsächlich als im phänomenalen Innenraum anwesend erlebt wird; ein Wohlgefühl im übrigen, das offenbar besonders intensiv ist, solange die gelungene Integration noch jung und ungewohnt ist – was eine weitere mögliche Erklärung des vorübergehenden Gefühls der Verliebtheit sein könnte –], von deren Vollzug er aber nichts bemerkt – sie bleibt ihm transparent: er ›sieht‹ nicht den Prozeß der Integration, sondern ›sieht‹ ›durch‹ diesen Prozeß hindurch lediglich das Resultat – empfindet den Anderen als Teil der eigenen Sphäre.) Inwiefern im übrigen die Liebe als Raumschöpferin erlebt werden kann – Schöpferin eines Raums, der sogar das Weltall zu umschließen scheint –, zeigt Gaston Bachelard in seiner Auseinandersetzung mit dem Dichter Oscar Milosz und dessen eingangs zitierte ›L’amoureuse initiation‹ und insbesondere mit der Frage nach der »inneren Unermeßlichkeit« der Liebe: »Dieser ekstatische Raum übersteigt alle Grenzen: ›stürzt ein, lieblose Grenzsteine der Horizonte! Erscheint, wirkliche Fernen!‹ [Milosz, M.M.] Und ein paar Seiten später: ›Alles war Licht, Milde, Weisheit; und in der unwirklichen Luft winkten die Fernen einander zu. Meine Liebe umhüllte das All.‹ [Milosz, M.M.]«286 Liebe erschafft hier also einen neuen, aus der Alltagsperspektive zwar unwahrscheinlich großen, doch im Erleben zugleich umgrenzten, »umhüllten« Raum. So gesehen wäre Liebe immer auch Raumekstase, sie sprengt den lieblosen Raum, bringt ihn zur Explosion und schenkt dem Liebenden zugleich das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu können, in der ganzen Welt, im ganzen All zuhause zu sein. Ich werde von Liebe ergriffen und umgreife das ganze All, folglich bin ich ein glücklicher Kosmonaut. Auch dieses Phänomen erklärt mit die existentielle Dramatik, die sich aus dem Nu entfaltet, wenn einer der beiden Partner die Beziehung mit sofortiger Wirkung für beendet erklärt und ohne zu zögern davongeht (oder fremdgeht etc.): denn indem plötzlich der eine Partner, noch Teil des phänomenalen Innenraums des anderen Partners, loszieht, reißt er eine Öffnung in die Wand des phänomenalen Innenraums (und damit des phänomenalen Selbst) des Verlassenen. Der Verlassene muß, sofern er die Kraft, die Mittel und die Möglichkeiten dazu findet, den Durchbruch in der Innenwand seines phänomenalen Selbst in Ordnung bringen bzw. sonstwie erneut verschließen. Peter Sloterdijk sieht das Problem, welches durch die Auflösung einer starken Beziehung erscheint, in der Zerstörung des gemeinsamen Beseelungsraums.287 Statt allein von der Zerstörung des gemeinsamen Beseelungsraums zu sprechen, ließe sich auch von der teilweisen Zerstörung des 286 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 192. 287 | Vgl. hierzu seine Überlegungen zu »Sphärentod« und »Sphärentrauer«, in: Sphären I, a.a.O., S. 48f., S. 466-478.

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phänomenalen Innenraums eines Menschen sprechen, und man könnte zugleich betonen, daß der gesunde Mensch durchaus ohne Partner, sprich: ohne »Ergänzer« oder »Alliierten«288 (im alltäglichen Sinne) sinnvoll leben kann, nicht aber ohne ein Innenraum-Außenraum-Verhältnis. Was dabei die von Sloterdijk beschriebenen Phänomene der »Selbstpaarungen im Habitat«289 betrifft und jenen von ihm gemachten Hinweis auf den »ständigen Prozeß der Unterscheidung von sich selbst«290, den der alleine lebende Mensch durchläuft, indem er sich »auf sich selbst als den inneren Anderen oder eine Vielheit von Sub-Ichen bezieht«291, ist anzumerken, daß die Unterscheidung Innenraum-Außenraum der von Sloterdijk beschriebenen Selbstbezüglichkeit des Alleinlebenden vorausliegt: erst muß ich einen phänomenalen Innenraum – und damit ein phänomenales Selbst – evozieren und erfahren, bevor ich mich mit meinem inneren Anderen auseinandersetzen kann. Um die dreifache Beschreibung des Raumpaars in Kurzform zu wiederholen: 1. Erstens befinden sich zwei zueinander gehörende Menschen, alias das Paar, aus der sphärologischen Beobachterperspektive in einem gemeinsamen Raum. 2. Zweitens erlebt sich jeder aus der Innenperspektive heraus als anwesend in einem gemeinsamen, mit dem Partner geteilten, konsubjektiven Innenraum. 3. Drittens ist aus einer repräsentationalistischen und einer phänomenalen Sicht jeder Partner ein notwendiges Merkmal des repräsentationalistischen und phänomenalen Innenraums des jeweils Anderen. Aus dieser repräsentationalistischen und phänomenalen Sicht gibt es hier also nicht nur einen geteilten, gemeinsamen Innenraum (wie in den Fällen 1 und 2), sondern es gibt zwei, zum Teil in ihrem aktuellen Zustand voneinander abhängige und daher ineinander verschränkte, phänomenale Innenräume.

Zum Dividuum Im Rahmen des hier zugrundegelegten Ansatzes scheint es sachlich notwendig zu sein, dem mit dem Begriff der Dyade zusammenhängenden Begriff Dividuum einen besonderen Akzent hinsichtlich des Innen-Außen-Verhältnisses zu verleihen. Warum? Zunächst folge der Blick auf eine Anmerkung Sloterdijks hierzu: »[…] es gibt keine Individuen, sondern nur Dividuen – es gibt die Menschen nur als Partikel oder Pole von Sphären. Es existieren ausschließlich Paare und ihre Erweiterungen – was sich für das Individuum hält, ist bei Licht gesehen meist nur der trotzige Rest einer gescheiterten oder verhohlenen Paarstruktur.« 292

288 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 475. 289 | Peter Sloterdijk: Sphären III: Schäume: Plurale Sphärologie, a.a.O., S. 582ff. – Siehe auch Thomas Macho: Mit sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.): Einsamkeit. Archäologie der literarischen Kommunikation VI, München 2000, S. 27-44. Im Netz: www.culture.hu-berlin.de/tm/index.php?id=52. 290 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 583. 291 | Peter Sloterdijk: Sphären III, a.a.O., S. 584. 292 | Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod, a.a.O., S. 144.

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Sloterdijk visualisiert den Menschen also als »einbezogen in eine bipolare Sphäre«293 – eine Sphäre mit »zwei Epizentren«294 –, bzw. als »Pole eines ZweiEinigkeitsfeldes«295. Das heißt, das »primäre Paar schwebt in einer atmosphärischen Zweieinigkeit, Aufeinanderbezogenheit und Ineinandergelöstheit, von der sich keiner der Urpartner abtrennen läßt, ohne das Gesamtverhältnis aufzuheben«296. Um Sloterdijks Begriff Dividuum nun neu zu akzentuieren, heißt dies für mich auf der phänomenologischen Beschreibungsebene: Menschen sind Dividuen, weil ihr phänomenales Selbst als phänomenaler Innenraum überhaupt nur sein kann, insofern zugleich ein phänomenaler Außenraum entsteht. Den Begriff des Dividuums beziehe ich an dieser Stelle also nicht auf den Menschen als Liebespaarglied – (das einzelne Liebespaarglied ist ja bereits integriert in den jeweiligen phänomenalen Innenraum des liebenden Partners) –, sondern ich beziehe ihn auf den phänomenalen Innenraum (als Selbst), durch den ich mich zugleich automatisch auf den Außenraum beziehe. Ich alias phänomenaler Innenraum bilde mit dem phänomenalen Außenraum dabei eine Art Raumpaar – ohne daß Innenraum und Außenraum in einen gemeinsamen, sie überwölbenden Überraum integriert wären (siehe hierzu unten Hinweis 2). Dividuum bin ich also, weil ich als Innenraum mich zugleich auf den ›dazugehörigen‹ Teil, den Außenraum, beziehe. Es ist gemäß dieser Perspektive demnach wichtig zu betonen: Menschen werden zunächst nicht »einbezogen in eine [bereits vorhandene, M.M.] bipolare Sphäre«, weil sie sowohl auf der Ebene des Organismus als auch auf der Ebene des phänomenalen Bewußtseins überhaupt erst entstehen, wenn sich eine quasi ›bipolare‹ Innen-Außen-Unterscheidung kristallisiert. Das heißt also, daß die sphärologisch verstandene Dyade in die ursprüngliche ›bipolare‹ Innen-Außen-Unterscheidung und das Innen-Außen-Verhältnis integriert werden kann. So erst können die sphärologischen Menschenverhältnisse auch von diesem Innen-Außen-Verhältnis her verstanden und erlebt werden. Zugespitzt könnte man daher formulieren: Die Ur-Dyade oder das Ur-Paar ist die Innen-Außen-Beziehung. Ich kann nie ausschließlich ein Innen erleben – das Erleben des Innen ist nur möglich, sofern auch ein Außen erscheint; ich als erlebendes Innen beziehe mich immer zugleich auf das Außen. (Als eine vorgeburtliche ontogenetische Vorform dieser Innen-Außen-Unterscheidung auf der Ebene des Organismus könnte wie oben in der Prämisse Innen-Außen-Spannung angedeutet das ›Verhältnis‹ Fötus-Plazenta gelten, wie es von Peter Sloterdijk mit der nötigen Umsicht beschrieben wurde – mit »Membran-Funktionen«297 als Öffnung zwischen Innen und Außen – Sloterdijk spricht dabei von »Hier-Pol« bzw. »Selbst« (= Fötus) und »Dort-Pol« bzw. »Mit-Selbst« (=

293 | Peter Sloterdijk und Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod, a.a.O., S. 143. – Vgl. dazu nochmals: »Sie [die Grundfigur der Sphärologie, M.M.] besagt, daß im geistigen Raum […] die einfachste Gegebenheit schon eine mindestens zweistellige oder bipolare Größe sei«, in: Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 41. 294 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 100. 295 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 54. 296 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 42. 297 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 447.

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Plazenta)298. Der Ausdrücklichkeit halber sei betont: Im Rahmen meines Ansatzes ist das Innen oder das Selbst zwar stets auf das Außen als das Nicht-Selbst bezogen, ja, das Selbst entsteht ja erst durch Innenraumbildung und Abgrenzung; das Außen jedoch ist beileibe kein Mit-Selbst. Um das an einem willkürlichen Beispiel stichwortartig zu verdeutlichen: Begegne ich beim Wandern in der Hohen Tatra einem hungrigen, grimmigen Bären, dann ist dieser für mich ein Teil des Außenraums und nicht mein Mit-Selbst – er ist dies in erster Linie deshalb nicht, weil er mich mutmaßlich als einen möglichen Imbiß wahrnimmt und in der Folge mein Überleben in Frage stellt.) Anzufügen bleiben zwei Hinweise. Hinweis 1: Im Rahmen meiner Überlegungen wäre die Verwendung des Begriffs »bipolar« – oder auch »pluripolar«299 – zum Teil problematisch, weil »bipolar« eine Wechselbeziehung zwischen den Polen nahelegt; im Rahmen meiner Überlegungen gibt es zwar ein Innen-Außen-Verhältnis, jedoch nicht unbedingt eine Wechselbeziehung. Wieder ein willkürliches Beispiel: Ich sehe durch das Fenster im phänomenalen Außenraum einen Spatz auftauchen; da ich Spatzen nicht jage und nicht esse, ich kein Ornithologe bin und mir Vögel nichts sagen, bleibt mir der Spatz vergleichsweise gleichgültig: zwischen ihm und mir entsteht keine Beziehung; im übrigen bemerkt mich der Spatz offensichtlich nicht. Hinweis 2: Der Explizitheit halber betone ich zum einen, daß wie bemerkt phänomenaler Innenraum und phänomenaler Außenraum nicht von einem von ihnen unabhängigen, phänomenalen Überraum überwölbt werden, auch wenn sie auf der repräsentationalistischen Ebene in einem Gehirn repräsentiert werden; allerdings sind phänomenaler Innenraum und phänomenaler Außenraum Teil eines globalen, einheitlichen, perspektivisch gerichteten Bewußtseinsraumes. Und betone zum anderen, daß sowohl phänomenaler Außenraum als auch phänomenaler Innenraum jeweils implizit verweisenden Charakter haben: Der phänomenale Außenraum verweist auf eine wirkliche Außenwirklichkeit außerhalb meines Organismus, und der phänomenale Innenraum als phänomenales Selbst verweist auf den wirklichen Organismus, der in diese wirkliche Außenwirklichkeit eingebettet ist und sich dabei zugleich von ihr unterscheidet, sich von ihr absetzt und abgrenzt (ich komme im III. Hauptteil darauf zurück). Resümierend läßt sich sagen, in seiner Sphärologie zeigt Peter Sloterdijk, wie die Menschwerdung sich als ein Innenraumeffekt oder als das Ergebnis eines Brutvorgangs in einem internen bzw. externen Uterus beschreiben läßt – und zwar sowohl in evolutionstheoretischer wie in ontogenetischer und in alltäglicher Perspektive (sofern man bereit ist, auch für lange Entwicklungsphasen das Wort Effekt zuzulassen). Dabei erläutert er, inwiefern das Wohnen in einem übertragenen Sinne eigentlich älter ist als das Wohnen in einem buchstäblichen Sinne – fast könnte man sagen, daß die Raumübertragung vom ›übertragenen Wohnen‹ aus übertragen wurde auf das ›buchstäbliche Wohnen‹ in materiell gebauten Häusern. Auch beschreibt Sloterdijk den Raum als einen eminenten Teil des menschlichen 298 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 446. – Vgl. dazu vor allem Sphären I, Kap. 4: Die Klausur in der Mutter. Zur Grundlegung einer negativen Gynäkologie, Kap. 5: Der Urbegleiter. Requiem für ein verworfenes Organ, Kap. 6: Seelenraumteiler. Engel – Zwillinge – Doppelgänger. 299 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 54.

Kapitel I.3

Immunsystems – so handelt es sich, kann man sagen, bei der buchstäblichen Wohnung um eine mit instrumenteller Vernunft erdachte und erbaute technische Erweiterung des natürlichen Immunsystems. Die These dieser Arbeit wird auch aus sphärologischer Sicht in vielfacher Weise gestützt.

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Kapitel I.4 Resümee des Raumbegriffsteils

Um dieses Raumbegriffskapitel nur ganz kurz zu resümieren, läßt sich festhalten, daß Räume offensichtlich aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet werden können, zunächst als natürliche buchstäbliche Räume (wie Höhlen, Baumdächer etc.), dann als gebaute Räume (künstliche Höhlen alias Häuser etc.). Räume können zudem im buchstäblichen wie im übertragenen (oder sonstwie heterotopischen) Sinne verstanden werden. Dabei können Räume auch ineinander verschränkt sein und entsprechend wirken. Als wichtigstes Raummerkmal trat die Grenze oder die Umgrenzung in Erscheinung, sie wird in historischer Perspektive in unterschiedlichen Theorien auf verwandte Weise beschrieben und zeigt sich von Aristoteles’ ›Topos‹- bis zu Sloterdijks ›Sphären‹-Begriff (im speziellen Sinn der »Membranhülle«). Daneben konnte ein Zusammenhang von Platons ›Chora‹-Begriff bis zu Sloterdijks ›Plazenta‹-Andeutungen (und auch zu Sloterdijks Theorie des »externen Uterus«) hergestellt werden. Die Hinweise auf die Chora zeigten, daß nur dort, wo Raum ist, auch etwas entstehen kann. Die genannten Phänomenologen im engeren Sinne, von Brentano und Husserl über Sartre, Merleau-Ponty, Bachelard, Bollnow, Schmitz bis Waldenfels und Böhme, betonen alle die Leiblichkeit des Menschen und damit auch dessen räumliche Strukturiertheit: über den Leib sind Menschen von vornherein räumlich ausgerichtet. Auch zeigen die genannten Autoren, inwiefern der Mensch sagen kann: ›Ich bin mein Leib.‹ Die Hinweise zu Brentano und Husserl deuteten darüberhinaus an, daß im Rahmen einer Phänomenologie die philosophiehistorische Subjekt-Objekt-Dichotomie in gewisser Weise aufgehoben wird (Stichwort ›Brentano-Husserl-Wende‹). So wie Bachelard den Schutzwert des Raums betont, betont Sloterdijk den Raum als Immunsystem. Bollnow zeigt in ausgiebigen phänomenologischen Betrachtungen, wie sehr Mensch und Raum ineinander verschmolzen sind. Hermann Schmitz’ Konzept des flächenlosen Raums erweitert das Verständnis für die möglichen Zonen des Selbsterlebens – auch Räume des Wetters, des Schalls, des Wassers etc. können das Selbst mitformen. Unterm Strich ist deutlich geworden, daß man vom Raum nicht reden kann, ohne zugleich vom Menschen zu sprechen, und umgekehrt, daß man über den Menschen nichts sagen kann, will man über den Raum schweigen. Mensch und Raum – um Bollnows Buchtitel aufzugreifen – bilden die haltbarste Verbindung

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I. Erster Hauptteil: Der Raum

für die Herkunft, die Gegenwart und die Zukunft des Menschen. Doch müßte Bollnows Buch eigentlich anders heißen – nämlich ›Raum und Mensch‹. Denn so viel sollte deutlich geworden sein: es ist der Raum, der den Menschen hervorbringt. Was sind Menschen anderes als Formen von Räumen?

II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Kapitel II.1 Allgemeiner Hinweis zum Selbstbegriff

Die vergleichsweise große Vielfalt der Selbstbegriffsverständnisse samt der damit verschwägerten Begriffe wie Ich, Ego, Person, Persönlichkeit, Individuum, Individualität, Seele etc. hat einen Entstehungsgrund darin, daß in der historischen Forschung und in deren aktuellen Ausprägungen etliche wissenschaftliche Protagonisten scheinbar klare, tatsächlich oft ungeklärte Begriffe aufgenommen und verwendet oder gleich ihre eigenen Begriffe definiert haben und kaum welche es sich zur vorläufig-vorrangigen Aufgabe gemacht haben, die in Umlauf gekommenen Begriffe in ein überschaubares Tabellarium einzufügen, um aus diesem Tableau für die weitere Forschung plausible Begriffsverwendungsvorschläge zu unterbreiten. Oder, um es mit den Worten von Dan Zahavi zu sagen: »Das Problem zwischen den Anwälten des Selbst und denen des Nichtselbst ist deswegen kompliziert, weil es kaum Konsens gibt hinsichtlich der Frage, worauf ein Selbst genau hinausläuft, und weil es kaum Übereinkunft darüber gibt, was mit einer Nichtselbst-Doktrin einhergeht.«1 Diese Klärung zu leisten kann allerdings nicht Aufgabe dieser Arbeit sein; im folgenden soll dennoch ein kürzestmöglicher Überblick geboten werden. Der grammatikalisch eine Begriff des ›Selbst‹ hat semantisch dutzendfache Dimensionen, und selbst »in der normalen Rede spielt der Ausdruck ›das Selbst‹ keine klare Rolle« (Donald Davidson2). Man könnte einen hierarchischen Auf bau der einzelnen Dimensionen zu erkennen versuchen – generelle Dimensionen versus spezifische, umfassende versus einfache. Letztlich setzt sich der Selbstbegriff aus der Gesamtheit seiner Facetten zusammen, und es ist aus erkenntnistheoretischen Gründen ratsam, diese unterschiedlichen Facetten nicht vorschnell – wenn

1 | Dan Zahavi: The Experiential Self: Objections and Clarifications, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 64. Übersetzung M.M. Original: »The problem between advocates of self and no-self accounts is complicated by the fact that there is rather little consensus about what precicely a self amounts to, just as there is little agreement on what a no-self doctrine entails.« 2 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹ (1998), in: D. D.: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2004, S. 152.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

überhaupt – gegeneinander auszuspielen, als vielmehr die historische und aktuelle verzweigte Multifacettität des Selbstbegriffs wahrzunehmen und anzuerkennen. Freilich läßt sich hier schon sagen, daß sich als ein zentraler und notwendiger Aspekt des Selbstbegriffs der Raumaspekt herausstellen wird; er ist nicht irgendein Aspekt unter anderen, sondern der entscheidende auf der neuronalen (›mentalen‹), auf der funktionalen, auf der bewußten, auf der phänomenologischen und auf der alltäglichen Ebene. (Ihm vorgelagert bleiben unbewußte, propriozeptive, viskerale Körperselbstprozesse.) Doch zum Überblick der Lage:

K ürzeste K l ärung wichtiger virulenter A llgemeinbegriffe – D as S elbst, seine D oppelgänger und sonstige A nverwandten Beginnen möchte ich mit der Erstellung einer Liste der im weitesten Sinn verwandten Begriffe, um anschließend eine erste Kommentierung des Selbstbegriffs folgen zu lassen, samt einer eingeschalteten Liste speziell zum Selbstbegriff; danach folgt eine unvollständige Kommentierung der verwandten Begriffe. Die Verwandtenliste: Selbst (inklusive Liste möglicher Selbstbegriffe und Selbstbegriffskomposita) Ich/Ego ›Ich‹ als deiktisches Pronomen Person Individuum und Individualität Dividuum Subjekt und Subjektivität Organismus System Körper und Leib Geist Seele Materie Information Mensch

SELBST Als substantiviertes ›Selbst‹ im Sinne von ›das Selbst‹ bezeichnet der Begriff zuerst gemäß jeder üblichen allgemeinen lexikalischen Beschreibung die mehr oder weniger in ihren charakterlichen Grundzügen gleichbleibende Eigenart eines Menschen. Dabei zeigt sich diese Eigenart in der Gesamtheit der Empfindungen, Handlungen und Lebenszielsetzungen. Darüberhinaus gilt das Selbst im engeren Sinn als das Bewußtsein von sich selbst und der eigenen Identität; der Mensch erlebt sich mittels dieses Bewußtseins über längere Zeit als derselbe. Im übrigen muß die Existenz eines Selbstsinns noch nicht bedeuten, daß es ein Selbst gebe, was im übrigen auch die indische Tradition lehrt.3 3 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 3.

Kapitel II.1

Was den ontologischen Status des Selbst betrifft, lassen sich drei historisch bedeutende Auffassungen differenzieren4: 1. Substantielle Selbsttheorien: Das Selbst ist eine Substanz, dauerhaft und unveränderlich.5 2. Nichtsubstantielle Selbsttheorien: a) Das Selbst erscheint einfach als das Zeugenbewußtsein, als die innere Zeugenschaft (»witnessing«6); dabei bleibt diese Zeugenschaft entweder implizit und kaum merklich oder sie kommt zu expliziterem Bewußtsein.7 b) Das Selbst setzt sich zusammen aus einem Bündel von personalen Merkmalen sowie geistigen Akten und Funktionen.8 Diese Vorstellung vom Selbst wiederum teilt sich in zwei Erklärungsansätze: entweder konstituiert sich das Selbst anhand von nicht-physikalischen ›geistigen‹ Vorgängen, oder anhand von hirnphysiologischen Prozessen in Wechselwirkung mit weiteren Körperprozessen. Zu den nichtsubstantiellen Selbsttheorien zählen auch Narratives-Selbst-Theorien, nach denen das Selbstbild aus einem Ensemble von Erzählfäden entsteht; dabei kann das aus Erzählungen gewobene Selbst auch dem Verständnis von dritten zu-

4 | Ich greife hier Bettina Waldes Darstellung auf, erweitere, präzisiere und pointiere sie jedoch; vgl. B. W.: Die Naturalisierung von Ich und Selbst, a.a.O., S. 28ff., speziell S. 28. – Vgl. auch Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 4 und S. 8. 5 | Vgl. auch Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 4. 6 | Siehe Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 5. 7 | Das Selbst in Form eines Zeugenbewußtseins nennt Peter Sloterdijk auch den »exzentrischen Zeugen« (P. S.: Scheintod im Denken, a.a.O., S. 126): in diesem Falle wohnt der »innere Zeuge« dem Lebensprozeß bei, als ob »in der eigenen Seele ein exzentrischer Beobachtungsposten aufgeschlagen worden wäre« (S. 127). Als historische Kodifizierungen dieser Figur listet Sloterdijk (auf S. 127-129) u.a. das altindisch formulierte »desinteressierte Subjekt« alias atman auf, dann im Gegensatz dazu die buddhistisch geformte anatmanische, also ›atemlose‹, Aufmerksamkeit; im Platonismus taucht die von der Endlichkeit unberührte noetische Psyche auf, welche die »lateinischen Platoniker (wie auch Paulus)« unter dem Namen homo interior übernehmen; die Stoiker begreifen den Beobachter als innere Statue; die christlichen Mystiker sprechen »von dem subtilen Einwohner der inneren Zitadelle«; zu Beginn der Neuzeit entdeckt Adam Smith einen »inneren ›unparteiischen Beobachter‹«, der in Gefühlskonflikten berät; die deutschen Idealisten »kehrten das Transzendentalsubjekt hervor«; die Nachidealisten »beschworen das Kritiksubjekt«, welches die Verblendungszusammenhänge ›dekonstruiert‹; schließlich erscheint in der Luhmannschen Systemtheorie der Beobachter, der die anderen Beobachter beobachtet, wobei Beobachtungen erster und zweiter (oder höherer) Ordnung entstehen. 8 | Vgl. auch Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 4.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

gänglich sein.9 Darüberhinaus zählen zu den nichtsubstantiellen Selbsttheorien auch Viele-Selbste-Theorien wie etwa Strawsons Perlentheorie des Selbst, die besagt, daß es eine Art Selbst nur in der Form vieler Selbste gebe, ein (1) Selbst in jedem Augenblick, eins nach dem anderen, wie Perlen an einer Schnur10; ähnlich postuliert Derek Parfit eine Serie von aufeinanderfolgenden Selbsten (successive selves)11. 3. Nichtselbsttheorien: Es gibt kein Selbst. Das Selbst ist eine ›Illusion‹.12 (Buddhismus, David Hume, Thomas Metzinger.) Was die beiden ersten Selbst-Auffassungen betrifft, lassen sie sich entweder mit einem monistischen oder einem dualistischen Ansatz erläutern. Für den monistischen Ansatz, der im 20. Jahrhundert in der Philosophie des Geistes bestimmend war, gibt es ausschließlich eine Art von Entität, die sich im weitesten Sinne als physikalische Entität bezeichnen läßt. – Dabei wird der Geist entweder naturalisiert, also in einer neurowissenschaftlichen Perspektive auf hirnphysiologische Prozesse zurückgeführt – wobei man davon ausgeht, daß sich theoretisch ein ›materielles‹ Substrat des Selbst finden lassen müsse (ein Ansatz, der gerade angesichts technologisch verfeinerter Untersuchungsmöglichkeiten hinsichtlich der Gewinnung neuer Erkenntnisse über Gehirnprozesse und tatsächlich neuer Erkenntnisse über dieselben vielversprechend zu sein scheint); oder der Geist wird als irrelevantes, wirkungsloses Epiphänomen interpretiert (was die Forschung als Epiphänomenalismus rubriziert). Der dualistische Ansatz hingegen anerkennt physikalische Entitäten, behauptet jedoch auch die Existenz von nicht-physikalischen Entitäten. Dieser dualistische Ansatz geht im wesentlichen auf Descartes’ Trennung in res extensa und res cogitans zurück und entspricht auch der intuitiven alltäglichen Auffassung, daß Menschen neben ihrem ›materiellen‹ Körper noch einen ›immateriellen‹ Geist oder ein ebensolches Selbst hätten. Ironischerweise läßt sich, wie Bettina Walde herausstreicht, in der gegenwärtigen Diskussion eine gewisse »Umkehrung des cartesianischen Verhältnisses«13 erkennen, das heißt eine Rückführung des Geistes und damit auch des Selbst (der res cogitans) auf hirnphysiologische Prozesse (der res extensa). Die Krux dabei wäre, daß bei Beschreibung allein der hirnphysiologischen Prozesse als der Beschreibung des Geistes (und des Selbst) die Beschreibung der Erste-Person-Per9 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 6 und S. 8. 10 | Vgl. Galen Strawson: ›The Self‹, a.a.O., Kapitel XI: The Factual Question. – Vgl. auch Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 4. – Zu Strawsons Zurückweisung seiner eigenen Perlentheorie siehe unten den Abschnitt zu ihm. 11 | Für diese Serie zeige sich die Einheitsbeziehung in einer psychologischen Kontinuität: es komme dabei auf die Verbundenheit (connectedness) der einzelnen sukzessiven Selbste an; die Kontinuität der Selbste ist demnach unterschiedlich stark. Vgl. Derek Parfit: Lewis, Perry, and What Matters, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hg.): The Identities of Persons, Berkely 1976, S. 91-107, v.a. S. 106. 12 | Vgl. auch Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 5. 13 | Vgl. Bettina Walde: Die Naturalisierung von Ich und Selbst, a.a.O., S. 38.

Kapitel II.1

spektive wegfiele14, diese Erste-Person-Perspektive jedoch irreduzibel hinsichtlich der Dritte-Person-Perspektive ist (was eben neben der alltäglichen Intuition und dem alltäglichen Erleben von unterschiedlichen nicht-reduktionistischen Ansätzen gestützt wird15). Davon abgesehen liegt meines Wissens keine empirische Untersuchung darüber vor, was Menschen im Alltag unter einem ›alltäglichen Selbst‹ verstehen. Gemeinhin kann man vorläufig als mögliche Definition des alltäglichen Selbst festhalten: Unter einem alltäglichen Selbst versteht man entweder ein körperunabhängiges Persönlichkeitsprofil, oder ein körperprozeßbeeinflußtes, in der Regel über einen Großteil des Lebens hinweg sich ähnlich bleibendes Persönlichkeitsprofil (ersteres wäre substantialistisch und unvergänglich, letzteres nicht-substantialistisch und vergänglich).

Eingeschaltet: Liste möglicher Selbstbegriffe und Selbstbegriffskomposita Ohne hier erläuternd tiefer auf die im folgenden aufgelisteten Begriffe eingehen zu müssen, dient die Liste mit den wichtigsten Aspekten einer differenzierten Übersicht: Wie eben erläutert, sind ontologische Aspekte aufzulisten: • Substantielles Selbst • Nichtsubstantielles Selbst • Kein Selbst (samt Spielarten: ›Illusion‹, ›Virtualität‹, ›Fiktion‹, Echo16) Aspekte des Selbsterlebens: Minimales Selbst Phänomenales Selbst Transparentes/opakes Selbst Alltägliches Selbst Pragmatisches Selbst Privates Selbst Langzeitselbst (psychologische Kontinuität) Mögliches Selbst (das einem als Möglichkeit vorschwebt) Existentielles Selbst Spirituelles Selbst Sterbendes Selbst

14 | Anders als Bettina Walde, a.a.O., S. 38, meint, würde bei der hirnphysiologischen Beschreibung also nicht das Selbst »herausfallen«, sondern das subjektive Selbst-Gefühl, sprich die Erste-Person-Perspektive (bzw. Innenperspektive oder subjektive Perspektive). 15 | Vgl. allgemein und klassisch etwa Thomas Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Königstein im Taunus 1981; oder Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 152-163. 16 | Paul Valéry: »Man muß zugeben, daß das Ich – nur ein – Echo ist.« In: P. V.: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 127.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Sinnliches Selbst17 Schmeckendes Selbst Riechendes Selbst18 Fühlendes Selbst Tastendes Selbst Hörendes Selbst19 Sehendes Selbst Leidendes Selbst Sexuelles Selbst 20 Liebendes Selbst Musikalisches Selbst Narratives Selbst Autobiographisches Selbst/Erzählung des eigenen Lebens: erinnertes Selbst, historisches Selbst 21, vergeßliches Selbst 22 Fiktionales Selbst Philosophisches Selbst Objektives Selbst (welches sämtliche möglichen Perspektiven auf die Welt der Welt zurechnet: dadurch werde das objektive Selbst zum Subjekt einer objektiven Weltauffassung23) Biologisch-physiologische Aspekte: Empirisches Selbst Materielles Selbst Physikalisches Selbst Immunologisches Selbst 24 17 | Für Alfred Jules Ayer ist das Selbst letztlich nichts anderes als der zusammengehörige Komplex von Sinneserfahrungen; wer vom Selbst rede, rede genau von diesen. Die Natur des Selbst zeige sich in der Frage, wie Sinneserfahrungen sein müssen, damit sie zur Historie der Sinne desselben Menschen gehören (Alfred Jules Ayer: Sprache, Wahrheit, Logik, Stuttgart 1970, S. 166). 18 | Vgl., wie oben bei Bachelard bereits vermerkt, hierzu Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., Exkurs 2: Merdokratie. Vom Immunparadoxon seßhafter Kulturen, S. 340-353. 19 | Vgl. Peter Sloterdijk: Wo sind wir, wenn wir Musik hören?, in: P. S.: Weltfremdheit, a.a.O., S. 294-325. 20 | Vgl. dazu Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (3 Bände), aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1987; Band 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M. 1989; Band 3: Die Sorge um sich, Frankfurt a.M. 1989. 21 | Vgl. dazu Ulric Neisser: The Remembering Self, a.a.O., S. 2. 22 | Ulric Neisser diskutiert das »oblivious self« in: U. N.: The Remembering Self, a.a.O., S. 8. 23 | Vgl. Thomas Nagel: Das objektive Selbst, in: Ludwig Siep (Hg.): Identität der Person. Aufsätze aus der nordamerikanischen Gegenwartsphilosophie, aus dem Englischen von Thomas Nenon, Basel und Stuttgart 1983, S. 46-67. 24 | Vgl. Alfred I. Tauber: The Immune Self: Theory or Metaphor?, Cambridge 1997; sowie A. I. T.: Moving Beyond the Immune Self? Seminars in Immunology, Juni 2000, Band 12(3), S. 241-248, Diskussion S. 257-344.

Kapitel II.1

Protoselbst Kernselbst Körperselbst Karnevalistisches Selbst (im Sinne von körperlichen Manifestationen25) Organismus als Selbst bringt (auf der mentalen und phänomenalen Ebene) hervor: 1. (Unbewußtes) Selbst-Modell des Organismus 2. (Bewußtes und transparentes) Selbst-Modell des Organismus = Ich erlebe mich gerade eben so, wie ich mich gerade erlebe, zum Beispiel habe ich Zahnweh oder schmeckt mir das Bier 3. (Bewußtes und opakes) Selbst-Modell des Organismus = Ich bin die und die Person, die da und da lebt und das und das getan hat und jetzt das und das tut – Selbst-Bewußtsein zweiter Ordnung Systemselbst Selbst als Konstrukt der Gehirn- und Körperprozesse Selbst als zerebrales Subjekt 26 Neurochemisches Selbst 27 Mentales Selbst Kognitives Selbst Repräsentationales Selbst Emergentes Selbst Semiotisches Selbst Begriffliches Selbst Verbales Selbst Rechtlich-soziale Aspekte: Selbst als Person Soziales Selbst (konstituiert sich in sozialen Beziehungen28) 25 | Vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. von Renate Lachmann, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 51995. 26 | Alain Ehrenberg verwendet den Begriff ›Sujet cérébral‹ in: A. E.: Le Sujet cérébral, in: Esprit, November 2004. 27 | Der Begriff zielt auf die angenommene stoffliche Modulierbarkeit des ›Selbst‹ und des ›Selbsterlebens‹ sowohl im psychiatrisch-pharmakologischen Zusammenhang wie auch in den Kontexten bewußter Drogenexperimente. Zu spezifischen Diskussionen siehe Nikolas Rose: The Neurochemical Self and its Anomalies, in: Richard V. Ericson and Aaron Doyle (Hg.): Risk and Morality, Toronto 2003, S. 407-437, sowie Jeannie Moser: Psychotropen: eine LSD-Biographie, Konstanz 2013. 28 | Vgl. Kenneth J. Gergen: The Social Construction of Self-Knowledge, in: Theodore Mischel (Hg.): The Self. Psychological and Philosophical Issues, Oxford 1977, S. 139-169; sowie Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität, aus dem Englischen von Jürgen Schröder, Berlin 2013. – Zur zwischenmenschlichen Ansprache des ›Du‹ vergleiche Eugen Rosenstock-Huessy: Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Interpersonales Selbst 29 Selbst als Agent (konstituiert sich in Handlungen) Einsames Selbst Dialogisches Selbst Moralisches Selbst Architektonisches Selbst Kulturelles Selbst Rassisches bzw. ›rassisches‹ Selbst30 Nationales Selbst 31 Künstlerisches Selbst Künstliches Selbst Ökologisches Selbst Kontextualisiertes Selbst Erweitertes Selbst Selbstverhältnisse Selbstheit zeichnet sich durch Ipseität32 aus Selbst ist selbstreferentiell Selbst ist das, was ›innerhalb‹ liegt33 Selbst hat Bewußtsein (Selbstbewußtsein und Selbstwahrnehmung), und zwar allgemein: ein Bewußtsein des Bewußtseins, oder konkret: ein Bewußtsein seiner Wahrnehmung (Perzeption) und ein Bewußtsein seines Erkennens (Kognition) Selbst ist präreflexiv selbstvertraut (hat präreflexives Selbstbewußtsein) Selbst entsteht durch reflexives Selbstbewußtsein (dabei kann ›reflexiv‹ auch heißen: mit sich explizit vertraut werden [self-intimating 34] und so einen Selbstbegriff von sich gewinnen) Selbst ist Selbstgewahrsein (Self-Awareness) leibhaftige Grammatik in vier Teilen, 2 Bände, Heidelberg, (1963), 21964; sowie: Martin Buber: Ich und Du, (1923), in: M. B.: Das dialogische Prinzip, Gütersloh 111986. 29 | Vgl. Hinderk M. Emrich: Identität als Prozeß, Würzburg 2007, S. 163f. Der Begriff des ›interpersonalen Selbst‹ faßt den Menschen vom Lebensanfang an nicht als isoliertes einzelnes Subjekt, sondern als dyadisches, zum Mitmenschen hin ausgerichtetes, eben ›interpersonales‹ Wesen. 30 | Vgl. Henry Louis Gates Jr.: Figures in Black. Words, Signs, and the ›Racial‹ Self, Oxford 1987. 31 | Vgl. Emily S. Apter: Continental Drift. From National Characters to Virtual Subjects, Chicago 1999; Frederick Buell: National Culture and the New Global System, Baltimore 1994; Michael Hardt und Antonio Negri: Empire, aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt a.M. 2002; Peter Sloterdijk: Im Schatten des Sinai, a.a.O., S. 56 und S. 60. 32 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 21. 33 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 1. 34 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 1.

Kapitel II.1

Selbst ist Selbstgewißheit35 Selbst ist Selbstpräsenz Selbstrepräsentation36 Selbsterleuchtung versus Nichtselbsterleuchtung (Self Illumination versus Other Illumination37) Selbstsinn/Selbstgefühl: das Gefühl, die bestimmte Person zu sein, die man ist38 Selbstbezug Selbstkonstitution39 Selbstverortung (self-location 40) Selbstbeobachtung Selbsterkenntnis und Selbstverständnis (vom einfachen Sich-im-Spiegel-erkennen bis hin zu Goethes vielschichtiger Selbsterkenntnis) Selbstwissen Selbstmacht, sich seiner selbst mächtig sein Selbst als menschliches Selbst41 (im Vergleich zum Selbst von Tieren) Selbst als teilbares Selbst, ersichtlich anhand des Vorkommens von Anomalien, Pathologien, Experimenten, Erfahrungen Selbst als ein Mittel zum Zweck der Aufrechterhaltung moralischer Subjekte Welche Selbstgrenzen gibt es? Es lassen sich wenigstens fünf Ebenen für Selbst-Grenzen unterscheiden, und zwar • die biologisch-körperliche Ebene (Grenze hin zur Nicht-Selbst-Umwelt) • die innerkörperliche Ebene (Grenze zwischen Selbst und Nichtselbst innerhalb des Körpers: von außen zugeführte Giftflüssigkeit im Körper etwa ist nicht Teil des Körperselbst) • die mental-repräsentationalistische Ebene (auf der Selbst und Nichtselbst repräsentiert werden – auch im Sinne von repräsentiertem Innenraum vs. repräsentiertem Außenraum) • die funktionale Ebene 35 | Vgl. Dieter Henrich: Bewußtes Leben, a.a.O., S. 27. 36 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 9. 37 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 9ff. 38 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 3. 39 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 8. 40 | Vgl. Olaf Blanke und Thomas Metzinger: Full-body Illusions and Minimal Phenomenal Selfhood, in: Trends in Cognitive Sciences. Vol. 13, Nr. 1, 2008. – Blanke und Metzinger verstehen unter »self-location« »a determinate volume in space, normally localized within the bodily boundaries as represented. The origin of the weak 1PP [first person perspective, M.M.] is localized within this volume (›embedding principle‹). Self-location is also necessarily spatiotemporal self-location (because it includes the ›now‹, a determinate position in time as represented).« 41 | Ulric Neisser diskutiert den Begriff des »human self« in: U. N. und Robyn Fivush (Hg.): The Remembering Self. Construction and Accuracy in the Self-Narrative, New York 1994, S. 16.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

• die phänomenal-bewußte Ebene Es folgt nun die unvollständige Kommentierung der weiteren verwandten Begriffe:

Ich/Ego Das ›Ich‹ in seiner grammatikalischen Verwendung als Hauptwort ließe sich als der Träger dessen, was ein Mensch erlebt, beschreiben, der Träger aller psychischen und physischen Vorgänge wie Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln. Die Gesamtheit dieser Vorgänge ließe sich, wie oben, auch als kontinuierliches, identisches Selbst interpretieren. Das ›Ich‹ impliziert auf der alltäglichen und semantisch-logischen Ebene zugleich die Unterscheidung vom ›Nicht-Ich‹ meiner Umwelt und meiner Mitwelt, der Mitwelt des Du. Das Ich läßt sich als ein historisch wie empirisch geformtes und bedingtes beschreiben (Augustinus’ Confessiones). Das transzendentale Ich ist die Voraussetzung der synthetischen Leistung der Denk- und Bewußtseinsvorgänge (Immanuel Kant). Das absolute Ich bei Fichte ist die schöpferisch-folgenreiche Einheit, auf die bezogen Wirklichkeit erst Sinn ergibt und die bereits vor dem Aufklaffen von Bewußtseinsgegenstand und Bewußtsein existiert. In Kontexten, in denen das Ich in Absetzung vom Selbst begriffen wird, steht das Selbst für das umgreifend Größere, das Ich nur als der Cursor der alltäglichen Wege. Ein ähnlicher Unterschied zwischen Ich und Selbst findet sich in spirituellen Traditionen. (Das ›Ego‹, vielzitiert, subsumiere ich hier unter das ›Ich‹.)

›Ich‹ als deiktisches Pronomen In bestimmten Sprech- und Schreibzusammenhängen hat das Wort ›ich‹ eine pronominale und eine deiktische Bedeutung, wie zum Beispiel in der Mitteilung an meine Begleitung: »ich möchte hier kurz ein Eis kaufen«. Die Begleitung versteht diese Aussage und weiß intuitiv, wer oder was mit ›ich‹ gemeint ist (nämlich einfach der Mensch, der diese Aussage gemacht hat – und nicht irgendein wie auch immer geartetes ›Ich‹). Und wenn sie antwortet: »ich auch«, dann weiß wiederum ich, was diese ihre Aussage bedeutet, wer oder was mit ›ich‹ gemeint ist. Jeweils wissen wir in einem alltäglichen Zusammenhang, wie ›ich‹ verwendet wird und auf wen es sich bezieht, ohne darüber ausdrücklich reflektieren zu müssen. Darüberhinaus kann das ›ich‹ allerdings auch mit einem sogenannten privilegierten epistemischen Zugang hinsichtlich bestimmter Zustände verbunden sein, etwa wenn ich (korrespondenzwahrheitsgemäß) sage: »ich habe Zahnschmerzen«. Wenn meine Begleitung am Telephon einem Dritten mitteilt: »wir müssen die Reise abbrechen – Matthias hat Zahnschmerzen«, so sind beide Aussagen hinsichtlich der Zahnschmerzen auf der Wahrheitsebene richtig (veritative Symmetrie), doch auf der Ebene des epistemischen Zugangs verschieden (epistemische Asymmetrie42): denn ich weiß, daß ich Zahnschmerzen habe, meine Begleitung muß es mir glauben oder – sollte ich mir etwa die Wange halten und eine entsprechende Mimik 42 | Eingeführt werden die Begriffe ›veritative Symmetrie‹ und ›epistemische Asymmetrie‹ in: Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt a.M. 1979, S. 89. – Epistemische Asymmetrie: Blick einerseits aus der

Kapitel II.1

machen – kann aus meinem Verhalten darauf schließen.43 Auch im buddhistischen Denken verweist das ›ich‹ in der Regel nicht auf ein Selbst, sondern lediglich auf unterschiedliche psychophysische Zustände, die weder für sich genommen noch als Ganzes ein Selbst bilden.44

Person Als Person gilt seit Boethius45 der Mensch als vernunftbegabtes, individuelles Lebewesen; anders formuliert: der Mensch hinsichtlich seiner aktuell verwirklichten moralisch-sittlichen Reflexionsfähigkeit und hinsichtlich seiner Befähigung zu vorausschauendem, selbstverantwortlichem und zielesetzendem Handeln. D’accord geht damit praktisch auch die moderne Definition von John Locke, wenn er die Person als »ein denkendes, verständiges Wesen [begreift, M.M.], das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt«46. Die Neue Phänomenologie in der Person ihres Gründers Herman Schmitz definiert Person als einen »Bewußthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung«47. Niklas Luhmann verzichtet in seinem systemtheoretischen Personenbegriff auf jegliches metaphysisches Substanzverständnis, weil »es vergeblich wäre, nach einem psychischen oder gar organischen Substrat von so etwas wie Person, Intelligenz, Gedächtnis, Lernen zu suchen«48. Der Mensch oder das ›Subjekt‹ differenziere sich einfach in die Person einerseits und in das psychische System andererseits: »Als Personen sind […] nicht psychische Systeme gemeint, geschweige denn ganze Menschen.«49 So bleibe die »Einsicht, daß von der Person keine sicheren Erkenntniswege in die Tiefe des psychischen Systems führen, sondern daß alle Versuche, Dritte-Person-Perspektive auf die neuronalen Prozesse (oder das Verhalten) eines anderen versus andererseits das Erleben und Wissen aus der Erste-Person-Perspektive. 43 | Eine ausführliche Diskussion über die Verwendungsweise des ›ich‹-Pronomens hat Ernst Tugendhat in der ›4. Vorlesung‹ über den ›Abstieg vom Ich zum ›ich‹ geführt, vgl. E. T.: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 68-90. – Siehe auch Sydney Shoemaker: Self-Reference and Self-Awarenness, in: The Journal of Philosophy, Vol. 65, Nr. 19, 3. Oktober 1968. 44 | Vgl. hierzu Chakravarthi Ram-Prasad: Situating the Elusive Self of Advaita Vedanta, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 217-238, siehe dort auch S. 23 (Einführung). 45 | Boethius: Contra Eutychen et Nestorium, in: Boethius: Die Theologischen Traktate, hg. und übersetzt von Michael Elsässer, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1988, Kapitel III, S. 74f., Zeilen 1-5. 46 | John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Band I: Buch II, Kapitel 27, § 9, a.a.O., S. 419. (Zu John Locke siehe unten einen eigenen Abschnitt.) – Zu den unterschiedlichen historischen Dimensionen des Begriffs ›Person‹ vgl. auch Martin Brasser (Hg.): Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1999. 47 | Hermann Schmitz, in: H. S.: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, a.a.O., S. 29. 48 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 159. 49 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme, a.a.O., S. 429.

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sich nicht mit der Person zu begnügen, sondern einen anderen wirklich kennenzulernen, im Bodenlosen des immer auch anders Möglichen versinken«50. Zudem betont Luhmann die Bedeutung des »Copierens von Persönlichkeitsmustern oder -gesten«: »Man copiert ein Personmodell in ein konkretes und dadurch immer schon unverwechselbares psychisches System; man kleidet und frisiert nach Erfolgsmodellen – immer doch nur den eigenen Körper.«51 Luhmann begreift Person somit als nützliche Werkzeugmaske des Alltags im Sinne einer Reduktion von Komplexität: Das schwerbegreifliche »bodenlose« psychische System bleibt im zwischenmenschlichen Verkehr außen vor, stattdessen begegnen sich Menschen auf der Straße oder zuhause lediglich auf der Ebene ihrer Maskenhaftigkeit. Masken begrüßen Masken, Kleider, die Leute machen, begrüßen andere Kleider, die Leute machen. Das Leben – ein Maskenball. In der Psychologie schließen einzelne Vertreter die ›Person‹ einfach mit dem ›Selbst‹ zusammen, respektive das ›Selbst‹ mit der ›Person‹.52

Individuum und Individualität Das Individuum ist in der Alltagsauffassung der Mensch als Einzelwesen. Seine Individualität hingegen bedeutet erst indirekt seine Einzelheit, zunächst bezeichnet sie die Gesamtheit der Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen, welche damit dessen Einmaligkeit ausmachen.

Dividuum Das Dividuum ist gemäß Peter Sloterdijks Sphärenkonzept der Mensch als Paarwesen, das sich immer schon auf ein Gegenüber bezieht und mit ihm eine gemeinsame Sphäre teilt.

Subjekt und Subjektivität Subjekt meint hier im wesentlichen das handelnde Ich. Subjektivität hingegen bezeichnet das Erleben der Welt aus der Erste-Person-Perspektive.

Organismus Gesamtheit der aufeinander wirkenden zusammengehörenden Organe – damit ein einzelnes Lebewesen.

System Zunächst bezeichnet System lediglich einen Zusammenhang von Einzelheiten und Besonderheiten, welche nach einem ganzheitlichen Prinzip angeordnet und strukturiert sind. In der Biologie bedeutet System die Anordnung von Informationseinheiten bei Pflanzen und Tieren. In der Gesellschaftstheorie bezeichnet ein soziales System jenen Zusammenhang von Individuen, die aufgrund gegenseitiger Handlungserwartungen über lange Zeit aufeinander einwirken. Es ist durch wechselseitige Abhängigkeit seiner 50 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme, a.a.O., S. 429f. 51 | Niklas Luhmann: Soziale Systeme, a.a.O., S. 429f. 52 | So zum Beispiel Seymour Epstein: The Self-Concept Revisited or a Theory of a Theory. American Psychologist 28, 1973, S. 404-416.

Kapitel II.1

Mitglieder gekennzeichnet und nach außen geschlossen oder offen. Insofern ließe sich auch der alleinlebende Mensch als soziales System bezeichnen, weil auch er im täglichen Umgang ausschließlich mit sich selbst umgeht und von seinen Wünschen und von sich selbst abhängig bleibt. Ein offenes soziales System ist der Mensch dann, wenn seine Grenzen zur Umwelt geöffnet sind für gesteuerten Austausch von Stoffen und Energie.

Körper und Leib Körper Der Verwendung des Begriffs Körper steht schon insofern nichts im Wege, als er in der Tradition durchaus Usus war, sei es in der lateinischsprachigen (corps), sei es in der Kantischen Tradition53, und auch insofern, als seine Verwendung im deutschsprachigen Kontext im Zuge des Einflusses der die Philosophie des Geistes prägenden analytischen Philosophie Standard geworden ist, so etwa prominent auch bei Thomas Metzinger.54 Gemeint ist mit ›Körper‹ hier in der Regel der Körper des lebendigen Menschen und auch die subjektive Wahrnehmung des eigenen Körpers. Geometrische Körper spielen keine Rolle, auch nicht der tote Körper, der Leichnam. Die Differenzierung zwischen Leib und Körper ist zunächst vor allem im phänomenologischen Zusammenhang zuhause, sie muß außerhalb der deutschsprachigen Sphäre vergleichsweise umständlich nachgebildet werden. Im Französischen dienen Adjektive zur Differenzierung. Sartre unterscheidet zwischen corps subjet (Leib) und corps object (Körper). Merleau-Ponty spricht auch von chair (Fleisch) im Sinne von Leib, ansonsten von le corps vivant, le corps propre und le corps phénoménal, auch von corps fonctionnant.55 Einen hiervon unabhängigen Vorteil hat die Verwendung des Begriffs ›Körper‹ allerdings in der Hinsicht, daß ›Körper‹, anders als ›Leib‹, nicht mit dem traditionell metaphysischen Begriff ›Seele‹ (im Sinne des Ausdrucks des ›Leib-Seele-Dualismus‹) assoziiert zu werden Gefahr läuft. Auch Max Scheler wendet sich – ganz 53 | Zum Beispiel Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AkademieAusgabe, Band 7, Berlin 1917, § 15. Von den fünf Sinnen, S. 153, wo Kant notiert, daß hinsichtlich des äußeren Sinns »der menschliche Körper durch körperliche Dinge« und – was den inneren Sinn angeht – »durchs Gemüth afficiert« oder beeindruckt werde. 54 | Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O., S. 457. – Siehe zur unterschiedlichen Verwendung der Begriffe ›Leib‹ und ›Körper‹ bei Husserl und Metzinger auch Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix: Living the Virtual Life with a Real Body, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 11 (5), 2005, S. 3 (http://psyche. cs.monash.edu.au/). 55 | Siehe hierzu auch Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. von Regula Giuliani, Frankfurt a.M. 2000, S. 14ff., besonders S. 15. Gilles Deleuze und Félix Guattari führen das Konzept des ›Körpers ohne Organe‹ ein, den Körper in seiner virtuellen Form als Möglichkeit des aktuellen. Vgl. G. D. und F. G.: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1974; sowie G. D. und F. G.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1993.

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im Sinne wie bald hundert Jahre später Thomas Fuchs – gegen jeden dualistischen Ansatz in der Leib-Seele-Problematik: »Es ist der ganze Körper, der […] das physiologische Parallelfeld der seelischen Geschehnisse geworden ist, keineswegs nur das Gehirn. […] Der physiologische und der psychische Lebensprozeß sind ontologisch streng identisch […]. Was wir ›physiologisch‹ und ›psychisch‹ nennen, sind nur zwei Seiten der Betrachtung eines und desselben Lebensvorganges.«56 Leib Für Husserl ist der Leib das, was ich bin, wohingegen der Körper der verobjektivierte (gleichwohl lebende) Körper ist.57 Die Phänomenologie, insbesondere die Neue Phänomenologie, verwendet in der Regel durchgängig den Begriff Leib und reserviert den Begriff Körper für den objektivierten, observierbaren, betastbaren menschlichen Körper. Leib ist der eigene Leib in der Form, in der ich ihn und die Welt erlebe – er ist letztlich ein anderer Ausdruck für ›subjektives Erleben‹. Der Leib ist der Zahnschmerz, das Wohlgefühl am Morgen beim Trinken der ersten Tasse Tee, ist die Freude über überraschenden und willkommenen Besuch. Körper hingegen gilt auch als jenes obskure Objekt, wie es sich früher etwa bei der Musterung den prüfenden Blicken und Berührungen einer Kreiswehrersatzamtsärztin offenbart – in diesem konkreten Fall geht es nicht darum, wie die begutachtete Person sich dabei fühlt, sondern allein darum, inwiefern die Person mit diesem ihrem Körper für soldatische Belange tauglich oder untauglich sei. Auch wenn die Differenzierung zwischen Leib und Körper nach dem gesagten sinnvoll scheint, halte ich es aus pragmatischen Gründen für vertretbar, je nach Zusammenhang beide Begriffe zu verwenden, also den Begriff ›Körper‹ auch im phänomenologischen Sinn von ›Leib‹ – wie gesagt ist diese Verwendung in der analytischen Literatur üblich geworden; der Sinn erschließt sich aus dem Zusammenhang.

Geist In einem alltäglichen Verständnis ist Geist ein Phänomen, das vor allem als immateriell gilt. In einem naturwissenschaftlichen Verständnis ist Geist ein Phänomen, das wesentlich mit physiologischen Hirnfunktionen wie auch immer verknüpft ist; dabei ist er stets ein prozessuales ›Resultat‹ einer aktuell wirksamen Welt- und Selbstwahrnehmung: insofern ist Geist rundum sinnlich und ›materiell‹. Für die Vorstellung, daß Geist eine immaterielle res cogitans sei, ist in diesem Fall kein Platz – die res cogitans ist res extensa. Menschen befinden sich immer mit maßgeblicher Unterstützung des Gehirns inmitten von meist unbewußten Austauschprozessen, die durch eigenkörperliche wie umweltliche Vorgänge ausgelöst werden.

56 | Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, a.a.O., S. 53f. 57 | Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Husserliana IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1991.

Kapitel II.1

Seele Was auch immer unter dem Begriff der Seele im theologischen oder alltäglichen Sinne verstanden wurde oder heute noch verstanden wird – für diese Arbeit spielt der Begriff keine Rolle.

Materie Nach alltagsmetaphysischer Vorstellung ist Materie der Gegenbegriff zu Geist und damit selbst geistlos. In mikrophysikalischer Sicht läßt sich ontologisch die Aussage treffen, daß es geistlose Materie nicht gibt, sondern ausschließlich spannungsgeladene, elektromagnetische Resonanzen und Prozesse. In einem ontologischen Sinn könnte man daher sagen, es gebe ›informierte Materie‹. (Siehe auch die folgende Notiz zur ›Information‹.)

Information Wie oben in der ›Prämisse wissenschaftlich-empiristische Methode‹ erwähnt, lautet eine mögliche starke ontologische These: ›Es gibt Information.‹58 Weder gibt es Materie im rein ›stofflichen‹ Sinne noch Geist im rein ›immateriellen‹ Verständnis, sondern lediglich eine für das Alltagsverständnis paradox anmutende, unauflösliche Einheit: nämlich geistvolle Materie, materieller Geist, denkende Sinnlichkeit, sinnliches Denken.

Mensch Beschreiben läßt sich der Mensch aus modellierender naturalistisch-repräsentationalistischer Sicht etwa als ein ›verkörpertes‹ oder ›körpergebundenes‹ oder einfach und unmißverständlich als ein körperliches Lebewesen, dessen Bewußtsein auf der repräsentationalistischen Ebene durch ein transparentes59 ineinandergefugtes Welt- und Selbst-Modell gebildet wird, ein Lebewesen, das unter anderem die Fähigkeit besitzt, mit explizit bewußter Steuerung über sich als Menschen nachdenken und sprechen zu können. (Jedes Lebewesen ist körperlich, so gesehen handelt es sich bei dem Begriff ›körperliches Lebewesen‹ wie oben angedeutet um eine Tautologie; sie ist allein deshalb zu rechtfertigen, um im Schatten eines jahrtausendelangen dualistischen Leib-Seele-Denkens die Körperlichkeit zu betonen. Phänomenologen würden von einem Leib-Apriori sprechen.) In dieser Sicht sind Menschen schlicht sich selbst erhaltende, sich selbst steuernde (autokatalytische), im Stoffwechsel sich selbst erhaltende (metabolische) Organismen, die unter einem transparenten phänomenalen Selbstmodell operieren.60 58 | Siehe Peter Sloterdijk: Das Menschentreibhaus, a.a.O., S. 64. 59 | Siehe zum Begriff ›Transparenz‹ in diesem Zusammenhang auch den übernächsten Absatz. 60 | Vgl. hierzu Marcello Ghin: What a Self Could Be, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 11 (5), 2005, S. 1-10, hier S. 1 (http://psyche.cs.monash.edu.au/). – Ghin argumentiert darin für den Begriff des Selbst als das System selbst, siehe unten den Abschnitt zu Ghin. – Niklas Luhmann würde aus der Sicht der Systemtheorie den Menschen nicht als ein ›System‹ begreifen (vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, a.a.O., S. 67f.), sondern als ein »Konglomerat autopoietischer, eigendynamischer, nichttrivialer Systeme« (Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M. 2002, S. 82):

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Jedes »organisierte Wesen« (Kant61) strebt dabei in der Regel danach, sich selbst zu erhalten; dabei resultiert aus den Prozessen der einzelnen Teile des Lebewesens ein Ganzes, welches wiederum die Voraussetzung für das weitere Prozessieren der Teile ist. Der Begriff ›transparentes phänomenales Selbstmodell‹ verweist wie oben erwähnt auf Metzingers Beschreibung der alltäglichen, bewußten Wahrnehmung des Selbst – einschließlich des vorbegrifflichen und nicht objektivierten subjektiven Aspekts subjektiver Wahrnehmung.62 Menschen nehmen dabei (selbstverständlich) nicht die neuronalen Prozesse selbst wahr, die Prozesse sind insofern ›transparent‹; vielmehr ›schauen‹ sie ›durch‹ die Prozesse und ›sehen‹ ausschließlich das Repräsentat, das phänomenale Selbstmodell, das bewußt gewordene Selbstmodell, das aber eben aufgrund der ›Transparenz‹ nicht als Modell erkannt wird, sondern vielmehr als scheinbar substantielles Selbst wahrgenommen wird. (An dieser Stelle sei die Frage gestellt, ob Menschen im Alltag ihr angenommenes ›Selbst‹ überhaupt als substantiell wahrnehmen? Zunächst jedenfalls scheint sicher zu sein, daß das Verhältnis zum eigenen ›Selbst‹ nicht so deutlich ist wie etwa zu einer Teetasse, die auf dem Tisch steht, und oftmals implizit bleibt etc. Des weiteren stellt sich die Frage, was eigentlich ein Selbstgefühl – dieses angeblich so unbestrittene Selbstgefühl – genau sei? Es hat etwas auf den ersten Blick bestimmtes – und auf den zweiten etwas unbestimmtes; deshalb ließe sich die Selbstbeziehung auch als die bestimmte Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich selbst bezeichnen.) Es gibt jedenfalls gemäß dieser hier eingangs gemachten Beschreibung auf der Welt keine Wesen, die ein organismusunabhängiges substantielles Selbst haben; es gibt, was das Selbst angeht, auf der biologisch-repräsentationalistischen Ebene lediglich vorübergehende Erscheinungsformen, die auf dynamischen neuronalen und weiteren körperlichen Prozessen auf bauen; und deren komplexe Verbindung erzeugt im Zusammenspiel von Selbstmodell und Weltmodell auf der phänomenologischen Ebene eine phänomenale Ich-Perspektive, Gerichtetheit und Intentionalität.

dabei wäre der Körper ein biologisches System, das Bewußtsein ein psychisches System, und menschliche Handlungen ergäben soziale Systeme. – Siehe auch Niklas Luhmann: Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hg. von Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt a.M. 1987. – Siehe zum Systembegriff in kritischer Absicht Hans Jonas: Bemerkungen zum Systembegriff und seiner Anwendung auf Lebendiges, in: Studium Generale. Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden, 10. Jahrgang, 1957, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1957, Zweites Heft, S. 88-94. 61 | Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, a.a.O., § 65, S. 372-376. 62 | Vgl. Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O.

Kapitel II.2 Historische Landschaftsskizze der philosophischen Selbstbegriffe in Antike, Neuzeit und Moderne 1

A ntike in W est und O st Das Selbst im abendländischen Kontext Selbstverständlich scheint es, daß, was die Genetographie des Selbstbegriffs angeht, diese in ihrem weiten Umfang ausschließlich unter Rücksicht auf bedeutungsverwandte und sachlich dazugehörende Begriffe zu leisten wäre – der erwähnten Begriffe Ich, Ego, Person, Individuum und Dividuum, Seele, Geist, Organismus, System, Körper und Leib etc. Das allerdings wäre im Rahmen dieser Arbeit wie bemerkt weder technisch sinnvoll durchzuführen noch sachlich notwendig, nicht nur wegen der zugespitzten Fragestellung dieser Arbeit, sondern auch deshalb, weil ich den hier verhandelten Selbstbegriff nicht zuletzt auch hinsichtlich des Aspekts der Selbstbezüglichkeit begreife: im Sinne seiner ursprünglichen Bedeutung als selbstreflexives Demonstrativpronomen; in diesem Sinne findet er sich schon in der Antike: autós bzw. tò autó2 lauten im Griechischen und ipse (in Abgrenzung zu idem) im Lateinischen die Vokabeln. (Ähnlich verwendet in der Moderne der Psychologe Gordon W. Allport den Begriff des proprium – wörtlich ›Das Eigene‹ –,

1 | Hier rekurriere ich partiell auf den Begriffsartikel zum ›Selbst‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, herausgegeben von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 9, Basel 1995, S. 292-313. 2 | Siehe den (pseudo-)platonischen Dialog Alkibiades I, S. 130d: αὐτὸ τὸ αὐτό, ὅτι ἐστί . (Platon: Alkibiades, in: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Griechisch und Deutsch, hg. von Karlheinz Hülser, deutsch von Friedrich Schleiermacher, Band II: Euthyphron. Alkibiades. Gorgias. Menexenos, Frankfurt a.M. 1991.) – Zuvor schon Heraklit in: Fragment B 116: Ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γιγνώσκειν ἑαυτοὺς καὶ σωφρονεῖν. – Alle Menschen neigen dazu, sich selbst zu erkennen und klug zu denken. (Heraklit: Fragmente, griechisch und deutsch, hg. von Bruno Snell, München und Zürich 101989, S. 34. Snells Übersetzung habe ich hier stilistisch leicht modernisiert.) – Siehe zu autós auch Bernhard Waldenfels: Platon. Zwischen Logos und Pathos, Berlin 2017, Kapitel ›III. Selbstbezüglichkeiten‹, Abschnitt ›1. Selbst und Selbes‹.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

der dann in der psychologischen Diskussion unter Begriffen wie ›Das Selbst‹, ›Das Ich‹, Identität, Selbstgefühl gelistet wird.3) Bei Platon findet sich im Zuge der Definition der Seele ein erster semantischgrammatikalischer ›Selbst‹-Bezug, wenn er die Seele als »das Sich-selbst-Bewegende« vorstellt (τὸ αὑτὸ κινοῦν4). Betrachtete man damit Platons Seelenbegriff im Sinne eines Selbstbegriffs, dann wäre offensichtlich, daß das entscheidende Merkmal des ›Selbst‹ die Bewegung wäre, die aus sich selbst her kommt, um sich selbst zu bewegen. ›Selbst‹ wäre damit immer das Sich-selbst-Bewegende. Aristoteles hingegen geht zunächst vom Organismus als Ganzem aus, ein Begriff, der mit Kants Begriff des »organisierten Wesen« in gewisser Weise zusammenstimmt; dabei sei die Seele vom Körper so wenig trennbar wie bei einer Wachsfigur die Figur vom Wachs trennbar ist. Die Seele ist dann – allgemein gesagt – einfach das, was einen Organismus (einen lebenden Körper) zu dem macht, was er ist5 – was den Organismus als diesen individuellen Organismus zusammenhält. (Warum das so sei, wird mit diesem Seelenbegriff nicht geklärt, die Frage stellt sich Aristoteles auch nicht.) Konkreter gesprochen, begreift Aristoteles die Seele als einen Aspekt der Physik, also der ›Natur‹; sie sei folglich die formende Ursache (causa formalis) des Lebens, praktisch die jeweilige Form des Lebendigen.6 Pflanzen, Tieren, Menschen sei damit jeweils in unterschiedlichen Ausprägungen eine Seele eigen. Aristoteles: Seele sei »die erste Vollendung eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat, und zwar von der Art, wie es der organische ist« 7. Das Wesen der Seele ist somit die Entelechie des Körpers, dessen Vollendung. Darüberhinaus nennt Aristoteles Seele »dieses (Prinzip), wodurch wir primär leben, wahrnehmen und denken«8. In der Moderne könnte man aus aristotelischer Sicht und in aristotelisierender Absicht ›Gen-Codes‹ als wichtigen Teil der Seele betrachten – ›Codes‹, die ein Lebewesen, dessen Teil sie sind, so oder so mit in Form bringen, wie mit einer gestaltenden Hand; wobei die gestaltende Hand auch auf umweltliche Resonanzen und Rückkopplungen reagiert. Es ist Aristoteles, der die Seele zuerst auch mit einer Hand vergleicht.9 Jedenfalls besitze die Seele drei Teile oder Vermögen: den vegetativen Teil (psyche threptike), den sensitiven (empfindenden, wahrnehmenden und bewegenden) (psyche aisthetike) sowie den intellektuellen, denkenden, auf die Vernunft bezogenen Teil (psyche noetike), die nacheinander bei Pflanze, Tier und Mensch erscheinen und auftreten, wobei die vorhergehenden Stufen in der folgenden als 3 | Gordon W. Allport: The Ego in Contemporary Psychology, in: Psychological Review, Band 50, Nummer 5, September 1943, S. 451-478. – Den antiken Begriff und die Bewertung des Begriffs des Einzelnen, des Idioten ( ἰδιοτῆσ), lasse ich hier außen vor, siehe hierzu Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung, Frankfurt a.M. 1986, S. 18. 4 | Platon: Phaidros, in: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden, a.a.O., Band VI: Phaidros. Theaitetos, Frankfurt a.M. 1991, S. 245c. 5 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., Buch II, Kap. 4, S. 415b 12-14 (S. 37). 6 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., Buch II, S. 412a-b (S. 28f.). 7 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., Buch II, Kap. 1, S. 412a 28ff. (S. 29). 8 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., Buch II, S. 414a (S. 33). 9 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., Buch III, Kap. 8, S. 432a (S. 81).

Kapitel II.2

mitenthalten gedacht sind. Dabei sei der tätig-vernünftige Geist im Gegensatz zu den anderen Seelenteilen nicht an den Leib gebunden und damit unsterblich. (Da aber das Denken nur aus der Verbindung mit der Empfindung entstehe, sei der Geist nach dem Tod kein individueller Geist mehr und habe keine Erinnerung an sein früheres Leben.) Wichtig jedoch ist hier vor allem, daß schon Aristoteles die körperliche Erscheinungsweise der Seelenteile akzentuiert – auch des denkend-vernünftigen Teils. Für Aristoteles zeigt sich im übrigen die Selbstliebe in der Liebe zum vernünftigen Teil, der das »eigentliche Selbst des Menschen ausmacht«10 – anders formuliert: »unser eigentliches Selbst« seien »Vernunft« (Logos) und »Denkvermögen«11 (Dianoia). Darüberhinaus zeigen auch jene antiken philosophischen Zusammenhänge, in denen das Denken über sich selbst angestoßen und ausformuliert wird, die konzentrierte Verbindung der grammatisch-reflexiv verstandenen Selbstbezüglichkeit mit der moralisch-ethischen Frage nach dem ganzen Menschen: Die Begriffe Sorge für sich selbst, die Erhaltung seiner selbst, die Zuneigung zu sich selbst, die Beherrschung seiner selbst und die Erkenntnis seiner selbst (Gnōthi seautón) zeigen dies deutlich: In der Selbstbezüglichkeit erscheint die Ur-Form der nach Thales schwierigsten aller Fragen, der Frage Wer bin ich? und aller daran geknüpften weiteren Fragen: Wo bin ich? Was bin ich? Warum bin ich? In welcher Zeit bin ich? Wie bin ich? und – immunologische Frage – Wie erhalte ich mein Leben? Bei der platonisch-alkibiadesschen Frage nach dem Selbst, nach der οὐσία ἡμῶν, von Proklos12 bis Marsilio Ficino kommentiert, zeigt sich so zum ersten Mal auf einer argumentativ-elaborierten Argumentationsebene, nach inhaltlichen Vorläufern in Epik und Lyrik, auf welche Weise der reflexiv gewordene Mensch sich selbst zum Problem, zu einer Gleichung mit Unbekannten werden konnte, die zu lösen auch der tragische Chor, mit Sophokles’ ›König Ödipus‹ an herausragender Stelle, sich vorgenommen hatte. Die Stoa konzentrierte sich dabei in ihrem Selbstdiskurs auf vier Selbsttechniken: den Brief, die Selbsterforschung, die Askesis und die Traumdeutung.13 Unter einer stoaphilosophischen Perspektive könnte man mit dieser Arbeit eine weitere, eigentlich ursprünglichere Selbsttechnik hinzufügen, die Technik des Sich-einrichtens – und zwar in einem alltäglichen, in einem immunologischen und in einem raumselbsttheoretischen Sinne. Der Mensch ist das Tier, das sich einrichtet, buch10 | Aristoteles: Nikomachische Ethik, aus dem Altgriechischen von Eugen Rolfes, Hamburg 4 1994, S. 1168b33-1169a1. 11 | Aristoteles: Protreptikos. Fragment 6, zitiert nach: Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Klassische Periode II. 4. Jahrhundert v. Chr., hg. von Herwig Görgemanns, Stuttgart 1987, S. 288f. 12 | Proklos: Sur le premier Alcibiade de Platon, Tome 1, Texte établi et traduit par A. Ph. Segonds, Paris 1985, S. 9, Zeile 18 (S. 7): » ἡ θεωρία τῆς οὐσίας ἡμῶν «, sowie S. 10, Zeile 18 (S. 8): »τὸ γνῶναι τὴν οὐσίαν ἡμων «. 13 | Michel Foucault hat hierzu ausführliche Überlegungen angestellt, siehe M. F.: Technologien des Selbst, Kapitel I bis IV, in: M. F.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980-1988, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Mitarbeit: Jaques Langrange, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 2005, S. 984ff.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

stäblich in einer Wohnung, übertragen in der sozialen Gemeinschaft, in der er lebt, und existentiell-übertragen in dem Leben, das er führt. Die heutige, bei sich als avanciert wahrnehmenden Städtern verbreitete Fitneß-, Sport-, Yoga- und Meditationskultur, in Klammern sei dies gesagt, ließe sich auch als Ausdruck eines neuen Stoizismus beschreiben. Denn wenn es vielen Zeitgenossen ohnehin illusorisch erscheinen mag, noch irgendetwas am gesellschaftlichen Leben verändern zu können, wenn man in politicis sich machtlos wähnt, wenn die Sorge um das Gemeinwohl scheinbar ohnehin keine Früchte mehr zu zeitigen verspricht, dann ist die innere Loslösung von der polis nur mehr eine Frage der Zeit, und die übrigbleibende Sorge wird allein der Sorge um sich selbst gelten. Eine Sorge um sich, die sich auf das körperliche Design und auf die geistige Tagesfrische bezieht, kaum jedoch auf die Ausbildung eines historisch tief gebildeten Selbst; die historische Bildung des modernen westlichen Menschen bezieht sich auf die touristisch flache Nach-Eroberung der Erdkugel, aus History wird Histoury – der Globetrotter ist der Mensch der Stunde, homo intimus wird zum homo externus, das moderne Pilgern ist der Kreisflug um die Erde, die Flughäfen sind die Poststationen der Moderne. Wenn davon abgesehen in der Antike der Freund als ein »anderes Selbst« verstanden wird (ἄλλος αὐτός14), so läßt sich dieses Konzept jenseits seiner zeitgenössischen Interpretationen und Verständnisse auch in das modern-sphärologische Konzept der intimen Dyade, der zwei-einigen Blase, integrieren und entsprechend interpretieren. Aus Sicht der hier unternommenen ›Innenraum = Selbst‹-Ableitung würde man sagen: der Freund sei, insofern er Teil meines intim-sozialen Innenraums wird, eben ein Teil von mir, ein Teil meines Selbst. Jenseits der in dem antiken Gedanken ›Freund = das andere Selbst‹ mitgedachten Ähnlichkeiten und Vertraulichkeiten zwischen den Freunden hinsichtlich Lebensführung, Weltanschauung und Charakter etc. wäre das entscheidende Moment – daß der Freund nicht nur das andere Selbst ist, sondern tatsächlich ein Teil meines Selbst. Man erinnere sich hier auch an die Redewendung ›altes Haus‹, die als Anrede für einen langjährigen Bekannten oder Freund gilt.15 Der Freund als das ›andere Selbst‹ ist eben auch ein Haus bzw. das alte Haus, in dem ich auch lebe – schon seit vielen Jahren. Vielleicht habe ich ein eigenes wirkliches Haus, in dem ich ansonsten lebe und das mir ein Selbsterleben ermöglicht; gehe ich aber aus und treffe meinen Freund, dann begegne ich gewissermaßen meinem anderen Haus, dem Zweithaus, und es kann nicht verwundern, daß ich meinen Freund als ›altes Haus‹ bezeichne – in ihm lebe ich schon lange, dieses ›alte Haus‹ ist mein ›anderes Selbst‹; so gesehen verkörpert auch der Freund das Prinzip mobile home. Mit einem Freund zu verreisen heißt, in der Fremde immer auch zuhause zu sein. In der Gnosis wie im hellenistischen Schrifttum findet sich darüberhinaus die ethische Aufforderung einer ›Wendung nach innen‹. Auch wenn mit dieser metaphorischen Verwendung allein noch nicht zureichend klar sein dürfte, was unter ›innen‹ zu verstehen sein könnte, so steht doch fest, daß ›innen‹ nur verständlich sein kann bei einem gleichzeitigen Verständnis für ›außen‹. Die Hinwendung nach 14 | Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. von Immanuel Bekker, Berlin 1881, Buch IX, Kapitel 4, S. 1166a32. Vgl. auch Aristoteles: Ethica Eudemia, hg. von Richard Rudolf Walzer und Jean M. Mingay, Oxford 1991, S. 1245a30. 15 | Auch Bollnow weist darauf hin: Mensch und Raum, a.a.O., S. 240.

Kapitel II.2

innen, das Auffinden des ›wahren Selbst‹ im Inneren, bedeutet damit automatisch auch eine Bewegung hin in einen bislang nicht besuchten Raum: und insofern er nicht besucht ist, folgt daraus, daß dieser Innenraum eigentlich ein paradoxer Außenraum ist – und mein Inneres für mich eine terra incognita und damit eben eine Art Außenraum darstellt, der aber mein wahrer Innenraum sein soll: Ich komme nur dann zu mir, wenn ich nach innen gehe, und die Wahrnehmung des Inneren, des Innenraums, wäre dann die Wahrnehmung meines wahren Selbst. Ohne die Hinwendung nach innen, heißt das im Umkehrschluß, bin ich immer noch draußen, nicht bei mir, sondern unter den Dingen.16 Genau dieser Gedanke jedoch ließe sich mit Brentano so nicht denken: man kann nicht ausschließlich bei sich sein – und gleichzeitig fern von den Dingen. Mit Brentano müßte man vielmehr sagen: Es ist unmöglich, von den Dingen weg zu mir in ein dingfreies Innen zu kommen, vielmehr ist es nur möglich, bei den Dingen zu sein und damit zugleich bei mir. Auch Plotin bezeichnet die Seele (Psyche), die sich bei der Wende nach innen zeige, als Selbst – Psyche autos (esti)17. Bei verwandten neuplatonischen Autoren bleibt die Frage umstritten, ob die ganze, dreigegliederte Seele – die sich aus Vernunft, Mut und Begierde zusammensetzt – das Selbst ausmache (so Proklos), oder nur ihr rationaler, vernünftiger Teil (so Damaskios). Augustinus spricht von der Umkehr als conversio ins Innere, ins Gedächtnis: Ibi mihi et ipse occurro (Dort begegne ich auch mir selbst)18. Dabei bezeichnet er dieses Selbst auch als den »inneren Menschen« (homo interior 19). So zeigen sich sowohl im Neuplatonismus wie auch bei Augustinus das Selbst jeweils verknüpft mit einer inneren Sphäre, die als immateriell gedacht wird, in Abgrenzung von der materiell-körperlichen Sphäre des alltäglichen Draußen.

Das Selbst im asiatischen Raum und die Reflexivitätsthese. Allgemeiner Hinweis Die Frage nach dem ›Selbst‹ zählt zu den hervorragenden Themen des anthropologischen Denkens Asiens, in den Upanishaden (Atman), im Advaita-(Nichtzweiheit-) Vedanta, im indischen Buddhismus, im chinesischen Chan-Buddhismus, bei Tschuang Tse und Laotse und im japanischen Zen-Buddhismus, um nur wenige prominente Denkrichtungen zu nennen.20 Der wissenschaftliche Austausch zwischen indisch orientierten Denkschulen vor allem buddhistischer und hinduistischer Herkunft und abendländisch gepräg16 | Vgl. Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Erster Teil: Die mythologische Gnosis, Göttingen 1988, S. 145 und S. 238. 17 | Plotin: Enneaden IV, 7 (2), 1; IV, 3 (27), 5; II, 3 (52), 9; III, 3 (48), 4. – Zu Plotin und seinem Begriff des Selbstbewußtseins und seiner geistphilosophischen Kongruenz mit Hegel, Fichte, Schelling siehe Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004. 18 | Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., Zehntes Buch, Kapitel 8, 14 (S. 506). 19 | Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., Zehntes Buch, Kapitel 6, 9 (S. 500). 20 | Literatur dazu: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O. – Troy Wilson Organ: Philosophy and the Self: East and West, Selinsgrove 1986. – Anthony J. Marsella, George DeVos und Francis L. K. Hsu (Hg.): Culture and Self: Asian and Western Perspectives, New York 1985.

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ten Philosophien hat sich dabei in den letzten Jahren fortgesetzt, insbesondere mit Rücksicht auf die Themen Selbst, Selbstsinn und Reflexivität. Dabei spitzt sich die Diskussion auf die Frage zu, ob die Reflexivitätsthese ein Selbst mit einschließe. Diese Reflexivitätsthese besagt, daß der Mensch, indem er bei Bewußtsein ist, sich in einer Form immer auch seiner selbst bewußt sei (also selbstbewußt sei). Die These setzt demnach voraus, daß Bewußtsein notwendigerweise immer reflexiv ist bzw. das ist, was man auch »mit sich selbstvertraut sein« (self-intimating21) nennen kann. Bewußt sein hieße demnach »›in Berührung‹« mit dem Selbst sein, hieße auch, das Objekt automatisch in die Nähe zum Selbst bringen – Selbst verstanden als das, was als »›innerhalb‹« (»›within‹«22) wahrgenommen werde. Die Reflexivitätsthese, mit ihrer Bejahung der Interiorität, der Innerlichkeit auch im Sinn von Subjektivität, unterstellt also einen Raum für ein reichhaltiges ›inneres‹ Leben.23 Die Pointe hier wäre, daß selbst dann, wenn man ein Selbst ablehnt (oder nicht ausreichend Beweise für seine Existenz erbringen kann), man doch eine ›innere‹ Dimension für die menschliche Existenz sichern kann.

Upanishaden, das Atman und das körperliche Selbst Was nun die Upanishaden berührt, so ist zum Begriff ›Atman‹ als Atem, Selbst, Seele hier vor allem der damit verknüpfte unmittelbare Bezug zum Körperlichen herauszustreichen. Das Atman-Selbst erscheint als körperliches Phänomen. Die Körperlichkeit des Selbst wird darüberhinaus dadurch unterstrichen, als das Auge als »›Fuß‹« des Selbst bezeichnet wird – »denn mit Hilfe des Auges wandelt dieses Selbst […] einher«24. Insgesamt gehören Atem, Auge, Ohr, Rede, Verstand, Ich zu den Merkmalen des Selbst, je nachdem, was der Mensch tue – das Selbst sei immer »bis in die Nagelspitzen eingegangen«25. Gleichwohl hebt sich dieses ›Selbst‹ von all dem ab, was den Menschen nur zufällig und äußerlich ausmacht, was willkürlich und zufällig ist und wieder abgelegt werden kann und im Orkus der Zeit verschwindet. Das so verstandene Selbst ist damit letztlich nicht eingebettet in die unmittelbare Umwelt, sondern in den Urgrund alles Seins, in das Brahman. Man kann sagen, das Brahman ist der Raum an sich, der unendliche ›Raum‹, von dem sich einzelne Räume, umgrenzte, endliche Räume, eben unterschiedliche ›Selbste‹ abgrenzen. Selbstwahrnehmung (im Sinne von Sich-selbst-gewahr-sein) erscheint dabei in zwei Formen, im Konzept ahamkara, welches den Sinn zum Ausdruck bringt, daß man sich selbst als das Wesen wahrnehme, das über die Zeiten hinweg fortdauere, und im Konzept svasamvedana, das die unmittelbare Vertrautheit mit dem Bewußtseinsinhalt als auch mit den phänomenalen Zuständen bezeichnet.

21 | Siehe Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 1. 22 | Siehe Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 1. 23 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 14. Vgl. auch S. 9. 24 | Upanishaden: Shatapatha-Brâhmana: Brahman, in: Upanishaden. Die Geheimlehre der Inder, übertragen von Alfred Hillebrandt, (1977), München 1998, S. 36. 25 | Upanishaden: Brihard-Âranyaka-Upanishad: Gedanken über die Entstehung der Schöpfung aus dem Âtman, in: Upanishaden, a.a.O., S. 54, siehe auch S. 57.

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Buddhismus und die Spielarten des Nichtselbst (und ein Blick nach China) Insofern dabei der Buddhismus alles im Werden und Vergehen begriffen sein läßt, ist für ihn schon von daher der Begriff eines substantiellen ›Selbst‹ sinnlos. Ohne hier in die komplexe Vielgestaltigkeit der buddhistischen Selbst-Lehren eingehen zu können, läßt sich soviel in allgemeiner Absicht antippen: Auch wenn der Buddhismus in der Regel das Nichtselbst lehrt, finden sich gleichwohl unter seinem Namen auch unterschiedliche Lehren, die einen Selbstbegriff andeuten. Etwa die Lehre eines deflationistischen oder minimalen Selbst (in der Madhyamika-Schule26), eines Selbst von erlebender und praktischer Realität, das freilich nicht vergegenständlicht werden darf. Auch der tibetanische Buddhismus kennt ein minimales Selbst im Sinne eines ›bloßen Ich‹ oder ›bloßen Selbst‹ (›nga tsam‹).27 Im übrigen dürfte die Lehre vom Nichtselbst, so die Einschätzung von Peter Sloterdijk hierzu, vor allem »aversiven Sinn« haben: Selbst wenn es so etwas wie Selbst und Seele gäbe, gehörten diese »zu den auflösbaren Größen – womit uns die Sache von vorneherein verleidet sein sollte«28. Im übrigen werde, so Sloterdijk an einer anderen Stelle, nicht nur »das große Selbst der Welt« und »das kleine IchSelbst« als identisch gelehrt, sondern auch das »Welt-Nicht-Selbst« und das »private Nicht-Selbst«29. Auch das Alte China kennt vor allem zwei Begriffe des Selbst – das Größere Selbst (ta wo) und das Kleinere Selbst (hsia wo). Das Größere Selbst umschreibt das Bemühen jedes Menschen, sich der Gesellschaft respektive der Menschheit zuzuordnen. Das Kleinere Selbst umreißt das einzelne Streben in bezug auf die unmittelbaren Interaktionspartner.30 So schildert das konfuzianische Denken das ›Selbst‹ als die Mitte aller Beziehungen. Es ist eingewirbelt in einen dynamischen interdepenten Rundumprozeß der geistigen Entwicklung und Entfaltung.31 Im Hinblick darauf, daß auf dem psychologischen Feld gerade die Mutter als Teil des eigenen Selbst angesehen wird, konnten neurowissenschaftliche Studien unter der Federführung von Georg Northoff auf der Ebene der bildgebenden Verfahren den Befund erbringen, daß »die auf die Mutter bezogenen Wörter ähnlich starke Aktivierungen in den Regionen [des Gehirns, M.M.] auslösten wie direkt ich-bezogene«; aus der Tatsache, daß dies bei westlichen Probanden nicht der Fall war, sowie aus ähnlichen Befunden in weiteren Vergleichsstudien konnte der vorsichtige Schluß gezogen werden, daß »sich die unterschiedlichen kulturellen Konzep26 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self: Buddhist and Enactivist Approaches to the Emergence of the Self, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 239-273, hier S. 257. 27 | Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 257f. 28 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 366. 29 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 443. 30 | Francis L. K. Hsu: The Self in Cross-Cultural Perspective, in: Marsella, DeVos und Hsu (Hg.): Culture and Self, a.a.O., S. 24-35. 31 | Vgl. Wei-Ming Tu: Selfhood and Otherness in Confucian Thought, in: Marsella, DeVos und Hsu (Hg.): Culture and Self, a.a.O., S. 231-251, sowie Godwin Chien Chu: The Changing Concept of Self in Contemporary China, in: Marsella, DeVos und Hsu (Hg.): Culture and Self, a.a.O., S. 252-278.

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te des Selbst […] möglicherweise auch auf neuronaler Ebene widerspiegeln bzw. manifestieren«32 .

Moderne westliche Interpretationen östlicher Selbstbegriffe Es folgen nun skizzenhafte Kommentare zu zeitgenössischen westlichen Positionen, die sich mit östlichen Fragen nach dem Selbst auseinandersetzen.

Joel Krueger und die Kritik am ›minimalen Selbst‹ und der ›Innerlichkeit‹ Joel Krueger beantwortet seine Ausgangsfrage, ob Bewußtsein ein Selbst erforderlich mache, mit nein.33 1. Er argumentiert demnach für eine Nichtselbsttheorie, akzeptiert allerdings die Reflexivitätsthese.34 Von einem gefühlten ›Wie‹-etwas-mir-erscheint lasse sich kein Rückschluß auf ein dauerndes ›Wer‹ ziehen. 2. Und er argumentiert gegen Dan Zahavis egologischen Blick und dessen Begriff eines ›egologischen minimalen Selbst‹. (Zahavi versteht darunter freilich im wesentlichen einfach subjektives Erleben, die Erste-Person-Perspektive, ein Punkt, den Krueger übersieht.) 3. Auch argumentiert er gegen das Konzept des narrativen Selbst. Das ›narrative Selbst‹ könne zwar sagen, wer jemand sei (seinen Charakter zeichnen), aber nicht sagen, wie die Identität zustande komme. Drei Merkmale also habe das von ihm angegriffene minimale Selbst: erstens das Wie-etwas-mir-erscheint, zweitens das Gefühl einer Innerlichkeit (interiority); drittens sei das minimale Selbst ein invariantes strukturelles Feature des Bewußtseins, oder letzteres umgekehrt formuliert: jedes bewußte Erleben sei stets auch das Erleben eines minimalen Selbst.35 Krueger übersieht zunächst, daß der dritte Punkt im ersten mitenthalten ist, denn Zahavi versteht wie angemerkt unter dem minimalen Selbst im wesentlichen das ›Wie‹-etwas-mir-erscheint, also subjektives Erleben; das heißt, wenn Zahavi ein minimales Selbst verteidigt, dann verteidigt er subjektives Erleben – für subjektives Erleben wählt er eben den Begriff ›minimales Selbst‹. Das Phänomen des subjektiven Erlebens ließe sich auch ohne den Begriff ›minimales Selbst‹ beschreiben bzw. in anderer Form umschreiben. Was die Rede der ›Innerlichkeit‹ (›interiority‹) berührt, so halte ich diese allerdings ebenso für problematisch oder zumindest doch für kommentierenswürdig: Was mit ›Innerlichkeit‹ hier bei Krueger und Zahavi gemeint sein dürfte, ist der sogenannte privilegierte Zugang zu meinen Gefühlen und Gedanken: ich habe Zahnschmerzen und fühle und weiß ebendas; wohingegen ein Außenstehender dieses nicht fühlen kann, er kann höchstens aufgrund meines Verhaltens darauf schließen; oder, weiteres Beispiel: ich denke mir auf einer Zugfahrt phantastische 32 | Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 199. – Northoff bezeichnet diesen Forschungszweig als »transkulturelle Neurowissenschaft« (S. 232). 33 | Vgl. Joel W. Krueger: The Who and the How of Experience, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 27-55, hier S. 27. 34 | Vgl. Joel W. Krueger: The Who and the How of Experience, a.a.O., S. 27, auch S. 9. 35 | Vgl. Joel W. Krueger: The Who and the How of Experience, a.a.O., S. 28f.

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Abenteuer aus, von denen meine Sitznachbarn nicht einmal den blassesten Schimmer erahnen können etc. Ich habe also direkten Zugang zu meinen phänomenalen Gefühlen und phänomenalen Gedanken. Doch erlebe ich meine Gedanken oder Gefühle wirklich zunächst als ›innere‹ Gedanken oder ›innere‹ Gefühle? Das kommt sicherlich darauf an, was ich unter ›inneren‹ Gedanken und Gefühlen verstehe. Aus einer Außenperspektive, die ich selbst auf mich einnehmen kann, ›befinden sich‹ meine Gedanken natürlich ›in‹ meinem Kopf bzw. sind Teil meiner privaten Phantasie; aber so erlebe ich sie in der Regel nicht, sondern ich denke einfach oder ich habe einfach die Gefühle, die ich im Augenblick nun einmal habe, ich denke nicht gleichzeitig, daß diese ›innen‹ seien, ich denke also nicht, daß meine Zahnschmerzen jetzt ›innen‹ seien (wie sollten sie auch ›außerhalb‹ meiner selbst sein können?), sondern ich habe einfach Zahnschmerzen. Wenn aber mit ›innen‹ hier einfach der privilegierte Zugang zu meinen Schmerzen etc. gemeint sein sollte, dann müßte man hinzufügen, daß die Kategorie ›privilegierter Zugang‹ lediglich eine analytische Kategorie ist, die nur für diesen Bereich der Analyse und Beschreibung sinnvoll ist; denn auch hier denke ich ja nicht: ›ich habe gerade privilegierten Zugang zu meinen Zahnschmerzen‹, sondern ich habe einfach Zahnschmerzen – und die Frage, ob ich hier privilegiert bin oder nicht, ist mir ziemlich gleichgültig, ich möchte nur, daß die Schmerzen möglichst bald verschwinden. Dabei erleben Menschen im Alltag ›innen‹ zunächst und in der Regel immer buchstäblich räumlich, das heißt innenräumlich, etwa im Sinn von ›ich bin hier in meinem Arbeitszimmer, das Arbeitszimmer ist mein Innenraum, es ist kein Außenraum, der Außenraum beginnt in meinem alltäglichen phänomenalen Erleben erst jenseits der Fenster‹ etc. In einem konkreten physischen Sinn läßt sich innen und außen freilich durchaus sinnvoll auf den einzelnen konkreten Menschen anwenden, etwa wenn ich ein gewisses Rumoren oder schmerzhaftes Stechen in meinem Bauch wahrnehme, und diese Wahrnehmung ergibt Sinn unter anderem in seiner logischen Absetzung vom Bereich außerhalb des Bauches (meines Körpers). Freilich könnte das erwähnte Rumoren in meinem Bauch auch ein anderer Mensch, der neben mir steht, hören, der dadurch also von einem Rumoren in meinem Bauch erfährt und von ihm weiß – in diesem Fall handelte es sich bei dieser meiner Wahrnehmung zwar um eine subjektive, jedoch nicht allein um eine des privilegierten Zugangs, weil eben auch andere zumindest den hörbaren Teil ebenso wie ich ihrerseits wahrnehmen können. Darüberhinaus – und dieser Punkt wird wichtig für meine Erläuterung des ›Innenraums‹ im III. Hauptteil – ergibt die Redeweise von innen und außen auch im Zusammenhang des impliziten Wahrnehmens Sinn. Dazu bereits hier soviel: Ein mir angenehmes Gefühl, ein mir angenehmer Gedanke empfinde ich implizit als innen; hingegen ein unangenehmes Gefühl als außen. Habe ich Zahnschmerzen, so empfinde ich diese Schmerzen in gewisser Weise als ›nicht zu mir gehörig‹, obwohl sie in einer anatomischen Perspektive im Mundhöhlenraum angesiedelt sind; im Gegenteil, ich empfinde sie in der Regel als etwas ›äußeres‹, das allerdings jetzt zu meinem Leidwesen Teil von mir und meinem Erleben ist, und wünsche, daß sie schnellstmöglich aufhören. Fazit zu Joel Krueger: Kruegers Theorie des Nichtselbst bzw. seine Theorie der Reflexivität, die ohne Selbstbegriff auskommen möchte, bleibt problematisch, als

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

sie nicht zureichend klärt, was es heißt, wenn etwas ›mir‹ auf eine bestimmte Weise erscheint: wie muß man sich das, was sich mit diesem ›mir‹ verbindet, genau vorstellen? Wenn sich hinter dem ›mir‹ niemand verbirgt, also kein Wer auszumachen ist, auf was bezieht sich das ›mir‹ dann? Darüberhinaus konnte die Redeweise von der ›Innerlichkeit‹ (›interiority‹) zumindest problematisiert werden. Wenn Innerlichkeit einfach das subjektive Erleben meint, so versuchte ich plausibel zu machen, daß nicht jedes subjektive Erleben als innerlich im Sinne von angenehm und förderlich interpretiert werden kann, Zahnschmerzen etwa werden von den meisten Menschen als ein Phänomen erlebt, von dem man sich wünscht, es möge verschwinden: es ist also so, als ob etwas äußerliches (unangenehmes) Teil des Innenraums ist (der aber dadurch nicht mehr als angenehm erlebt wird und sich damit in einen Außenraum verwandelt).

Miri Albahari und das reflexive Nichtselbst Miri Albahari vertritt eine advaita-vedantische Nichtselbsttheorie, unterstützt die Reflexivitätsthese und ist gegen jede Form der Bündeltheorie des Nichtselbst.36 Das »Herz der Selbstillusion« liege, meint Albahari, in der personalen Identität, welche eine Art Grenze um die (reale) einheitliche Perspektive plaziere, dadurch entstehe das, was Albahari einen ›personalen Besitzer‹ nennt.37 Diese Grenze sei es, die im Fokus der buddhistischen Übungen stehe, die darauf zielten, den Selbstsinn zu eliminieren.38 Diese Grenze teile das Erleben also einerseits in das Wer-ichbin und andererseits in das Was-ich-nicht-bin.39 Wenn es dabei gelinge, den ja ohnehin illusionären Selbstsinn zu eliminieren, dann bleibe ein einheitlich-perspektivisches Beobachtungs- oder Zeugenbewußtsein zurück (ein »unified perspectivical ›witness-consciousness‹«40). Dieses Beobachtungsbewußtsein habe eine »rein beobachtende Komponente« und sei »›nichts als das Sehen selbst‹«41. Albaharis Aussage lautet also: Der Selbstsinn sei eine Illusion, das Beobachtungsbewußtsein hingegen real. Für diese Arbeit wichtig ist Albaharis These hinsichtlich der ›Grenze‹, welche die personale Identität um die einheitliche Perspektive lege, wodurch erst der Selbstsinn entstehe. Albaharis These in meine These übersetzt, ließe sich folglich sagen, daß der personale Identifizierungsprozeß auf der phänomenalen Ebene von den erlebten Raumgrenzen ausgeht, so daß der personale Innenraum oder das personale Ich jeweils mit den Innenräumen in eins fällt. Fallen die Raumgrenzen weg oder lösen sie sich auf, dann entsteht eine Art Orientierungslosigkeit und IchLosigkeit; diese Orientierungslosigkeit oder Ich-Losigkeit würde ich jedoch noch nicht als »das Sehen selbst« bezeichnen, wie Albahari, denn selbst dieses »Sehen selbst« findet ja in einem ganz individuellen, einmaligen, endlichen, konkret situierten Menschen statt und kann schon von da her niemals das »Sehen selbst« sein. 36 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 17f. 37 | Vgl. Miri Albahari: Nirvana and Ownerless Consciousness, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 79-113, hier S. 81f. 38 | Vgl. Miri Albahari: Nirvana and Ownerless Consciousness, a.a.O., S. 82. 39 | Vgl. Miri Albahari: Nirvana and Ownerless Consciousness, a.a.O., S. 82. 40 | Vgl. Miri Albahari: Nirvana and Ownerless Consciousness, a.a.O., S. 82. 41 | Vgl. Miri Albahari: Nirvana and Ownerless Consciousness, a.a.O., S. 83. Übersetzung M.M. Original: »›nothing but seeing itself‹«.

Kapitel II.2

Gemäß der ›Selbst‹-Definition, in Albaharis Buch ›Analytical Buddhism‹42 präsentiert, sei ein Selbst ein umgrenztes, Glück-suchendes und Dukha-vermeidendes (beobachtendes) Subjekt.43 Für diese Arbeit wichtig ist damit wie gesagt Albaharis Betonung der ›Grenze‹, welche erst eine einheitliche Perspektive hervorbringe und damit auch einen Selbstsinn möglich mache, also das Wissen darüber, was Teil von mir ist, und was nicht Teil von mir ist.

Georges Dreyfus und das minimale Ich Georges Dreyfus argumentiert für einen Begriff des »minimalen Ichs«44 (im Sinn des subjektiven Erlebens). Er nimmt dafür eine buddhistische Perspektive ein und verteidigt die These, daß Bewußtsein reflexiv, aber besitzerlos (ownerless) sei. Es gebe demnach Subjektivität (das minimale Ich), aber kein Subjekt. (Wie oben gesagt, betont auch Dreyfus, 42 | Miri Albahari: Analytical Buddhism. The Two-Tiered Illusion of Self, New York 2006, S. 73. 43 | Miri Albahari: Analytical Buddhism, a.a.O., S. 73. – Auch Georges Dreyfus geht in seinem Aufsatz über ›Selbst und Subjektivität‹ auf Albaharis Position zum Begriff des Selbst und der Grenze ein (siehe G. D.: Self and Subjectivity: A Middle Way Approach, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi [Hg.]: Self, No Self?, a.a.O., S. 114-156, hier S. 129). – Sein Referat von S. 73 in Albaharis ›Analytical Buddhism‹ ist recht frei und liest in Albaharis Text mehr hinein als dasteht, trifft gleichwohl den Punkt, weshalb sich ein Blick auf das Referat lohnt (in meinen paraphrasierenden Worten): Das Selbst entstehe, insofern sich das Subjekt als der personale Besitzer eines bestimmten Aspektes des Körper-Geist-Komplexes identifiziere. Albahari lege dabei den Fokus auf das Sich-gesund-fühlen. Der Körper werde gewissermaßen zu einer reflexiven Linse, durch welche das Subjekt sich selbst sehe. Indem das Subjekt sich mit dem Anblick identifiziere, rufe diese filternde Linse einen Sinn der Begrenztheit oder der Umgrenzung hervor. Mit diesem Umgrenztheitserleben sei damit zugleich eine Grenze zwischen dem, was ich mit mir identifiziere (Selbst), und dem Rest (Nichtselbst) hervorgerufen. Diese Trennung zwischen Ich und dem Rest der Welt werde mit extrem mächtigen Emotionen aufgeladen, ich werde zu dem, der wichtiger sei als alles andere. Dreyfus’ Referat lautet im Original wie folgt: »The self arises out of an identification of the subject as being the personal owner of a particular aspect of the body-mind-complex. In our example of feeling healthy, it is the body that provides a reflexive lens through which the subject is seen. By identifying the subject in this way, this filter creates a sense of boundedness. I am not just a subject witnessing the health of the body, I am defined and delimited by this healthy body. This sense of boundedness creates a boundary between what is thus identified and everything else. In this way a fundamental bifurcation is created within my cognitive universe between what is on the side of the self and of the other, that is, everything else. This boundary is in reality quite fluid. At various times I identify with different aspects of the body-mind complex. I may even identify with my favorite sports team. But I am usually not aware of this fluidity, for when I identify with this or that aspect of my personality, I conceive of myself as a self-evident and rigidly delineated entity, firmly separated from the rest of the world. This rigid sense of separation also entails a quality of specialness. The separation that is made between I and the rest of the world is loaded with extremely powerful emotions. I am not just different from the rest of the world but I am first and foremost extremely special, the one and only one who is more important than anything of anybody else.« 44 | Vgl. Georges Dreyfus: Self and Subjectivity, a.a.O., S. 134.

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daß nicht jede buddhistische Theorie die Reflexivitätsthese akzeptiere, wie auch nicht jede indische Position eine Nichtselbsttheorie vertrete.45) Dreyfus argumentiert gegen das ›Zeugenbewußtsein‹ à la Albahari (wobei für ihn ohnehin evident ist, daß es nicht den einen Blick auf das Bewußtsein gebe46). Sein Ziel lautet also, die Nichtselbstposition zu verteidigen und zugleich der gewöhnlichen Subjektivität ihren Platz in der buddhistischen Philosophie zu geben. Meine Kritik daran lautet auch hier (wie oben im Fazit zu Joel Krueger), daß Subjektivität immer eine Form des ›Selbst‹ impliziert (des ›Jemand‹, für den ein Erleben eben so und so erlebt wird). Wer wie Dreyfus Subjektivität verteidigen möchte, ohne ein Subjekt zu konzedieren, müßte wenigstens erläutern, wie konkret es zu verstehen sein soll, daß etwas mir so und so erscheinen könne, ohne daß es ein Subjekt gibt, dem dieses Etwas so und so erscheint. Was also unbedingt notwendig ist, wäre eine Erläuterung des Verhältnisses zwischen ›mir‹ (im Sinne der Subjektivität) und dem ›Niemand‹ (im Sinne des fehlendes Subjekts).

Evan Thompson und das Selbst im Selbstgewahrsein Evan Thompsons Hauptaussagen lauten:47 1. Bewußtsein schließt Selbstgewahrsein (Self-Awareness) ein.48 2. Selbstgewahrsein schließt ein Selbst mit ein. Bewußtsein als intentionales Bewußtsein impliziere dabei immer auch Selbsterleben oder sich selbst gewahr zu sein.49 Hier schließt Thompson, ob er es weiß oder nicht, an Brentano an, den er jedenfalls nicht erwähnt, sowie bewußt an die von ihm beispielhaft erwähnten Husserl und Sartre: Bewußtsein sei immer auch Bewußtsein dieses Bewußtseins. Die Selbstenthüllung (Self-Disclosure), im Sinne von Selbstbewußtsein, sei dabei immer eine präreflexive und intransitive.50 Schließlich begründet Thompson die Reflexivitätsthese und damit das ›Selbst‹ mit Hilfe des Verweises auf die Zeit bzw. auf das Gedächtnis und die Erinnerung. Ein Mensch könne sich nur dann an ein vergangenes Ereignis richtig erinnern, wenn er zu der Zeit, zu der das Ereignis stattfand, nicht nur des Ereignisses gewahr war (falls das möglich sein sollte), sondern zugleich sich als das Ereignis erlebend erlebte. Wenn ich mich also an die Sonnenfinsternis im Jahre 1999 erinnere, dann erinnere ich mich nicht nur an die für sich genommene Sonnenfinsternis, sondern ich erinnere mich vor allem daran, wie ich die Sonnenfinsternis erlebt habe. Aufgrund dieses Gedankens läßt sich demnach auf ein zumindest für die Lebensdauer anhaltendes ›Selbst‹ schließen. Fazit zu Evan Thompson: Beide Aussagen von Evan Thompson begründen sich durch phänomenologische Evidenz. Sie begründen sich jedoch auch durch 45 | Vgl. Georges Dreyfus: Self and Subjectivity, a.a.O., S. 115f. 46 | Vgl. Georges Dreyfus: Self and Subjectivity, a.a.O., S. 115. 47 | Vgl. Evan Thompson: Self-No-Self? Memory and Reflexive Awareness, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 157-175, hier S. 157. 48 | Ähnlich die Yogacara-buddhistische Position von Jonardon Ganeri: Bewußtsein ist präreflexiv reflexiv sich gewahr. Vgl. J. G.: Subjectivity, Selfhood and the Use of the Word ›I‹, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 176-192. 49 | Vgl. Evan Thompson: Self-No-Self?, a.a.O., S. 157f. 50 | Vgl. Evan Thompson: Self-No-Self?, a.a.O., S. 158f.

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logische Evidenz, insofern Bewußtsein immer an den Entstehungsort gebunden ist, an dem es erscheint, und damit niemals losgelöst und unabhängig sein kann: weshalb Bewußtsein folglich, wie schwach auch immer, präreflexives und intransitives Selbstgewahrsein mit einschließt. Schließt es Selbstgewahrsein mit ein, dann schließt es auch eine Form von ›Selbst‹ mit ein, also dasjenige Phänomen, dem etwas erscheint, für welches sich etwas so und so anfühlt. Thompson erkennt im übrigen – und dieser Punkt ist wichtig – keine Notwendigkeit für die Annahme, daß diese Art ›Selbst‹ (oder ›Ich‹ oder ›mir‹) mit irgendeinem Begriff einer fortdauernden Entität korrespondieren müsse, welche vom Fluß der Körper-Geist-Ereignisse getrennt wäre. Anders gesagt: Dieses ›Selbst‹ erscheint lediglich zusammen mit dem Bewußtsein, welches seinerseits im Zuge der Körper-Geist-Prozesse entsteht, und verschwindet mit dem Bewußtsein auch wieder. Dieser Begriff des ›Selbst‹ korrespondiert damit weitgehend mit dem Begriff des ›minimalen Selbst‹ von Dan Zahavi (siehe unten).

Wolfgang Fasching und das Erleben als Selbst im Sinne des Advaita Vedanta Wolfgang Fasching versucht von einer phänomenologischen Warte aus, wie er schreibt, den Selbstbegriff des Advaita Vedanta gegen buddhistische Nichtselbsttheorien zu verteidigen. Insofern buddhistische Aussagen darauf hinauslaufen, daß es kein Selbst gebe, sondern lediglich einen bloßen Fluß substanzloser vorübergehender Phänomene, unterstützt Fasching mit dem Advaita Vedanta die These, daß das Selbst letztlich dasjenige sei, was dem Fluß zugrunde liege.51 Über diesen Selbstbegriff sagt Fasching zunächst, er unterscheide sich radikal von dem, wie wir uns (oder unser Selbst) normalerweise erleben würden, fügt jedoch keine Beschreibung darüber an, wie wir uns denn normalerweise erleben. Doch erläutert er den im Advaita Vedanta und von ihm verteidigten Selbstbegriff wie folgt. Das Selbst habe keine Qualitäten, es könne niemals zum Objekt des Bewußtseins werden, gleichwohl sei es unmittelbar sich selbst enthüllend; es sei auch weder mit dem Körper identisch noch mit dem Geist (insofern geistige Vorgänge, wie etwa explizite Gedanken, introspektiv beobachtet werden können), und weder tue dieses Selbst etwas noch möchte es etwas.52 Wenn der Buddhismus zudem behaupte, daß all die Phänomene (die fünf Empfindungs-Skandhas), die wir erleben, nur vorüberziehen und daß wir diese nicht seien, so stellt Fasching dazu allen Nichtselbsttheoretikern die Gretchenfrage: »Wer ist es, der mit all diesen Phänomenen nicht identisch ist?«53, wer ist es also, der sagen kann: all diese Phänomene bin ich nicht? Dieses ›Wer‹ hält Fasching eben für nichts anderes als das erlebende Bewußtsein, in welchem all die vorübergehenden Phänomene sich manifestieren und welches der Advaita Vedanta als Selbst erachtet. 51 | Vgl. Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹. Phenomenological Reflections on the Indian Notion of Witness-Consciousness, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 193-216, hier S. 194. 52 | Vgl. Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹, a.a.O., S. 194. 53 | Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹, a.a.O., S. 213. Übersetzung M.M. Original: »[…] who is it then that is not identical to all this?«

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Im Gegensatz zum Buddhismus, insistiere der Advaita Vedanta also auf der »Existenz eines beständigen Selbst, das aus nichts als Bewußtsein (›Sehen‹ oder ›Zeuge sein‹)«54 bestehe. Und in eben diesem Sinne des Advaita Vedanta versteht auch Fasching das Selbst als das erlebende Bewußtsein, in dem alle Phänomene vorüberziehen. Selbst, Bewußtsein, Erleben sind damit letztlich das gleiche. Nun sind aber Wolfgang Faschings Ausführungen zum Bewußtseins- und Selbstbegriff hier auch deshalb von Interesse, als er darin eine wichtige (allerdings nicht widerspruchsfreie) repräsentationalistisch-phänomenologische Aussage zum Ort der Innen-Außen-Unterscheidung trifft. Seine Hauptaussage zu diesem Aspekt lautet: Die Innen-Außen-Unterscheidung, und damit die Selbst-NichtselbstUnterscheidung, konstituiere sich innerhalb (within) des Erlebensraums.55 Hierzu scheinen folgende Kommentare und Klarstellungen hilfreich zu sein. Erstens: Wenn Fasching von ›innerhalb des Erlebensraums‹ spricht, so ist die Verwendung des ›innerhalb‹ an dieser Stelle mißverständlich; ›innerhalb‹ wäre diese Unterscheidung höchstens aus einer außenperspektivischen Beschreibung der Innen-Außen-Unterscheidung; denn im Erleben erlebe ich ja nicht, daß die Innen-Außen-Unterscheidung ›innerhalb des Erlebensraums‹ stattfindet, so als gäbe es auch einen erlebbaren Raum außerhalb des Erlebensraums: diesen ›Raum‹ ›außerhalb des Erlebensraums‹ gibt es repräsentationalistisch-phänomenologisch gesprochen notwendigerweise nicht, sondern es gibt ausschließlich mein Erleben, das sich in erlebte Innen- und Außenräume teilt. Zweitens: Daß sich Innenraum (als erlebter) und Außenraum (als erlebter) erst im Bewußtsein, also im phänomenalen Erleben, konstituieren, erscheint plausibel. Die Innen-Außen-Unterscheidung parallelisiert Fasching jedoch mit der Selbst-Nichtselbst-Unterscheidung – und hier scheint Faschings Begrifflichkeit in nichtkonsistentes Fahrwasser zu geraten: Denn als Selbst hatte er doch ausdrücklich jenes Erleben herausgearbeitet, welches unmittelbar gegeben ist und niemals Objekt werden könne (also das phänomenale Bewußtsein). Hier jedoch behauptet er, Nichtselbst und Selbst konstituieren sich ›innerhalb des Erlebensraums‹, also damit ›innerhalb‹ des Selbst – und das ergibt keinen Sinn. Fasching scheint hier nolens volens zwei nichtkongruente Selbstbegriffe zu verwenden: zuerst das Selbst im Sinne des Erlebens, dann das Selbst im Sinne der Innen-Außen-(Selbst-Nichtselbst-)Unterscheidung, ein Selbst also, das sich ›innerhalb des Erlebensraums‹ (also ›innerhalb‹ des Selbst im ersten Sinne) konstituiere. (Ich nenne dieses erlebte Phänomen, das sich ›innerhalb des Erlebensraums‹ durch das Erleben eines konstituierten Innenraums konstituiert, das Selbst bzw. das Raumselbst.) Fasching müßte also erläutern, ob er wirklich zwei Selbstbegriffe darstellen wollte (was ich nicht glaube), oder, falls er das wollte, inwiefern das Verhältnis des ersten Selbstbegriffs zum zweiten Selbstbegriff zu verstehen sei. Angenommen jedoch, er möchte lediglich das ›Erleben selbst‹ als Selbst verstehen (was wahrscheinlich ist), dann würde das auf der logischen Ebene zwingend bedeuten, daß all die erlebten vorüberziehenden Phänomene Teil des ›Nichtselbst‹ sind – was d’accord ginge mit dem indischen Verständnis der Sache, aber minde54 | Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹, a.a.O., S. 213. Übersetzung M.M. Original: »[…] Advaita Vedanta insists on the existence of an abiding self, a self which consists in nothing but consciousness (›seeing‹ or ›witnessing‹) […].« 55 | Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹, a.a.O., S. 211.

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stens die eine Frage aufwerfen würde, wo sich denn dieses ›Nichtselbst‹ befindet: nämlich sicherlich an einem Ort, der sich vom ›Selbst‹ unterscheidet. Doch wenn Fasching nun zum Ort des ›Erlebens selbst‹ schreibt, daß es in keiner »›inneren Sphäre‹«56 stattfinde, so ist diese Aussage schon allein deshalb problematisch, als sie unterschiedliche Beschreibungsebenen zusammenbringt, die nicht zusammengehören: ›das Erleben selbst‹ einerseits und die Ebene der Phänomene (zu denen auch die ›innere Sphäre‹ gehört) andererseits. Auf der Ebene des ›Erlebens selbst‹ gibt es nämlich nicht nur keine ›innere Sphäre‹, sondern auch keine ›äußere Sphäre‹, einfach weil ich das ›Erleben selbst‹ auf der phänomenologischen Ebene nicht erleben kann: ich kann nur den Regen erleben, den Sonnenschein, den Kuß, die Gedanken, die Müdigkeit etc., nicht aber das ›Erleben selbst‹. Das heißt: ich erlebe einfach die Welt bzw. erlebe mich in der Welt – erlebe etwa auch eine ›innere Sphäre‹ oder einen Innenraum, erlebe aber niemals das ›Erleben selbst‹. So gesehen trifft der zitierte Satz – daß das ›Erleben selbst‹ in keiner inneren Sphäre stattfinde – eine Aussage über etwas, was ohnehin unmöglich ist. Die Ebene der vorüberziehenden Phänomene allein ist die Ebene, auf der von inneren und äußeren Sphären sinnvoll zu sprechen ist. Wenn jedoch Fasching das ›Erleben selbst‹ als das Selbst begreift, heißt das wie bemerkt zwingend, daß die vorüberziehenden Phänomene als ›Nichtselbst‹ zu verstehen sind. Das heißt, auch erlebte Innen- oder Außenräume wären vorüberziehende Phänomene, und insofern man den erlebten Innenraum mit dem erlebten Selbst gleichsetzt, hieße das, daß auch das erlebte Selbst ein vorüberziehendes Phänomen wäre. So gesehen ließen sich in Faschings Selbsttheorie doch zwei, allerdings ontologisch von einander unterschiedene, Selbstbegriffe herauslesen: einmal das ontologisch wirkliche ›Erleben selbst‹, das allerdings nirgends stattfindet und das ich selbst nicht erleben kann, und einmal das vorüberziehende phänomenale Selbst, das ich als Innenraum erlebe und von den anderen vorüberziehenden Phänomenen im Außenraum unterscheide. Es ist, als bildeten sich auf dem Selbstfluß unentwegt kleine vorüberziehende Selbstblasen, die sich für den Fluß halten und auf die Uferaußenwelt schauen, ohne zu merken, daß sie und das Ufer nur vorüberziehende Phänomene sind. Wenn der Fluß ein Gedicht schreiben könnte, so lautete dessen Titel: An eine Blase, die vorüberzog. Fazit zu Wolfgang Fasching: Faschings Selbstbegriff ist im Vergleich mit anderen denkbaren Selbstbegriffen letztlich eine Art ›dünner‹ Selbstbegriff, der das Selbst auf das ›Erleben selbst‹ bzw. das Bewußtsein restringiert. Es bleibt dabei fragwürdig, wie der Status des Selbst zu beschreiben sei, ohne in eine substantialistische Falle zu tappen oder in Widersprüche zu geraten – denn das Selbst soll ja ein »beständiges« sein, zugleich jedoch wird das Selbst in seiner Existenz ständig ›unterbrochen‹, etwa im traumlosen Tiefschlaf, in der Bewußtlosigkeit, sicherlich auch in bestimmten Formen von Koma, Phasen, in denen ich nichts erlebe und folglich selbstlos bin. Da sich Menschen phänomenal auch nach dem Schlafe wieder als dieselben erleben, läßt sich hieraus auf eine diachrone Einheit der Apperzeption oder des Selbsterlebens schließen. Von Faschings Hinweis auf die Innen-Außen-Unterscheidung und die SelbstNichtselbst-Unterscheidung läßt sich jedenfalls eine Brücke zu meiner These schlagen, die ich an dieser Stelle skizziere. 56 | Wolfgang Fasching: ›I Am of the Nature of Seeing‹, a.a.O., S. 210.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Ich erlebe wie gesehen nicht das ›Erleben selbst‹, sondern erlebe all das, was ich nun einmal erlebe. Entscheidend scheint mir hinsichtlich meiner Fragestellung zu sein, daß ich in der Regel alles, was ich erlebe, entweder als in einem Innenraum oder als in einem Außenraum befindlich erlebe. Und noch wichtiger: ich erlebe in der Regel auch mich als in einem Innenraum oder als in einem Außenraum befindlich. Ich bin im Arbeitszimmer und erlebe mich nicht primär an einer ganz bestimmten Stelle im Ganzen des Arbeitszimmers, sondern ich bin – ganz allgemein – im Arbeitszimmer. Das Arbeitszimmer umschließt mich, bildet meinen Innenraum, bildet mein erlebtes Selbst. Ich bin das Zimmer, das Zimmer ist mein (aktuelles) Ich. Von letzterem Punkt aus wird auch deutlich, inwiefern Raumtheorie auch Medientheorie ist: Ich spreche in gewisser Weise durch das Zimmer, und das Zimmer spricht durch mich. Wenn das Zimmer durch mich spricht, eröffnet das einen ganz neuen Kontinent sprechender Wesen – den Kontinent der sprechenden Räume. Käme eine Besucherin zu mir nachhause, während ich mich im Schlafzimmer aufhalte, und riefe »Wo ist das Schlafzimmer?«, würde selbiges durch mich hindurch antworten: »Hier bin ich!« Und riefe sie: »Wo bist du?«, antwortete ich durch das Schlafzimmer: »Im Schlafzimmer.« Darüberhinaus zeigt sich, daß Raumtheorie als Medientheorie zwingend auch eine Nähetheorie ist – denn was könnte einander näher sein, als jene beiden, die sich gegenseitig durchdringen und vereinigen?

Matthew Mackenzie und das reale minimale Selbst Matthew Mackenzie verteidigt unter Berücksichtigung buddhistischer wie prozeßbiologischer Theorien einen »nicht-reduktionistischen Blick«57 auf das Selbst. Ein minimales Selbst emergiere auf dem Grunde der Reflexivität, die dem Bewußtsein inhärent sei.58 Dieses Selbst sei ein körperlicher (embodied), umweltgebundener (embedded), sich in ›Handlungen‹ vollziehender (enactive), sich selbst organisierender und temporaler Prozeß – eben dasjenige, »was die Buddhisten ›Ich‹-Entstehung [›I‹-making] (ahamkara) nennen«59. (Ein dagegen vergleichsweise robustes Selbst werde aus den selbstreferentiellen Quellen von Sprache und Erzählung [Narrativität] konstruiert und benötige demnach Langzeitgedächtnis und soziale Eingebundenheit.60) Auch wenn man das Selbst mit buddhistischer Begrifflichkeit als abhängig entstanden und als leer betrachte, so sei es nach Mackenzie gleichwohl nicht virtuell (wie etwa Francisco J. Varela meint), sondern real.61 Denn wenn das Selbst 57 | Matthew Mackenzie: Enacting the Self: Buddhist and Enactivist Approaches to the Emergence of the Self‹, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 239-273, hier S. 240. 58 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 271. 59 | Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 240. Übersetzung M.M. – Siehe auch S. 268. 60 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 269. 61 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 240 und S. 257-259, besonders S. 259. – In der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie werden die Begriffe ›virtuell‹ und ›real‹ oft als gegensätzliche Begriffe aufgefaßt. Hinsichtlich der Selbsttheorie versteht man unter einem ›virtuellen Selbst‹ dann eben so viel wie ein ›fiktionales, unwirkliches, si-

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aus emergenten Prozessen entstehe62, dann heiße das zugleich, daß auch die Erste-Person-Perspektive ein Ergebnis dieser emergenten Prozesse sei, denn die Erste-Person-Perspektive, und mit ihr verbunden ein Sinn für die Meinigkeit (mineness), sei Teil des Selbsterlebens, und dieser Teil sei unverzichtbar für die Erinnerungsfähigkeit eines Menschen. Angesichts der nun im nichtdementen Zustand phänomenal zweifellos vorhandenen Fähigkeit, sich an etliche frühere Erlebnisse erinnern zu können, müsse man ein minimales Kernselbst als phänomenologisch real anerkennen. Dabei interpretiert Mackenzie Menschen als dynamische Systeme, die durch einen hohen Grad sich selbst organisierender Autonomie charakterisiert seien.63 Auch deshalb seien sie nicht reduzierbar auf die zugrundeliegenden »mentalen« (hier offenbar hirnphysiologischen) wie physikalischen (sonstigen körperlichen) Ereignisse, welche die Menschen erst konstituieren.64 Mackenzies Position greift hier einen Aspekt der Position von Francisco Varela auf, demzufolge das Selbst im Zuge eines Prozesses der Selbst-Organisation emergiere; dieses emergierte Selbst betrachte Varela eben als virtuelles (oder leeres) bzw. fiktionales65: das Wort ›Ich‹ stelle das »›virtuelle Interface‹ [Francisco Varela, M.M.]«66 zwischen Körper einerseits und der natürlichen und sozialen Umwelt andererseits dar. Anders formuliert, Varela begreift, nach Mackenzie67, das Selbst als ein virtuelles oder fiktionales Konstrukt, das im Zuge verteilter Aktivität eines natürlichen, autopoetischen Systems emergiere. (Eines Selbst im übrigen, das dabei hinsichtlich des autobiographisch-sozialen Aspekts, aufgrund der Verwendung von Sprache durch das System, in eine linguistische Kommune eingebunden sei.) An dieser Stelle bringe ich lediglich drei Kommentare an. muliertes, leeres, nicht-existentes Selbst‹. Nimmt man als Autor an dieser Selbstbegriffsdiskussion teil, muß man diese Begriffsverwendungsrealität zur Kenntnis nehmen und sich ihr ein Stück weit anpassen. Gleichwohl sei daran erinnert, daß das Virtuelle auf der phänomenologischen Ebene natürlich real ist, man denke prominent an die durchaus sinnvolle Begriffsbildung der ›virtuellen Realität‹. Der semantische wie traditionelle Gegenbegriff zum ›Virtuellen‹ ist eigentlich ›aktual‹, ›materiell‹, ›wirklich‹. Die virtuelle Realität ist also eine nicht-materielle, theoretisch jedoch aktualisierbare Realität. Des weiteren sind die Orientierungsadverbien links und rechts zum Beispiel real, aber nicht materiell. Bei Platon übrigens ist die Verständnisweise genau umgekehrt: bei ihm sind die eigentlich virtuellen Ideen wirklich (wenn auch nicht materiell), hingegen deren materielle Abbilder nur scheinbar wirklich. 62 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 253. 63 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 239. 64 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 239f. 65 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 240 und S. 255-259, besonders S. 257. Dort der Hinweis auf Francisco J. Varela: Ethical Know-How: Action, Wisdom, and Cognition, Palo Alto 1999. – Ich gehe unten noch auf Varela gesondert ein und kritisiere dann seinen Selbstbegriff. Der Einfachheit halber referiere ich hier Mackenzies Bezugnahme auf Varela nur nach Mackenzie. 66 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 256, in Rekurs auf Francisco J. Varela: Ethical Know-How, a.a.O., S. 61 (zitiert nach: Mackenzie). – Das Varela-Zitat in der deutschen Ausgabe (Ethisches Können, aus dem Englischen von Robin Cackett, Frankfurt und New York 1994): S. 65. 67 | Vgl. Matthew Mackenzie: Enacting the Self, a.a.O., S. 240.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Erstens merke ich zum Gefühl der Meinigkeit an, daß es sinnvoll erscheint, an Komplementärgefühle im Sinne der Nicht-Meinigkeit zu erinnern. Solche zeigen sich etwa in psychiatrischen Fällen, wenn Patienten objektiv eigene Gliedmaßen befremdet ›ablehnen‹ und nicht als die ihrigen wahrnehmen können. (Man spürt ein womöglich in Ansätzen fernverwandtes Gefühl zum Beispiel auch in Privaträumen fremder Personen, besonders wenn man sich unerlaubterweise in ihnen aufhält.) Zu beachten ist hier im übrigen der Unterschied zwischen Meinigkeit und Fremdheit einerseits und dem Gefühl, daß ich dies oder jenes erlebe andererseits: der Arm erscheint mir als ein mir fremder, als nicht mein eigener, das heißt ich empfinde diese Fremdheit diesem Arm gegenüber. Darüberhinaus weise ich in Vorgriff auf einen Kommentar unten zu Thomas Metzinger bereits hier ganz kurz darauf hin, daß der Unterschied zwischen ›virtuell‹ und ›real‹ unter Voraussetzung der starken Informationsontologie auf der ontologischen Ebene keine Rolle spielt. (Informationsontologie meint, wie oben erwähnt, einfach die starke ontologische These: ›Es gibt Information.‹ Beziehungsweise: ›Es gibt Informationsprozesse.‹) Wenn nun, wie oben Varela, auch andere, wie Metzinger, das Selbst als virtuelles (wahlweise auch als leeres oder fiktionales) bezeichnen, so sagen sie damit dreierlei: Erstens sagen sie natürlich, daß es nicht real sei, zweitens insinuieren sie damit, daß es ontologisch weniger wert sei, als ein reales Selbst, drittens jedoch mißachten sie die Beschreibungsebenen bzw. übersehen die Ontologie, die sie stillschweigend bzw. unbemerkt voraussetzen: nämlich die Ontologie, die besagt, es gebe objektiv feststellbar Reales und objektiv feststellbar Nicht-Reales. Schließlich noch ein Wort zum Verb ›emergieren‹, das an den Kommentar zu virtuell und real inhaltlich anschließt. Wie ein emergentes Phänomen zu interpretieren und zu bewerten sei, hängt zunächst davon ab, welche Ontologie man verwendet. Solange hierüber keine Aussage getroffen ist, läßt sich die Aussage, das Selbst sei ein emergentes Phänomen, nicht sinnvoll interpretieren und einordnen. Das heißt, die Aussage, das Selbst sei ein emergentes Phänomen, bleibt fragwürdig, weil nicht geklärt ist, was darunter überhaupt zu verstehen sein sollte. Fazit zu Matthew Mackenzie: Mackenzie argumentiert de facto für zwei Selbstbegriffe, für ein minimales Kernselbst als Summe aller selbstbezüglichen Körperprozesse, sowie für ein robusteres Selbst, das mit Hilfe von Sprache, Gedächtnis, Erzählung etc. aufgebaut wird. Wenn Mackenzie ein minimales Kernselbst als phänomenologisch real – im Gegensatz zu Varelas Position – annimmt, so bleibt diese Charakterisierung solange irrelevant, solange die ontologische Position nicht geklärt ist, von der aus Zuschreibungen wie ›real‹ oder ›virtuell‹ gemacht werden. Selbes gilt für das Verb ›emergieren‹. Auf der sicheren Seite wäre man, wenn man einfach sagen würde, daß auf eine biologisch theoretisch beschreibbare Weise Selbstprozesse stattfinden und im Zuge dessen eine Art Selbst entstehe. Das Verb ›entstehen‹ ist vergleichsweise unverdächtig und läßt alle Optionen offen.

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N euzeit und M oderne Das anfängliche Quartett des Selbstbegriffs In der neuzeitlichen, vor allem englisch-empiristischen Tradition wird der Begriff Selbst zunächst im Umfeld von John Locke und David Hume erörtert; dabei hält der Kontext der Selbstbegriffsdebatte anfänglich wenigstens vier unterschiedliche Phänomenbereiche und Forschungsfragen zusammen: personale Identität, Einheit des Geistes, moralisches Selbst und Unsterblichkeit der Seele. Insofern unter Seele damals (oder heute) irgendein vom Körper letztlich unabhängiger Teil welcher ›Natur‹ auch immer gemeint sein sollte, der den Tod eines Menschen überdauere, so darf dieser Aspekt wie gesagt hier wegfallen, weil die empiristisch-phänomenologische Grundlage dieser Arbeit die Existenz eines solchen Teils nicht stützen würde, wobei es dabei keine Rolle spielt, ob seine Existenz theoretisch denkbar oder vorstellbar ist. Hingegen sind Konzepte wie Einheit des Geistes (oder des Bewußtseins), Identität, moralisches Selbst Teile dessen, was einen Menschen als Ganzes ausmacht – wobei es hier nicht von Belang ist, daß in der neuzeitlichen Philosophie zunächst psychiatrische Erscheinungsformen (wie Identitätsverlust, Schizophrenie, Demenz etc.) für die Erklärung und die Phänomenologie der geistigen Phänomene nur eine Nebenrolle spielen.68 Wichtig ist, daß diese Konzepte, vor allem die hinsichtlich der Identität und der Einheit des Geistes (oder des Bewußtseins), implizit verknüpft sind mit dem Begriff eines Selbst als eines bestimmten umgrenzten menschlichen Phänomens – semantisch nämlich schließen die Begriffe Identität und Einheit dabei die Abgrenzung von den Begriffen des Nichtidentischen oder Anderen selbstredend mit ein.

René Descartes oder die dualistische Prämisse Für den von den philosophischen Zeitläuften zum marmornen Portalphilosophen der methodischen Ich-Zweifler skulpturierten René Descartes spielt der nominale Begriff des ›Selbst‹ keine hauptbegriffliche Rolle. Die für ihn das Denken markierenden Begriffe lauten Geist (mens), Seele (animus), Verstand (intellectus) und Vernunft (ratio) – sie fügen sich zur res cogitans zusammen, zum »denkenden Ding«69, oder, wie man auch sagen könnte: sie bilden eines Menschen Selbst, zu welchem der Körper folglich nicht gehöre – der schließlich mit allem, was zu ihm gehört, nichts anderes als »nichts« 70 sei. Selten taucht bei Descartes ›selbst‹ in einer pronominalen Verwendung auf, etwa dann, wenn er »mich mir selbst« 71 vertrauter machen möchte, indem er sämtliche Bewußtseinsinhalte tilgt: unabhängig von der spätestens mit Brentano zu bezweifelnden Frage, ob ein Bewußtsein ohne Bewußtseinsinhalte überhaupt mög68 | In der Gegenwart auf prominente Weise bedeutsam ist die Interpretation von psychiatrischen Formen für die repräsentationalistische Phänomenologie des alltäglichen Icherlebens in: Thomas Metzinger: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O. 69 | René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. und übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg 1972, S. 20. 70 | René Descartes: Meditationen, a.a.O., S. 20. 71 | René Descartes: Meditationen, a.a.O., S. 27.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

lich sei, verweist Descartes hier letztlich auf jenes Phänomen, das seit Fichte und in jüngerer Zeit seit Dieter Henrich, Manfred Frank und anderen, Fichte rekapitulierend, unter dem Ausdruck ›präreflexive Selbstvertrautheit‹ firmiert – also auf meine immer schon von Anfang an vorhandene, vor-thetische ›Bekanntschaft‹ damit, daß ich ich bin. Für Descartes spielt dies jedoch keine weitere beschreibende Rolle. Davon abgesehen scheint der letztlich fatale Erstfehler von Descartes’ Überlegungen schlicht jene implizite, von ihm nicht reflektierte Voraussetzung über die ›Natur‹ des Geistes zu sein, nämlich jene, daß »der Geist« nicht-körperlich sei, also frei von dem erscheine, »was dem Körper zugehört« 72 – daß Körper und Geist somit zwei unterschiedliche Substanzen seien. Wieso jedoch sollte man, könnte man Descartes fragen, nicht annehmen und in Betracht ziehen können, daß auch das Denken selbst körperlich sei? Die Existenz des Denkens, die ich beim methodischen Zweifel schlechterdings nicht bezweifeln kann, würde dann zu der Schlußfolgerung führen, daß wenigstens ein körperliches Phänomen existiert, das – zumindest während des Denkens – nicht bezweifelt werden kann – eben das Denken. Um die Unsinnhaftigkeit von Descartes’ Körper-Geist-Konzept zu unterstreichen, lohnt sich der Blick auf eine zentrale Passage in seiner ›Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs‹: »Dann prüfte ich aufmerksam, was ich wäre, und sah, daß ich mir vorstellen könnte, ich hätte keinen Körper, es gäbe keine Welt und keinen Ort, wo ich mich befände, aber daß ich mir deshalb nicht vorstellen könnte, daß ich nicht wäre; im Gegenteil, selbst daraus, daß ich an der Wahrheit der anderen Dinge zu zweifeln dachte, folgte ja ganz einleuchtend (évidemment) und sicher, daß ich war; sobald ich dagegen aufgehört zu denken, mochte wohl alles andere, das ich mir jemals vorgestellt, wahr gewesen sein, ich aber hatte keinen Grund mehr, an mein Dasein zu glauben. Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit (essence) oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, so daß dieses Ich, daß heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist.« 73

Ohne auf jeden diskutierenswürdigen Punkt dieses Zitats eingehen zu müssen, genüge hier der Hinweis auf die phänomenologische Unmöglichkeit dessen, was Descartes beschreibt: seine Prämissen sind ausschließlich Gedankenspielprämissen – ein denkendes Ich ohne Körper, ohne Ort, ohne Welt ist reine Behauptung; wollte man dennoch versuchen, sich dies vorzustellen, so müßte das Denken dieses Ichs doch irgendwie irgendwo stattfinden. (Auch Descartes’ Schlußfolgerung, daß »ich eine Substanz« sei, sowie seine Folgerung vom ›Ich‹ auf die ›Seele‹ entbehren jeglicher Logik.) Kants Kritik an Descartes zu diesem Thema, die darauf hinausläuft, daß dieser auf seinem ›Ich‹-Begriff eine ganze ›rationale Psychologie‹ auf baue 74, erübrigt sich dann. Denn sollte der vom Denken abgeleitete ›Ich‹-Begriff ohnehin körperlich sein, so ließe sich auf ihn sowieso keine ›rationale Psychologie‹ im dualistischen 72 | René Descartes: Meditationen, a.a.O., S. 7. 73 | René Descartes: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, aus dem Französischen von Kuno Fischer, Stuttgart 1990, S. 31f. 74 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 401 (S. 263f.).

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Sinne auf bauen. Im übrigen sperrt Descartes’ animus-Begriff jene traditionellen vitalen Funktionen, die mit der Seele verbunden sind, verkürzend aus. Zudem ist darauf hinzuweisen, daß Descartes’ Formel Cogito, ergo sum für Römer unverständlich, ja undenkbar gewesen wäre: in deren Denken erschien der Mensch stets als ein Duo – Ich und mein Genius (mein Begleiter, mein Intimus, mein Sozius). Dieser Genius ist der, der an mich denkt. Nicht ich denke an ihn, sondern umgekehrt, er denkt an mich. Descartes’ Formel, römisch, würde lauten: An mich wird gedacht, also bin ich. Anders gesagt: Ich bin, weil ich immer beobachtet werde, egal, wo ich geh und steh.75 (Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auf dem Feld der zeitgenössischen res publica, daß jene von der breiten Öffentlichkeit weitgehend hingenommene digital erfaßte und algorithmisch bewertete Observierung des öffentlichen Raums und der Erdoberfläche mittels omnipräsenter Kameras zu einem kaum reglementierten und kaum debattierten, die Menschenrechte zersetzenden Gestaltwandel des Auge-Gottes-Konzepts geführt hat. ›Sie können Gott nicht beobachten; doch zu Ihrer Sicherheit wird dieser Bereich videoüberwacht: Big God is watching you.‹ 76 Kulturhistorisch ist das Konzept des ›Auge Gottes‹, das alles sieht und hört, seit den Ägyptern bezeugt und über Judentum, Christentum und Islam tradiert und Teil der europäischen Kultur der Neuzeit geworden. In Europa wandelte es sich in der Zeit der absoluten Monarchien zum niemals schlafenden Auge des Monarchen. In der französischen Revolutionszeit und in der bürgerlichen Epoche veränderte es sich zum Auge des Gesetzes77 (noch auf dem Staatssiegel der USA wacht das Auge Gottes über die Einhaltung der Verfassung); in England und Frankreich wandelte sich die Herrschaft des Gesetzes in die Herrschaft der Überwachung 78. Das ›Auge des Gesetzes‹ bedeutete spätestens im 20. Jahrhundert in der Regel nur noch ›Polizei‹. Überwachung mit Hilfe des Instruments von Geheimdiensten

75 | Vgl. zu diesem Gedanken auch Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 423-426. 76 | Einzug finden Kameras mittlerweile auch in einstmals ›heilige‹ öffentliche und intellektuelle Sphären wie Caféhäuser und Bibliotheken. Kameraüberwacht werden in Berlin etwa die Innenräume des Anfang 2013 ›wieder‹eröffneten kulturhistorisch bedeutsamen Romanischen Cafés im Walldorf Astoria Hotel zwischen Hardenberg- und Kantstraße, ebenso der Gastraum des Café Veganz in Pankow oder die Traditionsconfiserie Reichert in der bürgerlichen Steglitzer Schloßstraße etc.; ebenso werden die Jahrzehnte nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg neu errichteten und 2013 wiedereröffneten Lesesäle und Arbeitsplätze in der Staatsbibliothek Unter den Linden observiert und gefilmt. Selbst die Zugänge zu den Toiletten werden von den Linsen eingefangen. Nur mehr der unmittelbare Naßbereich, Klosettkabinen, Urinoirs und Handwaschbecken, sind, nach allem, was man sehen kann, kamerafrei. Nota bene, der einzige kamerafreie Raum im politischen Bereich des Weißen Hauses scheint das private Präsidentenbad neben dem Oval Office zu sein: das würde miterklären, warum Präsident Bill Clinton bei seinen erotischen Tête-à-Tête mit einer Praktikantin mit ihm vorliebnehmen mußte. Das Stille Örtchen erscheint hier als ein im Grunde trauriger locus amoenus. 77 | Vgl. Michael Stolleis: Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004. 78 | Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977.

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wurde allgemein zu einem Stilmittel moderner Staatspolitik.79 Daß die imperialen Staaten am Himmel das Auge Gottes durch Satellitenaugen ersetzten, war folgerichtig der technologisch nächste Schritt. Der bislang letzte Schritt auf dem Weg zum Überwachungspanoptikum betrifft die seit Juni 2013 dank des Whistleblowers und ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden publik gewordene global ausgerichtete Durchleuchtung praktisch aller, zumindest auf US-Kommunikationsplattformen gespeicherten Bürgerdaten durch amerikanische Geheimdienste wie der NSA. Was George Orwell in seinem Dystopieroman ›1984‹, im Jahr 1949 erschienen, drohend an die Wand malte, ist von der Wirklichkeit längst übertroffen worden. Die technologischen Entwicklungen auf dem Gebiet von Internet, Digitalisierung und überhaupt dem, was man Big Data nennt, zeigen, daß der Große Panoptische ›Gott‹ den Menschen nicht nur observiert, sondern nahezu alles über ihn weiß oder in Erfahrung bringen kann. Das Auge Gottes hat sich in das Panoptikum der Geheimdienste gewandelt. Sie können mit seiner Hilfe jeden beliebigen Menschen, der die üblichen Kommunikationsmittel nutzt (und dank der zunehmenden Verbreitung von Überwachungs- und Webcameras und dank automatisierter Gesichtserkennungssoftware vermehrt auch ›analoge Menschen‹), über den gesamten Planeten auf Schritt und Tritt verfolgen, die wichtigsten äußeren Informationen über sein Leben besorgen und ihn zu jeder Zeit mit einem Drohnenabschuß oder sonstwie ›ausschalten‹. Die Moderne tritt in die Hypermoderne des Digitalen Totalitarismus ein, der das Ende und die Niederlage der herkömmlichen Demokratie- und Rechtsstaatsepoche bedeutet. Auch in raumtheoretischer Perspektive kommt diese Entwicklung einer Raum-Katastrophe gleich, schließlich ist Freiheit immer auch die Freiheit, halbwegs unbemerkt den öffentlichen Raum zu betreten und sich in ihm zu bewegen oder unbeobachtet zuhause was auch immer zu tun oder zu lassen, also die Epoché, den Akosmismos, die Weltpause zu pflegen. Aber egal, wohin du gehst, da ist keine Dienststelle, die dich nicht sieht.) Der erwähnte römische »Beobachter-Genius« (Peter Sloterdijk 80) wird also insbesondere in der Neuzeit interiorisiert, von außen nach innen verlegt und taucht als Mit-Wissen, als das Kantische ›Ich denke‹ wieder auf. Thomas Macho kann in diesem Kantischen ›Ich denke‹ und auch in der Fichteschen ›intellektuellen Anschauung‹ »selbstschutzengelartige Qualitäten« 81 erkennen.82 Daß die Geist-Körper-Trennung – zurück zu Descartes – gleichwohl nicht ausschließlich dualistisch zu verstehen sein dürfte, zeigt sich in einer Passage der Sechsten Meditation, wo letztlich ein Einssein von Geist und Körper beschrieben wird: »Es lehrt mich ferner die Natur durch eine Empfindung des Schmerzes, Hungers, Durstes usw., daß ich nicht nur in der Weise meinem Körper gegenwärtig bin, wie der Schiffer seinem 79 | Vgl. hierzu in Hinsicht auf die US-amerikanische Geschichte den lehrreichen Überblick von Manfred Berg und Wilfried Mausbach: Wie der Prinz in seinem Schloß?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Sonderseite ›Die Gegenwart‹, Ausgabe vom 9. September 2013, S. 7. 80 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 426. 81 | Thomas Macho: Himmlisches Geflügel. Beobachtungen zu einer Motivgeschichte der Engel, in: Cathrin Pichler (Hg.): Engel : Engel. Legenden der Gegenwart, Wien und New York 1997, S. 94, zitiert nach: Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 426, Fußnote 178. 82 | Vgl. Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S. 426.

Kapitel II.2 Fahrzeug, sondern daß ich aufs engste mit ihm verbunden und gleichsam vermischt bin, so daß ich mit ihm eine gewisse Einheit bilde. Denn sonst würde ich, der ich nur ein denkendes Ding bin, nicht, wenn mein Körper verletzt wird, darum Schmerz empfinden, sondern ich würde diese Verletzung nur durch bloßes Denken erfassen, wie der Schiffer durch das Gesicht wahrnimmt, wenn irgendetwas am Schiffe zerbricht, und ich würde alsdann, wenn der Körper der Speise oder des Trankes bedarf, eben dies in bestimmter Weise denken, ohne dabei die verworrenen Hunger- oder Durstempfindungen zu haben. Denn es sind doch sicherlich diese Empfindungen des Hungers, Durstes, Schmerzes usw. nichts anderes als gewisse, aus der Vereinigung und gleichsam Vermischung des Geistes mit dem Körper entstandene Weisen des Bewußtseins.« 83

Was Descartes hier im Grunde beschreibt, ist nichts anderes als die Dekonstruktion seines substanzdualistischen res-cogitans- und res-extensa-Konzepts: res cogitans und res extensa sind »aufs engste vermischt« und bilden »eine gewisse Einheit«. Wollte man mit Sartre sprechen, hieße das: Ich bin mein Leib. Anders gesagt: Der Geist ist ›verkörpert‹, der Körper ›vergeistet‹ – Körper und Geist sind im subjektiv erlebenden Sinne auf untrennbare Weise zusammen. Und das heißt letztlich: Die Redeweise von Körper und Geist ist nur im alltäglichen Zusammenhang sinnvoll. Für Gott wie den Menschen gilt: ›Ich bin der ich bin‹ – Geist und Körper zugleich. Im übrigen hat auch Abbé Joseph-Adrien Lelarge de Lignac Descartes’ Formel Ich denke, also bin ich dahingehend kritisiert, daß die eigene Existenz nicht durch Denken bewiesen, sondern daß sie empfunden werde.84

Ralph Cudworth und das Substantiv ›Selbst‹ Die regelrechte Einführung des Selbstbegriffs in seiner substantivischen Ausprägung gelingt dem Cambridger Schulphilosophen Ralph Cudworth in seinem Werk ›Das wahre vernünftige System des Universums‹ 85 – wenn dies auch unter christianisiert-neuplatonischen, rationalistischen Vorzeichen geschieht. In scharfer Abgrenzung von Pierre Gassendi und Thomas Hobbes und deren renaissancezeitlicher, materialistisch-mechanistischer Vorstellung des Menschen als bloßer Materie in Bewegung (matter in motion 86), erfaßt Cudworth den denkenden Menschen als eine Monade oder eine Einzelne Substanz (»A Thinker a Monade; or One Single Substance« 87); so daß auf der metaphysischen Registriertafel zwei Substanzen zu zählen bleiben, auf der einen Seite die ausgedehnte Substanz, und auf der anderen 83 | René Descartes: Meditationen, a.a.O., Sechste Meditiation, Abschnitt 26, S. 69f. 84 | Vgl. dazu Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn, a.a.O., S. 273. 85 | Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, London 1678, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 831; vgl. S. 761 und S. 846f. 86 | Cudworth polemisch über das mechanistische Weltbild à la Hobbes: Ein bestimmter »Modern Writer [das ist Thomas Hobbes, M.M.] hath done, to maintain, that Cogitation, Intellection, and Volition, are themselves really Nothing else, but Local Motion or Mechanism, in the inward Parts of the Brain and Heart […]« (Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, a.a.O., S. 761). Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. von Iring Fetscher, aus dem Englischen von Walter Euchner, Frankfurt a.M. 1984. 87 | Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, a.a.O., [S. 829]. Das Zitat stammt aus Cudworths eigener Paraphrase des Inhalts von Seite 829 in der ausführlichen

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der Geist oder »the Self Active Cogitative Nature, an Inside Being, whose Action is not Local Motion, but an Internal Energy«88, die innerhalb der Substanz oder der Essenz des denkenden Menschen fließe. Diese Innere Energie wirke also aus sich selbst, in sich selbst und auf sich selbst, weshalb der Mensch insgesamt Eine Persönlichkeit habe und ›ein Ich Selbst‹ sei (»one I My Self«89). Dieses Selbst zeige sich in der Form einer unausgedehnten, unteilbaren Einheit und sei eine Substanz, die alles zusammenhalte.90 Kritisch anzumerken bleibt hier, wie noch in der hochneuzeitlichen Epoche die im Grunde ontogenetisch-phänomenologischen Fragen nach der lebensgeschichtlich veränderbaren Persönlichkeit, nach der Einheit der Person und der Identität zusammengemischt werden mit der metaphysischen Frage nach der Substantialität dieses Selbst. Delikat ist diese Vermengung auch deshalb, weil ihr die naivrealistische und alltagspsychologisch herleitbare Vorstellung mit zugrundeliegen könnte, daß ›das Selbst‹ letztlich ablösbar sei von körperlichen oder unmittelbarumweltlichen Gegebenheiten und vom Körperlichen lediglich temporär entweder günstig oder ungünstig beeinflußt werde. Dagegen konnten moderne biologisch figurierte Konzepte des Selbst diese Ablösbarkeit verneinen und die fatale Gebundenheit des Selbstgefühls an das Körperliche als empirisch belegt herausstreichen. (Dabei versuche ich in dieser Arbeit eben zu zeigen, inwiefern der zentrale Aspekt des Selbstgefühls durch die Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung, der erlebten Einheit des intakten Innenraums, erst hervorgerufen werde.)

John Locke und das Bewußtsein als Selbst Was die historische Empirismus-Koryphäe und den tabula-rasa-Bewußtseinstheoretiker John Locke angeht, sei lediglich an die vorgeblich notwendige Unterscheidung zwischen der Identität des Menschen und der Identität der Person, die Locke stark macht, insofern wenigstens erinnert, als diese Streitfrage für die historische Selbstdebatte wie auch für gegenwärtige Streitfragen91 eine außerordentliche Rolle spielt. Für Locke ist ein Mensch dann mit sich identisch, wenn das konkrete Leben und damit derselbe organisierte Körper fortdauere92; wohingegen die Person ein Wesen sei, welches zu vernünftiger Überlegung fähig sei, sich selbst »Gesetze geben«, »glücklich und unglücklich sein« könne, sich Handlungen »zueignet und

Buchinhaltsangabe am Ende des Buchs (die eine Kurzversion des voluminösen Werks darstellt und selbst keine Seitenzahlen aufweist). 88 | Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, a.a.O., S. 832. 89 | Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, a.a.O., S. 831. 90 | Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, a.a.O., S. 826. 91 | Etwa in Fragen, ob ungeborenen, neugeborenen, psychiatrischen, komatösen oder dementen Menschen Personenstatus zukomme. Vgl. auch Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, sowie Anja Karnein: Zukünftige Personen. Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation, aus dem Englischen von Christian Heilbronn, Berlin 2013. 92 | John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, (1690), The Works Volume 2, London 1823, Neudruck: Aalen 1963, Buch II, Kapitel 27, § 6, S. 51.

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zurechnet«93 und sich selbst als sich selbst betrachten könne – durch das anfangs leere, nach und nach mit Inhalten sich anfüllende Bewußtsein, welches jedes Denken begleite und durch das jeder für sich selbst das sei, was er Selbst nenne.94 Das Bewußtsein also macht nach Locke letztlich das Selbst aus, und weil das konkrete Bewußtsein sich von allen anderen denkenden Dingen unterscheidet, zeigt sich in ihm auch die personale Identität (Identität der Person). Bewußtsein und Selbst, und in gewisser Weise die Identität der Person, laufen somit zusammen. Doch, ganz konkret, was versteht Locke unter Bewußtsein? Zum Bewußtsein scheint für Locke zu gehören, daß es für den Menschen unmöglich ist, wahrzunehmen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er wahrnimmt (»it being impossible for any one to perceive, without perceiving that he does perceive«95). Jede Wahrnehmung erster Ordnung wird also von einer (impliziten) Wahrnehmung zweiter Ordnung begleitet – ein wie auch immer ausdrückliches zweites Bewußtsein vom eigenen ersten Bewußtsein. Ich tippe diese Zeilen und weiß zugleich (zumindest implizit), daß ich diese Zeilen tippe. Es scheint also evident, daß einem das Bewußtsein zweiter Ordnung nicht stets explizit erscheint: die meisten Menschen erleben den Alltag gemäß dem Bewußtsein erster Ordnung, sie gehen die Treppe nach unten auf dem Weg zur Arbeit, sie riechen den Treppenhausgeruch, spüren die frische Kälte beim Verlassen des Hauses etc.; sie müssen dabei nicht notwendigerweise bewußt-explizit denken: jetzt gehe ich die Treppe nach unten, jetzt rieche ich den Duft des Treppenhauses, jetzt spüre ich die frische Kälte. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß man den Gang über das Treppenhaus so erlebt. In der Regel erlebt man einfach die unmittelbare Umwelt und ist dabei stets auf sie bezogen und ein Teil von ihr. Weil Locke nun Bewußtsein, personale Identität und Selbst letztlich als eins versteht, so folgt daraus, daß ein Mensch zu unterschiedlichen Lebenszeiten die gleiche Person sein kann, sofern der Mensch das jeweils identische Bewußtsein hat. Ja, Locke geht sogar so weit, zu sagen, daß, falls zwei unterschiedliche Menschen das exakt gleiche Bewußtsein hätten, sie die gleiche personale Identität hätten, sie die gleiche Person wären, auf der personalen Ebene gewissermaßen eineiige Zwillinge. Wichtig für den aktuellen Zusammenhang ist, daß ein entscheidendes Merkmal jeglicher Identität ihre Abgrenzung ist: identisch mit sich selbst (A = A) ist dasjenige, das sich von allem anderen, also von Nicht-A, abgrenzt. Das Merkmal Grenze und Abgrenzung ist auch dasjenige, das in der phänomenologischen Beschreibung von Innenräumen erscheint: Wenn mein Selbst von einem abgegrenzten Innenraum geformt wird, dann hieße das, mit Locke zu sprechen: der gleiche (identische) Innenraum evoziert die gleiche (raumförmliche) Identität. Um des weiteren ein phänomenologisches, beliebiges, wenn auch nicht alltägliches Beispiel anzuführen: Betrete ich, als Jugendlicher exiliert, nach Jahrzehnten 93 | John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Band I, Buch II, Kapitel 27, § 26, a.a.O., S. 435f. 94 | John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, a.a.O., § 9, S. 55. John Locke: »For since consciousness always accompanies thinking, and it is that which makes every one to be what he calls self […].« 95 | John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, a.a.O., § 9, S. 55.

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im Ausland mein unverändert gebliebenes Kinderzimmer im Elternhaus in der Heimat, dann erlebe ich, in einer Art autobiographischen Anamnesis, zahlreiche jener Gefühle wieder, welche ich einst als Kind empfunden habe und die ich mittlerweile längst vergessen hatte: jetzt, im Kinderzimmer, tauchen sie erneut auf. Ein Teil meines biographischen Selbst, das Selbst der Kindheit, wird im Kinderzimmer konserviert; wobei offenkundig ist, daß nur ich derjenige bin, der beim Wiederbetreten jene einstigen Gefühle wieder erleben kann. Das heißt jedoch auch, daß das (Raum-)Selbst mit jedem neuen Innenraum sich verändert und vom erlebenden Selbst her ein dauernder Selbstveränderungsprozeß stattfindet. Mit Locke wäre hier zu beachten: Ich bleibe zwar beim Ortsund Raumwechsel der gleiche Mensch; aber nicht die gleiche Person. Der Mensch bleibt sich gleich, das erlebte Selbst verändert sich regelmäßig.

Antony Ashley Cooper Shaftesbur y und das vereinigende Prinzip des Selbst Auch Antony Ashley Cooper Shaftesbury betont, neben anderem, hier irrelevantem, das Merkmal des »vereinigenden Prinzips«96 des Selbst. In Anlehnung an Cudworth, begründe daher das Selbst die Persönlichkeit (personality) und die besondere Natur (peculiar nature) sowohl des Menschen als auch jedes einzelnen organisierten Naturwesens. Wichtig für diese Arbeit ist Shaftesbury hier nur insoweit, als mit ihm ein weiterer Exponent vorstellig wird, der das Prinzip der Umgrenzung bzw. der damit einhergehenden Vereinigung als Merkmal des Selbst hervorkehrt bzw. damit sagt, daß das Selbst nichts anderes als diese Umgrenzung sei. Der Begriff ›Umgrenzung‹ ist ein räumlicher und auch von daher im Sinne meiner Raumselbstthese verwendbar: Der erlebte Innenraum ist nichts anderes als eine erlebte Umgrenzung, ist nichts anderes als das erlebte »vereinigende Prinzip«, ist folglich – das erlebte oder phänomenale Selbst.

David Hume, ›meine‹ Perzeptionen und das Selbstbündel David Hume als Schöpfer dessen, was man den empiristisch-monistischen Impressionismus nennen könnte, lehnt die These von der »Substanz unseres Geistes«97 als »vollständig unverständlich«98 ab, da der Vorstellung einer Substanz kein perzeptiver Eindruck (impression) einer Substanz entspreche; die Perzeption müßte ihrerseits substantieller Natur und nicht zufällig (akzidentell) sein.99

96 | Vgl. Antony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: The Moralist/The Sociable Enthusiast, in: Standard Edition, Sämtliche Werke in englischer Sprche mit deutscher Übersetzung, hg. und übersetzt von Wolfram Benda, Gerd Hemmerich und Ulrich Schödlbauer, hier: Band II, 1: Moral and Political Philosophy, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 252ff. 97 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I: Über den Verstand. Vierter Teil, 5. Abschnitt: Von der Unkörperlichkeit der Seele, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Theodor Lipps, Hamburg 1973, S. 303-325, hier: S. 304. Auch wenn der Abschnitt seiner Überschrift gemäß von der »Unkörperlichkeit der Seele« handelt, redet Hume im Text mal von Geist, mal von Seele. 98 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 324. 99 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 303-320.

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So bestreitet er die These von Kollegen, daß wir uns »dessen, was wir unser Ich nennen, jeden Augenblick aufs unmittelbarste bewußt«100 seien, seine Existenz und Kontinuität fühlten und uns seiner Identität und Einfachheit bewußt seien. Wir haben »gar keine Vorstellung eines Ich«, denn jede Vorstellung »muß durch einen Eindruck veranlaßt sein. Unser Ich oder die Persönlichkeit aber ist kein Eindruck«101. Dabei können, so Hume, alle Perzeptionen »für sich vorgestellt werden«, weshalb sie »keinen Träger«102 bräuchten. Gleichwohl: »Niemals treffe ich mich ohne eine Perzeption an […].«103 Das heißt, Perzeptionen sind immer meine Perzeptionen, ich bin letztlich meine Perzeptionen. So gilt demnach: Entweder habe ich Perzeptionen und bin da, oder ich habe keine Perzeptionen – »wie während des tiefen Schlafes«104 (oder im Tod105) – und bin »›meiner selbst‹ unbewußt«, das heißt, »daß ›ich‹ gar nicht existiere«106. Dabei erleben Menschen in der Selbstbeobachtung nicht ein über die Zeiten hinweg identisches Selbst, sondern lediglich aufeinanderfolgende Wahrnehmungen. So sei der Mensch nichts anderes als »ein Bündel [bundle, M.M.] oder ein Zusammen [collection, M.M.] verschiedener Perzeptionen«, und der Geist »eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen«107. Dabei läßt Hume unreflektiert – Theodor Lipps weist darauf hin108 –, daß auch ein Bündel »mehr ist als eine Menge, daß es ein Bindendes […] in sich schließt« (Lipps) – wie also wäre dasjenige zu beschreiben, was die verschiedenen Perzeptionen in einem phänomenalen Bewußtsein zu einem Gesamterleben vereint und was sie zugleich meine Perzeptionen sein läßt? Was den Vergleich mit dem Theater betrifft, so betont Hume zwar selbst109, daß ausschließlich die Perzeptionen den Geist ausmachten, wir also vom Schauplatz selbst und vom Material desselben (etwa der Bretter) nichts wüßten. Gleichwohl stellt sich hier die Frage nach der Perspektive – von wo aus erlebe ich das, was in meinem Geist vor sich geht, wobei ›ich‹ ja auch irgendwie zu diesem Geist gehöre? Es ist wohl kaum so, daß ich im Zuschauerraum sitze und zugleich von Bühne und Material nichts sehe, sondern es wäre eher so, daß es keinen Zuschauerraum gäbe, ich mich vielmehr irgendwie mit auf der Bühne befände, ohne zu wissen, daß alles das, was ich erlebe, eine Bühne darstellte. Doch was wäre eine Bühne ohne Zuschauerraum und ohne das Wissen, daß es sich bei ihr um eine Bühne handelte? Eine Bühne, die als solche nicht erlebbar wäre, wäre nichts anderes als einfach die erlebte Welt, wäre das phänomenale Bewußtsein. 100 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I: Über den Verstand. Vierter Teil, 6. Abschnitt: Von der persönlichen Identität, a.a.O., S. 325. 101 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 326. 102 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 326. 103 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 326. 104 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 326f. 105 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 327. 106 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 326f. 107 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 327. 108 | In einer Fußnote auf S. 327, in: David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O. 109 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 327f.

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Angesichts der einander folgenden und unterbrechenden Perzeptionen und der damit einhergehenden ständigen Veränderung unserer selbst, stellt sich zudem die Frage nach der »Identität des Ich oder der Persönlichkeit«110. Dabei ist für Hume offenkundig, daß so, wie wir die dauernde Existenz der Gegenstände »erdichten«, wir uns auch »zu dem Begriff einer Seele, eines Ich, einer [geistigen] Substanz verführen (lassen), um die Veränderung [in uns] zu verdecken«111. Daher sei, so Hume, die Identität des Geistes lediglich »eine Fiktion von etwas Unveränderlichem […]«, die dadurch hervorgerufen werde, daß die Perzeptionen mittels der Beziehungen »Ähnlichkeit, Kontiguität [unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang, M.M.] oder Ursächlichkeit«112 miteinander verknüpft werden. Humes Vorstellung, daß es nur einzelne Perzeptionen gebe und keinen gemeinsamen Träger (ein wie auch immer davon unterschiedenes ›Ich‹), ist im übrigen verwandt oder kompatibel mit dem buddhistischen Konzept des ichlosen, gleichwohl selbstreflexiven Bewußtseins. (Bertrand Russell wird noch zweihundert Jahre später zunächst mit Hume in der Auffassung d’accord gehen, daß Selbstbewußtsein das Bewußtsein einzelner Gedanken und Gefühle sei [also nicht das Bewußtsein eines Selbst, sondern das Bewußtsein von Gedankengegenständen – wie etwa in dem Gedanken ›Ich bin mir bewußt, die Sonne zu sehen‹: daß ich also die Sonne sehe, ist der Gegenstand, der mir bewußt ist]. Doch scheint, so Russell, jede dieser Bekanntschaften mit den Gedankengegenständen letztlich »aus einer Beziehung zwischen einer Person und einem Gegenstand, mit dem die Person bekannt ist, zu bestehen«; folglich könne man letztlich doch sagen, daß »uns unser Selbst – und nicht nur unsere Erlebnisse je für sich – bekannt«113 sei.) Was bei Hume in jedem Fall unterbelichtet, weil unproblematisiert bleibt, ist die Frage nach dem einheitlichen Bezug der Perzeptionen auf ›mich‹ hin (siehe Theodor Lipps’ eben erwähnten Hinweis auf das Bindende der Perzeptionen); es genügt also nicht wie Hume zu sagen, alle Perzeptionen seien immer meine Perzeptionen, sondern man muß auch sagen können, wieso alle meine Perzeptionen nicht einzeln für sich wahrgenommen werden, sondern gleichzeitig in einem phänomenalen Bewußtseinsfeld auf mich (auf ein erlebendes ›Ich‹) hin bezogen sind. So wie eben Shaftesbury das »vereinigende Prinzip des Selbst« betonte, so läßt sich Humes Bündeltheorie, anders als er meint, nicht ohne diese bindende Kraft sinnvoll verstehen. Was das Bindende angeht, so würde Gottfried Wilhelm Leibniz dafür wohl auf der Mikroebene den Begriff der Monade vorschlagen, um den Laden, als der ich auf der Makroebene erscheine, zusammenzuhalten. Die Einheit von Pflanze und Tier liege nicht in deren Organisiertheit, deren bestimmter Organisation, wie Locke meinte, sondern in einem »principe de vie subsistant, que j’appelle Monade«,

110 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 328. 111 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 329. Eckige Klammern vom Herausgeber Theodor Lipps. 112 | David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, a.a.O., S. 330 und S. 336-340. 113 | Bertrand Russell: Probleme der Philosophie, aus dem Englischen von Eberhard Bubser, Frankfurt a.M. 1967, Kapitel 5: Erkenntnisformen: Bekanntschaft und Beschreibung, S. 46f.

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so Leibniz114. Die persönliche Identität werde also durch diese »ame« (Seele) bzw. diesen »esprit«115 (Geist) zusammengehalten.

Immanuel Kant und das ›Ich denke‹ als bloße Funktion Bei Immanuel Kant finden sich zumindest keine ausdrücklichen Erläuterungen zum Begriff ›Selbst‹; vielmehr erscheint dieser häufig in Komposita: Selbstliebe, Selbstbewußtsein, Selbsterkenntnis, selbsttätig etc.116 Dabei sei zunächst daran erinnert, daß Kant auch in seiner vorkritischen Zeit das ›Ich‹ nicht rationalistisch immateriell als vom Körper getrennt begreift, sondern den erlebenden Menschen als ›in den Handlungen und Gefühlen selbst‹ situiert sieht – womit er mit der empiristischen Linie der neuzeitlichen Philosophie sowie mit der traditionellen Aristotelischen Vorstellung übereinstimmt. So jedenfalls ist seine proto-phänomenologische Beobachtung über das Ich-Erleben interpretierbar, wenn er schreibt: »Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin eben so unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich bin es selbst, der in der Ferse leidet und welchem das Herz im Affekte klopft.«117 Bei Aristoteles sind »in jedem Teile [des Körpers, M.M.] […] alle Teile der Seele vorhanden«118. Auch Meister Eckhardt schreibt: »Die Seele ist ganz und ungeteilt vollständig im Fuße und vollständig im Auge und in jedem Gliede.«119 Und Thomas von Aquin notiert: »Anima hominis 114 | Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain, (1703-1705). Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Band 5 (1882, Nachdruck 1960), Livre II, Kapitel 27, S. 214 (§ 4). 115 | Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain, a.a.O., S. 215. 116 | Eine nahezu vollständige Auflistung der Selbstkomposita bei Kant kommt zu folgendem Ergebnis: Häufigste Komposita (die mindestens zehnmal vorkommen) sind in der Reihenfolge der Häufigkeit, beginnend mit dem meistverwendeten und von diesem an absteigend: Selbstliebe. Selbstbewußtsein. Selbsterkenntnis. Selbstschätzung. Selbsttätig. Selbstsüchtig. Selbstmord. Selbständig. Selbstzwang. Selbsterhaltung. Selbstdenken. Komposita, die weniger als zehnmal und öfter als einmal vorkommen, sind: Selbstanschauung. Selbstbefriedigung. Selbstbeherrschung. Selbstbemühung. Selbstbeobachtung. Selbstbesserung. Selbstbestimmung. Selbstentleibung. Selbstgenügsamkeit. Selbsthilfe. Selbstpeinigung. Selbstprüfung. Selbstquäler. Selbsttadel. Selbsttäuschung. Selbsttun. Selbstüberwindung. Selbstverachtung. Selbstverleugnung. Selbstverschulden. Selbstverweise. Komposita, die nur einmal vorkommen, sind: Selbstbeschuldigung. Selbstbesitz. Selbstbetrug. Selbstbilligung. Selbstgebärung. Selbstgenuß. Selbstgeschöpf. Selbstgesetzgebend. Selbstgeständnis. Selbstherrscher. Selbstlob. Selbstmacht. Selbstschändung. Selbstschöpferin. Selbsttötung. Selbstverdammung. Selbstverteidigung. Selbstvertrauen. Selbstzufriedenheit. (Zusammengestellt nach: Kant-Konkordanz in zehn Bänden, herausgegeben von Andreas Roser und Thomas Mohrs, unter Mitarbeit von Frank R. Börncke, Band VI: Plautus – Substanz, Hildesheim, Zürich und New York 1993, S. 443-451. Vgl. auch: Wortindex zu Kants gesammelten Schriften, herausgegeben von Gottfried Martin, Band 17, Zweite Abteilung: Wortindex, Zweiter Band, Berlin 1967.) 117 | Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, Akademie-Ausgabe 2, S. 324. 118 | Aristoteles: Über die Seele, a.a.O., S. 411b 24. 119 | Meister Eckhardt: Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übersetzt von Josef Quint, München 51978, Predigt 10, S. 195. – Original: »Diu sêle ist ganz und ungeteilet alzemâle in

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est tota in toto corpore ejus, et iterum tota in qualibet parte ipsius, sicut Deus se habet ad mundum.«120 (Wenn die Dimension des Leibempfindens und der meßbare Körper übereinstimmen – daß etwa der Schmerz, den ich im Fuß empfinde, mit einer dort befindlichen Verletzung korrespondiert, spricht Thomas Fuchs davon, daß Körper und Leib »koextensiv«121 seien.) In der ›Kritik der reinen Vernunft‹ stellt Kant nun das ›Ich‹ im wesentlichen als logische, der Rezeptivität der Sinne (ihrer Perzeption) gegenübergestellte, vom Bewußtsein spontan ›hervorgebrachte‹ Funktion dar. In der Transzendentalen Analytik heißt es in § 15: Von der Möglichkeit einer Verbindung überhaupt zusammengefaßt entsprechend wie folgt: »Allein die Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen«122; die Verbindung sei ein Aktus der Spontaneität (= reine oder ursprüngliche Apperzeption, siehe § 16) der Vorstellungskraft (des Verstandes). Anders formuliert: die Verbindung sei die Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. In § 16 heißt es dann: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können.«123 Das ›Ich‹ in Ich denke bezeichnet demnach nichts anderes als die zentrale Sammlung aller meiner Vorstellungen unter einem (meinem) Gesichtspunkt. Meine Vorstellungen sind praktisch lediglich die Prädikate des ›Subjekts‹, das ich bin, das aber immer schon dieses Ich denke voraussetzt.124 An dieser Stelle sei, Mißverständnissen vorzubeugen, auf das letzte Wort im zitierten Satz, das von Kant graphisch betonte ›können‹, kurz hingewiesen: So, wie Kant es betont, betont er anscheinend lediglich die Möglichkeit (nicht die Notwendigkeit), daß das Ich denke alle meine Vorstellungen begleiten können muß. Man müßte hier jedoch klarstellend hinzufügen: Eine bestimmte (wie immer unbewußte) Art des Ich denke scheint tatsächlich und notwendigerweise immer alle meine Vorstellungen zu begleiten. Wenn ich mich auf einen Gegenstand richte, dann stelle ich automatisch-unbewußt den Bezug zu mir her, die Teetasse, die ich sehe und nach der ich greife, wird immer schon verknüpft mit einem unbewußten Ich dendem vuoze und alzemâle in dem ougen und in ieglîchem glide.« In: Meister Eckhardt: Predigten, Erster Band, hg. und übersetzt von Josef Quint, Stuttgart 1958, S. 143, Predigt 9 (sic!). 120 | Thomae Aquinatis Opera Omnia: Summa Theologica, Volumen primum, summa theologica pars prima seu summa naturalis, Paris 1871, quaestio 93, articulus 3, S. 583. Übersetzung: »Die Seele des Menschen ist ganz im ganzen Körper und ebenso in jedem seiner Teile, wie Gott sich [in ähnlicher Weise, M.M.] zur Welt verhält.« 121 | Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 39. 122 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft: Transzendentale Analytik: I. Buch, II. Hauptstück: Der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Zweiter Abschnitt [nach Ausgabe B], nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, S. B 129f. (S. 107). 123 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft: Transzendentale Analytik: I. Buch, II. Hauptstück: Der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe Zweiter Abschnitt, a.a.O., S. B 131f. (S. 108). 124 | In den Augen von Herbert Schnädelbach vertritt Kant hier »in Wahrheit bereits eine Theorie der Selbstreferenz mithilfe indexikalischer Ausdrücke«, in: H. S.: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München 22012, S. 101.

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ke. Anderenfalls wäre im übrigen ein nachträgliches explizit-bewußt gemachtes Ich denke oder Ich greife oder Ich trinke gar nicht möglich. Das heißt: Bewußtsein ist auch aus dieser Sicht immer schon (implizites) Selbstbewußtsein. Was Kant Selbstbewußtsein nennt, wäre in meiner Interpretation das explizit-bewußt gemachte Bewußtsein, in Metzingers Terminologie das opake Bewußtsein der Intentionalitätsrelation (PMIR), also die explizite Bewußtwerdung, daß meine Aufmerksamkeit sich gerade auf die Teetasse richtet im Sinne eines ›Ich bin mir jetzt bewußt, daß ich gerade die Teetasse betrachte und jetzt nach ihr greife‹; das ist jene Form des Bewußtseins, welche als ›Bewußtsein zweiter Ordnung‹ bereits mehrfach Erwähnung fand. Jedenfalls scheint eine weitere von Kants Aussagen darauf hinzudeuten, daß auch nach ihm das Ich denke notwendigerweise alle meine Vorstellungen tatsächlich begleiten muß. Schreibt er doch: »Ich nenne sie [die Vorstellung des Ich denke, M.M.] die reine Apperzeption, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere[n Vorstellungen, M.M.] muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner [Vorstellung, M.M.] weiter begleitet werden kann.«125 Diese ursprüngliche Apperzeption ist also keine empirische Vorstellung, sondern einfach die transzendentale, ursprüngliche logische Verbindungs- und Vereinheitlichungsfunktion, welche »vom Subjekte« in einem »Actus seiner Spontaneität« wie auch immer hervorgebracht wird und die die Vorstellungen bündelt bzw. auf ein logisches Zentrum zurückbindet. Und sie muß eben jede empirische Vorstellung begleiten – Kant schreibt das nicht explizit, sondern der Schluß ergibt sich aus dem von ihm geschriebenen –, weil sonst keine der Vorstellungen als meine Vorstellung würde wahrgenommen werden können. (Eine mögliche nuancierende Kritik, die sich davon abgesehen am Konzept des Ich denke anbringen ließe, wäre die Feststellung, daß ›ich-lose‹ Zustände – etwa im Rausch oder in der Meditation – nicht zureichend berücksichtigt und reflexiv eingepreist werden. Begleitet auch in der erlebten ›Ichlosigkeit‹ ein Ich denke meine Vorstellung? Und falls nicht, wie wäre das bewußte Erleben dann zu interpretieren? – Was die ›ich-losen‹ Zustände betrifft, so fällt allerdings ins Auge, daß der von ihr Betroffene sich nach Abklingen dieser Zustände oft daran erinnern und diesen Zustand sich zuordnen kann; woraus man mittels phänomenologischer Induktion schließen darf, daß auch im erlebten ›ich-losen‹ Zustand auf der nichtbewußten mentalen [nichtphänomenalen] Ebene eine Form der Ich- oder SelbstRepräsentation aufgebaut bleiben muß.) Die Einheit der Vorstellung jedenfalls ist gleich der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins126 – was insofern wichtig ist, als die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, nicht insgesamt meine Vorstellungen sein würden, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehörten.127 Kant legt also dar, daß ohne die Verknüpfung und Vereinigung der Vorstellungen in einem Selbstbewußtsein (wodurch sie insgesamt meine Vorstellungen werden) »ich ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst haben (würde), als ich Vor125 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 132 (S. 178). 126 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 131f. (S. 178). 127 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 131f. (S. 178).

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stellungen habe, deren ich mir bewußt bin«128. Ohne Einheit demnach ein vielfarbiges verschiedenes Selbst. Und Kant weiter: »Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen.«129 Dieses Selbst ist also lediglich die reine Apperzeption bzw. die synthetische Einheit der Vorstellungen – mehr nicht! Dasselbe kommt im Ansatz auch schon in einem programmatischen Brief an Marcus Herz zum Ausdruck, in welchem Kant schreibt, daß »das Dencken oder das existiren des Gedanckens und meiner Selbst einerley«130, also dasselbe, seien. Wichtig ist im weiteren der in § 17 geäußerte Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit (gemäß der transzendentalen Ästhetik): daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter den formalen Bedingungen des Raums und der Zeit steht, sowie der ebendort stehende Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf den Verstand: daß alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe.131 Das Urteil Ich denke ist also »das Vehikel aller Begriffe«, das »nur dazu dient, alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig, aufzuführen«132 . Wobei dieses Ich denke allein Teil der rationalen Psychologie, nicht der empirischen sei, wozu die besondere Wahrnehmung meines inneren Zustandes gehöre (zum Beispiel Lust/Unlust etc.)133. Schließlich verweist Kant im Rahmen seiner Diskussion des Ich denke auf folgende drei, hier elliptisch zusammengefaßte Schlußfolgerungen hin: 1. Selbsterkenntnis liegt dann vor, wenn ich mir der »Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Funktion des Denkens, bewußt bin«134 . 2. Alle modi des Selbstbewußtseins sind »bloße logische Funktionen«135. 128 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 134f. (S. 180). Vgl. Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976, S. 76ff. 129 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 135 (S. 180). 130 | Brief an Marcus Herz, 21. Februar 1772, in: Immanuel Kant: Briefwechsel, AkadmieAusgabe, Band 10, Berlin und Leipzig 21922, S. 134. – Vgl. auch Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 406 (S. 266f.). 131 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. B 136 (S. 181). – Im übrigen verweist Kant in § 18 auf den Unterschied zwischen objektiver transzendentaler Einheit der Apperzeption und der subjektiven Einheit des Bewußtseins. 132 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, S. B 399f. (S. 443f.). 133 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, S. B 400f. (S. 444f.). 134 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, S. B 406 (S. 449). 135 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, S. B 406 (S. 449).

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3. Objekt des Denkens ist lediglich das Wissen (Bewußtsein), daß ich es bin, der die und die Vorstellung hat (und nicht das »Bestimmende«136). Und Kant wiederholt seinen Kernbefund: »[…] das Ich ist nur das Bewußtsein meines Denkens […]«137. Legte man an dieser Stelle die Formeln von Humes Bündel und Kants Ich denke zusammen, dann ließe sich sagen, daß das bündelnde Merkmal, welches das Bündel erst Bündel sein läßt, in gewisser Weise Kants Ich denke ist. Wobei man das Ich denke semantisch allgemein erweitert verstehen darf als Ich erlebe, im Sinne konkreter Erlebnisse wie Ich denke an dich, ich sehe die Seeterrasse, ich spüre den schmerzenden Zahn, ich erlebe den Fallschirmsprung als Himmel und Hölle etc. Die von Hume erwähnten Perzeptionen werden also durch das Ich erlebe zu meinen Perzeptionen. Anders gesagt: Was Hume mit dem Possessivpronomen ›mein‹ in ›meine Perzeptionen‹ anspricht, begreift Kant mit der Formel des Ich denke bzw. Ich erlebe. Humes ›Perzeptionen‹ werden von Kants Ich denke gebündelt. Darüberhinaus ließe sich Kants Ich denke im Sinne dieser Arbeit übersetzen und begrifflich erweitern in ein Ich umgrenze. Das heißt, nicht nur muß alle meine Vorstellungen ein Ich denke begleiten, sondern alle meine Vorstellungen muß ein implizites, zunächst nichtbewußtes ›Ich‹ umgrenze formen und strukturieren: denn nur indem ›ich‹ etwas als zu mir gehörig eingrenze, trenne ›ich‹ anderes zugleich von mir ab – und schaffe einen Außenraum. Anders gesagt: das Erleben wird erst dadurch zu meinem Erleben, wenn zuvor oder zugleich ein umgrenzter Raum gebildet wurde oder gebildet wird, den ›ich‹ als den meinen identifiziere. Erst durch die Raumbildung, die Identifikation mit dem Raum, wird aus ›ich‹ ein erlebtes Ich, entsteht das Erleben als mein Erleben, entsteht das ›ich erlebe‹ (hierzu mehr im III. Hauptteil).

Friedrich Schiller, die Person und ihr Zustand, das Innere und das Äußere In seinen anthropologischen Briefen unterteilt Friedrich Schiller den Menschen einerseits in die Person und andererseits in deren Zustände: die Person sei das Bleibende, die Zustände hingegen seien das immerzu Wechselnde; oder formelhaft gesprochen: die Person beharrt, ihre Zustände wechseln.138 Die Beziehung ›Person und Zustand‹ setzt er dabei parallel mit derjenigen von ›Selbst und seinen Bestimmungen‹. Jenseits des Begriffs ›das Selbst‹ bezeichnet Schiller ›die Person‹ alternativerweise auch mit den Begriffen ›das Ich‹, ›die Persönlichkeit‹ oder ›die Form‹ – und letztlich mit dem ›Inneren‹. So bleiben bei Schiller am Ende sechs auf das Gleiche zielende Begriffe: Person, Persönlichkeit, Selbst, Ich, Form, Inneres. 136 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, S. B 407 (S. 449f.). 137 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., Transzendentale Dialektik: II. Buch, Des zweiten Buchs der Transzendentalen Dialektik erstes Hauptstück: Von den Paralogismen der reinen Vernunft, B 413 (S. 454). 138 | Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, Eilfter Brief, S. 43-46. Alle Zitate sind aus diesem Brief.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst »Wir gehen von der Ruhe zur Thätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Uebereinstimmung zum Widerspruch; aber wir sind doch immer, und was unmittelbar aus uns folgt, bleibt.«

Dabei müsse die Person ihr eigener Grund sein, denn »das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen«. Mit einem Bild aus der Welt der Flora erläutert Schiller die Beziehung zwischen Person und Zustand: »Indem wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung und leihen ihr gleichsam eine Person, an der sich jene beyden Zustände offenbaren.«

Dabei betont Schiller zugleich, daß es den Menschen als »bloße Person« (ohne Zustände) nicht gebe, sondern daß der Mensch immer eine Person sei, »die sich in einem bestimmten Zustand befindet«. Wenn dabei der Mensch »Materie« in sich aufnehme, die sich außer ihm im Raum befinde, dann begleite sein niemals wechselndes Ich diesen in ihm wechselnden Stoff. Der Mensch ist also nicht bloßer Stoffwechsler, sondern er ist Stoffwechsler mit einem zugleich diesen Wechsel begleitenden Ich, einer diskreten Escort-Person, ohne die der Wechsel nicht zur eigenen einheitlichen Erfahrung werden könnte. In kantischer Begrifflichkeit könnte man sagen: Das Ich muß alle meine wechselnden Vorstellungen begleiten, damit sie die meinigen sein können. Die Person ist also »nichts als Form und leeres Vermögen« – und ohne Sinnlichkeit leer. Wie auch umgekehrt der Mensch »der Materie Form ertheilen« muß, um in der Vereinigung mit ihr nicht »bloß Welt« zu sein. Seine Form verwirklicht der Mensch, wenn er »dem Beharrlichen die Veränderung« gegenüberstelle bzw. »der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt«. Die Anforderung, die sich an den Menschen dabei stellt, ist eine doppelte: Einerseits soll er die Form mit Hilfe der Materie versinnlichen, andererseits alles, was bloß Materie ist, formalisieren und sie dadurch zur eigenen machen. Mit Schillers Worten: der Mensch »soll alles Innre veräußern und alles Aeußere formen«. Was bedeutet gerade das letztere für den Zusammenhang dieser Arbeit? Zunächst ist zu bemerken, daß Schiller wie eingangs dieses Abschnittes bemerkt seine Personentheorie mit räumlichen Begriffen erläutert. Man darf also ›das Innere‹ hier gleichsetzen mit Person, Persönlichkeit, Ich, Selbst, Form. Hingegen den Begriff ›das Äußere‹ in Beziehung setzen mit der Materie bzw. den sinnlichen Bestimmungen oder Zuständen der Person. Das Innere ist demnach auch das Eigene. Das Innere jedoch kann nur sein, wenn es in Berührung mit dem Äußeren kommt und sich dieses aneignet. Indem der Mensch den Stoff in sich wechselt, macht er ihn zugleich zu seinem Stoff und damit zu einem Teil von sich selbst. So zeigt sich, daß die Person nur in Verbindung mit der Materie sich verwirklichen oder Wirklichkeit werden kann. Es besteht hier eine von Anfang an bipolare Ausrichtung des Menschen – Ich und Materie, Form und Stoff, Person und Zustand, Inneres und Äußeres. Ist Schillers Konzeption der ›Person‹ aber eins zu eins übertragbar in die hier vertretene Raumselbsttheorie? Ich glaube nicht. Nach Schiller kann es die ›Person‹ ohne Zustände nicht geben; übersetzte man das in mein hier vorgestelltes

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Konzept, dann müßte man sagen: die ›Person‹ kann nicht sein ohne das Erleben eines Innenraums – das hieße, daß das, was Schiller unter Zustände versteht, hier nichts anderes als der jeweilige erlebte Innenraum wäre. Das hieße folglich auch, daß Schillers Konzept vom Inneren und Äußeren in einer anderen als der hier vertretenen Auffassung Anwendung fände: denn wenn für Schiller das Innere die Person und das Äußere die Zustände sind, dann folgte daraus auf dem Feld der Raumselbsttheorie: das Selbst ist das Innere, und der erlebte Innenraum das Äußere (wobei man hinzufügen müßte: der Mensch identifiziert etwas ›Äußeres‹ als Innenraum, wodurch erst sein ›Inneres‹, sein Selbst, entsteht). Unterm Strich bedeutet das, daß Schiller einen Begriff des wirklichen Außen nicht im Visier hat; bei ihm verschlingen sich Inneres und Äußeres vielmehr in einer reziproken Medialität – das Innere kann nicht sein ohne das Äußere (die Person nicht ohne ihre Zustände), und das Äußere nicht ohne das Innere (die Zustände nicht ohne ihre personale Form). Es handelt sich hier letztlich um eine Variante von Aristoteles’ Seelen-Körper-Konzept, nach welchem die Seele (sprich die Person) vom Körper (sprich die Zustände) so wenig trennbar sei wie bei einer Wachsfigur die Figur vom Wachs trennbar ist.

Fichte und Schelling, das Ich als Zentrum und Ursprung des Selbstbewußtseins sowie Dieter Henrich und Manfred Frank als Enkel und Urenkel der Herren Fichte und Schelling sowie ein Blick zurück auf Hegel Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling erklären das ›Ich‹ zum »Princip der Philosophie« (Schelling139), rücken es damit ins Zentrum der zerebralen Milchstraße, des menschlichen Bewußtseins. Sie behalten die Differenz zwischen transzendentalem und empirischem Selbstbewußtsein bei – erklären aber das Ich denke zum unbedingten Ursprung. So konnte in einer typisch britischen polemischen Pointierung Bertrand Russell über Fichtes Philosophie sagen, für diesen sei »alles nur eine Ausstrahlung des Ichs«140; mit einem wohlwollend getönten Blick könnte man hieraus auch schlußfolgern, daß das so ausstrahlende Ich die Erfahrung eigenen Reichtums macht – die Erfahrung der »Unmöglichkeit, armselig zu sein«141: ›Dies Alles bin ich!‹ Fichte läßt sich als der Großmeister der autogenen Erfahrung beschreiben – wenn es gilt, beim Absoluten einzudocken und die eigene Subjektivität als Filiale Gottes zu eröffnen. Den Begriff ›Selbst‹ verwendet er in unterschiedlichsten Zusammenhängen ohne systematische und präzisierende Explikation, ›Selbst‹ taucht meist in Komposita auf, zunächst jeweils im Sinne der Selbstbezüglichkeit. Die

139 | Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie oder das Unbedingte im menschlichen Wissen, (1795), hg. von Hartmut Buchner und Jörg Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. 140 | Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. Zürich 2007, S. 19. Dort und S. 725 bezeichnet Russell Fichtes Ich-Konzept als »Wahnsinn«. 141 | Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente. Von Platon bis Foucault, München 2009, S. 77.

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Person nennt Fichte ein »lebendiges und fühlendes Selbst«142 . Daß in neuerer Literatur ›Selbst‹ für ›Ichheit‹ stehe, stellt er fest.143 Dabei ist für ihn deutlich, daß Selbstbewußtsein »einen Gegenstand haben (muß)«144. Oft läßt sich am Menschen allerdings von Anfang an eine Form der Selbstverlorenheit beobachten, und zwar dadurch, daß er unbewußt den Vorstellungen der äußeren Dinge erliegt und an diesen haftet. Aus dieser Selbstverlorenheit muß er sozusagen wie aus einem paradoxen Gefängnis türmen und sich ins wahre Zuhause zurückdenken, und das heißt: sich im Denken selber denken.145 In dieser Zweiteilung – Verlorenheit an die Vorstellungen der äußeren Dinge und Bei-sich-sein im Denken – zeigt sich eine Analogie zu Kierkegaards Ästhetiker, der »alles von außen (erwartet)«, im Unterschied zum Ethiker, der seinen »Platz richtig wählt«146, sowie eine Analogie zu Heideggers Konzept der Verfallenheit an das Man (Man-selbst) im Unterschied zum eigentlichen, entschiedenen Selbst (siehe unten den Abschnitt zu Heidegger und das Problem des Selbst). Da es sich damit für Fichte beim Ich denke à la Kant um keine Vorstellung selber handeln kann, macht er es zu einer unbedingten Tathandlung, durch die sich das Ich selbst setze.147 Es setze sich als Tatsache und dabei logischerweise automatisch zugleich sein ›Gegenteil‹, das Nicht-Ich, den Bereich der Gegenstände. In Formulierungen wie der folgenden zeigt sich, wie Fichte den bei Kant noch personalpronominalen und indexikalisch-hinweisenden Gebrauch des ›ich‹ substantiviert. »Es denke nun jeder sein ICH, u. gebe dabey achtung wie er es mache.«148 Hier liegt offenbar ein Paralogismus vor, das heißt, Fichte begeht den Fehler der Vergegenständlichung des ›Ich‹-Parts in der Formulierung ›Ich denke‹. Nachkommende Vertreter der zeitgenössischen, idealistisch geprägten Subjektphilosophie wie Dieter Henrich und Manfred Frank haben dabei in der Auseinandersetzung mit Fichte wiederholt versucht, das Selbst als Erscheinungsform eines präreflexiven, irrelationalen »Wissens von sich« zu begreifen.149 Auch für sie gilt 142 | Johann Gottlob Fichte: Versuch einer neuen Darlegung der Wissenschaftstheorie, (1797/1798), in: J. G. F.: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Band I/4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964ff., S. 256f. 143 | Johann Gottlob Fichte: Versuch einer neuen Darlegung der Wissenschaftstheorie, (1797/1798), Akademie-Ausgabe, a.a.O., Band I/4, S. 278. 144 | Johann Gottlob Fichte: Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre, (1800), AkademieAusgabe, a.a.O., Band II/5, S. 358. 145 | Zu Fichtes Freiheitsbestimmung des Ichs siehe etwa Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken, a.a.O., S. 113-118. 146 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, Teil I und II, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegebenen von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Heinrich Fauteneck, München 112012, II. Teil, enthaltend die Papiere von B, Briefe an A, S. 817. 147 | Johann Gottlob Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: J. G. F.: Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre und Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Hamburg 1954, S. 44. 148 | Johann Gottlob Fichte: Wissenschaftslehre novo methodo, Akademie-Ausgabe, a.a.O., Band IV/2, S. 29. 149 | Verwiesen sei hier allgemein auf die Arbeiten der von Ernst Tugendhat so genannten ›Heidelberger Schule‹ um Dieter Henrich, etwa Dieter Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische

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seit Fichte das Ich als ein allbegründendes Prinzip. Das Ich wisse sich unmittelbar, seine Selbstgewißheit gehe der vergegenständlichenden Trennung in Subjekt und Objekt voraus. Es gehe damit auch der Frage voraus, wie das Ich von sich wissen könne, ohne sich erneut in Erkennendes und Erkanntes zu zerteilen. In diesem Wissen von sich sei nach Henrich »vorausgesetzt, daß einer von sich selbst weiß, und zwar so, daß er zugleich auch weiß, daß dies Wissen ein Wissen von ihm selbst ist. Man nennt solches Wissen Selbstbewußtsein […]«150. Der irrelationale Teil des Wissens von sich beziehe sich dabei darauf, daß das »Wissen von sich« nicht »aus einem anderen Verstehen« aus anderen Bereichen des Lebens »herleitbar« sei, sondern daß das »Wissen von sich« immer schon gegeben sein müsse wie eine »aus sich selbst begründete oder zu begründende Realität«151. Ich kann nicht lernen, daß ich ich bin, sondern bei allem, was ich tue, weiß ich schon von Anfang an, daß ich es bin, der handelt, spricht und denkt. Das unmittelbare Wissen von sich sei hierbei »eine Voraussetzung dafür […], daß wir die Beziehung auf Objekte und Prozesse in der Welt eindeutig und stabil machen können«152 . Dabei gehört zwar der Mensch selbst auch zu der Welt, auf die er sich bezieht, geht jedoch in ihr nicht auf – oder in den Worten von Henrich: das Subjekt, welches Bezug nimmt und damit gewissermaßen erst die Welt erscheinen läßt, geht »in nichts von dem auf, was in eben der Welt als Gegenstand zu erkennen ist«, und das heißt, daß die Welt »uns […] nicht einschließt«153. So bleibt das Subjekt ein quasitranszendentes, präreflektives, irrelationales, wenn auch endliches (nicht absolutes) Selbst.154 Gegen eine Trivialisierung des Subjektbegriffs richtet sich Henrichs Argumentation zum indexikalischen Gebrauch des Pronomens ›ich‹. Eine Trivialisierung des Subjektbegriffs bestehe nämlich darin zu behaupten, daß bereits die bedeutungsgerechte Verwendung von ›ich‹ das Wesentliche des Subjekts erschließe; dagegen wendet Henrich ein, daß die Verwendung von ›ich‹ immer schon ein Wissen von sich voraussetze.155 Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I, hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer und Reiner Wiehl (Festschrift für Hans-Georg Gadamer), Tübingen 1970, S. 257-284, oder Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, a.a.O., sowie Manfred Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zu analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991, S. 6. 150 | Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Ditzingen 1999, S. 14. 151 | Dieter Henrich: Bewußtes Leben, a.a.O., S. 23. 152 | Dieter Henrich: Bewußtes Leben, a.a.O., S. 24. 153 | Dieter Henrich, Bewußtes Leben, a.a.O., S. 24. 154 | Auch für Jean-Paul Sartre ist jede intentionale Erfahrung immer schon eine sichselbst-gegebene Erfahrung (das, was Dorothée Legrand Selbst-als-Subjekt nennt – siehe unten den Abschnitt zu Dorothée Legrand). Das heißt: Jedes Bewußtsein ist immer schon präreflexives Selbstbewußtsein im Fichteschen oder Henrichschen Sinne. Folglich ist auch für Sartre klar: Bewußtsein besitzt immer schon eine Dimension der Selbstheit (Ipseität) (vgl. dazu auch Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of the Self, in: Shaun Gallagher [Hg.]: The Oxford Handbook of the Self, Oxford 2011, S. 324). 155 | Vgl. Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a.M. 2007, S. 28f.

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Problematisch an solchen letztlich logisch-phänomenologisch deduzierten Befunden ist die Tatsache, daß sie biologische Perspektiven auf die Genesis des subjektiven, reflektierenden Elements nicht mit aufnehmen. Zöge man freilich in der Philosophie eine biologische Rückführung des reflektierenden Selbst mit in Betracht, so verschöbe sich Henrichs Frage lediglich auf eine andere ontogenetische Position. Die Frage lautete dann: Wieso und wie ›wissen‹ Zellen, daß sie auf eigenes oder fremdes ›Bezug nehmen‹? Woher ›wissen‹ die Teile, daß sie zu einem Ganzen gehören, daß sie letztlich ein Ganzes bilden (falls sie das ›wissen‹)? Von hier aus wäre im übrigen der Schritt zu einem Seelenbegriff à la Aristoteles möglich. Insofern bei Aristoteles die Seele als ganzes das Formprinzip des Körpers ist, müssen auch die ›Teile‹, also hier die Zellen, ihren Seele-konsistenten ›Beitrag‹ zur Gestaltung des jeweiligen Lebewesens leisten. Was HegeI angeht, so müssen hier kürzeste Hinweise genügen. Gemäß seiner Naturphilosophie zeigt sich ›das Selbst‹ im jeweiligen Wesen von Pflanze, Tier, Organismus, ist also nicht an Menschen bzw. Personen gebunden.156 Im Rechtszustand sei das Selbst »abstrakte Person«157. In der Moraltheorie erscheine das Gewissen als ›das wirkliche Selbst‹, im Gewissen sei das Selbst gewissermaßen »als reines sich selbst gleiches Wissen das schlechthin Allgemeine«158. Das Wort ›Ich‹ bezeichnet dabei nach Hegel zugleich ein individuelles Ich wie etwas, was jeder andere auch sei: »Ich ist dieses Ich, aber ebenso allgemeines.«159 Zudem ergeben Ich und Nicht-Ich kein synthetisches, höherstufiges Ich. Vielmehr entsteht das Ich erst aus seiner Differenz zum Nicht-Ich. Das Ich ist erst dann bei sich zuhause, wenn es das Nicht-Zuhause in seinem Rücken hat. Nicht nur gilt, wer ein Haus im Rücken hat, kann spazieren gehen; sondern auch, wer ein NichtHaus im Rücken weiß, kann den Innenraum erleben.

Søren Kierkegaard und die entschiedene Selbstwahl Was menschliche Subjektivität angeht, stellt Søren Kierkegaard vor dem Hintergrund des hybrid platonisch-christlichen Metaphysik-Massivs die Frage nach dem existentiellen Weg des konkreten Einzelnen. Damit erhebt Kierkegaard auch Einspruch gegen Hegels Typus des ›abstrakten Denkens‹ und rückt das ›Selbst‹ in seiner Einzelheit als existentielle Aufgabe und abschüssige Frage thematisch ins Blickfeld. Wie man von einer Brentano-Husserl-Wende in Hinsicht auf die Intentionalität sprechen kann – ich bin immer schon bei den Gegenständen –, so auch von einer Kierkegaard-Wende – was die Abwendung vom ›abstrakten Denken‹ und die gleichzeitige Hinwendung zum nach vorn hin offenen und individuellen Lebenslauf des konkreten Einzelnen betrifft. Die Existenzphilosophie des 20. Jahrhun-

156 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der Wissenschaften, (1830), AkademieAusgabe, Hamburg 1992, Band 20, §§ 347, 351, 357, 371. 157 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, (1807), Akademie-Ausgabe, a.a.O., Band 9, S. 401, siehe auch S. 260ff. 158 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der Wissenschaften, Akademie-Ausgabe, a.a.O., Band 20, §§ 347, 351, 357, 371. 159 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Akademie-Ausgabe, a.a.O., S. 276.

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derts bildete in gewisser Weise die Verschmelzung von Kierkegaardscher ›Selbstwahl‹ und Brentano-Husserlscher Intentionalitätstheorie.160 Das Selbst sei »das Abstrakteste von allem« und zugleich »das Konkreteste von allem«161 – es sei die Freiheit. Der Gedankengang ist zweigeteilt: Zunächst die falsche Einstellung, die sich zeigt, wenn ein Mensch Wünsche hinsichtlich seiner selbst habe – daß er ein besserer, klügerer, schönerer Mensch sei etc.; ungeachtet dieser denkbaren Wünsche, würde er aber doch niemals wünschen, »daß er ein anderer werden möchte«162, und am liebsten er selber bleiben. Was also in ihm »absolut« sei im Vergleich mit allem anderen, »wodurch er ist, der er ist, und wenn auch die Veränderung, die er mit seinem Wunsch erreichte, die größtmögliche wäre« – das sei für diesen Menschen das »›Selbst‹«163. Das Selbst ist dabei zugleich der Gegenstand der Wahl und Wählender, es ist darüberhinaus das Verhältnis zwischen Wählendem und Gewähltem und zu guter Letzt das sich zu sich selbst verhaltende Verhältnis selbst (und das ist »das Abstrakteste« und zugleich »das Konkreteste«). Kierkegaard: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«164 Wer also ein vermeintliches Wunschselbst wähle, der habe nicht sich gewählt. »Richtig gestellt« sei hingegen derjenige, der sich selbst »in absolutem Sinne«165 wählt: Dieses Selbst sei zugleich »unendlich konkret«, denn »es ist er selbst«: Dieses Selbst sei »zuvor nicht dagewesen«; erst durch seine »absolute«166 Wahl sei es geworden; andererseits sei es schon dagewesen, sonst hätte er es nicht gewählt, sondern erschaffen. Das ist hegelsche Dialektik. Hierin zeigt sich die Freiheit: Ich bin es, der ich mich selbst wähle, der ich mich aber zugleich durch die Wahl auch schon verändere. Die Aufhebung des Widerspruchs von Wählendem und Gewähltem ist das Verhältnis zwischen beiden, das sich zu sich selbst verhält. Dafür, daß ich geschaffen bzw. gezeugt wurde und durch meine Natur und meine Umwelt geprägt bin, kann ich nichts (Zustand der Unfreiheit); aber durch die Bewußtwerdung übernehme ich die Verantwortung dafür. Erst in dieser Selbstwahl und in diesem Selbstverhältnis, das sich zu sich selbst verhält, komme ich zu mir selbst,

160 | Auf politologischer Ebene ließe sich auch der ›Nationalsozialismus‹ als megalomanisch irregeleitete Form des staatlichen Existentialismus interpretieren; siehe dazu etwa Heideggers fatale Ineinanderblendung der Interpretationsebenen des Einzelnen und des ›deutschen Volkes‹ im Jahr 1933. 161 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 772. 162 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 772. 163 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 772f. 164 | Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, herausgegeben von S. Kierkegaard, 1849, in: Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Furcht und Zittern, Die Wiederholung, Der Begriff der Angst, hg. von Hermann Diem und Walter Rest unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, aus dem Dänischen von Walter Rest, München 22007, S. 31. 165 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 773. 166 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 773.

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gewinne ich »die Freiheit«: das wählend-gewählte Selbst bzw. das Selbstverhältnis »ist die Freiheit«167. Wähle ich mich selbst, so isoliere ich mich und bleibe doch zugleich mit der sozialen Welt verbunden – denn das Selbst, das ich wähle, hat eine Geschichte, in der ich in Beziehung zu anderen stehe.168 Es geht damit auch um eine retrospektive Verantwortung für sich selbst, eine rückwirkende Übernahme der eigenen Geschichte. Um die eigene Geschichte übernehmen zu können, muß der Mensch sie sich ›durchsichtig‹ machen bzw. sie erzählen. Man kann Kierkegaard als Vorläufer des Konzepts des narrativen Selbst bezeichnen. Dabei hat das narrative Selbst bei ihm einen ethischen Ursprung bzw. entsteht es erst im Zuge einer ethischen UrWahl: denn meine eigene Geschichte entsteht erst, wenn ich mich selbst wähle und mir meine Geschichte erzähle; wähle ich mich nicht selbst, so habe ich überhaupt keine Geschichte. Bevor ich meine Geschichte als meine erkennen kann, muß ich mich also selbst gewählt und mir von mir selbst erzählt haben. Was demnach in der ständig sich wandelnden individuellen Existenz dauerhaft bleibt, ist das Narrative, die Erzählung; und diese über die Wechselfälle des Endlich-Zeitlichen erhabene Erzählung ist Ausdruck der menschlichen Freiheit. Ich erzähle, also bin ich frei. Was im übrigen konkret die räumliche Dimension des Lebens anbelangt, so findet sich bei Kierkegaard ein bemerkenswerter, gerade die Offenheit des Lebens betonender Satz: »Dasein ist das Spatiirende [das Raumschaffende, M.M.], das auseinanderhält«169. Dasein unterscheidet er dabei vom System; dieses sei Abgeschlossenheit, jenes hingegen offen, es könne allein für Gott ein System sein, für den Menschen hingegen sei es eben spatiierend, raumöffnend. Anders formuliert: das menschliche Leben kann nur sein, insofern es Räume findet, in denen es sich geschützt entfalten und folglich beschirmt geführt werden kann. Der Raum ist der Luxus-Hort für die Entfaltung des eigenen Selbst. Jeder Mensch hat schon vor seiner Geburt, von der Befruchtung der Eizelle an, einen Krippenplatz – zunächst unter den Rippen seiner Mutter. Menschen sind Wesen, die zur Krippe kommen, in der Krippe schweben, in der Krippe wachsen. Um dann, wenn die Krippe zu eng wird, auszubrechen und im Freien eine neue, größere Selbst-Krippe zu suchen und zu finden. Diese Selbst-Krippe ist das Selbstverhältnis, das sich zu sich selbst verhält und sich von sich selbst erzählt. Der freie Mensch wohnt in der KrippenErzählung seines Lebens.

167 | Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 772. – Dies ließe sich auch im Rahmen eines Explikationskonzepts interpretieren, in dem Sinne, daß ich mich mir selbst erst explizit mache, obschon ich implizit schon da bin. Sich selbst explizit machen heißt sich selbst durchsichtig werden. 168 | Vgl. Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, a.a.O., II. Teil, S. 774. 169 | Vgl. Søren Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, in: Søren Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, hg. von Hermann Diem und Walter Rest unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft, aus dem Dänischen von Børge und Susanne Diderichsen, München 32013, S. 252.

Kapitel II.2

Karl Marx und das zu sich kommende kollektive Selbst Hatte Hegel die Geschichte des Geistes bis zu dessen reflektierter Vollendung im avancierten Subjekt an der Spitze der Zeit, der Gegenwart, in ihm selbst sachlich wie ein selbstbewußter Beamter nachgezeichnet und somit alles für einen scheinbar erleuchteten Feierabend der Geschichte bereitet, so lieferte Karl Marx dazu die vielleicht wirkmächtigste, jedenfalls ironischste Fußnotenposse der Philosophiegeschichte. Er lieferte sie, indem er den hegelschen Weltgeist auf ein gesellschaftliches Subjekt übertrug, das sich unter Führung eines revolutionären Philosophen in einem kollektiven Sprechakt auf dem Boden von Industriehallen selbst konstituiert. Wo zunächst in der industrialisierten Zeit bewußtlose Einzelne auftauchen und in ohnmächtiger Verzweiflung fremdbestimmt in den Manufakturen und den Fabriken untergehen, entsteht durch einen gesammelten gemeinsamen Echo-erzeugenden Ruf ein mächtiges, selbstbewußtes Großsubjekt: Mein Name sei Proletarier. Und wie in einem übers Land hin rollenden Selbstgespräch sagt jeder einzelne, der einen Teil des Großraumsubjekts bildet, wie in einem täglichen Mantra zu sich selbst: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Der Innenraum, der den Einzelnen in diesem Fall zu sich kommen läßt, ist das Arbeiterklassenzimmer. Hier bin ich Subjekt, hier darf ichs sein.

Friedrich Nietzsche und der Leib als das große Vernunft-Selbst Friedrich Nietzsche stellt das ›Selbst‹-Denken vom Kopf auf die Füße. Bisher, auf den Punkt gebracht, diskutierten die Gelehrten ›Selbst‹ überwiegend unter Bezugnahme auf Bewußtsein, Ich und Reflexion; Nietzsche zerschneidet diesen Faden und enthüllt den Leib als wahres Selbst. »Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.«170 Seele, Vernunft, Sinn, Geist, Ich, auch »kleine Vernunft« genannt, sind demnach ein »Werkzeug deines Leibes«. Als schaffend, wollend, wertend und das Maß aller Dinge tritt hingegen der Leib als die »grosse Vernunft«171, als Selbst in Erscheinung: »[…] ›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. […] Werkund Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. […] Es [das Selbst, M.M.] herrscht und ist auch des Ich’s Beherrscher. Hinter deinen Gedanken und Gefühlen […] steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.«172 Und: »[…] unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen […] L’effet c’est moi […].«173

Der Leib, das Selbst, die große Vernunft, leitet sich von Schopenhauers Begriff des Willens her, mit dem wichtigen Unterschied, daß der Begriff des Willens (und des Leibes) bei Schopenhauer Teil einer ontologischen Aussage ist (»der Wille zum Le170 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, Band 4, S. 39. 171 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra I, a.a.O., S. 39. 172 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, a.a.O., S. 39f. 173 | Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, KSA, a.a.O., Band 5, Kapitel 19, S. 33.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

ben«), wohingegen für Nietzsche der Leib und der »Wille zur Macht« in die Sphäre einer polemischen Humanphänomenologie gehört, die sich gegen Schopenhauer als »Verächter des Lebes« wendet – insofern weist er auf die Leibphilosophien des 20. Jahrhunderts voraus. Zur polemischen Phänomenologie gehört auch, daß Nietzsche den Begriff ›Vernunft‹ nicht rational verkürzt (›Vernunft‹ als »kleine Vernunft« im Sinne einer rationalen Überlegung der Klugheit), sondern auch das etymologische Verständnis mithört, nach dem ›Vernunft‹ von ›Vernehmen‹ herrührt und das sinnliche Wahrnehmen meint. So gesehen verliert die Aussage, der Leib sei die große Vernunft, ihre Widersprüchlichkeit und erscheint geradezu selbstverständlich.

Friedrich Nietzsche und das künstlerische Selbst Darüberhinaus führt Nietzsche den Begriff des künstlerischen Selbst wenn schon nicht expressis verbis, so doch der Sache nach in die Geschichte der Selbstbegriffe ein. ›Du bist noch nicht, folglich werde, der du bist‹174 – nämlich der, der du sein kannst –, so lautet nach Nietzsche der Appell, den jeder Mensch in seinen existentiellen Paß eingestanzt findet. Und weiter steht dort geschrieben: Du bist noch nicht, weil du bis jetzt nur ins Leben gestoßen worden bist, wofür du nichts kannst: sieh zu, wie du mit dem Stoff aus Begabung und Persönlichkeit, der dein Schicksal ist, mit Fertigkeit jenes Selbst erschaffst, das du wirklich und sui generis sein kannst. Schlage als Bildhauer deines Selbst die lebende Statue frei, die immer schon in dir steckt und vom Tageslicht träumt. Was ist das Atelier des modernen Menschen anderes als ein Self buildingstudio, mit Nietzsche als Herold an der Eingangstür? Der Mensch verwandelt sich demnach in ein lebenslanges Projekt; so ist er nur dann er selbst, wenn er als Projektionsstrahl sich selbst voraus ist. Sein Sterben wird noch sein letztes Projekt sein – warum sollte er ausgerechnet beim einmaligen Übergang zum Tod alles dem Zufall oder der Zeit überlassen? Auch im Sterben zeigt sich des Menschen Kunst, sich als freies Wesen zu beweisen. Der Mensch hat sich demnach nur dann, wenn er sich noch nicht hat. Indem er sich erzieht, ist er noch nicht an dem Punkt, von wo aus er seine Erziehung ausübt. Peter Sloterdijk sieht in diesem Zusammenhang in Nietzsches Konzept des Übermenschen die Aufforderung an den Menschen enthalten, aus sich »ein autoplastisch sich fortbildendes Ich-Kunstwerk zu schaffen«175.

Friedrich Nietzsche und der Andere als die Wand, die mich her vorbringt Wenn nach Nietzsche viel für die These spricht, daß das Ich immer den Anderen abgetrotzt werden muß, so ließe sich dies in unseren raumtheoretischen Kontext so übersetzen, daß der Andere immer eine willkommene gastliche Wand ist, als wäre

174 | Siehe zur Formel ›Werde, der du bist!‹ auch Michael Theunissen: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 32008. – Siehe zudem Kristof Rouvel: ›Werde, der du vorgibst zu sein!‹ – Vom Leben als Theater zum philosophischen Problem der Authentizität. Vortrag in der Reihe ›Philosophie im Palais‹ der Stadtbibliothek Stuttgart in Kooperation mit dem Philosophischen Garten am 11.9.2006. 175 | Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente, a.a.O., S. 114.

Kapitel II.2

diese ein Fremder und ein Freund im Sinne des antiken xenos, eine Wand, welche das Ich, das sie beherbergt, erst hervorbringt.176 Nächstenliebe wäre demnach nichts anderes als Liebe zu der Wand, die mich ins Leben ruft. Entsprechend wäre Paarliebe nichts anderes als Liebe zu einem Menschen in seiner Funktion als einer erotischen Wand, an die man sich anlehnen darf und durch die man zu sich kommt. Personen oder Masken sind nichts anderes als sprechende Wände, durch die ich in der tönenden Sonosphäre erscheine. (Die jüdische Klagemauer in Jerusalem wäre so gesehen, jenseits ihres ostentativen Kontextes und ihrer üblichen erinnernungspolitischen Funktion, auch eine kollektive berührbare Selbstvergewisserungswand aus stillen Steinen und lauten Klagen. Raumtheoretisch interessant ist dies insofern, als die Juden mit ihr, nach Jahrtausenden der Diaspora, der Zerstreuung, in denen ihnen lediglich die Bibel als das »portative Vaterland« [Heinrich Heine177] geblieben war, wieder einen magnetischen Fixpunkt der Identitätsstiftung besitzen.) Nietzsches Selbstbegriff hat folglich, insofern er den Leib als Selbst versteht und der Leib räumlich strukturiert ist, auch einen raumtheoretischen Aspekt. Das vernehmende Selbst, der vernehmende Leib ist in der Umwelt situiert. Erst in der Umwelt kann ich der werden, der ich bin, denn nur in ihr finde ich die Wände, die Anderen um mich her, durch die ich zu mir komme. Über die Anderen zu sich kommen, ist das Kunststück, auf das es im Leben ankommt.

Heidegger, das Problem des Selbst und die Innen-Außen-Unterscheidung Wenn, wie oben angedeutet, nach Heideggers plausibler Aufnahme brentanoscher und husserlscher Positionen der Mensch immer schon in der Welt ist, das heißt mit ihr vertrauten Umgang pflegt, ergibt sich daraus die Folge, daß zumindest aus dieser phänomenologischen Perspektive die alltagsperspektivische Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt nicht zu halten ist, der Innenraum, in dem der Mensch sich aufzuhalten glaubte, so gesehen (und nur so gesehen) tatsächlich ein illusionärer sei und sich die Außenwelt entsprechend ebenfalls illusionär darstelle. Wie ist aber davon abgesehen mit Heidegger in einem alltagsperspektivischen Zusammenhang die Innen-Außen-Unterscheidung den Menschen gegeben? Heidegger gibt hier zwei implizite Antworten, die nicht mit einander kompatibel sind. Einerseits betont er die Zuhandenheit der Welt, in welche ein Mensch immer schon hineingewachsen sei. Erst wenn der umraumhafte, verborgene Sinnzusammenhang gestört werde, etwa weil der Hammer kaputt geht, trete das Zuhandene aus seiner Verborgenheit und zeige sich als das Vorhandene. In den Raumkontext 176 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Von der Nächstenliebe, a.a.O. – Auf dem Feld einer normativen Gesellschaftstheorie hat Axel Honneth versucht, den Begriff der ›Person‹ aus dem Hegelschen Modell des ›Kampfes um Anerkennung‹ intersubjektivitätstheoretisch zu destillieren; dabei entsteht das Bild einer utopischen Idealgesellschaft von wechselseitig anerkannten Personen, siehe A. H.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1994. Vgl. auch Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Bonn 31958. 177 | Heinrich Heine: Geständnisse, in: H. H.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe, hg. von Manfred Windfuhr, Band 15: Geständnisse, Memoiren, Kleinere autobiographische Schriften, Hamburg 1983, S. 43.

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übersetzt heißt das: sofern mir die Welt zuhanden ist, bin ich in einem intakten Innenraum geborgen; erst wenn der Innenraum gestört wird, werde ich mir des bisherigen Innenraums explizit bewußt. Das ist die eine Antwort, die für die Raumanalyse fruchtbar zu machen ist. Die zweite, meines Erachtens mit dem Zuhandenheitsmodell nicht kompatible Antwort betrifft die Analyse des Man-selbst und des eigentlichen Selbst: Das »Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden. Als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden.«178 Ich bin gemäß dieser Beschreibung also »in das Man zerstreut« und verloren, weshalb ich mich erst noch finden muß. Wenn ich aber zerstreut und verloren bin, dann ist mir die Welt nicht zuhanden. Doch gemäß Heideggers früherer Aussage, ist der Mensch immer zunächst mit der Welt vertraut, hat das Dasein den Charakter des In-der-Welt-seins, ist dem Menschen die Welt folglich zuhanden. Wie aber gelangt das Dasein aus der Welt, die ihm zuhanden ist, in den Zustand des Man-selbst, in dem es zerstreut ist und sich erst finden muß? Offensichtlich lassen sich diese beiden Konzepte nicht miteinander in Einklang bringen. Stimmte jedenfalls Heideggers Modell von der Zerstreuung ins Man-selbst und der Findung im eigentlichen Selbst, dann würde das raumtheoretisch übersetzt heißen, daß ich zunächst in einem Innenraum situiert bin, der nicht meiner und damit ein tatsächlicher Außenraum ist. Folglich käme ich erst dann wahrhaft nachhause, wenn ich den de-facto-Außenraum verlasse, und zwar indem ich einen eigenen Innenraum baue oder fingiere. Letztlich korrespondiert dabei Heideggers Begriff des ›eigentlichen Selbst‹ mit Kierkegaards Begriff der ›entschiedenen Wahl‹ des eigenen Selbst. Aber egal, wie sehr entschieden ich mich für mich selbst entscheide, der Tod wird der Außenraum bleiben, der das Haus meines Seins destruieren wird. Gerade durch das Vorlaufen zum Tod und das Begreifen, daß jeder seinen Tod alleine stirbt, erwächst eine existentielle Einsamkeit, welche das Haus des Daseins zu einer Emeritenkate macht. Ich habe mich zwar für das eigentliche Selbst entschieden, bleibe damit aber ziemlich alleine – »ich muß veröden, wenn ich nur ich bin« (Karl Jaspers179). So stellt sich die Frage, ob Heidegger nicht den für das Dasein falschen Außenraum – den absoluten oder »totalen«180 Außenraum des Todes – gewählt hat; jedenfalls kann das Dasein als relatives Phänomen sich in kein Verhältnis zum Absoluten setzen. Das Dasein als die innenraumbildende Erscheinung setzt sich immer nur zu einem relativen, theoretisch integrierbaren Außenraum in Beziehung.

178 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., § 27, S. 126ff., Zitat S. 129. Vgl. Franz-Karl Blust: Selbstheit und Zeitlichkeit, Würzburg 1987; dazu Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 212ff. 179 | Karl Jaspers: Philosophie, Band II: Existenzerhellung, Berlin, Göttingen und Heidelberg 31956, S. 56. 180 | Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin, Heidelberg und New York 6 1971, S. 261.

Kapitel II.2

Karl Jaspers, die Kontinente und die Grenzen des Selbst Für den buchstäblichen Kontinentalphilosophen Karl Jaspers ist das Selbst eines Menschen mehr als ein isoliertes ›Ich-sein‹, nämlich das Ich, das sich zur Welt hin öffnet sowie zur Transzendenz – der Macht, die ihn ins Leben geworfen hat.181 Grunderfahrung des Menschen sei, daß er sich in der Welt vorfinde: »Ich bin da in meiner Umwelt, unter den Kräften und Mächten in Raum und Zeit […].«182 So gehören »Ich und die Umstände«183 zusammen. Konkreter gesprochen finden sich Menschen »immer in Situationen«184, die sie prägen und beeinflussen. Darüberhinaus lassen sich gewisse Situationen als Grund- oder »Grenzsituationen« beschreiben: »ich muß sterben, ich muß leiden, ich muß kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld«185. Aus einer Situation wird dabei dann eine Grenzsituation, »wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt«186. Was die ontologische Situation berührt, so läßt sich der Mensch nach Jaspers als Kontinent begreifen – das heißt als ein Wesen, das in einem Umgreifenden enthalten ist, einem Periechon.187 Zugleich zeigt sich der Mensch als Kontinens, der ›etwas enthält‹, im Sinne von ›etwas umfassen‹. Kontinent und Kontinens, enthalten sein und etwas enthalten, durchdringen einander. Auf der astrophilosophischen Ebene könnte man sagen: Der Mensch, der im Universum enthalten ist, enthält doch in seinem Geiste das Universum.

181 | Vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Band II, a.a.O. 182 | Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1963, S. 122. 183 | Karl Jaspers: Philosophie, Band II, a.a.O., S. 218. 184 | Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München 261987, S. 18. 185 | Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, a.a.O., S. 18. 186 | Karl Jaspers: Philosophie, Band I, Berlin, Göttingen und Heidelberg 31956, S. 56. 187 | Vgl. Karl Jaspers: Von der Wahrheit, München 1947.

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Kapitel II.3 Diskussion zeitgenössischer Selbstbegriffe

K apitel II.3.a: D iskussion zeitgenössischer S elbstbegriffe in H insicht auf einzelne F achgebie te P sychologie , P sychoanalyse , M edizin , B iologie und A nthropologie sowie L iteratur - und K ognitionswissenschaf t Die Psychologie und das Selbst. Kursorische Anmerkungen Die Erfindung der modernen Psychologie als ›strenger‹ Wissenschaft und ihre im Anschluß durchgesetzte Etablierung als eines empiristischen Universitätsfaches im 19. Jahrhundert war nicht zuletzt ein deutliches Symptom für die zu dieser Zeit mächtig gewordene philosophisch-materialistische Grundströmung und für die damit einhergehende und unter Volldampf sich entfaltende Industrialisierung der europäischen und ›westlichen‹ Welt. Nach der allgemeinen Säkularisierung in der Neuzeit und der besonderen Säkularisation der irdischen Kirchengüter um 1800 bedeutete dies auf dem psychopolitischen Feld einen weiteren herben Dämpfer für das Selbstbewußtsein einer dualistisch ausgerichteten Anthropologie. Schon der Name ›Psychologie‹ dürfte in manch feinem Ohr alteuropäisch geschulter Menschenbeschreiber wie der blanke Hohn klingen. Die altgriechische Psyche, in verwandelter Form damit die christliche Seele, sollte auf den Sezieraltar einer öffentlich-empirischen Theateranatomie gelegt und nach den Regeln der Kunst aufgeschnitten werden? Heute, rund 150 Jahre später, ist die Existenz der Psychologie eine derart selbstverständliche geworden, daß ihre anfängliche skandalöse Erscheinung gar nicht mehr empfunden wird. Freilich ist ihr heutiger Forschungsgegenstand in der Regel keine immaterielle Seele, auch kein immaterieller Geist, schon gar kein immaterielles Bewußtsein, sondern im wesentlichen – auf ein Wort zusammengefaßt – das Selbstverständnis von Menschen, welches sich in Handlungen, Worten, Gedanken und Selbstbeschreibungen zeigt. Dieses Selbstverständnis untersucht sie anhand von Befragungen am Objekt der Begierde, dem einzelnen antwortbegabten Menschen, sowie anhand von Beobachtungen von dessen Handlungsweisen. Diese phänomenologisch-empiristische wie mathematisch-statistisch ausgerichtete Autokognitionsforschung kann auf die Frage nach den ontologischen Voraussetzungen ihres Forschungsgegenstandes verzichten – es genügt, daß Menschen ir-

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

gendeine Form des Selbstverständnisses haben, um sie danach befragen und sie daraufhin betrachten zu können. Unter dem psychologisch betrachteten Selbst versteht man so in der Regel zunächst die auch phänomenologisch beschreibbare Geschlossenheit seiner selbst, die Konsistenz und Kohärenz im Erleben (im Denken und Handeln etc.). Darüberhinaus untersuchen unterschiedliche psychologische Forschungsansätze die Möglichkeiten für ein ausdrückliches Bewußtsein der eigenen Identität, was hier bedeutet: das Vermögen, sich als beständiges, unverwechselbares Wesen aufzufassen und sich in seiner eigenen Einmaligkeit wahrzunehmen. (Außen vor lasse ich hier die Frage, inwiefern das Gefühl für die eigene Einmaligkeit ahistorisch und eine individuell-menschliche Konstante darstelle, inwiefern es im Laufe der Kulturgeschichte phylo- und ontogenetisch entstanden sei bzw. immer neu entstehe: diese Frage ist für diese Arbeit kaum von Belang, auch wenn sie auf der existentiellen Ebene für jeden Menschen von großer Dringlichkeit sein mag. Vergleiche hierzu etwa das Phänomen der diachronischen Stammlinienfortsetzung in patriarchalistisch ausgerichteten Großgruppen: In ihnen nimmt der Sohn zu gegebener Zeit die Position des gestorbenen Vaters ein, und des sterblichen Sohnes eigener Sohn übernimmt zu gegebener Zeit wiederum dessen Stelle: so daß mit diesem Rotationsprinzip auf dem Feld der Sterblichennachfolge das Phantasma einer seriellen Replazierungsunsterblichkeit hervorgerufen werden kann.) Die sozialpsychologische Richtung betont die Situationsabhängigkeit des Selbstverständnisses von sozialen Zusammenhängen. Dies übersetzend in den Raumzusammenhang ließe sich sagen, daß die Raumselbstphänomenologie die Situationsabhängigkeit des Selbsterlebens von räumlichen Zusammenhängen zu beschreiben versucht. Aus kognitionspsychologischer Sicht bedeutet das Selbst die eigene Identität, das Image, das Schema, das Konzept, der Prototyp, die Theorie oder das interne Modell. Heute weit verbreitet sind überdies sogenannte dynamische Modelle, welche basal-körperliche Funktions›mechanismen‹ der Selbstregulation mit selbstreflexivkognitiven und selbst-evaluativen Komponenten zu vereinen suchen. Allgemein läßt sich im Sinne der Psychologie sagen: Selbst ist die bewußte oder die explizit gemachte Sicht eines Menschen auf sich selbst, inklusive Selbstbeurteilung.

William James als Klassiker der psychologischen Selbsttheorie. Die Selbstpyramide: das Mich und das Ich Neben James Mark Baldwin, John Dewey, Charles Horton Cooley, George Herbert Mead, Gordon W. Allport zählt William James zu den US-amerikanisch-angelsächsischen Pionieren in der psychologischen Wildnis der Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts. Seine Methode entspricht weniger dem orthodoxen statistisch-empiristischen Universitätspsychologie-Verständnis, als vielmehr einer pragmatistischen, erzählenden ›Phänomenologie‹, die zugleich auf einer evolutionistisch-funktionalistischen Grundannahme basiert. Zeichnerisch ließe sich sein Konzept des Selbst in Form einer Pyramide darstellen: am unteren breiten Sockelboden und in der Mitte befinden sich unter-

Kapitel II.3

schiedliche Aspekte des von James so genannten empirischen Selbst, und oben, in ihrer Spitze, siedelt das reine Ego (pure ego1), das reine Ich-Auge. Ausdrücklich gesagt teilt James das psychologische Menschenobjekt in vier Analyse-Merkmale ein2: • in das materielle Selbst • in das soziale Selbst • in das spirituelle Selbst • in das reine Ego Das materielle Selbst – hierunter zählt James alles, was einem Menschen gehören mag: nicht nur der Körper (gewisse Teile desselben mehr, andere weniger) und nicht nur die eigenen geistigen Kräfte (inwiefern aber Körper und Geist einem selbst gehören, wäre eine Differenzierung wert, auf die James verzichtet); sondern auch beispielsweise der Ehepartner, die Kinder, die Vorfahren, die Freunde, die Arbeit sowie jede Form von Eigentum wie Kleidung, Haus, Pferde, Yachten und alle möglichen offenen und geheimen Konten etc. Wenn gemäß dem aristotelischen Gedanken die Seele als Entelechie des Körpers zu sehen wäre, dann folgte aus diesem Gedanken, in den Jamesschen Kontext übersetzt: daß sich die Seele oder hier das Selbst etwa auch im Kleidungsstil, den ein Mensch pflegt, zeigen würde: vom zerschossenen Jackett bis zum feinen, sauberen Tuch – entsprechend erschiene das materielle Selbst als ein zerschlissenes oder feines. Wenn man Menschen demnach nach ihrem materiellen Selbst beurteilen würde, dann ergäben sich schon von diesem Aspekt her immense Unterschiede zwischen ihnen. Um es anhand eines extremen Gegensatzpaares, des absolutistischen Herrschers und eines Obdachlosen, festzumachen: Der Herrscher, Ludwig XIV. etwa, bewohnt nicht nur ein riesiges Schloß (ja, letztlich mehrere Schlösser in der Stadt und in den Ländereien), sondern er beherrscht auch den ganzen Staat und seine Menschen darin; ihn umkreisen die Höflinge des Hofstaats wie Planeten die Sonne. Er ist alles das, was er beherrscht, und was er beherrscht, das ist sein materielles Selbst. Der Satz ›L’Etat c’est moi‹ ist aus dieser Perspektive durchaus sinnvoll. – Hingegen gehört zum materiellen Selbst des Obdachlosen wenig mehr als schmutzige Kleidung; Kartonagen dienen als faltbares ›Schloß‹; er kann nicht geben, muß finden und betteln. Die Summe seines materiellen Selbst tendiert daher gegen Null. (Die auf der phänomenologischen Ebene von Passanten bisweilen bemerkbare Gestanksglocke, die bestimmte Obdachlose um sich ausbilden, erzeugt einen Innenraum, in welchem der Obdachlose sich aufhält und den er nicht ohne weiteres verlassen kann; so sorgt sie für eine Form der Isolation und damit Einsamkeit. Auch vom Obdachlosen eingeladene Passanten betreten selten freiwillig diese paradoxe Sphäre.) Man müßte schon die philosophische Interpretationskraft eines Diogenes in der Tonne haben, um den ganzen Kosmos als das eigentliche und in gewisser Weise auch das eigene Große Schloß auszulegen. Wieso sollte ich mich mit Versailles begnügen, wenn ich ein stolzer Citoyen des gesamten Kosmos sein kann? Le Cosmos c’est moi. 1 | William James: The Principles of Psychology, (1890), New York 1950, Band I, Kapitel X: The Consciousness of Self, S. 291-401, hier S. 292. 2 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 291.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Das in der Gegenwart in Sozialstaats- und Demokratiediskussionen virulente Konzept des ›bedingungslosen Grundeinkommens für jeden Bürger‹ wäre unter diesem Aspekt im übrigen nichts anderes als die absolute Garantie eines würdevollen materiellen Selbst für Jeden. Das soziale Selbst teilt James in drei Aspekte auf, in das tatsächliche, das mögliche und das ideale soziale Selbst. Es handelt sich hier praktisch um praktische Sozialpsychologie oder die Frage, wie der Mensch einen Bezug zu anderen herstellt. Dabei betont James, daß jeder Mensch genau so viele soziale Selbste habe, wie es Bilder von ihm in anderer Menschen Köpfe gebe (wobei die Frage, ob die Bilder einen selbst als hoch- oder geringgeschätzt zeigen, von enormer Bedeutung wäre). Folglich wäre etwa ›Ruhmsucht‹ in ihrer psychiatrischen Extremform die Sucht nach einer möglichst hohen Anzahl an positiv konnotierten eigenen sozialen Selbsten. Da allerdings die allermeisten Menschen nicht berühmt sind (und wohl auch nicht ruhmsüchtig), so bleiben für diese die unmittelbaren Familien- und Freundeskreise und zum Teil auch die Kreise der Berufskollegen als jeweils nahe Umgebungsgesellschaft wichtiger als die unbekannte Große Gesellschaft. Nur in der halbwegs intakten Näheumgebung finden sie die Garantie für eine dauerhaft gleichbleibende Zahl an sozialen Selbsten. Eine mögliche Definition der (halbwegs intakten) Familie unter diesem Aspekt wäre daher: ›Sphäre, in der mein soziales Selbst bedingungslose Anerkennung findet‹. Um hier einen Hinweis auf George Herbert Mead und dessen Betonung der sozialen Dimension des Selbst einzuschalten, so sind nach diesem für die Selbstbildung zwei Stufen wichtig: auf der ersten Stufe werde das Selbst von den einzelnen Einstellungen der das Selbst umgebenden Personen konstituiert3, auf der zweiten Stufe dann werde es von der Einstellung der jeweiligen sozialen Gruppe als solcher, der »generalized other«4, weitergebildet. Im Gegensatz zu William James’ Vorstellung ist das soziale Selbst für Mead folglich nicht nur eine Komponente des Selbst; vielmehr entstehen, so Mead, Geist, Selbst und Ich-Identität erst im sozialen Umgang, sind nach diesem daher sozial konstituiert. (Auf kognitionspsychologischem Feld hat neuerdings Wolfgang Prinz die analoge These stark gemacht, nach welcher sich der Mensch erst im Spiegel der anderen wahrnehme und verstehen lerne und Subjektivität daher ein soziales Artefakt sei.5 Ähnlich argumentiert der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello auf anthropologischem Feld, siehe unten den Abschnitt zu Tomasello.) Das heißt, einerseits bilde sich nach Mead das reflexive Ich (Selbst als Subjekt) erst als Antwort auf die Einstellungen der anderen

3 | George Herbert Mead: Mind, Self & Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, hg. von Charles W. Morris, Chicago 1934, S. 158. 4 | George Herbert Mead: Mind, Self & Society, a.a.O., S. 152ff., besonders S. 154: »The organized community or social group which gives to the individual his unity of self may be called ›the generalized other‹.« 5 | Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Kontruktion von Subjektivität, a.a.O.

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heraus6, andererseits bestehe das Mich (Selbst als Objekt) aus dem »organisierten Set der Einstellungen anderer, die man selbst übernimmt« 7. (Erinnert sei in Parenthese an Goethes Bemerkung, sein Lebenswerk sei das eines Kollektivwesens, und das trage den Namen Goethe.8 Dieser These gemäß bilden die freiwilligen und unfreiwilligen Mitarbeiter Goethes ein kollektives soziales Selbst; und jeder von ihnen erlebt auf seine Weise den Innenraum ›Goethe‹, der er selber auch ist.) Das spirituelle Selbst verweist nach James – anders als seine Benennung nahezulegen scheint – auf das »innere oder subjektive Sein«9 eines Menschen, seine psychischen Fähigkeiten oder Dispositionen: Also etwa seine Argumentier- und Denkfähigkeit, seine moralische Sensibilität und sein Gewissen sowie sein unbezähmbarer Willen etc. Dieser kognitionspsychologische Aspekt betrifft also auch die Wahrnehmung und die Regulierung des eigenen Bewußtseinsstroms. Beim Betrachten der gedanklichen Vorgänge erscheint dabei ein wichtiges Moment – ein gewisses Mit-Wissen oder Mit-Fühlen nämlich. Beim Beispiel ›Ich habe Zahnschmerzen‹ handelt es sich zunächst einmal im phänomenalen Erleben um einen Bewußtseinsinhalt, doch zeigt sich in der explizit machenden Analyse dieses phänomenalen Erlebens, daß ich nicht nur Schmerzen habe, sondern daß ich zugleich implizit weiß, daß ich Schmerzen habe. So kann ich also ein explizites Wissen davon gewinnen, daß ich weiß, daß ich jetzt gerade Zahnschmerzen habe. Das reine Ego, das »›Selbst aller Selbste‹«10, bezeichnet nach James die einheitsstiftende Funktion in der Vielfalt der Erfahrungen, den persönlichen Fokus des Lebens und Denkens, die Identität in den Veränderungen.11 Diese einheitsstiftende Funktion entspricht mehr oder weniger dem Kantischen ›Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können‹. Dabei ist allerdings bei James das Ich kein denkendes Subjekt, sondern ausschließlich ein »passing thought« (ein vorüberziehender Gedanke); es wird dabei zwar empfunden (is felt), doch kann es nicht direkt für sich allein erlebt oder zum Objekt werden: deswegen nennt James es auch nicht ›Mitwissen‹ (consciousness), sondern lediglich ›Wissen‹ (sciousness12). 6 | George Herbert Mead: Mind, Self & Society, a.a.O., S. 175. Mead: »The ›I‹ is the response of the organism to the attitudes of the others […].« 7 | George Herbert Mead: Mind, Self & Society, a.a.O., S. 175. Übersetzung M.M. Original: »[…] the ›me‹ is the organized set of attitudes of others which one himself assumes.« Mead direkt weiter: »The attitudes of the others constitute the organized ›me‹, and the one reacts toward that as an ›I‹.« 8 | Goethe im Gespräch mit Soret, 17. Februar 1832, nach: Frédéric Soret: Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an Weimars klassische Zeit 1822-1832, hg. und übersetzt von Heinrich Hubert Houben, Leipzig 1929, S. 629f. 9 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 296, Übersetzung M.M. Original: »inner or subjective being«. 10 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 301, Übersetzung M.M. Original: »›Self of selves‹«. 11 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 334. 12 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 304.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Dieses reine Selbst ist somit weniger ein ›Bewußtseins(Mit-Wissens)strom‹ (weil es ja nicht sein eigenes Objekt sein kann), sondern eher ein ›Wissensstrom‹ – wie James an einer Stelle eigens betont: »a stream of Sciousness pure and simple«13,14. Dieser Strom gliedere sich dabei auf in den einen Bereich der ›Selbst‹-Teile und in den anderen der ›Nichtselbst‹-Teile; auf der einen Seite befinde sich somit der postulierte Denkende (Thinker) und auf der anderen Seite die postulierte Materie (Matter) – und zwischen ihnen wehe der Schleier der Phänomene (sheet of phenomena15). Dabei faßt James wie gesagt die ersten drei Merkmale – materielles Selbst, soziales Selbst, spirituelles Selbst – unter dem Begriff des empirischen Selbst zusammen und unterscheidet es folglich vom ›Ich‹, dem ›reinen Ego‹. Für das ›empirische Selbst‹ steht bei ihm auch das englische Pronomen ›Me‹, das wörtlich zu deutsch ›Mir‹ oder ›Mich‹ bedeutet, in der deutschen Übersetzungstradition jedoch nicht ganz glücklich mit ›Selbst‹ übersetzt zu werden pflegt.16 Fazit zu William James: Auf James’ eigene Differenzierung des Selbstbegriffs kaum eingehend, wäre bei seiner Begriffsbildung die Vernachlässigung des Aspekts der subjektiven Erlebensdimension des einzelnen Menschen zu monieren: um auf das materielle Selbst zu sprechen zu kommen, so wäre hier zu fragen, wie 13 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 304. 14 | Die Metapher des ›Bewußtseinsstroms‹ (»stream of thought«, W. J.: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 304) ist meines Erachtens fragwürdig. ›Mental stream‹, ›stream of consciousness‹ etc. – diese und ähnliche Begriffe sollen wohl das Erlebenskontinuum bezeichnen, die Tatsache, daß Menschen in der Regel im Wachen eine einheitliche, ›ununterbrochene‹ Welt erleben etc. Dem Erleben gemäß der Alltagsphänomenologie entspricht diese Metapher jedoch keineswegs: wie betont, erleben Menschen einfach das, was sie erleben; im Regelfall ist das einfach das Leben: ein Auto fährt vorbei, man hat Durst, man küßt einen geliebten Menschen, man trinkt am Tresen ein Bier etc. Niemand aber erlebt unter normalen Umständen irgendwie ein isoliertes ›Ich‹ für sich und zugleich einen ›Strom‹, den man als dieses ›Ich‹ erlebt. Die Metapher ist insofern verunklarend. Was sie demungeachtet wohl auch zum Ausdruck bringen möchte, ist die wichtige empirische Entdeckung, daß alles, was wir erleben, letztlich durch ununterbrochene ›strömende‹ Gehirnprozesse hervorgerufen wird. Doch betrifft die Metapher dann lediglich die neurowissenschaftliche Außensicht auf das Bewußtsein, nicht das phänomenale Erleben. Sie auf das phänomenale Erleben anzuwenden, führt in die Irre. Auch Galen Strawson sieht im übrigen die »Metapher« des ›Bewußtseinsstroms‹ skeptisch: »Human thought has very little natural phenomenological continuity or experiential flow […]«, in: G. S.: ›The Self‹, in: Journal of Consciousness Studies 4 (5/6), Oxford 1997, S. 405424, Zitat in: Kapitel IX: The Self In Time; The ›Stream‹ of Consciousness, S. 417. Strawson spielt offensichtlich auf die Kontingenz des inneren Erlebens an – die plötzliche Erinnerung, das unbemerkte Vergessen, der Abbruch eines Gedankens etc. 15 | William James: The Principles of Psychology, a.a.O., S. 304. 16 | Diese Übersetzung – das Mir oder Mich als Selbst – ist insofern unglücklich oder ungenau, weil zum Menschen und damit zu seinem (Gesamt-)Selbst ja auch das reine Ego (das Ich) gehört. Es ist freilich möglich, das Mir oder Mich – wie James es ja tut – als ›empirisches Selbst‹ (mit Adjektiv) zu bezeichnen; aber eben nicht als ›Selbst‹ (ohne Adjektiv). – In der Überschrift dieses Abschnitts erwähne ich ausschließlich ›Mich‹ (und nicht auch ›Mir‹) nicht nur aus Gründen der Einfachheit, sondern auch deshalb, weil ich das englische ›Me‹ einfach als das interpretiere, was mich betrifft.

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es ein einzelner Mensch erlebt, so und so viele Fahrräder, Autos oder Yachten zu besitzen: was, wenn mich der Besitz kalt läßt – wie wäre dann mein materielles Selbst zu bewerten? Was James mit der Aufzählung von Kleidung, Familie, Haus und Garten leistet, beträfe demnach eine Außenperspektive auf einen Menschen, nicht jedoch die Innenperspektive des betreffenden Menschen. Dasselbe gilt analog für James’ Begriff des sozialen und des spirituellen Selbst: denn auch hier kann mich das Wissen kalt lassen, daß mich Menschen bewundern oder verachten oder daß ich gut kopfrechnen oder gut argumentieren kann. Was also in James’ Schema des empirischen Selbst zu wenig Berücksichtigung findet, sind die subjektiven Selbsterlebensmomente eines Menschen. Was das Konzept des reinen Ichs angeht, so handelt es sich bei ihm einfach um das unvordenkliche subjektive (Ich-)Moment, das mein Bewußtsein immer schon begleitet. Auf der Ebene impliziten Bewußtseins ließe sich dieses Konzept mit dem Innenraumerleben und damit mit dem Raumselbst verbinden. Denn gemäß der hier vertretenen These versuchen Menschen immer und überall, einen Innenraum und damit ein phänomenales Selbst herzustellen, um sich selbst zu erleben. Damit ist das Raumselbst so wenig dispensibel wie das reine Ich. Das Jamessche Sciousness liefe auf das implizite Innenraumerleben hinaus. Da jedoch dieses reine Ich von James letztlich d’accord geht etwa mit dem präreflexiven Ich Fichtescher Natur etc., so ließe sich fragen, ob nicht auch das präreflexive Ich-Erleben letztlich als implizites Innenraumerleben zu interpretieren wäre. Jedenfalls zögere ich, das implizite Innenraumerleben mit dem Kantischen Ich denke zu verbinden, zumindest dann, wenn man unter dem Ich denke wirklich ausschließlich eine logische Funktion ohne nennenswertes körperliches Feedback verstehen sollte. Denn als bloße logische Funktion muß das Ich denke zwar alle meine Vorstellungen begleiten, aber es muß kaum körperliche Reaktionen, wie fein auch immer, hervorrufen. Beim Innenraumerleben jedoch sind immer auch Rückmeldungen zu verspüren: der intakte Innenraum wird wie fein auch immer als angenehm erlebt.

Kürzeste Notiz zur Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Sigmund Freuds Hausmetapher und Carl Gustav Jungs Ich-Selbst-Differenz Eine der eminenten Anfangsleistungen der aus der medizinischen Neurologie entstandenen Psychoanalyse bestand vielleicht in der Klarheit, mit der sie den an sich fragwürdigen Begriff des ›Unbewußten‹ als Objekt der wissenschaftlichen Forschungsbegierde anerkannte und im allgemeinen Wissenschaftsbewußtsein mitdurchsetzte.17 Diese wissenschaftliche Begriffspolitik schloß die These ein, daß der Mensch auch psychologisch mehr sei als lediglich ein rationales, bürgerlich sein Leben planendes, autarkes Ich. Zum psychologischen Menschen gehöre vielmehr ein ›unheimlicher‹, bewußt unsteuerbarer, unberechenbarer ›Bereich‹ in ihm, der nicht auszuschließen, zu verdrängen und totzuschweigen sei. Die Psychoanalyse forder17 | Über die Entstehung der ›Psychoanalyse‹ in einem weiteren Sinn bereits im Jahr 1785 siehe Peter Sloterdijks instruktiven psychologiehistorischen Roman: Der Zauberbaum. Über die Erfindung der Psychoanalyse im Jahr 1785. Ein epischer Versuch zur Philosophie der Psychologie, Frankfurt a.M. 1985.

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te somit nichts weniger als eine psychologische Inklusionspolitik hinsichtlich des ungehörigen Wilden in der Seele des Menschen, der den Zivilisten in Form des bürgerlichen Ichs regelmäßig gehörig in die Scheiße reitet.18 So gesehen ist die Psychoanalyse nichts anderes als der Versuch, aus einem inhomogenen Material des menschlichen Geistes einen homogenen Ich-Text zu formen. Wo Es war, das inhomogene, ungebändigte Material, soll ein bei Zimmertemperatur psychoanalysiertes und auf der Couch horizontal homogenisiertes Ich werden. Aus der interpretierenden Mutterbrust des Analytikers saugt der liegende Analysand seine bekömmliche Ich-Milch. Daß die Psychoanalyse in ihrer vielfältigen Existenz unterschiedliche Felder intensiv bearbeitete – mit Theorien über die ontogenetische Ich-Bildung des Menschen mitsamt ihren frühen Phasen und Krisen19, über methodologische Theorien der Traumdeutung und psychosoziologischen Theorien über das Unbehagen in der Kultur, bis hin zur phylogenetischen Mythologie von Totem und Tabu –, muß hier nicht eigens erwähnt oder ausgeführt werden. Wenigstens betont zu werden verdient allerdings die Tatsache, daß sie die fragwürdigste und vielleicht nie öffentlichkeitswirksam ausreichend problematisierte Wirkung auf dem Feld des gängigen Menschenbildes erzielt hat, eine Wirkung, die spätestens einsetzte, als ihre Theorien und Thesen über Popularisierungsmedien wie Roman und Film Eingang in das Selbstbilddenken breiter Bevölkerungsschichten fanden. Fragwürdig ist dieses insofern, als die Psychoanalyse damit die Welt insgesamt als eine globalisierte Sphäre potentieller Patienten interpretiert – im Grunde sind alle Menschen immer schon, auch wenn sie nicht krank zu sein scheinen, Kandidaten für die Couch, sie wissen es bloß noch nicht. Jeder Mensch hat erbsündengleich seine Leiche im Keller der eigenen dunklen Frühgeschichte; die Psychoanalyse wird oder könnte, behauptet sie, Praxislicht in jene verborgenen Schichten und Räume tragen. Ob jeder junge Mann die Ödipuskomplex-These auch für sich als gültig anerkennen kann, mag zweifelhaft sein, von Carl Gustav Jungs Elektrakomplex-These für die junge Frau nicht zu schweigen – doch daß praktisch jeder Mensch zumindest in der kulturell westlich geprägten Welt die Dialektik von Ich und Unbewußtem mehr oder weniger als gegeben ansieht (weniger wohl die Theorie vom Über-Ich), dürfte unzweifelhaft sein. Insbesondere fragwürdig hieran ist nicht die Vorstellung, daß ›in‹ Menschen irgendwelche unbewußten Vorgänge stattfinden, Vorgänge, die bisweilen auch in deren Bewußtsein treten, weshalb es sinnvoll und notwendig ist, einen Begriff des ›Unbewußten‹ in eine Selbst- und Geisttheorie mitaufzunehmen; fragwürdig vielmehr ist die Interpretation des Unbewußten als eines ›unheimlichen‹, von allgemeinerotischen Wünschen und Trieben erfüllten, energiegeladenen, einen Menschen letztlich unbemerkt ›unrational‹ fremdbestimmenden inneren Reiches 18 | Das maritime Bild, das Schopenhauer hierfür fand, kennzeichnete das bei ihm Wille genannte Unbewußte als das Meer, hingegen das Ich als jenes kleine Boot, das von den Wellen hin und her geworfen werde. 19 | Otto Rank, lange Zeit engster Freudschüler, hat als erster versucht, die Ontogenese des noch kaum strukturierten Selbst während seiner frühen, perinatalen Phase zu buchstabieren, vgl. O. R.: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Gießen 2 2007, sowie O. R.: Der Mythos von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung. Nach der zweiten Auflage von 1922, Wien 2008.

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oder unbekannten Kontinentes. (Dabei würde ein Großteil dessen, was in der Psychoanalyse dem Unbewußten zugeordnet wird, heute in den Biowissenschaften allgemein den körperlichen, emotionalen, viskeralen, propriozeptiven Vorgängen zugeordnet, Vorgänge, die dann zum Teil vom Gehirn auch vorbewußt verarbeitet und ›bewertet‹ werden können.) Diese erwähnte Interpretation läßt Grundfragen ungestellt, und zwar nicht nur die Frage, wie ›Ich‹ und ›Unbewußtes‹ ganz genau und konkret zu verstehen seien, sondern auch die, in welchem Verhältnis zueinander denn ›Ich‹ und ›Unbewußtes‹ überhaupt stehen und welche Wechselwirkungen hierbei wie konkret ablaufen könnten – bin ich nicht auch der Mensch mit bestimmten charakterlichen, körperlichen Merkmalen, ›Trieben‹, Wünschen, bilden diese nicht einen eminenten Teil meines Selbst – auch wenn sie mir zum Großteil einer steuernden Kontrolle durch mein bewußtes Ich entzogen sein sollten? Bin ich nicht sogar viel eher das, was das sogenannte Unbewußte ausmacht, als ein ›rationales‹, aufgeklärt sachlich agierendes, emotional unberührtes Ich? Wäre womöglich sogar das ›Ich‹ nicht eher als eine ›Selbst‹-persona, eine ›Selbst‹-Maske zu verstehen, durch welche mein Selbst eigentlich spricht? Ist das ›Ich‹ vielleicht Mündel des unbewußten Vormunds? Was also Unbehagen an dem Konzept Ich/ Unbewußtes bereiten kann, ist auch eine gewisse fast-dualistische oder zumindest antagonistische Gegenüberstellung von Ich und Unbewußtem; dagegen zeigt das aus biowissenschaftlicher Sicht gezeichnete Bild eher unbewußte körperliche und bewußte körperliche Prozesse als ineinanderfließende – wobei die einen Teil des anderen sind und umgekehrt. Was Sigmund Freuds dreigliedrig-vertikales Modell der Psyche betrifft, mit dem Ich, dem Über-Ich und dem Unbewußten, so kommentiere ich zuerst seine darauf bezogene bürgerliche besitzerzentrierte Raummetapher ›Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus‹. Zunächst ist schon das Vorliegen einer Raummetapher an sich im Zusammenhang dieser Arbeit eigens zu akzentuieren – die Psychoanalyse bildet wie gesagt auch eine Locoanalyse der Psyche. Darüberhinaus ist auf das in dieser Metapher mitenthaltene Wunschbild des Menschen hinzuweisen, dem gemäß dieser eben tatsächlich Herr im eigenen Hause sein möchte: Ein Ich, das sich von dem ÜberIch nicht gängeln, auf halten oder quälen läßt und das vor unheimlichen Einbrüchen und unliebsamen Gästen aus dem Keller des Unbewußten keine Furcht zu haben braucht. Es wäre ein Ich ohne Keller und ohne Obergeschoß, ein übersichtlicher Einraum-Erdgeschoßbungalow. Nachhause kommend sagte das Ich: Hier stehe ich, in meinem Tor, und sehe meinen ganzen Flor. Wer hingegen in einer unübersichtlichen Villa wohnt, benötigt im Schlafgemach einen unmittelbaren Zugang zum Panikraum, jenem speziell gesicherten Schutzraum, in welchen die Eigentümer flüchten, wenn sie, aus dem Schlaf aufgeschreckt, vom Erdgeschoß her über die Treppe das bedrohliche Vordringen räuberischer Einbrecher bemerken. Das Ich in realiter findet sich jedoch nicht in diesem wie sehr auch immer gewünschten oder nicht gewünschten Zustande wieder, sondern steht stets im Spannungsfeld zweiseitiger Ansprüche durch das Über-Ich und das Unbewußte. Das Unbewußte gewinnt vielleicht gerade in seiner gedachten Unkontrollierbarkeit an attraktivem Flair, und wenn die Träume der jahrtausendealte authentische, aber schwer zu kontrollierende Königsweg ins Reich des Unbewußten sein sollten (auf der phänomenologischen Ebene sind sie einfach eine spezielle Form des bewußten Erlebens), so stellte sich für den Ich-Citizen die Frage, ob nicht ein kontrollierter

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Zugang in den Unbewußten Keller sich bauen ließe. Vielleicht war der Party-Keller im Einfamilienhaus der alten Bundesrepublik nichts anderes als der bürgerliche Versuch, von den Nachbarn unbemerkt mit Gleichgesinnten die unbewußte Sau rauszulassen? Was den individuellen Raumbezug des Einzelnen angeht, so ließe sich aus psychoanalytischer Sicht sagen, daß der als angenehm oder Lust-steigernd erlebte Innenraum in das Innere introjiziert, der Raum also damit als Teil des Selbst erlebt werde. Freud schreibt in diesem Zusammenhang, daß das außenweltliche Objekt, insofern es sich als eine Lustquelle erweise, in das »purifizierte Lust-Ich« »einverleibt« bzw. »introjiziert«20 werde. In diesem Falle wird der Innenraum zwar auch, wie hier in dieser Arbeit behauptet, als Selbst erlebt; jedoch ist die Reihenfolge eine dem Alltagsverständnis des Ichs entsprechende: das Ich ist es, in das etwas angenehmes introjiziert bzw. von dem etwas unangenehmes in die Außenwelt projiziert wird. Gemäß dieser Arbeit jedoch müßte man schreiben: indem der Mensch sich unbewußt in den Innenraum introjiziert (bzw. sich mit ihm identifiziert), entsteht erst sein Selbst – als Innenraum. Im übrigen sind auch die psychoanalytischen Begriffe des ›Ozeanischen‹21 und der ›Enge‹ Begriffe, die einerseits auf räumliches Erleben auf bauen und andererseits, auf neuphänomenologischem Gebiet à la Hermann Schmitz, in die Begriffe des leiblichen Erlebens übersetzt werden dürfen: das Ozeanische wäre demnach verknüpft mit dem Erleben einer sehr großen angenehmen Weitung; die Enge hingegen mit dem Erleben einer Form der unangenehmen Beklemmung – psychoanalytisch gesprochen mit perinatalem Streß, der in späteren Lebenszusammenhängen etwa zu einer Furcht vor geschlossenen Räumen führen kann (Klaustrophobie). In jedem Fall verweisen diese Begriffe auf das dynamische Wechselspiel von Innen und Außen, von dem Innen, das als zu eng empfunden wird, und dem Außen, das in bestimmten Augenblicken als Befreiung aus der Beengung empfunden werden kann. Das Ozeanische ist in letzterem Falle trotz seiner temporären Aufhebung der Grenze zwischen Ich und Außenwelt jener paradoxe Raum, in dem der Mensch sich nicht bestimmt findet – in dem also die beengenden, ihn festlegenden Bestimmungen aufgelöst sind und er sich als sich selbst erleben darf; der ozeanische Raum könnte daher alles mögliche sein: eine meditative Zelle, ein schweigender Partner, ein sorgenbefreiter Abend. Für Carl Gustav Jung zeigt sich im Wechselspiel von Ich und Selbst das Ich als »das Subjekt meines Bewußtseins«, hingegen das Selbst als »das Subjekt meiner gesamten, also auch der unbewußten Psyche«22 . Das Selbst drücke damit »die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit aus«23. Es bilde überdies den »Inbegriff der Individuation« und sei insofern »paradox«, als es vom Bewußtsein »wahrgenommen, geschützt und quasi aufgebaut werden (muß)«, obwohl es doch »längst

20 | Vgl. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale, (1915), Band X: Kleine Schriften II, Kapitel 22, Frankfurt a.M. 1946, S. 10. 21 | Vgl. etwa Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a.M. 1994. 22 | Carl Gustav Jung: Psychologische Typen, (1920), in: C. G. J.: Gesammelte Werke, Sechster Band, Olten und Freiburg i.Br. 121976, Abschnitt 810, S. 471. 23 | Carl Gustav Jung: Psychologische Typen, a.a.O., Abschnitt 891, S. 512ff.

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schon vorhanden und älter als das Ich«24 sei. Dabei verhalte sich das Selbst »wie eine den Menschen umgebende Atmosphäre von einer räumlich wie zeitlich nur unsicher abzugrenzenden Erstreckung«25. Summarisch ist festzuhalten, daß die Psychoanalyse wie bemerkt sich auch als Locoanalyse darstellen läßt. Alltagsperspektivisch gesehenes räumliches Erleben mit seiner Innen-Außen-Unterscheidung wird auf das menschliche ›Seelen‹-Leben übertragen und angewandt. Das Ich gilt dabei als der auf Lust ausgerichtete Innenraum, die Außenwelt hingegen wird mit Unlust assoziiert. Weil das entscheidende Bewertungsmerkmal für die Zuordnung von Phänomenen zu einem selbst die mit ihnen verbundene Lust oder Unlust ist, kann das äußere Angenehme ins ›Seelen‹-Leben introjiziert und das innere Unangenehme in eine Außenwelt projiziert werden. Wenn das Unbewußte dabei in bestimmten Situationen als etwas unangenehmes oder unbekanntes erlebt wird, kann es, wie Freud es getan hat, als innerer oder fremder Kontinent interpretiert werden. Der Psychoanalytiker ist im Praxisfall der Kolonisierer des inneren Kontinents des Analysanden und zugleich der Entwicklungshelfer ebendort. Jedenfalls läßt sich vom raumtheoretischen Hintergrund der Psychoanalyse mit ihrer Ich-Außenwelt-Differenz und der Zuordnung von Lust und Unlust ein Bezug zu der hier vertretenen These herstellen. Auch gemäß der Raumselbsttheorie besteht ein stetiger Bezug des Menschen auf einen Außenraum hin, wobei sich der Mensch im Innenraum befindet; und ebenso wird der Innenraum zunächst in der Regel mit dem Angenehmen und der Außenraum mit dem Unangenehmen assoziiert. Eine wichtige Differenz besteht jedoch im Ich-Raum-Verhältnis. Gemäß der Psychoanalyse steckt das (herrisch-aktive) Ich den lusterzeugenden Raum oder das lusterzeugende Phänomen ins Ich hinein (Introjektion), wohingegen hier gezeigt werden soll, daß es genau umgekehrt ist: der Mensch erlebt sich als enthalten in einem Innenraum, es ist der Innenraum, der mich macht und mich mein Selbst erst bewußt erleben läßt, und insofern ich gemacht werde, ist der anfängliche Akteur gewissermaßen der Innenraum, und ich bin der passiv meine Selbst-Werdung durch den Raum erlebende Mensch.

Heinz Kohut und die Wiederherstellung des Selbst Heinz Kohut begreift das Selbst im weiten Sinn als das »Zentrum des psychologischen Universums«, im engen Sinn als den »Inhalt eines mentalen Apparates«26. Das Selbst konstituiere sich dabei auf der Basis eines »nuklearen Selbst« und resultiere in einer »zusammenhaltenden und fortdauernden psychischen Konfiguration«27 mit bipolarer Struktur, die sich zunächst bezüglich archaischer geistiger Inhalte durch selektive Einbeziehung geistiger Strukturen in das Selbst 24 | Carl Gustav Jung: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, in: C. G. J.: Gesammelte Werke, Neunter Band, Zweiter Halbband, Olten und Freiburg i.Br. 71989, Kapitel XI: Die alchemistische Deutung des Fisches, Abschnitt 257, S. 180; siehe auch die Kapitel ›Das Ich‹ und ›Das Selbst‹. 25 | Carl Gustav Jung: Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, a.a.O., S. 180. 26 | Heinz Kohut: The Restoration of the Self, New York 1977, S. XIIIff. Übersetzung M.M. Original: »center of the psychological universe« bzw. »content of a mental apparatus«. 27 | Heinz Kohut: The Restoration of the Self, a.a.O., S. 177. Übersetzung M.M. Original: »nuclear self« bzw. »cohesive and enduring psychic configuration«.

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und deren Ausschließung aus dem Selbst herausbilde und sich dann – aufgrund der Reaktion auf die Eltern – als »grandios-exhibitionistisches Selbst« und »idealisiertes Eltern-Imago«28 stabilisiere. Jedenfalls lassen sich laut Kohut mithilfe von Einfühlung und Introspektion lediglich einzelne psychologische »Manifestationen« erkennen, nicht jedoch das »Selbst per se«; überhaupt sei der Begriff »Selbst« lediglich eine Verallgemeinerung von empirischen Daten; was das Selbst letztlich sei, bleibe verschlossen.29 Kohuts Äußerungen zum Selbst, wie sie hier in Andeutung repräsentativ angetippt werden, ergeben keinen konsistenten Selbstbegriff. Einerseits basiere das Selbst auf einem Selbst-Nukleus, befinde sich dabei jedoch in einem psychologischen Universum – woraus man wohl schließen muß, daß dieses mikrokosmische Selbst wenig Einfluß auf das makrokosmische psychologische Universum nehmen wird können. Andererseits könne man lediglich einzelne Manifestationen erkennen, nicht das Selbst per se. Aus beiden Aussagen ergibt sich eine erkenntnistheoretische Zweiteilung des Selbst – in das Sichtbare (mit den Manifestationen) und in das Unsichtbare (wo sich das Selbst per se befinde), wobei unklar bleibt, wie das Verhältnis von Selbst zum psychologischen Universum zu denken sei. In gewisser Weise ließe sich die sichtbare Sphäre mit einem Innenraum, die nichtsichtbare Sphäre mit einem Außenraum in Beziehung setzen; wobei für Kohut der sichtbare Innenraum eben nur ein Schatten des »Selbst per se« wäre. Hieraus ergäbe sich das Bild eines Menschen, der nur einen kleinen Innenraum im Sinne der Manifestationen sehen könnte, dabei nie vor neuen Manifestationen aus dem dunklen Außenselbstraum gefeit wäre. Aber nochmals, wie wäre das Verhältnis des Selbst zum psychologischen Universum, in dem es sich befindet, zu beschreiben?

Erich Fromm, John E. Geddo und Arnold Goldberg sowie Kurt Koffka, die Gestaltpsychologie und die Grenzen des Ichs Erich Fromm erblickt das Selbst als »organisiertes und integriertes Ganzes der Persönlichkeit«30 – worin ihm John E. Geddo und Arnold Goldberg folgen31. Die Entwicklung des Selbst sei im Individuationsprozeß bipolar – »Wachstum der Stärke des Selbst« und »zunehmende Vereinsamung«32 . Für Kurt Koff ka ist das Ich zunächst wörtlich die Grenze zwischen vorn und hinten im Verhaltensfeld; das Ich habe wohldefinierte, allerdings variable Grenzen, und im Zuge der Gestaltfaktoren gliedere es sich als Objekt aus dem restlichen Erlebensfeld aus, wodurch das Feld eine bipolare Organisation bekomme.33 Infolge somästhetischer und propriozeptischer Afferenzen bilde sich zunächst ein »Kern«

28 | Heinz Kohut: The Restoration of the Self, a.a.O., S. 185. 29 | Heinz Kohut: The Restoration of the Self, a.a.O., S. 311. 30 | Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, (1941a), in: E. F.: Gesamtausgabe, Band 1: Analytische Sozialpsychologie, München 1980, S. 234. 31 | Das Selbst sei die »organisierte Persönlichkeit als Ganze«, siehe John E. Geddo und Arnold Goldberg: Models of the Mind. A Psychoanalytical Theory, Chicago 1973, S. 63f. 32 | Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, a.a.O., S. 234. 33 | Kurt Koffka: Principles of Gestalt Psychology, London 1936, S. 322.

Kapitel II.3

oder »Nukleus« des Selbst heraus, worüber sich dann ein System von Intentionen, Bedürfnissen und Affekten auf baue.34 Es sticht bei Koff kas Thesen der raumprozessuale Aspekt ins Auge: das Selbst gliedere sich aus dem Erlebensfeld erst aus, wodurch die bipolare Struktur – Selbst und Nichtselbst – entstehe. Diese Theorie wäre zumindest in die Raumselbsttheorie einpaßbar – mit Einschränkungen oder unter Vorbehalt von Anpassungen. Denn erstens bestimmt sich das Verhaltensfeld nicht ausschließlich mit den Grenzen vorn und hinten, sondern mit buchstäblichen Grenzen rundum, und zweitens können die Grenzen wie mehrfach bemerkt auch übertragene Grenzen sein, so daß das Selbst sich eben auch aus einem übertragenen Verhaltensfeld ausgliedern kann. Wollte man in Gestalttheoriekategorien denken, so wäre die entscheidende Selbstgestalt eben die Gestalt eines Innenraums, eines buchstäblichen oder eines übertragenen, der sich aus dem Verhaltensfeld eines Menschen als auffällig ausgliedern müßte, damit dieser das Selbst erleben könnte.

Donald Snygg und Arthur W. Combs und das phänomenale Selbst auf dem phänomenalen Feld Donald Snygg und Arthur W. Combs führen den Begriff des »phänomenalen Feldes« in die Psychologie ein, definieren dieses als »das Universum, wie es dem Individuum zu jedem beliebigen Moment erscheint«35. Jener Bereich dieses phänomenalen Feldes, den der Mensch als »Teil seiner selbst oder charakteristisch für sich selbst«36 wahrnehme, bilde dabei das phänomenale Selbst. Was Snygg und Combs hier als phänomenales Feld einführen, ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als das phänomenale Bewußtsein im Sinne dieser Arbeit, also alles das, was Menschen im Wachzustand (oder im Traum) erleben. Nun teilt sich dieses phänomenale Feld in zwei Teile, den Selbstteil und den Nichtselbstteil, man könnte sagen: in den Innenraum und in den Außenraum – mit einer entscheidenden Differenz zur hier vertretenen These: Snygg und Combs betonen für den Selbstteil dasjenige, was der Mensch als Teil seiner selbst oder als charakteristisch für sich selbst wahrnehme: dies bezieht sich jedoch auf ein bereits ausgebildetes psychologisches Selbst. Für diese Arbeit jedoch entscheidend ist zunächst, daß der Mensch unbewußt vom phänomenalen Feld – um den Ausdruck hier zu verwenden – einen Bereich ausschneidet und als Innenraum deklariert und sich mit diesem identifiziert – wodurch das phänomenale Selbsterleben als Innenraumerleben möglich wird. Erst wenn ich den Innenraum erlebe, erlebe ich das (phänomenologische) Selbst.

34 | Kurt Koffka: Principles of Gestalt Psychology, a.a.O., S. 324. Übersetzung M.M. Original: »core« bzw. »nucleus«. 35 | Donald Snygg und Arthur W. Combs: Individual Behavior. A New Frame of Reference for Psychology, New York 1949, S. 111f. Übersetzung M.M. Original: »the universe as it appears to the individual at any moment«. 36 | Donald Snygg und Arthur W. Combs: Individual Behavior, a.a.O., S. 111f. Übersetzung M.M. Original: »part or characteristic of himself«.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Teleologische Wende in der Psychologie: Kurt Goldstein und die Selbstver wirklichung als Ziel Im Rahmen des Konzepts der Selbstverwirklichung (self-actualization) zeigt sich so etwas wie eine teleologische Wende. Holistisch und gestaltpsychologisch existiert für Kurt Goldstein, den Selbstverwirklichungs-Urpsychologen, lediglich ein Trieb, der den Menschen leitet, nämlich der Trieb zur Selbstverwirklichung.37 Im Rahmen einer Raumselbsttheorie »selbstverwirklicht sich« der Mensch einfach immer dann, wenn er einen intakten Innenraum erlebt. Doch weil das Verhältnis von Innenraum-Außenraum dynamisch ist und dynamisch bleiben muß (Lebensmedien jeder Art müssen in den Innenraum herein, verarbeitete Lebensmedien jeder Art müssen aus dem Innenraum hinaus etc.), kann es nie eine endgültige Selbstverwirklichung geben. (Es sei denn, man verstünde unter Selbstverwirklichung auf phänomenologischem Feld bestimmte beschreibbare Ziele wie die glänzende Laufbahn eines Konzertpianisten oder eines Architekten etc. Doch schon geistige Ziele, wie das Erreichen innerer Gelassenheit, großer Klugheit, breiter Bildung, lassen sich nicht ein für allemal erreichen, sondern bleiben immer bedroht von neuen Entwicklungen, in deren Folge sich die Gelassenheit, die Klugheit und die Bildung wieder verlieren.)

Peter Sloterdijk und die psychologisch-philosophische Phänomenologie der Selbste Peter Sloterdijks Sphärologie läßt sich nicht nur als eine anthropozentrische Raumphilosophie beschreiben, sondern auch als eine topozentrische philosophische Anthropologie. Sprechen Menschen über sich, handeln sie von Räumen. Sprechen sie über Räume, handeln sie von sich. Jenseits dessen, was über Sloterdijks sphärologischen Selbstbegriff anzudeuten war (im Raum-Teil in Zusammenhang mit dem Begriff der Sphäre), referiere ich im folgenden ganz knapp Sloterdijks psychologisch-philosophische Phänomenologie der drei typologisch grundlegenden Existenzdimensionen des Selbst 38 (und füge einen vierten Sloterdijkschen Typus hinzu). Die Frage nach dem Umgang eines Menschen mit sich selbst, ist dabei nicht allein für »Selbstfindlinge«39 ein ausdrückliches Thema, für jene Menschen also, die auf sich stoßen wie auf das Staunenswerteste an sich und über die schier unbegreifliche Tatsache sich verwundern, daß ›sie wirklich sind‹ (man erinnere sich an den Bachelardschen Hinweis auf das Mädchen auf dem Schiffsdeck, das beim Ortswechsel an Deck sich seiner selbst bewußt wird); sondern die Frage stellt sich implizit jedem Menschen.

37 | Kurt Goldstein: The Organism. A Holistic Approach to Biology Derived from Pathological Data in Man, New York 1939, S. 16. [Wiederveröffentlicht mit einem Vorwort von Oliver Sacks, Cambridge, Mass. 1995.] (Im deutschen Original: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen, Den Haag 1934; hier allerdings taucht die Wendung »Trieb zur Selbstverwirklichung« nicht auf.) 38 | Beschrieben in: Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O. 39 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 14-25.

Kapitel II.3

Sloterdijk stellt zunächst diese Typologie dreier Selbstformen auf: • Das bestimmte, das berufene, das begeisterte Selbst • Das umzingelte, das harte, das deprimierte Selbst • Das tauchende, das atmende, das pneumatische Selbst Das bestimmte, das berufene, das begeisterte Selbst Sloterdijk rekurriert hier vorderhand auf jene historisch-mythologische Überlieferung über die Scham, die eigentlich erst einen Selbstbezug des Menschen hervorrufe. Neben dem Schamgefühl treten die Trennungs- und Schuldgefühle, die in einem analogen Sinn einen Selbstbezug stiften.40 Scham sei eine »Wendung gegen sich selbst als Objekt einer umfassenden Negation«41; und insofern jede Bestimmung, so Sloterdijk, auch eine Verneinung einschließe (Verneinung eben dessen, was bei der Bestimmung unbestimmt bleibt), sei das Schamgefühl die »Urszene der Selbstverneinung«42 . In raumphänomenologischer Hinsicht wäre hinzuzufügen, daß im Schamgefühl der erlebte Raum zusammenschrumpft – und der zusammengeschrumpfte Raum wiederum führt, mangels eben dieses Raumgefühls, zu einer Unbeweglichkeit des von Scham betroffenen Menschen. Insofern ist die Scham eine Cousine der Depression. Beide sind erlebte Raumlosigkeiten und scheinbar ohne Ausweg. Das begeisterte Selbst nun entstehe aus dem Ruf eines Versprechens, das den Angerufenen anspricht und aufruft. Der Mensch verwandelt sich dabei in das Versprechen; er wird zum sich selbst versprochenen Menschen. Er lebt wie der aus dem Bogen schnellende Pfeil und fliegt seinem Versprechen, das er selbst ist, hinterher, um es zu erfüllen. Werde, der du bist.43 Im übrigen zieht Sloterdijk den Begriff des berufenen oder prophetischen Selbst aus Fichtes anthropoprophetologischer Schrift ›Die Bestimmung des Menschen‹44. Fichte zeigt in ihr in einer übertriebenen, gleichwohl in sich schlüssigen Argumentation, daß ich ›eigentlich‹ ein Anderer bin als ich zunächst glaube; denn ›in Wirklichkeit‹ werde ich von einer ganzen Reihe von Umständen (vor)bestimmt – so daß man sagen kann: mich gibt es zunächst gar nicht, ich bin immer schon ein Totes.45 Doch wenn ich mich als ein bestimmtes Etwas vorstelle, sollte ich begreifen können, daß diese Vorstellung meine eigene Tat ist – und ich mich gerade durch diese Vorstellungstat der Verdinglichung entreiße. Wo Es war, das bereits Bestimmte und insofern Tote, soll das bestimmende Ich werden. Wo Fichte die befreiende Tat setzte, entwarf Schopenhauer zur gleichen Zeit das Konzept der Entsagung von der Tat.46 Wenn ich nach Schopenhauer ohnehin 40 | Vgl. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 25f. 41 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 26. 42 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 26. 43 | Vgl. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 29; vgl. auch P. S.: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, 5. Teil: ›Die Welt als Poesie und Versprechen‹. 44 | Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, (1800), hg. und mit einem Nachwort versehen von Theodor Ballauff und Ignaz Klein, Stuttgart 2013. 45 | Vgl. Peter Sloterdijk dazu in: P. S.: Weltfremdheit, a.a.O., S. 39f. 46 | Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweiter Teilband, Zürcher Augabe: Werke in zehn Bänden, Band II, Zürich 1977, § 68, S. 468-492.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

nur der Wille bin, der durch mich hindurch greift, gibt es ohnehin nur den einen Fluchtausweg – den Weg des ästhetischen Erlebens als totale Entsagung vom Willen. Der Eintritt ins schöne Nirwana, die Loslösung vom principium individuationis, geschieht jedoch auch hier paradoxerweise mit einer individuiert initiierten Tat. So steht am Ende, in dieser stark zugespitzten Perspektive, sowohl bei Schopenhauer wie bei Fichte der freie Mensch: der eine befreit sich von der Welt der Vorstellungen und ihren leidenmachenden Bestimmungen; der andere kommt zu sich erst, wenn er seine Bestimmtheiten durchschaut und in einem seine Freiheit vollziehenden, selbstschöpferischen Sprechakt ausruft: ›Es werde Ich!‹ Das umzingelte, das harte, das deprimierte Selbst Angesichts von Franz Kafkas ›Bericht für eine Akademie‹ meditiert Sloterdijk über den Menschen als einem »ausweglosen Tier«47. Er schreibt: »Was wir den Menschen nennen, ist in Wahrheit das aporetische, das ausweglose Lebewesen. Er ist das Wesen, das aus sich selbst etwas anderes machen muß, als es ist, um seine Ausweglosigkeit zu ertragen. Die Menschwerdung selbst ist nur als der Ausweg zu begreifen, den sich das ausweglose Tier aus seiner Flucht nach vorn gebahnt hat.« 48

Wenn ein Lebewesen, aus einer alltäglichen Perspektive auf sich selbst, also ist, was es ist, besteht gerade auch in dieser im Normalfall als stabil erlebten Identität eine Form der Ausweglosigkeit. Der Ausgang dieses Lebewesens aus seiner Ausweglosigkeit besteht dann im Ausweg einer gesuchten Identitätsumwandlung, einer Metamorphose, der plastischen Chirurgie des Charakters; darüberhinaus besteht der Ausweg in der Flucht nach vorn in die Metapher, in die Geschichte.49 Das gilt nach Sloterdijk auch für die Zwänge der sogenannten neolitischen Revolution: mit der Seßhaftwerdung und der als einengend empfundenen Identifizierung mit dem gleichen Boden setzt die Petrifizierung des Ichs unweigerlich ein. Der Ausweg hier ist entweder der Weg nach innen (in die Meditation, den Traum, die Erzählung) oder der Weg nach draußen, weg von der Gruppe oder der Siedlung, oder der Weg in die Veränderung, in die Zukunft (die in optimistischer Optik der »Raum aller Verbesserungen«50 ist). Eine weitere, allerdings nicht ideale Flucht sei die »Flucht ins Dulden und Aushalten«51. Die bessere Variante wäre die Flucht in den »Willens- und Hochgefühlsspielraum«52 des auf alle Lagen vorbereitenden Könnens – in den existentiellen Fitneß-Center schlechthin, Fitneß verstanden im sportlichen wie im evolutionstheoretischen Sinn. Umzingelt sei der neolitische Mensch also von Genealogie (Herkunft), Verwandtschaft und Eigentum (bevor Eigentum verpflichtet, fesselt es denjenigen,

47 | Vgl. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 50. 48 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 50. 49 | Vgl. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 50. 50 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 55. 51 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 57. 52 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 59.

Kapitel II.3

dem es gehört). Heute dagegen sei die menschliche Selbstform »elastisch«. Sloterdijk notiert: »Die Ich-Grenzen zwischen neuzeitlichen Individuen sind unter vielen Aspekten schwächer ausgebildet als bei Mitgliedern traditionaler Gesellschaften. Der Sinn von Individuation in modernen Zeiten ist es eher, sich auf die Vieldeutigkeit des Selbst einzulassen. Wir empfinden es als einen Fortschritt, wenn es uns gelingt, das unwilllkommen gewordene Erbe von Selbst-Verhärtungen und Selbstdefinitionen aus primitiven Kampfzeiten in einer elastischen Selbstform zu überwinden.« 53

Das tauchende, das atmende, das pneumatische Selbst Die mystische, tauchende, die Vereinigung bejahende Welt- und Selbsterfahrung sei gekennzeichnet durch ihr »In-Sein in etwas Offenem«54 – wohingegen das atmende Selbst verneine und trenne.55 Das tauchende Selbst erlebe »auch im Wachzustand ein In-Sein, somit ein Schoßverhältnis zu einem Umgreifenden«56. Dabei sei die allgemeine Bewegung des gelingenden Lebens die »Metaphorisierung oder Umsetzung des Selbst vom Mutterschoß zum Weltschoß«57 bzw. zu einem »›mesokosmischen‹«58 Schoß wie Gruppe, Gesellschaft, Kultur etc. Die mystische Versenkung bedeute hierbei die erinnernde Assimilierung der frühen Leere, man könnte auch sagen: die eigene Verwandlung in jene leeren Seiten des inneren Tagebuchs, auf die noch kein Tag seine Zeile geschrieben hat. So gehe es in der mystischen Praxis letztlich um einen aus existentieller Not hervorgehenden Wohnortwechsel, einen Umzug oder eine »mystische Umgeburt« – »Individuen, die in üble Verhältnisse hineingeboren wurden, (könnten) durch mystische Umgeburt ins Freie gesetzt werden«59. So läßt sich insgesamt festhalten, daß das begeisterte Ich sein Leben als ein Leben in begeisternden Räumen erlebt, wohingegen das bedrückte Ich auch tatsächlich in bedrückenden Verhältnissen, in bedrückenden Wohnungen sein Leben fristet.60 Das behandelte Selbst In seiner Studie über Anthropotechniken mit dem Titel ›Du mußt dein Leben ändern‹ gibt Peter Sloterdijk auch einen lebenspraktischen Hinweis auf das ›behandelte Selbst‹, dem vierten Typus der Existenzdimensionen des ›Selbst‹. Das ›behandelte Selbst‹ zeichne sich durch die Kunst aus, zur richtigen Zeit passiv zu werden, 53 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 60. 54 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 64. 55 | Vgl. zum Tauchen und Bejahen bzw. zum Atmen und Verneinen: Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 77. 56 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 65. 57 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 66. 58 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 66, Fußnote 1. 59 | Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, a.a.O., S. 71. 60 | Über begeisternde, bedrückende und neutrale Architektur und ihren Einfluß auf das Selbsterleben des Menschen habe ich Andeutungen gemacht in: Matthias C. Müller: Architektur ist Information. Skizze der Beziehungen zwischen Begeisterung und Architektur, in: Bund Deutscher Architekten BDA in Bayern e.V. (Hg.): Daedalus Code 190820082108. Hundert Jahre BDA in Bayern, München 2008, S. 62-70.

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um andere, Fachleute in dem Fach, in dem man selbst nicht vom Fach ist, vorübergehend an sich arbeiten zu lassen, um sich nach erfolgter Behandlung wieder selbst in die Hand zu nehmen. Um ein Beispiel anzuführen: »[…] suche ich meinen Arzt auf, begrüße ich in der Regel auch die unangenehmen Untersuchungen, die er mir kraft seiner sachlichen Kompetenz angedeihen läßt; ich unterziehe mich invasiven Behandlungen, als täte ich sie mir letztlich selbst an.«61 Sloterdijk nennt das »Teilhabe an Fremdkompetenz«62 . Dieses Konzept kann man für die Gegenwart auch auf das philosophisch bedeutsame Phänomen der Schönheitschirurgie übertragen. Galt für Philosophen über die Zeiten hinweg Selbstverwirklichung als eine Folge von Erziehung und Selbsterziehung, von inneren Askesen und äußeren gymnastischen Übungen – römisch als mens sana in corpore sana bekannt –, so spielen diese zweiseitigen Formungspraxen im heutigen Alltag von vielen nur mehr eine begrenzte Rolle: einerseits die explizite innere Erziehung, wie oben bemerkt oft in Form asiatischer Meditations- und Yogaübungen in zahlenmäßig noch überschaubaren, wenn auch beachtlichen Milieus, und andererseits die explizite äußere Erziehung im Sinne körperlicher Fitneßübungen in – allem Anschein nach – wachsenden Segmenten der Bevölkerung. In der Gegenwart auf dem Feld der Selbstoptimierung63 neu hinzugekommen ist demnach nicht nur die Gelegenheit, sich mit Hilfe von Kosmetika zu pflegen, zu schminken und hübsch zu machen, sondern auch die Möglichkeit, sich Gesicht, Bauch, Beine, Po anstrengungslos nach einem Idealbild schneiden, straffen, polstern und nähen zu lassen. Ich werde behandelt, also bin ich. Ich werde operiert, also verwandle ich mich in mein besseres Idol. Selbstverwirklichung realisiert sich somit nicht mehr nur durch innere Erziehung und geistige Veränderung, sondern vermehrt durch äußere operative Formung. Der plastische Chirurg wird der Bildhauer, der aus mir und meinen fragwürdigen Naturfigurtatsachen in einer wenige Stunden dauernden Operation den scheinbar idealen Menschen schafft.

Medizinische Selbstbegriffe. Gerald M. Edelman, das Prozeß-Selbst und die neuronalen Prozesse Der New Yorker Mediziner und Neurologe Gerald M. Edelman geht in seinen Arbeiten von der Existenz eines Ichs bzw. eines Selbst aus. Das Ich sei ein komplexes lebendes System, das aus genetischen Veranlagungen, einer Geschichte, einem sozialen Umfeld, einem Körper, einem Gehirn und zufälligen Erfahrungen bestehe und sich in einem ständigen Wahrnehmungs- und Lernprozeß befinde. Kein Ich sei mit einem anderen identisch.

61 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 591ff., Zitat S. 593. 62 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 594. 63 | In der kollektiven ›Selbstoptimierungs‹-Bewegung läßt sich auch eine Art modernes nachreligiöses Purgatorium sehen. Wenn ein theologisch begründetes Fegefeuer unter Zeitgenossen nicht mehr glaubhaft ist, dann greifen diese dankbar nach dem Ersatzstrohhalm eines Smoothies, alles daran setzend, sich in diesem Leben zu ›reinigen‹. Wer wollte ernsthaft bestreiten, daß die Räume der epidemisch verbreiteten Fitneßstudios optisch oft einer Materialisation des verlorenen Purgatoriums nahekommen? Sie sind die dritten Orte, an denen die ›Sünder‹ ihre Absolution in Form von Schmerzen und Schweiß erhalten.

Kapitel II.3

Was die Genesis des Selbst betrifft, postuliert er, daß von der frühkindlichen Entwicklung an der Körper Signale an das Gehirn sende und das Gehirn wiederum Signale an sich selbst: was zur Entstehung (emergence) eines Selbst führe. Im übrigen sei das Selbst, wie auch das Bewußtsein, ein Prozeß.64 Mit Edelman kann man indirekt verdeutlichen, daß bestimmte theoretische Ansätze – zu denen meines Erachtens die Ansätze etwa von Gerhard Roth oder Wolf Singer rechnen – in Wirklichkeit und ohne daß die Vertreter dieser Ansätze dies wissen oder zugeben, tatsächlich dualistische oder quasidualisierende Ansätze sind. Denn wenn die entsprechenden Vertreter einerseits vom Gehirn ausgehen, das sonnenköniglich regiert, und andererseits vom Ich, das nur dem folgt, was das Führergehirn befiehlt, dann promovieren sie implizit Gehirn und Ich zu zwei Quasi-Substanzen und erweisen sich eben damit als Dualisten. Edelman versucht dagegen zu zeigen, daß das handelnde Ich gewissermaßen das ›Ich‹ der neuronalen Prozesse sei, nur in subjektiver Perspektive. Ich bin, also denke ›ich‹ auf der neuronalen Ebene. Rimbauds Gedanke – »Es denkt mich«65 – ließe sich hierauf nicht eins zu eins anwenden; nicht es denkt in mir, sondern ›ich‹ denke in mir – ›ich‹ meint hier also meine neuronalen Prozesse, die ich nicht als neuronale Prozesse wahrnehme, ja, überhaupt nicht wahrnehme, sondern einfach als mich selbst (wie auch immer das jeweils genau zu verstehen ist: dieses ›sich selbst wahrnehmen‹). Ich (als mein Ich) erscheine gewissermaßen im Zuge der Aktivität meiner neuronalen Prozesse (und meine neuronalen Prozesse sind körperlich und indirekt umweltgebunden situiert). So wäre es für Edelman aus einer wissenschaftlichen Perspektive ein Fehler, zwischen meinem Ich und neuronalen Prozessen zu trennen. Das Ich von ›ich schreibe‹ ist nur die subjektiv-phänomenale oder innenperspektivisch-bewußte Artikulationsform der nichtbewußten neuronalen Prozesse. Im übrigen schreibt Edelmann in seinem Buch ›Das Licht des Geistes. Wie Bewußtsein entsteht‹66 zum Selbst das folgende: »Ich habe bereits die Fragen angeschnitten, wie Signale aus dem Körper, der Außenwelt und dem Gedächtnis zu der zentralen Rolle beitragen, die das Selbst in unserem Erleben einnimmt. Vor allem zwei Aspekte scheinen hier wichtig zu sein. Erstens wirken auf die Transformation ins phänomenale Erleben verschiedene Sinnesmodalitäten und […] Bewertungssysteme, autonome Reaktionen und propriozeptive Signale ein […]. Diese mit der Regulation von Vorgängen im Körper befaßten Systeme müssen unser ganzes Leben hindurch tätig sein und andere Inputs aus Sinnesmodalitäten flankierend begleiten.

64 | Gerald M. Edelman: Second Nature. Brain Science and Human Knowledge, New Haven and London 2006. Das englische Original zu meiner von mir übersetzten Paraphrase der Edelmanschen Position lautet: »Moreover, from very early developmental times, signals from the body to the brain and from the brain to itself lay the grounds for the emergence of a self. That self, like consciousness, is also a process.« (S. 37f.) 65 | Arthur Rimbaud im Brief an Georges Isambard, Douai, geschrieben am 13. Mai 1871 in Charleville, in: A. R.: Sämtliche Werke, französisch und deutsch, übertragen von Sigmar Löffler und Dieter Tauchmann, Frankfurt a.M. und Leipzig 1992, S. 394. 66 | Gerald M. Edelman: Das Licht des Geistes. Wie Bewußtsein entsteht, aus dem Englischen von Christoph Trunk, Reinbek bei Hamburg 2007.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst Der zweite Aspekt […] ist die […] Unterscheidung zwischen gerichteten Bewegungen, die das Individuum selbst initiiert, und Bewegungen, die dem Körper von außen vorgegeben werden. Diese Unterscheidung bildet sich möglicherweise schon im Mutterleib heraus […]. Das Selbst wird anhand kinästhetischer Inputs […] vom Nichtselbst abgehoben.« 67

Das Selbst nach Edelman zeigt sich demnach als eine während des Lebens »nie zum Erliegende kommende«68 prozessierende Funktion eines sich in der Umwelt zielgerichtet verhaltenden Lebewesens. Es wird realisiert im Zuge von neuronalen Prozessen und körpereigenen, sensomotorischen Feedbacks, also »propriozeptischen und kinästhetischen Reaktionen«69, sowie auf einer höherstufigen Bewußtseinsebene im Zuge von Reflexionen mithilfe des Gedächtnisses, der Wortsprache und des umweltlichen wie sozialen Gesprächs. Anders formuliert: Das Selbst wird zunächst schlafwandlerisch realisiert, so, als wäre es eine erlernte ›zweite Natur‹ (second nature), und dann höherstufig und auf der phänomenologischen Ebene explizit reflexiv – so daß ›ich weiß, daß ich gerade den Gedanken denke, daß ich diesen Gedanken denke‹.

Israel Rosenfield, das Körperbild bzw. das Ichgefühl und das Raumgefühl Der New Yorker Neurophysiologe Israel Rosenfield untersucht in seinen Arbeiten nicht zuletzt die Beziehungen zwischen dem Bewußtsein eines Menschen, seinem sich unablässig verändernden Körperbild und dem Zustand des Organismus als ganzem. Das Gravitationszentrum dieser Beziehungen stellt für ihn das Selbstgefühl oder das »Ichgefühl« 70 dar, der unentwegte Selbstbezug eines Menschen auf sich selbst. Das Ichgefühl entstehe nach Rosenfield aus der Beziehung zwischen meinen körperlichen Empfindungen und dem »›Bild‹« 71 von meinem Körper in meinem Gehirn.72 Insofern die Beziehung zwischen meinem Körper und seiner Umwelt im Laufe des Lebens vielfältiger werde, »nimmt auch das Wesen meines Ich und meiner Erinnerungen an Tiefe und Umfang zu« 73. Was passieren kann, wenn ein Mensch sein Körperbewußtsein verliert, beschrieben im Oktober 1905 die französischen Ärzte Gaston Deny und Paul Camus 67 | Gerald M. Edelman: Das Licht des Geistes, a.a.O, S. 128f. – Siehe auch S. 131ff. 68 | Gerald M. Edelman: Das Licht des Geistes, a.a.O, S. 133. 69 | Gerald M. Edelman: Das Licht des Geistes, a.a.O, S. 133. 70 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene. Anatomie des Bewußtseins, aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Frankfurt a.M. 1992, S. 17. 71 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 16. 72 | Georg Northoff könnte dieser Aussage so wohl nicht zustimmen, er würde vielmehr den Bezug zur Umwelt betonen: »Die Wahrnehmung des eigenen Körpers basiert also auf der Beziehung oder Differenz zwischen intero- und exterozeptivem Processing und ist daher immer schon mit der Umwelt intrinsisch verknüpft bzw. in sie eingebettet. […] Es sind nicht Wahrnehmungen des Körpers im Unterschied zu Wahrnehmungen der Umwelt. Nein, Gefühle sind die Konstituion einer Beziehung zwischen Körper und Umwelt, zwischen Gehirn und Umwelt, diese Beziehung selbst ist das emotionale Gefühl.« G. N.: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 187f. 73 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 17.

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anhand des Falls der Patientin Madame I. – Rosenfield geht darauf ein. Ihr Fall zeigte, in der Interpretation von Rosenfield, daß »es ohne Ichgefühl keine Erinnerungen gibt« – denn »wie kann ich mich an meine Eltern, mein Haus erinnern, wenn ich nicht sicher bin, ob ich existiere?« 74 Rosenfield erinnert darüberhinaus an die Forschungen des französischen Neurologen Pierre Bonnier über das Problem des Schwindelgefühls; Bonnier glaubte, daß der Schwindel »auf einen Verlust des Raumgefühls zurückzuführen sei« 75. Rosenfield: »Die Wahrnehmung des Raums, so seine [Bonniers, M.M.] Argumentation, ermöglicht es dem Gehirn, allen Sinneseindrücken eine Bedeutung zu geben: ›Die einzige konkrete Qualität, die einzige objektive Eigenschaft, die wir der Materie mit den Sinnen zuordnen können, ist, daß sie sich irgendwo befindet [quelque part] und daß sie folglich etwas ist [quelque chose].‹ Für ihn war die Wahrnehmung eines Gegenstandes immer mit einer Raumwahrnehmung gekoppelt. Deshalb, so schloß Bonnier, muß das Raumgefühl absolut sein. Madame I. hatte es verloren.« 76 Und sie hatte das Raumgefühl nach Rosenfield eben wegen des Verlustes ihres Körperbewußtseins verloren – denn ohne Körperbewußtsein lasse sich die Wahrnehmung nicht auf den Körper beziehen – alle Empfindungen aber seien von Beziehungen geprägt und die primäre Beziehung sei »die eines Gegenstandes zu der Person« 77 – also der Selbstbezug. Ohne Körperbewußtsein jedoch kein Selbstbezug und damit auch kein Raumgefühl. Oder mit Rosenfield zu sprechen: Den Raum empfinden wir »durch seine Beziehung zu etwas anderem, und zwar im wesentlichen zu unserem eigenen Körper« 78. Dabei wisse man von gehirngeschädigten Patienten, »daß das Gehirn unser Raumgefühl durch Bezug zum Körperbild herstellt« – das Körperbild sei »unentbehrlich für unsere Raumvorstellung, und durch seine Abstraktion davon, die das Gehirn vornimmt, entstehen allgemeinere Wahrnehmungen von Räumen und Gegenständen« 79. Rosenfield weiter: »Die Vorstellungen von Raum, Gegenständen und Selbstbezug (dazu gehören auch Gefühle, denn sie sind ein Teil der Struktur des Selbstbezugs) sind abhängig vom Körperbild, und man kann sie nicht voneinander trennen.«80 Daß Raumwahrnehmung vom Selbstbezug abhängt, zeigen auch Fälle von halbseitiger visueller ›Nichtbeachtung‹ bei ›Neglect‹-Patienten. Patienten mit etwa linksseitiger visueller ›Nichtbeachtung‹ können sich, aufgefordert, sich an einen bestimmten Platz, etwa vor dem Mailänder Dom, zu erinnern, jeweils nur den Raum vorstellen, der sich zu ihrer Rechten befindet. Kann also kein Selbstbezug

74 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 54. 75 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene. a.a.O., S. 57. – Rosenfield bezieht sich auf Pierre Bonnier: Vertiges, Paris 1893, und verweist auch auf Pierre Bonniers L’aschématie, in: Revue Neurologique, 1905, S. 54ff. 76 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 57. – Eckige Klammern von Rosenfield. 77 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 58. 78 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 68. 79 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 68. 80 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 76.

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hergestellt werden – hier aufgrund einer Hirnläsion oder einer zerebralen Erkrankung –, dann erscheint der Raum nicht oder nur zum Teil.81 Auch der Fall des Erblindeten John Hull zeige, daß der Verlust des visuellen Bezugsrahmens bzw. des visuellen Körperbilds »die Raumvorstellung, den visuellen Selbstbezug und viele Kenntnisse«82 zerstöre – in den Worten von John Hull in seinem Buch Touching the Rock: »Es gibt keine Fortsetzung der Wahrnehmung im Raum… Ich löse mich auf.«83 So ergibt sich für Rosenfield aus diesen und anderen Fällen die Schlußfolgerung, daß Menschen ihre Sprache und ihr Gefühl für sich dynamisch erschaffen, »genau wie ich mich körperlich im Raum bewege«84. Dabei setzen, so Rosenfield, Gefühle von ›fremd‹ und ›vertraut‹ »ein einheitliches Ich«85 voraus, gewissermaßen »das Fließen eines einheitlichen dynamischen Ich«86. Auch dieser letzte Punkt ist aus Sicht der These dieser Arbeit von Interesse. So, wie Rosenfield es hier formuliert, ist seine Aussage allerdings erläuterungsbedürftig. Denn Gefühle von ›vertraut‹ und ›fremd‹ sind zunächst Gefühle auf der phänomenalen oder potentiell phänomenalen Ebene des Erlebens; worauf jedoch der Ausdruck eines ›einheitlichen dynamischen Ichs‹ zielt, scheint eher das (nichtbewußte) ›Körperbild‹ im Gehirn des Organismus zu sein. Was die phänomenale Ebene des Erlebens betrifft, so ist die Pointe dieser Arbeit bekanntlich, daß das phänomenale Selbst ja erst entsteht, wenn der Mensch einen intakten, als ›angenehm‹ oder ›vertraut‹ wahrgenommenen Innenraum erlebt, der sich damit zugleich von einem Außenraum abhebt. Es ist nach diesem Ansatz also gerade nicht so, wie Rosenfield schreibt, daß Gefühle wie ›vertraut‹ und ›fremd‹ ein einheitliches Ich voraussetzten, sondern diese Gefühle werden möglich erst und zugleich mit der Bildung eines als intakt bzw. als nicht mehr intakt (oder als nicht-intakt) erlebten Innenraums als Selbst. Doch von diesem hier womöglich strittigen Punkt abgesehen, läßt sich festhalten, daß Rosenfield anhand psychiatrischer Beobachten Rückschlüsse über den elementaren Zusammenhang von Körperbewußtsein, Ichgefühl und Raumgefühl herstellen kann. Körperbewußtsein und Ichgefühl scheinen dabei mehr oder weniger zwei Ausdrücke für das Selbe zu sein, sie beziehen sich (trotz des Ausdrucks Körperbewußtsein) auf das körperlich eher implizit bleibende Grundgefühl eines Lebewesens – das Gefühl hinsichtlich der ›Beziehung‹ zwischen Körper und ›Körperbild‹ im Gehirn. Entscheidend also scheint zu sein, daß der Mensch ohne Körperbewußtsein bzw. Ichgefühl kein Gefühl für den unmittelba81 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 77ff. – Rosenfield bezieht sich auf die berühmte Untersuchung der beiden italienischen Neurologen Edoardo Bisiach und Claudio Luzzatti: Unilateral Neglect of Representational Space, in: Cortex. A Journal Devoted to the Study of the Nervous System and Behavior, Band 14, Augabe 1, März 1978, S. 129-133. Siehe hierzu auch Bisiachs Artikel ›Die fehlende Hälfte. Von einem, der den Mailänder Dom nur halb sieht‹, in: Folio (NZZ), Zürich März 1994. 82 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 78f. 83 | John M. Hull: Touching the Rock. An Experience of Blindness, London 1990, S. 48, zitiert nach: Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 79. 84 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 142. 85 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 146. 86 | Israel Rosenfield: Das Fremde, das Vertraute und das Vergessene, a.a.O., S. 159.

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ren Umgebungsraum entwickeln kann. Das Körperbewußtsein dient dem Menschen dazu, Gegenstände in der unmittelbaren Umgebung auf sich beziehen zu können. Und indem die Gegenstände auf den Körper bezogen werden, entsteht ein Raumgefühl. Was bedeuten Rosenfields Ausführungen für diese Arbeit? Kurz gesagt, sie bestätigen auf unterschiedliche Weisen die Hauptthese dieser Arbeit. Zunächst ist jedoch zu beachten, daß wie bemerkt Rosenfields Begriffe vom Körperbewußtsein bzw. Ichgefühl sich auf unbewußte, propriozeptive körperliche Prozesse beziehen. Zu klären, wie auch immer diese Körperprozesse ablaufen, ist Sache der Biologen und Physiologen und hier auch nicht weiter von Belang; wichtig ist allein die Tatsache, daß dieses Körperbewußtsein bzw. dieses Ichgefühl entscheidend für die Bezugnahme auf den Raum ist – und daß erst über dieses Raumgefühl ein phänomenales, bewußtes Selbst entstehen kann. Letzteres sagt Rosenfield zwar nicht ausdrücklich; doch ergibt es sich aus den Fallbeispielen: Madame I. kann wegen des fehlendes Ichgefühls objektive Innenräume nicht mehr auf sich beziehen, folglich fehlen ihr die Erinnerungen, die sie normalerweise mit diesen Räumen verknüpfen müßte, und damit die Bezüge zu ihrem autobiographischen Selbst, überhaupt fehlt ihr ohne Körperbewußtsein und damit ohne räumliche Situiertheit die Gewißheit, überhaupt zu existieren. Und auch der erblindete John Hull beschreibt in seinem autophänomenologischen Bericht, wie sich sein Ich zugleich mit dem visuell verschwindenden Raum einfach auflöst. (Was bedeutet, daß er in einem darauffolgenden Lernprozeß einen taktil-akustischen Raum neu auf bauen muß, um von diesem her wieder eine Form des phänomenalen Selbst erleben zu können.) Was in Rosenfields Darlegungen fehlt, ist die Differenzierung des Umgebungsraums im Sinne eines Innen- und eines Außenraums. Menschen nehmen nie ›den‹ Raum wahr, sondern zumindest implizit oder unbewußt immer die Eigenverortung in einem Innen- oder in einem Außenraum. Ich bin nie nur ›im Raum‹, sondern entweder drinnen oder draußen. Erst anhand dieser Differenzierung und meiner Verortung möglichst in einer Form von ›Innenraum‹, mit dem ›ich‹ mich unbewußt identifiziere, komme ich ja zu mir selbst.

Anthropologische und konstruktivistische Aspekte des Selbst Erinnert sei an dieser Stelle daran, daß Julien Offray de la Mettrie als erster unter den französischen Lumièreisten mit der These Aufmerksamkeit erregen konnte, daß der Materie selbst eine Fähigkeit zur Bewegung zukomme, so daß die Konstruktion eines von außerhalb kommenden Anregers und Ur-Bewegers philosophisch bedeutungslos werde.87 Gemäß der hier, auf der ontologischen Ebene, für als sinnvoll formulierbar gehaltenen starken ontologischen These, daß ›es Information gibt‹, ist klar, daß selbst der Materiebegriff, den der radikale La Mettrie verwendet, dialektisch nicht radikal genug durchleuchtet ist: denn eine Materie, welche selbst die Fähigkeit hat, sich zu bewegen, ist eben keine bloße Materie mehr, sondern selbst bereits so etwas wie geistvolle Materie bzw. materieller Geist – eben Information (und womöglich sogar schon ein auf einem bestimmten Informationszusammenhang beruhendes lebendes Wesen). Wenn La Mettrie also schreibt, daß 87 | Julien Offray de la Mettrie: Traité de l’âme, Den Haag 1745.

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Empfindungen am Stoff hafteten, so verrät diese Formulierung noch immer einen insgeheim dualistischen Ansatz: gerade die Trennung zwischen Empfindung und Stoff löst sich in einer nachdualistischen Herangehensweise auf: der Stoff empfindet, die Empfindung ist stofflich. (Der bleibende Unterschied zwischen Gehirnprozessen aus der Dritte-PersonPerspektive und Gedanken aus der Erste-Person-Perspektive ist ein Unterschied der Erlebensperspektiven bzw. Beschreibungsebenen und hat damit nichts zu tun. Das übersehen hat auf dem Feld der Philosophie des Geistes gut zweihundert Jahre nach La Mettrie John Jamieson Carswell Smart; er hatte vermeintlich die entsprechende Konsequenz aus einem vorgeblich rein materialistischen Ansatz à la La Mettrie gezogen – materialistisch im traditionellen Dualismus-Sinne: ›Geist‹ vs. ›Materie‹ – und folglich die Identität von Gehirn und Geist bzw. von Gehirnprozessen und Bewußtseinserlebnissen postuliert.88 Freilich, wenn man einen solchen materialistischen Ansatz voraussetzt, dann kann natürlich das, was man Geist nennt, schon aus logischen Gründen nichts anderes als Gehirnprozesse sein. Gleichwohl übersieht Smart den entscheidenden Punkt – nämlich die eben erwähnten, auf der phänomenologischen Ebene durchaus erlebten Unterschiede zwischen ›Außen‹betrachtung der Prozesse einerseits und der ›Innen‹betrachtung im Sinne des Erlebens andererseits. Jede vollständige Theorie des Geistes muß diesen eminenten Unterschied erklären können. Zu sagen, Geist und Gehirn seien identisch, vermengt also die Beschreibungs- und Perspektivenebenen und ist folglich Unsinn.)

Francisco J. Varela, das selbstlose Selbst und die Frage nach dem Beobachter Der chilenische Neurobiologe Francisco J. Varela betont, daß Wissen »in einer konkreten, leiblichen, verkörperten, gelebten Form« erscheine und etwas sei, das »mit Situiertheit zu tun hat« 89. Darüberhinaus unterstreicht er, daß Erkennen immer in einem umfassenden biologischen und kulturellen Kontext eingebettet und immer verbunden sei mit sensomotorischen Tätigkeiten des ganzen Organismus.90 Dabei »tritt die Identität des kognitiven Selbst […] durch einen verteilten Prozeß hervor«91. Was Varela unter einem »virtuellen Selbst« oder auch einem »selbstlosen Selbst« versteht, macht er anhand der biologischen Erkenntnisse über sogenannte ›Insektenstaaten‹ oder ›Überorganismen‹ deutlich.92 Obwohl diese ›Staaten‹ aus vielen individuellen Organismen bestehen und jeder zugeben würde, daß sie »kein Zentrum oder kein lokalisierbares ›Selbst‹« besitzen, benehme sich das Ganze doch »als Einheit und erweckt beim Beobachter den Eindruck, als sei im Zentrum ein koordinierender Akteur ›virtuell‹ gegenwärtig«93. Hierbei vergißt Varela jedoch die wichtige Frage der Perspektive und des Beobachters – der Beobachter seines Beispiels ist ja ein Mensch, der sich außerhalb des Insektenstaats befindet und 88 | John Jamieson Carswell Smart: Philosophy and Scientific Realism, London 1963. 89 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 14. 90 | Vgl. Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 15 und S. 19. 91 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 55. 92 | Siehe Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 56ff. 93 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 57.

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mit diesem im Normalfall nichts zu tun hat – er kann die Szene überblicken und Zusammenhänge erkennen und ein virtuelles Kollektiv-Selbst den vielen Insekten zuschreiben. Auf dem Feld der Insekten ist es vorstellbar, daß die Insektenstaatsangehörigen selbst niemals den ›Eindruck‹ gewinnen können, bei ihnen handelte es sich um ein Ganzes, und folglich bewiese die Existenz des ›Staates‹ lediglich, daß ›Überorganismen‹ auch ohne zugrundeliegenden Plan möglich sind und ohne daß die einzelnen Organismen wissen müssen, daß sie Teil eines Ganzen sind und zusammen einen ›Staat‹ bilden. Wendete man das Insektenstaatsbeispiel auf den Menschen an, so stellte sich die Frage nach dem Standpunkt, den der beobachtende Mensch einnimmt. Betrachte ich mich selbst, so habe ich ja durchaus den Eindruck, daß ich ich bin, daß ich mir als ein Ganzes erscheine und mich von anderen unterscheide. Wie jedoch würde man das Gefühl für sich oder den Blick auf sich selbst begreifen? Hierauf gibt Varela keine Antwort; er hat offenbar auch das Problem dieser Frage nach dem Blick nicht erkannt. In seinem Beispiel war es einfach der außenstehende Beobachter, der den Insektenstaat sieht. Wie jedoch kommt in einem menschlichen Organismus, in dem bestimmte Prozesse ablaufen, der Blick auf sich selbst zustande und, vor allem, wie ist der Blick selbst zu interpretieren? Der Blick von ›innen‹ beruht biologisch gesehen natürlich auf irgendwelchen Prozessen, die im Menschen ablaufen: das Entscheidende für die ontologische Bewertung dieser Prozesse ist nun aber die schlichte Tatsache, daß diese selbstbezüglichen Prozesse, in Varelas Sprache, eben nicht virtuell sind, sondern wirklich stattfinden. Im übrigen bezweifelt Varela ja nicht das zusammenhängende Ganze des Insektenstaates, der also tatsächlich einen ›Überorganismus‹ bildet. Auf den Menschen angewendet, könnte man sagen: der Mensch bildet einen ›Überorganismus‹, den man auch als Selbst bezeichnen könnte; zugleich bringt er einen Beobachterblick auf sich selbst hervor, der in den vielen Prozessen nicht die vielen Prozesse erblickt, sondern der vor allem das Bild eines Ganzen sieht. Dieser Blick, oder man könnte auch sagen, dieses Blick-Ich, ist also, in Varelas Sprache gesagt, in jedem Fall real, genauso wie der ›Überorganismus‹ real ist. Weil Varela dieses Blick-Ich offenbar nicht mitbedenkt, konnte er auch nicht die Konsequenzen aus dem realen Blick-Ich bedenken: denn der Anblick des ›Ganzen‹ hat natürlich ›Rückkoppelungseffekte‹, die zu unterschiedlichen auch geplanten Maßnahmen zur Veränderung des ›Ganzen‹ führen können. So gesehen ist Varelas Konzept eines virtuellen oder selbstlosen Selbst nicht konsistent. Varelas Fehler ist es, die Rolle des Beobachters beim Übertragen des Beispiels auf den Menschen nicht mitzubedenken. Davon abgesehen hebt Varela einen »zweiten Aspekt des Selbst« hervor, nämlich »die Bezugnahme auf die Umwelt« und eben die erwähnte Tatsache, daß tägliches Leben immer ein »situiertes«94 sei. Dabei sei »unser unmittelbares Empfinden eines zentralen persönlichen Selbst […] eine zentralistische Illusion […]«95. Weiter meint er, daß sich das Empfinden eines persönlichen Ichs als ein »fortlaufendes, interpretierendes Narrativ über bestimmte Aspekte der parallel laufenden Aktivitäten unseres täglichen Lebens deuten«96 lasse. So habe, schließt Varela seine 94 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 59. 95 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 65. 96 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 66.

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Überlegungen zum Selbst, die Erforschung des Geistes gezeigt, daß das »Wesen« des Selbst »virtuell oder leer«97 sei. Der Hinweis auf Varelas Selbstbegriff ist trotz der angedeuteten Einwände insofern nicht unwichtig, als mit ihm auch aus neurobiologischer Sicht an die mehrfache Situiertheit des Menschen erinnert und diese unterstrichen werden kann. Zugleich zeigt Varela ungewollt, wie entscheidend die Reflexion der unterschiedlichen Perspektivenpositionen ist, von denen aus man die entsprechenden Beschreibungen vornimmt. Berücksichtigt man diese Perspektiven und auch die zugrundeliegende Ontologie nicht, läuft man Gefahr, letztlich kaum brauchbare Sätze zu formulieren. In diesem konkreten Fall sind Varelas Befunde, daß das Selbst virtuell oder leer sei bzw. daß das Empfinden eines zentralen Selbst eine zentralistische Illusion sei, praktisch für die Katz, weil er die entsprechenden Beschreibungsebenen, auf welcher diese Sätze womöglich Sinn ergeben könnten, nicht miterläutert.

Der Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt und Gerhard Roth Im Rahmen konstruktivistischer Erkenntnistheorien wie etwa der von Siegfried J. Schmidt wird Bewußtsein als »Funktion eines rekursiven Interaktionen-fähigen Nervensystems« begriffen: das heißt im Hinblick auf das Selbst, daß es ein durch Aktivität des Nervensystems hervorgerufenes »konzeptuelles Konstrukt« sei, ein »Kern von Konstruktionsprinzipien, mit dessen Hilfe eine Person Verhalten als ihr Verhalten synthetisiert, beobachtet, identifiziert und bewertet«98. Dabei meint etwa der Neurowissenschaftler Gerhard Roth, daß das »Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden«, keine Instanz sei, sondern »ein spezifisch hervorgehobener komplexer Zustand des Gehirns«99. An dieser Aussage sind zunächst zwei Punkte zu kritisieren: Erstens die Unterstellung, daß das ›Ich‹ etwas sei, was Menschen unmittelbar und konkret als ›sie selbst‹ empfinden: denn was damit gemeint sein könnte, ist wie oben bemerkt durchaus nicht so eindeutig klar, wie Roth unterstellt. Stellte man einem beliebigen Menschen auf der Straße die Frage, inwiefern er sich als sich selbst empfinde, käme womöglich die Gegenfrage, was der Fragensteller mit dieser Frage genau meine. In einer autophänomenologischen Befragung, inwiefern ich mich als mich selbst empfinde, könnte zumindest ich, Verfasser dieser Zeilen, keine unmittelbar und konkret mir selbst einleuchtende Antwort geben. Ich könnte allerdings Antworten geben wie die folgenden: Ich habe Zahnweh, Bauchweh, Hunger, Angst etc., ich bin müde, aufgeregt, in Vorfreude, gespannt etc. Das heißt: Ich habe ganz konkrete Empfindungen, die ich immer in einem bestimmten Zusammenhang spüre (die Angst etwa beim Anschauen eines Horrorfilms oder die Freude beim Lesen von Don Quijote). Aber ich kann eigentlich kaum sagen: Ich empfinde mich selbst, nur mich selbst, ohne irgendeinen Zusammenhang.

97 | Francisco J. Varela: Ethisches Können, a.a.O., S. 68. 98 | Siegfried J. Schmidt: Der radikale Konstruktivismus, in: S. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M. 1987, S. 11-88, Zitat S. 20f. 99 | Gerhard Roth: Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, a.a.O., S. 253 und S. 252.

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Zweitens ist die Mißachtung der Beschreibungsebenen wenigstens auch hier fürs Protokoll zu erwähnen. Die Art, wie ich mich erlebe, etwa als hungrig, ist einfach die phänomenale Art, wie ich mich erlebe; zu sagen, in Wirklichkeit sei dies ein »spezifisch hervorgehobener komplexer Zustand des Gehirns«, ist eine Nullaussage bzw. geht am Erklärungskern vorbei. Selbstverständlich ist mein Gehirn (und überhaupt bestimmte Teile meines Körpers), je nachdem, ob ich friere oder hungrig bin, in einem jeweils bestimmten Zustand – das ist keine Frage und niemand würde das bestreiten. Aber ich erlebe mich nicht als »komplexen Gehirnzustand«, sondern als frierend oder hungrig etc. Diese zweite Kritik läßt sich auch als Frage nach dem subjektiven Erleben verstehen; eine solche stellt etwa Thomas Nagel, wenn er fragt, wo bei einem solchen Konzept die Antwort auf die Frage nach dem »subjektiven Charakter von Erfahrung« bleibe; denn diese subjektive Erfahrung sei »nicht in der Begrifflichkeit irgend eines explanatorischen Systems funktionaler oder intentionaler Zustände analysierbar«100.

Anthropologie und der soziale Bezug. Michael Tomasello und die zwischenmenschlichen Ursprünge des ›Selbst‹ Aus entwicklungspsychologischer Sicht vertritt der Leipziger Anthropologe und Primatenforscher Michael Tomasello die These, daß interpersonal gewonnenes Selbstwissen und begriffliches Selbstwissen aufs engste miteinander verbunden sind. (Er bezieht sich vor allem auf den Begriff des ›Mich‹ im Sinne von William James und George Herbert Mead und nicht auf den des ›Ich‹.101) Er kann dabei zeigen, daß die Verfassung des Menschen von Anfang eine soziale sei. Menschen seien demnach von Geburt an soziale Wesen, schon wenige Minuten nach der Geburt sei eine Gesicht-zu-Gesicht-Kommunikation beobachtbar; diese begreift er nach Trearthen und Hubley, die den Begriff geprägt haben102, als die »primäre Intersubjektivität«103 (diese schließe eine Art von Selbst-Wahrnehmung [»self-perception«] bzw. ein Sich-Selbst-Gewahrsein [»awareness«104] ein); wobei sich in dieser basalen, interfazial generierten Kommunikation auch das zeige, was Tomasello interpersonales Selbst nennt (»interpersonal self«105). (Dagegen erkennen phänomenologisch-psychologisch reflektierte Kulturphilosophen wie Thomas Macho oder Peter Sloterdijk erste Konturen einer Ichbildung schon im Ertönen der Eigenstimme nach der Geburt; die Stimme habe zum einen die Funktion einer »vokalen« oder »akustischen Nabelschnur«, welche die »Verbindung zur Mutter außerhalb der Leibeshöhle« sicherstelle, als »Ersatz für die 100 | Thomas Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, in: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Königstein im Taunus 1981, S. 262. – Vgl. Hinderk M. Emrich: Psychiatrische Anthropologie, Würzburg 1990, S. 120ff. 101 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, in: Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 174-184, hier S. 174. 102 | Colwyn Trevarthen und Penelope Hubley: Secondary Intersubjectivity, in: Andrew Lock (Hg.): Action, Gesture, and Symbol. The Emergence of Language, New York 1978. 103 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 174. 104 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 174. 105 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 174.

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verlorene umbilikale Verbindung«; zugleich jedoch bilde sich im Kind beim Hören der eigenen Stimme bereits »ein prä-oraler medialer Ich-Kern« [Peter Sloterdijk106] aus.) Im Alter von etwa neun Monaten mache das Kind, so Tomasello weiter, einen Entwicklungssprung hin zur sekundären Intersubjektivität: Kinder lernen, andere Personen als psychologische Wesen wahrzunehmen – sie schauen dorthin, wohin die anderen schauen (gemeinsame Aufmerksamkeit, »joint attention«107, gemeinsam geteiltes Wissen), sie beachten, wie andere auf eine neu hinzutretende Person reagieren, und sie lernen durch Nachahmung108. Mit dieser sekundären Intersubjektivität setze das kulturelle Lernen (»cultural learning«109) ein, welches die Basis für die Ontogenese des eigenen Selbst bilde. Was das kulturelle Lernen betrifft, betont Tomasello, daß es dabei nicht nur darum gehe, seine Aufmerksamkeit auf jemanden anderen zu richten, sondern darum, tatsächlich zu versuchen, die Welt durch den anderen hindurch zu sehen, also von der Innenseite des Anderen aus.110 Was den Unterschied in der Selbstwahrnehmung vor und nach dem NeunMonate-Einschnitt betreffe, so gelte für die Zeit vor dem Einschnitt, daß das Kind sich ausschließlich von innen wahrnehme (interpersonales Selbst)111, nach dem Einschnitt jedoch einen Blick von außen (durch die anderen hindurch) auf sich selbst einnehmen könne (Ontogenese des eigenen Selbst).112 Was Tomasellos wichtigsten Befund aus seinen Überlegungen darstellt, ist die Tatsache, daß die Selbstwahrnehmung im großen Maß aus einer sozialen Interaktion resultiert.113 (Eine ähnliche These vertritt, wie oben im Abschnitt zum ›sozialen Selbst‹ bei William James vermerkt, Wolfgang Prinz aus kognitionswissenschaftlicher Sicht.) Was folgt daraus für meine Arbeit? Wenigstens drei Dinge: Erstens: Tomasellos Arbeit betont, wie auch der Gesamtbefund vieler anderer auf diesem Gebiet von Baldwin, James, Mead angefangen bis in die neuere Ent-

106 | Peter Sloterdijk: Sphären I, a.a.O., S 303. – Thomas Macho: Zeichen aus der Dunkelheit, a.a.O., S. 223-240. 107 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 174. 108 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 174. 109 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 175. 110 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 175. 111 | Philippe Rochats Arbeiten legen jedoch, Dorothée Legrand weist darauf hin, den Befund nahe, daß bereits drei Monate alte Kinder zwischen ihren eigenen Beinen und den Beinen von anderen, die ihnen auf einem Bildschirm gezeigt werden, unterscheiden können. Siehe Philippe Rochat: Self-Perception and Action in Infancy, Experimental Brain Research, (123), 1998, S. 102-109, zitiert in: Dorothée Legrand: Pre-reflective Self-as-Subject from Experiential and Empirical Perspectives, Consciousness and Cognition 16, 2007, S. 583599, hier: S. 596. 112 | Michael Tomasello: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 176. Die weiteren Entwicklungsschritte zu einem komplexeren Selbstbegriff lasse ich hier außen vor, weil sie zu weit vom Thema dieser Arbeit wegführen würden. 113 | Tomasello: »Human cognition, including cognition of the self, is in large measure a social enterprise.« In: M. T.: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., S. 182.

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wicklungspsychologie114, die existentielle soziale Dimension des Selbst, den sozialen Aspekt, und stützt auch von dieser Seite her die Multifacettität eines umfänglich verstandenen Selbst. Zweitens läßt sich die von Tomasello sogenannte primäre Intersubjektivität im Sinne dieser Arbeit als erste Form eines postnatalen dyadischen Innenraumerlebens interpretieren. In der fazialen Resonanz der das Neugeborene anlächelnden Mutter erlebt es die zweite Umwandung (und die erste übertragene) nach der ersten in der Leibeshöhle. Indem sich darüberhinaus nach dem Neun-Monate-Einschnitt die Aufmerksamkeit von Mutter und Kind triadisch auf ein Objekt richtet, zeigt sich in der geteilten Aufmerksamkeit und in dem geteilten Wissen eine weitere Form des geteilten Innenraums. Drittens ist Tomasellos Verwendung der Raumausdrücke ›von innen‹ und ›von außen‹ bemerkenswert. Diese Begriffe werden zwar von Tomasello wie selbstverständlich verwendet und nicht weiter thematisiert. Im Sinne meiner These jedoch ließe sich das damit verbundene Geschehen raumtheoretisch etwas weiter ausführen: Das Kind wäre in seinem eigenen Empfinden im Normalfall auf einer sozialen Ebene zunächst immer gefühlt innen, auch wenn es noch keinen Begriff von Innen und Außen hat. Auf einer ›sozialen Ebene‹ betone ich deshalb, weil das Kind auf einer körperlichen Ebene durchaus Innen- und Außen-Erlebnisse kennt, zumindest wenn man ›innen‹ mit angenehm und ›außen‹ mit unangenehm assoziiert: das Kind ist innen, wenn es trinkt, wenn es warm eingebettet daliegt, wenn es vorsichtig beschmust wird etc., und es ist draußen, wenn es hungert, friert, Verletzungen welcher Art auch immer erleidet (Lärm, Stöße, Schläge etc.). Diese körperlichen Innen-Außen-Erlebnisse wären in diesem Gedankengang jedoch noch Bewußtseinserlebnisse erster Ordnung, das heißt nicht explizit reflektiert. Erst nach dem Neun-Monate-Einschnitt erlebt das Kind einen ersten virtuellen Raumwechsel: indem es sich durch den anderen hindurch, durch dessen Gesichtsfenster gewissermaßen, wahrnimmt und sich also erstmals im übertragenen Sinn von außen sieht. Der Blick durch dieses Fenster des anderen wäre damit die erste Form einer autokognitiven Theorie. Statt Fenster könnte man in gewisser Weise auch Spiegel sagen – denn was ist ein Spiegel anderes als ein Fenster für den Blick zurück? Ich sehe mich folglich im Spiegelgesicht des Gegenübers reflektiert. Der wirkliche Glasspiegel im Badezimmer ist entwicklungspsychologisch gesehen eine künstliche Übersetzung dieses ersten natürlichen Spiegels – wobei ich mich im Fall des Badspiegels eben nicht mehr im Spiegelgesicht des wirklichen Gegenübers betrachte, sondern im Spiegelgesicht eines virtuellen Gegenübers, das ich für mich selbst halten muß. Weil ich mir als ein Gegenüber erscheine, kann ich mir auch Fragen stellen, als wäre das Gegenüber ein tatsächliches: »Wie siehst du heute morgen schon wieder aus?« Der Grund jedoch, warum ich überhaupt einen Spiegel benötige, um mich halbwegs selbst erkennen zu können, sei es einen Spiegel in Form des Gesichts eines Gegenübers oder sei es einen Spiegel aus Glas, liegt einfach darin, daß ich mich nie mit buchstäblich eigenen Augen sehen kann – analog zum uneinholbaren präreflexiven ›Ich‹. Und das gilt auch für die Augen des Spiegelbildes – denn 114 | Siehe etwa Tomasellos umfangreiche Literaturangaben zur frühkindlichen Entwicklung in: M. T.: On the Interpersonal Origins of Self-Concept, a.a.O., 183f.

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ich schaue ja nicht wirklich von der Position des virtuellen Gegenübers auf mich, sondern vielmehr bin immer noch ich es, der auf das Spiegelbild blickt. Um mich wirklich mit eigenen Augen sehen zu können, müßte ich ein anderer Mensch sein; wäre ich jedoch ein anderer Mensch, könnte ich mich nicht mehr mit eigenen Augen sehen.115 Selbes trifft natürlich auch auf andere Spiegelformen zu, etwa das Nachdenken über die eigene Persönlichkeit, den eigenen Lebensweg, die eigenen Ziele etc., oder die expliziten Beschreibungen meiner Person, welche andere Menschen machen und mir mitteilen: immer bleibt wenigstens ein Moment übrig, das ich nicht erreichen kann, das sich nicht vergegenständlichen läßt, welches immer die aktuelle Subjekt- oder Ich-Stelle einnimmt, die ich nicht verlassen kann, ohne mich zu verlieren.116

Antonio R. Damasio: Protoselbst, Kernselbst und autobiographisches Selbst In seinen Forschungen zur Funktionsweise des Gehirns verwendet Antonio R. Damasio zunächst die für das Verständnis seines Selbstbegriffs wichtige Metapher der ›neuronalen Karten‹ (›Karten‹ im Sinne von Landkarten). Gemeint sind mit diesem Bild der Karten neuronale Zustandssignale über den eigenen Körper (wobei ›Signal‹ seinerseits ein Bild aus der Sender-und-Empfänger-Sprache ist). Diese neuronalen Karten stellen relativ stabile Aspekte des eigenen Körpers dar und lassen sich, so Damasio, als ein »Proto-Selbst« beschreiben, als »Vorläufer«117 von Kernselbst und autobiographischem Selbst. Damasio: »Die frühesten Ursprünge des Selbst […] sind in der Gesamtheit jener Hirnmechanismen zu finden, die fortwährend und unbewußt dafür sorgen, daß sich die Körperzustände in jenem schmalen Bereich relativer Stabilität bewegen, der zum Überleben erforderlich ist.«118 Das Protoselbst ist also nichts statuarisches, sondern besteht aus ständigen zerebralen Meinungs-Feedbacks über den aktuellen Gesamtzustand des Organismus. In diesem Fall ist das Moment der Selbstbezüglichkeit im eigentlich demonstrativpronominalen Wort ›Selbst‹ in Erinnerung zu rufen. An einem bestimmten Ort eines Lebewesens, in diesem Fall dem Gehirn, ›teilt sich‹ das Lebewesen selbst ›mit‹, wie es ihm auf eine ganz basale Art und Weise geht. Und diese ›Mitteilung‹ 115 | Siehe zur Frage, inwiefern man sich selbst mit eigenen Augen sehen oder nicht sehen kann, auch unten den Abschnitt zu ›Dorothée Legrand und die phänomenologischen Dimensionen des Selbst‹, in welchem Legrands Unterscheidung zwischen dem Auge-als-Subjekt und dem Auge-als-Objekt erläutert wird. 116 | Vergleiche dazu auch Jacques Lacans entwicklungspsychoanalytische Theorie über das Spiegelstadium: die angenommene anfängliche Zerstückeltheit der Leibwahrnehmung des Kleinkindes werde im Anblick des einheitlichen Körpers im Spiegel geheilt (Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: J. L.: Schriften I, hg. von Norbert Haas, Freiburg i.Br. 1973). In jüngerer Zeit hat Peter Sloterdijk den krassen Irrtum in der Lacanschen Spiegeltheorie erläutert, siehe P. S.: Sphären I, a.a.O., S. 543ff.: ›Exkurs 9: Von wo an Lacan sich irrt‹. – Wenigstens erwähnt sei der Mythos von Narziß, der den Menschen darüber belehrt, was passieren kann, wenn er sich zu intensiv im Spiegelbild – des Wassers – zu betrachten sucht: er stürzt hinein und ertrinkt; er bemerkt den Abgrund unter der eigenen Identität erst, während er schon in denselben saust. 117 | Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 36. 118 | Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 36. Vgl. S. 187ff.

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wird ständig aktualisiert. Diese ›Selbstmitteilung‹ eines Lebewesens über seinen Zustand an sich selbst ist also das, was Damasio das Protoselbst nennt. Bei der Abgleichung dieser Protoselbst-Karten mit jenen Karten, welche Gegenstände der Außenwelt darstellen, entstehe nun, so Damasio, ein »Kernselbst«; das Kernselbst werde dabei »für jedes Objekt, mit dem das Gehirn interagiert, neu erschaffen« 119. Bei diesem Analyseschritt tritt die Dimension der Außenwelt bzw. der Umwelt hinzu. War das Protoselbst noch rein auf sich bezogen, auf den eigenen inneren Zustand, kommt nun also die Frage nach der Einbettung von sich in einer Umwelt hinzu. Die Gegenstände der Außenwelt werden demnach auf speziellen Außenwelt-Karten dargestellt, und das Resultat aus der Bewertung der eigenen Situiertheit innerhalb dieser Gegenstandsaußenwelt ist praktisch das, was Damasio das Kernselbst nennt. Formelhaft gesprochen: Das Kernselbst ist gleich meine Situation in Relation zur Umwelt. Oder um in Damasios Kartenbild zu bleiben: Das Kernselbst ist jene Karte, welche für den Organismus den Organismus in der Umwelt darstellt, die also dem Organismus sich selbst im Umwelt-Raum zeigt und ihn damit über seine Situation informiert. Zu bemerken ist hier nebenbei, daß man dieses Kernselbstkonzept im Sinne der hier vertretenen Raumselbsttheorie interpretieren könnte: das Kernselbst entstünde demnach als Ergebnis der neurobiologisch erfolgenden Bewertung von ›umwandenden‹ Außenweltgegenständen. Wenn schließlich alle Karten über längere Zeit hinweg miteinander verglichen und zu einem Muster verbunden werden, erscheine, so Damasio, ein »autobiographisches Selbst«; dieses beruhe demnach »auf den systematischen Erinnerungen an Situationen, in denen dem Kernselbst die grundlegenden Ereignisse im Leben des Organismus zur Kenntnis gelangt sind«120. Protoselbst, Kernselbst, autobiographisches Selbst sind also die drei SelbstEntwicklungsstufen eines Menschen nach Damasios’ Verständnis.121 Diese Selbstbegriffs-Abstraktionen zeigen in jedem Fall, daß ein Selbst ohne eigene Selbstdarstellung seiner Position im Raum nicht denkbar ist. Ein Selbst benötigt stets Informationen über die Gegenstände in der Außenwelt und damit über den Raum um es herum; es kommt erst über diese Informationen ganz zu sich. Solche verallgemeinerten Sätze zu formulieren ist freilich nicht unproblematisch, weil man Gefahr läuft, die jeweilige Sprechposition nicht ausreichend zu berücksichtigen, von der aus hier etwas über etwas ausgesagt werden soll. In diesem Zusammenhang kritisiert auch der Berliner Ideenhistoriker Dominik Perler Damasio, insofern dieser die Frage nicht reflektiere, was es genau heißen soll, daß die Karten miteinan-

119 | Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 30. – Ich brauche hier nicht erneut eine Kollokation wie ›das Gehirn interagiert‹ zu problematisieren, siehe hierzu oben etwa die Fußnote im Einleitungsabschnitt ›Allgemeine begriffshistorische wie begriffsmethodologische Anmerkung‹. 120 | Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 30. Vgl. S. 239ff. und S. 268ff. 121 | Hinsichtlich der neuronalen Grundlagen des Selbst spricht Damasio auch noch vom »neuronalen Selbst« und in der Folge vom »›Metaselbst‹« (S. 320), worauf ich hier nicht einzugehen brauche, siehe A. R. D.: Descartes’ Irrtum, a.a.O., S. 313ff. – Auch verwendet er die Ausdrücke »Natur-Selbst« und »Kultur-Selbst«, auf die ich hier ebenfalls nicht eingehe, siehe A. R. D.: Ich fühle, also bin ich, a.a.O., S. 276ff.

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der abgeglichen würden. Wer gleiche ab, »wer liest sie«122, wer interpretiere? Und er tadelt, daß bei Damasio letztlich das Gespenst in der Maschine wieder auftauche – zwar nicht das immaterielle Gespenst, doch ein materielles, »das von Anfang an im Gehirn tätig ist und Karten liest«123. Was ist von Perlers Kritik zu halten? Zunächst ist seine Kritik nach dem eingangs in der Einleitung gesagten selbstredend zum Teil berechtigt: wenn man Damasio wortwörtlich nähme, dann wäre es in der Tat Unsinn, anzunehmen, jemand läse im Gehirn irgendwelche Karten oder gliche diese miteinander ab. Freilich scheint es auch billig zu sein, Damasios Arbeit insofern abzuwerten, indem man sagt, dieser führte das Gespenst in der Maschine wieder ein, nur dieses Mal als materielles, neuronales. Ich halte diesen Vorwurf für nicht gerechtfertigt, schon allein deshalb, weil Perler es versäumt, das letztlich gemeinte und womöglich sinnvolle an Damasios Schema wahrzunehmen und auf dieses einzugehen. Darüberhinaus versäumen Perler und jene, die ähnliche (zum Teil wie gesagt berechtigte) Kritik an der Beschreibungssprache der Neuro- und Kognitionswissenschaftler vortragen, Butter bei die Fische zu tun in Hinsicht auf das entscheidende biologische Faktum von Lebewesen: das Faktum, daß in allen Lebewesen offenbar unterschiedliche, von selbst ablaufende, selbstbezügliche Selbsterhaltungsprozesse stattfinden und daß man für diese Tatsache eine Sprache finden muß, und das möglichst, ohne eine Beschreibungsebenenverwirrung herbeizuführen. Um nur ein paar ganz willkürliche und harmlose, auch dem Alltagsbewußtsein erschließbare Selbstprozesse zu nennen: Blute ich am Bein, weil ich mich beim Wandern an einem Dornenstrauch verletzt habe, dann heilt die Wunde von selbst. Ist mir kalt, ziehe ich meine Jacke fast unbewußt enger um mich herum. Braucht mein Körper Flüssigkeit, dann bekomme ich ein Durstgefühl, und ich gehe in die Küche und trinke etwas Wasser. Benötigt mein Körper Schlaf, dann wird mir meine Müdigkeit bewußt, und ich gehe ins Bett. Begegnet mir beim Spazierengehen ein mich anknurrender und zähnefletschender Hund, fühle ich mich bedroht und fürchte im Extremfall um mein Leben etc. Es ist also offensichtlich, daß in jedem Lebewesen auf unterschiedlichen Ebenen selbstbezügliche Prozesse ablaufen, von unbewußten, viskeralen, propriozeptiven, emotionalen bis hin zu phänomenal bewußten und explizit bewußten Prozessen. Und daß in Hinsicht auf diese Prozesse die Biologie bzw. die Philosophie eine Erklärungssprache finden muß. Falls Damasio diese Sprache nicht gefunden hat, so ließe er sich aus philosophischer Sicht diesbezüglich kritisieren. Was jedoch seine neurobiologischen Thesen angeht, so müssen Neurobiologen diese in neurobiologischer Hinsicht kritisieren. Für beide Seiten jedenfalls wäre es ein hilfreiches Verdienst, das Problem der Beschreibungssprachen zu beachten, wenn schon nicht zu lösen. Davon jedoch abgesehen müßte Damasio sich kritische Fragen auf dem Feld der Selbst-Nichtselbst-Logik gefallen lassen; etwa jene, ob mit seinem Drei-SelbstSchema auch bewußte, selbstreflexive Prozesse zureichend begriffen werden können, die Tatsache zum Beispiel, daß Menschen sich selbst zum Objekt, zum ›Gegenstand in einer Außenwelt‹ werden können, ein Gegenstand, der in gewisser 122 | Dominik Perler: Wenn Gespenster im Gehirn Karten legen. Rezension von Antonio Damasios Buch »›Selbst ist der Mensch‹. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins«, München 2011, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Januar 2012, S. 34. 123 | Dominik Perler: Wenn Gespenster im Gehirn Karten legen, a.a.O., S. 34.

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Weise nicht Teil der Nichtselbstsphäre ist, sondern Teil der Selbstsphäre oder der womöglich beides ist, sowohl Teil der Nichtselbstsphäre wie auch Teil der Selbstsphäre? Und wie wäre der Selbstbegriff zu erweitern, wenn Menschen entweder unbewußt oder bewußt sich hassen und sich ablehnen? Wer lehnt da wen ab? Und wie sind die jeweiligen Selbstmodi zu verstehen? Es fehlt gewissermaßen eine mehrwertige oder heteronyme Logik all der Selbste, die man sein kann. Was Damasios Theorien über Protoselbst, Kernselbst, autobiographisches Selbst jedenfalls andeuten, ist die Tatsache, daß ein ›Selbst‹ kein Alles-oder-NichtsPhänomen ist, sondern ein vielschichtiger körperlicher Prozeß, der von basalen, viskeralen, propriozeptiven, emotionalen Bereichen über mentale, vorbewußte, bewußte Selbstwahrnehmungen bis hin zu höherstufigen, explizit bewußten und historischen Reflexionen über sich selbst reichen kann. Raumtheoretisch wichtig war der Hinweis, daß womöglich auf der neurobiologischen Ebene die Form eines neurologischen Raumselbst in Resonanz auf kartographisierte Außenweltgegenstände entsteht.

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Literatur- und Kognitionswissenschaft. Personale ›Identität‹ via Zeitlichkeit, Prozesse, Narrativität und Dialog Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen und so kunterbunt unförmlich zusammengestückt, daß jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Montaigne 124 Eine ächt synthetische Person ist eine Person, die mehrere Personen zugleich ist […] Pluralism ist unser innerstes Wesen. Novalis 125 Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich. […] Ich ist ein anderer. Arthur Rimbaud126 Ich wäre nicht ich, könnte ich nicht auch ein anderer sein. Paul Valéry127 Ich habe das beharrliche Gefühl, im Leben und in der Kunst, daß ich gerade erst anfange. John Updike 128

Paul Ricœur und die hermeneutische Phänomenologie des Selbst Paul Ricœur illustriert in seiner hermeneutisch variierten Phänomenologie, wie das Selbst immer schon in den umfassenden Fluß der Sprache, der kulturellen Zeichen und der Geschichte hineingeschmissen ist und von diesem Fluß umstrudelt, umkämmt und geformt wird, bevor es überhaupt erst zu sich kommt, sich entdeckt und sich aus der Sprache heraus neu zu formen und zu kämmen beginnt. Insofern dem Selbst immer schon die symbolische Ordnung der Sprache vorausliege, trage es einen von Anfang an anwesenden Moment der Andersheit in sich.129

124 | Michel de Montaigne: Essais, ausgewählt und aus dem Französischen von Herbert Lüthy, Zürich 91996, Kapitel ›Über die Unbeständigkeit unseres Tuns‹, S. 325. 125 | Novalis: Schriften. Dritter Band. Das philosophische Werk II, hg. von Richard Samuel mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Darmstadt 21968, S. 250 [Nr. 63] bzw. S. 571 [Nr. 107]. 126 | Arthur Rimbaud im erwähnten Brief an Georges Isambard, Douai, geschrieben am 13. Mai 1871 in Charleville, in: A. R.: Sämtliche Werke, a.a.O., S. 394. 127 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 135. 128 | John Updike: Selbst-Bewußtsein, a.a.O., S. 324. 129 | Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Band I: Zeit und historische Erzählung, aus dem Französischen von Rainer von Rochlitz, München 1988; Zeit und Erzählung, Band II: Zeit und literarische Erzählung, aus dem Französischen von Rainer von Rochlitz, München 1989; Zeit und Erzählung, Band III: Die erzählte Zeit, aus dem Französischen von Andreas Knop, München

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Auch wenn jeder Mensch in der Regel sich zunächst vertraut ist, lernt er sich, wenn er zur Sprache kommt, erst richtig kennen; letzteres auch im übertragenen Sinn des Wortes (du wirst mich noch kennenlernen). Und erst wenn er sich kennenlernt, kommt er auch für sich zur Welt – niemand wird nur einmal geboren.130 Der Mensch macht die Bekanntschaft mit einer Person, von der er lange Zeit nicht wußte, daß es sich bei ihr um ihn selbst handelt: Nice to meet you – or maybe not? Im Zentrum von Ricœurs Untersuchungen zum Selbst steht also die Frage, wie ein Verständnis des Selbst möglich sein kann.131 Weil das konkrete Selbst nicht direkt zugänglich sei, das ›Ich bin‹ gewissermaßen von dem ›Ich denke‹ verdeckt werde, könne sich der Mensch nur über den intentionalen Weg nach draußen, wo er phänomenologisch gesehen ohnehin schon ist, selbst finden, über die in der Umwelt aufscheinenden Zeichen und entgegenstehenden Dinge, die ihn seiner Existenz versichern. Die Reflexion dient hier also lediglich dazu, sich selbst einzuholen und sich in der Textur der Welt einzusammeln, sich zu lesen und so zu verstehen.132 Im hermeneutischen Sinne ist das eigene Selbstverständnis demnach immer auch eine Art von Textverständnis. Wenn ich etwas verstehe, verstehe ich immer auch mich selbst; lese ich einen Text, so begreife ich mein Selbst über die Aneignung des Textes beim Lesen, so, wie auch der Sinn des Textes durch mich konstruiert und erschlossen wird. Wenn ich mich beim Lesen eines Textes verstehe, so wird vom Text zugleich mein Selbst geformt oder formatiert, das dann »anders als das Ich ist, das die Lektüre beginnt« (»d’un soi autre que le moi qui vient à la lecture«133). Menschen können demnach beim Lesen ihr Selbst verändern, weil in der Aneignung des Textes das Selbst ins Schwimmen gerät und für eine Neuzusammensetzung offen wird. Man steigt nicht zweimal in denselben Lesefluß.134 Das Selbst entsteht also aus dieser Reflexionsbewegung heraus, mit welcher es den bereits vorhandenen, es umfassenden Fluß der kulturellen Codes nachträglich einholt, zur Sprache bringt und versteht. Dabei wird zugleich, im Sinne moderner Selbst-und-Ich-Destruktionen à la Marx, Nietzsche, Freud, die Figur des sich selbst setzenden Egos verabschiedet – das Selbst setzt sich nach Ricœur nicht, sondern es ist eher ein Effekt jenes bereits laufenden Selbstprozesses, aus welchem es hervor1991; Das Selbst als ein Anderer, aus dem Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München 1996. 130 | Zur Dialektik von Zur-Sprache-kommen und Zur-Welt-kommen vgl. auch Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, a.a.O. 131 | Vgl. Paul Ricœur: De l’interpretation, in: P. R.: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris 1986, S. 25. – Auch Michel Foucault sieht im Selbst ein Phänomen, welches der Mensch entziffern können soll. Ein Problem dabei sei, daß die Hermeneutik des Selbst mit den traditionellen Theologien der Seele vermengt werde (Michel Foucault: Technologien des Selbst, a.a.O., S. 967f.). 132 | Vgl. Paul Ricœur: Existenz und Hermeneutik, in: P. R.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, aus dem Französischen von Johannes Rütsche, München 1973, S. 28. 133 | Paul Ricœur: De l’interpretation, a.a.O., S. 31. Übersetzung M.M. 134 | Vgl. hierzu Paul Ricœur: Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Paul Ricœur und Eberhard Jüngel: Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, S. 33.

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taucht. Jedenfalls kann das Selbst, insofern es aus einem von ihm nicht vollständig erschließbaren körperlichen Sein kommt, sich niemals vollständig begreifen; das direkte Selbstverständnis bleibt unmöglich. Ricœur bewegt sich mit dieser Position sowohl in Distanz zu Descartes’ Überhöhung des Cogito wie auch in Distanz zur vorgeblichen Herabsetzung des Selbst bei Nietzsche135 (diese Position nimmt auch Dan Zahavi ein, siehe unten den Abschnitt zu Zahavi). Ricœur sieht die in cartesischer Tradition stehenden Subjekttheorien mit den subjektkritischen à la Nietzsche in ihrem jeweiligen Extremismus zusammenhängen und versucht, durch die Position des narrativen Selbst beide Positionen zu überwinden und zu überbrücken. »Narrative Identität«136 ist für Ricœur folglich jene Identität eines Menschen, welche allein anhand einer Erzählung über das Leben des Menschen hergestellt werden kann – und nicht mit Hilfe eines traditionell angenommenen selbstidentischen ›Subjekts‹. Es könne also allein darum gehen, eine Identität im Sinne des lateinischen idem (hier: das Gleiche) zu erhalten und nicht im Sinne des lateinischen ipse (hier: das Selbe).137 Anders gesagt: narrative Identität ist das Ineinander von eigener Biographie und Erzählung bzw. Erzählzusammenhang. Es ist der einheitliche Kontext, der hier entscheidend ist, nicht die Frage, ob oder wie viele fiktive Elemente das Erzählte birgt. Selbst eine frei erfundene Biographie wäre letztlich keine, wenn ihre Elemente zusammengenommen keinen Zusammenhang für mich ergäben. So ruft die zusammenhängende Erzählung, in der ich mich finde und sozusagen selbst höre, erst meine Identität oder mein Selbst hervor. Die Erzählung ist die Ekklesia des Selbst. Anders gesagt: Das Selbst ist ein Effekt der Erzählung. Dieser einheitliche Erzählzusammenhang ist nichts anderes als der erlebte übertragene Innenraum, der ich selber bin. Analog zu Ricœur läßt sich raumtheoretisch schließlich sagen: Menschen sind immer schon in eine Flucht von Räumen hineingeboren, die sie zu den Wesen macht, die sie sind und die sie gemäß der phänomenologischen, designlogischen, architekturpsychologischen und architektursoziologischen Ordnung prägt und ausrichtet. Ich kann die Räume ändern, ich kann die Geschichte der Räume erzählen, mir hermeneutisch aneignen und mich damit selbst lesen, aber aus der ewigen Flucht der Räume gibt es für mich kein Entkommen. Die Flucht, das bin ich. L’enfilade c’est moi.138

135 | Paul Ricœur: Soi-même comme un autre, Paris 1990, S. 15, S. 30, S. 35 und öfter. Deutsche Ausgabe: Das Selbst als ein Anderer, a.a.O. 136 | Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit, a.a.O., S. 395ff. 137 | Siehe Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Band III: Die erzählte Zeit, a.a.O., S. 250; sowie P. R.: Soi-même comme un autre, a.a.O., S. 14. 138 | Dieter Teichert stützt sich bei seinem Selbstbegriff auf Paul Ricœurs und Daniel Dennetts Konzepte des narrativen Selbst, die er unterm Strich für verwandt hält, obschon deren Ansätze aus einander widerspenstigen wissenschaftlichen Traditionen stammen. Da ich unten noch auf Dennetts Selbstkonzept extra eingehe und weil Teicherts Überlegungen zum Selbst darüberhinaus eng an Ricœur anschließen, halte ich es für sinnvoll, den Hinweis auf Teichert in eine Fußnote plazieren. Für Ricœur bilde sich, wie eben gesehen, das Selbst in einer narrativen, vom Zeitfluß geprägten Identität, und es sei diese narrative Identität, welche Brüche oder Paradoxien im Leben

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Dieter Thomä: Erzähle dich selbst und das Selbst als Lebensgeschichte Dieter Thomä untersucht, ob die Erzählung eine Form für das Leben sein könne und wie Menschen sie in ihrem Leben selbst einsetzen.139 Dabei habe der Appell im Titel seines Buchs ›Erzähle dich selbst‹ sein Vorbild in dem antiken erkenntnispraktischen Gebot ›Erkenne dich selbst‹. Beide Aufforderungen würden zu einer »Intimität mit sich selbst« verleiten, einer »aufdringlichen Nähe, in der man sich auf sich selbst bezieht«140.

eines Menschen in ein überwölbendes Ganzes integrieren könne. Teichert unterscheidet drei Arten von Identität. Einmal die qualitative Identität, die dann vorliege, wenn etwa zwei Billardkugeln aus demselben Material gemacht sind – diese sind qualitativ identisch, nicht jedoch numerisch. Hiermit sind also die ersten beiden Arten von Identität benannt – einmal die qualitative Identität (im Sinne des idem) und einmal die numerische Identität (im Sinne des ipse). Die dritte Identität sei die diachrone Identität, die beim Menschen dann vorliege, wenn sich dieser über die Zeitläufte, Diskontinuitäten und Brüche hinweg doch stets als eine Person wahrnehme und erkenne. Teichert schreibt hierzu: »Das Selbst ist nichts Substantielles oder Unwandelbares. Das Selbst ist durch sprachliche und soziale Konzeptionen und Praktiken bedingt und gebildet. Dynamik und Wandel schließen Momente der Stabilität und Kontinuität nicht aus. Sie verlangen vielmehr nach bestimmten Strukturen, die Einheit im Wandel ermöglichen.« Es gehe also um die Frage, »inwiefern ich mein Leben als einen komplexen und heterogenen, aber kontinuierlichen Erfahrungszusammenhang erlebe. Einen Erfahrungszusammenhang, dessen Zentrum das verkörperte Ich ist« (D. T.: Zeiterfahrung und Identität. Vortrag auf der CaSu-Fachtagung ›Werde, wer du bist‹, Katholische Akademie Berlin, 27.11.2008, S. 15). Dieser Zusammenhang lasse sich folglich am besten über das Konzept der narrativen Identität erläutern. Auch für Ricœur sei es, nach Teicherts Darstellung, nämlich so, daß sich Personen »in einem Prozeß des Verstehens und Interpretierens der Welt, anderer Personen und meiner selbst« (D. T.: Zeiterfahrung und Identität, a.a.O., S. 15.) befinden – wobei es eine »vollständige Beschreibung« meiner selbst aufgrund der Vielfältigkeit und der Offenheit der Entwicklung nie geben könne; dabei sei für Ricœur, so Teichert, auch bei Personen zwischen Selbigkeit und Selbstheit zu unterscheiden; jene meint die Identifizierung gewisser äußerer körperlicher Merkmale, also eine Art Objektivierung des Menschen, diese hingegen meint in Teicherts Worten »eine Form, in der das Selbst nicht als Ding, als Sache, als Objekt erscheint« (D. T.: Zeiterfahrung und Identität, a.a.O., S. 16), sondern in der der Mensch sich zu sich in einem auch zeitlich gedehnten Zusammenhang beziehen könne – etwa im Falle eines Versprechens einer Handlung, das jemand einem Freund gibt und das die Einhaltung des Versprechens in der Zukunft zur Folge hat: hier stelle der Versprechende »eine Identität mit seinem ›zukünftigen Selbst‹ her« (D. T.: Zeiterfahrung und Identität, a.a.O., S. 16). So ist für Teichert klar, daß eine »bruchlose Identität des bürgerlichen Subjekts« angesichts von Brüchen und Diskontinuitäten faktisch auszuschließen sei und folglich Menschen sich nur dann auf sich und auf ihr ganzes Leben beziehen können, wenn sie es »durch Erzählung unserer Erfahrungen und Erwartungen« (D. T.: Zeiterfahrung und Identität, a.a.O., S. 19) in eine gewisse Einheit bringen. 139 | Vgl. Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, (München 1998), Frankfurt a.M. 2007, S. 7f. 140 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 10.

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Die Frage nach der Selbsterkenntnis betrifft hier also ein autobiographisches Selbst, welches die Gesamtheit der Aspekte eines Menschen umfaßt, seinen Charakter, seinen Geist, sein Aussehen, seine Herkunft, seinen konkreten Lebensverlauf – gewissermaßen den gesamten, von Irrungen, Wirrungen gewebten Roman einer ontologisch von Anfang an verlorenen, aber narratologisch zu sich findenden Seele. Diese Art des Selbstbegriffs ist nicht unmittelbar der raumbezogene Selbstbegriff, der für diese Arbeit primär von Bedeutung ist. Wollte man gleichwohl das ›Erkenne dich selbst‹ als ›Erzähle dich selbst‹ auf meine These anwenden, so dürfte man für die phänomenologische Ebene zunächst sagen: Erzähle von den Räumen deines Lebens – und du erkennst dich selbst; und andere erkennen dich. Die Lebensgeschichte wäre die Geschichte deiner Räume, die dich gemacht, geprägt und imprägniert haben und die du umgekehrt selbst auch bewohnt, geprägt und imprägniert hast. Jedenfalls verweist Thomä darauf, daß ein Mensch sich sein Leben erzählen müsse, damit er es sich ausdrücklich zuschreiben kann.141 Eine Lebensgeschichte komme dabei, mit Hannah Arendt, jedem Menschen zu.142 Und mit Alasdair MacIntyre könne man nach Thomä sagen: »die Menschen würden ihre Geschichten bewohnen«, wohingegen Richard Rorty meine, sie würden sie lediglich »schaffen«, während wiederum Michael Walzer den Mittelweg gehe und erkläre, Menschen würden ihre Geschichten »schaffen und bewohnen«143. Peter Sloterdijk im übrigen bezweifelt – in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Alasdair MacIntyres Position –, daß der Begriff des narrativen Selbst die Möglichkeit persönlicher Identität begründen möge, denn der Begriff könne »nicht leisten, was er verspricht, weil diese [die persönliche Identität, M.M.] nur zu einem kleinen Teil auf bewußten und erzählbaren Veränderungen beruht, zum größten hingegen auf automatischen und nicht-erzählbaren Veränderungsverweigerungen sowie auf unbewußten und mimetischen Anpassungen«144. Gleichwohl kommt Thomä zu dem Schluß, daß man sein Selbst weder bestimmen könne, als wäre es »über die Erzählung erhaben«145, noch daß man sein Selbst finden könne, »indem man sich seines Lebens als einer Erzählung vergewissert«, noch auch sein Selbst erfinden könne, »indem man sein Leben als Erzählung konstruiert«146. Vielmehr müsse man Erzählung und Selbst »unabhängig voneinander zu ihrem Recht kommen« lassen, und daß dies in der Selbstliebe allein 141 | Vgl. Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 12. 142 | Vgl. Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 19. (Thomä verweist auf die Ausgabe: Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, [1958], München 1981, S. 89f.; ansonsten siehe Arendts Überlegung über die »Lebensgeschichte« in dieser Ausgabe: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122013, S. 116.) 143 | Vgl. Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 36. Siehe Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M. und New York 1987, S. 289; Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989, S. 58; Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M. und New York 1992, S. 442. 144 | Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, a.a.O., S. 645, Fußnote 140. 145 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 165. 146 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 163.

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gelingen könne. Wobei das Glück eines Menschen die Voraussetzung sei für die »Freiheit im Sinne des Sich-frei-Fühlens«147. Beide Selbstverhältnisse, Erzählungen und liebende »Zuwendung zu sich selbst«148, geben dem Menschen erst Halt. Es gehe im Leben letztlich weniger darum, wer ich sei oder was ich wolle, sondern darum, wie es mir gehe.149 Wenn also, wie eingangs dieses Abschnitts referiert, die Erzählung zu einer Intimität mit einem selbst führe, zu einer großen Nähe zu sich selbst – man sich also im räumlich übertragenen Sinne näher kommt, dann benötigt der Mensch nach Thomä der Selbstliebe. Nur mit ihr erlebt er sich selbst als nicht aufdringlich, sondern als erwünschter Partner seiner selbst. Dasselbe gilt dann auch für die erzählten Räume des Lebens: nur wenn ich keine schlechten Erinnerungen an sie habe, sondern an sie gerne und mit Liebe denke, kann ich mein autobiographisches Selbst als ganzes mögen und in ihm und seinen Geschichten wohnen.

Weitere Anmerkungen zum ›narrativen Selbst‹ und zu dessen Raumbezug Zur Rechtfertigung eines Begriffs des narrativen Selbst kann man hier bereits sagen, daß Menschen eine Erzählung benötigen, um unterschiedliche Anforderungen in eine übergreifende Hierarchie einordnen und Antworten auf Alltagsfragen fördern zu können. Menschen bilden damit immer auch ein Narrativ, welches sie erfinden und zugleich leben. Ein Problem hierbei wäre unter anderem die Frage, wer die Geschichte, aus der ich hervorgehen soll, erfindet und erzählt? Muß es ein dahinterliegendes Erzählselbst geben?150 Das narrative Selbst ermöglicht jedenfalls im Idealfall eine Verbindung von Selbst und intellektuellem Wohlergehen.151 Zu einem geglückten Leben gehörte dann ein erzählerisch gespannter Bogen. Auf der politischen Ebene könnte man sagen, die Moderne hat die großen Geschichtemacher – die Monarchen, Diktatoren, Politiker – entthront, für welche die Untertanen nur Faktote oder Knechte waren; an ihre Stelle traten viele selbstredende Geschichtenerzähler, die sich ihr eigenes Ich erzählen. Raumtheoretisch läßt sich Narrativität dabei durch den Übergang von Innen nach Außen und von Außen nach Innen ableiten sowie durch die Aneignung eines Raums mittels unterschiedlicher Perspektiven. Die Art und Weise, wie ich mich von innen nach außen bewege, wie ich versuche, das Außen in mein Innen zu integrieren bzw. wie ich versuche, einen Raum für mich von unterschiedlichen Blickwinkeln aus zu erschließen, ergibt im geglückten Zusammenhang eine mir sinnvoll erscheinende Erzählung. Weil man den Innenraum zunächst als stabilen Ort erlebt, an dem Ruhe und Rückzugsmöglichkeit vorhanden sind und insofern Stillstand herrscht, in dem auch die Dinge und Souvenirs, die man von unterwegs aus dem Außenraum mit nachhausebringt, lagern, hängen oder verstaut werden, korreliert der Innenraum in gewisser Weise mit der Vergangenheit. Der Außenraum hingegen ist prototy147 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 252. 148 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 272. 149 | Dieter Thomä: Erzähle dich selbst, a.a.O., S. 273. 150 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 7. 151 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 14.

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pisch zunächst der Ort des Neuen, an dem der Mensch Bekanntschaften macht, Freundschaften schließt, Landschaften entdeckt und wo das Unvorhergesehene geschieht; an welchem folglich vorläufig ständige Unruhe herrscht und fremde Menschen auf einen zukommen und etwas von einem wollen – dieser Außenraum korreliert daher in gewisser Weise mit der Zukunft. Die Öffnung hingegen zwischen Innen- und Außenraum erscheint von dieser Ableitung her als Schwelle, an der zwischen Vergangenheit und Zukunft vermittelt wird; sie ist das Jetzt, an dem das Neue sichtbar wird und als Bekanntes bereitgehalten werden kann. Ohne Öffnung kein Eingang eines Außendings in den Innenraum, sowie umgekehrt, kein Ausgang eines Innendings in den Außenraum. Die Öffnung ist der Ort der Gegenwart, des Etwas-Gegenwärtigens, des JetztBewußtseins. So wie man sich Leben nicht vorstellen kann ohne Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, so ist Leben auch nicht denkbar ohne Innenraum, Öffnung, Außenraum. (Dabei ist das Erleben der Zeit vom Erleben einzelner Räume mitabhängig. Wechsle ich viele Räume, wechsle ich oft von innen nach außen, vergeht mir die Zeit schnell; sie erscheint mir aber in der Nachbetrachtung als lang. Wechsle ich hingegen wenige Räume, wechsle ich selten von innen nach außen und umgekehrt, wird mir die Zeit lang; sie erscheint mir aber in der Nachbetrachtung als kurz.152) Was des weiteren den Selbstkonzepten narrativ-prozessualer Natur gemeinsam ist, ist der hohe Anspruch, den sie an den einzelnen Menschen stellen. Der Mensch wird als vernünftig, rundum frei agieren könnender Herr seines Lebens vorgestellt, der die Epochen, Linien und Brüche seines Lebens auch tatsächlich erzählen kann.

Hubert Hermans und das dialogische Selbst Im Zentrum von Hubert Hermans’ philosophischen Bemühungen um den Selbstbegriff steht der Begriff der Dialogizität – oder konkreter formuliert: der Begriff des dialogischen Selbst.153 Dabei unterstreicht Hermans, daß das Selbst nur dann wahrhaft dialogisch verfaßt sei, wenn die andere Person nicht als gänzlich äußerlich, sondern zugleich als Teil des eigenen Selbst und sogar als dieses konstituierend betrachtet werde.154 (Im übrigen vertritt der Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter die ähnliche These – übereinstimmend auch mit dem sozialen Aspekt des Selbstbegriffs von William James –, daß Menschen gewissermaßen auch in den Köpfen der jeweils anderen lebten.155 Man kann Hofstadters These so reformulieren: Das Selbst wohnt 152 | In diesem Kontext vgl. Martin Heideggers Langeweile-Analyse in: M. H.: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), Frankfurt a.M. 2004. Siehe auch meine Andeutungen zum Thema in ›Sphinx oder die Frage nach der Wiederkunft des Gleichen. Telegramm zur Geburt der Zeit aus den Räumen‹, in: Munitionsfabrik 19, Magazin der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, hg. von der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Karlsruhe 2008. 153 | Hubert Hermans: The Dialogical Self. A Process of Positioning in Space and Time, in: Shaun Gallagher (Hg.): The Oxford Handbook of the Self, Oxford 2011, S. 654-680. 154 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 654. 155 | Siehe Douglas Hofstadter: Ich bin eine seltsame Schleife, aus dem Englischen von Susanne Held, Stuttgart 2008.

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zwar zuhause; dieses Zuhause jedoch ist eine Art Herberge, in der sich zugleich andere Menschen einquartieren. Gleichzeitig wohnt man in den Herbergsköpfen anderer Menschen, ohne freilich zu wissen, wie es sich anfühlt, dort abzusteigen.) Was heißt nun Dialogizität bei Hermans? Dialogizität als eine Form der Sozialität und der Intersubjektivität werde nicht dem Selbst äußerlich addiert, sondern sei ein intrinsischer Teil seiner Verkörperung in Raum und Zeit. Das Selbst selbst sei damit ein sozialer und gesellschaftlicher Prozeß und folglich, in Hermans’ Sicht, eine Miniaturgesellschaft156 bzw. eine »Gesellschaft des Geistes« (»society of mind«157). Was den semantischen wie lokalologischen Gehalt berührt, so assoziiert Hermans das Selbst mit etwas im Geist, innerhalb der Haut; wohingegen er den Dialog mit etwas außerhalb eines Menschen in Verbindung bringt und ihn als einen Prozeß zwischen Personen erachtet. Folglich versucht die Begriffskomposition des ›dialogischen Selbst‹ die Dichotomie zwischen Selbst und Dialog zu überbrücken. Dabei verknüpft Hermans auf inspirierende Weise Positionen des amerikanischen Pragmatismus (William James, George Herbert Mead) mit denen des russischen Dialogismus (Michail Bachtin). Von William James übernimmt Hermans – allerdings stark verkürzt – dessen Unterscheidung zwischen ›Ich‹ und ›Mich‹, zwischen einerseits dem wissenden Subjekt, welches sich durch Kontinuität, Distinktion (der Unterscheidung von anderen) und durch Volition auszeichne, und andererseits dem Selbst als dem Gewußten, als Objekt. Wobei es für Hermans einen graduellen Wechsel vom ›Mich‹ zum ›Mein‹ gibt: unter dem ›Mein‹ subsumiert er nicht nur Dinge wie Haus, Auto, Yacht etc. – also die Besitztümer des erweiterten bürgerlichen Selbst –, sondern auch Phänomene wie ›meinen Gegner‹, ›meinen Kritiker‹ etc.158 Dieser letzte Punkt läßt den Leser zunächst ein wenig stutzen. Denn wenn ›mein Gegner‹ oder gar im Extremfall ›mein Todfeind‹ Teil meines Selbst sein sollen, so widerspricht dies zumindest dem im Regelfall virulenten Wunsch eines Menschen, ein für sich selbst stimmiges, lebbares Selbstbild und Selbstgefühl zu erwerben; letztlich widerspricht dies auch aus einer evolutionstheoretischen Perspektive dem Überlebenswunsch jedes Menschen: schließlich möchte jeder lediglich dasjenige als einen Teil seiner selbst sehen, was er erstens sich als Merkmal seiner selbst wünscht und zweitens für sich als zuträglich, förderlich und angenehm für sein Leben und Überleben empfindet. Folglich ist nicht alles, was man denkt oder womit man sich auseinandersetzt, automatisch Teil des eigenen Selbst: es ist zwar Teil der augenblicklichen Gedankenwelt, des momentanen Anblicks etc.; doch wenn ich im Park eine in meinen Augen entsetzliche oder auch nur unangenehme Szene erblicke, so sehe ich diese zwar und sie ist damit Teil meines Bewußtseins – sie wird dadurch jedoch nicht schon automatisch Teil meines Selbst. Die Frage lautet hier also, ob etwas unangenehmes, das mich beschäftigt, Teil meines Selbst sein kann? Die Antwort kann wie gesagt zunächst nur lauten: In gewisser Weise nicht. Ich muß mit dem Unangenehmen, dem ich begegne oder das ich denke, umgehen lernen: zunächst dadurch, indem ich es bekämpfe und loszu156 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 654. 157 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 661. 158 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 656.

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werden versuche; oder, falls dies nicht gelingt oder unmöglich ist, indem ich mich damit arrangiere, es akzeptiere und als Begleitumstand meines Lebens hinnehme. Eines von beidem.159 Das heißt gemäß meinem Ansatz: Mein Gegner ist nicht Teil meines Selbst; er ist Teil des Anderen, des Außenraums: doch beziehe ich mich, indem ich mich immer auch auf den Außenraum beziehe, automatisch auch auf das ›Gegenüber‹ (das logisch die Position des Außenraums einnimmt): und so gesehen, und nur so gesehen, sind auch meine ›Gegner‹ Teil meines Lebens; sie sind aber nicht Teil meines Selbst. Wenn Hermans demnach sagt, daß Selbst und Anderes (other) sich einander inhaltlich nicht ausschließen160, so ist dies nach dem Gesagten so nicht richtig. Wohl aber ist es (trivialerweise) sinnvoll zu sagen, daß sie sich logisch bedingen: Selbst ist undenkbar ohne Nicht-Selbst, Innen undenkbar ohne Außen. Anders gesagt: Ich beziehe mich zwar auf das Außen, bin aber nicht das Außen. Ich beziehe mich im Zweikampf auf meinen Todfeind, bin aber nicht mein Todfeind. Daß Hermans also ›mein Auto‹, ›mein Haus‹, ›meine Yacht‹ einerseits und ›mein Gegner‹ andererseits in die gleiche ›Mein‹-Kategorie einpackt, resultiert womöglich aus dem Konzept des Dialogischen, demgemäß Innen und Außen sich verschränken; gleichwohl überzeugt es nicht – einfach weil ›mein Freund‹ und ›mein Gegner‹ jeweils eine andere Einstellung mir gegenüber haben, und diese Einstellung müßte Hermans auch bei der Frage berücksichtigen, was zum Selbst gehört und was nicht. Jeder Mensch habe nun so viele soziale Selbste, wie es Menschen gebe, die ihn kennen und ein Bild von ihm in sich tragen.161 Dabei übernimmt Hermans George Herbert Meads Konzept der menschlichen Innovationsfähigkeit.162 Konkret heißt das: rekurriere der Begriff des ›Mich‹ auf die gesellschaftlichen Einstellungen, Werte, Normen etc., die ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung internalisiert habe, so führe das ›Ich‹ die Innovation in die Gesellschaft ein – ein Prozeß, der oftmals von Künstlern und Wissenschaftlern initiiert werde. Von Michail Bachtin hingegen übernimmt Hermans das Konzept der polyphonen Novelle163 und dessen Augenmerk auf die Raumstruktur des Dialogs: ein ›innerer Gedanke‹ wird dabei mit dem ›Hier‹ assoziiert, dagegen eine ›Äußerung‹, ein ›veräußerlichtes Wort‹, mit dem ›Dort‹. Bachtin führt seine Analyse anhand 159 | Ein Beispiel für den erzwungenen Umgang eines Menschen mit etwas höchst unangenehmem aus der jüngeren regionalen Zeitgeschichte wäre der Unfall, der sich in der Unterhaltungsshow ›Wetten, daß…?‹ des Fernsehsenders ZDF zutrug, infolgedessen ein Sportstudent vom Halse an abwärts gelähmt blieb. Die Lebenssituation und Lebensaussicht dieses Mannes veränderten sich binnen eines unglücklichen Augenblicks auf denkbar ungünstige Weise. Die Lähmung ist zunächst nicht Teil seines Selbstbildes. Da sie jedoch, laut den öffentlich gewordenen medizinischen Bulletins, irreversibel sei, wird der junge Mann dazu gezwungen, die Lähmung zu akzeptieren und sie in sein Selbstbild zu integrieren. Die ›Alternative‹ dazu wäre womöglich eine Form von Depression oder sonst einer psychiatrischen Krankheit. 160 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 656. 161 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 656. 162 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 657f. 163 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 658f.

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von Dostojewskis Erzählung ›Der Doppelgänger‹ durch und sieht in der Figur des Doppelgängers eine externalisierte innere Stimme.164 So läßt sich Hermans’ Position im Augenblick so rekapitulieren: James und Mead betonen (unter anderem) die soziale Natur des Selbst – vor allem das ›Mich‹ und das ›Mein‹. Bachtin hingegen betont die räumliche Struktur des Dialogs. Hermans nun unterstreicht in seiner Schlußfolgerung hieraus ein räumliches und ein zeitliches Element des Selbst: Das räumliche Element betreffe das ›Positionieren‹ und ›Gegenüber positionieren‹ (counterpositioning). Es zeige sich auch in sprachlichen Wendungen, wie ›jemand steht mir nah‹ oder ›ich stehe jemandem distanziert gegenüber‹165. Das zeitliche Element berühre das ›Positionieren‹ und das ›Neu (oder: wieder) positionieren‹ (repositioning). Das Selbst sei demnach in der beschriebenen Weise dezentralisiert und ausgeweitet in die soziale Welt hinein – was dazu führe, daß die anderen nicht außerhalb, sondern innerhalb des Selbst verortet werden können; es sei hier und dort zugleich.166 Von diesem Gedankengang her wird der oben erwähnte Begriff der Gesellschaft des Geistes bzw. der Gesellschaft des Selbst plausibel. Das Selbst hat eine räumliche Struktur167, so daß auch die unterschiedlichen Facetten einer Person (ihres Charakters auch) als räumlich wahrgenommen werden (zum Beispiel ich als rationaler Mensch versus ich als emotionaler Mensch, oder: ich als offen versus ich als verschlossen etc.). Im übrigen streicht Hermans vier weitere Merkmale des dialogischen Selbst heraus: Adressierung, Differenz, Innovation und Andersheit (alterity): • Adressierung: Bei direkter Kommunikation reden Menschen nicht übereinander, sondern miteinander.168 Zur Adressierung gehöre dabei auch die Ansprechbarkeit und die Reaktion des Anderen. Dabei haben Menschen zahlreiche Identitäten wie Dialekt, soziale Gruppe, Beruf, folglich auch viele unterschiedliche Stimmen, mit denen jeder Mensch rede. 164 | Bachtins Modell der menschlichen Psyche, auf das ich hier nicht weiter eingehen kann, ist dreigeteilt: in das architektonische Selbst, das karnevalistische Selbst und das dialogische Selbst (zu letzterem siehe die Auseinandersetzung mit Hubert Hermans im Text). Was das architektonische Selbst angeht, so könne jeder Mensch aus zwei Perspektiven gesehen werden, einmal aus der Perspektive, welche er ›von innen‹ einnimmt, und einmal aus der Perspektive der anderen Menschen; die Identität eines Menschen gehöre zur Grenze zwischen den beiden Perspektiven. Die Tatsache dabei, daß Menschen stets ›außerhalb‹ eines anderen Menschen bleiben, konstituiere das eigene Selbst mit – Menschen sind folglich Draußenbleiber; sich selbst können sie dabei nur im Ausdruck des Blicks des Gegenübers erkennen, nicht jedoch im Spiegel. Das karnevalistische Selbst fokussiert den Menschen als expressiven Körper, der von sich aus ohne Erziehung und ohne Erlernen einer begrifflichen Sprache schon mit anderen kommunizieren könne. Dieses Selbst ist nach außen und zum Anderen hin orientiert. (Vgl. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971; sowie M. B.: Rabelais und seine Welt, a.a.O.) 165 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 671. 166 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 660. 167 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 663f. 168 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 671.

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• Differenz169: Differenz sei nötig für ein »gut funktionierendes Selbst« (»wellfunctioning self«170). Das heißt, ein dialogisches Selbst basiere auf den Unterschieden zwischen Selbst und ›Sich-Selbst‹, es sei ein Prozeß, sich selbst in Beziehung zu sich selbst zu setzen (inklusive zu dem Anderen-im-Selbst)171. Gemäß meinem Ansatz könnte man hier sagen, man muß den Innenraum verlassen, um sich von außen, von einer differenten Position aus, par distance sehen und erkennen zu können. • Innovation172: Ein Dialog sei ein Lernprozeß und insofern innovativ. Ein grundlegendes Problem dieser These scheint zu sein, daß Hermans’ Konzept des dialogischen Selbst jeglichen möglichen ›Dualismus‹ zwischen Selbst und Anderem, eine mögliche unüberbrückbare Differenz zwischen mir und dem Anderen und damit den Abbruch des Lernprozesses, von vornherein ausschließt. • Andersheit173: Hermans meint: Jeder Gesprächspartner müsse auch in seiner Andersheit erkannt und respektiert werden174; was aber, möchte man im Anschluß zum eben (zum Punkt ›Innovation‹) gesagten anfügen, wenn der Andere mich in meiner Andersheit nicht respektiert? Wie im Punkt zur ›Differenz‹ erwähnt, können auch Phänomene des eigenen geistigen Lebens in ihrer Andersheit erkannt werden – man könne sich auch in seiner Selbst-Andersheit erkennen, im Unterschied zur Anderen-Andersheit. Doch strebe jeder Mensch, so Hermans, gemäß der Standardansicht über das Selbst in den Sozialwissenschaften nach Identität, Stabilität, Kontinuität – denn dies sei Teil des Bedürfnisses nach grundlegender Sicherheit. Weil aber die Andersheit der Anderen die Stabilität meines Selbst herausfordere, so sei es nötig, eine Balance zu finden zwischen ausreichender Sicherheit und der Akzeptanz der Andersheit.175 Freilich, Andersheit – auch die Selbst-Andersheit – zu akzeptieren, ist bekanntlich leichter gesagt als getan, und die Frage, wie man die »Balance« findet, gehört zwar in den Bereich der praktischen Lebenskunst, müßte jedoch konkret beantworten werden können. Überdies übersieht Hermans die menschliche Tendenz auf Erleichterung 176; zu welcher in der Regel auf dem alltäglichen Sektor auch die Wonnen der Gewöhnlichkeit und des Gewohnten und Fraglosen gehören. Eine Frage also, die sich stellt, wäre die, warum der Mensch nicht einfach in der »›Komfortzone‹« (»›comfort zone‹«177) des Selbst verweilen dürfen sollte? Was die Merkmale des Dialogs des Selbst betrifft, so erinnert Hermans daran, daß der Dialog nicht nur mit Worten stattfinde, sondern mit allen möglichen Formen des menschlichen Ausdrucks. Etwa mit

169 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 673. 170 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 674. 171 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 673. 172 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 675. 173 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 676f. 174 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 676. 175 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 676f. 176 | Eines der Hauptthemen in Peter Sloterdijks ›Sphären III‹ – Levitation, das freie Schweben in der Leichtigkeit. 177 | Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 677.

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Körpersprache Gesichtsausdruck Lächeln Blick Betonung von Worten (Art der Aussprache) Intonation Gesten Handlungen.

Darüberhinaus finde der Dialog auch mit Hilfe von • Metaphern im Sinn von Lakoff und Johnson statt (siehe oben ›Prämisse Übertragung‹), also etwa im Sinne von horizontal: ›Hier und dort‹, ›Einen Platz freilassen oder jemanden ausstoßen‹, bzw. im Sinne von vertikal: ›Oben und unten‹, ›Groß oder klein sein‹ etc.

Hubert Hermans und das Problem der Körperstabilität im Raum Hermans betont darüberhinaus den Zusammenhang von Stabilität und Raumwahrnehmung. Ganz im Sinne von Ulric Neissers Konzept des ›ökologischen Selbst‹178 hänge die Wahrnehmung von Objekten direkt von der Information über die Position des eigenen Körpers in der Umwelt ab. Zugleich gebe die Wahrnehmung der Umwelt dem Menschen Feedback und Information über die eigene Situation im Raum. (Dieser Punkt paßt zu dem auf neurobiologischem Feld von Antonio Damasio erläuterten Konzept der neuronalen Selbst- und Umwelt-Karten, durch deren Vergleich das Kernselbst neuronal über seine Position ›informiert‹ werde, siehe oben den Abschnitt zu Damasio.) Auf der empirischen Ebene ist diese These etwa von Lee und Lishmann179 vielfach bestätigt worden. Diese stellten in einem klassischen Experiment einen Probanden in einen Raum, dessen eine Wand, vom Probanden aus gesehen, zunächst zurückwich; die Diskrepanz zwischen der visuellen Information und der Position im Raum führte dann zu einem Verlust der Standstabilität in rückwärtiger Richtung; um diesen Verlust zu korrigieren, tendierte der Proband dazu, vorwärtszufallen. Der gegenteilige Effekt trat ein, wenn der Proband in einen Raum gestellt wurde, dessen eine Wand näherrückte. Solche empirischen Experimente stützen die These, daß die eigene physische Position im Raum direkte Auswirkung auf die Art hat, wie der Mensch die Umwelt wahrnimmt.180 Summarisch läßt sich über Hermans Konzept des dialogischen Selbst sagen, daß er mit diesem plausibel zeigt, wie auch im Bereich des Dialogischen die räumliche Dimension des Selbst zum Vorschein kommt. ›Ich äußere einen Gedanken, der gerade noch in meinem Kopfe war.‹ Menschen positionieren sich im Dialog, sowohl räumlich wie zeitlich, sowohl buchstäblich wie im übertragenen Sinn (›sie steht mir nah‹, ›ich stehe ihr distanziert gegenüber‹). Dadurch konnte Hermanns darlegen, wie das sich äußernde und damit dezentralisiert erscheinende Selbst sich 178 | Ulric Neisser: Five Kinds of Self-Knowledge, in: Philosophical Psychology, Band 1, Ausgabe 1, 1988, S. 35-59. 179 | David N. Lee und J. Roly Lishman: Visual Proprioceptive Control of Stance, in: Journal of Human Movement Studies, 1, 1975, S. 87-95. 180 | Siehe Hubert Hermans: The Dialogical Self, a.a.O., S. 669.

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ausweitet in die soziale Welt hinein. Anders als Hermans meine ich jedoch, daß ›meine Gegner‹ nicht Teil meines Selbst werden oder sind, sondern Teil eines Außenraums bleiben, auch wenn sie mir direkt gegenüber stehen. Hingegen gehe ich d’accord mit Hermans in dem Punkt, daß durch die Erweiterung des Selbst vom Hier zum Dort auch andere (nicht-gegnerische) Menschen Teil meines Selbst werden. Dadurch wird im übrigen die von Peter Sloterdijk entfaltete dyadische Grundstruktur der gemeinsamen geteilten Sphäre auch von dieser dialogphilosophischen Seite aus gestützt. Aber auch auf binnenpersönlicher Ebene zeigt sich das Selbst nach Hermans als räumlich strukturiert, etwa wenn ich mich mal als offen versus mal als verschlossen erlebe etc. Schließlich hat das Lee-Lishmannsche Raum-Wand-Experiment gezeigt, wie sehr die Stand-Stabilität eines Menschen von der Stabilität seiner unmittelbaren Umwelt, besonders eines Innenraums und ganz besonders einer Wand dieses Innenraums abhängig ist. Wenn gemäß der hier vertretenen These ich der Innenraum bin, so muß der Wegfall oder die Veränderung einer Wand auch mich zu Fall bringen.

Daniel Dennett, die Wirklichkeit der Selbste und das biologische Selbst Für den antiessentialistischen Bewußtseinsphilosophen Daniel Dennett ist es hinsichtlich der Frage nach dem Selbst ganz einfach und evident, daß wir einerseits leben (»of course!«181) und daß es andererseits keine irgendwie geartete, von uns unterschiedene Entität gibt, die in uns unsere Gehirne bestimmt und beherrscht (»of course not!«). Zugleich scheint es ihm evident zu sein, daß »Menschen Selbste haben«182 . Jetzt, in der menschheitsgeschichtlichen Gegenwart, gebe es Selbste, doch irgendwann in einer lange vergangenen Vergangenheit habe es sicherlich keine Selbste gegeben; Selbste seien demnach eine evolutionäre Hervorbringung und ihre Geschichte, ihr Entwicklungsprozeß sei (zumindest theoretisch) erzählbar, so Dennett. Dabei habe die Grenze zwischen ›mir‹ und dem ›Rest der Welt‹ eine entscheidende Rolle gespielt, bei allen Lebewesen, auch bei Amöben: Dieses erste minimale Selbst, das sich mit Hilfe einer Grenze vom ›Rest der Welt‹ unterscheide, nennt Dennett das biologische Selbst – und betrachtet demnach diese Trennung von Selbst und Welt als ein fundamentales biologisches Prinzip; wobei er unter diesem Selbst nicht ein Ding versteht, sondern lediglich eine Art Abstraktion, ein Prinzip der Organisation.183

181 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, in: D. D.: Consciousness Explained, Boston 1991, S. 413. 182 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 413. Übersetzung M.M. Original: »People have selves.« 183 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 414. Paraphrasierende Übersetzung M.M. Original: »[…] the boundary between ›me‹ and the ›rest of the world‹, a distinction that even the lowliest amoeba must make, in its blind, unknowing way. The minimal proclivity to distinguish self from other in order to protect oneself is the biological self, and even such a simple thing is not a concret thing but just an abstraction, a principle of organization.«

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Dabei postuliert Dennett hinsichtlich des Begriffs des biologischen Selbst auch das Merkmal, daß seine Grenzen »porös« und »ungenau«184 seien. Doch inwiefern die Grenze »ungenau«, undeutlich, unklar sein soll, wäre zu fragen: für den aktuellen Status muß sie, meines Erachtens, durchaus klar sein; allerdings müßte sie zugleich variabel oder anpassungsfähig bleiben, um Erweiterungen – oder Verkleinerungen – des Selbstterritoriums zu ermöglichen; letzteres scheint auch Dennett zu meinen: So sei es möglich, auch die Grenzen des eigenen Selbst zu erweitern, sich selbst zu vergrößern, aus einem einfachen Selbst ein komplexes Selbst zu machen; respektive, könne es geschehen, daß das Selbst angesichts von realen oder fiktiven Gefahren schrumpfe.185 So erzeuge jeder Mensch automatisch-unbewußt ein Selbst; mit Hilfe des Gehirns spinne er ein Netz aus Worten und Taten, ein Netz der Diskurse, und dieses Netz sei ein biologisches Produkt.186

Daniel Dennett und das psychologische oder narrative Selbst Dabei geht Dennett davon aus, daß vorgeblich oder wirklich ›einfache‹ Tiere wie Ameisen oder Krabben, anders als Menschen, zumindest keine »starke« (strong) oder explizite wortsprachbasierte Selbst-Repräsentation haben.187 Menschen hingegen seien nach Dennett ständig damit beschäftigt, sich selbst anderen zu präsentieren – und damit sich selbst zu repräsentieren, in Wortsprache und mit äußerer oder innerer Gestik.188 Die drei existentiellen Hauptziele des Menschen – Selbstschutz, Selbstkontrolle und Selbstdefinition – erreichen Menschen, nach Dennett, dadurch, daß sie einander und sich selbst Geschichten erzählen. Die Pointe dabei ist die, daß wir einerseits die Geschichten »weben«, daß für den größten Teil jedoch eigentlich »wir« von ihnen »gewebt werden«189. Anders formuliert: Wir erzählen Geschichten, und dieses Erzählen sei die basale menschliche Selbstaktivität; und doch weben die Geschichten letztlich uns. Das klingt fast so, als wäre der Mensch gleich dem lahmen Weber, der träumt, er webe, wie in Clemens Brentanos berühmtem Gedicht; bei Dennett ist es der Mensch, der glaubt, Geschichten über sich zu erzählen, wo es doch die Geschichten sind, die ihn erzählen und ihm das Gefühl geben, ein Selbst zu haben. Bewußtsein und Selbstheit sind bei Dennett somit nichts anderes als Effekte von Erzählungen. 184 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 414. Übersetzung M.M. Original: »[…] the boundaries of a biological self are porous and indefinite […].« 185 | Vgl. Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 416f.: »So sometimes we enlarge our boundaries; at other times, in response to perceived challenges real or imaginary, we let our boundaries shrink […].« 186 | Vgl. Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 416: »Each normal individual of this species makes a self. Out of its brain it spins a web of words and deeds, and […] it doesn’t have to know what it’s doing […]. This ›web of discourses‹ […] is […] a biological product […].« 187 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 417. 188 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 417. 189 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 418. Übersetzung M.M. Original: »Our tales are spun, but for the most part we don’t spin them; they spin us. Our human consciousness, and our narrative selfhood is their product, not their source.«

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Die unterschiedlichen Stränge oder Ströme von Erzählungen scheinen eine Quelle zu haben, einen Mund, aus dem sie kommen, und ermuntern dadurch die Zuhörer, sie einem einheitlichen Agenten mit einem »narrativen Gravitationszentrum«190 zuzuordnen. Anders gesagt, das Selbst sei eine »Abstraktion, welche definiert ist von den Myriaden von Attributierungen und Interpretationen […], welche die Biographie des lebenden Körpers komponiert haben«191. Wie schon beim biologischen Selbst für dieses bemerkt, so gilt also auch für das narrative Selbst, daß es kein Ding im Gehirn sei, sondern lediglich eine Abstraktion, ein Prinzip der Organisation. (Das Selbst sei damit auch – in einem anderen Vokabular – ein »mentales Modell«192 des Komplexes, der wir selbst seien. Wobei Dennett, wie auch andere, bei diesem Gedanken mindestens eine logische Schwierigkeit übersieht oder nicht thematisiert: Das Modell soll das (undurchschaute, gefühlte) Selbst sein; gleichwohl steht es für etwas anderes, nämlich für den Komplex, der wir sind. Das Modell ist aber auch Teil des Komplexes, der wir sind. So gesehen ist das Selbstmodell eben mehr als ein Modell, nämlich Teil des Komplexes, der wir sind. So ist offensichtlich, daß das Modell einen blinden Fleck hat – es modelliert sich nicht selbst als Modell. Für ein vollständiges Selbstmodell müßte es nicht den Komplex, der wir sind, modellieren, sondern wenigstens einen Komplex mit Selbstmodell. Die scheinbar einfache Rede von Modell und Komplex ist offensichtlich bereits hochartifiziell und daher prinzipiell in Gefahr, mißverständlich zu sein.) Was nun den Ort des »Dings« betrifft, auf das die Selbstrepräsentation verweist, schreibt Dennett lediglich lapidar, es sei dort, »wo immer Sie sind« (»It is wherever you are«193). Hierzu ist zunächst festzuhalten, daß Dennett mit dem Ausdruck »Ding«, den er, wie oben gesehen, ablehnt, hier kein substantielles Ding meinen kann, vielmehr scheint es so zu sein, daß die Wortverwendung an dieser Stelle wohl auf einen hemdsärmeligen Umgang mit Begriffen und Formulierungen zurückzuführen ist, wie man ihn aus amerikanischen Alltagsverhältnissen zu kennen beliebt. Daher wäre statt »Ding« hier ein Begriff wie ›Phänomen‹ oder Dennett-gemäß wie ›Abstraktion‹ eher angebracht. Denn unter »Ding« versteht er hier explizit das »narrative Gravitationszentrum«194. Das allerdings wäre kaum verständlich, denn im Klartext hieße das: Die Selbstrepräsentation verweist auf das narrative Gravitationszentrum – was keinen Sinn ergibt, denn die Selbstrepräsentation und das narrative Gravitationszentrum sind doch zwei unterschiedliche Ausdrücke für das Gleiche. Sinn hingegen würde 190 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 418. Übersetzung M.M. Orignal: »These strings or streams of narrative issue forth as if from a single source […]: their effect on any audience is to encourage them to (try to) posit a unified agent whose words they are, about whom they are: in short, to posit a center of narrative gravity.« 191 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 426f. Übersetzung M.M. Original: »A self […] is […] an abstraction defined by the myriads of attributions and interpretations […] that have composed the biography of the living body whose Center of Narrative Gravity it is.« 192 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 427. – Zur Problematik des Begriffs ›Modell‹ siehe unten den Abschnitt zu Metzinger und im Anhang den methodologischen Exkurs. 193 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 429. 194 | Daniel Dennett: The Reality of Selves, a.a.O., S. 429.

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ergeben, wenn man sagte, daß die Selbstrepräsentation bzw. das narrative Gravitationszentrum auf den Menschen als Ganzen verweisen würde. Wenn man es so verstehen möchte, so wäre die Antwort auf die Frage nach dem Ort des Menschen davon abhängig, ob man sie aus einer Außenperspektive oder aus einer Innenperspektive beantworten wollte. Aus einer Außenperspektive betrachtet, befindet sich der jeweilige Mensch eben an dem Ort, an dem er sich aufhält, zum Beispiel in der Bibliothek. Aus einer impliziten Innenperspektive hingegen ist das Erleben des jeweiligen Menschen entscheidend. Wenn etwa Casanova in den Bleikammern Venedigs einsitzt, so könnte er sich aus einer von ihm eingenommenen Außenperspektive zwar als einen Gefangenen in den Bleikammern verorten; doch was sein aktuelles Erleben, die Innenperspektive, betrifft, so würde er vielleicht sagen, er befinde sich in Boethius’ Trost der Philosophie, jenem Buch, das er ebendort eifrig studierte mit dem Ziel, die höchst unangenehme Zelle vergessen zu machen bzw. sie insgeheim zu verwandeln in das angenehm tröstliche Gemach der signora filosofia. Das Entscheidende, was den Ort eines Menschen betrifft, ist also auch hier nicht primär die buchstäbliche Verortung eines Menschen (vom Scheitel bis zur Sohle in der Gefängniszelle), sondern des Menschen buchstäbliches oder übertragenes Raum- und damit Selbsterleben, also der fiktive oder virtuelle intakte Innenraum, der er selber ist, oder der fiktive oder virtuelle nicht-intakte Innenraum, der er nicht ist, jener Innenraum also, der, insofern er nicht mehr intakt ist, auch aufgehört hat, mein Innenraum zu sein.195 Hinsichtlich Dennetts Selbsttheorie ist in einem raumtheoretischen Zusammenhang seine Betonung der Grenze zwischen Lebewesen und Umwelt hervorzuheben (von der von ihm erwähnten Amöbe an aufwärts bis zum Menschen). Dabei erläutert er die Dialektik der gesponnenen Geschichten: Menschen erzählen Geschichten über sich selbst, und doch sind es die Geschichten, die eigentlich sie spinnen. Raumtheoretisch gewendet hieße das: nicht der Mensch erzeugt den Raum, sondern der Raum erzeugt den Menschen. Und so wie nach Dennett das Selbst ein narratives Gravitationszentrum sei, so könnte man sagen, das Selbst ist das narrative Ensemble meiner Wohnung (der buchstäblichen wie der übertragenen), in der ich zu mir komme.

Susan Blackmore, die Memmaschine ›Mensch‹ und der ultimative Selbstplex Die englische Bewußtseinstheoretikerin und Memexpertin Susan Blackmore hält das Selbst einerseits für eine Illusion, eine Konvention, ja eine »falsche Geschichte«196; und doch kennt sie ein ›inneres Selbst‹ (im Sinne des subjektiven

195 | Dennett adaptiert im übrigen auch die Theorie der Meme (der kulturellen Vererbungseinheiten), wie sie von Richard Dawkins entworfen wurde (siehe dazu R. D.: Das egoistische Gen, [1976], aus dem Englischen von Karin de Sousa Ferreira, Reinbek bei Hamburg 2000). Dennetts Theorie wiederum wird von Susan Blackmore aufgenommen, auf deren Ausführungen zum Selbstbegriff ich gleich im Anschluß kurz eingehe. 196 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, in: S. B.: The Meme Maschine, Oxford 1999, S. 229. Übersetzung M.M. Original: »[…] a false story […]« – Deutsche Ausgabe: Die Macht der Meme oder Die Evolution von Kultur und Geist, Heidelberg 2000.

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Erlebens) und nennt dieses »Selbstplex« (selfplex 197). Dieser Selbstplex helfe den Memen, sich zu replizieren.198 Blackmores Hauptaussagen lauten also: 1. Der ultimative Memplex sei der Selbstplex bzw. das Selbst, also das, was sie »unser eigenes vertrautes Selbst«199 nennt. Die Memmaschine sei dabei nichts anderes als der Mensch. Der ultimative Memplex ist damit Teil der Memmaschine. 2. Das ›Ich‹ sei zugleich ein ›narratives Gravitationszentrum‹ (Blackmore übernimmt die Formulierung von Daniel Dennett), eine Geschichte (»story«), eine – wieder nach Dennett – ›hilfreiche Nutzerillusion‹ (»›benign user illusion‹«200). 3. ›Ich‹ habe keine Verortung. 4. ›Ich‹ handle nicht, mein Gehirn tue es. 5. Die Funktion des Selbstplexes bzw. des Selbst sei es, die Meme zu unterstützen, sich selbst zu replizieren.

Blackmore und die Frage ›Wer bin ich?‹ Blackmore meint mit ihrer Frage nach dem ›Wer‹ des Ichs also das »innere Selbst«201 – mein bewußtes subjektives Erleben –, weshalb die von ihr angeführten unterschiedlichen Herangehensweisen an die Frage nach dem Selbst nach ihrer Auffassung den entscheidenden Punkt (nämlich das ›subjektive Erleben‹) vermissen lassen: Wenn Francis Crick demnach die szientistisch-reduktionistische These aufstellt, daß das Selbst nichts anderes als ein »›Haufen von Neuronen‹«202 sei, oder wenn ein anderer Ansatz das Selbst mit den Erinnerungen oder der Persönlichkeit verknüpfe203, oder ein weiterer das Selbst als eine soziale Konstruktion erachte, dann gebe jeder dieser Ansätze uns zwar »manche Information«204 über einen Menschen, doch das Gefragte, das »innere Selbst«, erläutern oder beschreiben sie nicht, so Blackmore. Kritisch anzumerken ist hier erstens, daß Blackmore nicht begründet, warum man den einen Selbstbegriff ablehnen und den anderen bevorzugen sollte. Zweitens schließt das eine das andere nicht aus, so kann ich zum Beispiel ein soziales Selbst aus der Außenperspektive des Soziologen in Hinsicht auf seine sozialen Zusammenhänge beschreiben und zugleich konzedieren, daß dieses Selbst ein subjektives Erleben hat.

197 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 232. 198 | Wie eben bei Dennett erwähnt, sind Meme kulturelle Vererbungseinheiten, siehe Richard Dawkins: Das egoistische Gen, a.a.O. 199 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 219. Übersetzung M.M. Original: »[…] our own familiar self […]«. 200 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 225. 201 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 220. 202 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 221. Die Crick-These findet sich wie oben bemerkt in: F. C.: Was die Seele wirklich ist, a.a.O., S. 17. 203 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 222. 204 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 222.

Kapitel II.3

Blackmore und die Frage ›Wo bin ich?‹ Blackmore geht zunächst von dem vorgeblich allgemeingültigen phänomenologischen Befund aus, daß Menschen das Ich hinter den Augen verorten würden, im Gehirn. Doch lasse sich ebendort kein Ich finden.205 Es gebe zudem kein Handlungszentrum, an welchem ein Selbst residieren könnte.206 Am plausibelsten hinsichtlich möglicher Selbstkonzepte erscheint Blackmore daher Dennetts Konzept der ›hilfreichen Nutzerillusion‹ und des ›narrativen Gravitationszentrums‹. Auch anhand des Konzepts der Nutzerillusion zeige sich, daß es keinen Ort des Selbst gebe. Oder in Blackmores Worten: »Wir sind ein narratives Gravitationszentrum, eine Geschichte über ein fortdauerndes Selbst, welches Dinge tut, Dinge fühlt und Entscheidungen trifft – eine hilfreiche Nutzerillusion. Und Illusionen kennen keine Orte.«207 Bei diesem Argument handelt es sich freilich um eine Petitio principii: man bezeichnet etwas (hier: das Selbst) als eine Illusion (›Illusion‹ im alltäglichen Sinne) – und ›schließt‹ dann daraus, das entsprechende Etwas sei nur eine Illusion, es gebe es also gar nicht. Was Blackmores Ansatz hier zudem außen vor läßt, ist die Reflexion des je aktuellen menschlichen Orts (zunächst im Sinne des Aufenthaltsorts). Der aktuelle Ort eines Menschen ist offensichtlich sehr wohl benennbar, und gewiß ist auch, daß das ›Selbst‹ – wie immer man es definiert – etwas mit dem jeweiligen Menschen zu tun hat. Insofern nun also die Orte des Menschen beschreib- und erzählbar sind, sind damit automatisch auch die Orte des ›Selbst‹ beschreib- und erzählbar. Dazu kommt, daß Erzählungen über einen Ort diesen zugleich in seinem Charakter wie auch immer verändern können – die Erzählungen stiften bekanntlich selbst eine Form des Innenraums; so wird der Mensch und damit sein Selbst zugleich von interpretiert-erzählten Innenräumen geprägt. Genauso wichtig jedoch wäre, wie zu Beginn des II. Hauptteils bemerkt, ein empirischer Befund über die Frage, wo Menschen tatsächlich ihr Selbst ansiedeln. Es gibt hierzu, wie gesagt, offenbar keine vorlegbare Studie. Jedenfalls läßt sich Blackmores These, die Menschen würden ihr Ich hinter den Augen, im Gehirn, verorten, in Zweifel ziehen. Wenn eine autophänomenologische Auskunft des Verfassers auch hier zugelassen sei, so könnte ich wenigstens von mir aus versichern, daß ich mein Ich nicht hinter den Augen oder im Gehirn verorten würde, sondern ich verorte mich einfach tatsächlich in Räumen – jetzt bin ich zum Beispiel im Arbeitszimmer. Dabei würde ich niemals auf die Idee kommen, ›mein Ich‹ jetzt an einer bestimmten Stelle innerhalb meines Körpers auszumachen und zu fixieren; wenn auch natürlich davon unbenommen ist, daß auf der biologischen Ebene Gehirnprozesse beim subjektiven Ich-Erleben eine notwendige und tragende Rolle spielen.

205 | Siehe Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 222f. 206 | Siehe Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 223. 207 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 225. Übersetzung M.M. Original: »(we are) a centre of narrative gravity; a story about a persisting self who does things, feels things and makes decisions; a benign user illusion. And illusions do not have locations.«

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Die Funktion eines Selbst und der Selbstplex Auf die Frage: ›Was tu ich?‹ gibt Blackmore die klare Antwort: ›Ich tu nichts.‹ Mein Gehirn entscheide. Das Bewußtsein von der Entscheidung folge später.208 Und auf die Frage, warum Menschen sich eine Geschichte über ihr Selbst erzählen und was die Funktion dieses Erzählens sei, antwortet Blackmore, eine Geschichte helfe dem Memplex, sich zu replizieren.209 Memplexe seien dabei Gruppen von Memen, die sich zu gegenseitigem Nutzen zusammentun (»for mutual advantage«210); Meme innerhalb eines Memplexes überleben besser als Teil einer Gruppe als alleine, so Blackmore. Die Folgerung laute also, daß der Selbstplex erfolgreich sei, weil die Meme uns davon überzeugen, für ihre ›Fortpflanzung‹ zu sorgen.211 Die Meme hätten uns dazu gebracht, unser Leben als eine Lüge zu leben – damit diese ›Selbst‹-Lüge bei ihrer Replikation helfe.212 Wie auch immer man am Ende die Memtheorie bewerten mag, Tatsache scheint doch zu sein, daß Meme keine eigenständigen Lebewesen sind, als welche Blackmore sie offenbar behandelt, sondern Teil eines Lebewesens. Man kann die Meme daher nicht isoliert vom Ganzen betrachten. Wenn Meme also nicht eigenständig sind, kann man sie auch nicht so interpretieren, als ob sie die Menschen bzw. die von ihnen hervorgerufenen Selbstplexe lediglich als Instrumente für ihre Replikation benutzten. Darüberhinaus ist es zwar richtig, daß im räumlich strukturierten Gehirn nirgends irgendein Ich oder Selbst residiere und lenke, allerdings ist eine solche Vorstellung ohnehin wissenschaftlich obsolet und weicht der Frage nach der tatsächlichen Rolle des Räumlichen im Leben von Menschen aus. Von den Memen abgesehen, spielt das subjektive Erleben, welches Blackmore anerkennt, ja ausdrücklich hervorhebt, für das tägliche Leben von Menschen die allesentscheidende Rolle. Selbst wenn dieses subjektive Erleben aus einer außenperspektivischen Memperspektive nichts anderes als ein Memplex wäre, so würde das doch an meiner subjektiven Erlebensperspektive und daran, wie sich Gefühle anfühlen, wenig ändern – Zahnschmerzen würden mich dennoch quälen, sexuelle Lustgefühle würden mir dennoch tiefen Genuß verschaffen etc.

208 | Siehe Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 225ff. – Über die eingangs erläuterte Problematik solcher Sätze braucht es keine weiteren Worte mehr. 209 | Siehe Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 231. 210 | Susan Blackmore: The Ultimate memeplex, a.a.O., S. 231. 211 | Siehe Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 233f. 212 | Susan Blackmore: The Ultimate Memeplex, a.a.O., S. 234.

Kapitel II.3

K apitel II.3.b: S elbstbegriffe in der zeitgenössischen analy tischen P hilosophie des G eistes sowie in der zeitgenössischen phänomenologisch inspirierten P hilosophie

Manfred Franks 213 Selbstbegriff: Subjektivität und Individualität Manfred Franks Hauptaussage auf dem Feld der Selbstbewußtseinstheorie lautet, daß Selbstbewußtsein die präreflexive Bekanntschaft mit sich selbst meine und nicht etwaige höherstufige Erkenntnisse über sich und das eigene Leben. Es sei also gänzlich relationsfrei, präreflexiv, unmittelbar, es stelle sich ohne Identifikationsprozeß ein und sei kein Wissen. Empirische Selbsterkenntnisse setzen das präreflexive Selbstbewußtsein voraus, ›Selbstbewußtsein‹ müsse folglich unterschieden werden vom ›Bewußtsein von etwas‹. Insofern ›etwas‹ nämlich ein Gegenstand sei, so sei evident, daß die unmittelbare Bekanntschaft mit sich eine grundsätzlich andere sein müsse als die Bekanntschaft mit einem anderen Menschen oder auch einem bloßen Tisch. Selbstbewußtsein ist nicht beschreibbar »als Relation von etwas zu noch etwas, auch wenn das zweite ›etwas‹ es selbst sein sollte; denn wenn immer ein Selbstbezug als selbstbewußter sich ankündigt, war die Beziehung durch eine prä-relationale Vertrautheit unterlaufen«214. Frank rekurriert damit auf Fichte und auch auf Sartre und deren präreflexivem Modell des Selbstbewußtseins und lehnt damit Positionen im Sinne von Descartes, Leibniz und Heidegger insofern ab, als diese das Selbstbewußtsein auf der Basis eines Reflexionsmodells erklärten: so, als ob es objektive Kriterien für Selbstbewußtsein gäbe, Kriterien, die nicht im Subjekt lägen, so daß ›Selbstbewußtsein‹ formal ähnlich dem ›Bewußtsein von anderen Objekten‹ zu verstehen wäre. So begreift Manfred Frank Menschen als Subjekte, deren wesentliches Merkmal Selbstbewußtsein sei, ihr Bewußtsein vom eigenen Sein. Menschen seien jedoch auch Individuen, also einzigartige Subjekte. Zusammengefaßt seien die Charakteristika der Subjektivität vor allem 1. (Selbst-)Vertrautheit des Erlebens 2. Präreflektives Selbstbewußtsein (meine Erkenntnis, daß ich ich bin, ist unmittelbar und nicht vermittelt über ein Wissen über mich: es gibt bei der präreflexiven Selbstvertrautheit keine Subjekt-Objekt-Unterscheidung) 3. Spontaneität (das Selbst hat alles, was es ist, von sich selbst. Das Selbst ist spontan nicht in dem Sinne, daß es der Schöpfer seines eigenen Seins wäre, sondern insofern es sich in unterschiedlichen Verstehenskontexten sich selbst offenbart).

213 | Manfred Frank argumentiert seit den 1980er Jahren auf dem Feld der geschichtsphilosophischen Deutung wider die »Toterklärung« des neuzeitlichen Subjekts durch Postmoderne und Dekonstruktion (vgl. M. F.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung, Frankfurt a.M. 1986) und setzt seit der Jahrtausendwende den Kampf auch gegen neurowissenschaftliche Selbstreduktionisten fort. 214 | Manfred Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, a.a.O., S. 6.

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Das Selbst bestehe also aus Subjektivität (Selbstbewußtsein) und Individualität (mein spezifisches Selbstbewußtsein).215 Davon abgesehen ist in Hinblick auf meine These wichtig, daß das Gefühl der Selbstvertrautheit auf der phänomenalen Ebene auch mit dem Erleben intakter Innenräume zusammenhängt – Innenräume jeder Art. Das präreflexive, mit sich selbst vertraute Selbstbewußtsein à la Frank benötigt nach meinem Verständnis also nicht nur eine (gesunde) körperliche Basis, sondern neben der körperlichen auch eine phänomenal räumliche ›Basis‹ (welche freilich auf einer repräsentationalistischen und einer neurobiologischen Ebene gleichfalls körperlich ist, weil sie mental repräsentiert und neuronal ›prozessiert‹ wird): in als intakt erlebten Innenräumen besteht das präreflexive Selbstbewußtsein damit eben auch aus dem jeweiligen, als intakt erlebten Innenraum. In nicht-intakten Räumen fühle ich mich hingegen nur bedingt mit mir selbst vertraut. Selbes gilt für unbekannte Innenräume – als phänomenologischer Beleg hierfür genüge die Erinnerung an die unterschiedlichen Gefühle, die ein Mensch hat, je nachdem, ob er sich in fremden privaten Zimmern aufhält oder in den vertrauten eigenen.

Sydney Shoemaker und das präreflexive Selbstgewahrsein Selbstbewußtsein bzw. Selbstzuschreibung ist für Sydney Shoemaker immun gegen den Irrtum der Fehlidentifikation hinsichtlich des ›Ich‹. Dabei hält Shoemaker den Gedanken, das Selbst sei durch Introspektion bzw. durch einen inneren Sinn zugänglich, für »eine im günstigsten Fall überflüssige Hypothese«216. Shoemaker versteht hier freilich unter Selbstbewußtsein ausschließlich so viel wie Selbstgewahrsein (Self-Awareness) oder auch Selbstwissen (Self-Knowledge). Hierbei handelt es sich um genau jene auch von Dieter Henrich und Manfred Frank beschriebene Form des Selbstbewußtseins, die irrelational oder präreflexiv zu verstehen ist; Selbstgewahrsein bedeute also nicht, »sich selbst als ein Objekt präsentiert zu werden«217. Shoemaker möchte deshalb auf die Verständnisweise des Selbstbewußtseins im Sinne eines beobachtbaren Wissens »komplett und konsistent verzichten«218. Aber warum sich nicht einfach mit der Beschreibung der unterschiedlichen Phänomene und ihrer wohlgeordneten Auflistung begnügen, anstatt sie aus dem Diskurs 215 | In forschungsprogrammatischer Hinsicht wäre es aus neurowissenschaftlicher Perspektive zumindest theoretisch möglich, herauszufinden, wie in Menschen jene biologischen und neuronalen Prozesse in Gang kommen und ablaufen, die das phänomenale Gefühl der unmittelbaren Selbstvertrautheit hervorrufen. 216 | Sydney Shoemaker: Self-Reference and Self-Awareness, in: The Journal of Philosophy, Vol. 65, Nr. 19, 3. Oktober 1968, S. 555-567, Zitat S. 563, Übersetzung M.M. Original: »[…] at best a superfluous hypothesis […]«. – Dazu auch: Sydney Shoemaker: Self-Knowledge and Self-Identity, Ithaca 1963, 41970, S. 41ff., 211ff. – Ähnlich Hywel David Lewis: The Elusive Mind, London und New York 1969. 217 | Sydney Shoemaker: Self-Reference and Self-Awareness, a.a.O., S. 564, Übersetzung M.M. Original: Self-awareness »does not involve […] ›being presented to oneself as an object‹«. 218 | Sydney Shoemaker: Self-Reference and Self-Awareness, a.a.O., S. 564, Übersetzung M.M. Original: »[…] to abandon […] completely and consistently […]«.

Kapitel II.3

zu werfen? Das ›Selbstbewußtsein im Sinne eines beobachtbaren Wissens‹ ist ja durchaus ein anzutreffendes Phänomen: gemeint ist damit einfach ein Selbstbewußtsein zweiter oder höherer Ordnung, in welchem mir meine Geistesinhalte explizit zu Bewußtsein kommen oder zum Gegenstand expliziten Nachdenkens werden. Ansonsten gilt, was den Bezug zu meiner Arbeit angeht, für Shoemaker dasselbe wie für Manfred Frank.

Donald Davidson, Winnetou und die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹ Der besonders in der analytischen Philosophie einflußreiche Philosoph Donald Davidson hält »die Idee des Selbst für einen grundlegenden, irreduziblen Begriff«219. Verwende ein Mensch das Personalpronomen ›ich‹, bringe er damit »ein Wissen zum Ausdruck«, das sich »auf keine andere Weise artikulieren läßt« – offenbar habe der Gebrauch von ›ich‹ »etwas Irreduzibles, Unersetzliches und Konkretes an sich«220. Denn mit der Verwendung dieses Personalpronomens »weiß ich, ohne Beobachtungen anzustellen, daß ich es bin, der sie geäußert hat«221 – es gehe also genau um dieses Wissen und nicht primär um die auch für andere erkennbare indexikalische Funktion des geäußerten ›ich‹-Pronomens.222 Erläutert sei dies anhand der Vorstellung eines Roboters, der auf eine Weise programmiert ist, daß er bei zur Neige gehendem Akkustand die Laute: »Ich benötige neue Akkus« von sich gibt. In diesem Fall wüßte ein Mensch, der diese vom Roboter ausgehenden Laute hört, was der Roboter benötigt – er interpretierte das ›ich‹ dabei als bezogen auf den Roboter. Zugleich würde er jedoch implizit davon ausgehen, daß dem Roboter etwas fehlt, was ein Mensch hat, der eben sagt: »Ich muß dringend etwas essen« – nämlich jenes intuitive implizite Wissen dieses Menschen, daß er es ist, der diesen Satz äußert. Der Roboter hingegen weiß nicht, daß er ›spricht‹.

219 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 152. 220 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 153. – Vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a.a.O., S. 68-90. Für Tugendhat bedeutet Selbstbewußtsein nicht zuletzt die Fähigkeit, das Pronomen ›ich‹ verwenden zu können. 221 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 153. 222 | Und dieses Wissen ist auch nicht deckungsgleich mit dem Wissen im Sinne des ›privilegierten Zugangs‹, welcher die Tatsache bezeichnet, daß ich aus der Erste-Person-Perspektive (Innenperspektive) einen privilegierten Zugang zu meinen Bewußtseinsinhalten habe im Vergleich zum Zugang mit Hilfe empirischer Messungen im Sinne der Dritte-PersonPerspektive (Außenperspektive). Siehe dazu beispielsweise Richard E. Nisbett und Timothy D. Wilson: Telling More Than We Can Know: Verbal Reports on Mental Processes, in: Psychological Review, Band 84, Nummer 3, Mai 1977, S. 231-259; William P. Alston: Varieties of Privileged Access, in: American Philosophical Quarterly, 8, 1971, S. 223-241; Fred Dretske: ›How Do You Know You are Not a Zombie?‹, in: Privileged Access. Philosophical Accounts of Self-Knowledge, hg. von Brie Gertler, Burlington 2003, S. 1-14; Susan Hurley: ›Nonconceptual Self-Consciousness and Agency: Perspective and Access.‹ Communication and Cognition, 1997.

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Das Wissen von sich artikuliert sich also in der Regel in Form von propositionalen Sätzen wie »Ich muß dringend etwas essen«; es ist meines Erachtens jedoch nicht an die Verwendung des ›ich‹-Pronomens gebunden. Auch Winnetou weiß, daß er es ist, der gerade das Wort ergreift, auch wenn er über sich in der dritten Person Singular spricht: »Winnetou grüßt seinen weißen Bruder Old Shatterhand.« Man darf Winnetous Wissen über sich daher auch im Fall der Rede über sich in der dritten Person Singular als »Standpunkt der ersten Person«223 interpretieren; was eben heißt, daß es sinnvoll ist, zwischen der grammatikalischen Verwendung der ersten Person Singular – ›ich‹ – und dem konkreten Wissen – als ›Standpunkt der ersten Person‹ – zu unterscheiden. ›Ich‹ kann auch der Roboter sagen, doch er hat keinen ›Standpunkt der ersten Person‹. Und es ist dieser Standpunkt der ersten Person, welchen Davidson als »das ›Selbst‹«224 bezeichnet. (Wobei er an anderer Stelle die Begriffe Person, Geist, Selbst [ohne Anführungszeichen] in eins setzt.225) Was also nach Davidson irreduzibel ist, ist dieses »Wissen über den Inhalt meines eigenen Geistes«226, diese »unmittelbare Bekanntschaft mit dem Inhalt meines eigenen Bewußtseins«227, ein »einzigartiges« Wissen, das »nicht durch Beobachtungen, Belege oder Gründe untermauert wird«228 und folglich auch durch empirische Erfassung der Gehirnströme und ähnlichem nicht objektivierbar und erkennbar wäre. Hinzu komme der Aspekt, daß die Irreduzibilität auch dadurch entsteht, daß »die Maßstäbe der Rationalität und der Realität […] meine eigenen sind und daß es keine über sie hinausgehende Berufungsinstanz gibt«229. Was den Bezug zu meiner These betrifft, so genügt hier der phänomenologische wie linguistisch-semantische Hinweis, daß der Ausdruck des erwähnten ›Standpunkts der ersten Person‹ – der ja nach Davidson das Selbst ausmacht – eben auch einen implizit räumlichen Begriff aufweist: eben den ›Standpunkt‹. Der ›Standpunkt der ersten Person‹ ist somit der Aufenthaltsort eines Menschen in einem Raum und damit zugleich sein Wissen, von wo aus er die Welt wahrnimmt. Ich weiß, wer ich bin, wenn ich weiß, wo ich bin. Anders gesagt: Nur wenn ich meinen Standpunkt kenne, weiß ich, wer ich bin. Denn kenne ich meinen Standpunkt nicht und habe keine Ahnung von den Konturen der Welt um mich her, dann kann ich nicht nur darüber keine Auskunft geben und weiß ich folglich nicht, wo ich bin, sondern dann weiß ich damit zugleich auch nicht, wer ich selber bin.

223 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 158. 224 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 158. 225 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 163. 226 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 155. 227 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 162. 228 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 162. 229 | Donald Davidson: Die Irreduzibilität des Begriffs ›Selbst‹, a.a.O., S. 159.

Kapitel II.3

Galen Strawson, erst das Perlenbild des Selbst, dann das Flüchtige Bild des Selbst – sowie das dünne (oder das minimale) Selbst Galen Strawson verteidigt den Begriff des ›Selbst‹ zunächst einfach damit, daß es so etwas wie ein Selbst tatsächlich gebe230 – ein Selbst freilich einfach im Sinne eines subjektiv erlebten Sinns für das eigene Selbst, genauer gesagt: im Sinne eines Sinns für sich selbst (eines Selbstsinns).231 Jenseits dieses Verständnisses des Selbst listet Strawson fünfundzwanzig Selbstkonzepte auf, die in der Forschung virulent seien.232 Das ›Selbst‹ versteht er dabei immer als ›mentales Selbst‹, insofern es eben immer irgendwie als ›mental‹ empfunden werde; ›mental‹ meint in diesem Fall soviel wie ›nicht klar lokalisierbar‹, im Vergleich etwa zu Zahnschmerzen. Seine Überlegungen zum Selbst faßt er dabei zunächst unter der Überschrift des von ihm vorgeschlagenen Perlenbilds des Selbst zusammen (das eigentlich ein Perlenkettenbild meint): Es besagt, daß es ein Selbst gebe – und zwar in der Form vieler Selbste, ein Selbst pro Augenblick, eines nach dem anderen, wie einzelne Perlen an einer Perlenkette.233 Strawson verwirft diese »Metapher« jedoch später wieder: denn das Kettenbild sei mißverständlich, weil eine Kette eine durchgehende Verbindung zwischen den einzelnen Perlen nahelege und damit eine durchgehende Existenz des Selbst suggeriere. Stattdessen spricht Strawson jetzt lieber vom Flüchtigen Bild des Selbst.234 230 | Siehe Galen Strawson: The Self and the SESMET [Subjects of Experience that are Single Mental Things, M.M.], in: Shaun Gallagher und Jonathan Shear (Hg.): Models of the Self. Journal of Consciousness Studies, Band 4, Nummer 5/6, Exeter 1997, S. 405-428, Kap. I: Introduction. 231 | Strawson spricht von »a distinct sense of, or experience as of, the self«, siehe Galen Strawson: The Self and the SESMET, a.a.O., Kap. II: The Problem of the Self. – Vgl. zur Geschichte des inneren Sinns, der Wahrnehmung, daß ich gerade etwas wahrnehme, des Wissens, daß ich gerade etwas weiß oder sehe, höre, rieche, schmecke, ertaste etc.: Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn, a.a.O. 232 | In Wirklichkeit sind es noch viel mehr, siehe oben die Selbstbegriffsliste am Eingang des II. Hauptteils (in die ich auch Strawsons Liste fast vollständig miteingearbeitet habe). Bei Strawson handelt es sich um folgende Begriffe: »[…] cognitive self, the conceptual self, the contextualized self, the core self, the dialogic self, the ecological self, the embodied self, the emergent self, the empirical self, the existential self, the extended self, the fictional self, the full-grown self, the interpersonal self, the material self, the narrative self, the philosophical self, the physical self, the private self, the representational self, the rock bottom essential self, the semiotic self, the social self, the transparent self, and the verbal self […]«, in: Galen Strawson: The Self and the SESMET [überarbeitete Version, M.M.], in: Shaun Gallagher und Jonathan Shear (Hg.): Models of the Self. Journal of Consciousness Studies, Band 6, Nummer 4, Exeter 1999, S. 99-135, Kap. I: Introduction. 233 | Galen Strawson: ›The Self and the SESMET‹, a.a.O., Kapitel XI: The Factual Question: Strawson: »I will call my view the Pearl view, because it suggests that many mental selves exist, one at a time and one after another, like pearls on a string […].« 234 | Siehe die von Strawson später hinzugefügte Fußnote 28a (in: Galen Strawson: ›The Self and the SESMET‹, a.a.O., Kapitel XI: The Factual Question), in der er schreibt: »I have abandoned this name [›the Pearl view‹, M.M.] in favour of ›the Transience view‹ […]«; siehe zum Transience View (›das Flüchtige Bild‹) vor allem die überarbeitete Version: Galen Straw-

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Diese Gedanken erläutert Strawson, indem er ein »minimales« oder »dünnes Selbst« postuliert.235 Das dünne Selbst ist einfach das Subjekt des Erlebens236, das erlebte »augenblickliche Erkennen«237. Strawson bezeichnet es auch als etwas »›inneres‹«, etwas, wie gesagt, »mentales«, als der »›Ort‹ [›locus‹] des Bewußtseins«238. Und insofern Strawson die Reflexivitätsthese akzeptiert – die bekanntlich besagt, daß jedes Erkennen zugleich ein nicht-thetisches Gewahrsein davon hat, ein Objekt zu erkennen –, heißt dies zugleich auch, daß Strawsons ›Selbst‹ sich seiner selbst bewußt oder gewahr ist.239 Und insofern sich Strawson auf die amerikanisch-phänomenologische Beschreibung des minimalen Subjekts (oder des minimalen Selbst) beschränkt, muß er auch keinen Rekurs nehmen auf Körper, natürliche Umwelt oder soziale Umgebung. Es geht ihm also nicht um den Körper als ein Subjekt, sondern allein um jenes Subjekt, das mit dem Erleben identisch ist bzw. dieses Erleben ist. (Ein möglicherweise denkbares Konzept eines nicht-dünnen, also ›beleibten Selbst‹ würde selbstverständlich den Körper als konstitutives Element miteinbeziehen müssen.) Doch geht es Strawson wie gesagt nur um das dünne Subjekt oder das live stattfindende Erleben – unabhängig übrigens von der Art des Erlebens, ob es etwa angenehm oder unangenehm sei. Ohne Erleben gibt es also kein Subjekt, kein Selbst. Folglich existiert auch für Strawson das Selbst in bewußtlosen Phasen wie dem traumlosen Tiefschlaf nicht. Wollte man das Konzept des dünnen Selbst nun auf ein Raumselbstkonzept übertragen, so ließe sich das implizit bleibende Innenraumerleben mit dem live erlebenden dünnen Selbst gleichsetzen. Dieses dünne Raumerleben könnte aus son: The Self and the SESMET, a.a.O., Exeter 1999, Kapitel XIX: Metaphysics: the Transience View, S. 129f. – Vgl. hierzu auch die Einleitung zu Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 5. 235 | Galen Strawson: Radical Self-Awareness, in: Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 274-307, hier S. 276. Sowie: Galen Strawson: The Minimal Subject, in: Shaun Gallagher (Hg.): The Oxford Handbook of the Self, Oxford 2011, S. 253-278, hier S. 253f. 236 | Galen Strawson: Radical Self-Awareness, a.a.O., S. 276. 237 | Vgl. Mark Sideritis, Evan Thompson und Dan Zahavi (Hg.): Self, No Self?, a.a.O., S. 24f. Übersetzung M.M. Original: »[…] present moment cognizing […]« 238 | Galen Strawson: Radical Self-Awareness, a.a.O., S. 276. Übersetzung M.M. In eckiger Klammer wird das im englischen Original stehende Wort für ›Ort‹ zitiert. 239 | Allerdings ist seine Position hinsichtlich der Reflexivitätsthese nicht völlig klar und letztlich nicht konsistent, denn im erwähnten Paper ›The Minimal Subject‹, a.a.O., S. 254, schreibt er, daß das »minimale Subjekt nicht selbstbewußt (self-conscious)« sein müsse; das aber widerspräche der Reflexivitätsthese, nämlich dann, wenn man ›selbstbewußt‹ eben im Sinn von ›seiner selbst unmittelbar und nicht-thetisch gewahr sein‹ versteht; doch womöglich versteht Strawson in diesem konkreten Fall unter ›selbstbewußt‹ ein ausdrückliches, explizites Selbstbewußtsein höherer Ordnung; dann natürlich wäre dieser Punkt konsistent. Freilich ist es höchst unwahrscheinlich, daß Strawson wirklich annehmen könnte, daß ausgerechnet das minimale Selbst ein Selbstbewußtsein höherer Ordnung von sich selbst hätte. Was im Umkehrschluß eben heißt, daß Strawsons Position an dieser Stelle inkonsistent ist und es in jedem Fall heißen müßte: das minimale Selbst ist sich unmittelbar bzw. nicht-thetisch seiner selbst gewahr oder seiner selbst bewußt.

Kapitel II.3

seiner impliziten Situation heraustreten, sobald der erlebte Innenraum nicht mehr als intakt erlebt wird. Fällt etwa die Türe plötzlich aufgrund eines Erdstoßes ins Zimmer, dann wird mir mein Selbsterleben jenseits des Schrecks auf eine veränderte, in der Regel ausdrückliche Weise bewußt werden. Zu einem expliziten Selbsterleben gelange ich also indirekt über den Weg einer Störung. Erst wenn ich aufstehe und die Türe wieder in die Angel hebe und schließe, werde ich wieder ein intaktes Selbst erleben. Summarisch läßt sich zu Strawson sagen, daß er sich auf das subjektive Erleben beschränkt und dieses unter dem Begriff des minimalen oder subjektiven Selbst begreift. Dieser dünne Selbstbegriff wird selbstredend dem reichhaltigen Selbsterleben eines Menschen nicht gerecht. Aber die phänomenologische Beschreibung des subjektiv-dünnen Erlebens ist plausibel – Strawson knüpft letztlich an hier bereits mehrfach referierte Konzepte an, von Fichtes Begriff des nicht-thetischen Selbstbewußtseins über William James’ Konzept des reinen Ego (im Sinne des sciousness) bis hin zu Manfred Franks Begriff der präreflexiven Selbstvertrautheit.

John Searle und das notwendiger weise postulierte Selbst John Searle meint, man müsse ein Selbst postulieren, das Postulat sei jedoch »rein formaler Natur« – es handle sich »nicht um eine zusätzliche Entität, sondern um so etwas wie ein Prinzip der Ordnung des Gehirns und seiner Empfindungen«240. Searle behauptet folglich, daß, zusätzlich zum Humeschen Bündel an Wahrnehmungen, es noch »bestimmte formale Anforderungen an die Entität«241 gebe, welche die Entscheidungen treffe und die Handlungen ausführe. Deshalb das Postulat eines vernünftigen Selbst oder eines vernünftig Handelnden.242 Ich halte Searles hier sehr gerafftes Argument für nicht geeignet, um Licht auf die Frage zu werfen, ob es ›das‹ Selbst gebe oder was ›es‹ sei, und insofern für verzichtbar. Zunächst ist anzumerken, daß Searles postuliertes Selbst an die Kantische Figur des Ich denke erinnert, Searle diese allerdings nicht erwähnt, weshalb offen bleiben muß, ob diese Erinnerung an Kants Ich denke im Searleschen Sinne wäre oder nicht. Das Ich denke jedenfalls muß alle meine Empfindungen begleiten können, so daß die unterschiedlichen Empfindungen jeweils immer als meine Empfindungen gelten. Bei Kant ist das Ich denke jedoch ausschließlich eine logische Funktion. Bei Searle hingegen wird das »rein formale Postulat«, bei dem es sich »nicht um eine zusätzliche Entität« handeln soll, nötig für die Entität, welche Entscheidungen treffe und Handlungen ausführe. Spätestens an diesem Punkt scheint mir Searles Selbst-Konzept fragwürdig zu werden, weil meinem Verständnis nach nicht zureichend klar wird, wie man sich das genau vorstellen soll: denn offenbar gibt es eine Entität, die entscheidet und handelt – und für diese Entität, die namenlos bleibt – benötigt Searle einen Namen, das formale Postulat des ›Selbst‹? Was

240 | John Searle: Packt das Bewußtsein wieder ins Gehirn. Erwiderung auf Bennett und Hacker, Philosophical Foundations of Neuroscience, in: Maxwell Bennett, Daniel Dennett, Peter Hacker, John Searle: Neurowissenschaft und Philosophie, a.a.O., S. 172. 241 | John Searle: Geist. Eine Einführung, (2004), aus dem Englischen von Sibylle Salewski, Frankfurt a.M. 2006, S. 303. 242 | Vgl. John Searle: Geist, a.a.O., S. 303.

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aber würde das bedeuten? Kann die Entität ohne das Postulat nicht handeln und nicht entscheiden? Für den Zweck dieser Arbeit, die These über die Entstehung des Selbst aus dem Raum zu erläutern, scheint Searles Begriff des postulierten Selbst nicht anwendbar oder adaptierbar zu sein. Auf einen Bezug zur These kann daher verzichtet werden.

Ulric Neisser und die fünf Aspekte des Selbst Der Kognitionspsychologe Ulric Neisser zählt fünf Aspekte des Selbst bzw. fünf Formen des Zugangs zum Wissen über sich selbst auf. (›Selbstwissen‹ meint für Neisser ›Information über sich selbst‹.243) Diese Selbstaspekte rubriziert er jeweils unter dem Begriff ›Selbst‹; das Selbst sei dabei nicht ein besonderer Teil einer Person oder eines Gehirns, sondern einfach die ganze Person selbst, betrachtet unter einem bestimmten Gesichtspunkt.244 Die fünf Selbste lauten: • das ökologische Selbst • das interpersonale Selbst • das begriffliche Selbst • das erinnerte Selbst (auch: das narrative Selbst) • das private Selbst Das ökologische Selbst zeige sich dadurch, daß der Mensch im Erleben der Umgebung nicht nur diese Umgebung erlebe, sondern zugleich sich selbst. (Es handelt sich hier um die Aufnahme einer These von James J. Gibson: Die Umwelt wahrnehmen heiße notwendigerweise auch sich selbst wahrnehmen.245) Das ökologische Selbst sei also der Mensch als aktiv in der unmittelbaren Umwelt handelnder. Der Handelnde nehme neben den umweltlichen Dingen wahr, wo er sei, wie er sich bewege, was er tue.246 Diese Information verrate einem Menschen also nicht nur viel über die Umwelt, sondern zugleich viel über sich selbst.247 Das interpersonale Selbst etabliere sich in der emotionalen Gesicht-zu-GesichtKommunikation. Dabei basieren die beiden ersten Selbste auf direkter Wahrnehmung, sie entstehen schon während der frühkindlichen Entwicklung; im Gegensatz zu den drei anderen Selbstaspekten: Das begriffliche Selbst zeige sich in der Reihe von Annahmen und Ansichten, die ein Mensch über sich selbst hat. Für sich selbst listet Neisser etwa die Stichworte ›Professer‹, ›Ehemann‹, ›Vater‹, ›Amerikaner‹, ›Kognitionspsychologe‹ etc. auf.

243 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self. Ecological and Interpersonal Sources of Self-Knowledge, Cambridge 1993, S. 3. – Vgl. auch Ulric Neisser: Five Kinds of Self-Knowledge, Philosophical Psychology, 1988, 1: S. 35-59, S. 35, sowie Ulric Neisser: Kognition und Wirklichkeit. Prinzipien und Implikationen der kognitiven Psychologie, (1976), aus dem Englischen von Regine Born, Stuttgart 1979, S. 149-151. 244 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 4. 245 | James J. Gibson: »Egoreception accompanies exteroception, like the other side of a coin. […] One perceives the environment and coperceives oneself.« In: James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Peception, a.a.O., S. 126. 246 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 4. 247 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 6.

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Diese Merkmale bilden einen Teil eines Gedankens über sich – sie werden jedoch nicht direkt wahrgenommen.248 Das erinnerte oder narrative Selbst entstehe nicht vor dem dritten Lebensjahr, es bezeichne ein um das Gedächtnis in seinen räumlichen und zeitlichen Bezugssystemen erweitertes Selbst.249 Das private Selbst meint das subjektive Erleben aus der Erste-Person-Perspektive, das insofern privat sei, als alles, was ich erlebe, sich für mich so und so anfühlt, das für andere jedoch immer unzugänglich bleibe, da sie weder fühlen noch wissen können, wie es sich für mich anfühlt, ich zu sein oder diese speziellen Erlebnisse zu haben. Das private Selbst entstehe, sobald ein Mensch entdecke, daß sein Erleben exklusiv sein Erleben sei.250 Diese Selbste werden, so Neisser, selten als von einander unterschieden erlebt, doch unterscheiden sie sich in ihren unterschiedlichen Entwicklungsgeschichten, in der Genauigkeit, in welcher man sie erlebt, in ihren Pathologien und in der Frage, inwiefern sie jeweils zur jeweiligen menschlichen Erfahrung beitragen. Insbesondere der Aspekt des ökologischen Selbst läßt sich mit der hier vertreten Raumselbstthese in Verbindung bringen. Wenn Neisser schreibt, daß der Mensch im Erleben der Umgebung nicht nur diese Umgebung erlebe, sondern zugleich sich selbst, so könnte man dies im Sinne dieser Arbeit zuspitzen und sagen: erst durch das Erleben der Umgebung als Umwandung entsteht überhaupt ein Selbstgefühl, das Erleben eines konkret verorteten, perspektivisch auf seine Umwelt ausgerichteten Selbst.

Michael Pauen, die Verteidigung des Selbst und der Raum der Perspektivenübernahme Für Michael Pauen, den philosophischen Kopf an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität Berlin, ist die Frage nach dem Selbst eindeutig beantwortbar. Unter einem Selbst, schreibt er, dürfe man sich »nicht eine Art inneres Objekt, eine Seele oder wieder einen Homunculus vorstellen, der unsere Geschicke lenkt«; vielmehr sei unter einem Selbst einfach »ein Kern von wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen und Überzeugungen«251 zu verstehen, die einen Menschen ausmachen. Es habe daher Sinn, wenn Menschen sich ein ›Ich‹ zuschreiben würden.252 Wobei Pauen statt von ›dem Ich‹ eines Menschen der Klarheit wegen lieber vom ›Selbst‹ oder von ›selbstbewußten Personen‹ spricht.253 ›Selbstbewußte Personen‹

248 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 4. 249 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 5. – Vgl. hierzu Ulric Neisser: The Remembering Self. Cosntruction and Accuracy in the Self-Narrative, hg. von Ulric Neisser und Robyn Fivush, New York 1994. 250 | Vgl. Ulric Neisser (Hg.): The Perceived Self, a.a.O., S. 5. 251 | Michael Pauen: Von Fledermäusen und der Freiheit des Willens, in: Carsten Könneker (Hg.): Wer erklärt den Menschen?, Frankfurt a.M. 22007, S. 151. 252 | Michael Pauen: Was ist der Mensch? Die Entdeckung der Natur des Geistes, München 2007, S. 14. 253 | Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 142.

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müßten – gemäß einer vorwissenschaftlichen Vorstellung über den Begriff der ›selbstbewußten Person‹ – drei Merkmale besitzen254: Sie müßten ein »aktuales Selbstbewußtsein« haben und damit ein »unmittelbar präsentes Bewußtsein« vom eigenen Körper, den eigenen Überzeugungen und den eigenen Handlungen. – Doch was meint »unmittelbar präsentes Bewußtsein« genau und explizit ausformuliert? Jedes Bewußtsein ist ja gemäß der Definition dieser Arbeit zunächst immer phänomenales Bewußtsein – also das Erleben im Wachen (und im Traum); meint Pauen jedoch mit »präsentem Bewußtsein« eher ein implizites phänomenales Bewußtsein oder ein ausdrückliches Bewußtsein zweiter Ordnung? Dies wird meines Erachtens zunächst nicht zureichend klar. Darüberhinaus müßte eine selbstbewußte Person ein »Selbstkonzept« haben, also »ein dauerhaftes Wissen« von seinen körperlichen und geistigen Besonderheiten sowie von seiner Biographie. Dieser Punkt scheint mit dem ersten wenigstens zum Teil kongruent zu sein, denn was wäre der Unterschied zwischen einem ›Bewußtsein vom eigenen Körper, von den eigenen Überzeugungen‹ (wie in Punkt 1) und dem ›Wissen von den körperlichen und geistigen Besonderheiten‹ (Punkt 2) genau? Drittens müßten das aktuale Selbstbewußtsein und das Selbstkonzept »einheitlich und einigermaßen stabil« sein. An anderer Stelle listet Pauen drei »Kernpunkte« auf, welche zur Vorstellung des erwachsenen Menschen über sich selbst gehören würden255: Erwachsene besitzen demnach 1. Bewußtsein 2. Selbstbewußtsein und 3. die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln und sich dabei von Gründen leiten zu lassen. Was hingegen die ontogenetische Entwicklung des Selbstbewußtseins bei Kleinkindern berührt, unterscheidet Pauen drei zeitliche Stufen: 1. Das Kind lerne jene Lebewesen identifizieren, welche psychische Eigenschaften haben. 2. Es lerne die Perspektivenübernahme (sogenannte theory of mind). 3. Es bilde »ein längerfristig stabiles Selbstkonzept«256 aus, und dazu gehöre auch die Selbstzuschreibung von einflußreichen körperlichen wie charakterlichen Eigenschaften. Was jene auf dem wissenschaftspolitischen Feld seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts virulent gewordene Konfrontation der traditionellen analytischen Philosophie des Geistes mit den Positionen jüngerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und Thesen angeht, so glaubt Pauen, daß die bisherigen alltäglichen Vorstellungen des Menschen über sich selbst durch die neuen neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse keinesfalls revidiert werden müßten. Und zwar deshalb nicht, weil des Menschen Vorstellungen von sich selbst »nicht einfach eine 254 | Siehe Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 143. 255 | Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 21. 256 | Michael Pauen: Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2001, S. 266; vgl. auch S. 237.

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schöne Erfindung sind, sondern das härteste Experiment über sich ergehen lassen mußten, das man sich denken kann: unser alltägliches Handeln.« Und: »Wäre unser Menschenbild wirklich so verfehlt wie oft behauptet, dann müßten wir immer wieder scheitern, wenn wir uns und unsere Mitmenschen als verantwortungsfähige, bewußte und selbstbewußte Subjekte behandeln.«257 Dies sei jedoch nicht der Fall. Er spricht daher auch von einem »naturalistischen Mißverständnis«, was die aus den Neurowissenschaften kommende Unterstellung betreffe, daß, wenn das naturalistische Forschungsprogramm258 bezüglich des menschlichen Gehirns erfolgreich sein sollte, wir dann zu einer prinzipiellen Revision unseres Menschenbildes gezwungen werden würden.259 Eben dies würde nach Pauen gerade nicht der Fall sein. Hingegen könnten die Neurowissenschaften andere Erklärungen für bestimmte menschliche Fähigkeiten finden, ohne jedoch »die Existenz dieser Fähigkeiten selbst«260 in Frage zu stellen. Summarisch läßt sich über Pauens Selbstkonzept sagen, daß Menschen in der Regel ein ›Selbst‹ oder ein ›Selbstkonzept‹ haben; dieses ›Selbst‹ sei das Bewußtsein von den eigenen körperlichen und geistigen Merkmalen sowie das Bewußtsein der eigenen Biographie. Es bilde sich im Kleinkindalter stufenweise heraus und bleibe im Lebensverlauf in der Regel einigermaßen stabil (wobei zur Stabilität die gelingende Integration neuer Entwicklungen in das Selbstbild gehören). Pauen wählt folglich einen empiristisch-psychologischen Ansatz zur Erklärung des Selbst: das Selbst des Menschen entstehe in einem natürlichen Prozeß261, es lasse sich beschreiben, sei veränderbar und bleibe rationaler Argumentation gegenüber offen – worin sich eben seine Fähigkeit zur Freiheit zeige. Dabei wäre diese behauptete Fähigkeit des Menschen, sich von Gründen leiten zu lassen, kompatibel mit einem naturalistisch-monistischen Ansatz des Geistes: diesem Ansatz gemäß sind Gründe zwar Teil der psychologischen Beschreibungsebene; zugleich sind sie auf der neurowissenschaftlichen Beschreibungsebene einfach bestimmte Gehirnprozesse. Oder umgekehrt formuliert: bestimmte Gehirnprozesse erlebe und reflektiere ich auf der psychologischen Ebene als Gründe. 257 | Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 16. 258 | Naturalismus ist für Pauen durch die Annahme definiert, »daß den zentralen menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften prinzipiell die natürlichen Prozesse und Regularitäten zugrunde liegen, die auch in der nichtorganischen Natur beobachtet werden können« (M. P.: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 23). 259 | Siehe Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 24. 260 | Michael Pauen: Was ist der Mensch?, a.a.O., S. 20. 261 | In seiner philosophisch-psychologischen Untersuchung ›Identität als Prozeß‹ (Würzburg 2007) versucht Hinderk M. Emrich, neurobiologische, psychologische und tiefenpsychologische Konzepte zur Intentionalität des menschlichen Erlebens, zur Freiheit und zum Bewußtsein, zur Interpersonalität, zum Opfer und zum Bösen zu vereinen. Es gelte allgemein, die Identität als Prozeß zu verstehen, in welchem alle Interpretationen des eigenen Selbst detailliert auf ihre Humanität und Angemessenheit hin am gelebten Leben geprüft werden sollen. Dabei betont Thomas Fuchs aus psychiatrisch-phänomenologischer Sicht, daß die einzelnen körperlichen und geistigen Funktionen »die Einheit des Menschen als Lebewesen voraussetzen und nur von ihr her zu verstehen sind« (T. F.: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., S. 22).

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Was die erwähnte Ontogenese des Selbst bei Kleinkindern betrifft, so ist (ähnlich wie oben im Abschnitt über Tomasello bemerkt) der Punkt der Perspektivenübernahme (der sogenannten theory of mind) auch hier interessant. Wenn das Kleinkind lernt, sich durch die Augen des Gegenübers zu betrachten, entsteht eben nicht nur irgendein Volumen, sondern überhaupt erst jener intersubjektiv aufgespannte Innenraum, in dem es sich selbst erscheint. Dabei ist dieser Innenraum von Anfang an bipolar strukturiert, da er erst mit Hilfe eines Gegenübers hervorgerufen wird; er ist eine auch im Sloterdijkschen Sinne mit dem Gegenüber geteilte Sphäre.

Dan Zahavi, das minimale Selbst und das narrative Raumgedächtnis Der Doyen der dänischen Phänomenologie, Dan Zahavi, verteidigt einen nichtsubstantialistischen, schwachen, narrativen Begriff des Selbst.262 Dieses auch sogenannte minimale Selbst ist für ihn »Realität«263. Dabei plädiert er für eine multidimensionale Darstellung des Selbst, insofern dieses schließlich auch ein »multifacettiertes Phänomen« sei (self as multifaceted a phenomen264). Zahavi geht mit Jean-Paul Sartre von zwei Formen des Selbstbewußtseins aus: 1. der präreflexiven und nicht-objektivierenden Form des Selbstbewußtseins, und 2. der reflexiven, höher geordneten Form des Selbstbewußtseins. Dabei setze die zweite Form die erste voraus; oder anders gesagt: die erste sei konstitutiv für die zweite.265 Dabei sei jede Form des Bewußtseins charakterisiert durch Selbstheit aufgrund der stets vorhandenen Selbstgegebenheit, Selbstmitteilung oder Reflexivität.266 Bewußtsein ist damit, in Zahavis Verständnis, immer automatisch auch Selbstbewußtsein. Jeder Mensch sei sich somit stets eines minimalen Selbst 267 oder eines erlebenden Kernselbst 268 oder einer in diachronischer Einheit erlebten Erste-Person-Perspektive in der Selbstgegebenheit unmittelbar gewahr.269 Selbstgegebenheit meint dabei einfach, daß Erfahrungen mir gegeben sind – es sind meine Erfahrungen. Diese Erfahrungen fühlen sich dabei immer für mich so und so an – diese Fürmichheit ( for-me-ness oder mineness) ist letztlich genau das, was Zahavi das erlebende Kernselbst nennt (experiential core self 270). Über unterschiedliche Erfahrungen 262 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, in: Shaun Gallagher (Hg.): The Oxford Handbook of the Self, Oxford 2011, S. 316-335. 263 | Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 65. Im englischen Original spricht er von der »reality of self«, die er verteidige. 264 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 329, Fußnote. – Vgl. Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 70. 265 | Vgl. Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 57. 266 | Vgl. Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 57. Selbstheit, im Original: »selfness« oder »selfhood«. Selbstgegebenheit, im Original: »self-givenness«. Selbstmitteilung, im Original: »self-intimation«. Reflexivität, im Original: »reflexivity«. 267 | Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 17. 268 | Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 59, vor allem S. 60; siehe auch S. 16. 269 | Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 16. 270 | Vgl. Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 327.

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hinweg bleibe diese Fürmichheit erhalten. Es gebe folglich kein erfahrungsunabhängiges Selbst, sondern lediglich die Fürmichheit der Erfahrung (sprich: die Subjektivität). Damit nun angesichts der Vielfältigkeit der Objekte, die ich wahrnehme, die Einheitlichkeit des Selbsterlebens garantiert bleibe, sei ein ungeteiltes, invariantes, nicht veränderliches Mich erforderlich (engl. me) – und der klassische Terminus hierfür laute »transzendentales Ego«271. Dabei verteidigt Zahavi das Konzept des ›transzendentalen Egos‹ gegen historische wie aktuelle Einwände272, und zwar mit dem Argument, daß das mentale Leben in unstrukturiertes Chaos versinken würde, wenn es nicht gestützt würde durch dieses organisierende und vereinheitlichende »reine Ego« (pure ego273). Mögliche Kritik an Zahavis Selbstbegriff läuft zum Teil darauf hinaus, daß bloße Subjektivität der Erfahrung (die Fürmichheit) nicht ausreichend sei für ein volles Verständnis der Selbstheit (Zahavi rekurriert hier vor allem auf Einwände von Harry Frankfurt, Paul Ricœur und Charles Taylor274). Worauf man wiederum erwidern könnte, daß die bloße Subjektivität oder die »minimale Form von Selbst« (a minimal form of self 275) doch immerhin die notwendige Bedingung für jeglichen Begriff eines erweiterten ›Selbst‹ sein müsse und daher Kritik am Begriff des ›minimalen Selbst‹ allein sinnlos sei. Im übrigen betont Zahavi gerade hinsichtlich eines erweiterten, nämlich alltäglichen Verständnisses des Selbst auf der phänomenologischen Ebene die extreme Bedeutsamkeit von Grenzen und deren Rolle für die eigene Integrität. Verletzungen der Grenze durch andere würden als »zudringlich« oder »eindringend« empfunden.276 Gerade hinsichtlich des Themas dieser Arbeit darf dieser Hinweis Zahavis nicht unerwähnt bleiben. Dieses alltägliche Selbst sei im übrigen kulturell, sozial und sprachlich vielfach eingebettet und befinde sich im fortwährenden Kon-

271 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 316. 272 | Einwände etwa von Thomas Wakley, Hippolyte Taine, Théodule Ribot im 19. Jahrhundert, zeitgenössische weist er mit entsprechenden Verweisen auf neuropathologische, neurologische und psychologische Fälle zurück, siehe Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 317. 273 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 317. 274 | Siehe Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 330332. – Was die neuzeitliche Historiographie des Identitätsbegriffs berührt, so hat hierzu Charles Taylor mit ›Quellen des Selbst‹ eine inhaltsschwere Studie vorgelegt, siehe C. T.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M. 1994. 275 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 332. 276 | Vgl. Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 71. – Zahavis Äußerung über die Grenzen im Original: »Your limits express the norms and rules you abide by; they express what you can accept and what you cannot accept. They constitute your integrity. To ask others to respect your boundaries is to ask them to take you seriously as a person. A violation of, or infrinegement upon, these boundaries is felt as invasive, and in some cases as humiliating. To put it differently, when it comes to these facets of self, I think boundaries, calues, and emotions are extremely important […].«

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struktionsstadium – wobei ich explizit auf die räumliche Dimension von Konstruktion hinweisen möchte, der buchstäblichen wie der übertragenen Konstruktion.277 Hinsichtlich des narrativen Aspekts seines Selbstbegriffs, entwirft Zahavi das Konzept einer erzählerischen Selbstidentität, welche Brüche und Veränderungen in einen Lebensbogen integrieren könne, statt auf die gängige Alternative gestellt zu sein, einerseits ein cartesianisch-substantialistisches Identitätsselbst zu behaupten oder andererseits eine Position in der Tradition von Hume und Nietzsche einzunehmen, die besage, daß das identische Selbst eine substantialistische Illusion sei278 (Zahavi geht hier mit Paul Ricœur d’accord, siehe oben den Abschnitt zu diesem). Zu diesem narrativen Aspekt ist der Punkt wichtig, daß für die erzählerische Identität nicht zuletzt die durchlaufenen und bewohnten Räume des eigenen Lebens allergrößte Bedeutsamkeit gewinnen. Um den bereits oben erwähnten Zusammenhang von Narrativität und autobiographischem Raumgedächtnis hier weiter zu nuancieren, genügen diese drei Stichworte: 1. Wohnt und lebt ein Mensch über viele Jahre im gleichen Haus, so garantiert allein dies schon eine Form der Identität. Gedächtnis ist hier eine Form des Ortes: Wo bin ich? Wo kam ich her? Will ich weg von hier, und falls ja, wohin? 2. Auch Veränderungen im Haus, dessen Schichten und Geschichten gehören hier dazu. So war, um ein Beispiel anzuführen, das Arbeitszimmer des Hermeneutikers Hans-Georg Gadamer in seinem Haus in Heidelberg-Ziegelhausen über und über mit übereinandergestapelten Papieren und Büchern gefüllt, was der interessierten Öffentlichkeit von einem Dokumentarfilm her bekannt ist. Die Stapel waren über Jahrzehnte gewachsen. Und auch wenn das Arbeitszimmer für den Fernsehzuschauer chaotisch anmuten mochte, so konnte Gadamer nach Selbstauskunft sehr wohl die jeweilig gewünschten Papiere ausfindig machen. Wie bei einem Archäologen, der im Erdreich gräbt, gaben ihm die einzelnen Stapelschichten und deren Zustand Auskunft über die jeweilige Epoche, in der er sich suchend und grabend gerade befand. 3. Kehrt schließlich ein alter Mensch wie oben ähnlich angedeutet zurück in das Haus seiner Kindheit, so werden ihm beim Durchwandern der Räume mit großer Gewißheit viele längst vergessene Episoden aus der Kinderzeit anamnetisch wieder einfallen und plastisch und vertraut-fremd vor Augen stehen, als wären sie fast gestern erst gewesen.279 Wenn nach Zahavi, diesen Abschnitt zusammenfassend, das transzendentale oder reine Ego unabdingbar für das bewußte Erleben sind, weil sonst alles im Chaos versinken würde – das Chaos: bekanntermaßen ursprünglich der Abgrund, zumindest die Konturenlosigkeit –, so wäre das Gegenteil zum Chaos eben der Grund oder wenigstens der klare Konturenreichtum – und damit eine räumliche Dimension oder kurz gesagt ein Raum. Das transzendentale oder reine Ego wäre somit 277 | Dan Zahavi: The Experiential Self, a.a.O., S. 71. Im Original: »We are dealing with a culturally, socially, and linguistically embedded self that is under constant construction.« 278 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of Self, a.a.O., S. 325. 279 | Erinnert sei hier an Augustinus’ Gedächtnistheorie, der gemäß das Gedächtnis der unentstandene Innenhof meiner Erinnerung sei: »aula ingenti memoriae meae«, in: Augustinus: Bekenntnisse, a.a.O., Zehntes Buch, Kapitel 8, 14 (S. 506).

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auf der raumtheoretischen Ebene nichts anderes als ein Raum, in dem in einem zweiten Schritt die komplexeren Formen des Selbst entstehen, die ich auf einer höheren Ebene reflektieren und erinnern kann. Zuerst jedoch benötige ich, um im Bild zu bleiben, einen Grund, auf dem ich stehen kann; die Konturen geben mir Orientierung und Auskunft auf die Frage, wo ich mich befinde. Von hier aus erscheint auch Zahavis alltagsphänomenologischer Hinweis auf die Bedeutsamkeit von Grenzen und deren Rolle für die eigene Integrität in einem anderen Licht: Jede von außen drohende oder erfolgende Zerstörung der im Alltag üblichen Grenzen – und wären es nur die Grenzen meines Gartens – bedroht auch mein Selbsterleben, bedroht mein »transzendentales« oder »reines Ego«, um mit Zahavi zu reden, bedroht damit mein Überleben überhaupt.

Dorothée Legrand oder Von der präreflexiven Struktur bis zum System als Selbst Zunächst plädiert Dorothée Legrand, die französische Zahavi-Adeptin und indirekte Husserl- und Merleau-Ponty-Schülerin, in ihrer Auseinandersetzung mit Thomas Metzingers Selbstmodelltheorie dafür, nicht wie Metzinger das ›Selbst‹ zu eliminieren, sondern es neu zu definieren280: Wenn Systeme existieren, die unter einem transparenten Selbstmodell operieren, bedeutet das für Legrand einfach, daß Selbste existieren – sie bezeichnet also zumindest hier diese bestimmten Systeme als Selbste.281 Grundsätzlich jedoch sieht sie drei mögliche Definitionen oder Aspekte des Selbstbegriffs: 1. Das Selbst sei ein dynamisches System, welches von einem Netzwerk erzeugt werde mit eigenen interagierenden Komponenten, in stetiger Beziehung auf das Nichtselbst.282 – Hierbei geht es vor allem darum, daß ein Netzwerk erst dann als ein Selbst betrachtet werden kann, wenn es eine Differenz zwischen zwei Sphären hervorruft und dabei sich selbst als die eine Sphäre wahrnimmt. 2. Das Selbst sei nicht das, was dem Selbstbewußtsein als gegeben erscheint, sondern es sei die präreflexive subjektive Struktur der phänomenalen Erfah280 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 11 (5), 2005, S. 14 (http://psyche.cs.monash.edu.au/). 281 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, a.a.O., S. 14. Legrands Satz im Original: »[…] from a third-person perspective, I have briefly stated above that to claim that there exist conscious systems operating under transparent self-models means that there exist selves. In other terms, the self is notably the conscious system operating under transparent self-models.« Daraus geht eindeutig hervor, daß Legrand zumindest an dieser Stelle den Begriff ›Selbst‹ auf das (transparent selbstmodellierte) System als Ganzes bezieht und nicht auf das ›subjektive Erleben, man selbst zu sein‹. – Thomas Metzinger geht mit Legrands Argumentation nicht d’accord und bezeichnet diese als eine »petitio«. Siehe T. M.: Reply to Legrand: Content from the Inside Out, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 12 (4), 2006, S. 5 (http://psyche.cs.monash.edu.au/). 282 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, a.a.O., S. 14. Übersetzung M.M. Original: »[…] the self is a dynamic system constituted by a network of production of its own interacting components, in constant relation with the non-self.«

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

rung. (Dabei sei das Selbst, so Legrand, eine Art reales verborgen-enthüllendes Fenster.)283 – Hier spielt Legrand auf das bloße subjektive und nicht reflektierte Erleben eines Menschen an – das, was sie an anderer Stelle das Selbst-als-Subjekt nennt (siehe unten). 3. Das Selbst (als System) sei nicht rein phänomenal und es (als Subjekt) sei nicht reduzierbar auf den intentionalen Bewußtseinsinhalt.284 – Diese Aussage läßt sich in zwei Aussageteile gliedern. • Teil eins (Selbst als System): Man kann zwar das ›System Mensch‹ als Selbst betrachten, quasi als Organismus-Selbst; jedoch ist dieses System kein phänomenales Selbst. Das phänomenale Selbst würde in diesem Fall erst vom umfassenderen Organismus-Selbst innerhalb dieses Organismus-Selbst prozessual hervorgerufen. – • Teil zwei (Subjekt): Hier spielt sie auf den in Punkt 2) angeführten Aspekt des Selbst-als-Subjekt an: es geht beim Selbst (als Subjekt) nicht allein um den intentionalen Inhalt (etwa die Blume, die ich betrachte), sondern auch um das zugleich präreflexiv vorhandene Selbstgefühl, welches beim Betrachten der Blume verborgen-enthüllend mit da ist.

Dorothée Legrand und die phänomenologischen Dimensionen des Selbst 285 Jenseits ihrer Diskussion von Thomas Metzingers Nichtselbsttheorie und den genannten drei möglichen Selbstaspekten setzt sich Dorothée Legrand mit den phänomenologischen Dimensionen des körperlichen Selbstbewußtseins auseinander, erforscht das Bewußtsein des körperlichen Selbst-als-Subjekt (im Sinne eines intransitiven Erlebens) und zeigt so, wie die Sphären von Selbst und Welt ineinander verschlungen sind (»self-world intertwining«286).287 Hier besonders wichtig ist ihre Darstellung, wie das Selbst-als-Subjekt ein lokalisiertes und orientiertes Volumen bildet. 283 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, a.a.O., S. 15. Übersetzung M.M. Original: »The self is not what is given by consciousness of the self, but the pre-reflexive subjective structure of phenomenal experience.« (Dort auch die Zusatzformulierung über das Selbst als »real hidden-revealing window«.) 284 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, a.a.O., S. 16. Übersetzung M.M. Original: »[…] the self (as system) is not purely phenomenal and it (as subject) is not reducible to the intentional content of consciousness.« 285 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, in: Shaun Gallagher (Hg.): The Oxford Handbook of the Self, a.a.O., S. 204-227. (Ich gehe nur auf bestimmte Aspekte von Legrands vielschichtigem Text ein.) Siehe auch: Dorothée Legrand: Pre-reflective Self-as-Subject from Experiential and Empirical Perspectives, Consciousness and Cognition 16, 2007, S. 583-599.) 286 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 212. 287 | Peter Sloterdijk betont auf der phänomenologisch-psychonautischen Ebene auch die weltabgewandte Seite des Menschen, eine Anthropologie, »in der die Zumutung von Mensch und Welt gekündigt wird. […] Er [der Mensch, M.M.] steht auch mit dem Rücken zur Welt – als ein Kind der Nacht oder des freien Nichts.« In: P. S.: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993-2012, hg. von Bernhard Klein, Berlin 2013, S. 34.

Kapitel II.3

Legrand geht zunächst d’accord mit dem Konzept von Merleau-Ponty und Renaud Barbaras, demgemäß das körperliche Selbst nicht reduziert werden könne auf reine Auto-Affektion, sondern vielmehr eine Beziehung zum Außen oder zur Außenwelt besitze.288 Das Selbst-als-Subjekt charakterisiert Legrand dabei als nichtmetaphorisch körperlich (bodily). Auch für Husserl, so Legrand, trage der Körper dazu bei, daß ein Objekt als ein und dasselbe erscheine auch über die Variationen von dessen konkret situativen Erscheinungen hinaus; dabei spiele der kinästhetische Umgang damit – die Einheit von Sich-bewegen und Bewußtsein dieser Bewegung – eine besondere Rolle.289 Das heißt (in den Worten von Dan Zahavi, den Legrand zustimmend zitiert): »Jede Erfahrung der Welt wird vermittelt und ermöglicht durch unsere Verkörperung (embodiment).«290 Worauf Legrand also an dieser Stelle zu zeigen versucht, ist die Ansicht, daß der Körper als Subjekt erfahren werde, und das heißt, er werde in einer Form der Transparenz erfahren, durch welche die Welt erscheint. (Was hier gleich unten anhand der Frage nach der Orientierung im Raum nochmals berührt wird.) Ob die Formulierung, daß der Körper als Subjekt erfahren werde, eine mit dem Alltagsempfinden kompatible wäre, darf man bezweifeln: im Alltag würde wohl niemand sagen: ich erfahre den Körper als Subjekt, sondern man würde beispielsweise sagen: ›beim 1000-Meter-Lauf konnte ich schon vor der letzten Runde nicht mehr, und ich quälte mich unter Schmerzen ins Ziel‹, oder ›ich genoß die Frühlingssonne, die mich so angenehm wärmte‹, oder ›mir wird schlecht, wo ist dein Bad?‹ Und insofern ich mir so erscheine, erscheint mir zugleich auch die Welt. Was jedenfalls die erwähnte Transparenz angeht, gehören Körper- und Weltbewußtsein auf dieser Stufe »zu ein- und demselben Bewußtseinsakt«291 (hierin folgt Legrand Merleau-Ponty und Husserl). Ein weiteres Beispiel (welches nicht bei Legrand steht) wäre etwa das in der Sonne auf blitzende Fenster, das gerade auf der anderen Straßenseite geöffnet wird und dessen grelles Licht meine Augen schmerzt. An ihm wird deutlich, wie Raumerleben (der Raum bis zu dem Fenster mitsamt dem Fenster) und Selbsterleben (das schmerzhaft geblendete Auge) aufs 288 | Siehe Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 211. 289 | Siehe Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 211. – Siehe zur Kinästhese à la Husserl auch oben im I. Hauptteil den Abschnitt ›Der physische Raum und der psychische Raum‹. 290 | Zitiert nach: Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 211. Übersetzung M.M. – Wie oben bereits wiederholt angemerkt, halte ich Ausdrücke wie ›Verkörperung‹ oder ›Embodiment‹ letztlich für unbrauchbar, weil sie insgeheim die Assoziation des Leib-Seele-Dualismus-Schemas wecken. Der in meinen Augen am wenigsten problematisch erscheinende Ausdruck wäre einfach das Adjektiv ›körperlich‹: Menschen sind körperliche Wesen, der Geist ist körperlich etc. (wobei ›körperlich‹ eben nicht als antonymischer Ausdruck für ›nicht-körperlich‹ verstanden werden darf). Wie ebenfalls bereits angemerkt bleibt von der ausschließlichen Verwendung des Adjektivs ›körperlich‹ die wichtigste Unterscheidung in der Philosophie des Geistes unberührt – die Differenz zwischen Innen- und Außenperspektive, zwischen Erster-Person-Perspektive und Dritter-Person-Perspektive. 291 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 212. Übersetzung M.M. Original: »[…] one and a single act of consciousness […]«.

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engste zusammenhängen können und die Trennung in Welt-Raum-Bewußtsein und Körper-Selbst-Bewußtsein hier unmöglich wäre. Hinsichtlich der Orientierung im Raum betont Legrand, wie alles, was man sieht oder sich vorstellt, einen bestimmten Bezug zu einem selbst habe: alles erscheine mir in einer bestimmten Weise – das Pferd etwa läuft von links nach rechts, oder es rennt direkt auf mich zu etc. Dabei kann das Auge als sehendes (das Auge-alsSubjekt) nicht selbst gesehen werden (nur das Auge-als-Objekt im Spiegel). Der sehende Körper sei also transparent in dem Sinne, daß man die Welt durch ihn hindurch erfahre.292 Dabei müsse man zwei unterschiedliche Formen der Transparenz unterscheiden: Einmal die biologisch-körperliche Verankerung der subjektiven Perspektive im Körper – die nicht erfahren werden könne, die sich allenfalls empirisch oder logisch erschließen lasse. Diese Form der Transparenz sei nicht Teil einer phänomenologischen Vivisektion des subjektiven Erlebens. Die andere Form, die Legrand nach Merleau-Ponty formuliert, sei eine, in der das Subjekt transparent (unauffällig) sei, insofern es nicht als Objekt gesehen werde, dabei aber doch quasi sichtbar bleibe, insofern es zugleich implizit als Subjekt erfahren werde.

Dorothée Legrand und die orientierte Voluminosität 293 Legrand greift im Zuge ihrer phänomenologischen Vivisektion auch Husserls Unterscheidung zwischen Körper und mentalen Zuständen auf, wonach der Körper ausgedehnt sei und die mentalen Zustände nicht. Dabei möchte Legrand, auch um Verwirrungen mit dem Begriff der Extension zu vermeiden, lieber von Voluminosität sprechen. (Wobei der Begriff Voluminosität sich doch auch aus einem anderen Grund anbietet, den Legrand nicht aufführt: Voluminosität betont die drei- oder mehrdimensionale Wahrnehmung deutlicher als der Begriff der zweidimensionalen Extension.) Worauf es hier ankommt, ist Legrands wichtige These, daß die eigene transparente Subjektivität als körperlich voluminös erfahren werde. Wobei Legrand die Erfahrung der Voluminosität unabhängig von körperlichen Wahrnehmungen fokussieren möchte – (mit körperlichen Wahrnehmungen meint sie hier mutmaßlich explizit bewußt gemachte körperliche Wahrnehmungen auf oder in der Haut wie etwa ein schmerzender Stich; denn natürlich ist auch das Erleben von Voluminosität ein Effekt körperlich-umweltlicher Raumwahrnehmung294). Legrand versucht dabei, die Voluminositätserfahrung der Subjektivität mit Hilfe des Sehens zu erläutern. So, wie ich beim Sehen mit dem Auge das Auge selbst nicht sehe, sondern lediglich das, was ich eben sehe, so erlebe ich in der subjektiven Erfahrung die körperliche Subjektivität nicht als Objekt, sondern in Form eines 292 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 215. 293 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 216f. 294 | Im Original heißt die entsprechende Stelle: »One’s transparent subjectivity is experienced as bodily volumnious and this experiential dimension is irreducible to (is not necessarily mediated by) bodily sensations.« Siehe Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 216.

Kapitel II.3

intransitiven Volumens. Anders gesagt: das körperliche Selbst erlebe sich selbst als ein Volumen, das verortet sei im Raum und orientiert in Beziehung zu den Dingen in der Welt.295 Das wiederum heißt, daß die erlebte Räumlichkeit der Welt in direkter Beziehung stehe zur erlebten Voluminosität, Verortung und Orientierung des eigenen Körpers.296 Hinsichtlich der Frage nach der Voluminosität und dem räumlichen Empfinden297 gelte gemeinhin der Körper als der Anker der Raumwahrnehmung und der räumlichen Perspektive. Die Wahrnehmung des Subjekts gehe von einem ›Hier‹ aus. Anders als Husserl und Waldenfels298 postuliert Legrand jedoch nicht einen Nullpunkt der Orientierung, was die Raumwahrnehmung betrifft, sondern eben ein »orientierendes Volumen« (orienting volume 299). Ich erlebe mich als körperliches Subjekt, und das Selbstbewußtsein komme zu sich über den Umweg über die äußere Welt300, das heißt: indem ich mich der Welt zuwende, komme ich in die Lage, mir meiner selbst bewußt zu werden, vor allem meiner selbst als einem körperlichen Subjekt 301. Der Körper werde folglich als verortet in einem Raum erlebt, welcher über die Körpergrenzen hinausreicht (das heißt, der Körper werde in der Regel nicht zuerst über die Verortung von Wahrnehmungen auf den Körpergrenzen erlebt). Sich erleben heißt also den Raum um den Körper erleben und die eigene körperliche Orientierung in diesem Raum. Um diesen wichtigen Punkt zu wiederholen: Körperliches Selbstbewußtsein werde zuerst durch die Struktur des (visuellen) Wahrnehmungsfeldes strukturiert, noch vor der Verortung von (taktilen) Körperwahrnehmungen auf den Körpergrenzen. Sicherlich wäre diese These differenziert zu diskutieren – hin etwa auf die Frage nach der konkreten Spezifik des visuellen Wahrnehmungsfelds (Differenz hell/dunkel, farbig/schwarzweiß) und hin auf die Fragen nach olfaktorischen und allen sonstigen sensorischen Wahrnehmungsfeldern (etwa das Spüren von Wind, von Wasser, von Kälte). Hier jedoch genüge Legrands Hinweis, daß körperliche

295 | Legrand: »[…] what matters […] is that one experiences oneself as a volume by experiencing one’s location and orientation in space: through his vision of an object in front of him, the seeing subject experiences himself as having a back and front, a right and left, a down and up.« In: D. L.: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 217. 296 | Legrand: »[…] the experienced spatiality of the world is correlational to the experienced voluminosity-location-orientation of one’s body.« In: D. L.: Phenomenological dimensions of bodily self-consciousness, a.a.O., S. 217. Kursive Hervorhebung im Original. 297 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 217f. 298 | Siehe Bernhard Waldenfels: Leibliches Wohnen im Raum, a.a.O., S. 184. 299 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Cdonsciousness, a.a.O., S. 217. 300 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 217f. 301 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 218.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Wahrnehmungen auf den Körpergrenzen das Erleben der Transparenz des voluminösen, verorteten, orientierten Körpers voraussetzen.302 Was also bedeutet, daß Wahrnehmungen nur dann als Teil des Körpers (internal to the body303) wahrgenommen werden können, wenn man zuvor einen Raum wahrnimmt, der sich jenseits des eigenen Körpers befindet.304 Der Körper sei demnach immer eingebettet in einen umgreifenden Raum, befinde sich als verortetes und orientiertes Volumen immer in einem Raum, der den eigenen Körper überschreitet. Und den Körper erleben, heißt eben auch, seine Eingebundenheit in den ihn umgebenden Raum erleben. Der Mensch habe also, so Legrand, stets einen Sinn für den Raum, der die eigenen Körpergrenzen überschreitet, und dieser Raumsinn sei korrelativ zum körperlichen Selbstbewußtsein (letzteres im Sinne des Erlebens des Körpers als ein verortetes und orientiertes Volumen im Raum). Wenigstens erwähnt werden sollte Legrands phänomenologisch ausgefalteter und inspirierender Hinweis auf das Phänomen der Blicke, die mich berühren können. Auf der Straße werden Passanten im Laufe eines Tages von tausenden Blicken berührt, Blicken von unterschiedlicher Zudringlichkeit. Zuhause hingegen, in der Weltpause, werde ich von den Blicken befreit, erlebe ich eine Umgrenzung, die nicht von ihnen touchiert oder durchbrochen wird.305 Öffentlichkeit ist also auch jene Sphäre, in der Menschen Schwierigkeiten haben, eine Privatsphäre aufrechtzuerhalten. In der Öffentlichkeit bleibe ich nicht unbemerkt, sondern wird mein orientiertes Volumen von außen mit Blicken durchbrochen und durchstochen, werde ich am ganzen Leib angetatscht und einer Bewertung unterworfen – fast als wäre ich ein Heiliger Sebastian, der statt von einem Schock von Pfeilen von einem Schwarm von Blicken getroffen und durchlöchert wird. Es gibt draußen keinen Paravent für Blicke. Ebenfalls erwähnt werden sollte das Wechselspiel von Raumwahrnehmung und Selbstwahrnehmung, welches Legrand etwa anhand der Frage ›Ist es hier kalt – oder liegt es an mir?‹306 diskutiert. Angenommen, ich betrete in einer Nahrungsmittelfabrik einen Kühlraum und denke oder sage: »hier ist es aber kalt«, dann stelle ich automatisch einen impliziten oder expliziten Bezug zwischen einer Raumwahrnehmung und einem körperlich-subjektiven Gefühl her: Die Aussage ›Hier ist es aber kalt‹, heißt dann in der Regel so viel wie: »mir ist es zu kalt« und im weiteren »ich friere hier«. Anders formuliert: Mein Selbst wird von der vergleichsweise niedrigen Raumtemperatur moduliert, folglich friere ich, projiziere das Gefühl 302 | Die Aussage in Legrands Original: »I intend to argue that the experience of bodily sensations […] presupposes the experience of the transparency of the voluminous-locatedoriented body […].« In: D. L.: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 221. 303 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 222. 304 | Legrand schreibt: »To be non-metaphorically a bodily self, one needs to experience oneself as a body in a space extending beyond oneself.« In: D. L.: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 222. 305 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 220. 306 | Dorothée Legrand: Phenomenological Dimensions of Bodily Self-Consciousness, a.a.O., S. 220f.

Kapitel II.3

jedoch auf den Raum – »dieser Raum ist kalt«. In Legrands Worten: Körperwahrnehmungen sind nicht nur nicht-intentionale Körperwahrnehmungen, sondern zugleich und zum Teil vor allem Träger welt-gerichteter Intentionalität. Hinsichtlich der raumselbsttheoretischen Aspekte lassen sich diese Anmerkungen dahingehend zusammenfassen, daß Dorothée Legrand zeigen kann, daß alles, was ein Mensch sieht oder sich vorstellt, einen bestimmten Bezug zu ihm selbst und von daher schon eine räumliche Dimension hat. Sie weist darauf hin, wie das Selbst-als-Subjekt ein lokalisiertes und orientiertes Volumen bildet und auch so erlebt wird (und nicht als Nullpunkt der Orientierung à la Husserl oder Waldenfels). So gesehen könnte man Legrands Begriff des körperlichen Selbst auch als räumliches Selbst begreifen: das räumliche Selbst erlebt sich als ein Volumen, das im Raum verortet ist und in Beziehung zu den Dingen in der Welt hin orientiert ist. Das wiederum heißt, daß die erlebte Räumlichkeit der Welt in direkter Beziehung zur erlebten Voluminosität, Verortung und Orientierung des eigenen Körpers steht. Der Mensch erlebt sich folglich immer in einem Raum, welcher über die Körpergrenzen hinausreicht. Ich komme zu mir anhand des Umwegs über die äußere Welt. Indem ich mich der Welt zuwende, komme ich automatisch in die Lage, mir meiner selbst bewußt zu werden – als einem körperlichen, in einem Volumen orientierten Subjekt.

Shaun Gallagher, das Ich und die körperlichen Geschichten und Metaphern 307 Der phänomenologische Kognitionsphilosoph Shaun Gallagher legt in seinen Ausführungen über Thomas Metzingers Selbstmodelltheorie zunächst die empiristisch selbstverständliche Prämisse zugrunde, daß tatsächliche Entkörperung (»real desembodiment«) unmöglich sei – ich kann mich also nicht vom Körper trennen und weiterleben. Und das heißt: tatsächliche außerkörperliche Erfahrungen sind unmöglich. (Davon unbenommen sind andere Formen von außerkörperlichen Erfahrungen durchaus möglich, eine Tatsache, der Gallagher vermutlich zustimmen würde.308) Der Grund dafür, daß Entkörperung nicht möglich sei, liege einfach darin, daß es nichts gebe, wovon man den Körper subtrahieren könnte.309 Das jedoch läßt zwei (nicht deckungsgleiche) Interpretationsmöglichkeiten zu: entweder können wir deshalb den Körper nicht von etwas abziehen, weil da sonst einfach niemand ist; folglich ist das, was man Selbst nennt, eine Illusion (das ist die Metzinger-Position). Oder wir können den Körper deshalb nicht abziehen, weil wir – pointiert gesagt – einfach der Körper sind (das ist die Gallagher-Position). 307 | Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix: Living the Virtual Life with a Real Body, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 11 (5), 2005, S. 8 (http://psyche.cs.monash. edu.au/). 308 | Beispiele dafür siehe bei Thomas Metzinger: Reply to Gallagher: Different Conceptions of Embodiment, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], Psyche 12 (4), 2006, S. 2ff. (http://psyche.cs.monas.edu.au/). – In bezug auf außerkörperliche Erfahrungen siehe unten auch den Abschnitt ›Zurück zu Metzingers Theorie mit besonderer Rücksicht auf Perspektive, Volumen, außerkörperlicher Erfahrung und Innenraum‹. 309 | Siehe Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix, a.a.O., S. 8.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Zunächst erinnert Gallagher daran, daß ich über den Körper, der Teil der wirklichen Welt ist, auch selbst Teil der wirklichen Welt bin. Dabei beschreibt er das, was er ›Selbst‹ nennt, einfach als man-selbst als eine vollständige körperliche Einheit ( full-fledged embodied entity310). Wobei das, was ich als mich-selbst erlebe, ein bestimmtes Unter-Set (subset) alles dessen sei, was mein Körper, zu dem mein Gehirn gehört, tue.311 Eine Illusion sei mein präreflexives Erleben schon allein deshalb nicht, weil das präreflexive Erleben durch meine wirkliche Körperlichkeit (real embodiment) hervorgerufen werde – mit Hilfe eines Gehirns, welches Teil eines wirklichen körperlichen Systems sei, welches wiederum Teil einer wirklichen natürlichen Umwelt sei.312 Das allerdings bedeute nicht, daß ich mich ausschließlich als Körper (body) erleben würde, denn die natürliche Konfiguration des Körpers erlaubt eben auch die Hervorbringung von Überschüssen wie etwa Erzählungen (narratives) und Metaphern, welche uns weit über die Gleichung von Selbst und Körper hinaustragen – weshalb Gallagher konkludiert: Ich bin dieser Körper (body), und zugleich bin ich mehr als dieser Körper (body313). Die erwähnten Erzählungen und Metaphern seien dabei natürlich immer rückgebunden an den jeweiligen Körper, und weil die Körper tatsächlich existieren, heiße das auch, daß die körperlichen Unter-Sets der Selbste tatsächlich existieren – Selbste, die sich eben sowohl körperlich erleben wie auch darüberhinaus als mehr als Körper (as more than bodies314).315 310 | Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix, a.a.O., S. 8. Gallagher: »What I call my ›self‹, is simply myself as a full-fledged embodied entity.« 311 | Es sei immer wieder betont: ein Körper tut nichts, er handelt auch nicht; lediglich psychologisch beschreibbare Menschen tun etwas oder handeln so und so. 312 | Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix: Living the Virtual Life with a Real Body, a.a.O., S. 8. Sinngemäß übersetztes Referat M.M. Original: »What I pre-reflectively experience of this existence is not an illusion, since my pre-reflective experience is itself generated by my real embodiment – by a brain that is part of a real bodily system, which is part of a real environmental system.« 313 | Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix: Living the Virtual Life with a Real Body, a.a.O., S. 8. Übersetzung M.M. Original: »I am this body, and I am more than this body.« 314 | Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix: Living the Virtual Life with a Real Body, a.a.O., S. 8. 315 | Thomas Metzinger kritisiert hinsichtlich einer bestimmten Stelle bei Gallagher das vorgebliche Vorhandensein von dualistischen Intuitionen (Thomas Metzinger: Reply to Gallagher: Different Conceptions of Embodiment, a.a.O., S. 6). Metzinger bezieht sich auf folgende Sätze von Gallagher: »Der gelebte Körper, der Körper, den ich lebe, ist der tatsächliche biologische Körper, und wenn er weggenommen werden würde, müßte das Leben-unterstützende System, welches ihn ersetzt, notwendigerweise ein tatsächlich komplexes System sein, das ich leben und auf die gleiche Weise erleben könnte, wie ich meinen Körper lebe und erlebe.« (Shaun Gallagher: Metzinger’s Matrix, a.a.O., S. 7. Übersetzung M.M. Original: »The lived body, the body I live, is the real biological body, and if it were taken away, the life-support system that would have to replace it would necessarily be a real complex system that I could live and experience in the same way as I live and experience my body.«) Metzinger expliziert die zitierte Gallagher-Stelle mit der Analogie eines Menschen, der ein Pferd reitet: entsprechend wäre – gemäß Metzingers Interpretation der Gallagher-Stelle –

Kapitel II.3

So läßt sich zu Shaun Gallagher zunächst festhalten, daß sein dezidierter körperbezogener Ansatz hinsichtlich des Selbstbegriffs etwas erfrischendes hat. Gleichwohl scheint es nicht gewiß zu sein, ob sein Selbstbegriff in jeder Hinsicht konsistent ist. Zum einen bezeichnet er den Körper als Selbst (eine vollständige körperliche Einheit/a full-fledged embodied entity); diese Aussage bezieht sich offenbar ausschließlich auf eine Selbstbeschreibung aus der Dritte-Person-Perspektive; sie besagt, auf den Punkt gebracht: jeder Mensch ist ein Selbst. (Genausogut könnte man schreiben: Jeder Hund ist ein Selbst etc.) Doch wenn es darum geht, wie man sich selbst fühle – also die Erste-Person-Perspektive einnimmt –, spricht er von einem Unter-Set aller körperlichen Prozesse; das heißt, wenn ich mich selbst fühle, bezieht sich das – auf der empirischen Ebene – ausschließlich auf ein UnterSet der körperlichen Prozesse, nicht auf alle Prozesse. Ob darüberhinaus das präreflexive Erleben dem entspricht, wie man sich selbst fühlt, muß hier offenbleiben. Daß er das präreflexive Erleben nicht als Illusion abtut, weil es ja durch die wirklichen körperlichen Prozesse hervorgerufen werde, ist jedenfalls schlüssig. Leider gibt Gallagher keine Auskunft darüber, wie er den ontologischen Status des Begriffs ›Illusion‹ einschätzt; ohne diese Abklärung jedoch hat seine Aussage nicht den Wert, den sie haben könnte. Auch wenn er schreibt, Menschen seien Körper und zugleich mehr als Körper (nämlich Erzählungen und Metaphern), so müßte er das Verhältnis zwischen der Sphäre des Körpers und der Sphäre der Erzählungen und Metaphern erläutern: Wenn Erzählungen nämlich durch körperliche Prozesse hervorgerufen werden, heißt das dann zum Beispiel auch, daß (gehörte oder gelesene) Erzählungen umgekehrt auch körperliche Prozesse beeinflussen können?

das Selbst der reitende Mensch und der Körper das Pferd, welches durch ein anderes ersetzbar sein müßte. Wenn Gallagher das gemeint haben sollte, dann müßte er sich in der Tat dualistische Intuitionen vorhalten lassen. Doch halte ich Metzingers Interpretation für nicht richtig – weil sie den Kontext von Gallaghers Ausführung nicht zureichend berücksichtigt. Ohne daß ich diesen hier schildern könnte, ging es Gallagher gerade um die Abwehr einer Suggestion Metzingers, nämlich jener Suggestion, daß das berühmte gedankenexperimentelle Gehirn im Tank bei Hirnprozessen, die identisch wären mit jenen eines wirklichen lebendigen Menschen, gewissermaßen den gleichen Bewußtseinsinhalt hervorrufen würde wie das Gehirn des wirklichen Menschen – ähnlich wie es im Spielfilm ›Matrix‹ der Wachowski-Geschwister (Wachowski-Geschwister: Matrix, USA und Australien 1999) dargestellt wurde. Worauf Gallagher also hinaus wollte, war – geradezu im Gegensatz zu Metzingers Interpretation – die Betonung, daß ich von meinem Körper untrennbar bin, daß ich also nicht absteigen kann wie der Reiter vom Pferd, um ein neues zu besteigen. Gallaghers Formulierung freilich – mit ›dem den Körper ersetzenden Leben-unterstützenden System‹ – ist isoliert betrachtet tatsächlich dualistisch, aber im Gesamtkontext klarerweise nicht so gemeint, weshalb ich sie auch als sehr unglücklich bezeichnen würde. Nochmals: Mit diesen Sätzen wollte Gallagher gerade betonen, daß man mir meinen Körper nicht wegnehmen kann. Ironischerweise könnte Metzinger seine Kritik an Gallagher auf eine eigene Formulierung anwenden, wenn er – Gallagher zitiert die Stelle, allerdings in einem anderen Kontext (Gallagher: Metzinger’s Matrix, a.a.O., S. 8) – in ›Being No One‹ schreibt: »Als Handelnde, leben wir unseren Körper.« (T. M.: Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, a.a.O., S. 296.) Übersetzung M.M. Original: »As agents, we live our body.«

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Was also die bezweifelte Konsistenz von Gallaghers Selbstbegriff angeht, so betrifft der Zweifel vorderhand die Beschreibungsebenen. Wenn Gallagher demnach schreibt, Menschen seien Körper und zugleich mehr als Körper, so vermischt er hier Außenperspektive und Innenperspektive. Aus der Außenperspektive werden ja auch die Erzählungen durch körperliche Prozesse hervorgerufen – folglich sind aus dieser Perspektive auch die Erzählungen körperlich, weshalb Gallagher aus dieser Perspektive nicht schreiben kann, Menschen seien Körper und mehr als Körper, sondern lediglich schreiben dürfte, Menschen seien Körper (die Erzählungen sind ja Teil des Körpers). Aus der Innenperspektive hingegen erlebt man Erzählungen nicht so ›rein‹ körperlich (wie etwa Müdigkeit), man erlebt sie allerdings auch durchaus als sinnlich; sie bewegen oder langweilen einen, sie können einen anstrengen, ja sogar einem Bauchschmerzen bereiten – durch jede dieser Erscheinungsweisen rufen sie einem ihre körperliche Verankerung mehr oder weniger stark ins Bewußtsein. Durch diese Erinnerung daran, wie man Erzählungen erlebt, wird jedoch auch etwas anderes deutlich: daß es vielleicht nur wenige phänomenal erlebbare körperliche Prozesse gibt, die man als ›rein‹ körperlich beschreiben würde: vielleicht die große Müdigkeit, vielleicht heftige Kopfschmerzen, vielleicht noch dies oder das. In der Regel jedoch erleben Menschen die körperliche Sphäre durchaus in narrativer Form im weitesten Sinne bzw. erleben sie Erzählungen nie unkörperlich, sondern immer körperlich, so daß die körperlichen und die erzählerischen Sphären letztlich in eins fallen: beim Schwimmen fühle ich mich pudelwohl, das Essen hebt meine Laune, das gute Gespräch bereitet mir Freude, der Krimi erzeugt Spannung, der Tod macht mir Angst etc. – diese Beispiele zeigen, wie das Körperliche und das Erzählerische (oder das Erlebte) nicht voneinander zu trennen sind, sondern als eins empfunden werden. In bezug auf raumtheoretische Belange läßt sich hier zu Gallaghers Selbstbegriff nur sagen, er zeige, daß der Mensch sich nicht allein im ›rein‹ Körperlichen erschöpfe, sondern erst über das ›Mehr‹ zu sich komme, also über die Räume der Erzählungen, der sozialen Beziehungen, der Erinnerungen. Diese von mir jetzt Räume genannten Bereiche sind es eigentlich, die das Selbstverständnis eines Menschen ausmachen, in ihnen erst wird er zu einem ›ausgewachsenen‹ Menschen. Wenn Menschen wachsen, wachsen nicht nur ihre Knochen, sondern sie wachsen in die Sphären ihrer Erzählungen hinein. So gesehen wachsen auch Erwachsene weiter. (Wenn sie nicht psychisch stocken und das Wachstum verweigern oder womöglich zurückschrumpfen in eine stille Nische.)

Marcello Ghin, wirkliche Selbste und das transparent selbstmodellierte Systemselbst Marcello Ghin möchte den Begriff eines Selbst nicht aufgeben und postuliert einen Selbstbegriff, der in seinen Augen mit dem Begriff des Selbstmodells à la Metzinger kompatibel sei.316

316 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, in: What a Self Could Be, in: Psyche – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness, [Online-Buchsymposium zu Metzingers Selbstmodelltheorie], 11 (5), 2005 (http://psyche.cs.monash.edu.au/).

Kapitel II.3

Dabei führt Ghin den Begriff des »starken Selbst« (strong self317) ein, womit er den von ihm abgelehnten Begriff eines ontologisch substantiell verstandenen, organismusunabhängigen Selbst begreift. Da Metzinger mit seiner These, daß es keine Selbste gebe, auf einen solchen substantialistischen Begriff rekurriere, wie Ghin herausstellt 318, würde das Gros der naturalistischen Bewußtseinsforscher ihm zustimmen – denn es handle sich bei Metzingers These praktisch um eine in der Neuzeit seit Locke und Hume virulente Selbstverständlichkeit im Kontext jeder empiristisch-monistisch ausgerichteten Bewußtseinsforschung. Ghin kann sich allerdings nicht Metzingers These zu eigen machen, daß es jenseits der ontologischen These hinaus keine Selbste gebe und wir lediglich »halluzinierte Selbste« (hallucinated selves) seien; nein, betont er, wir sind »wirkliche Selbste« (real selves319). Der Begriff des Selbst, den er (aus der Außenperspektive, wie man hinzufügen muß) proponieren möchte, besagt somit, daß ein Selbst »ein metabolisches«320, »sich selbst steuerndes«321, »informationenprozessierendes«322, »sich selbst erhaltendes System ist, welches mit Hilfe eines funktional angepaßten phänomenalen Selbstmodells operiert«323. Bei der Bewertung dieser Selbstdefinition ist zunächst zu beachten, daß Ghin – ähnlich wie Gallagher – keine innenperspektivische Beschreibung dessen liefert, was Metzinger das phänomenale Selbst nennt; vielmehr ist seine Selbstdefinition letztlich eine mögliche, wie bemerkt, außenperspektivische Beschreibung des Menschen. Man kann den Menschen so beschreiben, wie Ghin das hier getan hat, und man kann den Menschen in diesem Sinne, wenn man möchte, auch als ›Selbst‹ begreifen. Gleichwohl ist damit eben noch nichts über das innenperspektivische Selbsterleben ausgesagt – das erlebte Selbst ist eben nicht das (System-) Selbst, das ich nicht erlebe, sondern nur außenperspektivisch beschreiben und untersuchen kann. Das transparente phänomenale Selbstmodell also, das Menschen als phänomenales Selbst erleben und das auch Ghin in seiner Selbstdefinition mitaufführt, entstehe im Zuge bestimmter Prozesse im Menschen (um das nicht unproblematische Wort ›System‹ zu vermeiden – ein System ist in der Regel geschlossen, der Mensch jedoch prinzipiell auch offen für Veränderung). Eine Frage wäre demnach, welchen

317 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 3. 318 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 2. Ghin zitiert dort auch die Referenzstellen in Metzingers ›Being No One‹, an denen Metzinger einmal von der »zentralen metaphysischen These« (central metaphysical claim, S. 462) und einmal von der »zentralen ontologischen These« (central ontological claim, S. 563) spricht und damit eben das Selbst als ontologische Substanz meint. Wie aber auch an den hohen Seitenzahlen zu sehen ist, rückt Metzinger mit dieser wichtigen Klarstellung hinsichtlich seiner bereits auf der ersten Seite aufgestellten These sehr spät heraus. 319 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 5. 320 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 5: »A self is a metabolic self-sustaining system that operates under a functionally adequate phenomenal self-model […].« 321 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 9: »A self is an autocatalytic selfsustaining system operating under a PSM [= Phenomal Self Model, M.M.] […].« 322 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 5 und S. 9. 323 | Marcello Ghin: What a Self Could Be, a.a.O., S. 5.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

ontologischen Status Ghin diesem phänomenalen Selbst zusprechen würde. Leider sagt er dazu nichts. Wenn man sich also die Ghinsche Beschreibung des Menschen zu eigen machen wollte, so wäre in raumtheoretischer Hinsicht mindestens zweierlei zu beachten: In einer außenperspektivischen Beschreibung wäre der Mensch allein schon aufgrund seines Stoffwechsels ein die körperlichen Grenzen von Innen und Außen beachtendes räumliches Wesen. In einer innenperspektivischen Beschreibung wäre zu fragen, in welcher Form das phänomenale Selbst zu verstehen sei. Wie ich in dieser Arbeit zu zeigen versuche, meine ich, daß das phänomenale Selbst nur zu verstehen sei, wenn man davon ausgeht, daß es die auf der körperlichen Ebene existierenden Grenzen zwischen Innen und Außen auf der phänomenalen Ebene ›abbildet‹ bzw. in einer übersetzten Form erlebbar macht (hierzu mehr im III. Hauptteil).

K apitel II.3. c : I ch -S kep tizismus oder die A uflösung des S elbst Die Philosophie des Selbst läßt sich bei einer Neigung zur Pointierung in mindestens drei Strömungen gliedern, analog zum theologischen Wettstreit zwischen Monotheismus, Polytheismus und Atheismus: in die Strömung, in welcher ›das‹ Selbst im Sinne des Einen Selbst oder des einheitlichen Selbst theoretisch gestärkt wird; in die Strömung, welche unterschiedliche, heterarchische Selbste theoretisch postuliert und praktisch zuläßt; und in die Strömung, in der das Selbst in gewisser Weise baden geht und im Fluß ohne Wiederkehr verschwimmt. Es ist offensichtlich, daß ich hier letzten Endes auch eine ›polytheistische‹ Selbst-Position beziehen möchte. Bevor ich zum Schluß dieses II. Hauptteils auf die aktuell differenzierteste Nichtselbsttheorie eingehe, der Selbstmodelltheorie von Thomas Metzinger, erwähne ich stichwortartig beispielhafte Positionen heterarchischer Selbstbegriffe, die ich hier nicht gebührend diskutieren kann. Auf dem Feld feministischer Theorien offenbart sich allgemein eine kritische Einstellung gegenüber einem eher einheitlichen Begriff des Selbst, der gerade in seiner Einheitlichkeit auch als phallozentrisch abgelehnt wird; stattdessen zeigt sich in ihnen allgemein eine penetrierende Insistenz auf der Materialität der bedeutungstragenden körperlichen Handlungen.324 Insgesamt ist dieses Feld von unterschiedlichsten Strömungen und entsprechend unterschiedlichen Selbstbegriffen geprägt, von den Strömungen aus der Frühzeit des modernen Feminismus im 19. Jahrhundert bis zu aktuellen Formen wie jenen des sozialistischen Feminismus325, des poststrukturalistischen Feminismus, des postmodernen Feminismus, des körperlichen Feminismus326 und der vielen Feminismen unterschiedlichster Gruppen 324 | Siehe etwa die Arbeiten von Teresa de Lauretis, Annette Kuhn, Tania Modleski, Meaghan Morris oder Kaja Silverman. 325 | Hierfür stehen zum Beispiel die Arbeiten von Donna Haraway, etwa: Primate Visions. Gender, Race, and Nature in den World of Modern Science, New York 1989. 326 | Vgl. hierzu Elizabeth Grosz: Volatile Bodies. Towards a Corporeal Feminism, Bloomington, Indiana 1994, sowie E. G.: Space, Time, and Perversion. Essays on the Politics of Bodies, New York 1995.

Kapitel II.3

(Lesben-Feminismus, Schwarze-Frauen-Feminismus, Angestellten-Feminismus etc.). Die Psychologin Carol Gilligan etwa tauscht – in einer analogen Denkhandlung zu Kierkegaards Distanzierung von Hegel – Meads Begriff des ›generalisierten Anderen‹ durch den des »konkreten Anderen« aus; in einem autonomen Denkakt stellt sie das autonome Ich in Frage und formuliert Ansatzpunkte für eine Theorie der »situierten Selbste«327. Den Begriff des situierten Selbst greift Seyla Benhabib auf und plädiert für eine Art des interaktiven Universalismus, frei von metaphysischen Illusionen und geboren aus den Unterhandlungen zwischen historischen und kulturellen Kontingenzen.328 Auch Judith Butler analysiert ›Identität‹ nicht als Ergebnis einer einzigen, bewußten Handlung als vielmehr als Resultat einer performativen, wiederholten Diskurs-Übung, durch welche dann die Effekte eintreten sollen, die der Diskurs benenne.329 Auch wenn die (geschlechtliche) Identität eines Menschen vom sozialen Rahmen mitkonstruiert werde, gebe es dank Öffnungen im Rahmen Handlungsspielraum für Widerstand gegen Festlegungen. Auf dem Feld der ökosophischen und der feministisch-ökosophischen Philosophie führt der in sie eingeschlossene holistische Ansatz dazu, die Sicht des Menschen auf sich selbst als eines in einer Raummitte zentrierten Wesens aufzulösen. So wie Kopernikus die Erde aus ihrer universalen Mitte an den Rand des Sonnensystems katapultierte, so katapultiert der Ökosophismus den Menschen aus seiner stark auf sich bezogenen Mitte an den Rand des Natursystems.330 Jacques Derrida, auf heterophänomenologischem Feld selbstberufener Dekonstruktivist, Auf- und Abbauer in einem und insofern philosophischer Architekt und Raumtheoretiker, zeigt, wie in einem Parlament der Textexegeten das Gesetz der différance verabschiedet werden kann – die différance im Sinne von Unterscheidung und Verzögerung, ein Gesetz für die Lektüre von anwesenden Klassikern und abwesenden Nicht-Klassikern. Die différance läßt sich dabei raumtheoretisch als Öffnung eines Textkörpers interpretieren. Nur wenn ein Textkörper über eine Öffnung verfügt – die Öffnung ist die différance zur geschlossenen Fläche –, kann ein neuer oder veränderter und fruchtbarer Sinn in ihn hinein- und kann ein alter, versteinerter oder sinnlos gewordener Sinn ad acta gelegt werden. Insofern die Öffnung die Schnittstelle, die Schwelle zwischen Innen und Außen ist, über die das Neue einläuft, ist sie auch der Ort des Sich-Etwas-Vergegenwärtigens, wo das bisher Abwesende anwesend sein kann und eine paradoxe Form der Präsenz entsteht, die Präsentation des Nicht-Präsenten. Die différance ist somit auch eine Funktion des Stoffwechsels auf geistigem Gebiet. Insofern sich ein Text von ande327 | Carol Gilligan: In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge, Mass. 1982. 328 | Seyla Benhabib: Situating the Self. Gender, Community, and the Postmodernism in Contemporary Ethics, New York 1992. 329 | Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990; sowie J. B.: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ›Sex‹, New York 1993. 330 | Vgl. Leo Marx: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America, New York 1964; Val Plumwood: Feminism and the Mastery of Nature, London 1993; Diana M. A. Relke: Greenwor(l)ds. Ecocritical Readings of Canadian Women’s Poetry, Calgary 1999; Stacy Alaimo: Undomesticated Ground. Recasting Nature as Feminist Space, Ithaca 2000; Karla Armbruster und Kathleen R. Wallace (Hg.): Beyond Nature Writing. Expanding the Boundaries of Ecocriticism, Charlottesville 2001.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

ren absetzt, läßt sie sich zudem als Grenzziehung verstehen: wo einer eine Grenze zieht, entstehen räumliche Strukturen. Insofern jedoch auch der eigene Geist eine Art Text ist, ein nie zu Ende geschriebener, an dem unentwegt weitergeschrieben und gefeilt und der zum Teil umgeschrieben wird, läßt sich die différance des weiteren auf das eigene Selbst anwenden: Öffnung bedeutet Erweiterung meines Selbst, Abgrenzung bedeutet Verdeutlichung meines Selbst. Insgesamt entsteht damit ein dialektisch-vielschichtiges Bild vom Selbst. Ähnlich sehen das John Shotter und Kenneth J. Gergen, die das konventionelle Selbst- und Subjektkonzept durch ein dekonstruiertes Selbst im Sinne derridascher Dekonstruktion zu ersetzen versuchen; entsprechend beschreibt Edward E. Sampson das Selbst als »multidimensional und ohne Zentrum oder hierarchische Organisation«331. Auch der Philosoph James A. Ogilvy sieht das »neue Selbst heterarchisch, mehrdimensional« geformt, der Körper sei Modell und Territorium der »Balance und Harmonie von vielen Selbsten innerhalb eines personalen Selbst«332 . Auf dem Feld der postkolonialen Theorie wird zum Teil im Anschluß an Lacansche Identitätstheorien dafür argumentiert, daß Selbstidentität nur durch die Negation des Konzepts der Originalität oder Vollkommenheit zu erreichen sei, also durch das Prinzip des Sich-Absetzens und der Differenzierung.333 Mit dem Konzept des Dritten Orts, wie es der indisch-britische Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha formuliert hat, soll dabei der dynamische Bereich jenseits umrissener Identitäten bezeichnet werden; der Ort der Kultur könne folglich nicht mehr als einheitlich oder geschlossen verstanden werden, die Bipolarität von Ich und Anderer oder Dritter Welt und Erster Welt werde in dem besagten Dritten Ort aufgehoben.334 Auf dem Feld der Künstliche-Intelligenz-Forschung schließlich lehnt auch der eminente Exponent Marvin Minsky ein monolithisches Ich ab, proponiert stattdessen eine von Diversität geprägte »Gesellschaft des Geistes« (society of mind335). Alles, was den menschlichen Geist ausmache, seien unterschiedliche »Agenten«, deren Gesamtheit man unter dem Rubrum ›Ich‹ fassen könne. 331 | Edward E. Sampson: The Deconstruction of the Self, in: John Shotter und Kenneth J. Gergen (Hg.): Texts of Identity, London 1989, S. 1-19, besonders S. 13. 332 | James A. Ogilvy: Many Dimensional Man: Decentraliszing Self, Society, and the Sacred, New York 1977, S. 117. Übersetzung M.M. Original: »[…] balance and harmony of many selves within the personal self […].« – In einer ironischen Interpretation wäre es möglich, zu zeigen, daß die Bevorzugung von heterarchischen Modellen gegenüber hierarchischen in einem paradoxen Selbstwiderspruch gefangen bleibt: indem ihre Vertreter nämlich heterarchische als höherwertig ansetzen als hierarchische Modelle, bleiben sie eben damit weiter einer hierarchischen Struktur verhaftet. 333 | Vgl. Homi K. Bhabha: Remembering Fanon. Self, Psyche and the Colonial Condition, Vorwort in: Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, London 1986, S. XVIIf. 334 | Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, aus dem Englischen von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen 2000. – Ohne das hier ausführen zu können, sehe ich das Konzept skeptisch – das Erleben eines Innenraums ist nur dann ein solches, wenn die Grenzen halbwegs deutlich verlaufen. Im übrigen ließe sich auch der hybride Dritte Ort als eine paradoxe Form des Innenraums interpretieren. 335 | Marvin Minsky: The Society of Mind: Mentopolis, aus dem Englischen von Malte Heim, Stuttgart 21994.

Kapitel II.3

Nach diesem zugegeben stark verknappten, lediglich exemplarischen Hinweis komme ich zu Thomas Metzingers Selbstmodelltheorie und dem Begriff des ›phänomenalen Selbst‹.

Thomas Metzinger, das ›Selbst‹ und die Selbstmodelltheorie 336 Thomas Metzinger untersucht in seiner philosophischen Arbeit auf der Basis einer naturalistisch-repräsentationalistischen Theorie des Geistes vor allem das phänomenale Bewußtsein, das phänomenale Selbst und die Erste-Person-Perspektive. Nach Metzinger gelte das »phänomenale Selbst« gemeinhin als die »interessante Form« von Bewußtseinsinhalt; dabei lasse sich das »phänomenale Selbst« auch als das Subjekt phänomenaler Zustände bezeichnen.337 Das phänomenale Selbst zeige sich demnach in der erlebten Subjektivität eines Menschen, und Subjektivität meine nichts anderes als die Erste-Person-Perspektive bzw. das Erste-PersonErleben. Was den Begriff der Erste-Person-Perspektive betrifft, so weist Metzinger zunächst darauf hin, daß es sich bei diesem Ausdruck lediglich um eine auf das menschliche Selbstbewußtsein bezogene »philosophische Metapher«338 handele mit einer grammatikalischen und einer räumlich-visuellen Komponente: Die Grammatik der ›ersten Person‹ betreffe die sprachphilosophischen Probleme, die mit der Logik des indexikalischen Gebrauchs von ›ich‹ verknüpft seien. Die ›Perspektive‹ beziehe sich »auf die geometrische Struktur unseres visuellen Modells der Realität, auf die Phänomenologie des menschlichen Sehens«, was allgemein heiße: »Es gibt einen Horizont, parallele Linien scheinen sich in der Unendlichkeit zu berühren und es existiert ein Standpunkt, um den herum die visuelle Welt organisiert ist.«339 Die beiden Zielfragen von Metzingers Selbstmodelltheorie lauten nun: Wie oder wann entsteht ein phänomenales Selbst? Was genau ist eine Erste-Person-Perspektive? Die noch nicht erläuterte Antwort lautet: Ein phänomenales Selbst entstehe in einem bewußten System genau dann, »wenn dieses über ein transparentes Selbstmodell verfügt«340. Dabei sei ein phänomenales Selbst »ein integriertes und über die Zeit hinweg stabiles inneres Bild, das ein System von sich selbst als einem Ganzen besitzen kann«341. ›Phänomenal transparent‹ sei dabei eine Repräsentation ge336 | Wie eingangs bemerkt, gehe ich im Anschluß an die Arbeit in einem Exkurs auf Lambert Wiesings Kritik an modellierender Philosophie à la Metzinger ein. 337 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel ›Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV: Das phänomenale Selbst und die Perspektive der ersten Person‹, in: T. M. (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 1: Phänomenales Bewußtsein, Paderborn 2006, S. 421. 338 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 421. 339 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 422. Kursive Hervorhebung im Original. 340 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 423. 341 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 423.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

nau dann, wenn sie vom Menschen, in welchem sie auftaucht, introspektiv nicht als Repräsentation erkannt werde und er sich daher als direkt mit ihrem Inhalt in Kontakt fühle.342 Menschen seien daher Wesen, »die ihr eigenes inneres Modell von sich selbst nicht mehr als ein Modell erkennen können und die deshalb naive Realisten auch bezüglich ihrer eigenen Existenz sind«343. Doch muß man hier einen Schritt zurück tun und Metzingers These so kurz wie möglich und der Reihe nach erläutern: Vorweg nenne ich die drei Eigenschaften, die laut Metzinger für das Erscheinen einer subjektiven Innenperspektive wichtig sind344: 1. Phänomenale Meinigkeit 2. Selbstheit oder Ich-Gefühl 3. Perspektivität Kurze Erläuterung: 1. Phänomenale Meinigkeit meint das Gefühl, daß ich weiß, daß ich dies oder jenes denke, daß diese Hand meine Hand ist, daß ich den Ball schlage etc. 2. Selbstheit oder Ich-Gefühl meint das, was in der philosophischen Tradition auch die präreflexive Selbstvertrautheit genannt wird. Metzingers alltagssprachliche Beispiele hierfür sind etwa: ›Ich bin jemand‹, ›ich erlebe mich selbst als identisch durch die Zeit hinweg‹, ›die Inhalte meines Selbstbewußtseins bilden eine zusammenhängende Ganzheit‹, ›mit dem Inhalt meines Selbstbewußteins bin ich vor allen gedanklichen Operationen ›immer schon‹ vertraut‹. 3. Perspektivität meint das Strukturmerkmal des Bewußtseinsraums. Dieser Raum wird »durch ein handelndes und erlebendes Subjekt zentriert, durch ein Selbst, das Beziehungen zu sich selbst und zur Welt auf baut«345. Metzingers Beispiele: ›Meine Welt besitzt einen unverrückbaren Mittelpunkt und dieser Mittelpunkt bin ich selbst‹, ›Bewußtsein zu haben bedeutet, eine individuelle Innenperspektive zu besitzen‹. Selbste im Sinne von Einzeldingen oder Substanzen oder Individuen im Sinne der klassischen Metaphysik gibt es auf der ontologischen Beschreibungsperspektive für Metzinger nicht. Was es jedoch gebe (und das sei das, was man alltagspsychologisch »›das‹ Selbst«346 nenne), sei ein »dynamischer Vorgang, nämlich eine sehr

342 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 423. 343 | Thomas Metzinger: Einleitung zum Kapitel Repräsentationalistische Theorien des Bewussteins IV, a.a.O., S. 423. 344 | Siehe etwa auch die Zusammenfassung in: Thomas Metzinger: Das letzte Rätsel der Philosophie – Was ist Bewusstsein, Teil 3. Südwestrundfunk – SWR 2 Aula, Sendung: Donnerstag, 1. November 2007, 8.30 Uhr, S. 21 (des Radioskripts). 345 | Thomas Metzinger: Das letzte Rätsel der Philosophie – Was ist Bewusstsein, Teil 3, a.a.O. S. 21. 346 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, in: T. M.: (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 1: Phänomenales Bewußtsein, Paderborn 2006, S. 424-476, hier S. 427.

Kapitel II.3

spezielle Art von repräsentationalem Inhalt in einer sehr speziellen Art von informationsverarbeitendem System«347. Metzinger: »Es [das Selbst, M.M.] ist der Inhalt eines Selbstmodells, das von dem System, das es benutzt, introspektiv nicht als Modell erkannt werden kann. Der dynamische Inhalt des phänomenalen Selbstmodells […] ist somit der [phänomenale, M.M.] Inhalt des bewussten Selbst: Meine aktuellen Körperempfindungen, mein gegenwärtiger emotionaler Zustand und alle Inhalte meiner phänomenal erlebten Kognition. Diese bilden den Inhalt meines PSM [phänomenalen Selbstmodells, M.M.]. All jene Eigenschaften des phänomenalen Selbst, auf die ich in diesem Moment prinzipiell meine Aufmerksamkeit richten kann, bilden den Inhalt meines aktuellen PSM. Dieses PSM ist kein Ding, sondern ein integrierter Vorgang, der kontinuierlich in meinem Gehirn abläuft.« 348

Um es mit Metzinger pointiert und »in einem gewissen metaphorischen Sinn« zu sagen: Ich bin der Inhalt meines phänomenalen Selbstmodells.349 Wobei sich dieses Ich-Erleben eben auf das phänomenale transparente Erleben meiner selbst beziehe und nicht auf all das, was ich als ganz bestimmter Mensch in einem umfassenden Sinn auch und vielleicht sogar in bestimmender Weise sei: nämlich »das System als Ganzes« bzw. das »auch sozial situierte System als Ganzes«350. Zu betonen bleibt dabei, daß der Organismus an sich – eben das System als Ganzes – für Metzinger kein Selbst (im alltagspsychologischen Sinn) ist. Zwar gebe es Organismen mit Selbstmodellen, also mit »komplexen Gehirnzuständen«; damit aber ein Organismus sich tatsächlich im Gefühl des Besitzes eines phänomenalen Selbst wähnt, müsse er »auf der Basis eines transparenten Selbstmodells«351 operieren, erst auf dieser entscheidenden Transparenz-Basis stelle sich die phänomenale Eigenschaft des ›Ich-Gefühls‹, der ›Selbstheit‹ ein.352 Das phänomenale Erleben von Substantialität (ich bin eine unabhängige Entität), von Essentialität (die Eigenschaften, die meine »transpersonale Identität« ausmachen) und von Individualität (das Erleben von Einzigartigkeit und Unteilbarkeit), die auf der repräsentationalistischen Beschreibungsebene »besondere Formen von

347 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 427. 348 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 427f. 349 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 428. – Inwiefern diese Aussage »metaphorisch« sei, wäre eine eigene Frage wert, deren Diskussion ich hier nicht führen kann. 350 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 428. 351 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 428. 352 | Vgl. auch Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 429: »Ich behaupte, dass die Erfüllung der Transparenzbedingung das entscheidende definierende Merkmal ist […]«.

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bewusstem, repräsentationalem Inhalt« seien, ergeben zusammen die alltägliche Erfahrung, daß Menschen »sich immer als jemand erleben«353. Das phänomenale Ich-Gefühl in einem selbstrepräsentierenden System ist nach Metzingers These dabei nichts als »eine Funktion, die durch einen funktional blockierten Zugriff, durch einen Mangel an Information realisiert« sei – was die Information über sich selbst als Inhalt eines Selbstmodells betreffe –; und deshalb erst »erleben wir die Inhalte unseres Selbstbewusstseins nicht als die Inhalte eines in uns ablaufenden repräsentationalen Vorgangs, sondern einfach als uns selbst, hier und jetzt in der Welt anwesend«354. Nun macht Metzinger einen für diese Arbeit wichtigen Hinweis: Die Existenz eines »kohärenten Selbstrepräsentats« führe nämlich »eine SelbstWelt-Grenze in das Realitätsmodell des Systems«355 ein. (Mir kommt es auf die Selbst-Welt-Grenze an: ich werde im III. Hauptteil dafür argumentieren, daß nicht nur eine Selbst-Welt-Grenze eingeführt werde, sondern vor allem eine InnenraumAußenraum-Grenze, und folglich dafür plädieren, das Selbst als Innenraum und die Welt als Außenraum zu deuten.) Das heißt: der Organismus erzeuge mit Hilfe dieser Selbst-Welt-Grenze auf der phänomenologischen Ebene eine phänomenal zugängliche Information über sich selbst, ein »Bild seiner selbst als eines Ganzen«356, was gleichzeitig die Information über die Welt bzw. die Umwelt, kurz: über das Nicht-Selbst einschließe. Dabei sei es wichtig zu beachten, daß »individuelle bewußte Zustände in den Standardsituationen immer Teil eines bewußten Weltmodells sind«357. Nochmals zusammengefaßt: Selbstbewußtsein ist das transparent erlebte phänomenale Selbstmodell. Wir verwechseln den Inhalt des transparenten phänomenalen Selbstmodells mit unserem phänomenalen Selbst. Das Selbstmodell wird vom System in das transparent erlebte phänomenale Weltmodell eingebettet. Diese ineinandergebetteten Modelle, Selbstmodell im Weltmodell, nennt Metzinger den »Erlebnisraum«: »Unser Erlebnisraum setzt sich also aus unserem Weltmodell und dem in es eingebetteten Selbstmodell zusammen, er ist ein zentrierter Erlebnisraum, dessen Mittelpunkt das Selbstmodell darstellt. Das räumlich strukturierte Leiberleben, das Körperschema, ist dabei […] das repräsentationale Fundament des 353 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 428f. 354 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430. 355 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430. – Metzinger verwendet die Ausdrücke Repräsentandum, Repräsentation, Repräsentat wie folgt: ›Repräsentation‹ bezeichnet den repräsentierenden Prozeß des Systems bzw. des Organismus des Menschen; ›Repräsentandum‹ ist dasjenige »Objekt«, das repräsentiert werden soll, und ›Repräsentat‹ ist der »konkrete interne [prozessual ständig wechselnde, M.M.] Zustand, der die auf dieses Objekt bezogene Information zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Format darstellt« (T. M.: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430, Fußnote 1). 356 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430. 357 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 432.

Kapitel II.3

Selbstmodells.«358 (Der Erlebnisraum, ich versuche das im III. Hauptteil zu zeigen, ist aber vor allem unterteilt in Innen- und Außenraum.)

Allgemeine Kritik an Metzingers Selbstbegriffsver wendung und an seinem Ontologiebegriff Zunächst ist zu wiederholen, daß Metzinger mit seiner metaphysischen These, es gebe kein Selbst, in gewisser Weise eine seit Jahrhunderten bereits geöffnete und nie wieder geschlossene Wissenschaftstüre einrennt: spätestens seit Locke und Hume und seit den invasiven Forschungen auf dem Gebiet der biologischen Anthropologie der letzten rund hundertfünfzig Jahre und der neurobiologischen Anthropologie der letzten Jahrzehnte behauptet niemand mehr in der empiristisch ausgerichteten wissenschaftlichen Forschung, es gebe auf der ontologischen Beschreibungsebene ein substantielles Selbst. Wenn Metzinger sein Hauptwerk ›Being No One‹ gleichwohl im ersten Satz mit diesem Fanfarenstoß einsetzen läßt – und das, ohne explizit hinzuzufügen, daß dieser ausschließlich auf der ontologischen Ebene gilt –, so erscheint dies zumindest fragwürdig; das merkt zum Beispiel auch Dorothée Legrand kritisch an, Metzingers Kampf könnte sich als so bedeutend erweisen wie ein Kampf gegen Windmühlen (»as relevant as tilting at windmills«359). Ähnlich äußert sich Dan Zahavi, Philosophen wie Metzinger oder Miri Albahari würden zunächst einen ontologisch-unabhängig verstandenen Selbstbegriff postulieren, nur um diesen dann kritisieren bzw. ablehnen zu können; dieser starke Selbstbegriff sei jedoch längst aus der Forschung verabschiedet.360 Auch der nach Selbstcharakterisierung »kritische Neurophilosoph« Georg Northoff kritisiert Metzinger scharf: »Die Leute, die behaupten, daß das Selbst eine Illusion ist, setzen das Selbst als Entität (voraus).« »Und wenn sie diese Voraussetzung machen und sagen, okay, wir gucken im Gehirn nach, dann finden sie keine Entität. Und dann sagen sie, ja, das Selbst ist eine Illusion. Das heißt, die Annahme: ›das Selbst ist eine Illusion‹, bezieht sich auf das Selbst als Entität und nicht auf das Selbst in einem relationalen Sinne.«361 Noch problematischer jedoch scheint mir Metzingers in meinen Augen nicht zureichend geklärtes Verhältnis von der angenommenen Existenz ontologischer Realität einerseits und der ontologischen Nicht-Existenz von virtuellen oder fiktionalen Phänomenen andererseits zu sein.362 So ist es für Metzinger offensichtlich, daß ein Selbst (auf physiologischer Grundlage) zwar phänomenal wirklich erlebt werde, daß dieses erlebte Selbst jedoch in einer ontologischen Perspektive virtuell sei. Natürlich hat dieses erlebte 358 | Thomas Metzinger: Niemand sein. Kann man eine naturalistische Perspektive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen?, in: Sybille Krämer (Hg.): Bewußtsein. Philosophische Beiträge, Frankfurt a.M. 1996, S. 130. 359 | Dorothée Legrand: Transparently Oneself, a.a.O., S. 12f. 360 | Dan Zahavi: Unity of Consciousness and the Problem of the Self, a.a.O., S. 324. 361 | So Georg Northoff in der Radiosendung ›Das rätselhafte Selbst. Auf der Suche nach dem Ich‹, in: Deutschlandfunk, 15. Oktober 2009. Sinngemäß äußert er sich auch im erwähnten Buch ›Die Fahndung nach dem Ich‹, a.a.O., S. 92ff. 362 | Ich erinnere an die oben im Kapitel II.2. im Abschnitt zu Matthew Mackenzie gemachte wichtige klärende Fußnote zum Verständnis der Begriffe virtuell, real, aktual, materiell, wirklich.

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Selbst eine neurophysiologische Grundlage; solange jedoch nicht geklärt ist, welchen ontologischen Status der Begriff ›virtuell‹ für ihn warum wie genau habe, hat es wenig Sinn zu sagen, das Selbst sei virtuell realisiert. Es stellt sich also die Frage, ob nicht der Grundansatz von Metzinger schon eine Unschärfe hinsichtlich der (zeitgenössischen, gegensätzlich verstandenen) Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität aufweist: Ist diese Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität auf der ontologischen Ebene überhaupt möglich? Gehört zur Realität nicht immer schon die Dimension der Virtualität dazu? Ganz im Sinne der eingangs für möglich erachteten starken ontologischen These: daß es nur Information gebe. Ein Impuls hat ontologisch gesehen nie das nackte Daß, sondern ist immer schon ein informationaler ›Hinweis‹. Anders formuliert: Die Rede, daß es ontologisch kein Selbst gebe, setzt voraus, daß es einen ontologischen Unterschied zwischen Realem und Virtuellem gibt: doch nur wenn es diesen Unterschied geben sollte, gäbe es ontologisch auch einen Unterschied zwischen (realen) zerebralen Selbstmodellprozessen und (virtuellem) Selbst. Mit dem erwähnten starken Informationsbegriff jedoch fiele auf der ontologischen Ebene dieser Unterschied zwischen Realität und Virtualität weg. Ontologisch wäre ein ›virtuelles‹ Selbst in gewisser Weise ›real‹. Gleichwohl ließen sich natürlich weiterhin Unterschiede beschreiben zwischen der phänomenologischen und der physikalischen, der repräsentationalistischen und der funktionalen Ebene etc. Auf der phänomenologischen Ebene wäre es natürlich weiterhin sinnvoll, zwischen Realität und Virtualität zu unterscheiden. Und alles, was auf jeder der eben erwähnten Ebenen beschrieben werden würde, wäre gleichwohl Teil einer umfassenderen informationsprozessualen Ontologie. Um diese ontologische Fragwürdigkeit hinsichtlich Realität und Virtualität zu klären, scheint es mir daher sinnvoll zu sein, erstens, eine starke Informationsprozeßontologie vorauszusetzen, und zweitens, jenseits dieser Voraussetzung weiter auf die unterschiedlichen Beschreibungsebenen, die physikalische, die phänomenologische, die repräsentationalistische Ebene etc., zu achten. In der Folge davon ist es nicht mehr möglich, ontologisch das ›virtuelle Selbst‹ als nicht-real zu qualifizieren. Anders gesagt: Ontologisch gesehen ist auch das ›virtuelle Selbst‹ nichts anderes als ein ›reales Selbst‹.363 363 | Hinsichtlich dieser Frage nach der ›wahren Realität‹ hat auch Gernot Böhme in seiner Besprechung von Thomas Metzingers Buch ›Der Ego-Tunnel‹ Metzinger scharf kritisiert: »[…] Das Verrückte ist nur, dass […] Metzinger und seine Kollegen diesen Durchblick offenbar eben doch haben, sodass er, und zwar auf der Basis der Physik, von der wahren Wirklichkeit reden kann. Zum Beispiel folgender Satz, S. 23: ›In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie ›das‹ Selbst nicht.‹ Diese Sicht enthält nun einen tiefgreifenden Fehler oder zumindest ist sie Zeugnis von Mangel an methodischer Reflexion. Metzinger spielt nämlich das Wissen der Wissenschaft unbefragt gegen das Wissen der Alltagswelt aus. Unbefragt, d.h. so viel, dass er nach der Bedingtheit des wissenschaftlichen Wissens nicht fragt. Von diesem Punkt her wird deutlich, dass Metzinger einen groben und verkürzten Kantianismus vertritt. Vor Kant war klar, dass das, was heute Qualia heißt, also etwa Gerüche und Farben, nicht einfach als Qualitäten der Dinge angesehen werden können, weil sie durch unsere Sinnesausstattung bedingt sind. Man nannte sie deshalb sekundäre Sinnesqualitäten. Kant hat nun aber zweierlei gezeigt: Erstens, dass diese subjektive Bedingtheit auch die

Kapitel II.3

Zurück zu Metzingers Theorie mit besonderer Rücksicht auf Perspektive, Volumen, außerkörperlicher Erfahrung und Innenraum Metzinger interessiert sich also für die Mechanismen, durch die Menschen sich als ein einheitliches Selbst erleben: was wäre die einfachste Form des Ich-Gefühls? Zeigt es sich bei der expliziten Wahrnehmung des perspektivischen Sehens? Hat es seinen Ursprung »in einem Punkt in unserem Kopf«, der »so etwa zwischen den Augen« liege, wie Metzinger in Übereinstimmung mit Susan Blackmore meint?364 Gleichzeitig, so Metzinger allerdings auch, »verorten wir unser Selbst als Volumen im Raum – normalerweise in unserem Körper«365. Zunächst ist wichtig, festzuhalten, daß Perspektivität »keine notwendige Bedingung ist, um einem gegebenen System bewußtes Erleben zuzuschreiben«366; vielmehr lassen sich bestimmte »phänomenale Zustandsklassen« ausmachen – »z.B. bestimmte Arten spiritueller und religiöser Erfahrungen oder vollständig depersonalisierte Zustände bei schweren psychiatrischen Störungen«367 –, bei welchen phänomenologisch gesehen wohl kein bewußtes Selbst oder keine bewußt wahrgenommene Perspektive der ersten Person existiere – Metzinger nennt diese Zustände »Fälle von nicht-subjektivem Bewußtsein«, die nicht mehr an eine phänomenal erlebte Erste-Person-Perspektive gebunden sind; was freilich nicht heißt, daß diese Zustände unter einem zugrundegelegten epistemologischen Begriff von

primären Qualitäten, wie etwa geometrische Gestalt, Bewegung in Raum und Zeit, betrifft; und dass zweitens die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, keineswegs eine Wissenschaft davon ist, wie die Dinge an sich sein mögen, sondern vielmehr von Objekten als Erscheinungen handelt. Dabei ist auch entscheidend, dass die subjektive Bedingtheit unserer Erkenntnis nicht selbst natural oder evolutionär gegeben ist, sondern vielmehr ein Produkt unserer Selbstkultivierung. Sie unterliegt deshalb Normen und Regeln, die aber individuell sehr wohl durchbrochen werden können. Gesehen von der Kantischen Philosophie her, muss man Metzingers Vorgehen und das seiner Kollegen schlicht als Rückfall in vor-Kantische Metaphysik bezeichnen. Besonders peinlich ist, dass diese philosophiegeschichtliche Barbarei mit dem Gestus der Volksbelehrung auftritt.« (Quelle: Gernot Böhme: [Besprechung von:] Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2010, in: Philosophische Rundschau 58 [2011], H. 1, S. 54-56.) 364 | Thomas Metzinger im Gespräch mit Stefan Klein, abgedruckt in: Zeit-Magazin, Nr. 37, 8. September 2011. 365 | Thomas Metzinger im Gespräch mit Stefan Klein, a.a.O. – Der erwähnte Neurowissenschaftler und Philosoph Georg Northoff kommt im Zuge mehrerer Untersuchungen zu der Auffassung, daß sich das Ich – oder auch: »das ›Haus des Ich‹« – mit den sogenannten medialen kortikalen Regionen des Gehirns verbinden läßt (G. N.: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 51). 366 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, in: T. M. (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes: Band 1: Phänomenales Bewußtsein, Paderborn 2006, S. 450. 367 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 450.

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Subjektivität nicht doch als zumindest schwach subjektive Zustände beschrieben werden könnten.368 Perspektivität sei dabei wie angedeutet eine »strukturelle Eigenschaft des phänomenalen Raums als Ganzem«369 (also des Bewußtseins). Dabei sei das Modell der Realität »repräsentational auf ein einziges, kohärentes und zeitlich ausgedehntes phänomenales Subjekt« zentriert.370 Die erlebte Perspektivität bestehe folglich darin, daß der phänomenale Raum ein phänomenales Selbst als Zentrum habe: »Er besitzt einen Brennpunkt des Erlebens, einen ›point of view‹.«371 Dabei spielen auch sogenannte außerkörperliche Erfahrungen eine wichtige Rolle; diese zeigen, daß man die unterschiedlichen Selbstaspekte getrennt von einander erleben könne. Metzinger: »Unsere Versuche [die Metzinger zusammen mit Olaf Blanke durchführte, M.M.372] zeigen nun, daß sich das Phänomen des Selbstbewußtseins auch ganz natürlich erklären läßt. Zum Beispiel kann man das sehende Selbst vom fühlenden Selbst, von der Identifikation mit einem Körper trennen. Offenbar vermag das Gehirn beide Standpunkte unabhängig voneinander zu wählen: Sie können Ihr Selbstgefühl nach außen in das Double verlagern und trotzdem durch Ihre Augen auf die Welt gucken.«373 Metzinger beschreibt das bewußte Erleben weiters als eine »innere Angelegenheit«, wobei gilt: wenn alle internen Eigenschaften des Nervensystems festgelegt seien, dann seien auch alle Eigenschaften des bewußten Erlebens festgelegt. Das bewußte Erleben: das sind der »subjektiv erlebte Inhalt und die Art und Weise, wie

368 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 450. 369 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 450. 370 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 450. 371 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 450f. 372 | Siehe auch Thomas Metzinger und Olaf Blanke: Full-body Illusions and Minimal Phenomenal Selfhood, in: Trends in Cognitive Sciences. Vol. 13, Nr. 1, 2008. – Erlebte außerkörperliche Perspektiven sind auch im Alltag und in existentiellen Extremsituation möglich: Ein langhaariger Mensch, der die Haare vorn über das Gesicht hängen läßt und vor einem Spiegel versucht, durch seine Haare hindurch auf sein Spiegelbild zu blicken, wird den Eindruck haben, sich von außen und von hinten zu sehen. Auch Menschen, die etwa wegen eines Herzinfarkts auf dem Not-OP-Tisch eines Krankenhauses landen, berichten immer wieder von außerkörperlichen Erlebnissen. Gemeinsam ist diesen Berichten, daß die Patienten den Körper verlassen und von der OP-Saaldecke aus auf sich und die Ärzte hinabblicken. Auch Menschen, die Zeugen sogenannter Nahtoderlebnisse waren, berichten von schwebenden Einfahrten in einen Tunnel. In den beiden letzteren Fällen könnte eine psychologische raumtheoretische Annahme dafür, was unbewußt in einem Menschen in einer Notsituation vor sich gehen könnte, in diese Richtung gehen: ›Ich muß – da mein Körper sich in einer Notsituation befindet – sofort raus aus ihm – er ist kein intakter Lebens- oder Innenraum mehr.‹ Siehe speziell zu außerkörperlichen Erfahrungen auch die ausführlichen Darstellungen von Thomas Metzinger in: T. M.: Der Ego-Tunnel, a.a.O., S. 122ff. 373 | Thomas Metzinger im Gespräch mit Stefan Klein, a.a.O.

Kapitel II.3

es sich von innen für uns anfühlt«374. Diese Internalität ist dabei eine räumliche wie auch zeitliche Internalität (zeitlich innerlich ist »das, was immer gerade jetzt stattfindet, in genau diesem Moment«375). Metzinger kann so aus seiner neurowissenschaftlich informierten phänomenologischen Perspektive postulieren, daß letztlich bereits die gesamte erscheinende Welt in gewisser Weise einen Innenraum darstellt. Jedenfalls ist der Raum, den ich erlebe, stets ein phänomenaler. Metzinger verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: »Auf der anderen Seite ist es so, daß Sie auf der Ebene des Bewußtseins dieselbe physikalische Eigenschaft – sagen wir, die heiße Herdplatte vor Ihnen – durch zwei grundverschiedene phänomenale Qualitäten erleben können. Sie können sie als eine Empfindung der Wärme erleben und als eine Empfindung von glühendem Rot, als etwas, das Sie auf Ihrer Haut spüren, und als etwas, das Sie in den Raum vor Ihren Augen hineinprojizieren. Phänomenaler Raum. Erscheinung.« 376

Was man sich bei diesem Beispiel in Hinsicht auch auf meine Arbeit bewußt machen muß, ist die Bedeutung des zweimal verwendeten Wortes Raum am Ende des Zitats: Entscheidend ist hier nämlich, daß der Mensch nicht nur das glühende Rot in den Raum hineinprojiziert, sondern daß er – gemäß der repräsentationalistischen Grundannahme – unbewußt den (phänomenalen) Raum erst hervorruft, in welchen hinein er dann (unbewußt) das glühende Rot projizieren kann. Hinsichtlich meiner These umformuliert: Ich rufe (unbewußt) den phänomenalen Innenraum erst hervor, mit dem ›ich‹ mich (unbewußt) identifiziere, um zu werden, der ›ich‹ sein möchte – ein einheitlicher Innenraum, ein einheitliches phänomenales Selbst.

Thomas Metzinger, die Nichtselbst-Alternative und die Intuition Vor dem Übergang zum III. Hauptteil dieser Arbeit gehe ich nun noch auf einen bedeutsamen jüngeren Text von Thomas Metzinger mit dem Titel ›Die NichtselbstAlternative‹377 ein, weil ich unter anderem das dort neu diskutierte Konzept der Intuition referieren und prüfen möchte, inwiefern es meine These indirekt stützt: die Zeichen der Phänomenologie deuten nämlich darauf hin, daß sich auch Räume intuitiv ›richtig‹ anfühlen können, das heißt, daß Menschen die räumliche Intaktheit oder die angenehme Stimmigkeit einer Situation intuitiv spüren oder wahrnehmen und von daher das Gefühl für ein intaktes Selbst herrühren könnte – oder, je nachdem, auch das Gefühl für ein nichtintaktes Selbst. So gesehen ließe sich ›intuitiv‹ mit ›innen‹ verbinden, ›kontraintuitiv‹ hingegen mit ›außen‹.

374 | Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, a.a.O., S. 40. 375 | Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, a.a.O., S. 40. 376 | Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, a.a.O., S. 39. 377 | Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, in: Shaun Gallagher (Hg.): The Oxford Handbook of the Self, a.a.O., S. 279-296, hier S. 279. – Ich orientiere mich in meinem Referat der Konsistenz halber am Aufbau von Metzingers vielschichtigem Paper, auch wenn es nach dem bereits oben zu Metzinger gesagten marginal zu Wiederholungen oder Variationen kommt.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Metzingers Einleitung – Schillernde Begriffe und Warum man auf den Begriff des Selbst von Anfang an verzichten sollte Metzinger führt in der Einleitung in seinen Artikel schillernde und insofern rhetorisch nicht uninteressante, doch von ihm semantisch nicht erläuterte und somit wissenschaftlich zunächst nur begrenzt wertvolle Begriffe ein, deren Bedeutung höchstens auf den ersten Blick eindeutig scheint: etwa spricht er von einem »volksmetaphysischen Begriff von ›dem Selbst‹« (»folk-metaphysical concept«378) oder vom volksphänomenologischen Begriff von ›dem Selbst‹. Was aber sind Volksmetaphysik und Volksphänomenologie und wie unterscheiden sich Volksmetaphysik und Volksphänomenologie von Metaphysik und Phänomenologie konkret? Und wie sieht der volksmetaphysische und der volksphänomenologische Begriff des Selbst aus? Wie oben bei Susan Blackmore muß man hier fragen, ob dazu empirische Daten vorliegen? Explizitheit wäre in diesem Fall die Höflichkeit des Autors gegenüber dem virtuellen und dem wirklichen Leser. (Arthur C. Danto hat einmal eine Anmerkung zum Begriff der Volkspsychologie gemacht: Der Begriff habe zwei unterschiedliche Verständnisse. Zum einen beziehe er sich auf die Volkspsychologie der Allgemeinplätze [»Frauen wollen beherrscht werden«, »Jungen sind nun mal Jungen« oder »Eile mit Weile«] – in diesem Fall sei sie nichts als »eine Reihe von Sprichwörtern, Vorurteilen und Selbsttröstungen, die falsch und dumm sein mögen«. Für Philosophen hingegen heiße Volkspsychologie, »Ansichten, Wünsche, Werte, Wahrnehmungen so zu gebrauchen, als ob sie erklärende Begriffe wären«. Irgendwann würden diese Begriffe durch bessere, dann neurophysiologische, ersetzt werden.379) Wie wichtig, davon abgesehen, Metzinger selbst eine Klärung des Selbstbegriffs ist, zeigt seine Aussage, wie peinlich es sei, daß bei jeder Debatte über ›das Selbst‹ die Existenz dieses Selbstbegriffs oft dazu führe, daß Debattenteilnehmer auch eine Entität ›des Selbst‹ annehmen. Jedoch scheine es keinen empirischen Beweis für die tatsächliche Existenz ›eines‹ Selbst zu geben, so Metzinger, auch keine überzeugenden begrifflichen Argumente. Und so zwinge uns eigentlich nichts, überhaupt erst die Annahme einer Existenz des Selbst zu machen. Daher sei die von ihm im Titel seines Aufsatzes erwähnte ›Nichtselbst-Alternative‹ womöglich gar keine Alternative; vielmehr sei vielleicht die Annahme eines Nichtselbst einfach die Grund- oder Standardeinstellung, sofern man rational an die Frage nach dem Selbstbewußtsein und der Subjektivität herangehen möchte. Man sollte also von Anfang davon ausgehen, daß es kein Selbst gebe. Teil 1 von Metzingers Artikel beschäftigt sich mit dem Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹, Teil 2 diskutiert die Frage, warum der Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ kontraintuitiv sei.

Zu Teil 1: Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ Der Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ gliedert sich nach Metzinger in vier Thesen:

378 | Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 279. 379 | Arthur C. Danto: Wege zur Welt. Grundbegriffe der Philosophie, aus dem Englischen von Peter Michael Schenkel, München 1999, S. 278.

Kapitel II.3

1. 2. 3. 4.

Ontologischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ Epistemischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ Methodologischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ Semantischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹

1. Abschnitt: Ontologischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹380 Die These lautet: Das Selbst ist keine Substanz. (ARSO) Denn Selbste seien keine sich selbst erhaltende Entitäten, sie überdauern nicht die Zeit und sie gehören nicht zu den grundlegenden Bausteinen der Realität. Metzingers Begriff der Realität meint offenbar jenes Reich, das es in einem ontologischen Sinne wirklich gibt. Selbste sind für ihn definitiv nicht Teil dieser ontologischen Realität. Also trennt Metzinger die Welt in den Bereich der Realität einerseits und in den Bereich andererseits, der nicht zur Realität gehört, den es aber doch irgendwie ›gibt‹. Dabei findet eine Form der Hierarchisierung dieser Bereiche statt. Der Bereich der Realität ist in gewisser Weise wirklicher oder wertvoller als der andere Bereich. (Diesen Punkt habe ich vorhin im Abschnitt ›Allgemeine Kritik an Metzingers Selbstbegriffsverwendung und an seinem Ontologiebegriff‹ angedeutet.) Es gebe nun zwei Weisen, wie man für diese Sorte Antirealismus argumentieren könne: Strategie 1: Man beschränke sich auf die Zielphänomene wie Selbstbewußtsein, Selbstsinn, Selbstvertrautheit etc. Strategie 2: Man verneine die Existenz von Substanzen prinzipiell. Die Argumentationstradition hier sei einerseits die antisubstantielle Metaphysik des Buddhismus, andererseits in neuerer Zeit etwa die Philosophie der Physik, die besage, daß alles, was es gibt, Beziehungen seien (relations): dies führe zu einem ›ungegründeten Universum‹ (›unfounded universe‹) – die ultimative Realität wäre die nomologische Struktur der Welt. So führe die metaphysische Grundierung der kognitiven Neurowissenschaft dazu, daß die mentalen, psychologischen und phänomenologischen Entitäten wie ›das Selbst‹ keine Individuen (individuals) seien, da sie eben kein spezifizierbares Identitätskriterium hätten. (Diese in Metzingers Arbeiten meines Wissens neue ontologische These, in diesem Text meines Wissens erstmals angedeutet, wenn auch von ihm nicht sich zu eigen gemacht, aber auch nicht abgelehnt, wäre kompatibel mit der oben erwähnten starken ontologischen These, es gebe nur Information – was eben bei Metzinger bzw. gemäß der Philosophie der Physik heißt: es gebe nur Beziehungen [relations]. Was sind Beziehungen anderes als bipolare Wechselwirkungen oder bipolare Sphären im sehr kleinen Bereich?) Metzinger möchte sich nun auf Strategie 1 konzentrieren, fragt allerdings zunächst, was Selbste sein könnten? Antwort: Selbste könnten unbeobachtbare Entitäten sein, vielleicht begriffliche Fiktionen, sie seien jedenfalls phänomenologisch gesehen auch ›alltägliche Objekte‹ und spielten eine große Rolle in der alltäglichen Phänomenologie und Psychologie.

380 | Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 280-284.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Wie könnte man diesen Umstand auf dem Feld der philosophischen Metaphysik interpretieren? Metzinger sieht drei mögliche theoretische Optionen: 1. Option: Versuch à la Leibniz, die Selbste als einzelne, zählbare Entitäten in Raum und Zeit anhand der Eigenschaften, die sie mit keinem anderen physikalischem Objekt teilen, zu identifizieren. (Prinzip der Identität des NichtUnterscheidbaren.) Jedoch zeige sich, daß nur Körper in dieser Form individuiert werden können – Selbste hingegen können nicht einfach als Körper oder biologische Organismen betrachtet werden. Fazit: Auf diesem Weg der 1. Option finde man keinen Zugang zu den (ontologisch verstandenen) Selbsten. 2. Option: Versuch à la Duns Scotus, eine haecceitas vorauszusetzen, eine Eigenschaft der Diesheit oder Selbstidentität, hier also eine transzendente Eigenschaft der Selbste, welche deren intrinsische Individualität begründe wie auch deren numerische Identität.381 Habe diese Option auf den ersten Blick eine gewisse Stärke, sei sie doch, metaphysisch gesehen, nicht überzeugend: Denn auf der einen Seite hieße eine ›einfache Diesheit‹ vorauszusetzen, lediglich eine Hypothese einzuführen, eine weitere, unbeobachtbare Eigenschaft, ohne Argument oder potentiellen empirischen Beweis. Auf der anderen Seite jedoch gebe es durchaus eine Phänomenologie der Singularität, eine nicht-sinnliche Phänomenologie der Diesheit, etwa in der Meditation oder im körperlichen Selbstbewußtsein. Freilich, diese Phänomenologie summiere sich niemals zu einer Metaphysik des Selbst. Fazit: Auch mit Hilfe dieser 2. Option gebe es keine Möglichkeit, Selbste ontologisch zu fassen. 3. Option: Diese Option sieht ›das Selbst‹ lediglich als ein Bündel von Eigenschaften. Metzinger verweist einerseits auf den Buddhismus, andererseits auf David Hume als prominentesten Verfechter einer solchen Bündeltheorie. Hume meine, so Metzinger, wir würden die Probleme hinsichtlich erlebter Identität trotz sich wandelnder Zeit dadurch lösen, indem wir eine Substanz herauf beschwörten. Selbste wären also nur Sammlungen von Eigenschaften. Was folge nun daraus?382 Was mache die vielen einzelnen Eigenschaften zu einem Ganzen? Empirisch gesehen, könnte man, wie bemerkt, sagen, Selbste seien nur Sammlungen von Eigenschaften, die wir mental als individuelle Eigenschaften repräsentieren. Dies wäre auch aus der Sicht der kognitiven Neurowissenschaft eine plausible Strategie: Das Gehirn segmentiert Szenen und konstituiert multimodal bewußt wahrgenommene Wahrnehmungsobjekte (wie etwa den eigenen Körper als ganzen), nicht dadurch, daß Eigenschaften auf eine zugrundeliegende Entität draufge-

381 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 281. 382 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 282.

Kapitel II.3

klebt werden, sondern durch einen dynamischen Bottom-Up-Prozeß der Selbstorganisation, welcher Feature-Binding genannt wird.383 Was wir also erreichten, wären begrifflich klar konzipierte Modelle von funktionalen Mechanismen, welche die Integration der individuellen EigenschaftenRepräsentation in eine einheitliche Selbst-Repräsentation erklären. Doch dazu würden wir kein transzendentales Subjekt benötigen. Dieser mögliche Erklärungsansatz stelle eine Neuheit in der Geschichte der Ideen dar, welcher früheren Forschern nicht zur Verfügung gestanden habe. Er sei eine Option sowohl für die Metaphysik wie für die Phänomenologie. Hier also sieht Metzinger Möglichkeiten für empirische Forschung. Jedenfalls zeigt sich für Metzinger aus dem Dargestellten, daß keine der bisher zugänglichen wissenschaftlichen Daten die Annahme ›eines Selbst‹ notwendig machen würde.384 Dabei lege einfach die erwähnte erste Strategie oftmals nahe, daß kein empirischer Beweis jemals eine substantialistische Metaphysik der Selbstheit begründen könne. Und nichts im Gehirn oder im selbstbewußten biologischen Organismus könne auch nur im entferntesten als eine Substanz in einem philosophisch interessanten Sinne zählen. Was wir jedoch finden, sei zweierlei: a. Einmal finden wir eine Phänomenologie der Substantialität (auch Phänomenologie der Realität genannt) – auf der Ebene der Introspektion –: wir erleben uns als selbst-subsistente, die Zeit überdauernde Entitäten. b. Wir sehen in unserer phänomenalen Erfahrung der Selbstheit auch einen Aspekt der ›metaphysischen Notwendigkeit‹, also einen Aspekt der Unmöglichkeit der Nichtexistenz. c. (Auf diese beiden Punkte, a und b, komme ich unten im 2. Teil dieses Metzinger-Referats zurück.) 2. Abschnitt: Epistemischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹385 Die These lautet: Ähnlich wie hinsichtlich Kants ›Ding an sich‹, bleibe uns nach diesem Ansatz die Natur des im Hintergrund dirigierenden Selbst verborgen; einzig die Struktur könnten wir erfahren – sie zeige sich in der Form seiner Interaktion mit andern Selbsten und in den Gesetzen und Regeln, die sein kognitives und körperliches Verhalten leiten. Das Selbst wäre demgemäß eine unbeobachtbare Entität. (ARSE) Die Einstellung zu diesem ›Selbst‹ wäre gewissermaßen agnostisch – man stünde auf dem Punkt des Nichtwissens und zugleich des ›Wissens‹ über dieses Nichtwissen. Wenn es richtig wäre – und das ist das Problematische an der These ARSE –, daß wir das Selbst nicht erkennen können, dann hieße das auch, daß Selbstbewußtsein uns keinerlei Vertrautheit mit uns selbst vermitteln könnte. Selbst-Wissen wäre nicht mehr möglich. Per Introspektion, so Metzinger, sähen wir niemals unsere ›wahre Natur‹. Auch Descartes’ Phänomenologie der Selbstgewißheit wäre damit hinsichtlich ihrer Konsequenzen hinfällig.

383 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 282. 384 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 283. 385 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 284.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Dieser Punkt läßt sich dahingehend kommentieren, daß man zunächst festhalten sollte, daß ARSE eine andere Grundaussage besitzt als ARSO. ARSO besagt: Es gibt kein ontologisches Selbst. ARSE dagegen besagt: Es gibt ein Selbst, aber wir können es prinzipiell nicht erkennen. Was das erwähnte Problematische an ARSE betrifft, so darf man meines Erachtens festhalten, daß, wenn ARSE richtig ist, das ›wahre Selbst‹ schlichtweg egal ist (denn wir könnten es ja ohnehin nie erkennen oder mit ihm in Berührung kommen). Gleichwohl blieben die phänomenalen Gefühle für uns wirklich – wir würden dennoch Schmerzen oder Freude empfinden, auch würden wir uns mit uns ›selbstvertraut‹ fühlen etc. (Und es gäbe, unter logischen Gesichtspunkten, auch am cartesianischen Zweifel keinen Zweifel – für mich wäre es logisch unmöglich, daran zu zweifeln, daß ich zweifle, wenn ich zweifle.) ARSE ist nach allem schon als These nicht zu halten. Selbst wenn ich ein Selbst verteidigen wollte, wäre es für mich unplausibel, ein unerkennbares ding-an-sichhaftes, quasi mythisches Selbst zu postulieren. Einzig das mit den phänomenalen Gefühlen verbundene Selbsterleben ist für Menschen von Belang. Kürzer gesagt: Wäre ARSE richtig, dann würde mich dennoch allein die von mir erlebte phänomenale Welt interessieren.386 3. Abschnitt: Methodologischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹387 Die These lautet: Bei der wissenschaftlichen Erforschung des Selbstbewußtseins zwinge uns nichts, ein individuelles Selbst zu postulieren. (ARSM) Für Metzinger handelt es sich bei dieser These um die am meisten überzeugende hinsichtlich des ARS. Die Erläuterung lautet wie folgt: 1. Alles, was es gebe, seien Erste-Person-Perspektive-Berichte, aber keine ErstePerson-Perspektive-Daten im strengen empirischen Sinn. 2. Die empirische Erforschung von Selbstbewußtsein, Agentizität, sozialer Kognition etc. benötige keine Annahme einer theoretischen Entität namens ›Das Selbst‹. Die Forschung könne all die Forschungsobjekte (wie Selbstbewußtsein, Selbstvertrautheit etc.) auch innerhalb eines sparsameren Rahmens erforschen, etwa, indem man das Konzept eines Selbstmodells einführe. Mein Kommentar hierzu umfaßt zwei Punkte: 1. Es hängt hier alles zunächst davon ab, was man unter ›das Selbst‹ versteht. 2. Prinzipiell kann man ARSM zunächst akzeptieren und die Forschungsobjekte ohne Selbst-Begriff zu erklären versuchen; es würde sich dann im Laufe dieser Forschung von selbst zeigen, ob sich die Annahme eines etwa integrierenden Selbst-Prozeß-Begriffs als notwendig erweisen sollte. Dies wäre dann ein indirekter Selbst-Beweis bzw. die empirische Klärung und Konkretisierung eines wissenschaftlich möglichen und sinnvollen Selbstbegriffs.

386 | Im übrigen: Wenn es richtig wäre, daß das Selbst ding-an-sich-haft ist, dann könnte ich auch in anderen Zusammenhängen alles denkbar mögliche Unerkennbare postulieren: ein unerkennbares Pastamonster, welches die Menschheit lenkt, einen unerkennbaren Gott, die unerkennbare Herrschaft der Hasen etc. Das alles aber wäre wissenschaftlich witzlos. 387 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 285.

Kapitel II.3

4. Abschnitt: Semantischer Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹388 Die Frage laute hier, wofür das Wort ›ich‹, das ein Sprecher verwendet, steht? Zwei mögliche Antworten bzw. Thesen lassen sich hierzu formulieren:389 ARSS (1): Der indexikalische Ausdruck ›ich‹ bezieht sich auf keine ontologisch fundamentale Entität. ARSS (2): Das Wort ›ich‹ hat überhaupt keine referentielle Natur, das heißt, es verweist überhaupt nicht. Mein Kommentar hierzu lautet wie folgt: ARSS (1) ist plausibel. Gleichwohl ändert das nichts an der Tatsache, daß Menschen sich in einer bestimmten Form auf sich selbst beziehen, wenn sie das Wort ›ich‹ verwenden (wenn auch nicht in einem ontologischen Sinn). ARSS (2) widerlegt sich durch den täglichen Sprachgebrauch. Folglich ist es notwendig, erstens die Begriffe ›ich‹ und ›Selbst‹ weiter zu klären und sie zweitens weiterhin als einen Teil der wissenschaftlichen Forschung auf dem Feld von ›Selbstbewußtsein‹, ›Selbstvertrautheit‹, ›Selbsterkenntnis‹ etc. anzuerkennen.

Fazit des ersten Teils Mein Fazit hinsichtlich aller vier bzw. fünf Thesen – ARSO, ARSE, ARSM, ARSS (1), ARSS (2) – lautet: Keine der Thesen kann vollends überzeugen. • ARSO ist irrelevant, weil wir ohnehin keine Selbst-Substanz im strengen Sinn annehmen. • ARSE ist irrelevant, weil witzlos (Selbst als unerkennbarer Mythos). • ARSM mag sinnvoll sein, beweist aber noch nicht die Nicht-Notwendigkeit des Selbst. • ARSS (1) ist letztlich irrelevant, für die These gilt das gleiche wie für ARSO. • ARSS (2) wird durch den täglichen Sprachgebrauch widerlegt.

Zu Teil 2: Warum ist der Antirealismus hinsichtlich ›des Selbst‹ kontraintuitiv? 390 Hier fragt Metzinger zunächst, was Intuition (intuitiveness391) heiße. Seine Antwort lautet: Etwas fühle sich richtig an (das kann auch eine Theorie sein): dabei werden bestimmte viskerale und emotionale Reaktionen ausgelöst. Die Nichtselbsttheorie nun fühle sich nicht gut an, sondern intuitiv unstimmig.392 Wobei im Auge zu behalten bleibe: Intuition und Kontraintuition seien funktionale Eigenschaften des Systems.393 So wie es nun logisch mögliche Welten, naturgesetzlich mögliche Welten und vielleicht auch metaphysisch mögliche Welten gebe, so gebe es auch – und diesen Gedanken möchte Metzinger einführen – phänomenologisch mögliche Welten. Und genau hier befinde sich hinsichtlich der Nichtselbst-These der kritische Punkt:

388 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 285f. 389 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 286. 390 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 287ff. 391 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 287. 392 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 288. 393 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 286 und S. 288.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Die Nichtselbst-These sei phänomenologisch unmöglich.394 Das Nichtselbst-Szenario könne nicht aktiv simuliert und ins eigene Erleben eingebettet werden – denn die Eigenschaft kognitiver Agentizität (agency) müßte sich auflösen.395 (Nicht bedeutungslos an dieser Stelle ist die Anmerkung, daß, wenn etwas ›phänomenologisch unmöglich‹ sei, dies noch nicht heiße, daß es nicht doch ›nomologisch möglich‹ sei.396) Die kontraintuitive Natur der Nichtselbst-Alternative Wichtig sei es also, zu unterscheiden zwischen • der Phänomenologie der Wirklichkeit (realness) und • der Phänomenologie der metaphysischen Notwendigkeit. Zahlreiche psychiatrische Fallbeispiele seien dokumentiert, die zeigen, inwiefern die Phänomenologie der Wirklichkeit in der Qualität unterschiedlich stark sein könne (Fälle von Depersonalisation, Derealisation etc.).397 Für uns sei es jedoch unmöglich, uns die Welt ohne uns selbst (ohne unseren Blick auf sie) vorzustellen: es gebe für uns nur ich-zentrierte Welten. Diese Nichtvorstellbarkeit betreffe jedoch ausschließlich die ›phänomenale Nichtvorstellbarkeit‹. Das Problem, so Metzingers These, sei dabei: Wir verwechseln die phänomenale Notwendigkeit mit der metaphysischen Notwendigkeit.398 Die Schwierigkeit sei hier auch die bewußte mentale Agentizität.399 Das heißt wie gesagt: man kann ein selbstloses mentales Weltmodell nicht aktiv simulieren, weil sich dabei die Eigenschaft der kognitiven Agentizität auflösen müßte.400 Metzingers Schlußfolgerung aus dem zweiten Teil Die sogenannte Nichtselbst-Alternative könnte die Grundannahme für die wissenschaftliche Erforschung von Selbstbewußtsein und Subjektivität sein. Ein Problem dabei bleibe, daß sie kontraintuitiv sei. Drei Faktoren seien bei der wissenschaftlichen Erforschung zu berücksichtigen: 1. Eine funktionale Eigenschaft der menschlichen mentalen Architektur sei die Eigenschaft, daß jeder Versuch, bewußt eine Welt zu simulieren, in der die Nichtselbst-These stimme, dazu führe, eine Phänomenologie der mentalen Agentizität, der kognitiven Kontrolle und damit der Selbstheit hervorzubringen.401 2. Indem wir diese Phänomenologie beschreiben, tendieren wir dazu, diesen Prozeß zu vergegenständlichen.402

394 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 289 und S. 291. 395 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 294. 396 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 294. 397 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 289f. 398 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 290. 399 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 291. 400 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 291. 401 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 293f. 402 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 294.

Kapitel II.3

3. Menschen haben eine evolutionär eingebaute Tendenz, funktional gegründete phänomenale Notwendigkeit als metaphysische Notwendigkeit zu interpretieren. Denkbar seien im übrigen zwei ideologische Irrwege:403 1. Der erste Irrweg bestünde in der Akzeptanz und im Propagieren der Nichtselbsttheorie aus rein ideologischen Gründen. Dies führe unter anderem zu einem ›ideologischen Buddhismus‹. 2. Der zweite Irrweg bestünde in der Ablehnung der Nichtselbsttheorie ebenfalls aus ideologischen Gründen. Dies zeige sich in jeder Form des Anti-Reduktionismus, in bestimmten Phänomenologien oder in substantialistischer Metaphysik etc.

Fazit des zweiten Teils und der Bezug zu meiner Arbeit Metzingers Hereinnahme eines wissenschaftlichen Konzepts der Intuition in die Diskussion über phänomenales Selbsterleben ist konstruktiv, weil damit das intuitive Erleben von phänomenaler Notwendigkeit bzw. von phänomenal Möglichem oder Unmöglichem neu kontextualisiert und neu begriffen werden kann – als Teil von körpergebundenen Funktionsprozessen des Organismus als Ganzem. Das phänomenale Erleben in Innenräumen und die dabei mitlaufenden Gefühle der Intaktheit oder Nichtintaktheit des jeweiligen Raums können auch mit dem Konzept der Intuition begriffen werden. Die Phänomenologie des Raumerlebens kann auf der biologischen Ebene mit viszeralen und emotionalen Reaktionen sowie auf der funktionalen Ebene mit funktionalen Eigenschaften des Systems verstanden werden. Summarisch läßt sich zum gesamten Abschnitt zu Thomas Metzingers Selbstmodell- und Nichtselbsttheorie festhalten, daß die Hinweise zeigen, wie sehr aus phänomenologischer Sicht die räumlich-visuelle Dimension des Ich-Erlebens ein zentrales Merkmal des phänomenalen Selbst ist. Die Perspektive bildet dabei die entscheidende geometrische Struktur der erlebten Realität: sie ist geprägt durch einen Horizont, Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden, und durch einen zentrierenden Standpunkt (Point of View) – ich bin der Mittelpunkt meiner Welt. Zwar sagt Metzinger, daß Menschen sich als Volumen im Raum verorten würden, konkretisiert diese Aussage jedoch dahingehend, daß sie sich normalerweise in ihrem Körper verorten würden; diese Aussage halte ich auf der phänomenologischen Ebene für in der Regel falsch (und im übrigen von ihrem Klang her zu dualistisch). Denn phänomenologisch verorten sich Menschen in einem Innenraum – ich bin im Arbeitszimmer und nicht in meinem Körper. Wenn Metzinger im weiteren sagt, daß die Existenz eines kohärenten Selbstrepräsentats eine Selbst-WeltGrenze in das Realitätsmodell des Systems einführe, so glaube ich, daß man nach dem eben zum Volumen und zur Verortung Gesagten diese Aussage dahingehend erweitern muß, daß die Selbst-Welt-Grenze auf der phänomenologischen Ebene in der Regel eine Innenraum-Außenraum-Grenze darstellt – ich bin der Innenraum, und der Außenraum beginnt erst jenseits der Innenraumgrenze – jenseits der Fensterscheiben des Arbeitszimmers.

403 | Vgl. Thomas Metzinger: The No-Self Alternative, a.a.O., S. 294.

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II. Zweiter Hauptteil: Das Selbst

Das von Metzinger eingeführte Konzept der Intuition bzw. der Kontraintuition, die er als »funktionale Eigenschaften des Systems« begreift, bietet die Möglichkeit, die Frage nach der erlebten Stimmigkeit oder Unstimmigkeit von Räumen auch funktionalistisch und ›system‹bezogen zu interpretieren. Insgesamt lassen sich die raumtheoretischen Komponenten von Metzingers beschreibungsvielschichtiger Selbstmodelltheorie für eine Raumselbsttheorie fruchtbar machen (siehe III. Hauptteil).

K apitel II.3.d: R esümee des S elbstbegriffsteils Schon die zu Beginn des II. Hauptteils präsentierte Übersichtsliste über Selbstbegriffszusammensetzungen offenbarte eine große Fülle an möglichen Aspekten des Selbst. Im weiteren vertiefte der kursorische Anblick der Geschichte der Selbstbegriffe – und die zum Teil detaillierte Diskussion derselben – die wichtige Einsicht, daß das ›Selbst‹ als ein »multifacettiertes Phänomen« zu begreifen ist, um den klugen Ausdruck von Dan Zahavi aufzugreifen. Was die ontologische Rückbindung des Selbstbegriffs angeht, finden sich drei mögliche Hauptzuordnungen: das Selbst als Substanz; das Selbst als evolutionär und ontogenetisch entstandenes, veränderliches, vergängliches Selbst; sowie das Nichtselbst. In Hinsicht auf den Facettenreichtum des Selbstbegriffs hängen die jeweiligen Aspektzuordnungen von den eingenommenen Beschreibungsperspektiven ab. Dabei wird die Frage, welche Aspekte Philosophen und Wissenschaftler als Selbst anzuerkennen bereit sind (falls sie überhaupt die Existenz eines Selbst bejahen), auch durch eine willkürliche Auswahl entschieden. Zum Beispiel wünschen die einen Theoretiker, den Selbstbegriff ausschließlich auf das präreflexive subjektive Erleben, den interessantesten Aspekt der Selbstaspekte, reserviert zu sehen; die anderen hingegen plädieren für einen komplexeren Begriff, der sowohl das präreflexive Selbst (Innenperspektive) als auch soziale, materielle, autobiographische und alle möglichen weiteren Aspekte (aus der Innen- und der Außenperspektive) umfaßt, wobei das präreflexive Selbst als eine notwendige Bedingung für alle weiteren Selbstaspekte gemeinhin gilt. Diplomatisch ließe sich generell sagen, daß sämtliche Selbstfacetten den Menschen ausmachen können, wobei selbstredend nicht jede Selbstfacette auf jeden zutreffen muß. Um es audrücklich zu sagen: auf der phänomenalen Ebene spielt das präreflexive Erleben stets eine subkutane Hauptrolle, wozu eminent das körperliche Befinden, die erlebte Voluminosität und das Raumerleben zählen; darüberhinaus beeinflussen explizit gemachte oder distanzierte Blicke auf sich selbst (also auf den eigenen Körper, den eigenen Geist, die eigene soziale Stellung und den eigenen Lebenslauf) das psychologische Selbstbild und den Selbstwert. Auf einer außenperspektivischen biologischen Ebene hingegen formen das Körperselbst und das emotionale (propriozeptive, viskerale) Selbst unbewußt das eigene phänomenale Selbstbefinden mit. Entsprechende Differenzierungen ließen sich für etliche weitere Selbstbegriffe formulieren. Jedenfalls hat der Durchgang durch die unterschiedlichen Selbsttheorien gezeigt, daß der Selbstbegriff ohne einen Begriff menschlicher Räumlichkeit nicht zu verstehen ist. Der Zusammenhang von Selbst und Raum offenbarte sich früh

Kapitel II.3

anhand der Körperlichkeit des Menschen und damit anhand seiner ausgedehnten Voluminosität. Auch wurde deutlich, daß Menschen sich schon allein aufgrund ihrer Situiertheit in einer natürlichen wie künstlichen Umwelt wie in einer sozialen Mitwelt insgesamt in einem dreidimensionalen und auch insofern räumlichen Zusammenhang befinden. Wo immer ich mich befinde, finde ich mich in Resonanz mit den Wänden meiner Umgebung wieder. Im folgenden möchte ich zeigen, inwiefern der räumliche Aspekt des Selbst ohne einen Begriff des Innenraums und des Außenraums nicht zu denken ist. Was in den Selbsttheorien bislang fehlt, ist nicht der Aspekt der Räumlichkeit an sich, sondern der Aspekt des Innenraums selbst – der Aspekt des Zusammenhangs von Selbst und Innenraum, der Aspekt der Bipolarität von Innenraum und Außenraum, der Aspekt der Perspektive als eines Effekts der Innenraumsituiertheit. Was also fehlt, ist eine Theorie des Innenraums als einer Theorie des Selbst.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu perzipieren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes, gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnissvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend. Woher, in aller Welt, bei dieser Constellation der Trieb zur Wahrheit! Friedrich Nietzsche 1 Ein Individuum ist ein RAUM von Möglichkeiten – (M. Teste) lebt in dem allgemeinsten Interieur […]. Paul Valéry 2 Und verläßt man ein Zimmer, in dem man länger gewohnt hat, so sieht man sich sonderbar um, bevor man geht. Auch hier blieb noch etwas zurück […]. Ernst Bloch 3

1 | Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, KSA, a.a.O., Band 1, S. 877. 2 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 140. Sowie: Paul Valéry: Werke, Frankfurter Ausgabe, Band 1, Dichtung und Prosa, Frankfurt a.M. und Leipzig 1992, S. 315. 3 | Ernst Bloch: Eben jetzt, in: E. B.: Spuren, Frankfurt a.M. 1985, S. 97.

Kapitel III.1 Theorie: Entwicklung des Begriffs eines ›Raumselbst‹

Ich komme nun zu jener Etappe dieser Arbeit, in welcher ich aus vor allem repräsentationalistischer Sicht zu erläutern versuche, inwiefern das bewußte Erleben eines Innenraums zum Erleben eines Selbst führen muß. Im Anschluß daran führe ich einige phänomenologische Beispiele für das Raumerleben komprimiert an (zusätzlich zu den oben im Text bereits untergekommenen), anhand derer ferner deutlich werden soll, inwiefern sie zugleich Beispiele für das Selbsterleben sein können. Daraufhin verweise ich auf zwar wenige, doch sehr aussagekräftige neurowissenschaftliche Befunde und Erkenntnisse im engeren Sinne, die dazu geeignet sind, auch von dieser Seite aus die Raumselbstthese zu stützen. Auch werde ich mögliche zukünftige neurowissenschaftliche Forschungsansätze wenigstens andeuten. Danach wird es möglich sein, die wichtigsten Befunde dieser Arbeit festzuhalten. Schließlich und endlich werde ich aus raumselbsttheoretischer Sicht abschließende Bemerkungen über den Menschen im allgemeinen machen und zeigen, daß dieser sich als jenes unheimliche Lebewesen beschreiben läßt, das zwischen Jemand-sein und Niemand-sein hin- und herläuft, als wäre das Laufen sein eigentlicher Diskurs, und das die anziehende Möglichkeit besitzt, im Wohnen sein unübersteigbares Glück zu machen.

Das Bewußtsein aus repräsentationalistischer Sicht 1 Wie mehrfach erwähnt, läßt sich das bewußte menschliche Erleben der Welt – so, wie sie dem Menschen erscheint: nämlich als eine bestimmte Umwelt – aus repräsentationalistischer Sicht nicht nur als eine Vorstellung beschreiben, als eine Konstruktion nicht zuletzt des Gehirns2, sondern auch als eine spezielle Form der 1 | In diesem Abschnitt stütze ich mich auf eigene, hier allerdings zum Teil stark überarbeitete Überlegungen in meinem Buch ›Alle im Wunderland‹, München 2010. 2 | Ich werde auf die wiederholt erwähnte Problematik solcher Formulierungen im folgenden nicht mehr eigens verweisen und folglich auch Wendungen wie ›das Gehirn entscheidet‹, ›das Gehirn konstruiert‹ etc. zulassen. Gleichwohl ist mir die Problematik stets bewußt und sie ist stets mitbedacht.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Darstellung oder ›Übersetzung‹ von ›Sachverhalten‹ der biologisch-physikalischen Wirklichkeit außerhalb des biologischen Körpers und auch der organischen Wirklichkeit des eigenen biologischen Körpers. Diese transparent-phänomenal erlebte Darstellung läßt sich somit als eine bestimmte für mich zugängliche Form der Information über die biologisch-physikalische Wirklichkeit bzw. über meine biologisch-physikalische Umgebung und über mich als einem organischen Wesen in dieser beschreiben. Was Menschen sehen, hören, ertasten, fühlen, riechen und schmecken ist so gesehen auch eine geschlossen scheinende, einheitliche, gleichwohl selektive und bewertete Wahrnehmung, oder unbewußte ›Interpretation‹, dessen, was in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit oder in einem selbst vor sich geht. Das Erleben der Welt bzw. einer bestimmten Umwelt ist aus repräsentationalistischer Modellperspektive3 das Erleben eines transparenten Modells der biologisch-physikalischen Wirklichkeit bzw. überhaupt das Erleben eines transparenten Modells von sich als eines von einem selbst in der Regel einheitlich erlebten Lebewesens in einer bestimmten phänomenalen Umwelt. ›Transparenz‹ bedeutet, daß Menschen das Modell auf der phänomenalen Ebene nicht als Modell wahrnehmen, sondern einfach als ›sich selbst‹ oder als ›die Welt‹. (Das Wort ›Modell‹ ist hier letztlich eine repräsentationalistische Metapher für jenen zerebralen, sich ständig wandelnden ›Zustand‹, welcher einen Welt- und einen Ich-›Zustand‹ ›repräsentiert‹ oder darstellt.) Diese jeweiligen Modelle wären, in Thomas Metzingers Worten, »niedrigdimensionale Projektionen innerhalb des zentralen Nervensystems eines biologischen Organismus«4. (Weil der Begriff ›Projektion‹ unter anderem die Frage aufwirft, wer was wohin projiziert, und damit letztlich mehr Rätsel schafft als er löst, würde ich auf ihn lieber verzichten; statt ›Projektion‹ kann man meines Erachtens einfach ›Modell‹ sagen – und statt ›Modell‹ eben ›ein bestimmter, im Zuge der Wirklichkeitsbegegnung des Organismus auf der neurobiologischen Ebene hervorgerufener zerebraler dynamischer, sich ständiger wandelnder ›Zustand‹‹.) Das heißt, daß Menschen nicht ›die‹ Wirklichkeit erleben – was ohnehin logisch und ontologisch unmöglich wäre –, sondern die Welt oder ihre unmittelbare Umwelt anhand der unbewußten transparenten Modelle oder Darstellungen oder ›Interpretationen‹ oder Fiktionen bezüglich ihrer Wirklichkeitsbegegnung. Die Funktion der Sinnesorgane (und der bewußten Vorstellungen) ist es dabei, die Überlebensfähigkeit des Lebewesens zu verbessern und somit die Wahrscheinlichkeit seines Überlebens zu erhöhen; ihr Zweck ist es aber nicht, die biologischphysikalische Wirklichkeit oder den biologischen Körper ›wirklichkeitsgetreu‹ darzustellen (was wie gesagt ohnehin logisch und ontologisch unmöglich ist). Beim Bewußtsein oder dem bewußten Erleben handelt es sich demnach um eine vornehmlich vom Gehirn eines Menschen anhand der wahrgenommenen Reize unbewußt ›erzeugte‹ funktional angemessene Echtzeitinterpretation der biologisch-physikalischen Wirklichkeit mitsamt einer gleichzeitigen Interpretation der Position des Organismus in dieser Wirklichkeit. Es ist eine Konstruktion, die der Mensch in seinem gewöhnlichen, naiven Realismus wie gesagt einfach als ›die Welt‹ (bzw. ›seine Umwelt‹) oder als ›sich selbst in der Welt‹ wahrnimmt, ohne daß 3 | Siehe wie bemerkt im Anhang den methodologischen Exkurs zum Begriff des ›Modells‹ und Lambert Wiesings Kritik an seiner falschen Verwendung. 4 | Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, a.a.O., S. 42.

Kapitel III.1

er deren Interpretations-, Darstellungs- und Konstruktionscharakter phänomenal durchschaut. Die vom Menschen unbewußt im Gehirn erzeugte Interpretation der Wirklichkeit umfaßt dabei allerdings nicht nur die aktuelle Wirklichkeit und die aktuellen Körperzustände, sondern bezieht auf der phänomenalen Ebene vergangene und zukünftige, wünschenswerte und zu vermeidende Zustände sowie die Beziehungen zu anderen Menschen, Lebewesen, Gegenständen und Landschaften als auch die symbolische Dimension mit ein, welche wiederum die Wahrnehmung der Wirklichkeit stark mitbeeinflußt und darüberhinaus auch symbolische Wirklichkeiten erschafft. Wichtig ist dabei, daß in der Interpretation und Darstellung der Wirklichkeit immer zugleich der eigene Organismus als in die (interpretierte) Wirklichkeit eingebettet und auf sie hin ausgerichtet dargestellt wird. Deshalb ist auf der phänomenalen Ebene das Erleben der Welt immer mein Erleben der Welt als einer bestimmten Umwelt – jener Umwelt, zu der ich immer in einer bestimmten Beziehung stehe.

Das Erleben eines Innenraums aus repräsentationalistischer Sicht Mit diesen Andeutungen und Erinnerungen zum Begriff des Bewußtseins im Sinn läßt sich das Innenraumerleben repräsentationalistisch interpretieren. Wie gesagt, fühle ich mich auf der phänomenalen Ebene in einem intakten Innenraum wie etwa meinem Arbeitszimmer üblicherweise wohl; der Raum fühlt sich für mich intuitiv ›richtig‹ an. Ich erlebe diesen Innenraum und zugleich notwendigerweise die Grenzen dieses Innenraums, die durch die Wände, die Türe und die Fenster gebildet werden. Durch das Fenster sehe ich hinaus und erblicke einen bestimmten Außenraum. Dabei wirkt allgemein gesprochen jeder Außenraum auf mich unterschiedlich, je nachdem, ob er sich etwa als eingehegter Garten oder als verwilderter Park, als Autobahn oder Flanierbaumallee, als kahle Nachbarhauswand, als Urwald oder Kuhweide, als Gebirgssee oder als reißender Fluß oder wie auch immer manifestiert. Für das intuitive Wohlgefühl im Innenraum ist es dabei von großer Bedeutung, daß die Grenze durchlässig ist – und ich etwa jederzeit die Fenster öffnen und lüften oder durch die Türe treten und zum Einkauf in den Gemüseladen an der Ecke gehen kann (vorausgesetzt, beim Öffnen der Fenster entsteht keine Gefahr – etwa weil von der nahegelegenen Ölraffinerie giftige Dämpfe in die Umwelt gelangen oder weil von einer Hauptverkehrsstraße krebserregender Feinstaub in die Wohnung weht). Könnte ich nicht nach draußen gehen oder wären die Türen und Fenster von außen verriegelt und verrammelt, fände ich mich de facto in einem Kerker wieder, mein Überleben, das notwendigerweise auch an die Beschaffung von Lebensmitteln gebunden ist, wäre in Frage gestellt, ja, ich würde in einer solchen Situation früher oder später entsprechend verzweifelt sein und Gefühle tiefgreifenden Unwohlseins erleiden. Wie gesagt läßt sich das Bewußtsein schlicht als mein Erleben der Welt (der unmittelbaren Umwelt) verstehen. Dabei kann man nun aus neurowissenschaftlich-repräsentationalistischer Sicht sowohl mein Erleben des Arbeitszimmers (des Innenraums), als auch mein Erleben der Wände, der Türe und der Fenster (der

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Grenze) als auch mein Erleben der Straße (des Außenraums) als zu einem Bewußtseinsraum gehörend interpretieren. Auch mein leibliches Erleben ist gemäß dieser Sicht Teil dieses einen Bewußtseinsraums: aber ich erlebe mich dabei auf der phänomenalen Ebene nicht in der Welt an sich situiert, sondern zunächst im Arbeitszimmer (in einem bestimmten, konkreten oder übertragenen Innenraum). Das ist ein wichtiger Punkt, der eigens betont zu werden verdient: Menschen erleben sich nicht in der Welt (was auch immer das hieße) situiert, sondern in einer unmittelbaren Umwelt bzw. in bestimmten Innenräumen. Der entscheidende Punkt ist nun, daß, wenn ich auf der phänomenologischen Ebene das phänomenale Erleben von Innenraum und Außenraum unterscheiden kann, es gemäß den Prämissen dieser Arbeit offenbar ist, daß diese Unterscheidung auch auf der repräsentationalistischen Ebene im Gehirn ›realisiert‹ oder eben repräsentiert oder dargestellt werden muß. Zur Erinnerung: Wenn ich im Arbeitszimmer bin und eine eindeutige Umgrenzung zwischen dem Innenraum und dem Außenraum erlebe (die geschlossenen Fenster, die geschlossene Tür), dann fällt es mir intuitiv leicht, einen umgrenzten Innenraum als Einheit zu erleben – wobei ich implizit das Gefühl habe, gewissermaßen dieser Innenraum zu sein: Ich bin das Arbeitszimmer (ich bin die Küche, ich bin das Wageninnere, ich bin mein Werk, ich bin meine Familie etc.). Wäre die Umgrenzung nicht eindeutig oder intakt, etwa weil die Türe zertrümmert im Zimmer am Boden läge, die Fenster zerbrochen wären und Regen und Schnee in die Wohnung fielen etc., dann würde ich diesen nicht-intakten Innenraum auch nicht als einen einheitlichen Innenraum erleben und folglich nicht als Selbst. Nun muß man sich bewußt halten, daß der Satz ›Ich bin dieses Arbeitszimmer‹ nicht nur implizit-phänomenal zu verstehen, sondern auch repräsentationalistisch zu interpretieren ist; sowohl das ›Ich‹ als auch das ›Arbeitszimmer‹ sind entsprechend jeweils Interpretationen oder Darstellungen, die in meinem Gehirn entstehen: Das ›Arbeitszimmer‹ ist eine Interpretation eines bestimmten Ausschnittes der repräsentierten biologisch-physikalischen Wirklichkeit, das ›Ich‹ eine Interpretation meiner selbst (in dem Fall: meines Organismus) und meiner Situiertheit in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit; wobei diese repräsentationalistische wie phänomenale Situiertheit, wie ich behaupte, im Regelfall erst durch unbewußte Identifikation (Gleichsetzung) von repräsentiertem ›Innenraum‹ und repräsentiertem ›Ich‹ zustandekommt.5 Damit sich Menschen also auf der phänomenalen Ebene intuitiv als Ganzheit erleben, ist das Erleben einer phänomenalen räumlichen Umgrenzung entscheidend. Diese phänomenale Umgrenzung ist je nach Situation verschieden und wechselt, was das erlebte Umgrenzungsvolumen angeht, ständig. Um es holzschnittartig zu sagen: wenn ich extrem friere und darunter leide, umgibt die Umgrenzung den Körper mehr oder weniger unmittelbar; fühle ich mich hingegen körperlich warm und wohlig, dann weitet sich die Umgrenzung automatisch. Wenn ich demnach nicht friere und auch ansonsten meinen Körper nicht expli5 | Welche möglichen neurobiologischen Befunde diese zentrale These untermauern könnten, deute ich unten in ›Kapitel III.3: Praxis: Teil zwei (von zweien)‹ wenigstens an. Dagegen können auf der phänomenologischen Beschreibungsebene als indirekte Hinweise für die Schlüssigkeit der These all jene unterschiedlichen Formen von Wohlgefühl gelten, welche mit dem Erleben von intakten Innenräumen einhergehen.

Kapitel III.1

zit bemerke (kein starkes Hungergefühl, keine pochenden Zahnschmerzen, keine höllischen Magenbeschwerden), dann benötigt das bewußte ›Ich‹ – jenseits vorausliegender unbewußter körperlich-propriozeptiver ›Ich‹-Prozesse – gleichwohl das Erleben einer phänomenal bewußten Umgrenzung, um sich als Einheit und damit überhaupt als ganzes Ich erleben zu können: Und genau diese einheitstiftende Umgrenzung erlebt das ›Ich‹ im Erleben des Arbeitszimmers – das Arbeitszimmer wird zum Ich. Es ereignet sich folglich eine unbewußte Identifikation der unbewußten ›Ich‹-Interpretationsprozesse mit jenen Prozessen, welche den ›Innenraum‹ interpretieren oder darstellen. Das Erleben der phänomenalen Innenraumganzheit geht hierbei mit zunächst unbewußtem Wohlgefühl einher, das dem Organismus, der sich seiner selbst nicht bewußt ist, gewissermaßen zu verstehen gibt, daß im Augenblick alles in Ordnung ist und seine Innen-Außen-Grenze intakt ist. Es zeigt sich jetzt allmählich, inwiefern die These dieser Arbeit, daß das Ich aus dem Innenraum entstehe, aus repräsentationalistischer Sicht zu verstehen ist: Der wahrgenommene, interpretierte oder dargestellte umgrenzte intakte Innenraum wird vom Gehirn ›verwendet‹, um auf der bewußten Ebene ein Ich zu bilden und zu erleben. So gesehen bin ich, formelhaft formuliert, gleich dem Raum (Raum = Ich).

D as A rbeitszimmer als I nnenr aum und nicht als A ussenr aum Sind das alles nicht bloß Molekülwanderungen und die wiederum ein Pulsieren der Energiefäden, die nirgends hingehen, nirgendwo sind, weil ihr Pulsieren nur wie in einem Raum erscheint, diesen geometrischen Zusammenhang mit Orten, an denen sie sein könnten, erst vorspiegelt, es den Raum aber, wenn wir ganz genau sind, auch nicht gibt. Alles scheint auf alles zu verweisen und dann am Ende der größten Genauigkeit auf nichts mehr. Michael Hampe 6

Es stellt sich nun die Frage, wie es dazu kommen kann, daß ich mein Arbeitszimmer überhaupt als Innenraum erleben kann – und nicht etwa als Außenraum oder einfach als Raum. Um den Sinn dieser auf der phänomenologischen Ebene sinnlos anmutenden Frage zu verdeutlichen und auch eine Antwort auf sie geben zu können, ist ein Schritt zurück notwendig. Von der Ontogenese, der körperlichen Entwicklung eines Menschen her gesehen, laufen zunächst einfach nur die entsprechenden jeweiligen Prozesse des jeweiligen individuellen Organismus ab; die Prozesse dieses Organismus ›beziehen sich‹ dabei stets auf den Organismus, dessen Teil sie sind und den sie letztlich ausmachen, und sie ›beziehen sich‹ auf die Interaktion mit seiner biologisch-umweltlichen Situation. Dabei ›weiß‹ der individuelle Organismus in der Regel stets, 6 | Michael Hampe: Tunguska oder Das Ende der Natur, München 2011, S. 182f. Das Zitat stammt aus dem Mund eines fiktiven Philosophen namens Feierabent (dessen Name bewußt auf den wirklichen Philosophen Paul Feyerabend anspielt).

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

was zu ihm gehört und was nicht; er unterscheidet stets zwischen Eigenem und Nicht-Eigenem (Fremdem). Eigenes ist demnach stets Teil des Organismus, Fremdes nicht Teil des Organismus. Eigenes ist zunächst, biologistisch gesehen, in einer frühen postnatalen Phase der eigene Körper, und das, was diesen unterstützt (etwa Mutterwärme, Muttermilch); dieser Körper nimmt selbst Raum ein und ist räumlich-dreidimensional strukturiert. Seine räumliche Struktur bildet biologistisch zunächst die Hauptsphäre des Eigenen, im Gegensatz zur Sphäre des Fremden, das zunächst alles das ist, was nicht Teil des Körpers ist oder ihm nicht guttut. Wenn der Körper – die Gesamtheit aller so verstandenen, selbstbezüglichen Prozesse – nun eine sein Überleben bedrohliche Situation ›erlebt‹, dann reagiert er wie auch immer auf diese Situation. Das ›Erleben‹ oder ›Erkennen‹ einer bedrohlichen Situation muß der Körper offensichtlich ›sich selbst‹ (oder anderen) erst bewußt signalisieren – er muß quasi ›erkennen‹, daß überhaupt Gefahr im Verzuge sei. Die ›Erkenntnis‹, wie es um ihn stehe, erfolgt mittels Emotionen oder Gefühlen, die vom betreffenden Menschen als entweder angenehm oder als unangenehm empfunden werden. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn ein neugeborenes Kind unbewußt Hunger empfindet, dann ist objektiv gesehen sein Überleben in Frage gestellt – sein Ableben nur eine Frage der Zeit. Das Kind seinerseits ›bemerkt‹ sozusagen unbewußt, daß etwas in ihm selbst anwesend ist, was sein Überleben in Frage stellt: die Leere des Magens. Diese Leere des Magens ›wertet‹ es gewissermaßen als etwas Nicht-Eigenes oder Fremdes. Das Fremde, das in ihm ist, ist der Hunger. Es handelt sich demnach um einen Menschen oder biologistisch gesprochen um einen Organismus, der ›sich selbst‹ als Eigenes ›empfindet‹, in dem etwas Fremdes anwesend ist, das ihn bedroht. Damit aber der Organismus das Fremde überhaupt als eine Bedrohung des eigenen Überlebens empfinden kann, wird er in der Regel das Fremde sich als Bedrohliches signalisieren – und dieses Signal wird durch ein Gefühl vermittelt, das als ein unangenehmes empfunden wird. Erst aufgrund dieses unangenehmen Gefühls setzt sich jener Prozeß in Gang, der das Unangenehme verhindern oder auflösen soll. Im Falle des hungernden Kindes wird dieses unbewußt aufgrund evolutionärer Prägung durch Weinen und Schreien dafür sorgen, daß die Mutter kommt und es stillt. Indem das Kind über den Mund die Muttermilch trinkt, nimmt es etwas in sich auf, das es als etwas angenehmes wahrnimmt und das zugleich das unangenehme Gefühl des Hungers verdrängt. Ist das Kind gestillt, ist es wieder ganz bei sich, ist es wieder ganz Eigenes – auch dieses signalisiert es sich mit einem Gefühl, das es als ein angenehmes wahrnimmt. Die Fähigkeit, diese erste Muttersprache der Gefühle sprechen und ausdrücken zu können – etwas als angenehm oder als unangenehm bewerten zu können –, ist praktisch das körperliche ABC, das die Evolution jedem Menschen lange vor seiner Einschulung mit auf den Weg gegeben hat. Akzeptiert man cum grano salis diese Betrachtungsweise, dann läßt sich aus einer biologistischen Sicht sagen: Menschen haben einen Organismus, der unbewußt zwischen sich und anderem unterscheiden kann und der das Eigene als angenehm und das Fremde als unangenehm empfindet. Dabei ist das Gefühl des Angenehmen immer bezogen auf den eigenen Körper bzw. auf den eigenen, von der biologischen Umwelt auf geregelt durchlässige Weise abgegrenzten Körperraum. Ferner ist die erste, auch phänomenal betastbare Körpergrenze zunächst die Haut,

Kapitel III.1

die auf unterschiedliche Weise mit der biologischen wie phänomenalen Umwelt ›interagiert‹ (schwitzen, Kälte empfinden etc.). Der Organismus ist also stets das Eigene; und das Eigene wird als angenehm bewertet. Das nun, was man auf der phänomenologischen Beschreibungsebene als innen betrachtet, ist all das, was Teil des Organismus ist (oder das, was der Organismus als Teil des Organismus wertet); und außen ist entsprechend all das, was nicht Teil des Organismus ist oder ihn bedroht. Das Entscheidende hinsichtlich der Wörter innen und außen ist also, daß sie mit Eigenem und mit Angenehmem bzw. mit Fremdem und Unangenehmem identifiziert werden. Innen wird also mit allem identifiziert, was Teil des Organismus sein soll, und außen mit allem, was nicht Teil des Organismus sein soll. Nun komme ich zu der eingangs dieses Abschnitts gestellten Frage, wie es sein kann, daß ich auf der phänomenalen Ebene mein Arbeitszimmer als Innenraum erlebe (und nicht etwa als Außenraum). Angenommen, ich befinde mich an einem Wintertag in meinem Arbeitszimmer und betrachte das Arbeitszimmer, sehe die geschlossenen Fenster und sehe jenseits der Fenster den Regen fallen. Ich weiß, daß ich im Zimmer bin, daß die geschlossenen Fenster mich vor dem Eindringen der Kälte und vor dem Regen schützen und daß es draußen unangenehm kalt ist. Das, was ich sehe, was mein Bewußtsein ausmacht, ist also die Welt, welche eben geteilt ist in den Innenraum (das Arbeitszimmer, in dem ich sitze) und in den Außenraum (den Raum jenseits der Fenstergrenze). Die Tatsache, daß ich einen Innenraum und einen Außenraum unterscheiden kann, ist dabei Teil meines phänomenalen Erlebens, Teil meiner unbewußten zerebralen Interpretation oder Darstellung der biologisch-physikalischen Wirklichkeit. Denn aus der biologisch-physikalischen Perspektive gesehen, das sei wiederholt, gibt es in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit überhaupt weder Innenräume noch Außenräume (siehe oben das Motto-Zitat des halbfiktiven Philosophen Feierabent). In der biologisch-physikalischen Wirklichkeit gibt es lediglich unermeßlich viele unterschiedliche, größtenteils physikalisch beschreibbare Vorgänge auf Teilchen- und Wellenebene. Damit biologisch-physikalische Wirklichkeit als Raum erscheint, insbesondere als Innenraum oder als Außenraum, braucht es jemanden, für den ein bestimmter Raumausschnitt ein phänomenaler Innenraum ist oder für den ein bestimmter Raumausschnitt ein phänomenaler Außenraum ist. (Die Frage nach der Möglichkeit von intentionalem Bezug auf Äußeres als Frage nach der Möglichkeit des ›Außerhalbliegens‹ der Wahrnehmungsgegenstände trotz ihrer Interpretation durch innerorganismische Nervenvorgänge formuliert erstmals der legendäre Schweizer Physiologe und skurrile Ovulist Albrecht von Haller im Jahre 1762.7 Kant führte die Fähigkeit, ein Außen oder Außerhalb wahrzunehmen, bekanntlich auf den von ihm so genannten »äußeren Sinn« zurück – dieser soll die Tatsache erklärbar machen, daß der Mensch überhaupt ein von ihm getrenntes als sein Außerhalb ansprechen kann.8 Kant sah demnach das Problem (oder ein Teil des Problems) und löste es durch die Einführung eines »äußeren Sinnes«.)

7 | Albrecht von Haller: Elementa physiologiae corporis humani. Bände 1-8, Lausanne und Bern 1757-1766. 8 | Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, a.a.O., S. B 37 (S. 51f.).

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Und das vom Menschen Verschiedene oder Getrennte ist eben stets das, was jenseits einer wirklichen oder imaginierten Grenze liegt. Sitze ich also im Arbeitszimmer, dann ist auf der phänomenalen Ebene ›draußen‹ für mich nicht die ›Gegend‹ direkt jenseits der Haut, also etwa die ›Gegend‹ meines Schreibtischs oder überhaupt der Zimmerinnenraum mit Bücherwänden und Sofa, sondern ›draußen‹ ist für mich die Sphäre jenseits der Fenstergrenze! Diese aus der Alltagsperspektive banale Tatsache ist aus biologistischer oder wissenschaftlicher Sicht auf den Organismus keine banale Tatsache, sondern erstaunlich und muß folglich erklärt oder interpretiert werden. Nun interpretiert das Gehirn stets auch meinen biologischen Organismus, von dem es selbst ein Teil ist, und diese Interpretation muß die Position des Organismus, der sich innerhalb der biologisch-physikalischen Wirklichkeit befindet, sich aber von dieser abgrenzt, mitdarstellen. Es erscheint demnach plausibel, daß bei der Interpretation oder Darstellung des Organismus auch die Grenze zwischen Organismus und biologisch-physikalischer Wirklichkeit oder besser seiner unmittelbaren biologisch-physikalischen Umwelt mitdargestellt wird – die Grenze also zwischen Eigenem (biologischem Organismus) und Nicht-Eigenem (biologischphysikalischer Wirklichkeit) und damit nach dem oben gesagten auch zwischen Angenehmem und Nicht-Angenehmem, zwischen ›innen‹ und ›außen‹. (Und oben konnte festgestellt werden, daß, wenn ich phänomenal den Innenraum vom Außenraum unterscheiden kann, es offenbar ist, daß diese Unterscheidung auch auf der repräsentationalistischen Ebene im Gehirn ›realisiert‹ oder eben repräsentiert bzw. dargestellt werden muß.) Es spricht also alles dafür, daß auf jeder Ebene des menschlichen Organismus, von der biologischen über die repräsentierenddarstellende bis zur phänomenalen, zwischen Eigenem und Nicht-Eigenem bzw. zwischen ›innen‹ und ›außen‹ unterschieden wird. Die Frage also ist, wie der einzelne Mensch die auf der neurobiologischen Ebene erfolgende Darstellung des Organismus (als ein in einer biologisch-physikalischen Wirklichkeit situierter) auf der phänomenalen Ebene erlebt – und die These meiner Arbeit besagt: diese auf der neurobiologischen Ebene erfolgende Darstellung der Situiertheit des Organismus in einer bestimmten biologisch-physikalischen Wirklichkeit wird auf der phänomenalen Ebene als phänomenaler Innenraum erlebt. Anders formuliert lautet die Frage: Wie wird auf der phänomenalen Ebene die Grenze oder die Umgrenzung des Organismus erlebt und in welcher Form kommt das ›Sich-Erleben‹ des Organismus überhaupt zum phänomenal bewußten Erscheinen? Die Antwort lautet: Das Gehirn ›sucht‹ im repräsentierten Welt-Raum, der dargestellten biologisch-physikalischen Wirklichkeit, nach einer Grenze oder Umgrenzung bzw. ›erfindet‹ eine solche, mit deren Hilfe aus dem einen Welt-Raum zwei Räume werden – Raum 1 und Raum 2; im Beispielfall wird die repräsentierte Fensterwand als Grenze ›verwendet‹. Genau in dem Augenblick nun, in dem das Gehirn einen der beiden dargestellten Räume (nämlich den, der auf der biologischphysikalischen Ebene näher liegt) der Darstellung des eigenen Organismus ›zuordnet‹, ist die Interpretation oder Darstellung des eigenen Organismus perfekt – auf der phänomenal bewußten Ebene erscheint das Ich als der eine, näherliegende Raum. Das erlebte Ich ist demnach nichts anderes als die phänomenale Darstellung des eigenen Organismus in Form eines erlebten Innenraums.

Kapitel III.1

Um einer möglichen Konfusion mit einigen klaren rekapitulierenden Sätzen zu begegnen: Aus einer biologistischen Sicht ist der Mensch ein organisch-individuelles, mit seiner Umwelt wie auch immer ›interargierendes‹ soziales Lebewesen. Aus dieser Sicht ist der Mensch natürlich nicht der alltäglich verstandene Innenraum im Sinne eines Arbeitszimmers oder im Sinne einer Familie. Auch aus einer alltagsperspektivischen Sicht würde jeder zunächst sagen, daß es einen großen Unterschied gibt zwischen dem Zimmer, in dem ich mich aufhalte, und mir selbst. Allerdings würde man aus alltagsperspektivischer Sicht in der Regel auch zugeben, daß Menschen sich in bestimmten Innenräumen sehr wohl fühlen – ›wie zuhause‹; und man würde auch zugeben, daß Menschen Räume auch prägen (wie auch umgekehrt Räume Menschen prägen). So weit, so gut. Gleichwohl lassen sich zwei weitere Aussagen machen, die in diesem Zusammenhang die beiden wichtigsten sind. Aussage 1 (mit Betonung auf das repräsentationalistische Moment): Mit Hilfe einer repräsentationalistischen (oder darstellungstheoretischen) Sicht läßt sich sehr wohl sagen, daß auf neurobiologischer Ebene die Grenze zwischen Organismus und Nicht-Organismus wie auch immer dargestellt werden muß und daß der Mensch diese neurobiologisch dargestellte Grenze auf der phänomenalen Ebene wohl irgendwie erleben muß – und der Punkt gemäß meiner These ist eben der: er erlebt sie als phänomenale Grenze zwischen phänomenalem Innenraum und phänomenalem Außenraum. Die Tatsache also, daß Menschen wie gesagt überhaupt zwischen innen und außen unterscheiden können, wie sie es tun (draußen ist der Bereich jenseits der Fenster und nicht mein Schreibtisch, obwohl dieser biologistisch gesehen nicht Teil meines Organismus ist), zeigt indirekt, daß auf der neurobiologischen Ebene zwischen Organismus und Nicht-Organismus, zwischen Eigenem und Nicht-Eigenem unterschieden wird (was freilich ohnehin plausibel ist) und daß diese Unterscheidung (was neu und überraschend ist) offenbar auch oder vor allem mit Hilfe von phänomenal dargestelltem (Eigen- oder) Innenraum und phänomenal dargestelltem (Nicht-Eigen- oder) Außenraum erfolgt. Umgekehrt formuliert: offenbar wird die auf der neurobiologisch-repräsentationalistischen Ebene erfolgende Darstellung des Unterschiedes zwischen Organismus und Nicht-Organismus auf der phänomenalen Ebene übertragen auf die phänomenal erlebte Unterscheidung zwischen phänomenalem Innenraum und phänomenalem Außenraum. Aussage 2 (mit Betonung auf das phänomenologische Moment und mit einer Erinnerung an Bollnow und Metzinger): Betrete ich also einen intakten Innenraum, so identifiziere ›ich‹ mich automatisch auf einer in der Regel implizit bleibenden Ebene mit diesem Innenraum – das heißt der Innenraum wird zu meinem phänomenalen Ich. Ich erlebe mich nicht primär als auf einem Stuhl an einem Tisch sitzend, sondern ich erlebe mich vor allem als ein Mensch, der sich in einem bestimmten Innenraum befindet. Was ich also zunächst Raumselbst nenne, wäre dieses implizit bleibende phänomenale Raumgefühl.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Die auf der zerebralen Ebene erfolgende Darstellung zwischen Eigenem und Nicht-Eigenem findet auf der phänomenalen Ebene als »Verräumlichung«9 statt mit wenigstens zwei von einander als unterschieden erlebten Räumen, von denen einer als der eigene Raum (und damit als Innenraum) erlebt wird. Ähnlich hatte es Bollnow dargestellt, wie oben referiert: für ihn war es die Grenze, die »deutlich erkennbar den Eigenraum, mit dem ich mich identifiziere, der ich also in irgendeinem Sinn ›bin‹, von dem andern Raum scheidet, der ich nicht mehr bin, der nicht zu mir gehört und der mir fremd ist«10. Diese Bollnowsche Aussage würde ich dabei so umformulieren: das Gehirn stellt die Grenze zwischen Organismus und biologisch-physikalischer Wirklichkeit, von der der Organismus sich abgrenzt, auf die er gleichwohl bezogen bleibt, auf eine Weise dar, daß ein bestimmter Bereich der dargestellten Wirklichkeit von einem anderen dargestellten Bereich abgegrenzt wird, so daß auf der phänomenalen Ebene zwei Räume entstehen, wobei eben der näherliegende als eigen (oder innen) und der fernerliegende als nicht-eigen (oder außen) gelabelt wird; der Mensch erlebt sich dabei, und das ist entscheidend, aufgrund einer intrazerebralen Identifikation (Gleichsetzung) von dargestelltem Innenraum und dargestelltem Organismus auf der phänomenalen Ebene in der Regel als einen phänomenalen Innenraum und damit – der Identifikationsprämisse gemäß – implizit oder präreflexiv als ein phänomenales Selbst. Das heißt, im gesunden und ausgeglichenen, also phänomenal weitgehend unauffälligen, Körperzustand erlebe ich auf der phänomenalen Ebene weniger meinen phänomenalen Körper als vielmehr den phänomenalen Innenraum (wobei stets zu erinnern bleibt, daß der phänomenale Innenraum auf der zerebralen Ebene ein bestimmter Gehirnzustand ist und damit selbst wieder Teil meines biologischen Körpers: ich ›erlebe‹ also den phänomenalen Innenraum auf der zerebralen Ebene nichtbewußt als einen bestimmten Gehirnzustand meiner selbst, nämlich als den zerebral dargestellten Innenraum alias Selbst). Um also meine Position von Bollnows Position abzugrenzen, behaupte ich folglich, daß Bollnow mit seinem Satz, so richtig dieser cum grano salis auch ist, offenbar die entscheidende Erkenntnis nicht gewinnt: nämlich, daß das Erleben des Innenraums tatsächlich das Erleben des impliziten Ichs ist (ohne Anführungszeichen). Auf der phänomenal impliziten Ebene bin ich wirklich nichts anderes als der phänomenal erlebte Innenraum. (Gleichwohl muß man betonen, um jedes Mißverständnis zu vermeiden, daß dieses Erleben eines Innenraums selten nur ›rein‹ oder eindeutig ist, sondern daß das phänomenale Bewußtsein eines Menschen ständig Veränderungen unterworfen ist oder sein kann, nicht zuletzt, was das eigenkörperliche bewußte Erleben betrifft – etwa wenn plötzlich starke Bauch- oder Zahnschmerzen auftreten oder ich großen Schwindel erlebe, Empfindungen also, die so heftig sein können, daß ich im phänomenalen Erleben den phänomenalen Raum phänomenalen Raum sein lasse und mich hinlege und die Augen schließe; in diesem Fall zieht sich der erlebte Raum gewissermaßen auf das eigenkörperliche Erleben zusammen. Die erlebten Innenräume oder Zustände verschränken sich daher oft und gehen ineinander über.) 9 | Georg Simmel: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: G. S.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, a.a.O., S. 623f. 10 | Bollnow: Mensch und Raum, a.a.O., S. 239.

Kapitel III.1

Aus dem Gesagten folgt demnach unter anderem, daß Menschen unbewußt ständig versuchen, egal, wo sie sind, einen phänomenalen Innenraum zu erleben. Stehe ich, um ein extremes Beispiel zu bringen, an einem bewölkten Tag alleine in einer kargen horizontlosen Ebene, ohne die Möglichkeit, mich orientieren zu können, dann fällt es mir entsprechend schwer, einen phänomenalen konkreten Innenraum zu erleben.11 Sobald ich jedoch zum Beispiel mit den Füßen einen Kreis um mich her in den Boden zeichne, kann ich wieder einen Innenraum erleben und damit ein phänomenales implizites Raumselbst.12 Wenn also Thomas Metzinger, wie oben referiert, schreibt, daß die Existenz eines »kohärenten Selbstrepräsentats« »eine Selbst-Welt-Grenze in das Realitätsmodell des Systems«13 einführe, so würde ich diese Aussage dahingehend differenzieren, daß das »System« auf der phänomenalen Ebene nicht nur eine Selbst-WeltGrenze einführt, sondern auch und vor allem eine Innenraum-Außenraum-Grenze mit dem Innenraum als Selbst. Wenn Metzinger weiters schreibt, daß der Organismus mit Hilfe dieser SelbstWelt-Grenze auf der phänomenologischen Ebene eine phänomenal zugängliche Information über sich selbst erzeuge, ein »Bild seiner selbst als eines Ganzen«14, was umgekehrt die Information über die Welt, über die Umwelt, kurz: über das Nicht-Selbst einschließe, so würde ich sagen, die Information über sich selbst zeigt sich in der Regel im Anblick (oder Erleben) eines phänomenalen Innenraums (sei dieser konkret oder übertragen): ist er intakt oder bietet er mir Schutz und fühle ich mich in ihm wohl etc., dann geht es mir im Augenblick gut (die Information betrifft nur mein oberflächliches, phänomenal zugängliches Selbst-Erleben, selbst11 | Hieraus ließe sich ein Grund dafür ableiten, warum in Samuel Becketts Stück ›Warten auf Godot‹ der einzelne Baum neben der Landstraße so wichtig ist. Daß der Baum (zunächst) blattlos ist, ist zwar nicht unbedeutend, bezeichnender aber ist die Tatsache, daß der Baum überhaupt da ist und damit Anlaß gibt, in der ansonsten leeren Landschaft sich bei ihm aufzuhalten; so kahl der Baum ist, er bietet doch Orientierung. (Samuel Beckett: Warten auf Godot – En attendant Godot – Waiting for Godot, aus dem Englischen und aus dem Französischen von Elmar Tophoven, Berlin 2011.) 12 | Ich würde nicht so weit gehen, zu behaupten, daß ich in dem Augenblick, in dem ich in einer kargen, horizontlosen Ebene ausgesetzt werde, dasjenige verlieren würde, was man präreflexives oder implizites Selbstbewußtsein nennt, von meinem expliziten Wissen über mich und meine Herkunft nicht zu reden; natürlich wüßte ich noch, wer ich bin, und könnte überlegen, was ich nun anstelle. Den Innenraumkreis zu ziehen und womöglich mit den Kleidern einen kleinen Orientierungshügel in dem Kreis anzulegen, wäre sicherlich eine gute erste Überlebensmaßnahme, denn bei meinen kleineren Erkundungsgängen weg von meinem Innenraum böte mir der sichtbare Hügel Orientierung, so daß ich systematisch sinnvoll die Umgebung untersuchen und jederzeit umkehren und zurück ›nach Hause‹ kommen könnte: hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Ich würde aber durchaus wagen, zu behaupten, daß je länger dieses Ausgesetztsein in ein ödes strukturenfreies Gebiet andauert, es mir desto schwerer fallen dürfte, eine stabile phänomenale Ich-Umwelt-Beziehung aufrechtzuerhalten. (Von den Fragen nach der Ernährung oder dem Schutz vor Wildtieren ganz abgesehen.) 13 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430. 14 | Thomas Metzinger: Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung, a.a.O., S. 430.

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verständlich nicht irgendwelche biologischen Prozesse auf der Ebene von Zellen, Blutkörperchen oder Organen etc.). Nicht nur also ist Metzingers Begriff des »Erlebnisraums«15 wohl sprachlich falsch gewählt (gemeint ist vermutlich der Erlebensraum – semantisch bezeichnet Metzingers Begriff die phänomenale Welt, in die das phänomenale Selbst eingebettet ist –), sondern ihm fehlt die entscheidende phänomenale Differenz von Innenraum und Außenraum. Anders gesagt: ich erlebe eben nicht den einen Erlebensraum mit dem zentrierten Selbst in der Welt, sondern ich erlebe in der Regel die Welt als unterteilt in Innen- und Außenräume mit mir als dem phänomenalen Innenraum, der vom Außenraum getrennt ist, wobei ich jeweils perspektivisch auf diesen Außenraum hin ausgerichtet bin. Wenn Metzinger des weiteren schreibt, daß Menschen ihr Selbst als Volumen im Raum verorten würden – und zwar »normalerweise in unserem Körper«16 –, so ist meines Erachtens evident, daß mindestens der letzte Teil der Aussage (»in unserem Körper«) nicht nur die Sache verfehlt, sondern Metzinger mit ihr sprachlich (wohl ungewollt) in die dualistische Ich-und-mein-Körper-Falle tappt – denn Menschen verorten das Selbst nicht in ihrem Körper, als könnten sie es auch woanders verorten; sondern sie stellen auf der neurobiologischen Ebene unbewußt einen Innenraum dar, den sie auf der phänomenalen Ebene eben nicht nur als phänomenalen Innenraum oder »Volumen« erleben, sondern zugleich als implizites Selbst. Das phänomenale implizite Selbst-Volumen besteht also aus dem jeweils erlebten Innenraum.

Andeutung zum Begriff der ›Innenperspektive‹ Der auch in der analytischen Philosophie gängige Begriff der ›Innenperspektive‹, der soviel wie subjektives Erleben meint, ist so gesehen wohl erst von diesem Raumselbstprozeß her entstanden, das heißt: von dort her übertragen worden auf subjektives Erleben. Denn nur so ergibt der Begriff Sinn: Menschen erleben sich selbst ja nicht wie ein Homunkulus, der aus dem Schädel durch die Augenfenster in die Welt hinausblicken würde; sondern sie erleben sich, wie gesagt, als in einem Innenraum befindlich, und nur von diesem Innenraum aus können sie tatsächlich hinausblicken – und zwar durch echte Fenster. Damit keine Mißverständnisse entstehen: aus biologistischer Sicht sehe ich natürlich mit den Augen (und den dazugehörigen Gehirnprozessen); doch auf der phänomenalen Ebene blicke ich ausschließlich aus einem Innenraum in einen Außenraum hinaus – und nicht aus meinen Augen; ich habe also nicht das Gefühl, hinter meinen Augen zu sitzen und durch die Augen in die weite Welt hinauszublicken; sondern ich erlebe mich in einer Situation befindlich, meist in einem wie auch immer erlebten Innenraum, und sehe von dort aus den Außenraum. Ich sehe vom Trottoir aus die Straße, ich sehe vom Büro aus draußen die Bäume im Wind wehen, ich sehe aus dem Auto auf den Verkehr vor mir, ich blicke aus dem Zug auf den Bahnsteig draußen, ich betrachte aus der Perspektive des Paars, das ich

15 | Thomas Metzinger: Niemand sein. Kann man eine naturalistische Perspektive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen?, a.a.O., S. 130. 16 | Thomas Metzinger im Gespräch mit Stefan Klein, a.a.O.

Kapitel III.1

und die von mir geliebte Person bilden, die Gemälde von Venus und Amor in der Kunstausstellung etc. Man muß diesen Punkt nochmals betonen. Aus einer Alltagsperspektive gesehen ist an dem Begriff ›Innenperspektive‹ nichts überraschendes, er ist verständlich und banal. Doch so wie oben gezeigt wurde, daß aus einer repräsentationalistischen Sicht es erstaunlich ist, daß Menschen einen Raum überhaupt als Innenraum und einen anderen als Außenraum erleben, so ist auch der Begriff ›Innenperspektive‹ repräsentationalistisch gesehen durchaus erstaunlich. Falls man die hier durchgeführte Argumentation akzeptiert, so ist evident, daß, wenn auf der neurobiologischen Ebene erst einmal zwei Räume dargestellt werden, von denen dann der eine als der dargestellte Organismus interpretiert und dieser Raum damit als Eigenraum oder Innenraum identifiziert wird, Menschen auf der phänomenalen Ebene vom erlebten Innenraum her ausschließlich hinausschauen können.17

Wiederholende Andeutung zur Raumverschränktheit und zum Garten Zu wiederholen und damit eigens zu betonen ist, daß Menschen in alltäglichen Zusammenhängen in der Regel mehrere Innenräume gleichzeitig erleben können, Innenräume sich permanent auf dynamische Weise ineinander verschränken und an unterschiedliche Situationen angepaßt werden. Sitze ich also im körperlich ausgeglichenen Zustand im Arbeitszimmer und sehe gleichzeitig durchs Fenster den eigenen Garten, so sitze ich zunächst im Arbeitszimmer, mit dem ›ich‹ mich identifiziere, und nicht im Garten, obwohl der Garten genauso Teil meines gesamten Bewußtseinsraums ist wie das Arbeitszimmer. Gleichwohl ist der Anblick meines Gartens, der außerhalb des Arbeitszimmers liegt, für mich angenehm, und insofern der Anblick mir angenehm ist, ist der Garten Teil eines erweiterten erlebten, gewissermaßen befriedeten Innenraums, den ich gleichwohl als vom Arbeitszimmer getrennt identifiziere. Ähnlich wie bei einer mittelalterlichen Stadt mit ihren mehrfachen Verteidigungsringen und -wällen, so gibt es offenbar im Erleben des Menschen unterschiedliche und unterschiedlich bewußte Formen des Innenraumerlebens. Der gleichwohl existentiell wichtige bestehende Unterschied zwischen dem Erleben des Gartens und dem Erleben des Arbeitszimmers zeigt sich zum Beispiel an den unterschiedlichen Reaktionen auf das Auftauchen einer fremden Person: Sehe ich vom Arbeitszimmer aus plötzlich einen fremden Mann im Garten stehen, so beunruhigt mich das erheblich. Steht hingegen ein fremder Mann plötzlich in meinem Arbeitszimmer, so bin ich auf das Fürchterlichste entsetzt. Obwohl der fremde Mann noch ein paar Meter von mir entfernt dasteht und meinen Körper 17 | Das Thema der Ontogenese des perspektivischen Sehens lasse ich hier außen vor. Üblicherweise wird sie mit den Stichworten ›Wahrnehmung von Nähe bzw. Ferne‹ und ›dreimensional-zeitliche Wahrnehmung der aktuellen Position eines Objekts im Verhältnis zum Menschen‹ erläutert; hierzu gehört auch die Herausbildung der Fähigkeit, Räume wahrzunehmen und sie als Näheräume bzw. Ferneräume zu sehen (wahrzunehmen). Der Punkt in meiner Arbeit ist, daß der buchstäblich verstandene Näheraum zunächst noch kein Innenraum ist. Entscheidend ist die nichtbewußte Identifikation (Gleichsetzung) des wahrgenommenen (Nähe-)Raumes mit dem Organismus, so daß auf der phänomenalen Ebene ein phänomenaler Innenraum erscheint, der vom Menschen auf der phänomenalen Ebene als phänomenales Selbst erlebt wird.

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folglich nicht berühren kann, so ist er doch in mein erlebtes Selbst, das Arbeitszimmer, eingedrungen und hat dieses mit einem Schlag demoliert (von dem tatsächlich größeren Gefahrenpotential einmal ganz abgesehen). Sehe ich hingegen etwa vom Garten aus draußen auf der Straße eine mir höchst liebenswerte Person herankommen, so wird mich das erfreuen: Die Person ist in dem Moment, in dem ich sie wahrnehme, auf der unbewußten Erlebensebene schon innen, obwohl sie sich auf der phänomenologischen Ebene buchstäblich noch außerhalb des Gartens befindet. Apropos Garten, es läßt sich der Begriff ›Garten‹ mythobiologisch auf das Konzept der Zelle anwenden: Zellen stellen sich nicht nur durch Irritierbarkeit, Motilität und Reduplikationsfähigkeit dar, sondern entstehen überhaupt erst durch eine Grenzziehung. Eine Trennschicht hat auch der erste Einzeller mit der Grenzziehung zwischen ›sich‹ und der ›Umwelt‹ gebildet. Der Einzeller ist praktisch ein Urgarten – ein winziges Inbild und die Wirklichkeit der ersten, sich von der Umwelt absetzenden Ordnung. (In den Worten von Thomas Fuchs sei für die menschliche Entwicklung eine Doppelbewegung charakteristisch – einerseits setzen sich Menschen von ihrer ›Umwelt‹ ab, wodurch recht eigentlich erst die Umwelt erscheine, andererseits stehen sie zu ihr in Wechselbeziehung. Durch die Absetzung bilden sich Innen und Außen – dabei helfe die Innenraumschaffung den Menschen, sich von den Einwirkungen aus der Umgebung zu befreien.18) So betrachtet ist der Mensch eine große Gartenanlage – ein beziehungsreicher Zoo aus zusammenhängenden Zellgärten.

Rekapitulation der Ableitung des Begriffs ›Raumselbst‹ 1. Phänomenales Bewußtsein entsteht im Zuge von bestimmten fortwährend stattfindenden neuronalen Prozessen. Diese Prozesse, als Aktivität des Zentralen Nervensystems, verarbeiten in der Form von Wahrnehmungen die von der biologischphysikalischen Wirklichkeit und vom eigenen Organismus ausgelösten Reize. Die Funktion der Wahrnehmungen besteht in der Interpretation oder Darstellung der Wirklichkeit und in der Interpretation des eigenen Organismus jeweils für diesen Organismus. Diese Interpretationen dienen dem Organismus dazu, sich halbwegs effizient in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit, die er auf der psychologisch-phänomenalen Ebene de facto als Welt aus Innen- und Außenräumen erlebt, zu bewegen. Effizient meint hierbei die Weise, in der für den Organismus die zu erwartende Überlebenswahrscheinlichkeit am höchsten zu sein scheint oder in der Weise, die der Organismus für sich am meisten erwünscht, unabhängig von der Frage nach der Überlebensfähigkeit. 2. Der Organismus kann im Regelfall zureichend richtig zwischen sich und nicht-sich, zwischen Selbst und Nicht-Selbst, zwischen Eigenem und Fremdem ›unterscheiden‹. Eigenes ist all das, was zu ihm gehört, und all das, was er zum Überleben benötigt (Energie in Form von Nahrung, Sauerstoff, Informationen jeder Art). Fremdes hingegen ist all das, was sein Überleben in Frage stellt oder bedroht.

18 | Vgl. Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, a.a.O., etwa den Abschnitt über ›Selbstorganisation und Autonomie‹, S. 111f.

Kapitel III.1

3. Damit der Organismus überhaupt zwischen Eigenem und Fremdem ›unterscheiden‹ kann, muß er ›sich‹ das, was ihm eigen ist, und das, was ihm fremd ist, entsprechend ›signalisieren‹. Er ›signalisiert sich‹ das emotional (vorbewußt) und mit Hilfe von Gefühlen, die er als angenehm oder als unangenehm ›empfindet‹. 4. Insofern der Organismus, der biologische Körper mit der Haut als Grenze, ein auch physikalisch bestimmbares Raumgefüge bildet, kann man phänomenologisch dasjenige, was Teil dieses Raumgefüges ist, als räumlich innenliegend bezeichnen, und das, was nicht Teil dieses Raumgefüges ist, als räumlich außenliegend. Phänomenologisch ist diese Bezeichnung deshalb, weil die Raumangaben innen und außen zunächst nur für mich als naiv-realistischen Betrachter innen und außen darstellen; für den Organismus hingegen gibt es zunächst lediglich die Unterscheidung in eigen (Teil des Organismus bzw. förderlich für ihn, auch wenn es [noch] nicht Teil des Organismus ist) und fremd (nicht Teil des Organismus und nicht förderlich für ihn) bzw. angenehm und unangenehm. 5. Phänomenales Bewußtsein ist eine Form des erlebten Raums. Dieser Bewußtseinsraum besteht phänomenologisch betrachtet stets aus einem Innenraum (das Arbeitszimmer) und einem Außenraum (Straße); zwischen den beiden Räumen besteht eine Grenze (Fenster). Physikalisch gesehen ist es allerdings erklärungsbedürftig, daß Menschen erstens überhaupt zwei Räume wahrnehmen und nicht vielmehr einen, daß man also zwischen Straßenraum und Arbeitszimmer unterscheiden kann (denn in physikalischer Sicht gibt es überhaupt keine abgeschlossenen Räume, sondern lediglich Vorgänge auf Teilchen- und Wellenebene); zweitens ist es erklärungsbedürftig, daß man phänomenologisch das Arbeitszimmer überhaupt als innen erlebt, als Innenraum. 6. Allein für die neurowissenschaftliche Rauminterpretation der biologischphysikalischen Wirklichkeit würde es theoretisch ausreichen, etwa zwischen unterschiedlichen Bereichen der simulierten oder dargestellten Wirklichkeit zu unterscheiden, zwischen Bereich A (vom Schreibtisch bis zum Fenster) und Bereich B (Straße jenseits des Fensters) – ohne daß diese Bereiche als abgeschlossene und von einander getrennte Räume oder gar als Innen- bzw. Außenräume erscheinen müßten. Entscheidend für das phänomenale Erleben von Räumen und vor allem von Innen- und Außenräumen ist die Tatsache, daß das Gehirn in seinem Darstellungsprozeß den eigenen Organismus (der sich in der biologisch-physikalischen Wirklichkeit befindet, sich zugleich von ihr abgrenzt und auf sie bezieht) mitdarstellen muß, und zwar eben als ein eingebetteter Teil der dargestellten Wirklichkeit, der sich gleichwohl von dieser dargestellten Wirklichkeit abgrenzt. Die auf der Organismusebene erfolgende biologische Abgrenzung des Organismus von der biologisch-physikalischen Wirklichkeit stellt das Gehirn also für das phänomenale Erleben mit dar; erst dann, wenn die darstellenden neuronalen Prozesse auf der phänomenalen Ebene die Abgrenzung eines Eigenraums, den sie mit dem Organismus ›identifizieren‹, von einem Fremdraum ›erleben‹, ist die Interpretation des Organismus vollständig. Der auf der phänomenalen Ebene erlebte eigene Raum ist dann gewissermaßen das phänomenale Selbst. Das Selbst ist aus dieser Sicht also nicht mehr als die Darstellung des Organismus, der in seiner Abgegrenztheit auf die Außenwelt bezogen ist.

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Das Gehirn ›schneidet‹ also im Zuge seiner Interpretation der biologisch-physikalischen Wirklichkeit aus dem Gesamtbild dieser dargestellten Wirklichkeit einen bestimmten Bereich aus und grenzt ihn damit vom Rest der dargestellten Wirklichkeit ab: dieser ausgeschnittene, abgegrenzte Bereich, etwa Bereich A, wird als eigener Raum ›verwendet‹ und als innen begriffen. Das ›Ich‹ entsteht dann genau in dem Moment, in dem dieser abgegrenzte dargestellte Eigen- oder Innenraum als dargestellter Organismus ›gebraucht‹ wird; ›ich‹ (als dargestellter Organismus) erlebe mich daher als diesen dargestellten Ausschnitt bzw. als diesen Innenraum – das heißt repräsentationalistisch oder darstellungstheoretisch betrachtet, bin ich dieser Innenraum (der dargestellte Organismus ist der dargestellte Bereich A alias Innenraum). Und weil ich repräsentationalistisch oder darstellungstheoretisch betrachtet dieser Innenraum bin, ist es mir, als Innenraum, ausschließlich möglich, in einen Außenraum zu blicken: hierin dürfte ein wichtiger Grund für das Entstehen der sogenannten Innenperspektive oder Erste-Person-Perspektive liegen. (7. Immer wenn ich intuitiv einen intakten Innenraum erlebe, fühle ich mich wohl. Ein Innenraum ist dann intakt, wenn er sich zureichend [erkennbar] vom Außenraum abgrenzt, ohne vollkommen abgeschlossen zu sein. Zwischen Innenund Außenraum müssen stets lebensnotwendige Austauschvorgänge möglich sein [Stoffwechsel im weitesten Sinn: essen, ausscheiden, lesen, vergessen etc.]. 8. Ein Innenraum kann buchstäblich sein [Arbeitszimmer, Auto] als auch übertragen [Familie, Freundeskreis, Literatur, Goethe-Gesellschaft, Manga-ComicsFan-Kultur]. 9. Der phänomenal erlebte Innenraum ist die innenraumhafte Sphäre. Falls und insofern die Sphäre mit jemand anderem auf eine für beide Seiten angenehme Weise geteilt wird, heißt dies auf der phänomenologischen und der sphärologischen Beschreibungsebene, daß wir einen Raum gemeinsam teilen; und auf der repräsentationalistischen Ebene heißt dies, daß ich die andere Person in meinen Innenraum integriere und ich wiederum von der anderen Person in ihren Innenraum integriert werde – unterschiedliche Räume verschränken sich ineinander.)

Kapitel III.2 Praxis: Teil eins (von zweien)

P hänomenologische U ntermauerung der These anhand von B eispielen Und wie auf Adlerschwingen sauste ich zum Haus hinüber, stürzte über die Schwelle, schoß den Korridor hinunter, der zum Allerheiligsten meines Oheims führte, und hechtete hinein. P. G. Wodehouse 1 Ick sitze drin und esse Klops;/uff enmal klopps./Ick denke, staune, wundre mir,/uff enmal isse uff die Tür,/ick jehe raus und kieke,/und wer steht draußen?/Icke!2 »Wenn ich mich könnt’ in ein Mauseloch verkriechen, damit niemand mich sieht, würd’ ich es tun.« – »Ach, weißt du, du mußt es machen wie die Elefanten, wenn die unglücklich sind, wechseln sie den Standort, sie ziehn weiter und verschwinden.« 3

Im folgenden führe ich einige wenige repräsentative alltägliche, zum Teil künstlerische, zum Teil historische Beispiele für räumliches Erleben im Alltag ein. Sie sollen die These dieser Arbeit direkt oder indirekt untermauern, ohne daß ich jeweils immer den Bezug zur These herstellen werde – meistens ist er offensichtlich. Auch weil es schon oben im Laufe der Referate und Diskussionen immer wieder Anlaß gab, auf raumselbsttheoretische Zusammenhänge des Alltags einzugehen, kann ich mir hier kursorische Bemerkungen erlauben, die bisweilen sogar den Charakter von stichworthaften, ja fast impressionistischen Erinnerungen haben. 1 | P. G. Wodehouse: Ohne mich, Jeeves!, aus dem Englischen von Thomas Schlachter, Frankfurt a.M. 2007, S. 208. 2 | Berliner Volksmund, zitiert nach: Dietrich Schwanitz: Bildung, München 212002, S. 421. 3 | Dialog (aus der deutschen Synchronfassung) am Caféfenster zwischen Jean Seberg und Van Doude, in Jean-Luc Godard: Außer Atem (Spielfilm), Frankreich 1959 (Originaltitel: À Bout de Souffle).

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Dieses Kapitel bezieht sich thematisch nun auf die Frage nach dem Körper als Raum (Abschnitt 1), nach dem Haus und nach der Wohnung (Abschnitt 2) sowie nach den raumfahrttechnischen Methoden zur Erkundung des Außenraums (Abschnitt 3).4 Schließlich folgt als phänomenologischer Zusatz der Hinweis auf ein Lichtkunstwerk der Künstlergruppe United Visual Artists, deren Werk ›Vanishing Point‹ (Berlin 2013) die These dieser Arbeit wie kein zweites Kunstwerk erlebbar macht.

Abschnitt 1 Der Mensch als Raum Der Körper in seiner Räumlichkeit Jeder menschliche Körper tritt zunächst, physikalisch oder phänomenologisch gesehen, als ein räumliches Gebilde in Erscheinung (und auch auf der biologischen Ebene weisen die Eiweißmoleküle – die Proteine – eine räumliche Gestalt auf). Wo ein Körper ist, da ist auch ein Volumen, eine räumliche Ausdehnung. So gesehen und nur so gesehen läßt sich der menschliche Körper außenperspektivisch gleichfalls als ein Innenraum mit sprechender Außenseite beschreiben. Jedoch erlebt der Mensch den eigenen Körper auf der phänomenalen Ebene in der Regel nicht als Innenraum: zumindest der gesunde, ausgeglichene Körper fällt zunächst gar nicht weiter auf, man lebt à la Bollnow über ihn hinaus und ist bei den Dingen der Welt. Auch kann der Mensch mit einem gesunden, ausgeglichenen Körper in bestimmten Fällen ein angenehmes Gefühl des In-sich-Ruhens erleben, als wäre das Sein ein einheitlicher privater Ruheraum, oder Momente tiefen Aufgehobenseins etwa in zuträglichen Wohlfühlbädern, im erhaben wogenden Meer oder in gewissen meditativen Zuständen. Auch kann er intensive Gefühle der körperlichen Freude erleben etc. Auf unangenehme Weise hingegen fällt der Körper in seiner Räumlichkeit regelrecht erst auf, wenn mit ihm etwas nicht stimmt, sei es, daß man erkrankt, etwa einen Infarkt erleidet, und Schmerzen hat, sei es, daß man sich in ihm warum auch immer nicht zuhause fühlt bzw. einem der Körper fremd, ›falsch‹ oder ästhetisch unangenehm erscheint. Psychologisch gestörte Körperverhältnisse zeigen sich auch in Fällen von Bulimie oder Anorexia nervosa, in Fällen überproblematisierter Phänomene wie der täglichen Notdurft5 sowie überhaupt der expliziten 4 | Was die Beispiele in diesem Kapitel berührt, greife ich zum Teil freigiebig auf Beispiele aus meinem Essay ›Das Zimmern der Zeit‹ zurück, ordne diese allerdings neu an, formuliere sie um oder ändere ihren Zusammenhang. 5 | In phänomenologischer Hinsicht vgl. hierzu Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1983 (Abschnitt zur Psychosomatik des Zeitgeistes im Physiognomischen Hauptstück, 10. Kapitel: ›Scheiße, Abfall‹), sowie Peter Sloterdijk: Sphären II, a.a.O., Exkurs 2: ›Merdokratie. Vom Immunparadoxon seßhafter Kulturen‹ und Exkurs 3: ›Autokoprophagie. Zum platonischen Recycling‹. Vgl. zudem Milan Kunderas angedeutete philosophische Interpretation der Defäkation in seinem Welterfolgsroman ›Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins‹, Frankfurt a.M. 1987: »Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der

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und möglicherweise zu einer Selbstentfremdung führenden Thematisierung der unterschiedlichsten Körperöffnungen.

Körperöffnungen Der menschliche Körper als räumliches Gebilde weist etliche funktional voneinander unterschiedene Körperöffnungen auf. Insofern die fellfreie Haut keine versiegelte Oberfläche darstellt, sondern als ein porenreiches, atmendes, im Austausch mit der Umwelt befindliches Organ zu verstehen ist, könnte man den Menschen als Ganzen sogar als paradoxe Verkörperung von Öffnungen bezeichnen. Jedenfalls ist das entscheidende Merkmal hinsichtlich der Öffnungen der normalerweise geregelte Austausch von Boten- und Ballaststoffen jeglicher Art. Schon von daher ist der Mensch ein selbständiges Medium, das zur Aufrechterhaltung seiner Selbständigkeit zuträgliche Verarbeitungsstoffe aus der Umwelt durch sich hindurchschleust und sie dabei gewinnbringend verwandelt. Was den Mund berührt, so handelt es sich bei diesem weitgehend um einen intrakorporalen Innenraum – er ist gewissermaßen das Eingangsparadies des Klostermagens. Doch dient er in gewissen Fällen dem Auswurf und dem Ausspucken giftiger Substanzen. (Wobei das Spucken ein Teil des Nahkampfs im Rahmen einer Verteidigungs- oder Angriffsaktion des Menschen sein kann; in diesem Falle dient das gezielte Bespucken eines Feindes oder Gegners der Extension und Ausdehnung des eigenen Körpers und seiner Waffen – dort, wohin mein Schlagarm nicht mehr reicht, kann noch mein erniedrigender Schlunz seine wirksamen Treffer setzen.) Was die Zwischenmündlichkeit von Menschen angeht, so findet unter erotisch Stimulierten eine gewisse Verschmelzung ihrer zunächst vorliegenden Zweimündlichkeit statt – das Phänomen der erlebten Einmündlichkeit kommt ans Licht. Dabei ist die Wirkung so, als wolle man beim großen Küssen den jeweils anderen in sich aufnehmen. Man könnte hier von einer protokannibalistischen Verschränkung von Innenräumen sprechen, die sich ferner in der Redewendung, man habe den anderen zum Fressen gern, anschaulich manifestiert. Auch im Gespräch offenbart sich die mündliche Schwelle zwischen Innen und Außen deutlich – das homerische Epos etwa betont mit der Metapher vom ›Zaun deiner Zähne‹ die einhegende Dimension des Mundes, wenn man die Zähne als elementare Einrichtung des Mundes zu sehen bereit ist: Der Zaun erscheint dabei Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden./Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch./Es ist ein deutsches Wort, das mitten im sentimentalen neunzehnten Jahrhundert entstanden und in alle Sprachen eingegangen ist. Durch häufige Verwendung ist die ursprüngliche metaphysische Bedeutung verwischt worden: Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im wesentlichen unannehmbar ist.« (S. 237f.) Auf das Modell der Innen-Außen-Spannung übertragen entstünde Kitsch durch die Ausblendung des Außenraums. Folglich fiele jede Theorie, die das Außen nicht mitreflektiert, von vornherein dem Kitsch anheim.

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in der mündlichen Ruheposition in der Regel geschlossen (aber nicht verriegelt); dabei erinnert Heidegger in ›Sein und Zeit‹ daran, daß auch das Schweigen ein Modus der Mitteilung ist – allerdings nur, wenn man auch reden kann, weshalb der Stein nur stumm ist, aber nicht schweigt. Erst wenn nach Homer der Zaun der Zähne geöffnet wird, können die Worte aus dem Inneren nach draußen »entfliehen« (Homer). Nimmt man diesen homerischen Ausdruck ernst, wird die Bedeutung des Gebisses auch von dieser einzäunenden Seite her offenbar. Was wären die dritten Zähne anderes als das künstliche Gatter der privaten Mundhöhle? Stichwortartig für weitere Öffnungen des Körpers seien hier die menschlichen Wahrnehmungssinne genannt – etwa Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen6, Fühlen; darüberhinaus die weiteren fast legendären Öffnungen des Körpers: After, Penis und Scheide. Von diesen hat letztere insofern eine besondere Bedeutung, als sie, jenseits der sexuellen Welt und der zeugenden Sphäre, denen sie zugehört, auch den Ziel- und Endpunkt der lichten Außenweltöffnung des natürlichen Geburtskanals eines Kindes darstellt.7 Das Auge selbst läßt sich als eine Öffnung zwischen Innen und Außen beschreiben. Der Öffnungs- bzw. Schließungscharakter der Augen zeigt sich auch dann, wenn Menschen willentlich oder unwillkürlich die Augen schließen, um etwas unangenehmes nicht sehen zu müssen; was im Umkehrschluß bedeutet, daß Menschen Gesehenes in sich aufnehmen. Hingegen läßt sich das bewußte Augenschließen im Zuge etwa der Meditation als eine Form der Epoché beschreiben. Anzumerken bleibt, daß das lateinischstämmige Wort Fenster im Gotischen Windauge bedeutet, was heute noch im Englischen als ›window‹ geläufig ist. Wenn das Haus das Selbst ist, ist es dann nicht folgerichtig, daß es auch Windaugen hat, durch die ich die Welt sehen kann?

Störungen im Bewußtseinsraum Das gesunde Bewußtsein fällt analog zum gesunden Körper zunächst nicht weiter auf. Erst im Falle von Störungen, die mir als Störungen auffallen, weil ich halluziniere, etwa Stimmen höre, die aus der Wand kommen, oder Wasserflaschen auf mich zu fliegen sehe, die es nicht wirklich gibt etc., wird mir das Bewußtsein als Bewußtsein explizit bewußt. In diesen Fällen werde ich mir selbst unvertraut und wird mir mein Geist fremd und unheimlich. Ich merke, daß etwas mit mir nicht stimmt und ich keine willentliche Kontrolle darüber habe. Auch Angstattacken, die womöglich rational reflektierbar und durchschaubar sind, die einen gleichwohl bedrängen, zählen hierzu (und viele weitere psychiatrische Symptome). Virginia Woolf etwa, die englische Schriftstellerin, die wiederholt unter Depressionen litt, ging im Frühling 1941, aus Furcht vor dem mutmaßlichen erneuten Eindringen psychotischer Störungen in ihr Bewußtsein, lieber ins Wasser: sie flüchtete in 6 | Vgl. Peter Handkes Gedicht ›Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt‹, in: P. H.: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt a.M. 1969, worin es heißt: »Wir sind in Nashville in Tennessee:/aber als wir das Hotelzimmer betreten/und die Nummer des Playboy/ mit dem zum Teil sichtbaren schimmernden Naseninnern//der Ursula Andress/angeschaut haben/greift/– statt der Ratlosigkeit darüber/daß wir in Nashville sind –/das Naseninnere der Ursula Andress um sich…«. 7 | Vgl. Peter Sloterdijk: Klausur in der Mutter, in: P. S.: Sphären I, a.a.O., Kapitel 4, S. 275-295.

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den Fluß Ouse, in dem sie ihren Frieden fand. Im depressiven Zustand war sie nicht mehr Herrin im eigenen Haus und bezog daher lieber draußen ein »eigenes Zimmer«8. Davon zu trennen wären psychiatrische Störungen, bei denen der ›Patient‹ überhaupt keinen Bezug mehr zu seinem autobiographischen Selbst herstellen kann. In diesen Zusammenhang gehören Phänomene wie Demenz, Gedächtnisverlust9, Schizophrenie10 und zum Teil Epilepsie. In diesen Fällen ist gewissermaßen niemand mehr zuhause, ist jemand buchstäblich ver-rückt, an einem anderen Ort (atopía), und die Gäste, die zu Besuch kommen, treffen niemanden an, der sie empfangen könnte. Ist bei den einen niemand mehr zuhause, quartieren sich bei anderen gleich mehrere Persönlichkeiten ein (zum Beispiel ›Napoleon‹). Oft wechselt ein Hauptbewohner auch nur zweitweise in eine andere Identität, um im Anschluß daran wieder zur gewöhnlichen Identität zurückkehren; ein eindrucksvolles Beispiel für den produktiven Wechsel von Persönlichkeiten bzw. Heteronymen bietet die Lebens- und Schreibgeschichte des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa, der seinem Namen ›Pessoa‹ (Person, Maske) alle Ehre machte und mehrere fiktive Lyriker, für die er ganze Biographien erfand, in sich vereinen konnte. Je est aussi des autres oder »Não sou nada./Nunca serei nada./Não posso querer ser nada./À parte isso, tenho em mim todos os sonhos do mundo. – Ich bin nichts./Ich werde nie etwas sein./Ich kann auch nichts sein wollen./Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.« (Álvaro de Campos11)

Der Tod als paradoxer Innenraum Der Tod kann insofern als eine befreiende Zuflucht ohne Wiederkehr imaginiert werden, als er jederzeit wie ein Notausgang aus einem als unerträglich empfundenen Leben offensteht. Das gilt in ähnlicher Form auch für Menschen, die sich dem Zugriff der Polizei durch Selbsttötung entziehen. Dauert das Leiden eines unheilbar Schwerstkranken lange Zeit und ist eine Selbsttötung umständehalber

8 | Vgl. ihren 1929 erschienenen Essay ›Ein eigenes Zimmer‹, in: V. W.: Ein eigenes Zimmer/ Drei Guineen, aus dem Englischen von Brigitte Walitzek, Frankfurt a.M. 2001, in dem sie die Wichtigkeit eines Jahreseinkommens und eines eigenen Zimmers für die Selbstbestimmung der Frau betont. 9 | Vgl. auch Deborah Wearing: Gefangen im Augenblick. Die Geschichte einer Amnesie und einer unbesiegbaren Liebe, München 2006. 10 | Schizophrenie umfaßt unterschiedliche paranoide Zustände, optische oder akustische Halluzinationen (etwa Stimmenhören), mentale Desorganisierung, Ich-Störungen, Störungen der Affektverarbeitung und Katatonie (Erstarrung). Für Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 178, ist Schizophrenie vor allem »eine ›Grenzerkrankung‹«, das heißt: »die Grenze zwischen Gehirn und Umwelt ist so verändert, daß es zu den [eben genannten, M.M.] Störungen kommt«. Es handelt sich nach Northoff also um eine Störung der »Beziehung« zwischen Organismus (Gehirn) und Umwelt. 11 | Álvaro de Campos ist eines der Heteronyme Pessoas. Das Zitat ist die erste Strophe des von Georg R. Lind ins Deutsche übertragenen Gedichts ›Tabacaria‹/›Tabakladen‹. Quelle: Fernando Pessoa: ›Algebra der Geheimnisse‹. Ein Lesebuch, mit Beiträgen von Georg R. Lind, Octavio Paz, Peter Hamm und Georges Güntert, Zürich 1986, S. 142f.

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nicht möglich, wird der durch andere herbeigeführte oder selbst eintretende Tod möglicherweise ersehnt und keineswegs gefürchtet. Im übrigen wüßte bis heute kein Mensch zu sagen, wie man sich ein ewiges Leben sinnvoll vorstellen können soll. Ein ewiges Leben wäre ein Leben ohne zeitliche Begrenzung und käme damit einer Metagefangenschaft gleich – gefangen im Leben ohne die Möglichkeit, aus ihm jemals wieder hinauszukommen. So schwer gesunden Menschen der Gedanke an den Tod fallen mag, der Gedanke an ein ewiges Leben scheint gleichfalls unerträglich zu sein. Vor die Wahl gestellt, sich entweder für ein ewiges oder ein endliches Leben zu entscheiden, würde jeder vernünftige Mensch für das endliche optieren (oder für das potentiell unendliche, welches ich jedoch selbst und aus freier Entscheidung heraus zu beenden vermag). Für den Fall, daß der Tod auf alltagsmetaphysischem Feld als Weg in ein anderes Leben imaginiert wird, wäre er gewissermaßen die unheimlichste Tür des Lebens, eine Öffnung im Sinne einer Passage oder eines Übergangs von einem Diesseits in ein Jenseits. Entsprechend der Färbung dieses Jenseits in hellen oder dunklen Tönen sähe man dem Todeseintritt entgegen.12

Abschnitt 2 Haus und Wohnung als Selbstrepräsentation Das Haus im antiken Griechenland in der Interpretation von Hannah Arendt Inwiefern in der Antike eine implizite Raumphilosophie zu finden sei, hat Hannah Arendt in ihren Überlegungen über den Raum des Öffentlichen und den Bereich des Privaten ausgearbeitet13, ich möchte wenigstens andeutend daran erinnern: Die Unterscheidung in privat und öffentlich entspricht nach Arendt einerseits dem Bereich des Haushalts und der Familie und andererseits dem Raum des Politischen und der Polis.14 Im antiken Griechenland genoß, wie sie beschreibt, der häusliche Herd unbedingten, heiligen Schutz, welcher die Polis daran hinderte, den privaten Bereich des Bürgers, dessen Eigentum, zu zerstören: denn »ohne eine Stätte, die er wirklich sein eigen nennen konnte«, wäre er in der Polis »nirgends lokalisiert«15 und könnte »keinen angestammten Platz in der Welt sein eigen«16 nennen. Dabei sei der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum entscheidend17: Besitz konnte auch ein Sklave haben18; Bürger war aber nur der Mensch mit unbeweglichem Eigentum, also mit einem eigenen, lokalisierbaren Haus, und ob er reich war oder arm, spielte dabei keine Rolle. Gemäß dieser politisch-rechtlichen 12 | Vgl. den Begriff ›Metoikesis‹, welcher im antiken Griechenland die Umsiedlung der Seele nach dem physischen Tod bezeichnet. Wörtlich läßt sich ›Metoikesis‹ mit ›Umzug in ein anderes Haus‹ übersetzen. 13 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, (1958), München 122013. Das Zweite Kapitel trägt die Überschrift ›Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten‹, S. 33-97. 14 | Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 38. 15 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 40. 16 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 77. 17 | Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 40. 18 | Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 74.

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Beschreibung, es sei nochmals betont, ist also nur der ein Bürger, der ein Haus hat: ein Mensch ohne Haus ist eben kein Mensch, sondern so wie ein Sklave ein nützliches, denk- und sprachbefähigtes Instrument. Arendt zitiert in einer Fußnote den Vorschlag von Coulanges, das Wort ›familia‹ mit Eigentum zu übersetzen, »da es den Grund und Boden, das Haus, das Geld und die Sklaven bezeichne«19. Unterstützt wird diese Sichtweise unter anderem auch durch Leon Battista Alberti, der seine Schrift über das Hauswesen ›Della famiglia‹20 nennt. Der Verlust des Eigentums führte nach Arendt darüberhinaus zum »Verlust des Schutzes der Gesetze«21, und Gesetz bedeutete ursprünglich so viel wie Grenze; was auch deutlich werde, wenn man das griechische Wort für Gesetz (Nomos) wortwörtlich versteht als das bestimmte Zugeteilte, also das, was umgrenzt und jemandem überlassen wird 22; im übrigen bedeute das Verb nemein, auf welches Nomos zurückgeht, nicht nur zuteilen, sondern auch wohnen23. Wir wohnen sozusagen im Zugeteilten, im Eigentum, im Haus, im Gesetz. Die Polis, das Reich der Gesetze, sei also die beschützte, umgrenzte, umzäunte Sphäre. Im übrigen spreche selbst Platon von Zeus als dem Herkeios, dem Schützer der Grenzen, und nenne die Horoi, die Grenzpfähle, »heilig«24,25. In Hannah Arendts politikgeschichtlicher Analyse, die sie mit einer psychologischen Interpretation verknüpft, zeigt sich also sehr deutlich die Verbindung von Haus und Selbst, von Haus und Bürger-sein, von Haus und Mündig-und-frei-undselbstbestimmt-sein. Nur wer aus der öffentlichen Sphäre einen eigenen Bereich herausschneiden kann oder herausgeschnitten hat, also ein Privatgrundstück sein eigen nennen darf, kann ein Bürger sein. Entscheidend ist dabei auch, daß dieses Haus, dieses Eigentum, eine wirkliche Privatsphäre im durchaus modernen Sinne darstellt – was im Haus geschieht, geht die Öffentlichkeit nichts an; der Blick der öffentlichen Sphäre prallt an den Mauern des Hauses ab. Im Haus genießt der Bürger die Epoché. Nur wo der Mensch sicher sein kann, von staatlichen Behörden und privaten Unternehmen sowie von Hackern nicht überwacht oder belauscht zu werden, kann er aufatmen und ein freier Bürger sein. Die Würde des Hauses ist unantastbar.

Die Wohnung und ihre Erscheinung Das Haus bzw. die Wohnung ist nicht nur die Heilige Stätte des Akosmismos, der Weltpause. Insofern immer wieder auch Gäste in die Wohnung hereingebeten werden, rückt auch ihre Präsentationsweise in den Fokus jeder anthropologischen Habitatologie. 19 | Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., Fußnote 58, S. 430. 20 | Leon Battista Alberti: Vom Hauswesen, (Della Famiglia), aus dem Italienischen von Walther Kraus, München 1986. – Siehe hierzu auch Matthias C. Müller: Alle im Wunderland. Verteidigung des gewöhnlichen Lebens, S. 65f. 21 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 77. 22 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 78. 23 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., Fußnote 64, S. 431. 24 | Platon: Nomoi, in: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Griechisch und Deutsch, hg. von Karlheinz Hülser, deutsch von Friedrich Schleiermacher, Band IX, Frankfurt a.M. 1991, S. 842. 25 | Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 40.

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Intuitiv gehen Menschen davon aus, daß der aktuelle Zustand der Wohnung etwas über sie selbst aussagt. Intuitiv wissen sie auch, daß der Schein mehr als nur ein Schein ist, nämlich eine eigene Wirklichkeit; deshalb räumen sie vor einem angekündigten Besuch normalerweise rasch die Wohnung auf. Man möchte nicht, daß andere den Saustall sehen, in dem man haust. Ist die Wohnung zu aufgeräumt, bringt man sie vielleicht bewußt noch ein wenig in Unordnung, um vor dem Besucher den Verdacht zu zerstreuen, man hätte sie allein seinetwegen noch auf Vordermann gebracht. Auch überlegen die Gastgeber, was man besser wegräumen, verstecken oder eigens hervorkehren soll. Die in der Wohnung zerstreut herumliegenden Dinge sind letztlich Aussagen über den eigenen Geist und darüber, womit man sich beschäftigt, wenn man zuhause ist und niemand einen sieht. Gerade deswegen ist der prüfende Blick hinsichtlich der peinlichen, pikanten Objekte, die auf dem Bett, im Bad, im Wohnzimmer herumliegen, so notwendig. Um jedoch nicht bei jedem Besuch die gesamte Wohnung einer zeitraubenden und letztlich auch selbsterniedrigenden Inspektion unterziehen zu müssen, schränkte in früheren Zeiten in einer entsprechend großen Wohnung die Einrichtung der sogenannten guten Stube die Bewegungssphären des Besuchers von vornherein ein (in jüngeren Zeiten dient in der bürgerlichen Sphäre auch der Einbau einer Gästetoilette der zusätzlichen Trennung zwischen privat und öffentlich). So ist die gute Stube nicht nur die Inszenierung erfolgreicher Bürgerlichkeit, sondern gewissermaßen der öffentliche Raum innerhalb der Privatsphäre: bis hierhin mag der fremde Besucher gerne kommen, ist doch die gute Stube eindrucksvoll hergerichtet, wohingegen die privaten Bereiche, die tiefer im Inneren liegenden Gemächer der Wohnung, die vielleicht auch unaufgeräumt sind, vor allem das Schlafzimmer und das Boudoir, für ihn unbedingt Tabu bleiben. So kommt der Eintritt fremder Mächte in das Schlafzimmer einer Demütigung desjenigen gleich, der sich in ihm befindet, zumal, wenn er noch im Bett liegt oder noch schläft. Geradezu parabelhaft dargestellt hat das Franz Kafka in seinem Romanfragment ›Der Proceß‹, in dem der Held, Josef K., eines Morgens direkt aus dem Bett heraus verhaftet werden soll.26 Es ist bezeichnend, daß in demokratisch-republikanischen Staaten, die diesen Namen wirklich verdienen oder zumindest bis vor kurzem noch verdienten, das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nicht nur gesetzlich verbrieft ist, im Sinne etwa des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 13, sondern in aller Regel auch als rechtlich durchgesetzt gelten darf. Weil die Privatsphäre gemäß der in dieser Arbeit dargestellten These das Selbst ist, wird auch die wahrnehmbare Unheimlichkeit verständlich, die vom Anblick verlassener Zimmer 27 ausgeht, bzw. das Gefühl einer gewissen unerlaubten Intimität, das einen beim Betrachten und Begehen von Innenräumen fremder Menschen beschleicht. Das Gefühl rührt eben auch daher, daß man sich in einem anderen Selbst oder gewissermaßen in einem anderen Menschen befindet. Eine anders geartete Unheimlichkeit macht sich bemerkbar, wenn Menschen verlassene Zimmer von anderen übernehmen – wie etwa in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, als einige nicht-jüdische Deutsche Wohnungen von geflüch26 | Franz Kafka: Der Proceß, Frankfurt a.M. 2008. 27 | Vgl. Hermann Lenz und den Titel seines Romans ›Verlassene Zimmer‹, Frankfurt a.M. 1978.

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teten, in die Flucht gezwungenen oder deportierten deutschen Juden bezogen, oder wie im Zuge der Vertreibungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa am Ende und nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als die neuen Bezieher der verwaisten Wohnstätten in die eingerichteten Häuser der Verjagten einzogen – sozusagen in deren Leben bzw. in deren Selbst-Schalen. Die historische Redeweise von Häusern, in denen es spukt, hat vielleicht darin einen psychologischen Grund; woraus man die Regel ableiten möchte, daß immer dann, wenn Menschen aus Wohnungen oder Häusern ausziehen, man sicherstellen sollte, daß sie es auf eine Weise tun, die dazu geeignet ist, das ganze Selbst mitzunehmen. Die Attraktivität von Neubauten, gerade auch nach dem katastrophischen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, rührte womöglich auch daher, daß nach den Erfahrungen der Nazizeit und des Bombenkriegs jenseits der Notwendigkeit der Wohnraumbeschaffung Neubauten die Möglichkeit eröffneten, in einen geschichtslosen umbauten Raum einzuziehen, den die Bewohner als erste beseelen konnten. Allerdings kann wenigstens der Möglichkeit nach die Erinnerung an die Vergangenheit auch im Neubau mit Einzug halten, worauf Bachelard hinzuweisen vermag: »In einem neuen Haus ruft der Traum eine ganze Vergangenheit ins Leben. Die alte Redensart ›Man nimmt seine Laren überall mit‹ hat tausend Varianten. […] Wenn im neuen Hause die Erinnerungen der alten Wohnungen wieder aufleben, reisen wir im Lande der unbeweglichen Kindheit, unbeweglich wie das Unvordenkliche.«28 Die Beliebtheit von Altbauten, die gleichfalls zu beobachten ist, vor allem bei der jüngeren Nachkriegsgeneration, rührt hingegen – neben der Wiederentdeckung großzügiger Raumarchitekturen – wohl auch daher, daß gerade die vielgestaltige Historie des Raums als ein Merkmal erfahren wird, welches das eigene Selbst bereichern kann. Jenseits des unheimlichen Einbruchs in die Wohnung gemäß Kafkas Darstellung im ›Proceß‹ zeigt sich eine weitere Form des Unheimlichen auch dann, wenn ein Wohnungsbesitzer aufgrund bestimmter Indizien wie umgestellter Blumentöpfe oder einem auf dem Speisetisch abgelegten Brief messerscharf schließen muß, daß jemand in der Wohnung zugegen gewesen ist und, ohne etwas zu zerstören oder mitzunehmen, mit seinem Besuch womöglich nur zu verstehen geben wollte, daß er unbemerkt in die Wohnung – den Innenraum des sie bewohnenden Menschen – einzudringen vermag.29 In diesen Zusammenhang müssen Phänomene wie das Nachstellen (auch als Stalking bekannt) rubriziert werden. Sowie, in einem größeren Maßstab, die Einmischung von Staaten in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates, deren Extremform der militärische Feldzug oder der feindliche Terroranschlag darstellt. Daß ein örtlich begrenzter Mordanschlag wie jener vom 11. September 2001 in den USA eine landesweite Traumatisierung amerikanischer Seelen zur Folge haben 28 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 32. 29 | Vgl. die US-amerikanischen Spielfilme ›Das Fenster zum Hof‹ (1954) von Alfred Hitchcock, ›Sieben‹ (1995) von David Fincher und ›Lost Highway‹ (1997) von David Lynch. Vgl. auch den auf einer wahren Begebenheit beruhenden Roman ›We begin as strangers‹ von Harriet Cummings (London 2017), in dem die Autorin einen solchen Einbruchsfall in einem englischen Dorf schildert und zeigt, wie bei den Bewohnern eine Art existentielle Angst ausbricht, weil sie sich in ihren Häusern nicht mehr sicher fühlen.

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konnte, ist eben nur dann möglich, wenn sich der durchschnittliche US-Citizen regelrecht mit seinem Lande identifiziert, wenn sein Selbst eben auch vom ›Innenraum USA‹ formatiert wird: nur dann ist folglich ein Brandanschlag mehr als ein Anlaß, betroffen zu sein und Mitleid mit den Opfern und ihren Angehörigen zu haben und sich zu überlegen, was das zu bedeuten haben könnte für die Politik, die Geschichte und für mich persönlich, nur dann ist er eben auch ein Anschlag auf das eigene Selbst; nur so kann ich, selbst wenn ich irgendwo in Idaho wohne, von den Anschlägen in New York mitgenommen, mitgerissen und verängstigt werden. Ich schaukle in Idaho auf der schattigen Veranda unserer kleinen Farm im Schaukelstuhl, als plötzlich ein heiß blasender Höllensturm vom Himmel fegt und der Abgrund wie ein Canyon gähnt und mich mitsamt der Farm in den flammenden Schlund hinabreißt. Gegen diese Bilder helfen nur spontane und emphatisch aufgeführte Autosuggestionsopern, in denen die Menschen einander versichern, nicht verloren zu sein, sondern ein vereinigtes Kollektiv, das gerade in seiner Einheit sich vor dem Bösen rettet. Ein kleines Symptom für letzteres waren jene briefmarkengroße Aufkleber, welche Millionen Amerikaner in der Zeit nach den Anschlägen auf ihre Briefsendungen neben die Briefmarke klebten. Der Aufkleber zeigte eine pathetisch im Wind wehende US-Flagge und dazu den Satz: »United We Stand.« Vereint, verschworen, zusammen bilden wir einen großen Menscheninnenraum, und nur so, als Block, stehen wir, widerstehen wir, halten wir stand.30 Wenn ich hingegen in Idaho auf der schattigen Veranda meines Hauses im Schaukelstuhl schaukle und in den Dudelradionachrichten höre, daß Zehntausende unschuldiger Zivilisten im von Präsident Bush Jr. und Co angerichteten IrakKrieg durch die US-Kriegsführung ums Leben gekommen sind, dann berührt mich das seltsamerweise nicht oder zumindest nicht unangenehm. Für mich als Idahoer ist der Irak – polemisch formuliert – einfach der Außenraum, ›wo die Bösen etwas böses im Schilde führen, und es ist nur gut, wenn unsere Jungs und Mädchen dafür sorgen, daß möglichst viele dieser Bastarde in den Wüstensand beißen‹.

Die Wohnung als stabile Sphäre Der Innenraum der Wohnung ist idealtypisch der Ort der Stabilität, an dem alles an seinem Platz ist, auch die Erinnerungsstücke, die man von seinen Reisen durch die Außenwelt mitgebracht hat, Statuen, Photographien, Zeichnungen, Postkarten, Muscheln, Schneckenhäuser usw. Solche Schneckenhäuser sammelte auch der Dichter Pablo Neruda: »Sein [Pablo Nerudas, M.M.] immenser Fundus an Schneckengehäusen läßt zudem auf eine Besessenheit schließen, die damit zu tun hat, wie er seine eigene Existenz empfand: als ein zunehmendes Sichverschließen in sich selbst, ein Abtauchen in die Intimität, in der er sich verkroch wie in einem Schneckenhaus.«31 Zu den menschheitsgeschichtlich frühen Zeugnissen für das Hereinholen und die Stabilisierung eines bewegten Außen ins Innere lassen sich auch die wohl weit über siebzehntausend Jahre alten Höhlenwandmalereien von Lascaux zählen. Wa30 | Vgl. das Klavierwerk von Frederic Rzewski: The People United Will Never Be Defeated, 1975. 31 | Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda. Begegnungen mit einem Dichter, aus dem Spanischen von Petra Zickmann, München 2012, S. 50.

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rum malten, könnte man fragen, die Maler ausgerechnet im Dunkel der Höhle, wo man die Bilder rennender Tiere nur mit Fackellicht sehen konnte? Vielleicht deshalb, weil für die Maler Licht (Tag) mit dem Instabilen (Außen) verbunden war und Dunkel (Nacht) mit Stabilität (Innen). Auch, um das Instabile zu bannen, mußten sie ins Dunkle gehen und es dort festhalten.32 Der sich anfüllende Innenraum läßt sich jedenfalls als Museum des eigenen Lebens bezeichnen – wobei dieses Museum je nach Lagerbestand über die gute Stube hinaus ausgedehnt werden muß. Als Museum erfüllt es mehrere Funktionen. Zum einen dient es dazu, sich des eigenen reichhaltigen Lebens mit einem Blick zu versichern. Wer eine gefüllte und geordnete Wohnung oder ein solches Haus bewohnt, weiß zu schätzen, welche Mühsale hinter ihm liegen, um all diese Schätze, diese Trophäen der Welt nachhause zu schleppen. Die Hauseigentümer oder -mieter wandeln in ihrem jeweiligen Museum wie zur Versicherung ihrer Integrationsfähigkeit umher. Zum anderen dient die angefüllte Innenwelt auch dazu, Besuchern, die den Weg in den Innenraum finden, ähnlich wie schon hinsichtlich des Besuchs in der guten Stube erwähnt, zu zeigen, um welchen Menschen es sich bei einem selbst angeblich oder wirklich handelt. In diesem Fall verwandelt sich das Museum des eigenen Lebens in einen lebenskünstlerischen show room. Hereinspaziert in den Zirkus der autobiographischen Werkschau. Auch besteht die Möglichkeit, den Innenraum als Forschungsstätte für die Erforschung des Lebens herzurichten. Als Muster eines solchen Innenraums gilt Goethes Haus am Frauenplan in Weimar, in das der Dichter aus allen Teilen der von ihm bereisten, berittenen und bewanderten Gegenden Proben unterschiedlichster Art, Gesteine, Pflanzen, Weine, Statuen, Teller, Handschriften usf., auf systematisch durchdachte Weise aufstellte und anordnete, so daß sein Haus immer mehr das Gepräge einer modernen, der Tendenz nach universal ausgerichteten Forschungseinrichtung bekam.33 Der stabile Innenraum ist auch der Raum des Schlafgemachs, der Raum des stabilen Bettes und der ehelichen Treue. Exemplarisch dargestellt wird diese BettStabilität in Homers ›Odyssee‹ in jener unvergeßlichen Passage des dreiundzwanzigsten Gesangs, in welcher die an Listigkeit ihrem Gatten nicht nachstehende Penelopeia diesen auf die Probe stellt: Odysseus, nach zwanzigjähriger Irrfahrt durch die unterschiedlichen Außenräume endlich wieder daheim in den eigenen vier Palastwänden von Ithaka (die Eindringlinge, die Freier, hat er gemeinsam mit dem Sohn Telemachos auf entsetzliche Weise niedergemetzelt), schildert detailliert, zur insgeheimen Freude der sich noch bedeckt haltenden, all die Jahre treu gebliebenen Gattin, wie er einst das Schlafgemach und besonders das eheliche Bett gezimmert und dazu den fest im Erdreich wurzelnden Stamm eines alten Ölbaums als Bettpfosten verwendete, wovon nur er und die Gemahlin wissen; es ist erst dieses Zeichen, das ihr endgültig beweist, daß es sich bei dem Mann, der ihr gegenübersitzt, tatsächlich um den ihren handelt; genauso wie für Odysseus 32 | Allerdings ist offen, ob die Maler nicht auch draußen unter freiem Himmel malten; wenn es diese Außengalerie gegeben haben sollte, hätten sich die Gemälde aufgrund der Witterung längst aufgelöst. Weitere Theorien über den Sinn der Malereien beziehen sich auf die Themen Kunst, Ritual, Magie etc. 33 | Vgl. Erich Trunz: Ein Tag aus Goethes Leben, München 1990, darin vornehmlich die Aufsätze ›Goethe als Sammler‹ und ›Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter‹.

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das Vorfinden des von ihm gezimmerten Bettes das Zeichen für Penelopeias Treue sein wird: er darf davon ausgehen, daß ein anderer, der seinen Platz eingenommen hätte, versucht haben würde, das Bett zu entfernen oder zu versetzen.34 Daß dies im Leben auch anders ausgehen kann, erleben etwa – beliebtes Thema der Künste – Soldaten, die nach jahrelanger Gefangenschaft oder dem zeitweiligen Verschollensein wieder heimkehren und ihr Haus verschlossen vorfinden bzw. ihre angestammte Position im Bett von einem neuen Mann eingenommen sehen.35 Was die Nacht betrifft, ist daran zu erinnern, daß nur dort, wo stabile Verhältnisse herrschen, man sich hinlegen und in Ruhe schlafen kann.

Wohnungseinrichtung und leere Räume Der Mensch muß die Räume, die er erzeugt, auch einräumen. Wenn er ein Zimmer einräumt, trägt er seinem Haushalt und seinen ästhetischen Bedürfnissen Rechnung. Er räumt den Raum auch dann ein, wenn er ihn gar nicht einräumen möchte: auch der bewußt leergelassene Raum ist ein gestalteter und insofern zu jeder Zeit perfekt eingerichtet. Konkret deutlich wird dies nicht zuletzt in der budd­histischen Form der gezielten Herstellung der Leere, sofern Leere das SichRaumlassen meint. Der leere Raum ist die raumgewordene Meditation. Die räumliche Leere fördert die gedankliche Entleerung in der Versenkung. Insofern als es um Entleerung und Versenkung geht, handelt es sich beim Meditationsraum um einen spirituellen Abort. Öffnung zwischen innen und außen Die Öffnung, hieß es oben, ist für die Innen-Außen-Spannung von Bedeutung, insofern sie unabdingbar für die beiderseitige Kommunikation und damit für die Entwicklung des Lebens ist.36 Ohne Öffnung kein reziprokes Wechselverhältnis zwischen innen und außen. Man kann das Haus ausschließlich durch sie verlassen, man öffnet in der Regel die Haustüre und tritt über die Schwelle. Diese »ist der Platz der Erwartung«, notiert Goethe37 (wie oben im Chora-Skene-Abschnitt und im Abschnitt zu Bachelards Phänomenologie von Schwelle und Tür erwähnt), und zwar unabhängig davon, in welcher Blickrichtung man sie betritt – mit Blick nach draußen in den Außenraum oder mit Blick in den Innenraum hinein. Das Haus verläßt man in der Regel, um etwas sinnvolles zu erledigen und etwas aufregendes zu erleben. Man kann auf dem Weg zurück nur durch die Öffnung wieder in das Haus hineingelangen. Öffnungen zwischen innen und außen sind demnach – ähnlich wie Wegmarken und andere Zeichen, die auf ein Ziel deuten – Voraussetzung für Bewegung und Veränderung im Leben.

34 | Homer: Odyssee, Dreiundzwanzigster Gesang, Griechisch-Deutsch, Deutsch von Anton Weiher, Düsseldorf und Zürich 122003, Verse 183ff. 35 | Vgl. etwa Rainer Werner Fassbinders Film ›Die Ehe der Maria Braun‹ (Deutschland 1978) mit Hanna Schygulla und Klaus Löwitsch. 36 | Vgl. auch Villem Flusser: Räume, in: außen räume innen räume. Der Wandel des Raumbegriffs im Zeitalter der elektronischen Medien, hg. von Heidemarie Seblatnig, Wien 1991, S. 75-83. 37 | Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, a.a.O., Siebentes Buch, Neuntes Kapitel, Lehrbrief.

Kapitel III.2

Fenster Das Fenster als Öffnung ermöglicht den optischen, akustischen, aerologischen und temporalen Kontakt zur zunächst phänomenologisch verstandenen Außenwelt (etwas, das phänomenologisch draußen ist, kann phänomenal oder implizit innen sein – zum Beispiel kann eine phänomenologisch gesehen draußen stehende Weide implizit innen sein, weil ich sie von meinem Schreibtisch aus sehe und mich an ihrem Anblick weide). Oder um mit Bachelard zu reden, durch ein Fenster nimmt eine Wohnung oder ein Haus »einen unermeßlichen Austausch von Beziehungen mit der Welt auf«38. Deshalb ist es so entscheidend dafür, wie ich mich fühle, wenn ich durch das Fenster schaue: sehe ich eine Buche im Wind rauschen oder blicke ich auf das Parkdeck eines Parkhauses, sehe ich mich inspirierende Häuser oder die Lieferzone eines Supermarkts. Wenn ich mich mit dem, was ich sehe, wohlfühle, dann erweitere ich meinen Innenraum; fühle ich mich hingegen unwohl, dann wird auch mein Innenraumerleben in der Wohnung empfindlich gestört – ich ziehe den Vorhang zu oder ziehe in eine andere Gegend. Was die zeitlichen Dimensionen betrifft, so bedeutet der Blick aus dem Fenster auch die Verbindung mit der Zukunft. Passiert etwa im Falle eines alleine lebenden Greises innerhalb der eigenen vier Wände nicht mehr viel und verkörpern sie damit gewissermaßen die Vergangenheit, so bedeutet der Blick aus dem Fenster die Einsicht in die Zukunft – ich sehe, was kommt und wer kommt, was geht und wer geht. Das Ellbogenkissen auf dem Fenstersims ist Teil eines Logengeländers – das Trottoir und die Straße bilden die Bühne, die meine Welt bedeutet. (Das scheinen die auf den Fenstersimsen sitzenden und die Außenwelt beobachtenden Hauskatzen ähnlich zu sehen.) Säße der alte Mann nur innen und starrte möglicherweise auf eine blanke Tapete, dann geschähe nichts und ihm würde todlangweilig werden. In geschichtlicher Hinsicht sei stichwortartig an das Strafvollzugsinstrument des Fenstersturzes erinnert, historisch auch als Defenestration bekannt. In Prag und andernorts in Europa hat er eine lange Tradition. Auf kultureller Ebene ist er wohl alttestamentarisch inspiriert – Königin Isebel wurde wegen gotteslästerlicher höhnischer Reden auf Befehl von Hauptmann Jehu zur tödlichen Strafe aus dem Fenster gestürzt (Zweites Buch der Könige, Kapitel 9, Verse 30-37).39 Am bekanntesten ist der Zweite Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618 – Auslöser des Dreißigjährigen Krieges. Dieser Fenstersturz läßt sich – jenseits der sonstigen historischen und machtpolitischen Zusammenhänge – auch als Ausdruck einer kollektiv-religiösen Selbst-Bestimmung und Selbst-Vergewisserung der protestantischen Böhmen interpretieren. Wenn die zweihundert anmarschierenden böhmischen Ständevertreter den Raum – die Ratskanzlei auf der Prager Burg, dem Zentrum der habsburgischen Herrschaft in Böhmen – nicht mehr mit den beiden anwesenden kaiserlich-katholischen Statthaltern und ihrem Kammersekretär teilen wollen, dann bietet es sich nachgerade fast wie von selbst an, sofort mit den ›fremden Herren‹ ›Recht zu verfahren‹ und sie im hohen Bogen zum Fenster hinauszuwerfen. Aus den Augen, aus dem Sinn, darf man hier konstatieren. Wo ›ein feste Burg ist unser Gott‹, haben mögliche oder wirkliche Rekatholisierer und 38 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 86. 39 | Vgl. dazu Daniel Jütte: Defenestration as Ritual Punishment: Windows, Power, and Political Culture in Early Modern Europe, in: Journal of Modern History 89, Nr. 1 (2017), S. 1-38.

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Religionsfreiheit-Abschaffer keinen Platz – oder wenn, dann nur achtzehn Meter tiefer im Burggraben. (In einer sehr weit gehenden assoziativen Pointierung könnte man die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg auch als eine ethnische Defenestration bezeichnen.) In theologisch-kirchenarchitektonischer Hinsicht sei zu den bunten Kirchenfenstern angemerkt, daß sie das jenseitige Licht filtern und es so in seiner Herrlichkeit im Diesseits endlichen Augen sichtbar machen sollten – auch damit diese nicht ›erblinden‹ wie beim wirklichen Blick in die Sonne. Im Vergleich zu den oft trüben Lichtverhältnissen in den Räumen des ›grauen Alltags‹ können die Kirchgänger am Sonntag in eine ›erhabene‹ religiöse Sphäre treten; dabei gelangen sie in einen Farbenraum, der ihnen scheinbar glaubhaft die Schönheit der jenseitigen Welt unmittelbar vor Augen führt. Ihr Innenraum weitet sich – und damit ihr Selbst. Die Erlösung aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern und die Befreiung von dem Druck von Giebeln und Dächern machen sich sogleich bemerkbar – sie fühlen sich im Idealfall ›groß‹ und ›erhaben‹.

Fernseher Der Fernseher ist die Fortsetzung des Fensters mit anderen Mitteln. Wenn ich zuhause im Innenraum sitze, dann kann ich vieles, was draußen, im Außenraum, vor sich geht, vom Fernsehsessel aus verfolgen, ohne Gefahr zu laufen, von den im Außenraum vor sich gehenden Geschehnissen handgreiflich berührt zu werden. Darüberhinaus kann ich bei beim Live-Fernsehen virtuell zusammen mit Millionen oder Milliarden anderen Zuschauern eine Veranstaltung sehen und zum Teil interaktiv an ihr teilnehmen. (Dazu kommen im Internet die Live-Webcams sowie die Foren, in denen ich die Möglichkeit habe, zu allem, was es gibt, meine eigene Ansicht beizusteuern, und alles, was es gibt, mittels eines Statements und mit Hilfe von unterschiedlichen Votings zu bewerten.) Zugleich ist der Fernseher ein Heldenerzeuger insofern, als er eine gewisse Heroisierung des unheldenhaften Durchschnittsbürgers bewirkt. Zeichnet es den herkömmlichen Helden aus, daß er den geschützten Innenraum verläßt, durch die weite Welt reitet, sie auf halsbrecherischen Exkursionen durchschreitet und auf diese Weise mannigfache Abenteuer erlebt und Erfahrungen sammelt, so zeichnet es den fernsehlosen (und noch buchlosen) zuhausebleibenden Menschen zunächst aus, daß er wenig von der weiten Welt weiß und auf das angewiesen bleibt, was andere ihm erzählen. Mittels Fernseher jedoch kann auch der ortsgebundene Mensch sich gleichsam zum Helden weiterbilden und durch jahrelanges Fernsehstudium profundes Weltwissen erwerben. Dabei spielt es für die Erlangung dieses Wissens hier keine Rolle, daß es einen Unterschied macht, ob der Fernsehstudent selbst die Sieben Kontinente durchquert, einen Löwen totschießt, vor leuchtenden Korallenriffen taucht, oder ob er dies nur in medialer Vermittlung macht.40 In der griechischen Antike war der Fernseher in gewisser Weise der Fremde oder der reisende Sänger. Nur durch ihn konnte die griechische Land- und Dorf bevölkerung erfahren, wie es anderswo zuging, der Fremde war daher ein Mensch, den man 40 | Vgl. jedoch hierzu Jules Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen, Frankfurt a.M. 2003, wo es heißt: »An das Erkunden der Stadt dachte er noch nicht einmal, da er jener Art von Engländern angehört, die die Länder, die sie bereisen, von ihrem Bediensteten besichtigen lassen.« (Jules Verne zitiert nach: Bernd Stiegler: Reisender Stillstand, a.a.O., S. 151.)

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gerne zum Freund haben möchte, weil er was zu erzählen hat. Der Fremde, der mich bildet, ist mein Freund, und so benötigte die griechische Sprache auch nur ein Wort für den Fremden und den Freund – ho xenos.41 Was den Unterschied zwischen Fernseher und Kino berührt42, so bedeutet die Tatsache, daß ich beim Kinobesuch das eigene Zuhause verlassen muß, die Chance und das Risiko, daß ich im öffentlichen Raum eine Irritation erleide.43 Das Buch ist das haltbarste Übertragungsmedium von Information und damit auch der Information über fremde Welten. Nur mit ihm und ausführlichstem Reiseliteraturstudium war es Kant, der über seine Heimatstadt Königsberg kaum je hinauskam, überhaupt möglich gewesen, an der Universität geographische Vorlesungen über landschaftliches Aussehen sowie Sitten und Gebräuche ferner Länder zu halten. Über das Telephon kommt die ferne Stimme, über die Web-Kamera laufen wie bemerkt von der Ferne Bilder zu mir nachhause. Andererseits kann ich im Außenraum, aus dem Ausland, mittels Video und Telephon die eigene Wohnung überwachen. Der Briefkasten, sofern er außerhalb des Hauses oder der Wohnung angebracht ist, dient als ausgelagerte Schleuse zwischen Innen und Außen; beim Briefkastenschlitz in der Haus- oder Wohnungstür hingegen dringen die Briefe von draußen direkt in den Innenraum herein.

Kerker Ein Inbild für physische Öffnungslosigkeit, für Beengung im weitesten Sinn, ist der Kerker. Dem belletristischen Bewußtsein steht er oft anhand von Abenteuerromanen vor Augen. Der Held eines solchen wird im Laufe der Geschichte in einen Kerker geworfen und ist dort so gut wie lebendig begraben; eine Öffnung existiert für ihn praktisch nicht. Da ist keine geheime Tür in der Außenwand, durch die er fliehen könnte, es gibt auch keine Tür ins Innere des Kerkerkomplexes, durch die er die Zelle verlassen könnte, und sei es nur, um sich mit anderen Eingekerkerten zu unterhalten und sich mit ihnen im Rahmen eines Gesprächs auszutauschen. Deutlich wird an dieser Stelle die Bedeutung des allgemeinen Hofgangs in Gefängnissen, insofern durch ihn, innerhalb des Gefängniskomplexes, das Erlebnis des Innen-Außen-Verhältnisses und damit das Selbstverständnis zumindest in rudimentären Formen lebendig gehalten werden kann. 41 | Vgl. zum ›Tele‹-Medium ›Gerücht‹ auch Jean-Noël Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt, Berlin 1997. – Vgl. zum Fremden in der Antike Bernhard Waldenfels: Platon. Zwischen Logos und Pathos, a.a.O., Kapitel ›IX. Fremdheit auf Griechisch‹, S. 284-309. 42 | Zum Unterschied zwischen Kinosaal und Außenwelt in idealistischer Sicht vgl. das Höhlengleichnis, in: Platon: Politeia (Der Staat), Siebtes Buch, in: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Griechisch und Deutsch, hg. von Karlheinz Hülser, deutsch von Friedrich Schleiermacher, Band V, Frankfurt a.M. 1991. – Vgl. auch Edgar Reitz: Kino. Ein Gespräch mit Heinrich Klotz und Lothar Spree, Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Band 3, Stuttgart 1994, besonders S. 7-10. 43 | Doch bekanntlich bleibt man auch zuhause nicht immer alleine, sei es, weil ungebetener Besuch in Form von Einbrechern und Nachbarn auftaucht, sei es, weil unverhofft ein angenehmer Besuch erscheint. Vgl. Chris Columbus’ Filmkomödie ›Kevin – Allein zu Haus‹ (USA 1990).

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Das Gefühl, in einem Kerker zu sein, kann einen auch in anderer Weise beschleichen, zumindest dann, wenn man den Menschen als einen »Wohnträumer« begreift: ein solcher ist nach Bachelard ein Mensch, der sich »überall einquartiert, aber nirgends eingeschlossen« wird; fände sich der Wohnträumer hingegen »im endgültigen Haus« wieder – in einer Art Kerker –, dann fühlte er sich »um die Freiheit des Wohnens geprellt«, denn man müsse, so Bachelard, beim Wohnen »immer eine Träumerei von einem Anderswo offen lassen«44. Ein Kerker im übertragenen Sinne zeigt sich auch an diesem Beispiel, das sich ebenfalls bei Bachelard findet: »Auch [der Dichter Jean, M.M.] Supervielle bringt die Klaustrophobie und die Agoraphobie miteinander in Berührung, wenn er schreibt: Zuviel Raum beengt uns sehr viel mehr als wenn nicht genug Raum da ist.‹ (Supervielle, Gravitations) […] In einem anderen Text von Supervielle […] ist das Gefängnis draußen. Nach endlosen Ritten in der südamerikanischen Pampa schreibt Supervielle: ›Gerade infolge eines exzessiven Auslebens der Freiheit zu Pferde, angesichts dieses bei all unserem verzweifelten Galoppieren unverrückbaren Horizontes, bekam die Pampa für mich den Charakter eines Gefängnisses, das nur größer war als andere Gefängnisse.‹« 45

Ähnlich verhält es sich mit der Situation in den Todeszellen etwa in den USA. In einer solchen Zelle ist der Insasse dem Tode geweiht. Da er, obwohl praktisch tot, als noch Lebender den Weg zur Hinrichtungsstätte selbst gehen muß, ruft in bestimmten Gefängnissen der Aufseher, sobald der Kandidat Richtung Hinrichtungsstätte die letzten Schritte seines Lebens macht, laut die Worte Dead Man Walking – Leichnam unterwegs.46 Wie es ist, in einer scheinbar ausweglosen Situation zu sein, in einer Beengung, einer Kammer ohne Ausweg, können Besucher des Holocaust-Turms im Jüdischen Museum in Berlin wenigstens erahnen.47 Die Besucher betreten einen vierundzwanzig Meter hohen, leeren, nur durch einen Schlitz am oberen Ende belichteten, daher nahezu dunklen, im übrigen unklimatisierten Turmgrund. Die Tür wird von einem Türsteher von außen geschlossen. Während man sich alleine oder mit anderen Besuchern im Holocaust-Turm befindet – im Winter frierend, weil man die Winterkleidung an der Garderobe abgegeben hat –, nichts sieht, schon nach wenigen Sekunden in der Dunkelheit kaum mehr weiß, wo sich die Türe befindet und die Desorientierung um sich greift, ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis den Besucher panisches Entsetzen packt – Entsetzen darüber, nicht mehr zu wissen, wo er sich befindet, und nicht mehr wirklich zu wissen, wie lange er schon da steht. Wenn sich die Türe wieder öffnet, fühlt er fast förmlich Steine von seinem 44 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 80. 45 | Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 219. 46 | Vgl. Tim Robbins Spielfilm Dead Man Walking (USA 1995) mit Sean Penn und Susan Sarandon. 47 | Über die von Daniel Libeskind, dem Architekten des Museums, im Museum eingerichteten leeren Räume (den voided voids) vgl. auch Peter Sloterdijks Essay ›Für eine Architektur der Teilhabe. Notiz zur Kunst Daniel Libeskinds mit Rücksicht auf Maurice Merleau-Ponty und Paul Valéry‹, Hiroshima City Museum of Contemporary Art 2002, wiederabgedruckt in: P. S.: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Hamburg 2007, S. 285-298.

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Herzen fallen, so erleichtert kehrt er in das Leben zurück, in die übersichtliche Struktur einer erträglichen Innen-Außen-Spannung, wo konturierte Räume, sichtbares Kommen und Gehen und das Selbst erlebbar sind. Auch hier wird die Rolle des Lichts augenscheinlich. Es entfaltet Konturen und läßt Grenzen erscheinen. Im Dunkeln – im Grenzenlosen – ist der darin befindliche Mensch seiner selbst nicht mehr sicher. Erinnert werden darf in diesem Zusammenhang auch an die Darkrooms in gewissen, meist von Homosexuellen frequentierten Diskotheken, in denen es, wie der Name besagt, dunkel ist und in dem sich die Besucher nahezu anonym – und insofern auch ein Stück weit geschützt – sexuell verlustieren können. Eine andere Art von Darkroom oder Kerker zeigt der Spielfilm ›Die Truman Show‹ über den Versicherungsvertreter Truman Burbank.48 Der Film, auf einer oberflächlichen Ebene eine Satire auf die Medienwelt, behandelt auf einer tieferen Ebene das Problem von Innen und Außen: Der Ort der Filmhandlung, Seahaven, ist eine von Wasser umgebene Küstenstadt unter einer gigantischen Kuppel – dem ›OmnicamEcosphere-Gebäude‹ –, also ein enormer Innenraum, von dem jedoch der Held, Truman Burbank, nicht weiß, daß es sich um ein riesengroßes Studio handelt. Er glaubt, der blaue Himmel über ihm sei tatsächlich der blaue Himmel, in Wirklichkeit ist es nur das Farbenspiel der Studiokuppel. Erst allmählich wird er mißtrauisch – ein Scheinwerfer fällt ihm aus dem Himmel zu Füßen –, und er beginnt, den Betrug zu durchschauen. Mit Hilfe eines Küchenmessers durchsticht er die Kuppelleinwand, und durch die Scheide – der Leinwandschwelle – schlüpft er hinaus in die von ihm noch nie gesehene Außenwelt. Bei dieser Geburt handelt es sich um einen Kaiserschnitt, der vom Geburtling selbst von innen heraus vorgenommen wird. Nur mit diesem Kaiserschnitt, den er als Hebamme seiner selbst führt, kann er zur Welt kommen.49

Der Raum als semiotischer Komplex Schließlich weise ich lediglich stichwortartig und global noch auf die Zeichenräume in Sprache, Kunst, Musik, Malerei hin, die sich mit Hilfe strukturalistischer, linguistischer und systemtheoretischer Methoden- und Theorieansätze dechiffrieren lassen. Der metaphorische Raum der Zeichen ist der Raum, der von einer Gruppe mit Hilfe bestimmter Zeichen und des dadurch konstituierten Zeichensystems gebildet wird. Dabei ist theoretisch neben den arbiträren Zeichen der natürlichen Wortsprache alles der gemeinsamen Wahrnehmung zugängliche als Zeichen verwendbar. So werden in der Regel die von einem geteilten Interesse getragenen Dinge, Sachverhalte und Handlungsweisen als Raum-erzeugende und Identitätstiftende Zeichen genutzt. So gibt es den Raum der Ferraristi, der Motorbikers, der Abba-Fans, den Raum des Rap-Stils oder den Raum der Mode, der zugleich zeigt, was in ist oder out; auch Kleider machen Raum-Mitbewohner.50

48 | Peter Weir: Die Truman Show (Spielfilm), USA 1998, mit Jim Carrey. 49 | Vgl. auch Heiner Müllers Gedicht ›Traumtext‹ (1995) sowie Klaus Theweleits Interpretation dazu in: K. T.: heiner müller. traumtext, Basel und Frankfurt a.M. 1996. 50 | Zur Linguistik und Semantik der Mode vgl. Roland Barthes: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985, sowie aus systemtheoretischer Sicht auf die Mode Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004.

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Abschnitt 3 Stufen von der vertrauten zur unvertrauten Räumlichkeit Der Außenraum ist in der Regel, betrete ich ihn, nicht sogleich ein ›reiner‹ Außenraum; meist baut er sich stufenweise auf, von vertraut zu unvertraut. Der unmittelbare Außenraum ist in der Regel das, was man Nachbarschaft nennt. Nachbarschaft heißt, hier kenne ich mich aus, das ist mein Viertel. Man muß das eigene Viertel verlassen, um in ein eher unbekanntes Außen zu gelangen. Dort erlebe ich dann das halbwegs oder wirklich Neue, das aber in der Regel noch in das Innen integrierbar ist. Komme ich hingegen in fern gelegene Gefilde, in ein kaum noch oder gar nicht mehr integrierbares Außen, entsteht zugleich der schockartige Schrecken des ›reinen‹ Außen. Es ruft jene Worte herauf, die Mr. Kurtz in Joseph Conrads Roman ›Herz der Finsternis‹ im Munde führt: »Das Grauen! Das Grauen!« (The horror, the horror!).51 Das Erleben des nicht mehr integrierbaren Außen ist das Grauen, eine Art horror vacui, weil dieses Außen das eigene Selbstverständnis und die Möglichkeit, zukünftig ein neues Selbstverständnis aufzubauen, in jeder Hinsicht zerstört. Die Möglichkeit allerdings des paradoxen Nirgendwo-Wohnens erschloß der legendäre japanische Haiku-Dichter Matsuo Bashô.52 Bashô, dessen Name man wörtlich mit Bananenstaude übersetze, sei wie der Wind gewandert, ja in einer gewissen semantischen Weise sogar der Wind gewesen – denn wandern bedeute im Japanischen Wind sein. Wandernd, kann man schlußfolgern, habe Bashô sich in Wind aufgelöst. Raumtheoretisch heißt das: Der Wind ist kein klar konturierter Innenraum, seine Ränder sind diffus und verwirbelt; folglich löst das Ich sich auf, wenn der Mensch das Gefüge seiner Innenräume, das eigene Haus, verläßt und in den Wind sich begibt. Wie mit dem Bashô-Beispiel angedeutet, ist der Raum beileibe nicht stets ein umgrenzter Raum. Wenn er als unbegrenzter erlebt wird, etwa in einer Landschaft im Nebel, auf hoher See nach einem Schiffsuntergang, in der endlos erscheinenden Wüste, findet man sich in einem problematischen Raum wieder – problematisch insofern, als es in ihm keinen sinnvollen Bezug zu ihm gibt. Sinnvollen SelbstBezug und damit ein handlungsfähiges Ich kann es erst mit der Umgrenzung und der Raumdefinition geben. Weil Hans Castorp in Thomas Manns Roman ›Der Zauberberg‹53 im Schneesturm den Weg nicht mehr sieht und ihm überhaupt jegliche Orientierung verloren geht, irrt er im Kreis und ist nahe dabei, zu verzweifeln. Auch Schiffe im Nebel benötigen vor allem in vormodernen Zeiten ein Nebelhorn – dessen Klang den Kapitänen akustische Orientierung ermöglicht und somit den sicheren Routeninnenraum markiert.54 Insofern diese Beispiele die große Rolle der Sichtbarkeit betonen, läßt sich auch das Phänomen des Tag-Nacht-Wechsels als eine Form des Raumwechselerlebnisses interpretieren. Der Tag erscheint als der Raum, in dem ich die Dinge der Welt erkennen und mir vertraut machen kann, 51 | Joseph Conrad: Herz der Finsternis, aus dem Englischen von Urs Widmer, Zürich 1992. 52 | So jedenfalls sieht es der deutsch-koreanische Essayist Byung-Chul Han in einem Referat über den Zen-Buddhismus, auf das ich mich hier beziehe, siehe Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhismus, Stuttgart 2002, S. 82-95. 53 | Thomas Mann: Der Zauberberg, a.a.O. 54 | Zum Schiff vergleiche auch Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, a.a.O., S. 195.

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die Nacht hingegen als die mich verunsichernde Dunkelkammer, in der sich die Negative der Alpträume von selbst entwickeln.

Weitere Ausflüge in den Außenraum Der Außenraum ist damit der Raum einer buchstäblichen wie übertragenen Abenteuerfahrt. Menschen reisen aus Interesse an fremden Kulturen. Sie reisen aus geschäftlichen Gründen. Sie reisen, um dem Alltag zu entfliehen und das Bekannte zu verlassen. Sie reisen, um sich in den Vorposten der Heimat in der äußeren Wildnis, in Touristenhoch- und -tief burgen mehr oder weniger zu erholen. Sie reisen, um sich zu bilden wie Goethe auf seiner italienischen Reise oder Eichendorffs Taugenichts.55 Sie reisen, um davon zu erzählen oder auch nur, um vor anderen so zu tun, als würden sie reisen und sich im Außenkontakt tüchtig schlagen – siehe Arthur Millers Vertretertragödie ›Tod eines Handlungsreisenden‹56 oder jenen in der Presse aus Italien berichteten Fall einer Familie, die sich im Sommer in ihrer Wohnung verbarrikadierte und alle Fensterläden verschloß, um vor den Nachbarn eine Urlaubsreise vorzutäuschen. Dabei sorgt jeweils erst der Austausch zwischen den Daheimgebliebenen und den Heimkehrern für den Wiederanschluß der Heimkehrer an die Heimat.

Das Auto als mobile home Zu den kulturgeschichtlich bedeutendsten Sonderformen der Innenraumschöpfungen der jüngeren Zeit zählt das Automobil. Hier hat man den Fall eines sich pferdeemanzipiert durch den Außenraum bewegenden Innenraums. Wobei die Entwicklung zu ausgefeilten Raumerschließungstendenzen des Autos ins Auge fällt: Mit Entfaltung der historischen Straßenkarte bot sich dem Autofahrer ein erstes Orientierungsmittel an; heute hingegen, im Zeitalter satellitengestützter GPSNavigation, ist es ihm jederzeit möglich, sowohl auf dem Navigationsgerätebildschirm zu sehen, wo er sich befindet, als auch über den eingebauten Lautsprecher Steuerungsbefehle darüber zu empfangen, wann und wo er wie abzubiegen hat. Hiermit wird der Außenraum ein Stück weit vertraut gemacht, ohne daß er freilich je aufhören würde, letztlich ein solcher zu bleiben. Die Entwicklungsgeschichte des Autos scheint mittlerweile sogar den automatisch oder ›autonom‹ fahrenden Kraftwagen hervorbringen zu wollen. Aus dem Fahrer würde dadurch ein Beifahrer werden – ein psychologisch höchst riskanter Rollenwechsel, denn den interesselosen Beifahrer kennt die menschliche Evolution bislang nicht.57 Eine andere Nuance wiederum zeigt sich beim Auto als Wohnmobil (englisch mobile home), denn das Wohnmobil stellt bei der Transferierung des Innenraums in den Außenraum die größte Veränderung dar, indem es letztlich den luxuriösen 55 | Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, Hamburger Ausgabe, hg. von Herbert von Einem, München 1997; Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, München 1997. Zu letzterem siehe auch Peter Sloterdijk: Taugenichts kehrt heim, (1985), wiederabgedruckt in: P. S.: Der ästhetische Imperativ, a.a.O., besonders S. 467ff. 56 | Arthur Miller: Tod eines Handlungsreisenden. Gewisse Privatgespräche in zwei Akten und einem Requiem, übersetzt von Volker Schlöndorff mit Florian Hopf, Frankfurt a.M. 51 1986. 57 | Peter Sloterdijk liefert im übrigen eine psychoanalytisch-raumtheoretische Interpretation des Autos, siehe P. S.: Ausgewählte Übertreibungen, a.a.O., S. 86ff.

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Wohninnenraum auf einen fahrbaren Untersatz stellt. Damit wird ein Komfortwunsch Wirklichkeit: Zwar will ich etwas von der Welt sehen, dabei aber nicht auf mein Zuhause verzichten – also nehme ich es mit. Ein Hamburger Ehepaar etwa kann auf einer USA-Reise mit dem Wohnmobil unmittelbar am Abgrund des Grand Canyons parken, Hamburger essen, Bier trinken und sich zugleich am erhabenen Anblick des unmittelbar vor ihnen sich schroff öffnenden gigantischen Abgrunds weiden. Vom Wohnmobil als der Möglichkeit, sich aus dem nicht mehr vertrauten alten immobilen Heim in ein neues Leben zu retten, erzählt auch Alexander Paynes Spielfilm ›About Schmidt‹58 mit Jack Nicholson. Nachdem Herr Schmidt von seinem Arbeitgeber, einer großen Versicherungsgesellschaft, geheuchelt-freundlich in den Ruhestand verabschiedet worden ist, er zuhause seiner Frau nur im Wege ist und er nach dem baldigen plötzlichen Tod derselben erfahren muß, daß sie mit seinem besten Freund ein wildes Verhältnis hatte, ist ihm sein Heim, sein gewohnter Innenraum, plötzlich fremd – fremd wie eine fremde Haut, die nicht die seine ist, und er flüchtet in sein Wohnmobil und begibt sich auf eine Reise durch die offene, amerikanische Landschaft. In historischer Sicht darf man zu den ersten Automobilen den Baumstamm, dann den Einbaum und auf dem Wasser jede Art von Boot rechnen, in späterer Zeit die getragene Sänfte. In symbolhistorischer Hinsicht interessant sind sozial verbindliche ›heilige‹ oder kanonische Kohäsionstexte, wie es sich im bereits angeführten Heineschen Diktum von der Bibel zeigt, welche die Juden im Exil »gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten«59. Ich mag noch so sehr zerstreut sein und mich in einem unwirtlichen Außen noch so sehr verfahren haben, verbleibe ich doch mit meiner Bibel in der Hand, diesem AllInclusive-Navigationssystem, immer im umfassendsten Innenraum. Ein entsprechendes Bergungsmerkmal zeigt sich auch in Luthers Kirchenlied ›Ein feste Burg ist unser Gott‹60, und zwar obwohl hier das Mobil in Form einer Immobilie, der geschütztesten dazu, vorgestellt wird: der entscheidende Punkt an diesem Bild ist eben die Tatsache, daß es ein Bild ist, eine Imagination, die der Gläubige überallhin mit sich tragen kann – der Mensch imaginiert sich Gott als feste Burg und ist damit immer zugleich in der immuntechnisch unbesiegbarsten Schutzmacht zuhause. Sonderformen des automobilen Fortkommens stellen das geöffnete Cabriolet und das Motorrad dar; im Gegensatz zum geschlossenen Auto haben die Fahrer von Cabriolet und Motorrad jeweils Luft- und Windkontakt mit dem Außen (die Ledermontur und der Sturzhelm des Motorradfahrers stellen in gewisser Weise Sicherheit gebende dünne Ersatzumschließungen für die fehlenden Außenwände dar). Aus Berichten von Cabriolettisten und Motorradfahrern läßt sich auf ein erhöhtes Gefühl der Freiheit schließen. Der Schriftsteller und leidenschaftliche Motorradfahrer John Berger beschreibt das Gefühl des Motorradfahrens so: »Abgesehen von der Schutzkleidung, die du trägst, gibt es nichts zwischen dir und dem Rest der Welt. Du spürst den Druck der Luft und des Windes unmittelbar. Du befindest dich in dem 58 | Alexander Payne: About Schmidt (Spielfilm), USA 2002. 59 | Heinrich Heine: Geständnisse, a.a.O., S. 43. 60 | Martin Luther: Ein feste Burg ist unser Gott, in: Das Klug’sche Gesangbuch, 1533, hg. von Konrad Ameln, (Faksimileausgabe), Kassel und Basel 1954.

Kapitel III.2 Raum, in dem du reist. Ohne Behältnis um dich herum […]. Daher kommt das Gefühl, daß das Motorrad ebenso unmittelbar reagiert wie eins deiner Glieder – […]. Diese Unmittelbarkeit verleiht ein Gefühl der Freiheit. […] Vielleicht verschaffen sich Motorradfahrer eine gewisse Distanz zum Reich des Alltäglichen und kehren auf diese Weise zeitweilig einem großen Teil des Lebens den Rücken – jedoch nicht, um mit dem Tode zu tanzen, sondern um sich unbeschwert zu fühlen.« 61

Wenn an dem Vorkommen eines erhöhten Freiheitsgefühl nicht zu zweifeln ist, dann liegt dies sicher auch an der erlebten Verwischung der Grenzen von innen und außen. Mit dieser Grenzverwischung einher geht ein temporäres Sichlösen des Selbst vom gewohnten Innenraum – wodurch ein transitorisches Gefühl der Befreiung entstehen kann. Peter Sloterdijk hingegen interpretiert das Motorradfahren unter dem Aspekt der Seefahrt. »Motorradfahrer sind wiedergekehrte Seeleute, die den Sturm nicht vergessen können und die Ekstase des offenen Meeres nicht entbehren wollen.«62

Raumschiff und erdnaher Weltraum Wie aber zeigt sich das Verhältnis von innen und außen beim Raumschiff im extraterrestrischen Raum? Auch hier tun sich drei Dimensionen auf: der Innenraum als der wirtliche Raum oder der Ort des Überlebens, die Öffnung (Fenster/Schleuse) als Zwischenreich zwischen innen und außen und der unmittelbare Außenraum für die Außeneinsätze im unwirtlichen Weltall. Das Raumschiff und seine Nähe zum Unwirtlichen bringen zu Bewußtsein, daß Menschen sich im extraterrestrischen Raum nicht nur in einem schwerelosen Gebiet befinden, sondern in einer fast zeitlosen Sphäre – denn die Astronauten oder Weltraumspaziergänger können nur unter erschwerten Bedingungen hinaus und wieder hinein und draußen im Außenraum nur wenig erleben; doch um Zeit erfahren zu können ist der Wechsel von innen und außen unerläßlich. – Der Raumanzug überträgt im übrigen den Innenraum der Raumstation auf das Feld der Bekleidungstechnik, so daß die Astronauten bei Außeneinsätzen im lebensfeindlichen Außenraum doch in einer Form des freundlichen Innenraums verbleiben. Die ersten extraterrestrischen Außeneinsätze, die den terrestrischen Spaziergängen am ehesten, wenn auch noch immer auf sehr beschränkte Weise, nahekamen, waren die 152 Minuten dauernden Spaziergänge der Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin bei ihrem Mondbesuch am 20. Juli 1969. Auch wenn sie auf der Mondoberfläche, auf der sie landeten, im Meer der Stille (mare tranquillitatis), wenig gesehen haben, im Grunde nur eine Gesteinswüste – sie sammelten 22 Kilogramm Steine ein –, so hatten sie als Ziel ihres Spaziergangs und damit als Zeichen des Innen doch stets ihre Mondlandefähre ›Eagle‹ (zu deutsch ›Adler‹) im Blickfeld bzw. im Rücken und konnten von diesem aus ein Stück weit in ein fremdes und daher neues bietendes Staubland springen. Offensichtlich ist, daß bei 61 | John Berger: Wie schnell fährt es?, in: J. B.: Begegnungen und Abschiede, München 1993, S. 191ff. Vgl. auch John Berger: Auf dem Weg zur Hochzeit, München 1996, sowie John Berger: Mann in Ledermontur und Sturzhelm, völlig reglos dastehend, in: J. B.: Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend, München 1995. 62 | Peter Sloterdijk: Ausgewählte Übertreibungen, a.a.O., S. 94.

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der gesamten Unternehmung der Reiz des Neuen auf der absoluten Neuheit des Landstrichs jenseits der Erdkugel beruhte. Und deshalb war – jenseits der möglichen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politisch-symbolischen Interessen, die sich mit den Mondmissionen verbanden, und nach Kenntnisnahme des Landstrichs – die vorläufige Aufgabe der bemannten Exkursionen mit dem letzten Besuch am 11. Dezember 1972 auch darin begründet, daß der Erdtrabant als solcher nichts weiter neues versprach.

Phänomenologischer Zusatz: Hinweis auf das Erleben eines Lichtraumkunstwerks Die Lichtinstallation ›Vanishing Point‹ (Fluchtpunkt) der Londoner Künstlergruppe ›United Visual Artists‹, präsentiert im Jahr 2013 in der Berliner Ausstellung ›Raum im Fokus‹ in den ehemaligen Opernwerkstätten in der Zinnowitzer Straße, kann die mit der These dieser Arbeit verbundenen Aussagen auf eindrucksvolle Weise bestätigen.63 Auch wenn eine Beschreibung des Kunstwerks unmöglich an das Erleben desselben heranreichen kann, halte ich einen kurzen erläuternden Hinweis für sinnvoll. Der Betrachter betritt einen abgedunkelten, rechteckigen Raum von einer Stirnseite aus, der Raum ist zunächst undefiniert. Von dem gegenüberliegenden Fluchtpunkt aus werden Lichtlinien in den mit schwarzem Schleierstoff bespannten Raum gesendet, wodurch nach und nach unterschiedliche dreidimensionale Volumina, Abteilungen und Innenräume in den Raum eingezeichnet werden. Aus dem undefinierten Raum wird so ein unterschiedlich definierter. Der Betrachter taucht visuell ganz in die Lichträume ein, er ist in ihnen. Das Bemerkenswerte ist nun das Gefühl, das beim Entstehen eines Raumvolumens im Betrachter ausgelöst wird. In dem Augenblick nämlich, in dem nach und nach ein geschlossener Innenraum entsteht (etwa erst die linke Seite, dann die obere Deckenseite, dann die rechte), hat der Betrachter das Gefühl, als würde sein Selbst entstehen, als würde sein Selbst in den Dimensionen des jeweiligen Lichtraums erscheinen. Das Entstehen eines Innenraums kommt folglich dem Entstehen eines phänomenalen Selbst gleich und geht beim Betrachter mit einem intensiven Glücksgefühl einher. Man könnte von dem allmählichen Verfertigen eines phänomenalen Selbst während des Betrachtens eines entstehenden phänomenalen Innenraums sprechen. Die Räume wandeln sich in regelmäßigen Abständen, es gibt große Räume, schmale, enge Räume, auch flache, niedrigdeckige; das entsprechende Gefühl wandelt sich – in den engen und in den flachen fühlt man sich eher unwohl, im großen Volumen hingegen glücklich und wohl. Einmal entstehen an den Seiten links und rechts Innenräume, so daß der Betrachter in der Mitte das Gefühl hat, dazwischen wie in einer engen Gasse zu stehen; er sieht die beiden Innenräume 63 | United Visual Artists (UVA): Vanishing Point, Berlin 2013. Materialien:
RGB-Laser, Schwarzer Schleierstoff. Dimensionen:
6 m (B) x 3 m (H) x 15 m (T). – Wenigstens erinnert sei an die für diese Arbeit ebenfalls instruktiven farbigen Lichträume des Künstlers James Turrell. In ihnen erlebt der Besucher keine Wände, es scheint, als ginge er in dichtem Farbnebel; Verunsicherung stellt sich ein; entsprechend vorsichtig bewegt er sich. Siehe James Turrell: The Wolfsburg Project, Kunstmuseum Wolfsburg 2009-2010.

Kapitel III.2

und spürt, daß er gerne in ihnen wäre, er fühlt sich auf der Gasse geradezu ausgesperrt. Einmal entsteht ein Innenraum, dessen untere Bodenseite den stehenden Betrachter auf Brusthöhe berührt; entsprechend ist das phänomenale Selbst eines, das erst von der Brust an aufwärts zu existieren scheint. Das erlebte Selbstgefühl wandelt sich also entsprechend den erlebten Innenräumen. Wird in einen großen erlebten Innenraum ein kleinerer erlebter Innenraum hineingezeichnet, so hat man das Gefühl, als würde das Selbst nur mehr Teil des kleineren Raums sein und nicht mehr Teil des noch existierenden größeren Außenraums. Die visuell erlebten Grenzen des kleineren Raums halten mich gewissermaßen in diesem fest. Im folgenden schalte ich beispielhaft fünf Photographien des ›Vanishing Point‹ ein (Copyright: United Visual Artists); und auch wenn die Photographien den dynamischen Entstehungsprozeß der auf den Bildern sichtbaren Räumlichkeiten nicht wiedergeben können, vermitteln sie doch wenigstens einen Eindruck von der Art der Lichtarchitektur. Betont werden muß zudem, daß die Wirkung dieses Kunstwerks dann am größten ist, wenn kein anderer Besucher vor dem Betrachter steht und dieser folglich direkt in die Raumvolumina eintauchen kann.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Kapitel III.2

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Kapitel III.3 Praxis: Teil zwei (von zweien)

E mpirisch - neurowissenschaf tliche U ntermauerung der These und A usblick auf mögliche zukünf tige F orschung Im Rahmen einer sich entfaltenden Neurowissenschaft des Selbst, insbesondere einer Neurowissenschaft des Raumselbst, wird sich für die weitere Forschung zunächst die Frage stellen, welche ›Teilabschnitte‹ des Raum- und Selbsterlebens sich abstrakt-begrifflich weiter aufgliedern und auf eine Weise en detail präparieren lassen, daß aus der Untersuchung der Teile nach und nach ein Bild des Ganzen mitentstehen kann. Für diese Teilabschnitte müssen geeignete empirische Versuchsanordnungen gefunden werden. Die Leitfragen bei den Versuchsanordnungen wären etwa: Welche Rückschlüsse ergeben sich aus dem Raumerleben auf die Selbstwahrnehmung der Probanden? Wie hängt das Erleben eines intakten Raums mit dem Erleben eines aktuell einheitlichen phänomenalen Selbst zusammen? Der Philosoph und neurobiologisch ausgerichtete Kognitionswissenschaftler Rick Grush zum Beispiel untersucht in seiner Arbeit die Frage, auf welche Weise ›physikalische Systeme‹, wie das Gehirn, sich selbst als Subjekte in einer objektiven Welt repräsentieren.1 Grush geht davon aus, daß die Fähigkeit, sich selbst zu repräsentieren in einer Welt, die unabhängig vom System existiert, die Fähigkeit notwendig macht, Raum zu repräsentieren, insbesondere die Fähigkeit, sich selbst als ein Objekt unter anderen Objekten im Raum zu repräsentieren. Diese Fähigkeit ist nach Grush neurobiologisch verankert. Die Neurowissenschaftler Edvard und May-Britt Moser konnten unter anderem genau das darlegen, also zeigen, wie räumliches Denken neuronal gebunden ist: sie identifizierten Hirnregionen, die die Selbstwahrnehmung im Raum bestimmen; dabei fanden sie sogenannte Rasterzellen, einen Zelltyp, der eine genaue Orientierung im Raum ermöglicht.2 Im Hinblick auf Demenz deuten ihre Forschungen an, inwiefern gerade der Verlust der Orientierung mit dem Verlust des Selbst zusam1 | Rick Grush: Self, World and Space. The Meaning and Mechanisms of Ego- and Allocentric Spatial Representation, in: Brain and Mind (2000), 1, S. 59-92. 2 | Siehe Edvard Moser und May-Britt Moser: Mapping Your Every Move, in: Cerebrum: the Dana Forum on Brain Science 2014 (2014): 4. Print. – Für ihre Arbeiten erhielten sie gemeinsam mit John O’Keefe – der bereits 1971 die sogenannten Ortszellen entdeckt hatte – den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2014. Vgl. auch Edvard Mosers Vortrag ›Grid Cells

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menhängen könnte. Des weiteren untersuchten sie, wie die Rasterzellen mit anderen Zellen, wie den Ortszellen, den Grenzzellen und den (Kopf-)Richtungszellen, ›interargieren‹ und so das räumliche Gewahrsein eines Menschen mitkonstituieren. Die Grenzzellen feuern, wenn sich ein anderes Lebewesen der Umgebungsgrenze, wie etwa einer Wand oder einer Mauer, nähert – ein Befund, der die These dieser Arbeit, daß Menschen sich unbewußt mit einem sie umgrenzenden Raumvolumen identifizieren, auch neurowissenschaftlich durchaus untermauern kann. An diese Untersuchungen schließen sich auch die Experimente am Tübinger Cyberneum des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik an, einer Forschungseinrichtung für Virtuelle Realität (VR), an der die Wahrnehmung von Eigenbewegung und Raumwahrnehmung, die multisensorische Integration und die Anwendung kybernetischer Modellierung bezogen auf Wahrnehmung und Handlung untersucht werden.3 Die dabei allem zugrundegelegte erste Frage ist die, »wie Informationen über die Umwelt in unsere Gehirne gelangen«4, wie der Mensch überhaupt seine Umwelt wahrnimmt und wie er sich in Räumen verhält. In zahlreichen Versuchen konnten die Max-Planck-Mitarbeiter zeigen, wie existentiell der Orientierungssinn für Menschen ist. Im Cyberneum wandern Probanden etwa mit Hilfe einer VR-Brille durch eine virtuelle Stadt. Die zugleich aufgezeichneten Hirnströme sollen Aufschluß über die Frage geben, wie Menschen sich Wegstrecken merken. Im übrigen zeigte ein Team von britischen VR-Experten um Demis Hassabis am University College London, daß man die Position von Probanden, die sich in einem virtuellen Raum bewegen, einzig aufgrund ihrer gescannten Gehirnaktivität bestimmen kann. Dieser Befund unterstreicht die Bedeutung der Tatsache, daß das Gehirn die Position des Organismus in einem Raum ›berechnet‹ und damit das Verhältnis zwischen Raum und Organismus für sich ›darstellt‹.5 Hassabis und sein Team versuchten folglich, Nervenzellen und ihre Funktion im menschlichen Hippocampus zu entschlüsseln. (Der Hippocampus unterstützt die Fähigkeit zu navigieren, Erinnerungen zu bilden und zu erhalten und sich zukünftige Erfahrungen vorzustellen.) Die Aktivitätsmuster im Hippocampus geben dabei wie gesagt die Position eines Probanden in seiner Umgebung an (auch dann, wenn sich die Umgebungen leicht voneinander unterscheiden). Das heißt, daß abstrakte Raumrepräsentationen im Hippocampus dargestellt werden. »Neuronale Ensembles, die das Ortsgedächtnis repräsentieren, müssen groß und stabil sein sowie eine anisotropische Struktur aufweisen«; zerebrale Positionsdarstellungen

and the Brain’s Map of Space‹, Leopoldina Lecture am 15.5.2017 im Langenbeck-VirchowHaus in Berlin. 3 | Siehe etwa Heinrich H. Bülthoff, Bärbel M. Foese-Mallot und Hanspeter A. Mallot: Virtuelle Realität als Methode der modernen Hirnforschung, in: Holger Krapp und Thomas Wägenbaur (Hg.): Künstliche Paradiese, virtuelle Realitäten: künstliche Räume in Literatur-, Sozialund Naturwissenschaften, München 2000, S. 241-260. 4 | Heinrich H. Bülthoff, Bärbel M. Foese-Mallot und Hanspeter A. Mallot: Virtuelle Realität als Methode der modernen Hirnforschung, a.a.O., S. 241. 5 | Demis Hassabis, Carlton Chu, Geraint Rees, Nikolaus Weiskopf, Peter D. Molyneux, Eleanor A. Maguire: Decoding Neuronal Ensembles in the Human Hippocampus, am 12.3.2009 online in ›Current Biology‹ (doi:10.1016/j.cub.2009.02.033) erschienen.

Kapitel III.3

»repräsentieren also ein Layout der Umgebung«6, und eine bestimmte unterscheidbare Synapsenaktivität »repräsentiert […] Information wie jene über die räumliche Verortung innerhalb einer Umgebung« 7. Man kann auf der metaphorischen Beschreibungsebene dies umformulieren und sagen: Menschen haben stets unbewußt eine Umgebungskarte im Kopf und nehmen zugleich perspektivisch ihre unmittelbare Umwelt wahr. Beachtlich dabei ist: Dieselben neuronalen Ensembles zeigen Aktivität sowohl bei buchstäblichen wie auch bei virtuellen Räumen! Eine weitreichende Forschungsfrage im Rahmen dieser Arbeit wäre nun: Werden dieselben neuronalen Ensembles aktiviert, wenn ein Proband sich zum Beispiel übertragene Räume in Form von angenehmen vertrauten Umgebungen vorstellt wie etwa die eigene geliebte Familie oder seine vertraute Skatrunde etc. Zu erwähnen ist in diesem Rahmen auch eine frühere, berühmte Arbeit von Demis Hassabis und Eleanor Maguire aus dem Jahr 2007 über den Einfluß von Verletzungen des Hippocampus auf die Fähigkeit, sich zu erinnern oder sich Szenen vorzustellen.8 Gemeinhin war bekannt gewesen, daß Verletzungen des Hippocampus das Gedächtnis trüben oder zerstören, es war jedoch nicht untersucht worden, ob diese Verletzungen auch Einfluß darauf haben, neue und damit auch auf die Zukunft bezogene Vorstellungen bilden zu können. Ein erster Befund zeigte nun tatsächlich auch eine Verschlechterung der Fähigkeit, sich neue Szenen vorstellen zu können. Dabei spielt, wie die Autoren betonen, offenbar die Unfähigkeit, sich kohärente Räume vorzustellen, eine entscheidende Rolle: »Den Vorstellungen, welche sich die Patienten machten, fehlte die räumliche Kohärenz, stattdessen bestanden sie aus fragmentierten Bildern bei gleichzeitigem Mangel einer holistischen Repräsentation der umweltlichen Einbettung.«9 Der Hippocampus scheint von daher, so die Schlußfolgerung der Autoren, eine nicht zu überschätzende Rolle für die Vorstellungsfähigkeit zu spielen, insofern er den räumlichen Kontext erst liefert – und damit die Fähigkeit ermöglicht, sich neue und vergangene Szenen überhaupt vorstellen zu können. (Von daher wird en passant gesagt deutlich, daß so, wie die Vorstellung der Zukunft eine zukunftsbezogene Projektion darstellt, man auch die Erinnerung im wesentlichen als eine vergangenheitsbezogene Projektion beschreiben kann.) Nochmals: Die Konstruktion und Aufrechterhaltung einer vielgestaltigen und kohärenten Szene ist ein entscheidender Vorgang sowohl für das Gedächtnis als 6 | Demis Hassabis et al.: Decoding Neuronal Ensembles in the Human Hippocampus, a.a.O., S. 4f. Übersetzung M.M. Original: »Neuronal ensembles representing place memories must be large, stable, and have an anisotropic structure.« sowie: »[…] that these individual abstracted position representations […] representing the layout of an environment.« 7 | Demis Hassabis et al.: Decoding Neuronal Ensembles in the Human Hippocampus, a.a.O., S. 6. Übersetzung M.M. Original: »[…] synaptic activity […] can represent high-level information such as spatial location within an environment.« 8 | Demis Hassabis, Dharshan Kumaran, Seralynne D. Vann, Eleanor A. Maguire: Patients with hippocampal amnesia cannot imagine new experiences, in: The Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS), 30. Januar 2007, Band 104, Nr. 5, S. 1726-1731. 9 | Demis Hassabis, Eleanor A. Maguire et al.: Patients with hippocampal amnesia cannot imagine new experiences, a.a.O., S. 1726. Übersetzung M.M. Original: »The patients’ imagined experiences lacked spatial coherence, consisting instead of fragmented images in the absence of a holistic representation of the environmental setting.«

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auch für die Imagination – und damit auch für Zukunftsvorstellungen: Der Hippocampus spielt eine ausschlaggebende Rolle dabei, sich »plausible, für das Selbst relevante zukünftige Ereignisse vorzustellen«10. Im Fokus der Autoren stand dabei lediglich die Auswirkung von Verletzungen des Hippocampus auf Gedächtnis und Imagination, nicht die Frage nach dem Selbst. Es scheint mir jedoch möglich zu sein, von ihrem Befund den Bogen zur These dieser Arbeit zu schlagen – der Raum rufe das Selbst hervor. Es ist (schon phänomenologisch betrachtet) offensichtlich, daß es sowohl für die Fähigkeit, sich an ein autobiographisches Erlebnis zu erinnern, als auch für die Fähigkeit, sich überhaupt eine Szene vorzustellen, in welcher man selber vorkommt, eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung ist, daß ich mir einen Raum vorstellen kann. Ohne Raum keine Vergangenheit, ohne Raum keine Zukunft, ohne Raum kein Selbst, welches darin vorkommt. Wie existentiell diese Raumvorstellungsfähigkeit jedoch ist, zeigen die Befunde von Hassabis’ und Maguires Arbeit: wenn diese Fähigkeit zerstört ist, wenn also kein Raum imaginiert werden kann, dann fehlt auch die Erinnerung und damit das Selbst. Die Einschränkung, sich an etwas erinnern zu können, ist damit vor allem oder doch zumindest auch die Unfähigkeit, sich das entsprechende räumliche Setting vorzustellen. Sinnvollerweise läßt sich hier ein bereits erwähntes phänomenologisch beschreibbares Phänomen erneut anbringen: daß Menschen, die nach langer Zeit wieder ein früher bewohntes Zimmer betreten, sich plötzlich an unterschiedliche Begebnisse aus jener Zeit erinnern können, die sich zu der Zeit, als sie im Zimmer lebten, zugetragen haben, die ihnen jedoch später im Laufe der Jahre vollständig entfallen waren und an die sie sich zuvor nicht mehr erinnern konnten (wohl auch, weil sie den Raum nicht mehr geistig vor Augen hatten). Hier, in diesem Beispiel, jedoch, müssen sie den Raum nicht selbständig rekonstruieren – sie werden in das Zimmer geführt: und plötzlich tut sich ihnen die Welt von damals auf. Die Marburger Neurophysiker Wolfgang Einhäuser-Treyer und Bernard Marius ’t Hart untersuchten unter anderem die Fähigkeit des Menschen, sich in der realen Umwelt zu orientieren, statt die Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozesse nur im Labor zu testen. Dafür ließen sie Probanden mit einem Gerät, welches Augen- und Kopf bewegungen aufzeichnet, über den Marburger Hirschberg, einer steilen Altstadtgasse, gehen, und konnten im Zuge dieser Experimente zeigen, wie die Orientierung in der Umwelt stark von unterschiedlichsten Parametern wie etwa Untergrund oder Kontext abhängt, ein Befund, der alltagstheoretische Annahmen und intuitive alltagspraktische Erkenntnisse bestätigt. Dabei sollten die Versuchsteilnehmer einmal eine Treppe mit unregelmäßigen Stufen benutzen, ein andermal über die direkt daneben gelegene Kopfsteinpflasterstraße gehen – die unmittelbare Nachbarschaft der beiden Wege garantierte den weitgehend gleichbleibenden Kontext der visuellen Information. Dabei wanderte auf der Treppe der Blick und der Kopf sehr oft nach unten, denn offensichtlich erfordern die unterschiedlich hohen und langen Stufen viel Aufmerksamkeit beim Gehen. Bei noch größeren Unregelmäßigkeiten, so die Autoren in ihrem Bericht über das Experiment, bewege sich der Kopf kaum noch, die Augen würden aber 10 | Übersetzung M.M., hier nur die entscheidenden Worte im Original: »[…] imagining selfrelevant future events […]«, in: Demis Hassabis, Eleanor A. Maguire et al.: Patients with hippocampal amnesia cannot imagine new experiences, a.a.O., S. 1729.

Kapitel III.3

zusätzliche Blickbewegungen unternehmen, wohl, um trotz des gesenkten Blicks nach Möglichkeit weiter die visuelle Umgebung wahrzunehmen.11 Diese Untersuchungen bestätigen auch aus ophtalmologisch-empiristischer Perspektive, daß der Mensch mithilfe fortwährenden Scannens der unmittelbaren Umwelt und beständigen Umherblickens sich in einem laufenden Situierungsprozeß befindet. Auch die Befunde der Forschungen des Teams um Georg Northoff sind für die Frage nach dem Raumselbst von Interesse. Das Team zeigte, daß das Ich-Bewußtsein mit einer hohen Aktivität der Mittellinienstrukturen des Gehirns verbunden ist. In raumselbsttheoretischen Versuchsanordnungen ließe sich nun überprüfen, wie sehr sich diese Aktivität verändert, je nach dem, welches Raumerleben die Probanden haben, während sie etwa in einer fMRT-Röhre virtuell unterschiedliche Raumwechselerlebnisse haben.12 Wenn es stimmt, was Northoff darlegt, nämlich, daß das Ich letztlich einfach »in der Beziehung zwischen Gehirn und Umwelt besteht«13 bzw. einfach eine »Gehirn-Umwelt-Beziehung«14 ist – in meiner Terminologie müßte man schreiben, daß das phänomenale Selbst sich in der Innen-Außen-Beziehung konstituiere (mit dem Selbst-Teil als phänomenalem Innenraum) –, dann müßten Bilder von Störungen zwischen Innen- und Außenraum, welche man den Probanden vorlegt, zu entsprechend meßbaren Aktivitäten in der Region der Mittellinienstruktur des Gehirns führen. In dieser Versuchsanordnung erleben Probanden also entweder über einen 3DBildschirm in einer fMRT-Röhre oder über eine VR-Brille unterschiedliche Räume: sie wandern durch unterschiedliche Zimmer einer Wohnung, steigen in eine überfüllte U-Bahn ein, betreten eine Kathedrale an einem sonnigen Morgen, kommen in eine unendliche Sandwüste, finden sich einem gefräßigen Löwen gegenüber, schweben im erdnahen Weltraum, sitzen in einem Ruderboot auf hoher See, stehen mit Konferenzteilnehmern zusammen, feiern einen Geburtstag im Kreise ihrer Familie, gehen durch einen unterirdischen, düsteren Tunnel, sitzen in einem Flugzeug, dessen Dach abbricht und davonschwebt etc. Zum einen mißt man also die Aktivität der Mittellinienstruktur des Gehirns; zum anderen befragt man die Probanden nach ihren Gefühlen, die sie in den jeweiligen virtuellen Räumen empfinden, und versucht, die Antworten in Hinblick auf subjektives Erleben und Selbstbezogenheit zu systematisieren und dann mit den neuroanatomisch bewerteten Ergebnissen der Hirnaktivitätsmessung in einen Zusammenhang zu bringen. Im übrigen unterstützen auf dem Feld der empiristisch ausgerichteten Arbeitsplatzpsychologie mehrere Studien die Alltagserkenntnis, daß Lichtverhältnisse großen Einfluß auf das Wohl- und Unwohlgefühl von Menschen bzw. von Angestellten haben. Forschergruppen konnten zudem diverse Untersuchungen vorle11 | Wolfgang Einhäuser und Bernard Marius ’t Hart: Mind the Step: Complementary Effects of an Implicit Task on Eye and Head Movements in Real-Life Gaze Allocation, in: Experimental Brain Research, November 2012, Band 223, Ausgabe 2, S. 233-249. – Speziell zu den Fragen nach Ich-Perspektive, Gehirnkorrelaten des Selbstbewußtseins und dem Perspektivenwechsel im Raum führten Kai Vogeley und Albert Newen vielbeachtete Versuche durch. Siehe Kai Vogeley und Albert Newen: Ich denke was, was du nicht denkst, in: Carsten Könneker (Hg.): Wer erklärt den Menschen?, Frankfurt a.M. 22007, S. 66ff. 12 | Siehe Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 53. 13 | Siehe Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 231. 14 | Siehe Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich, a.a.O., S. 233.

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gen, welche die These stützen, daß dämmeriges Licht die Kreativität von Mitarbeitern zu fördern imstande sei.15 Diese wenigen Hinweise auf neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Forschungen sollen exemplarisch belegen, daß es wissenschaftlich keinen Zweifel daran geben kann, daß im Gehirn von Menschen das Verhältnis des Organismus zu seiner unmittelbaren Umgebung dargestellt und interpretiert wird, daß die räumlichen Verhältnisse zwischen Mensch und Umgebung einer permanenten Interpretation, Berechnung und Darstellung unterliegen. Auch konnten die Hinweise zeigen, daß nicht nur konkrete aktuelle Räume im Gehirn dargestellt werden, sondern auch virtuelle Räume – Räume der Erinnerung und Räume der Zukunft; ja, es konnte gezeigt werden, daß sowohl die Erinnerungsfähigkeit als auch die Zukunftsimaginationsfähigkeit von der Fähigkeit des Menschen abhängt, sich kohärente Räume vorzustellen. Nur wo ein Raum vorgestellt wird, kann auch ein Ich erscheinen.

15 | Siehe etwa die Arbeiten des Teams um Lioba Werth (Hohenheim): Lioba Werth, Anna Steidle, Carolin Hubschneider, Jan de Boer, Klaus Sedlbauer: Psychologische Befunde zu Licht und seiner Wirkung auf den Menschen – ein Überblick, in: Bauphysik 35 (2013); sowie Anna Steidle, Eva-Verena Hanke, Lioba Werth: In the Dark We Cooperate: The Situated Nature of Procedural Embodiment, in: Social Cognition (2013), 31, 276-300.

Kapitel III.4 Zusammenfassung. Die Befunde dieser Arbeit

Aus den Referaten und Diskussionen dieser Arbeit ist deutlich geworden, daß die Integration des Begriffs ›Raumselbst‹ in eine Theorie über das Selbst oder in eine Theorie über den Raum nicht nur sinnvoll und möglich ist, sondern auch zwingend notwendig. Die zu Beginn präsentierte, zugespitzt formulierte These konnte aus unterschiedlichen Perspektiven plausibel erläutert und überzeugend verfochten werden. Das Hauptresultat der Arbeit lautet daher: Das Erleben eines phänomenalen Innenraums ruft das Erleben eines phänomenalen Selbst hervor. Das Erleben eines intuitiv intakten phänomenalen Innenraums ist in der Regel das präreflexive, implizite, transparente Erleben eines phänomenalen Selbst. Will man folglich über den erlebten Raum oder über das erlebte Selbst reflektieren, so läßt sich dies nicht ohne jeweilige Rücksicht auf den anderen Begriff tun. Man könnte es auch kürzer formulieren und sagen: es läßt sich nicht ohne Rücksicht auf den einen Begriff des Raumselbst tun. Zugleich wurde auch deutlich, daß sich das Erleben oft mit dem zeitgleichen Erleben anderer Innenräume verschränkt. Das hat zur Folge, daß das Erleben eines phänomenalen Innenraums einem dynamischen Wechselspiel unterworfen ist und daher auch nie gleich bleibt und selten über längere Zeit ›rein‹ erlebt werden kann. Das Stichwort hierzu lautet leibliches Empfinden – plötzlich auftretende starke Schmerzen etwa lassen den phänomenalen Innenraum zusammenfallen auf den konkreten brennenden körperlichen Schmerz etc. Jenseits dieses einschränkenden Hinweises konnte gezeigt werden, daß aus unterschiedlichsten Perspektiven Raum und Selbst zusammengehören. Aus phänomenologischer Perspektive war die Zusammengehörigkeit von Raum und Selbst anhand einer Fülle von Beispielen erläutert worden. Aus repräsentationalistischer Perspektive war es möglich, eine mögliche neurowissenschaftlich wie kognitionswissenschaftlich kompatible Entwicklung der These plausibel zu machen. Diese repräsentationalistische Perspektive konnte als mögliche Erläuterung für das phänomenale Erleben eines Innenraums einleuchtend dargestellt werden. Dabei wurde auch deutlich, wie es dazu kommen könnte, daß Menschen auf der phänomenalen Ebene einen Innenraum überhaupt als Innenraum (und nicht etwa als Außenraum) wahrnehmen – warum Menschen also überhaupt zwischen Innen und Außen unterscheiden können. In diesem Zusammenhang wurde verständlich, daß es nicht

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

reicht, eine Selbst-Welt-Grenze einzuführen, sondern daß diese Selbst-Welt-Grenze erweitert werden muß um das Konzept einer Innenraum-Außenraum-Grenze: auf der phänomenalen Ebene unterscheiden Menschen zunächst zwischen Innen- und Außenraum (erst auf der phänomenologisch-außenperspektivischen Ebene unterscheiden sie zwischen sich selbst und der Welt). Meine Arbeit legt also nahe, daß eine zentrale Funktion des phänomenalen Raumselbst sein könnte, eine MenschUmwelt-Grenze auf der phänomenalen Ebene dem ›System‹ selbst zugänglich zu machen. Der Gedanke, daß die Genese der ›Innenperspektive‹ (oder Erste-Person-Perspektive und damit überhaupt der Perspektive) von hier aus abzuleiten und zu verstehen sein könnte, ist meines Erachtens mit der wichtigste Befund dieser Arbeit. Damit also der Blick von Hier nach Dort möglich ist, muß eine Grenze zwischen einem Volumen-Hier und einem Volumen-Dort gezogen werden und eine Identifizierung mit dem Volumen-Hier stattfinden: so erst wird es möglich, daß ich, wenn ich im Innenraum bin, mich automatisch immer auf ein Außen beziehe, das jenseits dieser Grenze liegt. Nochmals im Überblick: • Phänomenaler Innenraum = Phänomenales Selbst = Raumselbst. • Phänomenaler Innenraum wird dem repräsentierten (dargestellten) Organismus zugeordnet. • Phänomenaler Innenraum fungiert als Eigenraum oder als Selbstraum. • Phänomenaler Innenraum dient auch der phänomenalen Immunität: ist der Innenraum intakt, droht mir keine Gefahr; wird der Innenraum angegriffen, droht sie durchaus. (Hier besteht ein Bezug zu Sloterdijks Sphärologie als Immunologie.) Aus intuitionslogischer Perspektive wird dabei deutlich, daß sich erlebte Räume auch ›richtig‹ anfühlen können und daß zwischen dem sich intuitiv ›richtig‹ anfühlenden Raum und dem Gefühl des intakten Selbst ein enger Zusammenhang besteht. • Ein neuer möglicher Erklärungsweg für das Verständnis der Innenperspektive als Innenperspektive wird einsichtig gemacht. Wollte man darüberhinaus die wichtigsten in dieser Arbeit diskutierten Selbstbegriffe in eine Liste einordnen, so könnte diese in etwa wie folgt aussehen:

S elbstbegriffe Theoretisch ist es möglich, wie manche Forscher, etwa Marcello Ghin, es zum Teil tun, den Menschen selbst als Selbst zu interpretieren; dies wäre aber nur aus einer biologistischen Perspektive sinnvoll (der Mensch als organische Ganzheit). Denn aus einer phänomenalen oder sphärologischen Perspektive kann etwa auch eine geliebte Person zu mir gehören oder ein Teil meines Selbsterlebens sein; das heißt, daß in solchen Fällen mein Selbst über meine organische Ganzheit weit hinausgeht. So ist es unabhängig davon, welchen Selbstbegriff man in der Philosophie des Selbst stark machen möchte, zunächst notwendig, zwischen einem Zugang zum

Kapitel III.4

Selbstbegriff aus der Innenperspektive und einem Zugang zum Selbstbegriff aus der Außenperspektive zu unterscheiden.

S elbst aus der I nnenperspek tive Dabei läßt sich der Selbstbegriff aus der Innenperspektive selbst wiederum unterscheiden in einen Begriff des impliziten, präreflexiven, transparenten, minimalen (phänomenalen) Selbst-Erlebens und in einen Begriff des explizit gemachten, reflektierten, opaken Selbstbegriffs. Was das implizite, präreflexive, transparente Selbsterleben angeht, so hat diese Arbeit gezeigt, daß es sich hierbei in der Regel um das Erleben eines phänomenalen Innenraums handelt. Wenn dabei unterschiedliche Theoretiker, von William James über Husserl und Sartre bis hin zu modernen buddhistisch geprägten Philosophen (wie Miri Albahari), das Bewußtsein als ›selbstvereinheitlichend‹ bezeichnen, sie also davon ausgehen, daß in jedem Moment bewußten Seins es doch immer ein implizites ego-zentrisches Erleben gebe, so glaube ich in dieser Arbeit zureichend dargelegt zu haben, daß diese Art der auf sich bezogenen vereinheitlichenden Wahrnehmung auf der phänomenalen Ebene nichts anderes ist als das Erleben eines phänomenalen Innenraums. (Auf einer biologistischen Ebene sind die Selbstvereinheitlichungsprozesse natürlich bestimmte körperliche, insbesondere auch zerebrale Prozesse.) Was das explizite, reflektierte, opake, sozusagen maximale Selbsterleben angeht – also das explizit bewußte phänomenale Selbst –, so ist zunächst zu betonen, daß bei diesem Erleben in der Regel das implizite, präreflexive, transparente, minimale Selbsterleben ›mitläuft‹; das heißt: egal, aus welcher Perspektive man über welchen Selbstbegriff auch immer spricht, auf der phänomenalen Ebene ist das implizite Selbsterleben in der Regel mitpräsent. Davon abgesehen ist dieses maximale Selbsterleben auf der analytischen Ebene in zwei Formen zu untergliedern, einerseits in das direkte phänomenale Körpergefühl (Müdigkeit, Schmerzen, Hunger etc.) und in den bewertenden Anblick der Formen des eigenen Körpers – und andererseits in das Bild, das ein Mensch von sich als Persönlichkeit in jeder Hinsicht hat, wozu die sozialen Dimensionen der eigenen Person gehören (Freundeskreis, Anerkennung, soziale Stellung etc.), das Erleben des eigenen Charakters (sanftmütig, jähzornig, gelassen etc.), das implizite autobiographisch bezogene Selbsterleben sowie das explizite autobiographische, aus der Reflexion kommende Selbsterleben mitsamt den möglichen Erwartungen und Überlegungen hinsichtlich der eigenen Zukunft. Bei dem explizit bewußt gemachten Blick eines Menschen auf sich selbst handelt es sich um eine Art von Außenperspektive auf sich selbst.

S elbst aus der A ussenperspek tive Die Selbstbegriffe aus der Außenperspektive lassen sich unterscheiden in die öffentlich nachvollziehbaren Aspekte des Selbst und in die öffentlich nicht nachvollziehbaren, entweder empiristisch bewiesenen oder hypothetisch angenommenen Aspekte des Selbst.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Zu den nicht-öffentlichen Selbstbegriffen gehören biowissenschaftlich vorgetragene Begriffe wie Körperselbst, Protoselbst, Kernselbst, minimales (und nichtphänomenales) Selbst. Neurobiologen versuchen zudem, gewisse vornehmlich zerebrale Prozesse als diejenigen zu identifizieren, welche die mit den genannten Begriffen verbundenen Funktionen ausmachen (Damasio, Churchland, Northoff, Tania Singer etc.). Zu den nicht-öffentlichen Selbstbegriffen oder Selbstaspekten gehören auch jene Begriffe, deren Verständnis oder Berechtigung in der Forschung und in der Philosophie zum Teil noch mehr umstritten ist als die eben genannten Begriffe (wie etwa der Begriff Selbstmodell, Weltmodell, virtuelles Ich etc.). Ich habe dafür plädiert, den Begriff Selbstmodell so zu interpretieren, daß er möglichst wenig Anlaß für Mißverständnisse, Mißinterpretationen oder Kritik bietet, eben einfach als Bezeichnung für diejenigen Prozesse des Gehirns, welche mit der Darstellung des Menschen (und damit auch seiner Umwelt, in die er eingebettet ist) zu tun haben.

M ultiperspek tivisches und face t tenreiches S elbst Auch wenn es nicht das Ziel dieser Arbeit war, folgenden nicht neuen Erkenntnisgewinn zu wiederholen, so wurde gleichwohl nebenher erneut deutlich, daß sich der Selbstbegriff aus vielen Perspektiven betrachten läßt und er mit einem großen Facettenreichtum glänzt. Weil dies in den virulenten Debatten zum Selbstbegriff jedoch nicht immer allen Teilnehmern bewußt zu sein scheint, kann die Wiederholung in diesem Fall eine eigene Berechtigung haben. Da jedoch davon abgesehen für jeden Menschen der eigene bewertete Blick auf sich selbst bzw. das Erleben seiner selbst von größter existentieller Wichtigkeit ist, wird damit auch deutlich, daß das intakte phänomenale Selbst bzw. das phänomenale Raumselbst den entscheidenden und grundlegenden Aspekt aller Selbstbegriffe ausmacht.

R aumbegriffe Um ein Wort zu den Befunden der Diskussion des Raumbegriffs nicht unverloren sein zu lassen, sei hierzu gesagt: Es hat sich gezeigt, daß das phänomenale Raumerleben nicht allein das Erleben von buchstäblichen Räumen bedeutet, sondern auch das Erleben von übertragenen, dyadischen, virtuellen, fiktionalen, surrealen Räumen etc. Daher ist die erlebte Räumlichkeit nicht außenperspektivisch zu verstehen, als wäre der Mensch im Raum wie der Ring in der Schatulle; sondern so, daß der Mensch immer schon über sich hinaus bei den Dingen ist, auf die hin er ausgerichtet ist. Aus einer außenperspektivischen, phänomenologischen Beschreibung jedoch könnte man, wenn man das wollte, durchaus den Menschen auch als in einem bestimmten Raum anwesend interpretieren, als wäre dieser Raum ein Behälter; dabei kann diese außenperspektivische Sicht auch von dem in einem Raum befindlichen Menschen auf sich selbst eingenommen werden – nämlich auf einer expliziten reflektierten Bewußtseinsstufe zweiter Ordnung. Dies würde jedoch nichts daran ändern, daß Menschen aus phänomenaler Sicht den erlebten Innenraum nicht als Behälter wahrnehmen, sondern eben als sich selbst, während

Kapitel III.4

sie sich zugleich auf einen Außenraum beziehen. Auch aus sphärologischer Sicht erleben Menschen den Innenraum nicht als Behälter, sondern als geteilten Innenraum, entweder als einen mit sich selbst geteilten oder einen mit jemand anderem geteilten Innenraum. Auch aus einer leibphänomenologischen Perspektive findet die These dieser Arbeit Bestätigung – denn sie zeigt, daß ich physisch eben nicht identisch mit den Grenzen meines Körpers bin, sondern mit denen meines Leibes, und so wie ein Blinder mit dem Blindenstock den Boden abtastet und sich damit einen erweiterten Raum schafft, so ertastet der Sehende mit den Augen auch den sichtbaren Raum um sich her. So läßt sich über den Raum sagen: er ist Bestandteil der Konstitution des Menschen – ein Instrument seiner Autogenese. In medientheoretischer Sicht durchdringen Mensch und Raum einander. Ich bin im Raum, der Raum ist in mir – ich bin der Raum und das Medium des Raums: er spricht durch mich hindurch. Ich bin die Person (die Maske) des Raums. Spreche ich, so spricht nicht nur schon die Seele nicht mehr (Schiller), sondern spricht mein Urbegleiter durch meinen Mund. Mündige Personen sind Menschen, durch die ein intakter Raum (Apollo) spricht. Gestörte Personen sind Menschen, durch die ein zerrissenes Selbst (Dionysos) redet.1 Mündig werden heißt immer aufs neue sich vor der steten Gefahr des dionysischen Sich-verlierens zu schützen und stattdessen apollinische Schonräume zu stiften.

1 | Zur Dialektik des Apollinischen und Dionysischen siehe Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, KSA, a.a.O., Band 1.

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Kapitel III.5 Schlussüberlegungen oder Die Eudämonie des Raumselbst Do I contradict myself?/Very well then I contradict myself,/ (I am large, I contain multitudes). Walt Whitman1 Jeder Mensch macht seinem Ich Angst. Jemand zu sein erstaunt, verwundert, bestürzt das universale Organ dieses Jemand, das, worin er nicht Jemand ist, und das sich, wo es doch ein Ganzes ist, in seinem Teil enthalten sieht, und als Eigenschaft seiner Eigenschaften. Paul Valéry 2 Zum äußersten staunenswert ist die Existenz von Gesellschaften, denen es gelingt, die zahllosen Fremden zu integrieren, die wir selber sind, nachdem wir von der subjektiven Verstrahlung erfaßt wurden. Man darf sich in Integrationsfragen von Soziologen nichts vormachen lassen: Im Individualismus ist jeder einzelne eine Parallelgesellschaft. Wir alle haben eine Migrationshintergrund, sofern wir einmal ganz weit weg waren und jetzt wieder auf dem Posten sind. Peter Sloterdijk 3

J emand und N iemand Der Mensch ist jenes Lebewesen, das sich selbst auffällig werden kann. Weil ich auf der impliziten Ebene der Raum bin, in dem ich mich befinde, werde ich mir automatisch explizit auffällig, wenn etwas mit dem Raum nicht mehr stimmt. Wird der Raum in Frage gestellt, dann fühle ich mich auch selbst in Frage gestellt.

1 | Walt Whitman: Leaves of Grass, New York 1921, Song of Myself, Kapitel 51, S. 102. – Siehe hierzu auch E. Fred Carlisle: The Uncertain Self: Whitman’s Dream of Identity, Michigan 1973. 2 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 77. 3 | Peter Sloterdijk: Streß und Freiheit, Berlin 2011, S. 40.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

Wenn ich mir selbst auffalle, kann damit das Gefühl einhergehen, von mir selbst befremdet zu sein. Das von sich befremdete Selbst ist jener Zustand, in dem mir bewußt wird, daß ich zugleich jemand und niemand bin, ist die Fremdheit, die niemand und jemand füreinander empfinden. Aus dieser Spannung, man selbst und niemand zu sein, entspringt eine zentrale Dynamik des Lebens. Es ist die Spannung zwischen innen und außen, zwischen Definiertsein (das aber kein statisches Definiertsein ist) und Nichtdefiniertsein (das definierbar ist). Definiertsein und Innen-sein ist wie die Antwort auf die Frage des Nichtdefiniertseins oder InFrage-gestellt- und Außen-seins. Das Spannungsverhältnis zwischen innen und außen läßt sich demnach als ein Spannungsverhältnis zwischen jemand und niemand beschreiben. Jemand, als das vertraute Ich-Erleben aus der Innenperspektive, wird notwendigerweise immer in Frage gestellt von niemand, als verunsichernde Verneinung des vertrauten Ich-Erlebens. Explizit erlebt werden kann diese Spannung zwischen jemand und niemand auch, wenn im Denken, in bestimmten, seltenen Momenten, plötzlich Innenperspektive und Außenperspektive zusammenfallen und das eigene Ich (jemand) aus der Außenperspektive (niemand) erlebt wird. Diese innere Verwechslung der Perspektiven wird begleitet von einer existentiell berührenden Befremdung des eigenen Selbst durch sich selbst. Entwicklungsgeschichtlich gesehen, haben Menschen zunächst kein phänomenales Bild von sich; so gesehen sind sie immer schon ein Niemand, ein unbeschriebenes Blatt, präpositionen- und attributelos. Weil ein Niemand aber nicht sein Leben führen kann, bildet das sich entwickelnde Kind notwendigerweise ein erstes Bild von sich und formt unbewußt einen Innenraum um sich aus. Was den narrativen Aspekt des eigenen Selbst berührt, so stellt sich unter anderem die Frage, wer eigentlich derjenige sei, der sich die eigene Geschichte erzählt. Der Erzähler ist tatsächlich niemand. Der Erzähler kann nicht definiert sein. Wäre er definiert, wäre er jemand bestimmtes. Dann gäbe es schon einen Jemand. Dann bräuchte der Erzähler nicht noch einen Jemand erfinden. Das Erzählende, wie man vielleicht sagen müßte, ist jene Bewegung, die in Gang kommt, um eine Differenz zu schaffen (um ein Innen und ein Außen zu bilden) und damit die Gerichtetheit der Bewegung zu ermöglichen. Am Bild des Jemand schreiben verschieden ausgerichtete Umstände mit. Genetische Veranlagung, Umwelt und als drittes das erste Resultat, das sich aus der Begegnung von Veranlagung und Umwelt ergibt und das wiederum reziprok und rückkoppelnd auf Veranlagung und Umwelt einwirkt. Letztlich ist die Erzählung über den Jemand nie am Ende – wenn es auch Konsistenzen gibt, um dem Menschen ein halbwegs stabiles Verhältnis zur Welt zu ermöglichen.

F reiheit des S elbst Wenn der Produktivitätsökonom Karl Marx die Rückführung des Produkts zum Produzenten forderte, so läßt sich dies raumtheoretisch so umformulieren: Ich bin als Ich immer schon ein Produkt, für das ich nichts kann, so gesehen bin ich mir immer schon entfremdet. Indem ich mein Ich dekonstruiere, werde ich zum Produzenten meines Nicht-Ich; dieses Nicht-Ich gilt dann als das selbst hervorgerufene Ich zweiter Ordnung. Erst indem ich mein Nicht-Ich als Ich zweiter Ordnung

Kapitel III.5

erobere, komme ich zu mir. Erst wenn ich mir selbst zum Fremden werde, wenn ich mich in den Fremden, der ich immer schon auch bin, hineinversetze, wenn ich merke, daß mein Außen auch mein Innen ist, entsteht die Synthese aus Heimat und Fremde, aus Selbstvertrautheit und prothetischer Selbstfremdheit. Das Fremde ist die Prothese des zu sich kommenden Ichs. Was die Freiheit des Menschen berührt, so ist hierfür die Nicht-Festgestelltheit des Selbst gerade das entscheidende Merkmal. Gäbe es so etwas wie ein substantielles Selbst, so wären Menschen Gefangene dieses gegebenen Selbst – es wäre ihr Schicksal. Die Botschaft lautet daher: Du kannst dein Leben – dein phänomenales Selbst – jederzeit ändern! Ändere den Raum und du änderst dich selbst.

S elbst und Tod Was wird, wenn ein Mensch stirbt? Augenscheinlich ist, daß der einzelne Mensch mit dem Eintritt des Todes aufhört zu sein. Das ist so, auch wenn man nicht wirklich versteht, was das heißt: aufhören zu sein. Sieht man einen toten Menschen, dann handelt es sich bei dem, was sich dem Auge zeigt, um einen Leichnam. Die Redeweise von der Menschenwürde bezieht sich auf lebende Menschen. Von der Würde der Toten spricht man zwar in alltäglichen und juristischen Zusammenhängen gleichfalls – sie meint aber in der Regel nur, daß man einen Toten in Ruhe lassen soll und daß der verstorbene Mensch noch das Recht und den Anspruch hat, von der Gemeinschaft oder seinen Angehörigen auf den ritualisierten Weg zu seiner letzten Ruhestätte getragen zu werden. Menschen unterscheiden zwischen sich und den Toten, es ist, als hätten sie, ohne es wirklich ausdrücken zu können, immer schon begriffen, was der Unterschied zwischen Leben und Tod ist. Das für den einzelnen Menschen zusätzlich Bedrohliche und Unheimliche ist das Wissen, daß er selbst eines Tages von dem einen Reich in das andere reisen wird, auf Nimmerwiedersehen. Das wirklich zu begreifen oder sich klarzumachen, rührt wie nichts sonst an das eigene Selbstverständnis. Das eigene Selbstverständnis sieht es in der Regel nicht vor, tot zu sein. Es sieht vielmehr vor, am Leben zu sein und zu bleiben. Sich den eigenen Tod vorzustellen, heißt, sich etwas alltäglich mögliches als das Unmögliche schlechthin vorzustellen. Der Leichnam ist das, was im Tod von einem Menschen übrigbleibt und verwest. Was aber ist das, was während des Lebens in diesem jetzt toten Menschen anwesend war? Anwesend war das, was man das lebendige Selbst nennt, anwesend war ein phänomenaler Innenraum. Selbst und Raum sind, wie zu sehen war, komplexe Begriffe und von daher alles andere als einfach zu begreifen. Zu wem hat ein Mensch ein Verhältnis, wenn er ein Selbstverhältnis hat? Zum phänomenalen Innenraum. Was heißt es genau, mit sich selbst umzugehen? Wer geht hier mit wem um? Es ist jedes Mal der phänomenale Innenraum, der mit sich umgeht, wenn ich mir begegne.

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III. Dritter Hauptteil: Das Raumselbst

D as S elbst, sein U rbegleiter und die G lückseligkeit Der Raum ist das Ursprüngliche. Je ursprünglicher der Mensch, desto tiefer das Raumgefühl. Max Bense 4

Der phänomenale Innenraum scheint dem Menschen unbewußt der Urbegleiter schlechthin zu sein. Mein buchstäbliches oder übertragenes Zimmer, was ist es anderes als mein gebauter, mein eingerichteter, mein erlebter Doppelgänger? Sollte der phänomenale Innenraum zerstört werden, suchen die aus ihm Vertriebenen nach einem neuen buchstäblichen oder übertragenen Begleiter, um sich in ihm wiederzufinden. Um im neuen Begleiter wieder jene basale Resonanz zu erleben, die sie am Anfang ihres Lebens im schwebenden Innensein in der Mutter spürten. Menschen befreien sich gemäß dem Raumselbstkonzept nicht gnostisch durch Selbsterkenntnis, sondern durch das Erleben eines Innenraums. Der Innenraum befreit mich von der Zumutung der Welt – er befreit mich zur Weltpause. Menschen befreien sich aus der Not des Alleineseins im ›leeren‹, ungegliederten, wüsten ›Raum‹, und sie tun das, indem sie sich und anderen einen Innenraum stiften. Der Innenraum, in dem sie sich einschließen, befreit sie aus dieser Not. Menschen befreien sich, indem sie in den Innenraum flüchten. Im Innenraum, dem »Haus meiner Freiheit« (Ludwig Börne5), erleben sie die Freiheit von der Welt, erleben sie den Luxus der Weltpause, in ihm hört die Welt auf, an ihnen zu zehren – die Möglichkeit, zu luxurieren, gewinnt Raum. Jede halbwegs intakte Wohnung ist in evolutionsgeschichtlicher Perspektive eine Luxuswohnung. Wohnen heißt den Luxus begrüßen. Wenn ich mich im Innenraum von der Außenwelt befreie, dann heißt das in einer paradoxen Formulierung, daß ich die Außenwelt gewissermaßen einsperre, ich sperre sie aus und sperre sie damit ein. Der Innenraum ist die Zivilisation, der Schritt vor die Tür ist der erste Richtung Wildnis. Außerhalb der Stadt und des Landes wächst der Wildnischarakter heran. So wie Schnecken Schneckenhäuser ausbilden, in denen sie sich verschanzen, so bilden Menschen Menschenhäuser aus. Im Hinblick auf diese Menschenhäuser ist ein Phänomen nie genug herauszustreichen: Lange bevor Menschen in die umhegenden natürlichen Räume wie Hohlbäume und Höhlen einziehen und lange bevor sie die buchstäblichen Häuser – die Hütten und die Paläste – planen und erbauen, bauen und formen sie schon übertragene Häuser – Häuser der Liebe, der Freundschaft und der näheren und ferneren Solidarität. Das aristotelische Konzept der Eudaimonia läßt sich jenseits der traditionellen Übersetzung als ›Glückseligkeit‹ sinngemäß als die »Wohlgeordnetheit der ge-

4 | Max Bense: Aufstand des Geistes. Eine Verteidigung der Erkenntnis, (1935), in: M. B.: Ausgewählte Schriften, Band 1: Philosophie, hg. von Elisabeth Walter, Stuttgart und Weimar 1997, Kapitel ›Der Raum und die Idee der Existenz‹, S. 107. 5 | Ludwig Börne: Briefe aus Paris, Vierundsiebzigster Brief, 7. Februar 1832, Frankfurt a.M. 1986.

Kapitel III.5

samten Lebensbezüge«6 verstehen. Raumtheoretisch übersetzt läßt sich Eudaimonia damit als das wohlgeordnete, aufgeräumte, intakte oder einfach als das gute Raumgefüge verstehen. Noch einfacher gesagt, Eudaimonia ist das gute Zimmer, das ich erlebe. Ich bin im guten Zimmer und werde gerade dadurch von einem guten Daimon, von einem umgrenzten, mich umgrenzenden Geist erschaffen und erfüllt. Die Eudämonie des Raums oder die Eudämonie des Wohnens ist nichts anderes als die Eudämonie des Selbst. Im Raum findet sich das Selbst als einen guten Dämon vor. Im guten Raum kommt das glückselige Selbst zur Welt.

6 | So Günter Fröhlichs neue Übersetzung des Begriffs in: G. F.: Die aristotelische Eudaimonia und der Doppelsinn vom guten Leben, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 54, Hamburg 2013.

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Anhang M e thodologischer E xkurs . M ögliche K ritik an der V erwendung eines repr äsentationalistischen B e wusstseinsbegriffs Ich denke mich: also bin ich. Paul Valéry1

In aller Kürze weise ich hier aus phänomenologischer Perspektive auf die ontologische Problematik und die logische Umstrittenheit der Redeweise von Repräsentation, Interpretation, Medialität hin – allesamt Begriffe, die in dieser Arbeit eine nicht unwichtige, wenn auch zum Teil implizit oder hintergründig bleibende Rolle spielen. Eine wichtige Rolle spielen sie auch insofern, als ich mich zum Teil, wenn auch wie bemerkt vorsichtig und problembewußt, auf die Selbstmodelltheorie von Thomas Metzinger und deren zugrundeliegendes repräsentationalistisches Verständnis des phänomenalen Bewußtseins beziehe und stütze. Eine hierbei übergeordnete Kritik betrifft die Frage, inwiefern die Redeweise von ›Modellen‹ in der Philosophie zulässig und sinnvoll sein könne oder zweifelhaft sei. Zunächst referiere ich eine vehement vorgetragene Kritik an der »modellierenden Philosophie« an sich, einer Philosophie also, die mit einem Modell oder mit mehreren Modellen arbeitet und damit, bei falschem Gebrauch, womöglich Mythen erzeugt: Lambert Wiesing hat diese Kritik vorgetragen in seiner Streitschrift ›Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie‹2 . Wiesing schwebt eine Philosophie ohne Modellbildung vor oder doch eine Philosophie ohne falschen Gebrauch von Modellen. Ich verwende nach Wiesing ein Modell dann falsch, wenn ich es ontologisch verstehe; ein falsch verstandenes Modell sei nichts anderes als ein Mythos. Das heißt: In der Philosophie entspringen Mythen »durch eine spezifische Art der Verwendung von Modellen«3, genauer gesagt: »durch Zweckentfremdung von Modellen – oder anders gesagt: durch Verwechslung von Wahrheit und Methode. […] Aus jedem Modell kann durch einen äußerlich herangetragenen Wahrheitsanspruch ein Mythos werden. Wenn jemand behauptet, daß die modellierte Wirklichkeit auch unabhängig vom Modell so ist,

1 | Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab, a.a.O., S. 190. 2 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a.M. 2009. 3 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 22.

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Selbst und Raum

wie sie das Modell beschreibt, so macht er aus dem Modell einen Mythos.«4 Der Mythenvorwurf ist daher »ein Modellmißbrauchsvorwurf«5. Wiesing kritisiert demnach an der modellierenden Philosophie, daß sie nicht zwischen Wahrheit und Methode unterscheide bzw. daß sie eine Methode als Wahrheit verstehe und gerade dadurch zu einem Mythos werde. Dabei sei der Mythenvorwurf in der Philosophie natürlich auch deshalb problematisch, weil er den Vorwurf der Falschheit mit einschließe6, das heißt: der Mythos sei »wissenschaftlich untauglich« 7; und dies unabhängig von seinen ›guten‹ Eigenschaften, die Wiesing ihm nicht absprechen mag: jeder Mythos biete eine erklärende Geschichte8, reduziere die Komplexität einer Situation und gebe dieser einen Sinn9. Nun sind Mythenvorwürfe in der Philosophiegeschichte immer wieder erhoben worden, Wiesing listet einige exemplarisch auf: Gilbert Ryle wirft Descartes vor, er habe den Mythos von einem Gespenst in der Maschine erfunden10, Edmund Husserl spricht von den lediglich »mythischen Konstruktionen Kants«11, Jean-Paul Sartre begreift Freuds Psychoanalyse als eine reine »Mythologie des Unbewußten«12, Wilfried Sellars sieht im Empirismus nichts anderes als den »Mythos des Gegebenen« am Werke13, Donald Davidson erkennt in der traditionellen Bewußtseinsphilosophie nur einen »Mythos des Subjektiven«14, Daniel Dennett hält den Kritikern der Künstlichen Intelligenz ihren »Myth of Original Intentionality« kritisch entgegen15, letztlich ließe sich sogar, so Wiesing, Jean-François Lyotards Rede von den Großen Erzählungen (grand récits), die jetzt an ihr Ende gekommen seien, als ein Mythenvorwurf verstehen16. Wiesing wirft den in seinen Augen mythologisierenden Philosophen demnach vor, daß sie »die Wirklichkeiten und Phänomene, die sie thematisieren, nicht genau 4 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 24. 5 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 33. 6 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 18. 7 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 19. 8 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 18. 9 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 19. 10 | Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes, (1949), aus dem Englischen von Kurt Baier, Stuttgart 1986. (Die Liste der Mythenvorwürfe bei Wiesing auf S. 17f.) 11 | Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI, hg. von Martinus Nijhoff, Den Haag 1962. 12 | Jean-Paul Sartre: Vorwort von ›Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft‹, (1969), aus dem Französischen von Hans Schöneberg, Reinbek beim Hamburg 1971, zitiert nach: Wiesing S. 18. 13 | Wilfrid Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, (1956), hg. und aus dem Englischen von Thomas Blume, Paderborn 1999, zitiert nach: Wiesing, S. 18. 14 | Donald Davidson: Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Stuttgart 1993, zitiert nach: Wiesing S. 18. 15 | Daniel Dennett: The Myth of Original Intentionality, (1990), in: Karim A. Mohyeldin Said, William H. Newton-Smith, Riccardo Viale und Kathleen Vaughan Wilkes (Hg.): Modelling the Mind, Oxford 1990, zitiert nach: Wiesing S. 18. 16 | Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, (1979), aus dem Französischen von Otto Pfersmann, Wien 72012, zitiert nach: Wiesing S. 18.

Anhang

beschreiben, sondern sich stattdessen ausdenken, wie diese zustande gekommen sein könnten – und genau dies ist eine Erklärungsstrategie, die sich in der Tat auch in jedem Mythos finden läßt«17. Sie mißbrauchen also an sich nützliche Modelle – und nützlich seien sie, weil sie in den Wissenschaften bestens funktionieren18, wobei für Wiesing Modelle zunächst »Erklärungshilfen« sind, die »das Unverständliche auf anschauliche, zumeist bildlich darstellbare Ursprünge zurückführen«19. Entscheidend für eine Bewertung sei folglich der Umgang mit einem Modell, seine methodische Nutzung. Wiesing schreibt: »Es ist gerade die ausschließlich methodische Nutzung, welche definiert, wann eine erklärende Unterstellung als Modell verstanden wird. Eine konstruierte Unterstellung ist genau dann ein Modell, wenn darauf verzichtet wird, die Unterstellung als eine Antwort auf die ontologische Frage zu nehmen: Was ist das, was mit dem Modell handhabbar wird? Modelle sind weder wahr noch falsch; sie sind nur mehr oder weniger effektiv. Daraus ergibt sich aber umgekehrt auch: Sobald eine modellierende Theorie auf Fragen bezogen wird, in denen es um Wahrheit geht, muß jedes Modell scheitern. Dies ist nun in keiner Weise ein Vorwurf gegen ein Modell, denn ein ontologisch gedeutetes Modell ist schließlich ein zweckentfremdetes Modell.« 20

Wiesing kritisiert modellierende Philosophen also dafür, daß sie in ihrer Verwendung von Modellen davon ausgehen, daß »ein Phänomen verstanden ist, wenn seine Entstehung durch eine bekannte Geschichte erklärt wird«21 – wobei offensichtlich sei, so Wiesing, daß sein Vorwurf höchst polemisch zugespitzt sei und nur einen bestimmten Teil der Angegriffenen tatsächlich treffe. Denn es sei klar, daß es in der Philosophie und in den Wissenschaften nicht primär darum gehe, »bekannte Geschichten« aufzutischen und somit Probleme zu lösen, sondern vor allem überhaupt erst um den Versuch, das Problem als solches zu identifizieren und zu verstehen, und – sollte dies gelungen sein – um den weiteren Versuch, mögliche Antworthypothesen zu formulieren. Gewiß müsse dabei Wahrheit und Methode im Wiesingschen Sinne stets sauber getrennt bleiben. Für Wiesing ist Philosophie also nur dann Philosophie, wenn sie »mit einer Epoché von Modellannahmen« beginnt und »die Wirklichkeit ohne Modell denkt«22 . Daher ist für ihn eine modellierende Philosophie »eine contradictio in adjecto«23. Doch warum sollte eine Philosophie nicht möglich sein, die gleichsam in ihren Explikationen auf Modelle der Wissenschaft zurückgreift und diese diskutiert und thematisiert und gleichwohl die Modelle nicht ontologisch mißversteht? Sogar Wiesing selbst differenziert seine zunächst apodiktische Position, wenn er schreibt: »Es gilt zu unterscheiden, ob sich jemand mit guten Gründen meint dafür stark machen zu können, daß Modelle auch in der Philosophie Verwendung finden dürfen, oder ob – wie es 17 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 20. 18 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 23. 19 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 21. 20 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 23. 21 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 21. 22 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 25. 23 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 28.

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Selbst und Raum gegenwärtig in der Philosophie ständig der Fall ist – ohne jegliche Thematisierung und Problematisierung vollkommen selbstverständlich vom philosophischen Modell die Rede ist.« 24

Z wei M y then . M y thos des G egebenen und M y thos des M it telbaren Nun komme ich in fast abstrakter Kürze zu den beiden von Wiesing dargestellten entscheidenden Mythen, dem Mythos des Gegebenen und dem Mythos des Mittelbaren. Der Mythos des Gegebenen sei vornehmlich in der traditionellen empiristischen Wahrnehmungstheorie jedes Modell, welches theoretische Entitäten unterstellt, die dem Bewußtsein unmittelbar gegeben seien: seien es die ideas bei John Locke, die impressions bei David Hume oder die sense-data oder Sinnesdaten bei Bertrand Russell etc.25 Eine mythologische Formulierung wäre dann etwa die, zu sagen, ich sähe in Wirklichkeit nicht den Baum, sondern lediglich die Sinnesdaten etc.26 Diese Sinnesdaten seien also unmittelbar gegeben, wobei ihre Existenz eben lediglich unterstellt werde. Der zweite Mythos, der des Mittelbaren, ist gemäß Wiesings Befund der am weitesten in der aktuellen Philosophie verbreitete und schon gar nicht mehr in Frage gestellte27. Die Aussage des Mythos stehe unter der imaginären Überschrift des medial oder linguistic turn und laute: Der Mensch sieht alles nur vermittelt, via Medien. In anderen Worten besage das Modell: »Alles, was wir über die Welt sagen, erkennen und wissen können, wird mit Hilfe von Medien gesagt, erkannt und gewußt. […] Kognitive Systeme besitzen nur einen medialen Zugang zu ihrer Wirklichkeit – auch wenn die Systeme selbst von der unhintergehbaren Medialität kein Bewußtsein haben. […] Das Modell unterstellt anonyme, unbewußt arbeitende Mittel.« 28

Dabei arbeite das Modell des Mittelbaren mit zwei Weltvermittlern: einerseits mit der Interpretation, andererseits mit der Repräsentation.29 Vertreter des Interpretationismus seien letztlich alle Kantianer, Hegelianer, Nietzscheaner, Sprachanalytiker, Hermeneutiker, Dekonstruktivisten, Pragmatisten, Strukturalisten30. Interpretationisten gehen demnach davon aus, daß es für den Menschen keine Wirklichkeit gebe, »welche nicht das Ergebnis einer Interpretationstätigkeit sei«31. Zur langen Kette interpretationistischer Wahrnehmungstheoretiker zählt Wiesing Thomas Reid, Hermann von Helmholtz, Charles Sanders Peirce, Konrad Fiedler, Heinrich Wölfflin, Nelson Goodman, Arnold Gehlen und James J. Gibson. Dabei gipfele der Interpretationismus in ontologischen 24 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 30. 25 | Siehe Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 33f. 26 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 34. 27 | Siehe Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 15f. 28 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 40. 29 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 41. 30 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 15 und S. 41. 31 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 42.

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Alles-ist-Aussagen im Stile der Vorsokratiker: »›Alles, was ist, ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was ist‹« – diese ontologische Aussage zitiert Wiesing aus Günter Abels Aufsatz Interpretations-Welten32 . Solche Ontologisierung selbstredend scharf ablehnend, gibt Wiesing hierzu zu bedenken: »Nur wenn es gelingt zu demonstrieren, wieso ein In-der-Welt-sein ohne Interpretation undenkbar ist, läßt sich begründen, warum unterstellte Interpretationsleistungen keine unterstellten Modellannahmen, sondern die realen Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeit sind.«33 Was Wiesing am Interpretationismus darüberhinaus stört, ist die Verwendung des Begriffs der Interpretation an sich. Interpretation ist für ihn immer bewußt und abwägend – er folgt hierin Richard Shustermans Ausführungen in dessen Schrift Vor der Interpretation34 –, und genau dies könne man vom vorbewußten und unmittelbaren Verstehen nicht sagen. ›Unbewußte Interpretation‹ ist für Wiesing »nichts anderes als eine contradictio in adjecto«35. Folglich gilt für ihn: »Der Interpretationsvorgang bleibt eine Unterstellung, welche oft ein sinnvolles Modell, mit transzendentalem Anspruch allerdings ein Mythos ist – im wahrsten Sinne des Wortes ein moderner Weltentstehungsmythos.«36 Was Wiesing hier jedoch übersieht, ist die Tatsache, daß der Begriff der Interpretation in interpretationistischen Theorien, insbesondere auch solcher neurowissenschaftlicher Ausrichtung, nicht unbedingt im genannten Shustermanschen Bedeutungssinne verwendet werden muß; vielmehr scheint offensichtlich zu sein, daß dieses Zeitwort letztlich eine Art Metapher für unbewußte, von der Neurobiologie bislang nur zum Teil verstandene Prozesse ist. Was man damit ausdrücken möchte, ist, sehr vereinfacht gesagt, lediglich dies, daß im Zuge körpereigener wie umweltlicher Reize eben propriozeptive wie exterozeptive Wahrnehmungsprozesse in bestimmter Weise in Gang kommen, und diese bestimmte Weise, die mutmaßlich nie gleich ist, sondern mal so und mal so erfolgt, kann man mit dem Verb ›interpretieren‹ umschreiben. Es geht also nicht darum, daß unbewußte neuronale Prozesse auf genau die Weise Reize interpretieren würden, wie das hinsichtlich etwa einer ethischen Streitfrage ein Shusterman oder ein Wiesing auf bewußte und abwägende Weise üblicherweise machen mögen. Von daher könnte man die Verwendung des Verbs ›interpretieren‹ auch als eine Hilfsmaßnahme verstehen, bis man die damit bezeichneten Prozesse besser versteht und dann vielleicht auch bessere Wörter dafür findet oder erfindet. Die Verbindung des Mythos des Gegebenen mit dem Mythos des Mittelbaren stellt für ihn nun der Repräsentationalismus dar. Wiesing schreibt: »Der Repräsentationalismus ist eine Verbindung des Mythos des Mittelbaren mit dem Mythos des Gegebenen, denn er arbeitet mit beiden Modellen. Das Subjekt befindet sich einerseits in der Situation, daß es von der Welt, in der es sich zu befinden meint, nur durch Mittel 32 | Günter Abel: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 1-19, Zitat S. 11, siehe Wiesing S. 48f. 33 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 49. 34 | Richard Shusterman: Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1996. 35 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 51. 36 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 56.

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Selbst und Raum weiß, wobei allerdings andererseits diese Mittel für den Weltzugang unmittelbar gegeben sind. Die Verbindung zwischen Welt und Subjekt wird durch Repräsentationen ermöglicht, und folglich gibt es nur Verbindungen zwischen Welt und Subjekt im Rahmen der durch die Repräsentationen eröffneten Möglichkeiten.« 37

Problematisch sei in der Folge die Identifizierung von Repräsentation mit Intentionalität. Intentionalität sei bekanntlich Bewußtsein von etwas; dieses ›von‹ werde nun aber, so Wiesing38, als bedeutungshafter Verweis im Sinne einer Repräsentation interpretiert.39 Wenn ich also den intentionalen Zustand habe: »ich sehe einen Baum«, dann ist mir der Baum gemäß dem Repräsentationalismus nicht gegenwärtig, sondern er wird mir lediglich vergegenwärtigt.40 Wiesing kritisiert genau dies: »Es handelt sich hier um den gleichen Fehlschluß wie im Interpretationismus: Einem Phänomen wird unterstellt, daß es durch die Prinzipien und Entitäten entstanden sein muß, die auch das entstehen lassen könnten, was das Phänomen ist.«41 Der Repräsentationalismus »modelliert das subjektive In-der-Welt-sein aus einer Außenperspektive und durch Unterstellung von metaphysischen Entitäten«42 . Aus der Außenperspektive deshalb, weil ich aus der Innenperspektive von diesem unterstellten Repräsentationsvorgang nichts weiß, sondern lediglich den Baum sehe – subjektiv ist mir der Baum schlicht gegenwärtig. Und: »Daß Repräsentationen die logischen Bedingungen der Möglichkeit eines In-der-Welt-Seins sind, ist abenteuerlich spekulativ.«43 Was beide Mythen, den Mythos des Gegebenen und den des Mittelbaren, daher gemäß Wiesings Interpretation eine, sei ihr problematisches Verhältnis des Weltzugangs, sei die Kluft zwischen Mensch und Welt.44 »Die Gegenüberstellung hier ich – dort Wirklichkeit impliziert zwar nicht, aber sie suggeriert doch eine bemerkenswerte Nichtwirklichkeit oder Weltjenseitigkeit des Ich« – weshalb Wiesing folgert: »Der Mensch bedarf eines Zugangs zur Welt – der Streit betrifft letztlich nur die Frage, wie dieser Zugang beschaffen ist: Ist er direkter oder indirekter Art?«45 Wiesing kritisiert also, nochmals, daß »Beschreibungen des menschlichen Inder-Welt-seins nur zwischen beiden Möglichkeiten wählen können: direkten oder medialen Zugang – tertium non datur.«46 Entweder ich habe Weltzugang über die unmittelbar gegebenen Entitäten oder über die mittelbaren Zeichen. »Beide Modelle arbeiten gleichermaßen mit dem Dualismus, daß es hier ein Ich und dort eine Welt gibt«47. Von Platons Höhlengleichnis und dem dort beschriebenen Aufstieg hinaus aus der zeichenhaften Schattenwelt ans Sonnenlicht bis hin zum »Abstieg 37 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 58. 38 | Er folgt hierin Martin Kurthen und dessen Schrift ›Hermeneutische Kognitionswissenschaft. Die Krise der Orthodoxie‹, Bonn 1994. 39 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 58f. 40 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 59. 41 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 60. 42 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 60. 43 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 61. 44 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 62. 45 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 62. 46 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 66. 47 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 66.

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in Nietzsches umgedrehtem Platonismus« sei die Philosophie der Gegenwart von der Metapher vom Weltzugang geprägt.48 Wiesing kritisiert demnach beide Mythen, weil beide davon ausgehen, daß es eine Verbindung des Menschen zur Welt geben müsse – einerseits über einen direkten unmittelbaren Weg, andererseits über einen indirekten mittelbaren Weg. »Doch ist die Welt erst einmal auf Distanz gebracht, dann kommt man mit keiner der beiden Verbindungen mehr an sie heran. Genau deshalb ist die Annahme von Weltzugängen abwegig. Es kann keine Weltzugänge geben, weil das, was einen Weltzugang haben soll, als Teil der Welt gedacht werden muß. Wer nach dem Zugang des Menschen zur Welt fragt, tut fatalerweise so, als gäbe es das weltlose Subjekt, das vor seiner Benutzung des Weltzugangs kein Teil der Welt ist.«49 An dieser Stelle mißinterpretiert Wiesing nach meiner Auffassung den Repräsentationalismus, insofern er hier selbst die unterschiedlichen Beschreibungsebenen nicht zureichend auseinanderhält. Zunächst gilt, daß es aus einer naiv-realistischen oder Wiesing-phänomenologischen Sicht eine evidente Selbstverständlichkeit ist, daß das Subjekt nicht weltlos, sondern Teil der Welt ist – dem würde freilich auch der Repräsentationalist zustimmen, wenn auch auf eine differenzierte Weise: Im Modell des Repräsentationalismus ist auf der Repräsentationsebene Ich und Welt zwar durchaus getrennt (das Ich und die Außenwelt sind nichts eins) – und doch ist das Ich auf der biologischen und der funktionalen Ebene in die Welt eingebettet; zugleich nimmt es auf der phänomenologischen Ebene die Welt, in die es eingebettet ist, auf gerichtete, perspektivische Weise wahr. Dabei sind Ich und Welt in diesem bewußtseinsrepräsentationalistischen Modell Teil eines gemeinsamen Bewußtseinsraums. Wiesing vergißt meines Erachtens also, daß im repräsentationalistischen Modell nicht nur das Ich repräsentiert wird, sondern auch die Welt, Ich und Welt also in dieser Hinsicht gar nicht getrennt sind. Wiesing versteht unter Welt hier wohl das, was der Repräsentationalist die biologisch-physikalische Wirklichkeit nennen würde (in welcher sich der Mensch als biologisches Wesen zwar bewegt, die er bewußt aber lediglich als transparentes Repräsentat – nämlich als Welt bzw. Umwelt – wahrnehmen kann); zu dieser biologisch-physikalischen Wirklichkeit also hat das (repräsentierte) Ich gemäß dem Repräsentationalismus nie einen bewußten ›Zugang‹ (das Ich benötigt diesen ›Zugang‹ allerdings auch gar nicht, denn der Mensch, in welchem das Ich phänomenal erscheint, ist ja auf der biologisch-physikalischen Ebene stets auch Teil dieser biologisch-physikalischen Wirklichkeit und benötigt schon von daher gar keinen ›Zugang‹). Nochmals, das Ich ist auf der biologisch-physikalischen Ebene stets eingebettet in die biologischphysikalische Wirklichkeit (und doch der Mensch auf der Organismusebene nicht mit ihr eins). So viel für den Moment dazu. Um den Modell-Diskussionsfaden summarisch wieder aufzunehmen, ist zu sagen: Was Wiesing vorschwebt, ist, wie am Eingang des Exkurses bemerkt, eine Philosophie ohne Modell. Seine extreme Folgerung und Maxime lautet daher: »Modellfreie Philosophie ist nur durch thematische Bescheidenheit möglich; man muß sich in seinen Aussagen auf das beschränken, was sich sicher phänomenal zeigt;

48 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 66f. 49 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 69.

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etwas anderes sollte in der Philosophie gar nicht erst thematisiert werden.«50 Diese Bescheidenheit ist für ihn nichts anderes als die phänomenologische Epoché: die Enthaltung von Urteilen.51

F a zit des E xkurses Wiesings Kritik am ontologischen Mißbrauch des Modells sollte man sich prinzipiell zu eigen machen. Jedoch legt Wiesing keine zureichenden Gründe vor, die in diesem Falle einen Philosophen dazu zwingen könnten, gänzlich auf modellierendes Philosophieren zu verzichten (auch und gerade in dieser Arbeit). Folgte man Wiesings Forderung, so entstünde eine zwar von phänomenologischer Gewißheit geprägte, jedoch eingeschränkte, ausschließlich phänomenologische Sicht auf jene Phänomene, welche die Forschung möglichst umfassend verstehen möchte. Es spricht daher nichts dagegen und vieles dafür (nämlich der Versuch, vielschichtiges Wissen zu befördern), phänomenologisches Philosophieren und modellierendes Philosophieren bewußt zu verbinden und auf diese Weise womöglich zu einer Art humanwissenschaftlichen Konvergenztheorie zu gelangen – möge diese zunächst auch in mancher Hinsicht kontraintuitiv wirken. Auch Thales’ Satz: ›Alles ist Wasser‹ ist kontraintuitiv, aber wissenschaftlich, denn er formuliert eine theoretische Aussage. Auch die Konzepte Zelle, Gen, Neuron, Atom sind kontraintuitiv. Was hier zu Tage tritt, ist nicht die ›Wahrheit im Verborgenen‹ und auch nicht die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung, sondern der Unterschied zwischen unterschiedlichen Perspektiven. Wichtig bleibt somit, die verschiedenen Perspektiven und Methoden präzise zu trennen und die Modelle ganz im Sinne Wiesings nicht zu ontologisieren. Verzichtete man auf andere Formen der Philosophie, auch wissenschaftsinspirierte Formen, dann beschnitte man ohne überzeugend begründete Not den möglichen Erkenntnishorizont. Das kann selbstredend nicht im Interesse der Philosophie liegen. Wenn eine Philosophie ihre auf das Ganze des ›Menschen und seine Situation‹ zielende Verfassung nicht zu vergessen versucht und sie stets des Menschen staunenerregende Rätselhaftigkeit im Reich der Fauna und seine schwer zu begreifende Verortung im Universum mitzubedenken trachtet, dann ist eine wissenschaftliche, jenseits des Lehnstuhls auch das nachprüf bare Experiment nicht ausschließende, vielmehr dieses integrierende Methode keine »lächerlich gewordene Angelegenheit« mehr, wie Karl Jaspers schrieb52, sondern eine notwendige, auf der Höhe der Zeit spielende Kunst. Was den Aspekt des modellfreien Philosophierens im Rahmen meines Themas, das Selbsterleben in Innenräumen, betrifft, so läuft dieses Philosophieren auf die jeweilige Beschreibung dessen hinaus, wie es sich in dem und in jenem Raum für mich anfühlt, zu sein. Diese Beschreibungsbefunde werden verbunden mit anderen, zum Teil eben auch modellierenden Ansätzen – auf dem Weg zur erwähnten Konvergenztheorie, in der Naturwissenschaft und Phänomenologie aufeinander zuzuführen sind. 50 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 79. 51 | Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 79. 52 | Karl Jaspers: Chiffren der Transzendenz, hg. von Hans Saner, München 41984, S. 26.

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Konvergenztheorie heißt hier also, daß phänomenologische Überlegungen im Prinzip kompatibel sein sollen mit evolutionstheoretischen, anthropologischen, funktionalen, neurowissenschaftlichen, kunsttheoretischen, umwelt- und architekturpsychologischen Theorien über den Raum und das Selbst. Aus allen diesen unterschiedlichen Theorieperspektiven heraus müßte deutlich werden können, daß man über den Raum nichts sagen kann, ohne zugleich vom Menschen zu sprechen. Was folglich die Einbeziehung der Wissenschaften betrifft, so tragen deren – mit Bedacht und Vorsicht interpretierten – Forschungsbefunde sowohl zu einer Erhöhung der Evidenz bei wie auch zu einer Steigerung der Plausibilität der phänomenologischen Befunde. Ende Exkurs

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Philosophie Björn Vedder

Neue Freunde Über Freundschaft in Zeiten von Facebook März 2017, 200 S., kart. 22,99 E (DE), 978-3-8376-3868-4 E-Book PDF: 20,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3868-8 EPUB: 20,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3868-4

Jürgen Manemann

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Hans-Willi Weis

Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter 2015, 304 S., kart. 22,99 E (DE), 978-3-8376-3175-3 E-Book PDF: 20,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3175-7 EPUB: 20,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3175-3

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Philosophie Franck Fischbach

Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) 2016, 160 S., kart. 24,99 E (DE), 978-3-8376-3244-6 E-Book PDF: 21,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3244-0

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Qualitative Freiheit Selbstbestimmung in weltbürgerlicher Verantwortung 2016, 456 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3477-8 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3477-2 EPUB: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3477-8

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Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft 2015, 192 S., kart. 24,99 E (DE), 978-3-8376-3102-9 E-Book PDF: 21,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3102-3

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