Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung: Eine rechtsvergleichende Studie des deutschen und schweizerischen Rechts [1 ed.] 9783428488322, 9783428088324

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Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung: Eine rechtsvergleichende Studie des deutschen und schweizerischen Rechts [1 ed.]
 9783428488322, 9783428088324

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht

Band 35

Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung Eine rechtsvergleichende Studie des deutschen und schweizerischen Rechts Von

Dr. Annette Guckelberger

Duncker & Humblot · Berlin

ANNETTE GUCKELBERGER

Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Heckei, Ferdinand Kirchhof Hans von Mangoldt, Thomas Oppermann Günter PüUner, Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen

Band 3S

Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung Eine rechtsvergleichende Studie des deutschen und schweizerischen Rechts

Von Dr. Annette Guckelberger

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Guckelberger, Annette: Vorwirkung von Gesetzen im Tätigkeitsbereich der Verwaltung : eine rechtsvergleichende Studie des deutschen und schweizerischen Rechts / von Annette Guckelberger. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht ; Bd. 35) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-08832-8 NE:GT

D 21 Alle Rechte vorJJehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-08832-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Die Arbeit befaßt sich mit den Auswirkungen noch nicht in Kraft getretener Gesetze auf die Verwaltung. In seiner 1974 erschienenen Habilitationsschrift hat sich Michael K/oepfer erstmals mit der Thematik der "Vorwirkung von Gesetzen" eingehender auseinandergesetzt. Dabei war er sichtlich von der schweizerischen Rechtsprechung inspiriert. Inzwischen ist die "Vorwirkung" in allen Lehrbüchern zum schweizerischen Verwaltungsrecht sowie in der schweizerischen Rechtsprechung ein gängiger Begriff. Dies war für mich Anlaß, das Vorwirkungsphänomen etwa zwanzig Jahre später nochmals im Rahmen einer rechtsvergleichenden Arbeit zu erörtern. Anfangs war neben der Konsultation des deutschen und des schweizerischen Rechts auch ein Einbezug des österreichischen Rechts geplant. Da sich jedoch in den allgemeinen Lehrbüchern zum österreichischen Staats- und Verwaltungsrecht keinerlei Angaben zu einer Vorwirkung von Gesetzen fanden, sah ich davon ab, auf die Rechtslage in Österreich näher einzugehen. Es ist zu vermuten, daß dort das Vorwirkungsphänomen jeglicher Aktualität entbehrt. Im folgenden wird daher lediglich erörtert, ob in Deutschland und der Schweiz eine Vorwirkung von Gesetzen, hier beschränkt auf den Bereich der Verwaltung, existiert, und - wenn ja - ob diese rechtens ist. Da es bis heute in der deutschen Literatur an eingehenderen Stellungnahmen zu dieser Thematik fehlt, kann auch diese Arbeit, ebenso wie die Monographie Kloepfers, nur erste Anregungen und Hinweise geben. Insoweit ist diese Dissertation als Weiterführung der von Kloepfer angestrebten Diskussion zur Vorwirkung der Gesetze gedacht. Die Arbeit wurde von Herrn Prof. Dr. Günter Püttner betreut. Hierfür sowie für die Möglichkeit, an seinem Lehrstuhl mitarbeiten zu können, danke ich ihm herzlich. Herrn Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch bin ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens zu Dank verpflichtet. Bei Herrn Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum möchte ich mich für sein freundliches Entgegenkommen, diese Arbeit in die von ihm herausgegebene Tübinger Schriftenreihe aufzunehmen, bedanken. Tübingen, im April 1996

Annette Guckelberger

Inhaltsverzeichnis A. Einführung

........... . .

13

I. Zum Begriff der Vorwirkung ..

14

11. Berechtigung des Begriffs der Vorwirkung

...

16

III. Die Vorwirkung im Vergleich zu den anderen Wirkungsarten von Gesetzen 1. Vorwirkung und "Normalwirkung" .

18 18

2. Vorwirkung und Nachwirkung

19

3. Vorwirkung und Fortwirkung .

20

4. Vorwirkung und Rückwirkung

21

IV. Das Verhältnis der einzelnen Wirkungsarten zueinander .. . .

V. Arten der Vorwirkung

23 24

'"

1. Die positive Vorwirkung

24

2. Die negative Vorwirkung

25

3. Die Rechtsverzögerung .

28

4. Die Vorberücksichtigung

30 .. .

32

6. Rechtliche und faktische Vorwirkungen . . . . . . .

33

7. "Normale" Vorwirkung, ausdrücklich angeordnete Vorwirkung sowie Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht . . . . . .

33

8. Belastende und begünstigende Vorwirkung . . . .

34

5. Die Vorbereitung künftiger Normanwendung

9. Echte und unechte Vorwirkung ...

35

10. Direkte und indirekte Vorwirkung .

36

11. Differenzierung nach den von der Vorwirkung betroffenen Organen

37

12. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

B. Die positive Vorwirkung . I. Positive Vorwirkung ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung und ohne jegliche Stütze im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Gewaltenteilung (Inkrafttreten von

Parlamentsgesetzen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

38 40 41

8

Inhaltsverzeichnis a) Inkrafttretensdelegation in der Schweiz

42

b) Inkrafttretensdelegation in Deutschland

43

c) Voranwendung und Entschlußfreiheit des Parlamentsgesetzgebers

44

2. Positive Vorwirkung und Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . .

48

a) Situation in Deutschland

48

b) Situation in der Schweiz

52

53

3. Voranwendung und Bekanntmachung von Rechtsnormen . . . . . a) Die Bedeutung Deutschland . .

der Verkündung von . . . . . . . . . . .

Rechtsvorschriften

in

54

b) Die Bedeutung der Verkündung von Rechtsvorschriften in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

c) Vergleich Deutschland - Schweiz .. .

63

4. Voranwenoung und Gesetzesvorrang .. .

65

a) Außerkrafttreten und Vorwirkung .. .

65

b) Voranwendung trotz bestehenden Altrechts? .

70

5. Voranwendung und Gesetzesvorbehalt . . . . . . .

77

6. Positive Vorwirkung, wenn kein Altrecht existiert

80

a) Rückwirkender Gesetzentwurf . . . . . .

81

b) Kein rückwirkender Gesetzentwurf

82

7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . .

83

11. Zur positiven Vorwirkung ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung, aber unter Bezugnahme auf das geltende Recht

...........

1. Voranwendung unter dem Vorbehalt der Rückgängigmachung

84 84

a) Situation in Deutschland

84

b) Situation in der Schweiz

91

2. Voran wendung unter der aufschiebenden / auflösenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts

93

a) Situation in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

aa) Verwaltungsakte unter der Bedingung, daß das Neurecht (erst) ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens Wirkungen entfalten soll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

94

bb) Öffentlich-rechtliche Verträge mit aus dem künftigen Recht entnommenem Vertragsinhalt . . . . . . . . . .

103

b) Situation in der Schweiz .

104

3. Zusammenfassung . . . . . . .

105

Inhaltsverzeichnis III. Die ausdrücklich angeordnete positive Vorwirkung I. Zu § 33 BauGB bzw. seinem schweizerischen Pendant: spezialgesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung ohne Vorläufigkeitsvermerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

9 106

107

a) Situation in der Schweiz

107

b) Situation in Deutschland

109

2. Zu § 165 AO: spezialgesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung mit Vorläufigkeitsvermerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

3. Zusammenfassung .....

124

C. Die negative Vorwirkung

....... .

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung I. Situation in Deutschland ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 128 129

a) Pflicht der Verwaltung zu einer möglichst raschen Bescheidung des Bürgers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

b) Sachliche Rechtfertigung der negativen Vorwirkung? ....

132

aa) Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132

bb) Ziel einer zeitgerechteren / besseren Verwaltungsentscheidung

133

ce) Verzögerung zur Verhinderung personaler Ungleichbehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134

dd) Verhinderung einer späteren Korrektur der Verwaltungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

ee) Schutz der Absichten des Gesetzgebers

139

ff) Handeln im Interesse des Bürgers .

141

c) Zusammenfassung .....

142

2. Situation in der Schweiz . . .

142

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung .

145

I. Die Veränderungssperre gemäß § 14 I BauGB

146

2. Die Zurückstellung von Baugesuchen gemäß § 15 BauGB . . .

150

3. Zusammenfassung zur Analyse von §§ 14, 15 BauGB ...

152

4. Gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung auch außerhalb des Planungsrechts ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

III. Anhang: Negative Vorwirkung beim richterrechtlich entwickelten öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

10

Inhaltsverzeichnis

D. Die Vorberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorberücksichtigende Auslegung und analoge Vorberücksichtigung .

162 163

I. Situation in der Schweiz

165

2. Situation in Deutschland

168

a) Die Abgrenzung der Vorberücksichtigung von anderen Argumentationsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . .

170

b) Vorteile der vorberücksichtigenden Auslegung

174

c) Nachteile der vorberücksichtigenden Auslegung

177

d) Verhältnis zwischen historischer und vorberücksichtigender Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

e) Unzulässigkeit der Vorberücksichtigung, weil eine Rechtsnorm vor dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens Wirkungen entfaltet? ...

185

f) Notwendigkeit der vorberücksichtigenden Auslegung? . . . . . . . ..

187

g) Vom Rechtsanwender bei der Vorberücksichtigung vorzunehmende Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

11. Die vorberücksichtigende Ermessensausübung ...

191

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . ..

194

E. Vorbereitungsmaßnahmen der Verwaltung

195

F.

Endzusammenfassung ...

203

I. Die positive Vorwirkung .

203

11. Die negative Vorwirkung

206

III. Die Vorberücksichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

IV. Vorbereitungsmaßnahmen der Verwaltung

208

Literaturverzeichnis .....

209

Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . : . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

220

Abkürzungsverzeichnis BBL

Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft

BGE

Entscheidungssammlung des Schweizerischen Bundesgerichts. Amtliche Sammlung

BGer

Schweizerisches Bundesgericht

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874

BVR

Bemische Verwaltungsrechtsprechung

Pra

Die Praxis des Bundesgerichts

RDAF

Revue de droit administratif et de droit fiscal

recht

recht. Zeitschrift für juristische Ausbildung und Praxis

SJZ

Schweizerische Juristenzeitung

ZBL

Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht

ZfV

Zeitschrift für Verwaltung (Österreich)

ZSR

Zeitschrift für Schweizerisches Recht

Im übrigen wird auf Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Aufl. Berlin/New York 1993 verwiesen.

A. Einführung Während den meisten schweizerischen Lehrbüchern zum Verwaltungsrecht die Thematik der "Vorwirkung" nicht fremd ist,' finden sich in Deutschland - abgesehen von der Monographie Michael Kloepfers 2 - diesbezüglich kaum weitergehende Ausführungen. 3 Dies dürfte vor allem mit der in Deutschland vorherrschenden Ansicht, daß Rechtsnormen erst ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens rechtliche Wirkungen erzeugen,4 zusammenhängen. Selbst wenn man dieser Prämisse nicht folgt, dürfte dieser Befund damit zu erklären sein, daß eine etwaige Vorwirkung von Gesetzen zeitlich begrenzt und daher eher uninteressant ist. 5 Spätestens mit dem Inkrafttreten eines Gesetzes würde seine Vorwirkung ein Ende finden. Da zwischen der Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens und dem Inkrafttreten eines Gesetzes in der Regel aber doch eine gewisse Zeit verstreicht, kann die Möglichkeit einer - unter Umständen auch nur faktischen - Vorwirkung von Gesetzen nicht von vornherein von der Hand gewiesen werden. Daher soll im Rahmen dieser rechtsvergleichenden Arbeit geklärt werden, ob sich in Deutschland und in der Schweiz nicht doch irgendwelche Vorwirkungen von Gesetzen, hier beschränkt auf den Bereich der Verwaltung,6 auffinden und legitimieren lassen.

I HäJelin / Müller, Grundriß des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Rz. 279 ff.; Grisel, Traite De Droit Administratif I, S. 151 ff.; Gygi, Verwaltungsrecht - Eine Einführung, S. 115; Knapp, Grundlagen des Verwaltungsrechts I, Rz. 563 ff.; Haller / Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 334 ff.; Moor, Droit administratif, S. 180 ff.; Fleiner-Gerster. Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungsrechts, § 10 Rz. 27; Imboden/Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, § 17, S. 108 ff.; Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 49 ff. 2 KloepJer, Vorwirkung von Gesetzen. 3 Faber, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 120 f., und Wolff/BachoJ/Stober, Verwaltungsrecht I, S. 297, begnügen sich damit, auf Kloepfer zu verweisen. Ganz kurze Ausführungen finden sich bei H. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 529. 4 Vgl. z.B. Bryde, in: von Münch, GG-Kommentar, Art. 82 Rz. 15; Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 15; Jarras / Pieroth, GG-Kommentar, Art. 82 Rz. 19; Leibholzl Rinck/ Hesselberger, GG-Kommentar, Art. 82 Rz. 12b; BVerfGE 42, 263 (283).

l

Vgl. für die Schweiz: Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (116).

Allerdings muß in solchen Fällen, in denen sich für den Verwaltungsbereich kein ausreichendes Belegmaterial vorfindet, mancherorts über diese Beschränkung hinausgegangen werden. 6

14

A. Einführung

I. Zum Begriff der Vorwirkung Hier ist vorwegzunehmen, daß sich keine einheitliche Verwendung des Begriffs der Vorwirkung feststellen läßt. In der Schweiz beschreibt eine größere Anzahl von Autoren das Phänomen der Vorwirkung damit, daß "ein Erlass Rechtswirkungen zeitigt, obwohl er noch nicht in Kraft getreten ist"/ bzw. als "Beeinflussung der Anwendung noch geltenden Rechts durch einen noch nicht rechtskräftigen künftigen Rechtssetzungsakt".8 Andere schränken diese Definition weiter ein. So wird mancherorts unter dem Begriff der Vorwirkung nur die Nichtanwendung des geltenden Rechts bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts verstanden. 9 Jeder dieser Definitionen ist gemeinsam, daß sie den Bereich möglicher Vorwirkungen von Gesetzen von vornherein auf das Feld rechtlicher Auswirkungen beschränken. Da jedoch, wie gezeigt, ungewiß ist, ob noch nicht in Kraft getretene Rechtsvorschriften überhaupt irgendwelche, wenn auch nur faktische Vorwirkungen äußern können, sind die soeben dargestellten Definitionen für eine umfassende Erörterung des Vorwirkungsphänomens weniger geeignet. Hans Schneider verwendet den Vorwirkungsbegriff für all diejenigen Wirkungen, die von bereits verkündeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen heITÜhren. lo Damit geht er e contrario von dem Erfahrungssatz aus, daß in Ausarbeitung befindliche Gesetzentwürfe bis zum Zeitpunkt der Gesetzesverkündung keinerlei Wirkungen entfalten. Ob diese Prämisse zutreffend ist, soll erst im Laufe dieser Arbeit aufgezeigt werden. Daher ist auch diese Definition zu eng. Vielmehr dürfte der Nachweis etwaiger Vorwirkungen werdender Normen am ehesten mittels eines möglichst weiten Vorwirkungsbegriffs gelingen. Der Begriff der Vorwirkung soll daher sämtliche Einflüsse noch nicht in Kraft getretener Normen auf die Gegenwart umschreiben. 11

7

Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 279; Schindler, ZBL 93 (1992), S. 388 ff. (402).

Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (172); Siegrist, Die Bausperre unter besonderer Berücksichtigung des aargauischen Rechts, S. 48; Schürmann / Hänni, Planungs-, Bau- und besonderes Umweltrecht, S. 258. 9 Fleiner- Gerster, Wie soll man Gesetze schreiben? - Leitfaden für die Redaktion normativer Texte, S. 126; ders., Grundzüge, § 10 Rz. 27; Knapp, Grundlagen I, Rz. 564; Zimmerlin, ZSR NF 88 I (1969), S. 429 tT. (434 f.); VG des Kantons Zürich, in: Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung I, S. 159 f. 10 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 529. 11 Vgl. ebenso: Thommen, Zur Problematik der sogenannten Vorwirkung, S. 9; Haller/ Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 335. Von dieser Definition scheint auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 10, auszugehen: "Wird die Gesetzesvorwirkung als Wirkung eines Gesetzes vor seinem Inkrafttreten verstanden, dann wird damit eine derzeitige Wirkung einer künftigen Norm bezeichnet." 8

I. Zum Begriff der Vorwirkung

15

Im übrigen sei auf folgende zwei Verwendungen des Vorwirkungsbegriffs in Deutschland hingewiesen: Zum einen ist die "enteignungsrechtliche Vorwirkung" vor allem im Bereich des Baurechts ein anerkanntes Institut. 12 Diese besagt, daß bei der Berechnung der Entschädigung bei Enteignungen auf die Qualität des Enteignungsobjektes abgestellt wird, die es unmittelbar vor Beginn des Enteignungsprozesses besaß (vgl. § 95 II Nr. 2 BauGB). Dabei wird eine enteignende Vorwirkung nur solchen Maßnahmen zugeschrieben, die von Anfang an von ihrer Tendenz her auf eine endgültige Enteignung angelegt sind. 13 Dieses Institut unterscheidet sich insofern von der Vorwirkung von Gesetzen, als die enteignungsrechtliche Vorwirkung in der Regel mittels einer rückschauenden Betrachtung durch Verwaltungsakt festgestellt wird. 14 Mit der Vorwirkung noch nicht in Kraft getretener Normen werden demgegenüber deren unmittelbare Auswirkungen auf die Gegenwart erfaßt.

Zum anderen wird der Begriff der Vorwirkung gelegentlich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwendet,15 ohne daß es nähere Ausführungen zum Bedeutungsgehalt dieses Begriffs macht. So sprechen zum Beispiel BVerfGE 61, 82 (110); 69, 1 (49) die Vorwirkungen des Art. 19 IV GG auf die Ausgestaltung des dem gerichtlichen Rechtsschutzverfahren vorgelagerten Verwaltungsverfahren an. Auf diese Weise wird dort einer Vereitelung bzw. unzumutbaren Erschwerung des gerichtlichen Rechtsschutzverfahrens vorgebeugt. In anderem Zusammenhang läßt es das Bundesverfassungsgericht offen, ob nicht ein Anspruch auf rechtzeitige Ermessensausübung einer materiell-rechtlichen Vorwirkung der Ermessensnorm entnommen werden kann. 16 Ohne hier näher auf die Vorwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzugehen, läßt sich folgendes feststellen: Das Bundesverfassungsgericht verwendet in all diesen Entscheidungen den Vorwirkungsbegriff, um den Einfluß von bestehenden, verbindlichen Normen auf die Gesamtrechtsordnung auszudrücken. Demgegenüber soll in dieser Arbeit der Begriff der Vorwirkung von Gesetzen die Wirkungen künftiger, unter Umständen auch schon verkündeter, aber noch nicht in Kraft getretener Rechtsnormen auf die Gegenwart erfassen. Die Vorwirkungen in Kraft stehender und erst noch in Kraft tretender Normen sind also sorgfaltigst zu trennen. 12 Vgl. z.B. BGH, UPR 1992, 234 ff. (234); BVerfG, DVBI. 1987, 895 ff. (895); BVerfG, DVBI. 1987, 466 ff. (467); Battis, in: Battis / Krautzberger / Löhr, BauGB, § 95 Rz. 5; Kloepjer, Vorwirkung, S. 239 ff. n BGH, BRS 53 (1993), Nr. 125, S. 345 ff. (347). 14 Kloepjer, Vorwirkung, S. 247 ff.; ebenso läßt sich der BGH-Entscheidung in BRS 34 (1980), Nr. 6, S. 11 ff. (15), mittelbar entnehmen, daß die enteignende Vorwirkung in der Regel im Wege einer TÜckschauenden Betrachtung festgestellt wird. 15 BVerfGE 69, I (49); 61, 82 (110); 60, 16 (42); BVerfG, NVwZ 1988, 523 ff. (523). 16 BVerfGE 60, 16 (42).

16

A. Einführung

Auch im Bereich des Europarechts wird teilweise von einer "Vorwirkung einer EG-Richtlinie" gesprochen. 17 Soweit diese Richtlinie bereits in Kraft gesetzt ist, kann nach der in dieser Arbeit verwendeten Vorwirkungsdefiniti on kaum von einer Vorwirkung gesprochen werden. Da die EG-Richtlinie lediglich ein vom nationalen Gesetzgeber umzusetzendes Ziel vorgibt, ihm hinsichtlich Form und Mittel der Umsetzung jedoch einen gewissen Spielraum überläßt, ist es durchaus vorstellbar, daß ein erst im Werden befindliches nationales Umsetzungs gesetz gewisse Vorwirkungen entfalten kann. Daher muß zwischen den Wirkungen, die auf eine in Kraft getretene EG-Richtlinie zurückzuführen sind, und solchen, die von dem noch nicht in Kraft getretenen nationalen Umsetzungsgesetz herrühren, unterschieden werden. Sofern die jeweiligen EG-Rechtsnormen selbst noch nicht in Kraft getreten sind, ist nicht auszuschließen, daß auch sie gewisse Vorwirkungen äußern. 18 Da sich die vorliegende Arbeit auf die Wirkungen noch nicht in Kraft getretener nationaler Normen beschränkt, wird hier der Bereich des Europarechts ausgeklammert. Abschließend sei auf die Abgrenzung der Vorwirkung werdender Normen von unter Umständen feststellbaren Vorwirkungen "bestehender" Fakten, Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen auf kommende Entscheidungen hingewiesen. 19

11. Berechtigung des Begriffs der Vorwirkung In der schweizerischen Literatur wird zum Teil die Berechtigung des Begriffs der Vorwirkung angezweifelt. 20 Vor allem Martin Straub lehnt diesen gänzlich ab. Als Argument führt er zunächst die Tatsache, daß eine Wirkung immer der Ursache folge, an. Die Vorwirkung basiere dagegen allein auf einer Erwartung, daß das künftige Recht später in Kraft treten wird. 21 Diese Argumentation ist sicher, was die naturwissenschaftliche Kausalität anbetrifft, richtig. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß eine werdende Norm keinerlei Wirkungen entfalten kann. 22 Insbesondere ist kaum einsichtig, war-

17

Schilling, Rang und Geltung von Nonnen in gestuften Rechtsordnungen, S. 322

m.w.N.

18 Allerdings dürfte auch hier die Rechtslage ähnlich wie in Deutschland sein. Vgl. hierzu Oppermann, Europarecht, Rz. 569 f. 19

Vgl. Thommen, Vorwirkung, S. 29 ff.

20 Straub, Das intertemporale Recht bei der Baubewilligung, S. 71 ff.; Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50. 21 Straub, Das intertemporale Recht, S. 71. 22 Thommen, Vorwirkung, S. 15.

11. Berechtigung des Begriffs der Vorwirkung

17

um ein sich in der Gegenwart abspielender Prozeß, nämlich die Vorantreibung eines Gesetzgebungsverfahrens, keine bestimmte Wirkungen auslösende Ursache sein kann. Ähnlich verhält es sich mit Straubs Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Vorwirkung im wörtlichen Sinn. "Vorwirkung künftigen Rechts würde heissen: Wirkung eines noch nicht in Kraft stehenden Rechts, eines noch nicht geltenden und damit noch nicht existierenden Rechts."23 Hier verkennt Straub, daß ein ähnliches Paradoxon bei rückwirkenden Gesetzen besteht. Auch dort muß zugegeben werden, daß letztlich niemand "das Geschehene unwirksam machen" kann. 24 In Wahrheit handelt die Rückwirkung nicht in der Vergangenheit, sondern soll allein die Gegenwart und Zukunft mit Blick auf das Vergangene erfassen. 25 Beide Einwände lassen sich im übrigen durch eine schlichte Umbenennung des Vorwirkungsphänomens entkräften. 26 In rechtlicher Hinsicht macht Straub gleichfalls geltend, daß eine Rechtsnorm entweder in Kraft stehe und Wirkungen entfalte oder mangels Inkrafttretens jeglicher Geltungskraft entbehre. 27 Dies würde es aber ausschließen, daß einer werdenden Norm kraft gesetzlicher Anordnung bereits jetzt Wirkungen verliehen werden (vgl. Z.B. § 33 BauGB). Dem versucht Straub zu entgehen, indem er hier wegen des Bestehens einer gesetzlichen Grundlage eine Vorwirkung verneint. Insofern wird seiner Ansicht nach geltendes gegenwärtiges Recht, das lediglich von seinem Sachverhalt her auf werdende Normen Bezug nimmt, angewendet. 28 Daß hier gewisse Überschneidungen bestehen, ist ohne weiteres zuzugeben. Dennoch muß man sich darüber klar werden, daß hier gerade nicht der Normalfall einer gesetzlichen Regelung vorliegt. Die Abweichung zu den meisten Normen liegt doch darin, daß im Hinblick auf eine werdende Norm schon jetzt gewisse Reaktionen ausgelöst werden. Dieser Besonderheit kann man aber nur durch eine spezielle Begrifflichkeit - eben der Vorwirkung - Rechnung tragen. 29

23

Straub, Das intertemporale Recht, S. 73.

24

Grisel. ZBL 1974 (Bd. 75), S. 233 ff. (242); Maurer, in: Isensee I Kirchhof III, § 60

Rz. 11.

25 Grisel. ZBL 1974 (Bd. 75), S.233 ff. (242); Forsthojf, Verwaltungsrecht, S. 152; Maurer, in: Isensee I Kirchhof III, § 60 Rz. 11. 26 Dies gibt Straub, Das intertemporale Recht, S. 78, im Grunde selbst zu. 27 Straub, Das intertemporale Recht, S.73; Kölz. ZSR NF 102 11 (1983), S. 101 ff. (173). 28 Straub, Das intertemporale Recht, S. 75; Rhinow I Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50; Kölz. ZSR NF 102 Ir (1983), S. 101 ff. (175); Häfelinl Müller, Grundriß, Rz. 284; HessVGH, BauR 1982, 135 ff. (136 f.). 29 So spricht auch Faber, Allgemeines Verwaltungs recht, S. 120 f., bei §§ 14 ff., 33 BauGB von einer Vorwirkung.

2 Guckelberger

18

A. Einführung

III. Die Vorwirkung im Vergleich zu den anderen Wirkungsarten von Gesetzen Der Bedeutungsgehalt einer Vorwirkung von Gesetzen läßt sich am besten im Vergleich zu den anderen, wenn auch rein rechtlichen Wirkungsmöglichkeiten von Normen erschließen. Als solche kommen die Normal-, Nach-, Fort- und Rückwirkung in Betracht. 1. Vorwirkung und "Normalwirkung" Mit der "Normalwirkung" eines Gesetzes sind dessen Wirkungen zwischen seinem In- und Außerkrafttreten gemeint. 30 Der Zeitpunkt des Inkrafttretens eines Gesetzes ist dabei in Deutschland grundsätzlich eindeutig bestimmt. 3' Demgegenüber ist der Zeitpunkt des Außerkrafttretens einer Norm, abgesehen von den befristeten Gesetzen, zunächst einmal offen. 32 Weitaus schwieriger ist es, den Zeitpunkt, ab dem eine noch nicht in Kraft getretene Norm Vorwirkungen entfalten kann, zu fixieren. Es ist nicht auszuschließen, daß die Vorwirkungen des künftigen Rechts abhängig von der konkreten Vorwirkungsform zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzen. Daher muß hier auf die Ausführungen im Rahmen der Erörterung der einzelnen Vorwirkungsformen verwiesen werden. Insgesamt dürfte die Vorwirkung aber mit zunehmender Publizität und steigender Wahrscheinlichkeit der Realisierung des noch nicht in Kraft getretenen Neurechts besonders naheliegen. 33 Das Ende der Vorwirkung ist zwar durch das Inkrafttreten bzw. das Scheitern der geplanten Norm bestimmt. Da diese Daten oft nicht genau abzuschätzen sind,34 müssen die Vorwirkungsadressaten auch hier ein gewisses Gefühl der Unsicherheit hinnehmen. Die Vorwirkung ist somit im Vergleich zur Normalwirkung mit wesentlich mehr Unsicherheiten behaftet. Dies ist vor allem durch die Tatsache, daß die vorwirkende Norm im Gegensatz zur normalwirkenden noch nicht in Kraft getreten ist, bedingt. Denn für den Normanwender steht hier, außer im Falle 30 Kloepfer, VOIwirkung, S. 5; Thommen, Vorwirkung, S. 19; in diese Richtung Zimmerlin, ZSR NF 88 I (1969), S. 429 ff. (430). 31 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 517; Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof III, § 63 Rz. 64 f.; ForsthojJ, Verwaltungsrecht, S. 149 f.; Stern, Staatsrecht II, § 37, S. 637; vgl. hierzu auch BVerfGE 42, 263 (285). 32 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 550; Kloepfer, Vorwirkung, S. 5; Thommen, Vorwirkung, S. 19. 33

Vgl. hierzu Thommen, Vorwirkung, S. 45 f.

Kloepfer, Vorwirkung, S.5; einigermaßen Sicherheit im Hinblick auf das Inkrafttreten dürfte wohl erst ab der Gesetzesverkündung bestehen. 34

III. Die Vorwirkung und andere Wirkungsarten von Gesetzen

19

einer mittelbaren gesetzlichen Grundlage wie in § 33 BauGB oder bei bereits verkündeten Gesetzen, der Wille des Gesetzgebers noch nicht endgültig fest. 35 2. Vorwirkung und Nachwirkung Mit der Nachwirkung von Gesetzen soll der Situation, daß eine Norm auch noch nach ihrem Außerkrafttreten Wirkungen äußert, Rechnung getragen werden. 36 Die Gründe, worauf diese Wirkungen zurückzuführen sind, sind vielfältig. So wird zum Beispiel darauf verwiesen, daß ein durch ersatzlose Aufhebung oder Fristablauf entstandenes Rechtsvakuum unter Umständen durch eine weitere Heranziehung der außer Kraft getretenen Norm ausgeruHt werden kann. 37 Für Kloepfer, Oertel und Thommen stellt sich des weiteren das Problem, ob die Anwendung von Altrecht auf Sachverhalte, die sich vor seinem Außerkrafttreten ereigneten, als Nachwirkung einzustufen ist. 38 Dies verneinen Thommen und Oertel im Ergebnis, da wegen der zeitlichen Entsprechung von Sachverhalt und dem zum damaligen Zeitpunkt in Kraft stehenden Altrecht eine "nachträgliche" Normalwirkung anzunehmen ist. 39 Diese Begründung ist ungenau. Ob Sachverhalte mit Vergangenheits bezug nach Alt- oder Neurecht zu beurteilen sind, ist dem Neurecht zu entnehmen. 40 Enthält dieses keine ausdrückliche Regelung über das anzuwendende Recht, ist das Problem im Wege der Auslegung unter Heranziehung allgemeiner Rechtsgedanken des intertemporalen Rechts zu lösen. Hierbei wird man zumeist aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips zu dem Ergebnis gelangen, daß Sachverhalte der Vergangenheit rur die Zeit bis zum Inkrafttreten des Neurechts nach Altrecht zu beurteilen sind (Grundsatz "tempus regit actum"). Für die zukünftige Beurteilung dieser Rechtsverhältnisse ist jedoch, da der neuen Norm in der Regel ein möglichst weiter Anwendungsbereich verliehen werden soH, das Neurecht maßgeblich (Grundsatz der Sofortwirkung und NichtRückwirkung des neuen Rechts).41 Ergibt sich aus dem Neurecht, daß das

35

Kloepfer, Vorwirkung, S. 5; Thommen, Vorwirkung, S. 19.

Kloepfer, Vorwirkung, S. 5; Thommen, Vorwirkung, S. 20; Dertel, Der Zeitfaktor im öffentlichen Wirtschaftsrecht, S. 66. 36

37

Kloepfer, Vorwirkung, S. 6; Thommen, Vorwirkung, S. 20; Dertel, Der Zeitfaktor,

S.66.

38 Kloepfer, Vorwirkung, S. 5 Fn. 19; Thommen, Vorwirkung, S. 21; Dertel, Der Zeitfaktor, S. 65. 39

Thommen, Vorwirkung, S. 21; Dertel, Der Zeitfaktor, S. 65 f.

40

Pietzner / Ronellenfitsch, Das Assessorexarnen im Öffentlichen Recht, § 20 Rz. 22.

41 Eine gute Darstellung zum intertemporalen Recht geben F.D. Kopp, Sgb 1993,593 ff., und Nipperdey, in: Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil des BGB, I. Hlbbd., S. 352 ff.

2"

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A. Einführung

Altrecht für vergangene Sachverhalte weiterhin verbindlich ist, ist es nach dem Willen des jetzigen Normgebers eben insoweit gerade noch nicht außer Kraft. Damit liegt die Hauptvoraussetzung, um von einer Nachwirkung sprechen zu können, nicht vor. Obgleich sowohl Vor- als auch Nachwirkung auf einer nicht bzw. nicht mehr in Kraft stehenden Rechtsgrundlage beruhen,42 besteht zwischen ihnen ein fundamentaler Unterschied: Während die Nachwirkung auf ein einmal verbindliches Gesetz zurückgefUhrt werden kann, ist bei der Vorwirkung das Inkrafttreten der im Werden begriffenen Norm noch offen. Die Vorwirkung ist im Unterschied zur Nachwirkung also wiederum durch eine erhebliche Unsicherheit geprägt. Außerdem ist auf die unterschiedlichen Zeitperspektiven, nämlich Vorwirkung vor dem Beginn und Nachwirkung nach dem Ende der Verbindlichkeit einer Norm, hinzuweisen. 43

3. Vorwirkung und Fortwirkung Kloepfer und Thommen ziehen als weiteres Vergleichspaar zur näheren Beschreibung der Vorwirkung die Fortwirkung einer Norm heran. An letzterer ist bedenklich, daß sich diese Wirkungsart im Gegensatz zu den vorangegangenen Begriffspaaren nicht eindeutig definieren läßt. Kloepfer fUhrt als erste Umschreibungsmöglichkeit der Fortwirkung die Weitergeltung eines Gesetzes ab einem bestimmten Zeitpunkt an. 44 Unter diesem Aspekt würden sich Fort- und Normalwirkung weitgehend entsprechen. Denn das in Kraft getretene Gesetz soll ja in Zukunft seine Wirkungen bis zum Zeitpunkt seines Außerkrafttretens äußern. Damit gelangt man zu dem Gegensatz, wonach die Vorwirkung die gegenwärtigen Wirkungen einer künftigen Norm, die Fortwirkung dagegen die künftige Geltung einer gegenwärtigen Norm umschreibt. 45 Sieht man demgegenüber die Besonderheit der Fortwirkung in ihrer generellen Zukunftsoffenheit liegen, schließen sich Vor- und Fortwirkung nicht mehr aus: Auch die Vorwirkung ist bis zum Inkrafttreten oder Scheitern der geplanten Norm gegenüber der Zukunft offen. 46 Wegen dieser Unbestimmtheit des Fortwirkungsbegriffes scheint dieser und damit auch der Vergleich zur Vorwirkung als unangebracht.

42 43

44 45

Kloepfer, Vorwirkung, S. 6; Thommen, Vorwirkung, S. 20 f. Kloepfer, Vorwirkung, S. 6. Kloepfer, Vorwirkung S. 7. Kloepfer, Vorwirkung, S. 7; Thommen, Vorwirkung, S. 22.

46 Kloepfer, Vorwirkung, S. 7 f.; Thommen, Vorwirkung, S. 22. Nach dieser Sicht können übrigens auch Nach- und Rückwirkung fortwirken.

III. Die VOIwirkung und andere Wirkungsarten von Gesetzen

21

4. Vorwirkung und Rückwirkung

Einem Gesetz kommt Rückwirkung bei, wenn es bei seinem Inkrafttreten entweder an in der Vergangenheit liegende, aber noch nicht abgeschlossene Tatsachen anknüpft (tatbestandliche Rückanknüpfung bzw. unechte Rückwirkung)47 oder nach seinem Regelungsinhalt die Vergangenheit so behandelt wird, als wäre die jetzige Rechtsvorschrift schon damals in Kraft gewesen (Rechtsfolgenrückbewirkung bzw. echte Rückwirkung).48 Beiden Rückwirkungsformen ist dabei trotz gewisser Unterschiede der wie auch immer geartete Vergangenheitsbezug gemeinsam. 49 Vergleicht man Vor- und Rückwirkung, können folgende Unterschiede bemerkt werden: Zunächst ist festzustellen, daß sich die Rückwirkung auf ein gültiges, die Vergangenheit berührendes Gesetz stützt. Nach herrschender Meinung kann ein rückwirkendes Gesetz seine Wirkungen erst ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens entfalten. 50 Im Vergleich dazu fehlt dem vorwirkenden Gesetz noch seine Verbindlichkeit,5\ weshalb es wiederum als wesentlich unsichere Handlungsgrundlage erscheint. Außerdem ist es, wie sich der Vorwirkungsdefinition entnehmen läßt, in seinen Auswirkungen gegenwartsbezogen. 52 Kloepfer faßt diesen Unterschied schlagwortartig folgendermaßen zusammen: "Die Rückwirkung fingiert die Verbindlichkeit eines Gesetzes in der Vergangenheit, die Vorwirkung fingiert die gegenwärtige Verbindlichkeit eines künftigen, in der Regel noch zu schaffenden Gesetzes."53 Während also bei der Rückwirkung eine in Kraft getretene Norm im nachhinein auf die Vergangenheit einwirkt, berücksichtigen die Behörden bei der Vorwirkung noch nicht in Kraft getretenes Neurecht bereits jetzt bei den von ihnen zu treffenden Verwaltungsentscheidungen. Allerdings sollte man nicht unterschlagen, daß der unechten Rückwirkung sowohl ein Vergangenheitsals auch Gegenwartsbezug anhaftet. Hier wirkt die jeweilige Norm nicht ex

47 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 534; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 12; BVerfGE 72, 200 (242). 48 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 533; Maurer, in: Isensee/Kirchhof III, § 60 Rz. 12; BVerfGE 72, 200 (242). 49 Kloepfer, Vorwirkung, S. 8; vgl. hierzu auch Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. Il. 50 Grisel, ZBL 1974 (Bd. 75), S. 233 ff. (249); Klein/Barbey, Bundesverfassungsgericht und Rückwirkung von Gesetzen, Fn. 6 zu § 10, S. 102. 51 Kloepfer, Vorwirkung, S. 9; Thommen, Vorwirkung, S. 20; Grisel, ZBL 1974 (Bd. 75), S. 233 ff. (249 f.); Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (172). 52 Kloepfer, Vorwirkung, S. 9; Grisel, ZBL 1974 (Bd. 75), S.233 ff. (249); ähnlich Thommen, Vorwirkung S. 20. 53 Kloepfer, Vorwirkung, S. 9.

22

A. Einführung

tunc, sondern ex nunc auf einen bereits in der Vergangenheit begonnenen Sachverhalt rur die Zukunft ein. 54 Weiterhin ist der Aspekt des Vertrauensschutzes bei den beiden Wirkungsarten unterschiedlich ausgerichtet: Bei den rückwirkenden Gesetzen wird auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage vertraut. 55 Demgegenüber ist das Vertrauen bei der Vorwirkung zukunftsorientiert. 56 Dort trifft man schon jetzt gewisse Entscheidungen in Erwartung des Inkrafttretens der werdenden Norm. Letztlich bleibt hervorzuheben, daß der Gesetzgeber beim Erlaß rückwirkender Gesetze häufig vom Ziel eines "Überraschungseffekts" geleitet wird, um so einer mißbräuchlichen Ausnutzung der noch bestehenden Rechtslage zuvorzukommen. Auf diese Weise kann er einer unter Umständen geringen Normakzeptanz des Neurechts, die vor allem bei belastenden Gesetzen aktuell wird, entgegenwirken. 57 Im Gegensatz dazu würde die Anerkennung einer Vorwirkung von Gesetzen die Akzeptanz des künftigen Rechts erhöhen, so daß der Griff des Gesetzgebers zu etwaigen "Überraschungseffekten" weitgehend unnötig würde. Ist demnach die Vorwirkung gerade nicht das Spiegelbild der Rückwirkung, kann dennoch eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden nicht geleugnet werden: Beispielsweise kann am Ende der Vorwirkung eine verbindliche rückwirkende Norm stehen. Dies läßt sich damit erklären, daß sich bei beiden Wirkungsarten die von ihnen erfaßten Zeiträume "überlappen" können. 58 Sobald nämlich die gegenwärtigen Wirkungen einer werdenden Norm derart fortgeschritten sind, daß die von ihr Betroffenen mit einer Rechtsänderung rechnen müssen, ist ihr Vertrauen auf den Bestand der bisherigen Rechtslage nicht mehr schützenswert. 59 Aufgrund dessen ist der Gesetzgeber berechtigt, der erst später in Kraft tretenden Norm eine Rückwirkung beizumessen. Kloepfer spricht daher die Möglichkeit einer "Vorwirkung der Rückwirkung" sowie einer "Rückwirkung der Vorwirkung" an. Mit dem er14

Kloepfer, Vorwirkung, S. 8; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 531.

Schneider, Gesetzgebung, Rz. 539; BVerfGE 13, 261 (271); 15, 313 (324); 88, 384 (403). 16 Kloepfer, Vorwirkung, S. 224; in diese Richtung Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 34. 17 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 540; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 39; Jekewitz, NJW 1990,3114 ff. (3115); BVerfGE 72, 200 (261). 18 Kloepfer, Vorwirkung, S. 9; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 34; Häberle, ZfP 1974, 111 ff. (131); BGE 100 Ia 147 ff. = Imboden/Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 108 ff. (111); Thommen, Vorwirkung, S. 24. 19 Maurer, in: Isensee / Kirchhof 111, § 60 Rz. 32 - 34; BVerfGE 72, 200 (260); 88, 384 (404); 30,367 (387). 11

IV. Das Verhältnis der einzelnen Wirkungsarten zueinander

23

steren will er die Vorwirkung künftiger Normen, die sich Rückwirkung beilegen werden, bezeichnen. 60 Demgegenüber soll mit der "Rückwirkung der Vorwirkung" ausgedrückt werden, daß im Rahmen der Vorwirkung bereits jetzt ein künftig rückwirkendes Gesetz, dessen Rückwirkung über den Vorwirkungsbeginn hinausreicht, angewendet wird. 61 Vor dem Trugschluß einer vollständigen Deckung von Vor- und Rückwirkung sei aber gewarnt. Denn zum einen ist offen, ob der von der Rück- und Vorwirkung erfaßte Zeitraum stets identisch ist. Zum anderen könnte eine Vorwirkung auch dann anzunehmen sein, wenn die künftige Norm nicht rückwirkend bzw. später überhaupt nicht in Kraft tritt. 62 Viel wichtiger ist es aber, gewisse rechtliche Ähnlichkeiten der Vor- und Rückwirkung zu betonen. Eine solche Ähnlichkeit wird vor allem in der mit beiden Wirkungsarten verbundenen Rechtsunsicherheit erblickt. 63 Hierfür ist maßgeblich, daß sich beide Wirkungsarten durch die Kollision zweier Rechtslagen auszeichnen: Eine rückwirkende Norm wirkt nachträglich auf die Vergangenheit ein. Demgegenüber stellt sich bei der Vorwirkung die Frage, inwieweit eine künftige Norm die bestehende Rechtslage beeinflussen kann. 64 Damit wird sowohl bei der echten Rückwirkung als auch bei der Vorwirkung der Grundsatz, daß eine Norm erst fiir die Zeit nach ihrem Inkrafttreten Wirkungen im Blick auf die Zukunft entfalten kann, durchbrochen. 65 Kloepfer meint hierzu, in beiden Fällen habe das Kriterium der Rechtssicherheit dem Interesse an materieller Gerechtigkeit zu weichen. 66 Ob aus diesen Ähnlichkeiten gewisse Konsequenzen entnommen werden können, kann unter Umständen bei der später vorzunehmenden Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Vorwirkungen relevant werden.

IV. Das Verhältnis der einzelnen Wirkungsarten zueinander Wenn man Normal-, Nach-, Rück- und Vorwirkung miteinander vergleicht, lassen sich folgende Verhältnisse der Wirkungen zueinander feststellen: Die obigen Wirkungen lassen sich in ein zeitliches Schema einordnen. Ein Gesetzesprojekt äußert zunächst Vorwirkungen. Ab seinem Inkrafttreten schließt sich die Normalwirkung (die auch die Rückwirkung umfaßt) an. 60

Kloepfer, Vorwirkung, S. 9.

61

Kloepfer, Vorwirkung, S. 10.

62

Kloepfer, Vorwirkung, S. 9 f.; Thommen, Vorwirkung, S. 24.

6)

Grisel. ZBL 1974 (Bd. 75), S. 233 ff. (249 f.).

64

Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 34.

65 66

Stern, Staatsrecht I, § 20, S. 831. Kloepfer, Vorwirkung, S. 96 f.

24

A. Einfuhrung

Wenn die Norm außer Kraft getreten ist, kann sie trotzdem noch etwaige Nachwirkungen entfalten. 67 Stellt man auf die Ursache der Wirkungen ab, kann man folgende Parallelen bemerken: Sowohl die Rück- als auch die Normalwirkung sind Ausfluß einer verbindlichen Norm. Demgegenüber beruhen etwaige Vor- und Nachwirkungen auf einer noch nicht bzw. nicht mehr verbindlichen Norm. 68 Oft soll mit letzteren der Übergang vom Alt- zum Neurecht möglichst fließend, also zur Vermeidung einer abrupten Rechtsänderung vom einen Tag auf den anderen ausgestaltet werden. Vor- und Nachwirkung gehören insoweit im Gegensatz zur Normal- und Rückwirkung dem Bereich des intertemporalen bzw. Übergangsrechts im weiteren Sinne an. 69

V. Arten der Vorwirkung Die Vorwirkungen noch nicht in Kraft getretener Normen lassen sich unterschiedlichen Erscheinungsformen zuordnen. Als solche sind anzufiihren: 1. Die positive Vorwirkung

Folge der Vorwirkung künftigen Rechts kann sein, daß Behörden eine Norm schon vor ihrem Inkrafttreten anwenden,70 d.h. sich so verhalten, als wäre diese bereits in vollem Umfang in Kraft. Dieser Vorgang wird in der Schweiz als positive Vorwirkung bezeichnet. 71 Manche Autoren wollen mit diesem Begriff nur die Voranwendung künftigen Rechts "unter dem Vorbehalt des Inkrafttretens"72 bzw.' "aufgrund einer im geltenden Recht enthaltenen Vorschrift"73 erfassen. Diese Einschränkungen dürften in engem Zusammenhang mit den Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer positiven Vor67

Kloepfer, Vorwirkung, S. 6; Thommen, Vorwirkung, S. 24.

68

Kloepfer, Vorwirkung, S. 6 und 9; Thommen, Vorwirkung, S. 24.

Weiss, Zeit, Zeitlichkeit und Recht, S. 53 f.; Thommen, Vorwirkung, S. 24. Übergangsrecht im weiteren Sinne, da unter dem Begriff des Übergangsrechts häufig nur in Kraft getretene Normen mit Übergangsbestimmungen verstanden werden. 70 Vgl. § 33 BauGB; Kloepfer, Vorwirkung, S. 94 ff.; Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 279; Thommen, Vorwirkung, S. 65; Siegrist, Die Bausperre, S. 49; Haller/ Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 335; Schindler, ZBL 93 (1992), S. 388 ff. (404); Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (172); Schürmann/Hänni, Planungsrecht, S. 258. 69

71 Vgl. Thommen, Vorwirkung, S.65; Siegrist, Die Bausperre, S.49; Haller/Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 335 usf. 72 So Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 280. 73

So BGer, in: Imboden / Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 111.

V. Arten der Vorwirkung

25

wirkung stehen. Da diese aber erst anschließend aufzuzeigen sind, wird hier vom weitesten Begriff ausgegangen. Die positive Vorwirkung ist also mit der Voranwendung noch nicht in Kraft getretenen Rechts gleichzusetzen. Fraglich ist jedoch, ob diese Umschreibung auch für die spezialgesetzlich vorgesehene positive Vorwirkung (vgl. Z.B. § 33 BauGB) paßt. Insofern wird ja eine Bestimmung des geltenden Rechts angewendet. Berücksichtigt man aber, daß hier Tatbestand und Rechtsfolge nicht allein an Hand der ermächtigenden Norm, sondern nur unter gleichzeitiger Heranziehung des Inhalts der noch nicht in Kraft getretenen Norm ermittelt werden können, erweisen sich derartige Bedenken als unberechtigt. Von einer Voranwendung künftigen Rechts läßt sich daher sowohl bei einer fehlenden als auch bestehenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage sprechen.

2. Die negative Vorwirkung Weiterhin kann eine Vorwirkung künftigen Rechts darin gesehen werden, daß von einer Behörde wegen der erwarteten Neuregelung "die Anwendung des geltenden Rechts bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts ausgesetzt wird".74 Dies wird in der Schweiz als sogenannte negative Vorwirkung umschrieben. 75 Siegrist meint hierzu, diese Beschreibung sei ungenau. Nehme man die Begriffe "Aussetzung", "Ausschaltung" oder "Nichtanwendbarkeit des geltenden Rechts" wörtlich, könnte man meinen, die bisherigen Rechtsnormen würden bei der negativen Vorwirkung außer Kraft gesetzt. 76 Es ließe sich jedoch auch vorstellen, daß bei der negativen Vorwirkung neben das bestehende Recht eine Art zusätzliches Tatbestandsmerkmal, das im Zusammenhang mit den Wirkungen des künftigen Rechts steht, tritt. 77 Ist man sich dieser Problematik bewußt, kann sehr wohl an obigen Definitionen festgehalten werden. Diese beschreiben eben eine Verhaltensweise der Behörden in Anbetracht einer Rechtsänderung, ohne jegliche Stellungnahme dazu, was mit dem bis dahin geltenden Recht geschieht. Selbst wenn eine Vorschrift im geltenden Recht die Verwaltung zu einer negativen Vorwirkung ermächtigt, bleiben diese Definitionen stimmig, sofern man sich vergegenwärtigt, daß 74 Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 280; Knapp, Grundlagen I, Rz. 567; Grisel, Traite I, S. 151; Haller / Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 335; Bianchi, ZBL 88 (1987), S. 396 ff. (399); Thommen, Vorwirkung, S. 65; Fleiner-Gerster, Leitfaden, S. 126; Moor, Droit administratif, S. 181; BGer, in: Imboden/Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 109; Schürmann / Hänni, Planungsrecht, S. 258; Häner, Repetitorium zum Allgemeinen Verwaltungsrecht, Frage 39, S. 31; Kloepfer, Vorwirkung, S. 56 ff., spricht insoweit von "Abwarten künftigen Rechts". 75 Vgl. Fn. 74 mit Ausnahme von Kloepfer. 76 Siegrist, Die Bausperre, S. 51 ff. 77

Siegrist, Die Bausperre, S. 52 f.

26

A. Einführung

auch hier andere als bis zum Zeitpunkt der Vorwirkung künftigen Rechts ergangene Verwaltungsentscheide getroffen werden. Mit dem Begriff der negativen Vorwirkung soll demnach ausgedrückt werden, daß gewisse Verwaltungsentscheidungen in Erwartung einer Rechtsänderung zunächst nicht getroffen oder abgelehnt werden. Im übrigen sei kurz auf das Verhältnis zwischen der positiven und negativen Vorwirkung eingegangen. Grundsätzlich könnte man daran denken, daß die negative Vorwirkung als "Nichtanwendung" im Vergleich zur Voranwendung weniger weit reicht. Diese Folgerung ist, was künftige, den Bürger begünstigende Normen anbetrifft, richtig. Ermöglicht die positive Vorwirkung, daß bereits jetzt ein Vorhaben allein wegen seiner Vereinbarkeit mit dem künftigen Recht in die Wege geleitet werden kann, bewirkt die negative Vorwirkung höchstens, daß im Vorwirkungszeitraum keine oder eine ablehnende Verwaltungsentscheidung ergeht. Dies ist dadurch bedingt, daß die negative Vorwirkung im Gegensatz zur positiven nicht vorzeitig das Inkraftstehen des künftigen Rechts fingiert. Bei einer den Bürger belastenden künftigen Rechtsänderung ist dagegen die Abgrenzung der positiven von der negativen Vorwirkung weitaus schwieriger. Die Vorwegnahme einer belastenden werdenden Norm kann zur Ablehnung eines Gesuches führen. Das gleiche Resultat kann aber auch dadurch erzielt werden, daß die Behörden eine Verwaltungsentscheidung wegen dem baldigen Inkrafttreten einer Rechtsänderung vorläufig nicht treffen oder ablehnen. Angesichts derselben Rechtsfolge ist es deshalb zumindest aus der Perspektive des Betroffenen - abgesehen von der Begründung der jeweiligen Verwaltungsentscheidung - kaum möglich, die beiden Vorwirkungsformen zu unterscheiden. Primär ist hier die Abgrenzung unter dem Blickwinkel der Art und Weise des Behördenvorgehens vorzunehmen. Bei der negativen Vorwirkung stellt sich das fehlende Inkraftstehen der Rechtsänderung als eine für den Rechtsanwender nicht zu überwindende Hürde dar; er ist nicht bereit, das Neurecht vor diesem Zeitpunkt anzuwenden. 78 Der Inhalt des werdenden Rechts ist für ihn nur für die Feststellung, ob eine Rechtsänderung seinen Entscheidungsbereich tangiert, interessant. Bei der positiven Vorwirkung wird dagegen diese Hürde überschritten, indem man Tatbestand und Rechtsfolge der künftigen Norm antizipiert. 79 Dieser soeben ausgearbeitete Unterschied dürfte sich bei einer gesetzlich angeordneten Vorwirkung folgendermaßen widerspiegeln: Bei der negativen Vorwirkung können die Behörden aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung die von ihnen zu treffenden Verwaltungsentscheidungen wegen einer Rechtsänderung ablehnen oder hinausschieben. Das Vorliegen einer Rechtsänderung ist hier ein reines Tatbestandsmerlanal, ohne daß deren künftiger Inhalt vorweggenommen 78

Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (661).

79

Kloepfer, DÖV 1973, 657 ff. (661).

V. Arten der Vorwirkung

27

wird. Demgegenüber enthält die spezial gesetzlich angeordnete positive Vorwirkung eine Verweisung auf das Neurecht, nach der die Behörden ihren Entscheidungen Tatbestand und Rechtsfolgen des künftigen Rechts zugrunde zu legen haben. Die Voranwendung ist somit im Gegensatz zur negativen Vorwirkung oft in der Lage, die mit dem Neurecht verfolgten Intentionen schneller in die Tat umzusetzen. 80 Andererseits besteht bei ihr aber auch die Gefahr, daß die im voraus angewendete Norm mit der letztlich in Kraft getretenen nicht identisch ist. Da die positive Vorwirkung Tatbestand und Rechtsfolgen einer künftigen Norm vorwegnimmt, kommt sie nur dann in Betracht, wenn das künftige Recht einigermaßen feste Konturen angenommen hat. Demgegenüber kann man sich ohne weiteres vorstellen, daß bei der negativen Vorwirkung keine bzw. weniger hohe Anforderungen an die Konkretisierung des künftigen Rechts zu stellen sind und sie daher zeitlich vor dem Beginn der positiven Vorwirkung einsetzen kann. Ob sich die beiden Vorwirkungsformen auch durch unterschiedliche Zwecke voneinander abgrenzen lassen, soll zunächst offen bleiben. Kloepfer ist jedenfalls der Ansicht, daß positive und negative Vorwirkung auf denselben Motiven basieren können. 81 In der Schweiz wird dagegen die negative Vorwirkung zumeist auf das Ziel der Verhinderung einer negativen Präjudizierung der Verhältnisse, also daß keine dem künftigen Recht widersprechenden Situationen geschaffen werden sollen, beschränkt. 82 Nach all dem ist beim Behördenvorgehen sorgfaltigst zu differenzieren, ob allein das künftige Recht vorangewendet wird (= positive Vorwirkung) oder lediglich bestimmte Verwaltungsentscheidungen in Anbetracht einer baldigen Rechtsänderung vorläufig nicht getroffen oder abgelehnt werden (= negative Vorwirkung).83

80

Kloepfer, DÖV 1973, 657 ff. (662).

Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (661). So z.B. Thommen, Vorwirkung, S. 63; VG Zürich, in: Imboden, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung I, S. 159 f. 83 Siegrist, Die Bausperre, S. 57, verkennt diesen Unterschied, wenn er meint, bei der negativen Vorwirkung müsse ein Bauvorhaben sowohl dem bestehenden als auch dem künftigen Recht entsprechen. Bei einer derartigen Sichtweise wäre eine positive Vorwirkung gegeben (ebenso Moor, Droit adrninistratif, S. 182). RI

82

28

A. Einfiihrung

3. Die Rechtsverzögerung 84

In der schweizerischen Literatur und Rechtsprechung wird oft von einer Rechtsverzögerung gesprochen, wenn die mit der Rechtsanwendung befaßten Organe die von ihnen zu treffende Verwaltungsentscheidung in Erwartung einer Rechtsänderung hinauszögern. 85 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß diese Beschreibung des· Behördenvorgehens mit deIjenigen der negativen Vorwirkung identisch ist. Denn auch hier wird eine bestimmte Verwaltungsentscheidung in Erwartung einer Rechtsänderung nicht getroffen. 86 Deshalb fragt sich, ob der Rechtsverzögerung neben der negativen Vorwirkung überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommt. Dies wäre zu bejahen, wenn sich irgendein Unterschied zwischen diesen beiden Vorwirkungsformen feststellen ließe. Insofern kann man beobachten, daß in der Schweiz die Rechtsverzögerung zumeist dann erörtert wird, wenn die negative Vorwirkung offensichtlich an dem für ihre Rechtmäßigkeit notwendig gehaltenen Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage scheitern würde. 87 Diesbezüglich drängt sich aber die Frage auf, warum die unzulässige negative Vorwirkung nochmals unter einem anderen Begriff in die Diskussion treten soll. Folglich ist nach anderen Unterscheidungskriterien zu suchen. Zunächst könnte man an eine anders geartete innere Einstellung des Rechtsanwenders bei der negativen Vorwirkung und der Rechtsverzögerung denken. 88 So ließe sich der Satz aufstellen, bei der Rechtsverzögerung würde das Treffen der Entscheidung von der Verwaltung absichtlich hinausgeschoben, ohne daß dies n.ach außen in Erscheinung treten soll. Demgegenüber komme es bei der negativen Vorwirkung auf eine derartige "Tarnung" nicht an. Hiergegen spricht jedoch, daß sowohl die deutsche als auch die schweize84 Die Rechtsverzögerung erfaßt im Grunde sämtliche Fälle, in denen von der Verwaltung oder Rechtsprechung eine Entscheidung nicht rechtzeitig getroffen wird. Da sich diese Arbeit aber auf die Vorwirkung von Gesetzen beschränkt, soll der Begriff der Rechtsverzögerung auch nur diese Situation erfassen! 85 Vgl. hierzu Bianchi, ZBL 88 (1987), S. 396 ff. (398 f.); BGE 110 Ib 332 ff.; 107 Ib 133 ff.; die Urteile des BGH, BRS 53, Nr. 45, S. 176 ff.; Nr. 46, S. 178 f.; Nr. 66, S. 236 ff., sowie in NVwZ 1994, 405 ff. belegen, daß diese Vorwirkungsforrn auch in Deutschland durchaus häufiger vorkommt. 86 Kloepfer, Vorwirkung, S. 56 ff., spricht auch hier wie bei der negativen Vorwirkung vorn "Abwarten auf künftiges Recht". 87 BGer, in: Pra 64 (1975), Nr. 212; BGE 110 Ib 332 (336 f.). 88 In ähnlicher Weise wird in der Schweiz zwischen einer Rechtsverweigerung und -verzögerung differenziert. Kennzeichnend fiir die Rechtsverweigerung ist, daß die jeweilige Behörde die Entscheidung ausdrücklich ablehnt oder stillschweigend unterläßt. Im Gegensatz dazu gibt die Behörde bei der Rechtsverzögerung zu erkennen, daß sie sich mit der Gesuchsbehandlung befassen will, zögert diese aber über Gebühr hinaus. Vgl. dazu Müller, in: Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. I, Art. 4 Rz. 89,92.

V. Arten der Vorwirkung

29

rische Rechtsprechung die subjektive Einstellung des Handelnden bei der Rechtsverzögerung 89 nicht berücksichtigen. In der Schweiz wird dies damit begründet, daß der Antragsteller bei einem Abstellen auf subjektive Elemente zum Beispiel auch die Folgen einer bloß ungenügend personellen Besetzung einer Behörde zu tragen hätte. 9o Für den Rechtssuchenden sei allein die nicht rechtzeitige Entscheidung der Behörde unabhängig von den hierfur maßgeblichen Umständen ausschlaggebend. 9 \ Für das Bundesverfassungsgericht folgt dies in einer Entscheidung daraus, daß die Rechtsverzögerung am Willkürverbot des Art. 3 I GG gemessen wird. Dieses enthält aber keinen subjektiven Schuldvorwurf, sondern muß objektiv verstanden werden. 92 Dadurch soll einerseits die Entfachung weiteren Zündfeuers in politisch umstrittenen Angelegenheiten vermieden werden. Andererseits möchte man dem Bürger eine Durchsetzung verfassungsrechtlicher Positionen ermöglichen, selbst wenn das jeweilige Staatsorgan keinen Schuldvorwurf trifft. 93 Gegen eine generelle Berücksichtigung subjektiver Elemente spricht zudem, daß sich die innere Einstellung des Handelnden oft nur mit größten Schwierigkeiten nachweisen läßt. Verzögerungsabsicht und Nichtanwendungswille dürften fließend ineinander übergehen. Daher stellt das subjektive Element kein taugliches Abgrenzungskriterium dar. 94 Am Rande sei aber erwähnt, daß der von einer Rechtsverzögerung Betroffene in Deutschland einen Anspruch aus Amtshaftung (Art. 34 GG, § 839 BGB) nur bei Verschulden geltend machen kann. Die negative Vorwirkung könnte sich von der Rechtsverzögerung auch in zeitlicher Hinsicht unterscheiden. Der jeweilige Rechtsanwender wird um so eher zu einer Verzögerungstaktik neigen, als das Inkrafttreten des neuen Rechtes nicht mehr allzu lange auf sich warten läßt. Bei der negativen Vor89

Jetzt nicht beschränkt auf das Feld der Vorwirkung!

Kö/z, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (208); Knapp, Grundlagen I, Rz. 633; L. Meyer, Das Rechtsverzögerungsverbot nach Art. 4 BV, S. 13 f.; BGE 103 V 190 (198); in diese Richtung: Haejliger, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 117 f.; Müller, in: Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft I, Art. 4 Rz. 93. 91 BGE 103 V 190 (195). 90

92 Vgl. BVerfDE 69, 161 (169); 42, 64 (73); 4, 144 (155), wobei alle Entscheidungen aber keine Verzögerung wegen Inkrafttretens einer Rechtsänderung zum Gegenstand haben. Bu//inger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren für eilbedürftige Vorhaben, S. 34, ist jedoch der Ansicht, daß das Bundesverfassungsgericht eher die individuell vorwerfbaren als lediglich objektiv nicht zu rechtfertigenden Verzögerungen meint. Dies ist jedoch kaum mit BVerfDE 69, 161 (J 73) zu vereinbaren, in der geprüft wird, ob die Rechtsverzögerung durch einen vernünftigen, sich aus der Sache ergebenden und damit von der inneren Einstellung des Rechtsanwenders unabhängigen Grund gerechtfertigt ist. 93 Herzog, in: Maunz / Dürig, Art. 3 Anh., Rz. 4. 94 Dementsprechend ist in der Schweiz die Zuordnung der Untätigkeit einer Behörde als Rechtsverweigerung oder -verzögerung letztlich belanglos. Haejliger, Alle Schweizer, S. 117; Müller, in: Kommentar zur BV I, Art. 4 Rz. 92; BGE 110 Ib 332 (336); in diese Richtung L. Meyer, Das Rechtsverzögerungsverbot, S. 3 f.

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A. Einführung

wirkung kann dagegen - man denke beispielsweise an die Bau- und Veränderungssperre - bis zum Inkrafttreten des künftigen Rechts ein längerer Zeitraum vergehen. Dieser Differenzierung kann aber entgegengehalten werden, daß sich vor allem bei einer Beteiligung mehrerer Behörden an der Entscheidungsfindung die Rechtsverzögerung durchaus über einen längeren Zeitraum erstrecken kann. Zudem wäre eine eindeutige Grenzziehung zwischen der negativen Vorwirkung und der Rechtsverzögerung allein an Hand des Zeitmoments kaum möglich. Aus diesen Gründen wird hier auf die Rechtsverzögerung als eigenständige Vorwirkungsfonn neben der negativen Vorwirkung verzichtet. Festzuhalten bleibt aber, daß das eben erörterte Zeitmoment bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der negativen Vorwirkung unter Umständen durchaus eine Rolle spielen kann. 4. Die Vorberücksichtigung Das künftige Recht könnte außerdem die Anwendung des bestehenden Rechts beeinflussen. So ist es denkbar, daß sich die Behörden bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe oder ihrer Ennessenshandhabung vom Inhalt erst werdender Gesetze leiten lassen. 95 Dieser Vorgang soll in Anlehnung an Kloepfer96 als Vorberücksichtigung bezeichnet werden. Die Abgrenzung der Vorberücksichtigung zur Voranwendung (positive Vorwirkung) kann in Grenzfällen, in denen beide Vorwirkungsfonnen zum gleichen Ergebnis ruhren, rur einen Außenstehenden abgesehen von der Begründung der Behördenentscheidung problematisch werden. Entscheidender Abgrenzungsfaktor ist auch hier nicht der Inhalt der Verwaltungsentscheidung, sondern Art und Weise des Behördenvorgehens. Als Faustregel sollte man diesbezüglich festhalten: Die Vorberücksichtigung hält sich im Rahmen des Altrechts. Die Voranwendung setzt sich, sofern sie nicht gesetzlich vorgesehen ist (z.B. bei § 33 BauGB), darüber hinweg. Kloepfer beschreibt dies folgendennaßen: "Die Voranwendung ist also stets eine (völlige oder partielle, gebotene oder freiwillige) Anwendung künftigen Rechts als bereits jetzt maßgebliche Rechtsgrundlage. Anders die Vorberücksichtigung. Bei ihr bleibt das jeweils geltende Altrecht verbindliche Rechtsgrundlage, nur seine Auslegung und Handhabung orientiert sich auch an künftigen Gesetzen.,,97 Aus der Perspektive des Rechtsanwenders dürfte die Voranwendung 95 Kloepfer, VOIwirkung, S. 161, und DÖV 1973, 657 ff. (663); Thommen, VOIwirkung, S. 64 f.; Häberle, Öffentliches Interesse, S. 487 f.; Grisel, Traite I, S. 151; Kölz, ZSR NF 10211 (1983), S. 101 ff. (173 f.); Moor, Droit administratif, S. 181; Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50; Derlei, Der Zeitfaktor, S. 72. 96 Kloepfer, Vorwirkung, S. 161 ff. 97 Kloepfer, Vorwirkung, S. 166.

V. Arten der Vorwirkung

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somit eher als Rechtsfortbildung, die Vorberücksichtigung dagegen als Rechtsfindung erscheinen. 98 Da sich die Vorberücksichtigung auf jeden Fall im Rahmen des Altrechts hält, dürfte sie im Vergleich zur gesetzlich nicht vorgesehenen positiven und negativen Vorwirkung unter rechtlichen Aspekten eher möglich sein. 99 Wird der Rechtsanwender wie bei § 33 BauGB durch eine Vorschrift im geltenden Recht zur Voranwendung des künftigen Rechts ermächtigt, setzt er sich eigentlich nicht über das bestehende Recht hinweg. Die Abgrenzung zur Vorberücksichtigung ist hier dadurch vorzunehmen, daß die Verwaltung bei der gesetzlich angeordneten positiven Vorwirkung durch eine Vorschrift im geltenden Recht ausdrücklich zur Voranwendung ermächtigt wird (Verweisung). Bei der Vorberücksichtigung fehlt dagegen im geltenden Recht eine ausdrückliche Ermächtigung zur Einbeziehung des künftigen Rechts. Das noch nicht in Kraft getretene Neurecht kann daher nur im Rahmen auslegungsfahiger Begriffe oder von Ermessensbestimmungen vorberücksichtigt werden. Insgesamt kann also festgestellt werden, daß eine Vorberücksichtigung nur innerhalb der durch das bestehende Recht vorgegebenen Grenzen möglich ist. Eine Einbeziehung des künftigen Rechts in die Entscheidungsfindung des Rechtsanwenders kommt beispielsweise nicht in Betracht, soweit dies mit dem Wortlaut des Altrechts nicht zu vereinbaren ist. 1oo Die Vorberücksichtigung dürfte außerdem vorwiegend bei der Beurteilung konkreter Einzelfalle aktuell werden,101 so daß sie weniger politisch motiviert erscheint. 102 Demgegenüber ist die positive Vorwirkung, sei es, weil sie gesetzlich vorgesehen ist oder häufig auf eine Anordnung der Regierung hin 103 erfolgt, mehr generell-abstrakt. Auch ist zu vermuten, daß der Rechtsanwender bei der positiven Vorwirkung weitaus mehr als bei der Vorberücksichtigung in die Zukunft greift.

98

Kloepfer, Vorwirkung, S. 162.

99

Kloepfer, Vorwirkung, S. 180; Thommen, Vorwirkung, S. 64.

100 101

Kloepfer, Vorwirkung, S. 167; ähnlich Moor, Droit administratif, S. 181. Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (663).

102 In diese Richtung Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (663). Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Funktionen zwischen Regierung und Verwaltung. Vgl. hierzu auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rz. 536. 103 Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (663).

32

A. Einfiihrung

5. Die Vorbereitung künftiger Normanwendung Eine Vorwirkung künftigen Rechts kann auch darin erblickt werden, daß die mit dem Normvollzug betrauten Organe vorzeitig Maßnahmen einleiten, damit das künftige Recht ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens vollzieh bar ist. Derartige Umstellungsaktionen findet man in sämtlichen Bereichen, also bei der Exekutive, Judikative, der Industrie und dem Bürger vor. Da sich diese Arbeit auf den Verwaltungsbereich beschränkt, soll vor allem hierauf näher eingegangen werden: Beispielsweise ist erforderlich, daß sich die Behördenangestellten schon frühzeitig mit der Handhabung des neuen Rechts vertraut machen. Das Inkrafttreten des neuen Gesetzes kann auch vorherige organisatorische Umstellungsmaßnahmen - man denke etwa an die Schaffung neuer Behördenabteilungen - auslösen. Die Verwirklichung des neuen Rechts ab dem Tage seines Inkrafttretens dürfte oft davon abhängen, daß nach der Bereitstellung von entsprechenden Haushaltsmitteln die zu seiner Verwirklichung erforderlichen Sachmittel, wie beispielsweise neue Verkehrsschilder, rechtzeitig angeschafft und gegebenenfalls installiert werden. Ebenso kann die Vorwirkung eines Gesetzes den Erlaß normkonkretisierender Vorschriften bedingen. Ein neues Gesetz mit Verordnungs ermächtigung kann seinen Zweck grundsätzlich nur dann erreichen, wenn bis zu seinem Inkrafttreten die hierfür notwendige Verordnung ausgearbeitet wurde. Gleichfalls kann der Erlaß von Verwaltungsvorschriften zum Zwecke der Normkonkretisierung erforderlich werden. 104 All diese Maßnahmen werden unter dem Begriff der "Vorbereitung künftiger Normanwendung" zusammengefaßt. \05 Die Vorbereitung künftiger Normanwendung ist ebenso wie die positive Vorwirkung vom Inhalt der künftigen Norm abhängig. Bei der positiven Vorwirkung werden die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der werdenden Norm antizipiert. Die Vorbereitung künftiger Normanwendung ist nur erfolgreich, wenn gerade diejenigen Maßnahmen, die für eine spätere Realisierung des Norminhalts unerläßlich sind, getroffen werden. Diese Maßnahmen sind dabei je nach Inhalt der künftigen Norm verschieden. Positive Vorwirkung und Normvorbereitung unterscheiden sich dadurch, daß bei der Voranwendung der Norminhalt direkt umgesetzt wird. Die Vorbereitung künftiger Normanwendung nimmt dagegen nicht die Rechtsfolgen der werdenden Norm vorweg. Vielmehr schafft sie nur die Voraussetzungen, damit das künftige Recht 104 Vgl. hierzu BVerfGE 47, 85 (97); Grisel, Traite I, S. 151; Kloepfer, Vorwirkung, S. 51 ff., und DÖV 1973, 657 ff. (660 f.); Oertel, Der Zeitfaktor, S. 17 f.; Hw. Müller, Handbuch der Gesetzgebungstechnik, S. 186, 252; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 523; Püttner, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 48 f.; Rehbinder, Einfiihrung in die Rechtswissenschaft, S. 182; Thommen, Vorwirkung, S. 39, 57, 61. 105 Kloepfer, Vorwirkung, S. 51 ff., spricht von Vorbereitung zur Anwendung künftiger Gesetze.

V. Arten der Vorwirkung

33

ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens vollziehbar ist. Die zu treffenden Vorbereitungsmaßnahmen sind mit dem Inhalt der werdenden Norm nicht identisch, sondern werden nur an Hand von diesem ermittelt. Der Inhalt der künftigen Norm ist damit für die positive Vorwirkung unmittelbar, für die Vorbereitung der Normanwendung nur mittelbar von Belang. Von der negativen Vorwirkung läßt sich die Vorbereitung künftiger Normanwendung ohne Schwierigkeiten abgrenzen. Art und Weise des Behördenvorgehens sind bei bei den Vorwirkungsformen unterschiedlich. Bei der Vorbereitung künftiger Normanwendung hat die Verwaltung die notwendigen organisatorischen, personellen, technischen und rechtssetzenden Umstellungsmaßmahmen bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts zu treffen. Bei der negativen Vorwirkung werden demgegenüber Verwaltungsentscheidungen in Erwartung einer Rechtsänderung vorläufig abgelehnt oder hinausgezögert.

6. Rechtliche und faktische Vorwirkungen Ebenso könnte man daran denken, die möglichen Vorwirkungen in solche rechtlicher und faktischer Art zu unterteilen. I06 Dabei muß man sich im klaren sein, daß nach herrschender Meinung eine Norm vor ihrem Inkrafttreten noch gar keine rechtlichen Wirkungen zu äußern vermag. I07 Da die Richtigkeit dieser Ansicht im folgenden geklärt werden soll, können diese Vorwirkungstypen erst im Laufe dieser Arbeit angesprochen werden. Vermerkt sei nur, daß eine rechtliche Vorwirkung lediglich dann gegeben wäre, wenn eine werdende Norm trotz fehlenden Inkrafttretens rechtliche Wirkungen äußern soll. Ansonsten sind die Vorwirkungen rein faktischer Natur.

7. "Normale" Vorwirkung, ausdrücklich angeordnete Vorwirkung sowie Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht Nach Marcelle Thommen, die sich ohne weiteres der unter f) genannten herrschenden Meinung anschließt, sollen zumindest rechtliche Vorwirkungen in einem weiteren Sinne vorliegen, wenn einer "künftigen Norm von einer

106

Thommen, Vorwirkung, S. 60.

BVerfGE 42, 263 (283): "Ein verkündetes, noch nicht in Kraft getretenes Gesetz ist zwar rechtlich existent, übt jedoch noch keine Wirkungen aus"; Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 GG Rz. 117. Aus diesem Grunde sind fiir Klot!pfer sämtliche Vorwirkungen faktischer Art; vgl. hierzu Vorwirkung, S. 233: "Es handelt sich freilich ,nur' um faktische Auswirkungen von werdendem Recht, da die Vorwirkungen selbst von dem - wenn überhaupt - erst danach in Kraft tretenden Gesetz naturgemäß nicht angeordnet werden können." 107

3 Guckelberger

34

A. Einfiihrung

bestehenden, höherrangigen Nonn Wirkungen verliehen" werden. !OB Dieser Satz kann im Grunde genommen auf zweierlei Weise verstanden werden: Einerseits könnte damit gemeint sein, daß eine künftige Nonn irgendwie im Zusammenhang mit dem geltenden Recht herangezogen wird. Als Beispiel hierfür kann die Vorberücksichtigung dienen, bei der das Altrecht unter anderem unter Heranziehung der künftigen Nonn ausgelegt wird. Des weiteren ließe sich vorstellen, daß die Behörden bereits jetzt einen Verwaltungsakt unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts erlassen. Andererseits könnte die obige Prämisse .aber auch ausdrücken, daß die Vorwirkung einer Nonn ausdrücklich im geltenden Recht angeordnet sein muß. Hierfür können beispielsweise die §§ 14, 15 BauGB, die die Verwaltung zu einer Ablehnung oder Zurückstellung von Baugesuchen in Erwartung einer Rechtsänderung ennächtigen, sowie § 33 BauGB, wonach die Behörden allein mit dem künftigen Recht übereinstimmende Bauvorhaben vorzeitig genehmigen können, genannt werden. Eine derartige Unterscheidung, ob die Vorwirkung auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage oder sonstige Bezüge im geltenden Recht zurückgeführt werden kann, könnte nützlich sein. Die Zuordnung der jeweiligen Vorwirkungsart kann hier ohne größere Schwierigkeiten vorgenommen werden. Auch macht es einen großen Unterschied, ob die Vorwirkung künftigen Rechts ausdrücklich oder im sonstigen gesetzlichen Rahmen vom Willen des Nonngebers gedeckt ist oder nicht. Aus diesem Grunde wird hier eine Differenzierung der Vorwirkungsfonnen je nach dem, ob sie ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist oder unter sonstiger Bezugnahme auf das geltende Recht erfolgt, vorgeschlagen. Kann die Vorwirkung nicht auf eine solche Basis zurückgeführt werden, wird in dieser Arbeit der Begriff der Vorwirkung ohne jegliche Zusätze verwendet. 8. Belastende und begünstigende Vorwirkung Weiterhin läßt sich die Vorwirkung entsprechend ihren Auswirkungen auf die Betroffenen in verschiedene Kategorien einteilen. So kann man zwischen einer begünstigenden und belastenden Vorwirkung sowie einer Kombination dieser beiden Fonnen differenzieren. 109 Diese Unterscheidung dürfte vor allem bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Vorwirkung aktuell werden. Da eine begünstigende Vorwirkung im Vergleich zur belastenden nicht in bestehende Rechte eingreift, dürfte sie im ganzen weniger problematisch sein. llo

lOK

Thommen, VOIwirkung, S. 60.

Thommen, Vorwirkung, S. 61; in diese Richtung Zimmerlin, ZSR NF 88 I (1969), S. 429 ff. (435 f.); Grisel. ZBL 75 (1974), S. 233 ff. (250). 109

110

Thommen, Vorwirkung, S. 61; Grisel. ZBL 1974 (Bd. 75), S. 233 ff. (250).

V. Arten der Vorwirkung

35

9. Echte und unechte Vorwirkung

Die Unterscheidung zwischen einer echten und unechten Vorwirkung geht auf Kloepfer zurück. 111 Wie sich aus der Benennung unschwer entnehmen läßt, wurde sie parallel zur echten und unechten Rückwirkung entwickelt. 112 Danach liegt eine echte Vorwirkung bei der Anwendung einer künftigen Nonn auf Sachverhalte, die voraussichtlich vor dem erwarteten Inkrafttreten der werdenden Nonn abgeschlossen sein werden, vor. Dagegen wäre die Vorwirkung unecht, wenn die ihr zugrunde liegenden Tatbestände im Zeitpunkt des Inkrafttretens der künftigen Nonn noch nicht vollendet sind. 1l3 Allerdings fragt es sich, ob die soeben dargestellte Unterscheidung wirklich berechtigt ist. Das Datum des Inkrafttretens wird für den Rechtsanwender bei noch nicht verkündeten neuen Nonnen häufig nicht exakt abzuschätzen sein. 114 Oft wird es auch reiner Zufall sein, ob der der Vorwirkung zugrundeliegende Sachverhalt kurz vor oder nach Inkrafttreten der Nonn abgeschlossen ist. Infolgedessen kann im Grunde erst im nachhinein beurteilt werden, welche Art von Vorwirkung gegeben ist. Weil die vorwirkende Nonn im Gegensatz zur rückwirkenden gerade noch nicht verbindlich ist, ist daher eine derartige Unterteilung unangebracht. 115

111

Kloepfer, Vorwirkung, S. 102 ff.; ihm folgend Thommen, Vorwirkung, S. 62.

112

Kloepfer, Vorwirkung, S. 102 f.; Thommen, Vorwirkung, S. 62.

Kloepfer, Vorwirkung, S. 103; Thommen, Vorwirkung, S. 62. 114 Der Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Nonn wird regelmäßig ab der Verkündung der jeweiligen Nonn feststehen. Wurde dieser in dem Bundesgesetz bzw. der Bundesrechtsverordnung nicht ausdrücklich geregelt, läßt sich dieser Art. 82 II 2 GG entnehmen. Für Landesgesetze, Gemeinde- und Kreissatzungen bestehen diesbezüglich in der Regel dem Art. 82 II GG entsprechende Vorschriften (vgl. hierzu Schneider, Gesetzgebung, Rz. 517). Im übrigen kann der Nonngeber das Inkrafttreten ausdrücklich regeln. Insofern zählt es zum Nonninhalt. Das Inkrafttreten steht daher oft ab dem Zeitpunkt des Nonnbeschlusses fest. Häufig wird aber neben dem Nonnbeschluß das Handeln eines weiteren Organes erforderlich sein (Zustimmung des Bundesrates, Satzungsgenehmigung). In diesem Fall bietet es sich an, das Inkraftreten von einer bestimmten Frist ab der Nonnverkündung abhängig zu machen (Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 118). Daher kann man als Faustregel aufstellen, daß der Zeitpunkt des Inkrafttretens regelmäßig ab der Verkündung bzw. Bekanntmachung einer Nonn feststeht. Es bleibt aber darauf hinzuweisen, daß es dem Nonngeber dennoch freisteht, den Zeitpunkt des Inkrafttretens später nochmals gesetzlich abzuändern (vgl. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 523; Hw. Müller, Gesetzgebungstechnik, S. 195). 115 So stellt Kloepfer, Vorwirkung, S. 8, selbst fest, daß die Vorwirkung gerade nicht das Spiegelbild zur Rückwirkung ist. 113

3'

36

A. Einführung

10. Direkte und indirekte Vorwirkung

In der Literatur findet man des weiteren die Unterteilung in eine direkte und indirekte Vorwirkung vor. 116 Auch hier ist die Terminologie wieder nicht eindeutig festgelegt. So weist Thommen auf folgende Verwendungen hin: Zunächst könne die Unterteilung direkt-indirekt im Hinblick auf die Betroffenheit von der künftigen Norm vorgenommen werden: Direkt sei die Vorwirkung gegenüber den von ihr unmittelbar Betroffenen; indirekt dagegen, wenn die Vorwirkung Dritte mittelbar berührt. 1I7 Diese Unterteilung läßt sich am besten an Hand eines Beispiels demonstrieren: Sieht die künftige Norm etwa vor, daß sämtliche neugebauten Autos mit Katalysator ausgestattet sein sollen, sind die Autohersteller von der Vorwirkung direkt betroffen. Indirekt wirkt die Norm aber auch auf die Autokäufer ein. Da sie ein möglichst zeitgemäß ausgestattetes Fahrzeug fahren wollen, wird die Nachfrage nach Autos mit Katalysator bereits vor Inkrafttreten der Norm steigen. 1I8 Eine direkte Vorwirkung liegt demnach immer gegenüber denjenigen Personen, die die Adressaten der künftigen Norm sein werden, vor. Gegenüber allen anderen ist sie indirekter Natur. Weiterhin könne von einer direkten Vorwirkung auf den Rechtsanwender und von einer indirekten auf den Bürger gesprochen werden. \19 Dem wird aber eine eigenständige Differenzierung nach den möglichen Adressaten einer Vorwirkung besser gerecht. Letztlich meint Marcelle Thommen, daß die Unterteilung direkte und indirekte Vorwirkung auch in funktionaler Hinsicht vorgenommen werden könne: Da eine Norm vor ihrem Inkrafttreten keine unmittelbaren rechtlichen Wirkungen äußere, lasse sich in den Fällen, in denen die Vorwirkung auf eine gesetzliche Anordnung zurückgehe, von einer indirekten rechtlichen Vorwirkung sprechen. 120 Diese Differenzierung wird aber bereits durch die Unterteilung in eine ausdrücklich angeordnete Vorwirkung und eine Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht vorgenommen. Daher soll sie nicht nochmals unter einem anderen Namen präsentiert werden. Allein maßgeblich rur die oben genannte Unterteilung ist damit, ob die von der Vorwirkung Betroffenen direkte Adressaten der späteren Norm sind oder von dieser nur mittelbar tangiert werden. 116

Thommen, Vorwirkung, S. 62.

117

Thommen, Vorwirkung, S. 62.

118 Ähnliches Beispiel bei Kloepfer, Vorwirkung, S. 216: Dieser verwendet hierfür die Bezeichnungen "Vorwirkung durch Adressatenverhalten" sowie "Vorwirkung durch Fremdverhalten" . 119 Thommen, Vorwirkung, S. 62. 120 Thommen, Vorwirkung, S. 62.

V. Arten der Vorwirkung

37

11. Differenzierung nach den von der Vorwirkung betroffenen Organen Bei der Vorwirkung kann auch je nach dem Kreis der von ihr betroffenen Organe differenziert werden. So ließe sich ohne weiteres eine Unterteilung in Vorwirkungen noch nicht in Kraft getretener Normen auf die Legislative, Exekutive, Judikative und den Bürger vornehmen. 121 Da sich die vorliegende Arbeit aber auf die Vorwirkung von Gesetzen im Verwaltungsbereich beschränkt, wird hier auf die anderen Bereiche nicht näher eingegangen. 12. Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: Als Hauptbereiche der Vorwirkung sind die sog. positive und negative Vorwirkung, die Vorberücksichtigung und die Vorbereitung künftiger Normanwendung zu nennen. Je nach Vorwirkungsart ist hier das Vorgehen der Exekutive verschieden. Aus diesem Grunde sollen sie im folgenden gesondert erörtert werden. Bei der Beurteilung, ob diese Vorwirkungsformen rechtmäßig sind, wird darauf zu achten sein, ob sie den Bürger begünstigen oder belasten. Ebenso dürfte in den einzelnen Bereichen von Bedeutung sein, ob die Vorwirkung ausdrücklich angeordnet, unter Bezugnahme auf das geltende Recht oder einfach so erfolgt.

121 Kloepfer, Vorwirkung, S. 33 ff., geht in seiner Monographie von dieser Unterteilung aus; Thommen, Vorwirkung, S. 37 ff.; nähere Ausfuhrungen zur Vorwirkung auf den Bürger finden sich bei W-R. Schenke. Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 127 ff.

B. Die positive Vorwirkung Die positive Vorwirkung zeichnet sich dadurch aus, daß die Behörden eine noch nicht in Kraft getretene Nonn im voraus anwenden. Es werden also Tatbestand und Rechtsfolgen einer erst werdenden Nonn antizipiert. Damit sich der Leser vorstellen kann, auf welche Weise eine derartige Voranwendung erfolgt, werden hier zunächst einige Fonnen der positiven Vorwirkung dargestellt. Anschließend soll die Rechtmäßigkeit einer solchen Vorgehensweise der Behörden geklärt werden. -

Fonnen der positiven Vorwirkung

Stellt man die Kategorien begünstigende und belastende, ausdrücklich angeordnete, auf das geltende Recht Bezug nehmende sowie nonnale Vorwirkung in die positive Vorwirkung ein, kann zwischen folgenden Fonnen der Voranwendung differenziert werden: begünstigende positive Vorwirkung, die ausdrücklich angeordnet ist Zunächst können die Behörden aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung eine erst werdende, den Bürger begünstigende Nonn im voraus anwenden. Als Beispiel hierfiir läßt sich § 33 BauGB nennen. Nach dieser Vorschrift kann dem Bürger eine Baugenehmigung für ein Vorhaben, das zwar nicht dem bisherigen, wohl aber dem künftigen Bebauungsplan entspricht, erteilt werden. begünstigende positive Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht Bei dieser positiven Vorwirkung wird eine noch nicht in Kraft getretene Nonn angewendet, ohne daß dies vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen ist. Dennoch stellen die Behörden irgendeinen Bezug zum geltenden Recht her. So wurden beispielsweise bei einer ausstehenden rückwirkenden Erhöhung der Beamtenbezüge die erhöhten Besoldungen bereits vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung ausbezahlt. Die Verwaltung ergänzte ihre Entscheidungen jedoch um einen Rückforderungsvorbehalt, so daß stets eine Angleichung der Bezüge an das letztlich maßgebliche Recht gesichert war.) Auch wäre vorstellbar, daß bereits jetzt eine Erlaubnis entI Vgl. Dürig, in: Festschrift zum 500-jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, S.42 f.; BVerwG, ZBR 1964,369 f.; OVG NW, ZBR 1977,230.

B. Die positive Vorwirkung

39

sprechend dem künftigen Recht erteilt wird, von der der Bürger wegen der Beifügung einer aufschiebenden Bedingung erst im Augenblick des Inkrafttretens des Neurechts Gebrauch machen kann. begünstigende positive Vorwirkung

Die Behörden können auch eine für den einzelnen günstige Rechtsnorm ohne jeglichen Bezug auf das geltende Recht im voraus anwenden. Als Beispiel hierfür seien die vorzeitige Gestattung verlängerter Öffnungszeiten für ein Vereinslokal wegen dem in Kürze in Kraft tretenden Neurecht, das eine Verlängerung der Öffnungszeiten vorsieht, 2 sowie der Verzicht auf die Erhebung von Studiengebühren unter Vorwegnahme einer erst noch in Kraft zu setzenden rückwirkenden Normänderung3 genannt. belastende positive Vorwirkung, die ausdrücklich angeordnet ist

Eine derartige positive Vorwirkung liegt vor, wenn die Behörden kraft Gesetzes ermächtigt sind, eine in bisherige Rechtspositionen eingreifende, noch nicht in Kraft getretene Norm anzuwenden. So könnte der Gesetzgeber etwa anordnen, daß die Behörden die Erteilung einer Baugenehmigung zu verweigern haben, wenn das mit bisherigem Recht vereinbare Baugesuch mit großer Wahrscheinlichkeit dem künftigen Bebauungsplan widerspricht. belastende positive Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht

Diese Vorwirkungsform zeichnet sich dadurch aus, daß die Behörden eine einen Eingriff beinhaltende künftige Norm im Zusammenhang mit einer sonstigen gesetzlichen Grundlage anwenden. Auf diese Weise könnte zum Beispiel eine Genehmigung unter einer Auflage erfolgen, deren Inhalt dem noch nicht in Kraft getretenen Neurecht entnommen ist. Demzufolge könnte die Genehmigung eines Tankstellenumbaus von einer Auflage abhängig gemacht werden, daß die Tankstellenzapfsäulen bereits jetzt mit einem Gasrückführungssystem auszustatten sind, obwohl die diese Anordnung vorsehende BImSchV noch gar nicht in Kraft ist. 4 Erst kürzlich mußte sich das OVG Nordrhein-Westfalen mit einem Fall befassen, in dem dem Betroffenen in einem Bescheid vom 13.12.1993 unter der Anordnung sofortiger Vollziehung aufgegeben wurde, ab 1.1.1994 - dem Zeitpunkt, in dem

2

Situation, die in BVR 1983, S. 225 ff. (230) angesprochen wird.

3

So ein vom VGH BW, DVBI. 1972, 186 ff. entschiedener Fall.

So ein vom VGH BW, VBIBW 1994, 23 ff. behandelter Fall, wobei aber wegen der für das Gericht bindenden zwischenzeitlichen Rechtsänderung offenbleiben konnte, ob die handelnde Behörde tatsächlich voranwendend tätig wurde. 4

40

B. Die positive Vorwirkung

die der Verwaltungsentscheidung zugrundeliegende Ermächtigungsnorm in Kraft trat - zwei Müllbehälter auf seinem Grundstück aufzustellen. 5 Ende 1994 lehnte die zweite Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Annahme einer Verfassungsbeschwerde ab, die sich gegen den Beitragsbescheid einer gesetzlichen Krankenkasse richtete. Diesem Bescheid lag ein lediglich ausgefertigtes Gesetz zugrunde; konkrete Wirkungen sollte er aber erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm äußem. 6 Weiterhin kann für diese Vorwirkungsform ein Entscheid des schweizerischen Bundesgerichts vom 20.8.1993 angeführt werden. Hier wurde den kantonalen Beamten vorzeitig aufgrund von Art. 113 des einschlägigen Beamtengesetzes, der die Behörden ganz allgemein zum Erlaß von Übergangsregelungen ermächtigt, kein Teuerungsausgleich mehr gewährt, weil das Inkrafttreten einer entsprechenden rückwirkenden Rechtsänderung unmittelbar bevorstand. 7 belastende positive Vorwirkung

Eine belastende positive Vorwirkung ohne jegliche Stütze im geltenden Recht könnte beispielsweise in der Ablehnung eines Gesuches allein wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem künftigen Recht gesehen werden.

I. Positive Vorwirkung ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung und ohne jegliche Stütze im geltenden Recht Bei dieser Vorwirkungsform wenden die Behörden ein noch nicht in Kraft getretenes Gesetz im voraus an, ohne daß hierfür eine ausdrückliche spezialgesetzliche Ermächtigung besteht. Auch wird nicht versucht, eine weitgehende Übereinstimmung mit der an sich maßgeblichen Rechtslage zu erzielen. Im Rahmen seiner Monographie gelangt Kloepfer zu dem Ergebnis, daß eine derartige Vorgehensweise der Behörden rechtens sei, wenn ein mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartendes Gesetz rückwirkend in Kraft treten soll. Ausnahmsweise könne jedoch von dem Rückwirkungserfordernis abgesehen werden, wenn die Voranwendung eines Gesetzes zur Ausfüllung einer Lücke im geltenden Recht notwendig ist, bei begünstigenden Gesetzen darüber hinaus unter der Voraussetzung, daß kein entgegenstehendes Altrecht besteht und die neue Norm nicht erst ab einem ganz bestimmten Zeitpunkt gelten solLS Daneben macht er den Griff der Behörden zur Voranwendung des künfOVG NW, DÖV 1995, 127 f. BVerfG, NZS 1995, 573 ff. (573). 7 BGE 119 Ia 254 ff. = Pra 1994, Nr. 52, S. 184 ff. B Kloepfer, Vorwirkung, S. 126 f., sowie DÖV 1973,657 ff. (663). 5

6

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

41

tigen Rechts von der Art des jeweiligen Gesetzes abhängig. Seiner Ansicht nach kommt eine derartige Vorgehensweise der Behörden vor allem bei Reformgesetzen, umfassenden Kodifikationen, einem Gesetz zur Verlängerung eines bestehenden Gesetzes oder zur Erfüllung von Verfassungsdirektiven, sehr selten bei Einzel- und Maßnahmegesetzen, bei Straf- und Zeitgesetzen überhaupt nicht in Betracht. 9 Inwieweit die Rechtsanwendungsorgane tatsächlich auf diese Weise voranwendend tätig werden, ist bis heute weitgehend unerforscht. Daß eine derartige Vorgehensweise existiert(e), läßt sich jedoch folgendermaßen belegen: Als historische Beispiele hierfür mögen der Corpus luris Fridericianum (C.J.F.) und das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (AGB) dienen. In bei den Fällen läßt sich nachweisen, daß die bei den Gesetze bereits geraume Zeit vor ihrem Inkrafttreten vollzogen wurden. 1O Als Beispiel neueren Datums läßt sich wohl das VwVfG nennen. R. Mußgnug berichtet hierzu, daß es von Theorie und Praxis lange Zeit vor seiner Verabschiedung "unter der Hand" in Kraft gesetzt wurde. 11 Auch sei nochmals an den unter Vorwegnahme einer erst noch in Kraft zu setzenden, rückwirkenden Normänderung erfolgenden Verzicht auf die Erhebung von Studiengebühren erinnert. 12 Ob eine derartige Vorgehensweise der Behörden mit unserem heutigen Rechtssystem vereinbar ist, soll nachstehend aufgezeigt werden. 1. Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Gewaltenteilung

(Inkrafttreten von Parlamentsgesetzen)

Für die positive Vorwirkung ohne gesetzliche Grundlage ist, wie bereits mehrfach erwähnt, kennzeichnend, daß die Behörden eine noch nicht in Kraft getretene Norm vollziehen. Diesem Vorgehen könnte zumindest bei förmlichen Gesetzen, solange sie noch nicht vom Normgeber verabschiedet sind, das Prinzip der Gewaltenteilung entgegenstehen. Sollte sich herausstellen, daß die Bestimmung des Zeitpunktes, ab wann ein förmliches Gesetz von den Rechtsanwendungsorganen anzuwenden ist, allein Sache des Parlamentsgesetzgebers ist, könnte ein voranwendendes Tätigwerden der Behörden als unzulässig ausscheiden. Die Rechtslage wäre dagegen unter Umständen anders 9

Kloepjer, Vorwirkung, S. 127 f.

Vgl. zu c.J.F. und AGB: Eckert, Die Entstehung der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten von 1793/95 - Zur Reform des preußischen Zivilprozesses am Ende des 18. Jahrhunderts. Vgl. zum C.J.F.: Grahl, Die Abschaffung der Advokatur unter Friedrich dem Großen, S. 118 f. 10

11 Mußgnug, in: Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, S.203 ff. (213). Dabei dürfte eine Voranwendung lediglich in Betracht kommen, sofern das Neurecht nicht mit den damals vorhandenen ungeschriebenen allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts identisch ist. S.a. Kloepjer, DÖV 1973,657 ff. (663).

12

VGH BW, DVBl. 1972, 186 ff.

42

B. Die positive Vorwirkung

zu beurteilen, wenn die Exekutive selbst bestimmen könnte, ab wann sie mit dem Vollzug eines fönnlichen Gesetzes beginnt. Hier ist aber immer noch zu bedenken, daß ein voranwendendes Tätigwerden der Exekutive die Entscheidungsfindung des Parlamentsgesetzgebers beeinträchtigen könnte. Von Interesse ist daher, ob die Exekutive den Zeitpunkt der Anwendbarkeit von Parlamentsgesetzen selbst bestimmen kann. Insoweit bietet sich zunächst ein Rückgriff auf die parallel gelegene Problematik der Inkraftsetzungsverordnungen - also der Frage, ob der Parlamentsgesetzgeber die Exekutive dazu ennächtigen darf, durch Erlaß einer Verordnung den Anwendungszeitpunkt eines Gesetzes zu bestimmen - an. Im Anschluß daran ist zu prüfen, ob nicht Besonderheiten der Voranwendung eine unterschiedliche Beurteilung rechtfertigen. In diesem Zusammenhang wird zugleich der Aspekt einer Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Parlamentsgesetzgebers angesprochen. Klarstellend sei noch hervorgehoben, daß im folgenden nicht auf das Hinwegsetzen der Behörden über eine vom Nonngeber getroffene Inkrafttretensbestimmung eingegangen wird. Dies soll später unter dem bei sämtlichen Nonnen aktuell werdenden Aspekt der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung behandelt werden. a) Inkrafttretensdelegation in der Schweiz

In der Schweiz soll grundsätzlich das Parlament selbst über den Zeitpunkt des Inkrafttretens seiner Rechtserlasse entscheiden. 13 Trifft es diesbezüglich keine Festsetzungen, kann der Bundesrat den Zeitpunkt ihrer Anwendbarkeit bestimmen. 14 Letzteres beruht darauf, daß in der Schweiz innerhalb von neunzig Tagen gegen den Gesetzesbeschluß ein Referendum eingeleitet werden kann. Damit ist das Entstehen eines noch nicht absehbaren Schwebezustands verbunden. Aus praktischen Erwägungen bietet es sich daher an, die Bestimmung des Inkrafttretens in die Hände der Exekutive zu legen. 15 Weiterhin wird geltend gemacht, daß das Inkrafttreten einer Vorschrift ohne entsprechende Vorbereitungsmaßnahmen der Verwaltung nicht sinnvoll sei. Da aber die Exekutive die fiir derartige Umstellungsaktionen notwendige Dauer am besten einschätzen kann, ist die Überlassung der Inkrafttretensbestimmung an sie nur sachgerecht. 16 Nach all dem steht also der Exekutive die Bestimmung, ab wann ein Rechtserlaß anzuwenden ist, grundsätzlich offen.

13

Züst, Veröffentlichung und Inkrafttreten von Rechtserlassen, S. 201, 203.

Grisel, Traite I, S. 144; Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 250; Moor, Droit administratif, S. 168; trifft auch der Bundesrat keine Festsetzung, tritt der Erlaß am fünften Tage nach seiner Veröffentlichung in Kraft. 15 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 502. 16 Moor, Droit administratif, S. 168; Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 250 f. 14

l. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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b) Inkrafttretensdelegation in Deutschland

Gemäß Art. 82 II I GG soll jedes Parlaments gesetz den Tag seines Inkrafttretens bestimmen. Falls eine derartige Festsetzung nicht getroffen wird, erlangt die Vorschrift am Ende des 14. Tages nach der Ausgabe des Bundesgesetzblattes ihre Rechtsverbindlichkeit (Art. 82 II 2 GG). Damit ist der Entscheid über den Zeitpunkt, ab wann ein förmliches Gesetz seine Wirkungen äußern soll, Sache des Parlaments. Es fragt sich jedoch, ob diese Bestimmung nicht mittels einer Ermächtigungsnorm an die Exekutive delegierbar ist (sog. Inkraftsetzungsverordnung Art. 80 I GG). Diesbezüglich ist festzustellen, daß sowohl unter der alten Reichsverfassung als auch in der Staatspraxis der Weimarer Zeit die Inkraftsetzung von Parlamentsgesetzen durch die Exekutive üblich war. 17 Seit Beginn des Grundgesetzes ist dagegen strittig, ob eine derartige Praxis mit der Verfassung zu vereinbaren ist. Eine wohl überwiegende Meinung verneint dies. 18 Als Argumente werden insoweit angeführt: Die Bestimmung des Inkrafttretens einer Vorschrift gehört zum Gesetzesinhalt. Da für diesen aber allein der demokratische Gesetzgeber zuständig sei, müsse man eine Delegation der Inkraftsetzung an die Exekutive ablehnen. 19 Zudem wird darauf verwiesen, daß das Parlament bei den Inkraftsetzungsverordnungen das "Ob-überhaupt" der Umsetzung eines Gesetzesbefehls zur Verfügung der Exekutive stellt. Gerade hinsichtlich derartiger Selbstentmachtungen nehme aber das Grundgesetz die Gewaltenteilung sehr ernst, "wie das beredete Schweigen über Ermächtigungsgesetze, gesetzesvertretende Verordnungen und die Sperrvorschrift des Art. 80 I 2 GG beweisen. ,,20 Jürgen Salzwedel meint dagegen, daß Art. 80 I GG auch Inkraftsetzungsverordnungen erlaube. 21 Es sei nicht einzusehen, warum der Gesetzgeber zwar die Regelung gewisser Sachbereiche, nicht aber den Entscheid über das Datum des Inkrafttretens einer von ihm bereits geregelten Materie überlassen kann. 22 Art. 80 I 2 GG lege die Anforderungen an den Entscheid der Exeku17

Salzwedel, in: Festschrift fur Hennann Jahrreiß zum 80. Geburtstag, S. 195 ff. (197)

m.w.N.

18 BVerfGE 42, 263 (282); 45, 297 (326); Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 118; Ramsauer, in: Altemativkommentar, Art. 80 Rz. 42; v. Mangoldt I Klein, GGKommentar, Art. 82, S. 2055; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 76. 19 Vg1. BVerfGE 42, 263 (282): "Da die Bestimmung des Gesetzesinhalts ausschließlich den demokratischen Gesetzgebungsorganen vorbehalten ist und das GG - abgesehen von Art. 80 GG - keine Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen kennt, kann die Bestimmung des Inkrafttretens nur durch den Gesetzgeber selbst erfolgen." Ebenso BVerfGE 45, 297 (326). 20

21 22

Maunz, in: MaunzlDürig, GG, Art. 82 Rz. 12. Salzwedel, in: Festschrift Jahrreiß, S. 198 ff. Salzwedel, in: Festschrift Jahrreiß, S. 198; Lepa, AöR 105 (1980), S. 338 ff. (356).

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B. Die positive Vorwirkung

tive ohnehin so eng fest, daß ihr letztlich gar kein Spielraum mehr verbleibt. 23 Auch liege der Gesetzesvollzug genau genommen immer in Verwaltungshand. 24 Ergänzend weist Lepa auf die parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive sowie die Möglichkeit eines korrigierenden Eingreifens der Legislative hin. 25 Dem ist aber entgegenzuhalten, daß Art. 82 11 GG eine Ausnahme zu Art. 80 I GG beinhalten könnte. Überläßt das Parlament bei Verordnungen lediglich die Konkretisierung gewisser Sachbereiche, steht bei den Inkrafttretensverordnungen die Geltung eines Gesetzes insgesamt in Frage. 26 Auch erweist sich Salzwedels Aussage, daß der Gesetzesvollzug letztlich immer in den Händen der Verwaltung liegt, als viel zu pauschal: Legt der Gesetzgeber den Termin der Anwendbarkeit einer Norm selbst fest, wirkt die in Art. 20 III GG enthaltene Gesetzesbindung viel stärker auf die Verwaltung ein. An eine Norm mit Inkraftsetzungsverordnung wird sich die Exekutive jedoch kaum gebunden fühlen, solange eine entsprechende Verordnung noch fehlt. 27 Was die Korrekturmaßnahmen durch den Gesetzgeber anbetrifft, fragt sich, ob diese nicht häufig zu spät kämen. Das Datum des Inkrafttretens einer Norm wird überdies für den Bürger oft von wesentlicher Bedeutung sein. 28 Deswegen hat der Parlaments gesetzgeber den Zeitpunkt des Inkrafttretens bei förmlichen Gesetzen selbst festzulegen. c) Voranwendung und Entschlußfreiheit des Parlamentsgesetzgebers

Nach all diesem scheidet in Deutschland eine Bestimmung des Inkrafttretens förmlicher Gesetze durch die Exekutive aus. Dennoch fragt sich, ob die Verwaltung nicht werdende Normen trotz der vom Parlamentsgesetzgeber vorzunehmenden Inkraftsetzung förmlicher Gesetze im voraus anwenden kann. Die Klärung dieser Frage dürfte gleichfalls hinsichtlich obiger Mindermeinung als auch der Lage in der Schweiz angebracht sein.

23

Salzwedel, in: Festschrift Jahrreiß, S. 199.

24

Salzwedel, in: Festschrift Jahrreiß, S. 198.

25

Lepa, AöR 105 (1980), S. 338 ff. (356).

Erläßt die Verwaltung die Inkrafttretensverordnung nicht, ist das Parlaments gesetz unanwendbar. Ebenso Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 118. 27 BVerfGE 79, 174 ff. gibt ein anschauliches Beispiel dafiir, welche Schwierigkeiten die Exekutive durch Nichterlaß einer gewöhnlichen Verordnung hervorrufen kann. Es dürfte fraglich sein, ob die dortigen Grundsätze über die ausnahmsweise unmittelbare Anwendung eines Gesetzes, von dessen Verordnungsermächtigung kein Gebrauch gemacht wurde, auf Inkrafttretensverordnungen übertragen werden können. 28 Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 120. 26

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

45

Die positive Vorwirkung zeichnet sich im Gegensatz zu den Inkrafttretensverordnungen dadurch aus, daß die Behörden das "Ob überhaupt" der gesetzlichen Regelung akzeptieren. Ihr Verhalten entspricht ja frühzeitig der noch nicht in Kraft getretenen Norm. Trotzdem könnte einer derartigen Vorgehensweise der Verwaltung das Prinzip der Gewaltenteilung entgegenstehen. Es ist das Verdienst Gerhart Husserls, dessen zeitliche Komponente aufgezeigt zu haben: Danach ist die Zeitperspektive der Zukunft der Legislative, die Gegenwart der Exekutive und die Vergangenheit der Judikative zuzuordnen. 29 Dieser der Legislative eingeräumte Vorrang würde untergraben, wenn ein voranwendendes Tätigwerden der Behörden zu einer möglichen "Erpressung des Gesetzgebers"30 führte. Für letzteres sprechen folgende Argumente: Neuerdings stellt sich in der rechtshistorischen Forschung zunehmend die Frage, ob das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten nicht deshalb in Kraft gesetzt werden mußte, weil Öffentlichkeit und Praxis auf dem bereits vorangewendeten und bewährten Gesetz beharrten. 31 Auch heute dürfte es dem Parlament regelmäßig schwer fallen, eine andere Entscheidung zu treffen, sofern ein Gesetzentwurf erst einmal längere Zeit von den Behörden vollzogen wurde. Dies vor allem, wenn die Voranwendung etwaige Amtshaftungsansprüche auslösen würde. Aber auch bei einer den Bürger begünstigenden Voranwendung könnte die Exekutive Druck auf den Gesetzgeber ausüben, damit sie nicht sämtliche von ihr getroffenen Maßnahmen korrigieren muß. 32 Insoweit läßt sich auch kein Vergleich zu den anderweitigen, auf den Gesetzgeber einwirkenden Einflußfaktoren ziehen. Der Druck von Lobbys etc. kann keine Folgenbeseitigungs- und Restitutionsansprüche auslösen. Muß der Parlamentsgesetzgeber den zeitlichen Geltungsbereich förmlicher Gesetze selbst festlegen, könnte er sich aus den soeben genannten Gründen dazu veranlaßt sehen, diesen an dem Beginn der Voranwendungspraxis der Behörden auszurichten. Selbst wenn man eine Inkraftsetzung förmlicher Gesetze durch die Exekutive für möglich hält, kann die Voranwendung insbesondere politisch umstrittener Normen dazu führen, daß sich die Entschließung des Parlaments an dem von den Behörden zugrunde gelegten Norminhalt orientiert. Damit würden die Rechtsanwendungsorgane, die zumeist nicht alle möglichen Alternativen bei einer 29 Husserl, Recht und Zeit, S. 52-62; ihm folgend P. Kirchhof, in: IsenseelKirchhofV, § 125 Rz. 47. 30 Dürig, in: Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, S. 43; Leisner, in: Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag, S. 296; in diese Richtung für das Richterrecht: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 229. 31 Eckert, Die Entstehung der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten. 32 In diese Richtung: Dürig, in: Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfaku1tät, S. 42 f.; vgl. auch Kloepfer, DÖV 1973,657 ff. (662).

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B. Die positive Vorwirkung

Gesetzesänderung überblicken, den maßgeblichen Norminhalt bestimmen. 33 Bei einer Voranwendung künftiger Normen aufgrund einer Regierungsanweisung wäre zu befürchten, daß die Verwaltung einseitig den Interessen der Exekutive zum Durchbruch verhilft. Es ist daher festzuhalten, daß eine positive Vorwirkung ohne gesetzliche Grundlage mit der Gefahr einer Entmachtung des Gesetzgebers verbunden ist. Diesem Einwand will Kloepfer dadurch entgehen, daß er eine derartige Voranwendung nur dann in Betracht zieht, wenn der Gesetzgeber der künftigen Norm rückwirkende Geltung beilegen will. 34 Zusätzlich engt er diese Entmachtungsgefahr dadurch ein, daß die Praxis ohnehin nur bei höchstwahrscheinlichem Inkrafttreten des künftigen Rechts voranwendend tätig wird. 35 Da sich die Exekutive am geplanten Normziel und nicht das Parlament am Verhalten der Exekutive ausrichte, sei die Voranwendung rückwirkender Normen sogar aus Loyalitätsgründen geboten. 36 Dies erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Dennoch vermag die gegenüber dem jetzigen Normgeber angenommene Loyalitätspfticht nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die soeben geschilderte "Erpressungsgefahr" letztlich nicht beseitigt wird. Trotz allem könnte das Parlament davon abgehalten werden, von der zunächst geplanten Rückwirkung in letzter Minute Abstand zu nehmen. Ebenso ist nicht gesagt, daß gerade der ursprünglich ins Auge gefaßte Norminhalt rückwirkend in Kraft treten wird. Selbst wenn das Inkrafttreten eines Parlamentsgesetzes hochwahrscheinlich ist, kann der Gesetzgeber sowohl bis zur Verabschiedung als auch bis zum Beginn der Verbindlichkeit einer Norm jederzeit Änderungsmaßnahmeri treffen. 37 Dementsprechend meinte auch das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung, die allerdings vorwiegend zum Vertrauensschutz erging, daß in Situationen, in denen der Erlaß einer Neuregelung VOn vornherein mit hoher Wahrscheinlichkeit abzusehen ist, erst der Gesetzesbeschluß des Bundestags ein wesentlicher Markstein auf dem Weg der Gesetzeswerdung sei. Erst ab diesem Zeitpunkt ist ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor hinsichtlich "Ob" und "Wie" der Neuregelung beseitigt. 38 Ein loyales Verhalten der Verwaltung muß daher geradezu umgekehrt mindestens 33 In diese Richtung fur das Richterrecht: Hilger, in: Festschrift fur Kar! Larenz zum 70. Geburtstag, S. 118. 34 Kloepfer, Vorwirkung, S. 114 ff., und DÖV 1973, 657 ff. (662). Indem Kloepfer auf die Rückwirkung abstellt, meint er, daß die Voranwendung - die Rückwirkung erfaßt ja den Zeitraum der Voranwendung - vom Willen des Gesetzgebers gedeckt ist (S. 116). 35 Kloepfer, Vorwirkung, S. 119, 123; kritisch hierzu Fiedler, AöR 102 (1977), S. 322 f. 36 Kloep.fer, Vorwirkung, S. 114, 116, 124. 37 So im Ergebnis auch fur das Richterrecht: Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 229. 3& BVerfDE 72, 200 (262).

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

47

bis zum Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses zu einer völligen Zurückhaltung der Verwaltung gegenüber dem geplanten Gesetzesvorhaben führen. 39 Kloepfer hält die Gefahr einer derartigen Entmachtung des Parlaments gesetzgebers jedoch deshalb für gering, weil die Regierung heute ohnehin weitgehend über den Inhalt von Parlamentsgesetzen entscheide. 40 Diese Aussage ist aber viel zu generell. Zwar mag es stimmen, daß der Exekutive in Deutschland bei der Parlamentsgesetzgebung eine wesentliche Bedeutung zukommt. 41 Art. 76 I GG geht aber von einer gleichberechtigten Stellung der anderen, dort genannten Initiativberechtigten aus. Daher ist nicht auszuschließen, daß während des Gesetzgebungsverfahrens im Parlament der Gesetzentwurf einer kleineren Gruppe von Abgeordneten eine solche Dynamik entwikkelt, daß sich ihr die anderen anschließen. 42 Art. 38 I 2 GG dürfte zudem verhindern, daß sich die Bundestagsabgeordneten der Regierungskoalition stets als Handlanger der Exekutive verstehen. Im Ergebnis ist deshalb in Deutschland eine Voranwendung von Parlamentsgesetzen vor dem Zeitpunkt der Verabschiedung einer Norm im Bundestag schon deshalb nicht möglich, weil eine derartige Vorgehensweise der Verwaltung unter Umständen die Entscheidungsfreiheit des Parlamentsgesetzgebers zu stark beeinflussen kann. Dies muß auch gelten, wenn man der die Inkraftsetzungsverordnung bejahenden Mindermeinung folgt. Eine Inkrafttretensdelegation ist wenigstens auf den Willen des Gesetzgebers zurückzuführen. Letzterer steht aber bei der positiven Vorwirkung ohne gesetzliche Grundlage noch nicht fest. Eine Voranwendung förmlicher Gesetze muß daher zumindest bis zur Verabschiedung der entsprechenden Norm im Bundestag aus Gründen der Gewaltenteilung scheitern. Für die Schweiz gelten weitgehend dieselben Erwägungen, wie sie soeben für Deutschland aufgezeigt wurden. Eine Voranwendung ist mit den Motiven, die die Inkraftsetzung einer Norm durch die Exekutive erlauben, kaum zu 39 Häberle, Öffentliches Interesse, S. 487 Fn. 209, sieht rur die Vorberücksichtigung diese Kehrseite. Was das Richterrecht anbetrifft, wird mit Beginn einer Gesetzesausarbeitung zumeist eine "Sperrwirkung" angenommen. Vgl. hierzu Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S.229 f., sowie ZGR 1988, 314 ff. (323); R. Fischer, Oie Weiterbildung des Rechts, S. 36; ansatzweise Hilger, in: Festschrift rur Karl Larenz zum 70. Geburtstag, S. 118. 40 Kloepfer, OÖV 1973, 657 ff. ( 662). 41 Vgl. hierzu Jekewitz, NJW 1990, 3114 ff. (3116). Haushaltsvorlagen (Art. 11 0 GG) und Vertragsgesetze (Art. 59 II GG) können nur von der Exekutive eingebracht werden. Auch Nachbesserungsaufträge und Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts richten sich vor allem an sie. Weiterhin ist dies durch die Vorteile aus ihrer Arbeitskapazität, ihrem größeren Konfliktbewältigungspotential und der Tatsache, daß hinter der Regierung die Bundestagsmehrheit steht, bedingt. 42 Jekewitz, NJW 1990,3114 ff. (3116).

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B. Die positive Vorwirkung

vereinbaren. Die positive Vorwirkung stünde weder im Zusammenhang mit einem möglicherweise durchzuführenden Referendum noch verfolgt sie etwaige Umstellungsmaßnahmen der Exekutive. Vielmehr steht bei ihr, solange der Entscheid über den Norminhalt noch aussteht, der Wille des Gesetzgebers nicht endgültig fest. Dementsprechend meinen die schweizerische Literatur und Rechtsprechung, daß eine positive Vorwirkung ohne gesetzliche Grundlage mit einem "Blankoschein an die Exekutive" verbunden und deswegen abzulehnen ist. 43 2. Positive Vorwirkung und Vertrauensschutz Der Zeitraum, innerhalb dessen eine positive Vorwirkung künftiger Normen möglich ist, könnte des weiteren aus Gründen des Vertrauensschutzes des Bürgers begrenzt sein. Der einzelne wird regelmäßig auf die Anwendbarkeit des bestehenden Rechts vertrauen und kaum mit einer Voranwendung künftiger Normen rechnen. Deshalb kann die Verwaltung frühestens in dem Augenblick, in dem sich der Bürger selbst auf das neue Recht einzustellen hat, voranwendend tätig werden. 44 a) Situation in Deutschland

Da in Deutschland bis heute die Grundlagen und Ausprägungen des Vertrauensschutzes dogmatisch nicht einwandfrei geklärt sind,45 wird hier aus Platzgründen im wesentlichen nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenbereich dargestellt. Dabei soll in einem ersten Schritt aufgezeigt werden, ab welchem Zeitpunkt das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand des bisherigen Rechts entfallt. Im Anschluß daran soll geprüft werden, ob sich der Bürger gleichzeitig mit dem Wegfall seines Vertrauens in das bisherige Recht auf das kommende Recht einzustellen hat. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist das Vertrauen des einzelnen in den Fortbestand der bisherigen Rechtslage aus Gründen der Rechtssicherheit, teilweise auch aufgrund der Grundrechte zu schützen. 46 Da sich 43 Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (172); Siegrist, Die Bausperre, S. 49; BGer, in: Pra 77, Nr. 194, S. 715 ff. (718); Thommen, Vorwirkung, S. 108 ff.; vgl. zum Aspekt der Gewaltenteilung auch Straub, Das intertemporale Recht, S. 94. 44 Vgl. hierzu auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 102-106, llO f., der aber im Gegensatz zu hier nicht zwischen dem Wegfall des Vertrauensschutzes in das Altrecht und dem Sicheinstellen des Bürgers auf das künftige Recht differenziert. 45 Muckei, Kriterien des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes bei Gesetzesänderungen, gibt auf S. 29-66 einen umfassenden Überblick. 46 Muckei, Vertrauensschutz, S. 67; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 17 ff., 44 ff. m.w.N.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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der einzelne bei einer für ihn günstigen Rechtsänderung ohnehin nie auf ein Vertrauen in die bestehende Rechtslage beruft, wird die Frage des Vertrauensschutzes nur bei belastenden Rechtsänderungen47 und somit allein bei der Voranwendung belastender werdender Normen aktuell. Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, daß sich der einzelne nie darauf verlassen kann, daß eine Rechtsregel auf Dauer fortbesteht. Ansonsten würde eine Anpassung der Normen an geänderte Anschauungen und Verhältnisse und damit letztlich der weitere Erhalt der Handlungsfähigkeit des Staates unmöglich. 48 Im übrigen differenziert es, ob die neue Norm in der Vergangenheit abgeschlossene (echte Rückwirkung), in der Vergangenheit begonnene (unechte Rückwirkung) oder Sachverhalte ohne jeglichen Vergangenheitsbezug zum Gegenstand hat: Bei echt rückwirkenden Normen muß nach seiner Meinung das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand des bisherigen Rechts respektiert werden, es sei denn daß (1) der Bürger mit einer rückwirkenden Rechtsänderung rechnen mußte, (2) die bisherige Rechtslage unklar und verworren, (3) das bisherige Gesetz ungültig war, (4) zwingende Gründe des Gemeinwohls eine Rückwirkung erfordern49 oder (5) die Rückwirkung keinen oder geringfügigen Schaden auslöst: 50 Was den erst genannten Punkt anbetrifft, faßt BVerfGE 72, 200 (261) zusammen, ab wann der einzelne nicht mehr in das Weiterbestehen der bisherigen Rechtslage vertrauen kann: "Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung den Wegfall des schutzwürdigen Vertrauens in den Bestand der bisherigen Rechtsfolgenlage in der Regel auf den Zeitpunkt des endgültigen Gesetzesbeschlusses (= des Bundestags) über die normative Neuregelung festgelegt. Zugleich hat das Gericht aber stets hervorgehoben, daß das Bekanntwerden von Gesetzesinitiativen und die öffentliche Berichterstattung über die Vorbereitung einer Neuregelung durch die gesetzgebenden Körperschaften die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die bisherige Rechtslage nicht entfallen lassen." Als Begründung hierfür wird angeführt, daß erst mit dem Gesetzesbeschluß die Absichten des Gesetzgebers zur Normänderung offensichtlich sind. Erst in diesem Augenblick ist der bis dahin bestehende Unsicherheitsfaktor, ob und mit welchem Inhalt eine neue Norm ergeht, im wesentlichen beseitigt. 51 Außerdem dürfte sich die Wahl dieses Zeitpunkts damit erklären, daß aus der Sicht des Bürgers nur deIjenige, der zur Norm47 Stern, Staatsrecht I, § 20 IV 4, S. 833; kritisch Maurer, in: Isensee I Kirchhof III, § 60 Rz. 21.

48 Vgl. z.B. BVerfGE 71, 255 (272 f.); 76, 256 (347 f.). Vgl. hierzu genauer Compes, Der gesetzgeberische Eingriff in nach altem Recht bestehende Rechtspositionen und deren weiche Überleitung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 24-30. 49 Vgl. z.B. BVerfGE 13, 261 (272). 50 BVerfGE 30, 367 (389); 72. 200 (259). 51 BVerfDE 72, 200 (262).

4 Guckelberger

50

B. Die positive Vorwirkung

änderung befugt ist, das Vertrauen in das künftige Fortbestehen des Altrechts zerstören kann. 52 Die Rechtmäßigkeit unecht rückwirkender Normen beurteilt das Bundesverfassungsgericht an Hand einer Abwägung, ob Gründe des Gemeinwohls am Erlaß einer entsprechenden Regelung das Vertrauensinteresse des einzelnen überwiegen. Befaßt man sich mit diesem Abwägungsvorgang eingehender, scheint die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrauensschutz weitaus uneinheitlicher. So beruft es sich im Rahmen des Abwägungsvorgangs unter anderem darauf, daß die Rechtsänderung ständig Gegenstand der politischen Diskussion,s3 das bisherige Gesetz uDZUträglich54 oder besonders änderungsanfällig 55 war. Dennoch dürfte auch hier das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand des bisherigen Rechts zeitlich nicht vor einem entsprechenden Beschluß des Normgebers entfallen. Dies wird darin deutlich, daß sich die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts, warum das Vertrauen des einzelnen in die bisherige Rechtslage erst im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses des Bundestages endet, auch auf die unecht rückwirkenden Normen übertragen lassen: Zwar ist das Vertrauen des einzelnen in den Fortbestand bereits häufig geänderter oder in der Öffentlichkeit diskutierter Rechtsnormen unter Umständen abgeschwächt. Hinfällig wird es aber letztlich erst, wenn der Entschluß des Gesetzgebers zur Normänderung nach außen hin feststeht. 56 Da heute die meisten Normen irgendwelche Vergangenheitsbezüge aufweisen, ist somit als Zwischenergebnis festzuhalten, daß der einzelne unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ab dem Normänderungsbeschluß des Hauptgesetzgebungsorgans nicht mehr in das Fortbestehen des bisherigen Rechts vertrauen kann. Sollte ausnahmsweise eine der anderen zum Wegfall des Vertrauensschutzes entwickelten Alternativen einschlägig sein, kann der Eintritt dieses Ereignisses vor dem soeben genannten Zeitpunkt liegen. Folge dieses Zwischenergebnisses muß nicht unbedingt sein, daß der einzelne sein Verhalten zeitgleich mit dem Wegfall seines Vertrauens in das bisherige Recht am kommenden Recht auszurichten hat. Daher ist zu prüfen, welche Position das Bundesverfassungsgericht in bezug auf diesen Fragen52

Friauj. BB 1972,669 ff. (677).

Vgl. z.B. BVerfGE 83, 89 (110); 57, 361 (392 0. Vgl. z.B. BVerfGE 31, 222 (228). 55 Vgl. z.B. BVerfGE 83, 89 (llO); 76, 220 (245); 76, 256 (352). 56 So auch Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 52, sowie BVerfGE 31, 222 (227); 89, 48 (67); 71, 244; im übrigen dürfte nur so zu erklären sein, daß das Bundesverfassungsgericht häufig erst auf seine Rechtsprechung zu den echt rückwirkenden Normen verweist, bevor es sich mit der Abwägung befaßt. 53

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I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

51

komplex einnimmt. Da es sich schwerpunktmäßig mit dem Wegfall des schutzwürdigen Vertrauens in das Altrecht befaßt, finden sich hierzu nur selten irgendwelche Äußerungen. Bei den unecht rückwirkenden Normen sind vor allem folgende zwei Entscheidungen hervorzuheben: In einem im Jahre 1970 ergangenen Entscheid wies das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß sich die von der Einführung einer Nachsteuer betroffenen Händler wegen der verhältnismäßig früh bekannt gewordenen Gesetzesänderungsabsichten auf dieselbe einrichten konnten. 57 In BVerfGE 67, 1 (19) erwähnt es im Zusammenhang mit der Dauer einer Übergangsfrist, daß dem Beschwerdeführer seit der möglichen Kenntnisnahme der gesetzgeberischen Pläne genügend Zeit zur Einstellung auf die neue Situation verblieb. Bei bei den Entscheidungen bleibt für den Leser unklar, ob diese lediglich den Aspekt, daß der einzelne nicht mehr voll umfanglich in das Fortbestehen der bisherigen Rechtslage vertrauen kann, oder ob er sein Verhalten bereits am künftigen Recht ausrichten soll, ansprechen. 58 Sollte letzteres gemeint sein, muß dem entgegnet werden, daß wohl von niemand verlangt werden kann, sein Verhalten auf Kommendes einzustellen, solange er, wenn auch nur minimal, auf das Bisherige vertrauen kann. Bei den echt rückwirkenden Normen wird das Bundesverfassungsgericht demgegenüber recht deutlich, wenn es in BVerfGE 72, 200 (260) ausführt: "Ab diesem Tag (= Gesetzesbeschluß) mußten die Betroffenen mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen. Es war ihnen daher zuzumuten, ihr Verhalten seither auf deren Inhalt einzustellen." Nach all dem dürfte das Bundesverfassungsgericht zumindest tendenzmäßig der Ansicht sein, daß sich der einzelne im Augenblick des Normänderungbeschlusses des Hauptgesetzgebungsorgans auf das neue Recht einstellen muß. Hiergegen spricht jedoch, daß, wie das Bundesverfassungsgericht selbst einräumt, das Inkrafttreten einer Norm häufig noch von der Mitwirkung anderer Organe abhängt. 59 Bei Parlamentsgesetzen ist vor allem die Rolle des Bundesrats nicht zu vernachlässigen. 60 Insbesondere in Zeiten, in denen die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat voneinander abweichen, ist das Obsiegen eines vom Bundestag beschlossenen Gesetzes unsicher. 61 57

BVerfGE 27, 375 (386).

Insbesondere bei der Bestimmung der Dauer der Übergangs fristen ist merkwürdig, daß das Bundesverfassungsgericht diese Dauer sowohl nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens als auch der möglichen Kenntnisnahme von den gesetzgeberischen Plänen (E 67, I [19]) bzw. dem Gesetzesbeschluß (71, 255 [274]) bemißt. 58

59

BVerfGE 72, 200 (262).

60 Abw. Meinung Rupp-v. Brünneck in BVerfGE 32, 111 (138); Maurer, in: lsenseel KirchhofIII, § 60 Rz. 34; Iliopoulos-Strangas, Rückwirkung und Sofortwirkung von Gesetzen, S. 78 f. 61 Jekewitz, NJW 1990, 3114 ff.; vgl. auch BVerfGE 72, 200 (262), wo darauf hingewie-

4'

52

B. Die positive Vorwirkung

Am Erlaß von Rechtsverordnungen sind häufig noch andere Organe beteiligt. 62 Auch Satzungen können oft nicht ohne die Genehmigung eines weiteren Organs in Kraft treten. 63 Demnach ist, solange eine Mitwirkung dieser Organe noch aussteht, die Realisierung der Nonnänderung durchaus noch ungewiß. Verlangt man aber vom Bürger, daß er sein Verhalten bereits seit dem Nonnänderungsbeschluß des Hauptgesetzgebungsorgans am kommenden Recht ausrichtet, ist dies für ihn gerade wegen dieser Ungewißheit nicht unriskant. Deshalb kann, sofern man dieses Risiko nicht durch die Gewährung von Ersatzansprüchen abmildert, eine derartige Umstellung des Bürgers auf das neue Recht wohl kaum verlangt werden. Das Bundesverfassungsgericht ist jedoch im Gegensatz zu Kloepfer64 von der Erwägung derartiger Ersatzansprüche weit entfernt. Dem Bürger ist daher bei der momentanen Rechtslage nicht zuzumuten, sein Verhalten zeitgleich mit dem Beschluß des Hauptgesetzgebungsorgans auf das kommende Recht einzustellen. 65 Eine Voranwendung werdender Nonnen kommt somit frühestens ab dem Zeitpunkt des Zustandekommens der jeweiligen Nonn in Betracht. 66 Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß die soeben dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vielfach im Hinblick auf das Erfordernis der Bekanntmachung von Nonnen angezweifelt wird. Hierauf wird im Rahmen des folgenden Prüfungspunktes näher eingegangen. b) Situation in der Schweiz

Auch in der Schweiz ist anerkannt, daß das Vertrauen des Bürgers in das Fortbestehen des bisherigen Rechts gegenüber dem Gesetzgeber zu schützen ist. Damit jedoch eine Anpassung der Rechtsnonnen an gewandelte Verhältnisse und Anschauungen möglich ist, wird heute nirgendwo mehr vertreten, dem Vertrauensschutz des Bürgers käme ein absoluter Vorrang ZU. 67 Vielsen wird, daß trotz Vorliegens eines Gesetzesbeschlusses dessen Inhalt immer noch nicht sicher sei. Im übrigen tritt hier wiederum die Problematik auf, daß eine zu frühzeitige Voranwendung das Abstimmungsverhalten des Bundesrats wegen möglicherweise entstehenden Amtshaftungs- und Korrekturansprüchen beeinflussen kann. 62

Vgl. Jekewitz, NJW 1990,3114 ff. (3117 f.) zu Verordnungen des Bundes.

Wobei hier zu unterscheiden ist, ob das andere Organ die Satzung nur auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen soll oder ihm eigenständige Mitwirkungsrechte zukommen. 63

64

Vgl. Kloepfer, Vorwirkung, S. 222 ff.

65 IIiopoulos-Strangas. Rückwirkung und Sofortwirkung, S.79; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 34; vgl. zum Entschädigungsanspruch auch Schneider, Gesetzgebung, Rz. 529. 66 Jekewitz, NJW 1990, 3114 ff. (3118 f.); Kloepfer, Vorwirkung, S. 226 ff., sowie Mukkel, JA 1994, 13 ff. (15), meinen, daß der Gesetzesinhalt endgültig feststehen, die Norm also zustandegekommen sein muß. 67 Weber-Dürler, Vertrauens schutz im öffentlichen Recht, S. 81, 133.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

53

mehr herrscht Einigkeit über die Notwendigkeit eines oft baldigen, unter engen Voraussetzungen sogar rückwirkenden Inkrafttretens neuer Gesetze. Folglich ist zu prüfen, ab welchem Augenblick der Bürger nicht mehr in den Fortbestand des Altrechts vertrauen kann. Ausgehend von der Judikatur des schweizerischen Bundesgerichts zum rückwirkenden Inkrafttreten von Gesetzen läßt sich dabei feststellen, daß der Wegfall des Vertrauensschutzes im Vergleich zu Deutschland zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt eintritt: Bereits die Ankündigung von Normänderungsabsichten, die Botschaften der Regierung zu den Gesetzentwürfen oder der Beginn der Gesetzesberatungen im Parlament können das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand des Altrechts zerstören. 68 Dieser frühzeitige Wegfall des Vertrauensschutzes wird hauptsächlich auf die in der Schweiz mit einer Rechtsänderung verbundenen plebiszitären Elemente zurückgeführt. Könnte die Rückwirkung erst im Zeitpunkt des Ablaufs der Referendumsfrist bzw. der Volksabstimmung beginnen, könnte noch während eines zu langen Zeitraums das Altrecht "mißbräuchlich" in Anspruch genommen werden. 69 Aus diesem relativ frühzeitigen Wegfall des Vertrauensschutzes folgt jedoch nicht zugleich, daß sich die Bürger ab diesem Zeitpunkt auf das neue Recht einstellen und daher mit einer Voranwendung des künftigen Rechts rechnen müssen. Denn vor allem in der Anfangsphase ist ungewiß, ob und mit welchem Inhalt das neue Gesetz zustande kommt. Damit scheidet eine Voranwendung werdender Normen solange, wie diese Ungewißheit besteht, als unzulässig aus.

3. Voranwendung und Bekanntmachung von Rechtsnormen Die nicht ausdrücklich vorgesehene Voranwendung einer erst werdenden Norm könnte gleichfalls im Widerspruch zu dem Publikationserfordernis von Gesetzen stehen. Dabei ist zu beachten, daß ein derartiges Spannungsverhältnis bei einer schon verkündeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Norm nicht existiert.?O Für all die übrigen Fälle ist dagegen zu klären, wie die Voranwendung mit dem Verkündungserfordemis in Einklang zu bringen ist. Kloepfer schlägt hierzu vor, das Publizitätsproblem zu entmythologisieren.?l Der 68 BGer, in: Pra 1994, Nr. 58, S. 184 ff. (186); Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 288 f. m.w.N. 69 Weber-Dürler, Vertrauensschutz, S. 289. 70 Kloepfer, Vorwirkung, S. 118 Fn. 523, will ein solches Spannungsverhältnis auch bei bereits veröffentlichten Normentwürfen verneinen. Hiergegen ist einzuwenden, daß die Publikation eines Normentwurfes mit derjenigen einer "vollendeten" Norm nicht identisch ist. Daher stellt sich obiges Problem. 71 Kloepfer, Vorwirkung, S. 118 f.; ebenso meint Häberle. ZfP 1974, 111 ff. (131), daß

54

B. Die positive Vorwirkung

Bekanntmachung von Normen käme nämlich wegen der Gesetzesflut ohnehin nur noch die Bedeutung einer Informationsfiktion zu. Es handele sich um ein rein "formalisiertes Gültigkeitsmerkmal", das wegen seiner untergeordneten Funktion eine Voranwendung kaum verhindern kann. 72 Ob dem wirklich so ist, soll nachstehend aufgezeigt werden. a) Die Bedeutung der Verkündung von Rechtsvorschriften in Deutschland

In Deutschland existiert keine einheitliche Verkündungsregelung für sämtliche Rechtsnormen. Bundesgesetze werden im Bundesgesetzblatt, Rechtsverordnungen ebenfalls dort oder entsprechend dem Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen im Bundesanzeiger verkündet (Art. 82 I GG). Auf Landesebene bestehen für diese Normen dem Art. 82 I GG weitgehend korrespondierende Vorschriften. Für Satzungen fehlt eine generelle Regelung. Vielfach ist aber ihre Bekanntmachung spezialgesetzlich - man denke zum Beispiel an §§ 12 BauGB, 4 GemOBW - vorgeschrieben. Die landesrechtlichen Vorschriften über die Verkündung von Rechtsnormen sehen im übrigen bei bestimmten Gesetzen von dem Erfordernis einer Publikation in einem amtlichen Druckerzeugnis ab. Vor allem bei kommunalrechtlichen Satzungen läßt man auch den Abdruck in einer Zeitung, den Aushang an Verkündungstafeln oder die Offenlegung des Gesetzestextes bei den zuständigen Behörden zur Einsichtnahme genügen. 73 Insgesamt kann festgestellt werden, daß in Deutschland grundsätzlich bei allen Rechtsnormen eine Verkündung erfolgt. 74 Einen Anhaltspunkt dafür, ob die Bekanntmachung von Normen wirklich als rein formalisierte Gültigkeitsvoraussetzung eines Gesetzes angesehen werden kann, könnte bereits die Definition der Verkündung liefern. Sieht man ihr Wesen allein in der Feststellung, ab wann ein Rechtssatz Bestandteil der Rechtsordnung wird,75 liegen, kann sie tatsächlich als eher formale Wirksamkeitsvoraussetzung verstanden werden. Insoweit ähnelt diese Position der im 19. Jahrhundert vorfindbaren Ansicht, wonach der Sinn der Bekanntmachung von Rechtsvorschriften primär in der Äußerung des Gesetzeswillens des bei Anerkennung einer Vorwirkung der fonnelle Publizitätsakt der Verkündung relativiert wird. 72

Kloepfer, Vorwirkung, S. 119.

Vgl. hierzu Ziegler, Die Verkündung von Satzungen und Rechtsverordnungen der Gemeinden, S. 121 ff. 73

74 Ramsauer, in: Alternativkommentar, Art. 82 Rz. 25, 39, 40; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 481 ff.; Wittling, Die Publikation der Rechtsvorschriften einschließlich der Verwaltungsvorschriften, S. 114; Püttner / Kretschmer, Die Staatsorganisation, S. 56. 75 Hierzu tendiert wohl Gertel, Der Zeitfaktor, auf S. 33: "Sie bestimmt in fonneller Hinsicht, ab wann ein Text Teil der Rechtsordnung wird und legt so den Beginn der Dauer, die ein Rechtssatz Bestandteil der Rechtsordnung bleibt, fest."

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

55

Herrschers bestand. 76 Die heute ganz überwiegende Meinung beschränkt aber die Verkündung nicht auf diesen Zweck. So betont zwar das Bundesverfassungsgericht, daß die Bekanntmachung einer Rechtsvorschrift integrierender Bestandteil der Rechtssetzung und somit Geltungsbedingung fiir die rechtliche Existenz eines Gesetzes ist. 77 Daneben wird aber immer die mit ihr verbundene Möglichkeit der Bevölkerung, von dem geltenden Recht verläßlich Kenntnis zu nehmen, angefiihrt. 78 Daß die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme genügen muß, ergibt sich zum einen aus der fiir das heutige Zeitalter fast typischen Normenflut. 79 Würde man bei den heutigen Verhältnissen die positive Gesetzeskenntnis des einzelnen als Geltungsbedingung voraussetzen, könnte dieser durch ein Berufen auf seine Unkenntnis die Wirkungen des Gesetzes zumindest ihm gegenüber aussetzen. Zum anderen würde sich die Frage stellen, was bei positiver Gesetzeskenntnis, aber mangelndem Verständnis des Gesetzesinhalts - unter Umständen weil dieser zu kompliziert ist - gelten sol1. 80 Damit fragt sich, ob die mit der Bekanntmachung einer Norm verbundene Möglichkeit der Kenntnisnahme nur eine Fiktion81 ist oder eine darüber hinausgehende Funktion erfiillt. Daß der einzelne vom geltenden Recht Kenntnis erlangt, liegt zunächst einmal im Interesse des Staates. Eine staatliche Herrschaftsordnung kann auf Dauer nur unter der Voraussetzung, daß das Recht der Ordnungsfaktor des Gemeinwesens ist - also bei Gesetzesgehorsam des Bürgers - funktionieren: Die vom Souverän beschlossenen Ge- und Verbote können die mit ihrem Erlaß verfolgten Ziele lediglich dann erreichen, wenn das Volk die maßgeblichen Rechtsregeln zur Kenntnis nehmen und sein Verhalten daran ausrichten kann. 82 Hauptsächlich wird aber auf die Tatsache, daß die Bekanntmachung von Normen eine notwendige Folge des im Grundgesetz verankerten Rechts-

76 Giese, AöR 76 (1950/51), S. 464 ff. (vgl. das auf S. 469 wiedergegebene Zitat Adolf Arndts); v. Mangoldt/Klein, GG-Kommentar, Art. 82, S. 2046 m.w.N. 77 BVerfGE 7, 330 (337); 72,200 (241); 65, 283 (291); 87,48 (60). 78 BVerfGE 65, 283 (291); BVerwGE 70, 77 (79). Lehre: Heinze, NJW 1961, 345 ff. (346); Schneider, Gesetzgebung, Rz. 482; Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 90; v. Mangoldt/Klein, GG-Kommentar, Art. 82, S. 2045; Hallier, AöR 85 (1960), S. 391 ff. (407 f.); Hw. Müller, Gesetzgebungstechnik, S. 217; Aschke, Übergangsregelungen als verfassungsrechtliches Problem, S. 5 f.; Ziegler, Die Verkündung von Satzungen und Rechtsverordnungen der Gemeinde, S. 108; Leibholz / Rinck/ Hesselberger, GG-Kommentar, Art. 82 Rz. 13. 79 In diese Richtung: Aschke, Übergangsregelung, S. 5 f. 80 Aschke, Übergangsregelung, S.6. 81 So Kloepfer, Vorwirkung, S. 119. 82 Ziegler, Die Verkündung, S. 106; Kirchhof, OÖV 1982,397 ff. (398 f.).

56

B. Die positive Vorwirkung

staatsprinzips ist, verwiesen. 83 Dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich das Erfordernis der Rechtssicherheit entnehmen. Rechtssicherheit bedeutet, daß dem Bürger eine Rechtsnorm nur bei vorheriger Möglichkeit der Kenntnisnahme entgegengehalten werden kann. 84 Dadurch sollen einerseits sogenannte Geheimgesetze, die man beispielsweise im Dritten Reich vorfinden konnte, ausgeschlossen werden. 85 Zum anderen ergibt sich dies daraus, daß vom Bürger nichts Unmögliches verlangt werden kann. 86 Insbesondere wäre es für den einzelnen unbillig, wenn der Staat auf einen Gesetzesverstoß des Bürgers eingreifend reagieren würde, ohne daß diesem eine vorherige Kenntnisnahme des Norminhalts möglich war. In diesem Falle würde das Vertrauen des einzelnen in das Recht und damit die Glaubwürdigkeit unserer Rechtsordnung insgesamt erschüttert. 87 Erwähnenswert ist noch, daß das Rechtssicherheitskriterium auf sämtliche Normen - also auch Leistungs- und Organisationsgesetze - Anwendung findet. Denn nur so kann eine umfassende Freiheitssicherung des Bürgers im Wege genereller Berechenbarkeit staatlichen Handelns gewährleistet werden. 88 Letzteres zeigt sich auch darin, daß die Rechts~ormen mit ihrer Bekanntmachung dem Gestaltungsbereich des Rechtssetzers entzogen werden. 89

Für Almut Wittling beinhaltet das Rechtsstaatsprinzip des weiteren die Gewährleistung einer gewissen Distanz zum Staat. Es muß dem Bürger möglich sein, "sich durch unabhängiges Studium der Gesetze und unabhängigen fachlichen Rat auf die persönliche Konfrontation mit dem Staat vorzubereiten, damit das unumgängliche Machtgefälle weniger spürbar und die Chance, eigene Rechte und Interessen zu schützen und durchzusetzen, erhöht wird. ,,90 Eine derartige Distanz kann aber grundsätzlich nur durch eine umfassende Veröffentlichung von Rechtsnormen geschaffen werden. Hiervon wird ausnahmsweise abgesehen, wenn eine umfassende Normenpublikation aus technischen Gründen unmöglich ist. So ist anerkannt, daß dem Bürger bei Bebau-

8J

Vgl. z.B. BVerfGE 65, 283 ff. (291); BVerwGE 70, 77 ff. (79).

84

So Heydt, in: Demokratie und Verwaltung, S. 465; BVerfGE 72, 200 (261).

Schneider, Gesetzgebung, Rz. 482; Giese, AöR 76 (1950/51), S. 464 ff. (472); Hallier, AöR 85 (1960), S. 391 ff. (406); Wittling, Die Publikation, S. 125. 85

'6 Wittling, Die Publikation, S. 122 spricht insoweit von "Willkürverbot", das sich auf Ge- und Verbote beschränkt, während die Rechtssicherheit über diesen Bereich hinausgeht.

'7 Aschke, Übergangsregelung, S. 6. '8 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei Wittling, Die Publikation, S. 126 ff.; in diese Richtung Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof I, § 24 Rz. 81. 89

Wittling, Die Publikation, S. 125.

Wittling, Die Publikation, S. 129 ff. (131); siehe allgemein zum Distanzkriterium Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchho(I, § 24 Rz. 25. 90

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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ungs- und Haushaltsplänen eine Einsichtnahme bei den Behörden zugemutet werden kann. 91 Dem Erfordernis der Bekanntmachung kommt gleichfalls im Zusammenhang mit der Kontrolle des Staatshandelns eine nicht unwesentliche Bedeutung zu. Sowohl das Demokratieprinzip (Art. 20 I, 11 GG) als auch das Rechtsstaatsprinzip (Gewaltenteilung) verlangen, daß das staatliche Handeln einer Kontrolle zugänglich sein muß. Diese ist aber nur möglich, wenn das Volk vom Staatshandeln Kenntnis erlangt. 92 Dies wird bei Akten der Rechtssetzung am besten mittels einer Verkündung der "produzierten" Normen erreicht. Zwar dürfte diese Kontrolle bei Parlamentsgesetzen bereits effektiver während des Gesetzgebungsverfahrens, also vor der Verkündung stattfinden. Da aber bei Rechtssetzungsakten der Exekutive oft obige Publizität des Gesetzgebungsverfahrens fehlt, ist vor allem in diesem Bereich die Bekanntmachung von Normen unerläßliche Voraussetzung einer wirksamen Kontrolle. 93 Außerdem sind Tendenzen in der neueren Literatur zu beobachten, wonach das Publizitätserfordernis von Normen unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gesehen wird. 94 Es wird vor allem geltend gemacht, daß Leistungsgesetze gleichmäßig von ihren Adressaten in Anspruch genommen werden sollen. Eine fehlende Bekanntmachung hätte aber realiter eine Ungleichbehandlung zur Folge. Denn diejenigen, die nicht ausreichend informiert sind, werden kaum die ihnen zustehenden Leistungen beanspruchen. 95 Nach all diesen Ausführungen dürfte das Argument, daß der Bekanntmachung von Normen lediglich Formalcharakter zukommt, eindeutig widerlegt sein. 96 Für eine Voranwendung ohne gesetzliche Grundlage bliebe daher nur noch Raum, wenn obige Anforderungen an die Verkündung von Normen weitestgehend zu einem früheren Zeitpunkt erfüllt wären. Für letzteres könnte sprechen, daß der einzelne nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sein Verhalten zeitgleich mit dem Gesetzesbeschluß des Bundestags am kommenden Recht ausrichten soll. Von diesem Augenblick liege das Zwischenergeb91

Stober, DVBI. 1979,490 ff. (494).

Wittling, Die Publikation, S. 132 ff., 134 ff.; Ziegler, Die Verkündung, S. 119, meint, man könne Rechtsverkündung und Demokratieprinzip nicht verbinden. Er erklärt aber nicht, wie sonst eine wirksame nachträgliche Kontrolle des Staatshandelns bewirkt werden soll. 92

Wittling, Die Publikation, S. 132 f., 135 f. 94 Wittling, Die Publikation, S. 139 f.; Aschke, Übergangsregelung, S. 6; indirekt Schneider, Gesetzgebung, Rz. 488. 95 Aschke, Übergangsregelung, S. 7; Wittling, Die Publikation, S. 139 f., weist darauf hin, daß solche Informationsdefizite regelmäßig zu Lasten der sozial Schwächeren gehen. 96 So im Ergebnis auch Kalkedey, NZS 1995, 573 ff. (574). 93

58

B. Die positive Vorwirkung

nis des Gesetzgebungsverfahrens offen zutage, so daß jeder von ihm Kenntnis nehmen kann. 97 Auch dürfte wohl niemand leugnen, daß die Bevölkerung heute viel eher über die Massenmedien als beispielsweise das Bundesgesetzblatt von Rechtsnormen Kenntnis erlangt.98 Zumindest für Parlamentsgesetze, die regelmäßig in den Massenmedien vorgestellt und erörtert werden, muß daher die Frage beantwortet werden, ob obige Funktionen der Verkündung nicht bereits in einem früheren Stadium des Gesetzgebungsverfahrens als erfüllt anzusehen sind. Als Indiz hierfür können Aussagen dazu, ob sich die Massenmedien generell als Verkündungsmittel eignen würden, herangezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht meinte diesbezüglich, dem Rechtsstaatsprinzip lasse sich nicht entnehmen, daß Rechtsnormen stets in einem gedruckten Publikationsorgan verkündet werden müßten. 99 Diese Aussage kann jedoch nicht dahingehend verstanden werden, daß sämtliche mit der momentanen gesetzlichen Ausgestaltung des Verkündungswesens verfolgten Zwecke unbeachtlich sind. Abgesehen von dem Verteidigungs- und Spannungsfall (Art. 115a III, 80a GG) sind nach dem Grundgesetz Rechtsverordnungen und Parlamentsgesetze nicht durch die Massenmedien verkündbar. Gleiches gilt in der Regel für die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Bekanntmachung von Normen. Lediglich in Extremsituationen, bei denen - wie im Verteidigungs- oder Spannungsfall - eine Verkündung der Gesetze aus technischen Gründen nicht möglich ist, kann auf Radio oder Fernsehen als Verkündungsmittel zurückgegriffen werden. 1oo In all den anderen Fällen soll dagegen die Bekanntgabe von Rechtsnormen nicht irgendwie, sondern grundsätzlich nur durch Bekanntmachung in einem für die Öffentlichkeit geschaffenen ständigen staatlichen Mitteilungsblatt erfolgen. 101 Momentan steht also bei der Verkündung von Gesetzen weniger der Aspekt einer möglichst breiten Normkenntnis der Bevölkerung, sondern der aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Gedanke einer verläßlichen, d.h. authentischen und vollständigen Feststellung des jeweiligen Norminhalts im Vordergrund. 102

. 97

BVerfGE 72, 200 (262).

Kloepfer, Vorwirkung, S. 119; Holzinger, in: Schäffer, Theorie der Rechtssetzung, S. 311 Fn. 32. 98

99

BVerfGE 65, 283 (291).

Schneider, Gesetzgebung, Rz. 489; vgl. zu Art. 80a GG: Graf Vitzthum, in: Isensee / Kirchhof VII, § 170 Rz. 10 m.w.N.; Stober, DVBI. 1979, 490 ff. (490): bei einem Druckerstreik anläßlich eines Tarifkonflikts, bei Naturkatastrophen, bei Gefahr im Verzug, bei fehlendem Papier in Krisenzeiten. 101 Schneider, Gesetzgebung, Rz. 483. 100

102

Noll, Gesetzgebungslehre, S. 197 f.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

59

Gegen eine positive Vorwirkung von Normen im Frühstadium des Gesetzgebungsverfahrens spricht, daß die Berichterstattungen der Massenmedien je nachdem, aus welcher Quelle ihre Informationen herrühren, stark variieren können. Selbst wenn man, wie das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesbeschluß als einen für die Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt fixiert, sind etwaige inhaltliche Verfälschungen bei der Wiedergabe des Normbeschlusses in den Massenmedien nicht auszuschließen. Denn diese müssen aus Zeit- und Platzgründen den jeweiligen Norminhalt verkürzt wiedergeben. 103 Infolgedessen werden sie ihr Schwergewicht auf diejenigen Normen, die eine Vielzahl von Personen angehen, legen. In weniger brisanten Fällen wird dagegen unter Umständen eine Berichterstattung gänzlich unterbleiben. Auch dürfte für den Bürger die Differenzierung zwischen einer neutralen Berichterstattung über ein Gesetz und dessen mit einer Wertung versehenen Erläuterung nicht immer einfach sein. 104 Daher werden die Massenmedien dem Kriterium einer umfassenden und authentischen Information der Bevölkerung über neue Gesetze nicht gerecht. 105 Ebenso sind die Massenmedien dazu ungeeignet, bereits vor der Verkündung einer Norm dem Bürger eine distanzierte Kenntnisnahme vom Recht zu verschaffen. 106 Zum einen sei hier auf die Schwierigkeiten des Auffindens 107 der jeweiligen Berichterstattung verwiesen. Solange das Gesetzgebungsverfahren noch nicht beendet ist, kann sich der Bürger auch nicht gänzlich auf eine neutrale Berichterstattung verlassen. Infolgedessen ist er auf ein zusätzliches Nachfragen bei staatlichen Quellen angewiesen, wodurch das Distanzkriterium an Gehalt verliert. Die Bekanntmachung von Normen soll außerdem dem Bürger aufzeigen, daß eine Rechtsnorm existiert und in allernächster Zukunft in Kraft treten wird. Dies setzt aber eine gewisse Verbindlichkeit oder Verläßlichkeit des jeweiligen Gesetzes voraus. lOS Hieran fehlt es jedoch solange, wie eine Abänderung der Rechtsnorm durch andere am Gesetzgebungsverfahren Beteiligte möglich ist. Der Bürger wird daher die Berichterstattung der Massenmedien über laufende Gesetzgebungsverfahren vorwiegend als Information über 103 Holzinger, in: Schäffer, Theorie der Rechtssetzung, S. 341; Eichenberger, in: Festschrift für Leo Schürmann zum 70. Geburtstag, S. 410 f. 104 In diese Richtung Eichenberger, in: Festschrift für Leo Schürmann, S. 411. 105 Bereits deswegen kann vom Bürger nicht verlangt werden, daß er ab dem Gesetzesbeschluß des Bundestags sein Verhalten am künftigen Recht orientiert. 106 Wittling, Die Publikation, S. 159.

107 Die Verkündung gewährleistet auch eine gleichmäßige und dauernde Auffindbarkeit des Rechts. Vgl. Aschke, Übergangsregelung, S. 4; Ziegler, Die Verkündung, S. 112 f., 127. 108 Wittling, Die Publikation, S. 158 f. Das Staatshandeln braucht nur in diesem Falle berechenbar zu sein. Gleiches gilt für das Willkürverbot und das Distanzkriterium.

60

B. Die positive Vorwirkung

das Staatshandeln verstehen. 109 Was den Wegfall des Vertrauensschutzes anbetrifft, ist bereits fraglich, ob man von dem Bürger eine Unterscheidung zwischen Gesetzesbeschlüssen des Bundestags und der sonstigen Berichterstattung über Gesetzesprojekte verlangen kann. llo Jedenfalls kann wohl momentan davon ausgegangen werden, daß der einzelne Normen ohne förmlichen Verkündungsakt grundsätzlich nicht als verbindlichen Staatsakt betrachten und deshalb auch ihre frühzeitige Anwendung nicht in Kauf nehmen wird.

Im Ergebnis ist somit das Abstellen auf die Berichterstattung durch die Massenmedien vor der Gesetzesverkündung mit erheblichen Risiken behaftet. Zwar sind derartige Informationen durchaus geeignet, die Kenntnis der Bevölkerung von Normentwürfen und Gesetzen zu erweitern, weshalb sie als zusätzliche oder sekundäre Informationsquelle zweifellos nützlich sind. 111 Nach dem momentan vorherrschenden und auch nicht in Frage gestellten Verständnis der Bekanntmachung von Rechtsnormen kann aber keineswegs davon ausgegangen werden, daß die Massenmedien die Funktionen der Verkündung zu einem früheren Zeitpunkt übernehmen können. Solange eine Norm noch nicht verkündet ist, soll sie nach der jetzigen Rechtslage keine Geltungskraft erlangen. 112 Daher ist eine Voranwendung werdender Normen ohne gesetzliche Anordnung zumindest bis zum Zeitpunkt ihrer offiziellen Bekanntmachung nicht möglich. b) Die Bedeutung der Verkündung von Rechtsvorschriften in der Schweiz l13

Obwohl die positive Vorwirkung in der Schweiz ein gängiger Begriff ist, wird nirgendwo ausdrücklich ihr Verhältnis zu der Bekanntmachung von 109 So berichten die Medien oft über ein Gesetz und weisen speziell auf den nach den gesetzlichen Vorschriften maßgeblichen Inkrafttretenstermin hin. Auch dies zeigt, daß aus der Perspektive der Massenmedien ihre Berichterstattung keineswegs die sofortige Anwendbarkeit einer Norm auslösen soll. 110 Ähnlich Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 32, 111 (138); Iliopoulos-Strangas, Rückwirkung, S. 79; Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 33, sowie v. SchlabrendorjJ, BVerfGE 37, 363 (419), der daneben auf die Gefahr eines mißbräuchlichen Vorgehens der Gesetzgebungsorgane hinweist. Deshalb kann von dem einzelnen nicht verlangt werden, daß er sein Verhalten bereits ab dem Gesetzesbeschluß am kommenden Recht ausrichtet. Die Rückwirkungsproblematik muß auf andere Weise gelöst werden. 111 Zur Unterstützung dieser Funktionen sind sie aber sehr wohl geeignet. Vgl. hierzu F. Kirchhof, DÖV 1982, 397 ff. (397), der für eine Zusatzveröffentlichung kommunaler Satzungen eintritt. 112 Aschke, ÜbergangsregeJung, S. 18 f. 11) Damit diese Arbeit nicht zu umfangreich wird, kann das schweizerische Publikationssystem nur in seinen Grundzügen dargestellt werden.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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Nonnen angesprochen. Daher soll hier zuerst die Ausgestaltung der Verkündung von Rechtsvorschriften dargestellt werden, bevor deren Bedeutungsgehalt im Blick auf die gesetzlich nicht vorgesehene Voranwendung ennittelt wird. Während VerJassungsgesetze unmittelbar mit der Annahme durch das Volk verbindlich werden,114 zeichnen sich Bundesgesetze sowie allgemeinverbindliehe Bundesbesehlüsse durch eine gewissennaßen zwei stufige Publikation aus. Zunächst werden sie im Bundesblatt veröffentlicht, damit das Volk als Organ der Gesetzgebung im Referendumsweg tätig werden kann. 115 Nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens sind sie entsprechend dem Publikationsgesetz bekanntzumachen. Nonnalerweise geschieht dies durch Aufnahme in die Amtliche Sammlung, welche grundsätzlich fünf Tage vor dem Inkrafttreten der Nonn liegen soll (sog. ordentliche Publikation gern. Art. 6 I PubIG). Ausnahmsweise kann eine Nonn auch schon vor Ablauf dieser Frist oder sogar ohne vorausgegangene Publikation in der Amtlichen Sammlung in Kraft treten, sofern dies zur Sicherstellung ihrer Wirkungen unerläßlich oder eine ordentliche Publikation wegen Dringlichkeit oder anderer außerordentlicher Verhältnisse nicht möglich ist (Art. 7 I, 11 PubIG). Eine derartige Vorgehensweise ist insbesondere zur Verhinderung von Rechtsrnißbräuchen angebracht. Die in Frage stehende Nonn ist hier jedoch auf andere Weise, also durch Radio, Fernsehen, Aushänge etc. bekanntzumachen (sog. außerordentliche Publikation), und der einzelne kann sich durch den Nachweis, daß er den Erlaß nicht kannte oder trotz pflichtgemäßer Sorgfalt nicht kennen konnte, entlasten (Art. 10 11 PubIG). Außerdem hat eine alsbaldige Aufnahme der Nonn in die Amtliche Sammlung zu erfolgen (Art. 10 11 PubIG).116 Eine ähnliche Handhabung findet sich auch auf Kantonsebene vor. 1l7 Reehtsverordnungen werden, weil sie nicht dem Referendum unterstehen, einstufig veröffentlicht. Sofern sie dem Bundesrecht angehören, werden sie regelmäßig in der Amtlichen Sammlung verkündet. 118 Auf kantonaler Ebene ist die Bekanntmachung derartiger Rechtsnonnen weitgehend gleich ausgestaltet. 119 Satzungen des Bundes bedürfen gemäß Art. 1d PublG grundsätzlich einer Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung. Bei Satzungen der Kantone, Gemeinden oder sonstiger autonomer Körperschaften findet gleichfalls eine Verkündung statt. Bemerkenswert ist dabei, daß bei Gemeindesatzungen häu-

114

Moor, Droit administratif, S. 168.

Züst, Veröffentlichung und Inkrafttreten von Rechtseriassen, S. 48. 116 Ausführlichere Darstellungen zur Publikation finden sich bei Moor, Droit administratif, S. 166 ff.; BBL 1983 III S. 433 ff. 117 Züst, Veröffentlichung und Inkrafttreten, S. 55. llK Züst, Veröffentlichung und Inkrafttreten, S. 62 ff. 119 Züst, Veröffentlichung und Inkrafttreten, S. 74-81. 115

62

B. Die positive Vorwirkung

fig nicht ihr gesamter Inhalt veröffentlicht wird.!20 Insgesamt läßt sich also in der Schweiz eine weitgehende Bekanntmachung sämtlicher Rechtsnormen vorfinden. Angesichts dessen, daß in der Schweiz in gewissen Ausnahmesituationen (Rechtsrnißbrauch), sofern keine abweichenden gesetzlichen Regelungen bestehen, eine Norm ohne vorausgegangene ordentliche Publikation in der Amtlichen Sammlung in Kraft treten kann, ist zu vermuten, daß die Publikationsvorschriften nicht wie in Deutschland einer Voranwendung künftigen Rechts entgegenstehen. Gegen die Ansicht, daß eine Norm ohne vorherige ordentliche Verkündung in Kraft treten können soll, wurde zwar das Argument der mangelnden Voraussehbarkeit der Rechtslage für den Bürger hervorgebracht.!2! Durchsetzen konnte sich die letztgenannte Position aber nicht. Das Bundesgericht wies darauf hin, daß selbst die Einhaltung der Fünftagesfrist zwischen Publikation und Inkrafttreten im Hinblick auf die Voraussehbarkeit oft zu kurz sei. 122 Viel wichtiger sei aber, daß in gewissen Situationen ein erhebliches öffentliches Interesse an der sofortigen oder rückwirkenden Inkraftsetzung einer Norm bestehen kann, dem das Interesse des Bürgers an der Berechenbarkeit staatlichen Handeins zu weichen hat. Dies sei insbesondere zur Vermeidung einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Altrechts notwendig.!23 Eine sofortige Inkraftsetzung einer Norm scheitert daher nur, wenn die damit verbundene Belastung für den Bürger in keinem vernünftigen Verhältnis zum Zweck der Gesetzesänderung steht.!24 Im Ergebnis läßt sich dem entnehmen, daß in der Schweiz bei Rechtsnormen, die die Bevölkerung zwecks Verhinderung von Rechtsrnißbräuchen überraschen sollen, nicht an dem Erfordernis einer ordentlichen Publikation festgehalten wird; vielmehr läßt man es zunächst ausreichen, wenn der Bürger vor allem über die Massenmedien von der entsprechenden Norm Kenntnis nehmen kann. Da in diesen Fällen die Norm sofort in Kraft tritt, kann sich die Frage nach einer positiven Vorwirkung nur für den davorliegenden Zeitraum stellen. Rechtsnormen mit anderer Zielsetzung können e contrario gegenüber den einzelnen solange nicht angewendet werden, als ihre ordentliche Publikation noch aussteht.!25 Abschließend sei darauf hingewiesen, daß bei Rechtsnormen, die in einem zweistufigen Verfahren zu publizieren sind, nicht bereits die erste Publikation Sinn und Zweck des VerkündungserforderZüst, Veröffentlichung und Inkrafttreten, S. 90 ff. Geiger, SJZ 52, 56 ff. (57). 122 BGE 92 I 226 (232). 123 BGE 92 I 226 (232); vgl. zum Streitstand auch BBL 1983 III 441 ff. 124 BGE 104 Ib 205 (216). 125 BGE 104 Ia 167 (170); Moor, Droit administratif, S. 166 f.; Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 41 f.; Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 254 f.; Knapp, Grundlagen I, Rz. 265. 120 121

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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nisses genügt. Denn der an die· Stimmbürger gerichteten Botschaft fehlt es sowohl an Angaben zum Datum der Inkraftsetzung als auch an etwaigen Übergangsbestimmungen. 126 c) Vergleich Deutschland-Schweiz

Damit der Leser diesen Unterschied zwischen dem deutschen und schweizerischen Recht besser nachvollziehen kann, wird hier nochmals auf die in beiden Ländern vorfindbare Rechtssituation - jetzt aber in direkter Gegenüberstellung - eingegangen. Wie soeben aufgezeigt, kann in der Schweiz eine Rechtsvorschrift insbesondere zur Erzielung eines "Überraschungseffekts" sofort in Kraft treten, obwohl sie noch nicht ordentlich in der Amtlichen Sammlung verkündet ist. In Deutschland werden Rechtsnormen demgegenüber regelmäßig ohne ordentliche Verkündung weder für die Rechtsanwendungsorgane noch für den Bürger verbindlich. Zwar meinte das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 65, 283 (291), dem Rechtsstaatsprinzip könne kein generelles Gebot, "daß die Verkündung einer Rechtsnorm ihrem Inkrafttreten vorausgehen müsse", entnommen werden. 127 Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, daß von einem "vorgezogenen Inkrafttreten" nur insoweit gesprochen wird, als lediglich das Zustandekommen der Rechtsnorm bekanntgemacht, hinsichtlich ihres weiteren Inhalts aber auf die Möglichkeit der Einsichtnahme bei gewissen Dienststellen verwiesen wird. Angesichts dessen, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Parlamentsgesetze bereits mit dem Inverkehrbringen des ersten Stücks des Bundesgesetzblatts - also ohne eine in diesem Zeitpunkt real bestehende Möglichkeit des Bürgers, den Norminhalt zur Kenntnis zu nehmen - verkündet sind,128 erscheint BVerfGE 65, 283 (291) als "Ausreißer". In dem dort entschiedenen Fall waren mit der Publikation für den einzelnen die Existenz der Norm sowie alle weiteren einzuleitenden Schritte offenkundig. Unter Zugrundelegung der ansonsten vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Praktikabilitätsthese 129 mußte dies im Hinblick auf einen eindeutigen Verkündungsund Inkrafttretenstermin genügen. In der Literatur wird demgegenüber teilweise die Ansicht vertreten, daß Rechtsnormen erst ab der reell bestehenden Möglichkeit des Bürgers, vom Norminhalt Kenntnis zu nehmen, verkündet sind. 13o Insoweit wurde in BVerfGE 65, 283 (291) allein die bis heute andau126

BGE 104 Ia 167 (171).

Dieser Rechtsprechung schließt sich der BGH in ZfBR 1987, 106 f. an, wobei die Literatunneinungen ausführlich dargestellt werden. 12' BVerfGE 87, 48 (60); 16, 6 (16 ff.). 127

So argumentiert BVerfGE 16,6 (18) im Hinblick auf fönnliche Gesetze. Oertel, Der Zeitfaktor, S. 20 ff.; Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 98 ff. m.w.N. 129

130

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B. Die positive Vorwirkung

emde Streitfrage, in weIchem Zeitpunkt Gesetze verkündet sind, aktuell. Unabhängig davon, weIchem Verkündungszeitpunkt man folgt, ist aber in Deutschland fast einhellige Meinung, daß ein Gesetz ohne vorherige ordentliche Verkündung nicht in Kraft treten kann. 13\ Dies ist sicherlich auch auf traditionelle Aspekte zurückzuführen. Dahingehende Äußerungen lassen sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vorfinden, wobei man sich auf einen allgemeinen Grundsatz, \32 ein in der Verkündung liegendes wesentliches Erfordernis für die Existenz eines Gesetzes 133 oder die "Tatsache, daß die Rechtsordnung, indem sie das Gesetz in Kraft treten läßt, eben dadurch zu erkennen gibt, daß nunmehr der staatliche Gesetzeswille der Öffentlichkeit gegenüber rechtlich als geäußert, also als publiziert anzusehen sei,"\34 beruft. Für die zwischen dem ansonsten vollendeten Gesetzesprojekt und der Verkündung liegende Zeit kann daher ein Überraschungseffekt nur erzielt werden, wenn sich die jeweilige Norm diesbezüglich eine Rückwirkung beilegt. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Vertrauen des Bürgers in den Bestand der bisherigen Rechtslage bereits mit dem Gesetzesbeschluß des Bundestags und der darüber erfolgenden Berichterstattung nicht mehr schützenswert. Daraus folgt aber nicht, daß bei einer derart rückwirkenden Norm das ordentliche Publikationserfordernis entfällt. 135 Der Bürger wird die Anwendung einer derartigen Norm um so eher hinnehmen, als er sich von ihrem Inhalt vollständig unterrichten kann. Außerdem würde sonst für die Zeit bis zur Verkündung das eingangs erwähnte Distanzkriterium ausgehöhlt. Zusammenfassend ist also festzustellen, daß eine Rechtsvorschrift in der Schweiz Wirkungen äußern kann, obwohl das Gesetzgebungsverfahren noch nicht formell abgeschlossen ist, während in Deutschland die ordentliche Verkündung unerläßliche Voraussetzung für die Existenz und Rechtsverbindlichkeit einer Norm ist. Somit steht in Deutschland das Erfordernis einer ordentlichen Verkündung der Gesetze einer positiven Vorwirkung ohne gesetzliche Anordnung generell, in der Schweiz dagegen nur partiell entgegen.

131 So z.B. Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 97; Ziegler, Die Verkündung, S. 51; Kisker, Die Rückwirkung von Gesetzen, S. 9 Fn. 4; Vervier, Der Rechtswechsel im öffentlichen Recht, S. 32. Auch Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 75 f., dürfte dahingehend zu verstehen sein. 132

Dambitsch, Die Verfassung des Deutschen Reiches mit Erläuterungen, S. 58.

133

Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band II, S. 84.

134

Lukas, Über die Gesetzes-Publikation, S. I f.

135 Vgl. zur Thematik Rückwirkung, Publikation und Vertrauensschutz auch Götz, in: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, S. 432 f.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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4. Voranwendung und Gesetzesvorrang Der Voranwendung ohne jegliche Stütze im geltenden Recht ist unter Umständen auch wegen dem in Art. 20 III GG enthaltenen Prinzip des Gesetzesvorrangs die Berechtigung abzusprechen. Nach diesem ist die Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden, d.h. sie darf keine den bestehenden Gesetzen zuwiderlaufende Maßnahmen treffen. Solange ein Gesetz nicht bzw. nicht mehr existiert, erscheint dagegen ein Verstoß der Verwaltung gegen das Vorrangsprinzip kaum möglich. 136 Von Interesse ist daher, in welchem Verhältnis Außerkrafttreten und Werden von Normen stehen bzw. ob in gewissen Situationen nicht ein Abweichen vom Gesetzesvorrang angebracht wäre. a) Außerkrafttreten und Vorwirkung

Es ist kaum möglich, eine umfassende Darstellung des in vielen Fällen bis heute noch nicht eindeutig geklärten Außerkrafttretens von Gesetzen zu geben. Aus diesem Grunde werden hier nur diejenigen Möglichkeiten des Außerkrafttretens, die in einem gewissen Bezug zur Vorwirkung von Normen stehen, angesprochen. 13 ? Als Motiv für die Voranwendung einer Norm wird vor allem deren größere Zeitgerechtigkeit genannt. 138 Folglich ist aufzuzeigen, wie sich das "Alter" einer Norm oder etwaige Gesetzesänderungsabsichten auf die Verbindlichkeit bestehender Normen auswirken. Während anfänglich die Rechtswissenschaft davon ausging, daß die Zeit keinerlei physischen Wirkungen zu äußern vermag,139 ist heute die Beeinflussung von Rechtsnormen durch zeitliche Faktoren anerkannt. Dies soll hier beispielhaft durch folgende Äußerung Gerhart Husserls belegt werden: "Rechtsnormen werden nicht hineingestellt in den Fluß der Geschichte als ,fertige Produkte' des menschlichen Geistes, die, einmal erzeugt, bleiben, was sie ihrer Idee nach von jeher waren. Die Rechtsnorm tritt ein in die geschichtliche Zeit. Die Zeit steht nicht still, und die Rechtsnorm geht sozusagen mit."140 Ebenso ist heute die Tatsache, daß der mit dem Fortschreiten der Zeit verbundene Wandel der Verhältnisse ein Verfassungswidrigwerden von Normen bewirken kann, gängiges Gedankengut. 141 136 Kloepjer, Vorwirkung, S. 113 f. 137 Weitergehende Ausführungen zum Außerkrafttreten finden sich bei Oertel, Der Zeitfaktor, S. 41-76; Schneider, Gesetzgebung, Rz. 550 ff. 138 Kloepjer, Vorwirkung, S. 95, sowie DÖV 1973, 657 ff. (662). 139 v. Köhler, VerwArch 50 (1959), S. 214 ff. (220). 140 Husserl, Recht und Zeit, S. 23. 141 Vgl. hierzu z.B. BVerfGE 16, 128 (140 ff.); 54, 11 (37). 5 Guckelberger

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B. Die positive Vorwirkung

Deshalb fragt sich, ob nicht generell mit zunehmender Geltungsdauer, d.h. dem "Altern" eines Gesetzes, dessen Außerkrafttreten verbunden ist. Hierfur könnte insbesondere sprechen, daß der historische Normgeber mit seinem Gesetz möglicheIWeise gewisse spätere Situationen gar nicht erfassen wollte. 142 Dem ist aber entgegenzuhalten, daß sich Rechtsnormen grundsätzlich durch eine gewisse "Entzeitung"143 auszeichnen sollen. Dadurch, daß sie generell-abstrakt formuliert und auf einen bestimmten allgemeingültigen Sinneskern reduziert werden, sind sie auf Dauer angelegt und grundsätzlich gegenüber zukünftigen Entwicklungen offen. l44 Daß das Alter einer Norm kein relevanter Außerkrafttretensfaktor sein kann, zeigt sich zudem im Bestehen "alter" Normen, deren Gültigkeit von niemand angezweifelt wird,145 im Vergleich zu manchem, erst vor kurzem erlassenen und bereits wieder außer Kraft getretenen Gesetz. 146 Das Ende der Rechtsverbindlichkeit einer Norm dürfte deshalb wohl weniger von ihrer Geltungsdauer als von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung abhängen. 147 Ergänzend sei noch auf die durch das Abstellen auf die Reichweite des historischen GesetzgebeIWillens entstehenden Rechtsunsicherheiten hingewiesen. Nicht unbedingt jeder Normanwender dürfte diesen kennen. Nach all dem können das Alter einer Norm bzw. der fehlende Regelungswille des damaligen Gesetzgebers fur sich allein nicht das Außerkrafttreten einer Rechtsnorm herbeifuhren. 148 Eine Norm könnte jedoch unter Umständen aufgrund der Änderungsabsichten des Normgebers, in denen ihre mangelnde Zeitgemäßheit zum Ausdruck kommt, ihre Geltungskraft verloren haben. 149 Dies dürfte zwar regel142 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, S. 76: " ... da der Wille des Staates, die neueren, veränderten Rechtsverhältnisse zu regeln und sie Normen, die rur andere Tatbestände gegeben waren, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch nicht aufgegeben zu werden braucht." 143 Dieser Ausdruck dürfte wohl auf Husserl, Recht und Zeit, S.12 f., zurückgehen. 144 Husserl, Recht und Zeit, S. 12 f.; P. Kirchhof, in: Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, S. 18, sowie NJW 1986, 2275 ff. (2275); Neuner, Die Rechtsfindung contra legern, S. 148; in diese Richtung v. Köhler, VerwArch 50 (1959), S. 214 ff. (221). Allerdings ist der Aspekt der Dauerhaftigkeit wohl kein unabdingbares, sondern nur wünschenswertes Wesenselement eines Gesetzes. S. hierzu Cornpes, Der gesetzgeberische Eingriff, S. 24-30. 145 Man denke zum Beispiel an das 8GB.

146 Insoweit wird oft von der "Schnellebigkeit" unserer heutigen Zeit gesprochen. Vgl. hierzu P. Kirchhof, in: Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, S. 26. 147 Heute ist der Inhalt einer Norm oft durch ihre Eigenschaft als Maßnahmegesetz oder durch kurzfristige Reaktionen auf plötzlich aktuell werdende politische Themen geprägt (vgl. hierzu Thiele, DVBI. 1978, 901 ff.). 148 In diese Richtung: Neuner, Die Rechtsfindung contra legern, S.156, sowie SchrnidtJortzig, Rechtstheorie 1981, S. 395 ff. (411 f.). 149

Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird hier nur das Außerkrafttreten

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mäßig voraussetzen, daß die betreffende Norm ein gewisses Alter erreicht hat. Ausschlaggebender Faktor fiir das Ende ihrer Verbindlichkeit ist aber, daß ihr Norminhalt - wie sich in den Gesetzesänderungsabsichten zeigt - der heutigen Wirklichkeit nicht mehr voll entspricht. Da nach herrschender Meinung die infolge ihrer Entzeitung vom historischen Gesetzgeber losgelöste Norm stets im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen zu sehen ist,150 wird die Anwendung eines Rechtssatzes durch die Gegenwart legitimiert. Maßgeblich ist nicht, "durch wessen Autorität das Gesetz einst erlassen wurde, sondern durch wessen Autorität es heute fortbesteht."151 Bei einer nach Ansicht des heutigen Normgebers nicht mehr völlig zeitgemäßen Norm könnte zweifelhaft sein, ob sie wirklich noch dem Willen des heutigen Volkssouveräns entspricht. Durch seine Änderungsabsichten bringt er ja selbst zum Ausdruck, daß die betreffende Norm die ihr ursprünglich zugeschriebene Ordnungsfunktion nicht voll erfiillt. Deshalb ist zu überlegen, ob eine solche Norm nicht zwischenzeitlich wegen der in den Änderungsabsichten zum Ausdruck kommenden mangelnden Zeitgemäßheit außer Kraft getreten und infolgedessen nicht mehr anzuwenden ist. Hiergegen spricht jedoch, daß Rechtsnormen nach allgemeiner Ansicht nicht bereits aufgrund von Normänderungsabsichten, sondern erst im Wege ihrer Aufhebung bzw. Ersetzung durch eine spätere ranggleiche oder ranghöhere Norm (lex posterior derogat legi priori) außer Kraft treten. 152 Ebenso wie bei den befristeten Gesetzen entscheidet der Normgeber bei der Lex-posterior-Regel selbst, wann der zeitliche Geltungsbereich eines Rechtssatzes endet. Dementsprechend stellt auch das BundesveIWaltungsgericht fest, daß die Aufhebung von Rechtsnormen grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist. 153 Jörg Neuner will dagegen bei einem gänzlichen Auseinanderfallen der Regelungsintentionen des damaligen und des heutigen Normgebers erlauben, daß Richter auch bei einem noch ausstehenden Normaufhebungsbeschluß des Gesetzgebers ihre Entscheidungen bereits am kommenden Recht ausrichten. Insbesondere die allgemeine Anerkennung derogatorischen Gewohnheitsrechts zeige, daß Altrecht sogar ohne irgendein Tätigwerden des Normgebers außer Kraft treten kann. 154 So einfach, wie von Neuner dargestellt, läßt sich aber der oben genannte Grundsatz nicht entkräften. Zum Teil wird die Existenz von Normen im Zusammenhang mit den Änderungsabsichten des Normgebers angesprochen. Andere vom Normgebungsverfahren losgelöste Aspekte des Zeitelements werden nicht erörtert. 150 Vgl. BVerfGE 34, 269 (288 f.). 151 Zippelius, Die Bedeutung kulturspezifischer Leitideen fiir die Staats- und Rechtsgestaltung, S. 26 f., sowie JuS 1993, 889 ff. (893). 152 Vgl. hierzu Schneider, Gesetzgebung, Rz. 553 ff. 153 BVerwGE 28,179 (182); ebenso Degenhardt, BayVBI. 1990,71 ff. (73). 154 Neuner, Die Rechtsfindung, S. 153.

S'

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derogatorischen Gewohnheitsrechts verneint. Wegen des Gesetzesvorrangs sei die Bildung einer Gegenrechtsüberzeugung nicht möglich. Infolgedessen könne Gewohnheitsrecht nur bei Regelungslücken entstehen, rechtsverneinenden Charakter könne es dagegen nicht haben. 155 Könnte bestehendes Recht bereits durch die Verlautbarung von Normänderungsabsichten außer Kraft treten, könnten gewisse Initiativberechtigte Normen aufheben, obwohl sie gar nicht der Gesetzgeber sind. Auch ist es denkbar, daß die überwiegende Meinung der Bevölkerung und zunächst auch der zuständige Normgeber bei Einleitung des Gesetzesänderungsverfahrens eine Rechtsnorm für offensichtlich antiquiert hält, der Gesetzgeber sich wider Erwarten aber doch noch zum Festhalten an der bestehenden Vorschrift entschließt. Hier wäre die Annahme eines vorzeitigen Außerkrafttretens gerade nicht vom Willen des Souveräns gedeckt. Eine Änderung der Absichten des Normgebers kann daher für sich allein nicht zum Außerkrafttreten bestehender Rechtsvorschriften führen. 156 Vielmehr ist erforderlich, daß der Gesetzgeber selbst den Zeitpunkt des Außerkrafttretens einer Rechtsnorm bestimmt. Aus Gründen der Rechtssicherheit kann dieses Ereignis nicht bereits im Augenblick der Gesetzesverabschiedung eintreten, sondern muß sich selbst in Gesetzesform manifestieren. Im übrigen dürfte der Wille des Souveräns regelmäßig dahin gehen, daß das bisherige Recht erst mit Inkrafttreten des Neurechts außer Kraft treten soll, da sonst mit unüberschaubaren Zuständen für den Zeitraum ab der Gesetzesverabschiedung zu rechnen ist. Dies ist darauf zurückzuführen, daß momentan die Möglichkeit einer Voranwendung des künftigen Rechts (fast) gar nicht gesehen wird. Im Ergebnis ist daher am Außerkrafttretensgrund "lex posterior derogat legi priori" festzuhalten. ISS Schmidt-Jortzig, Rechtstheorie 1981, S.395 ff. (408 f.); in diese Richtung noch BVerwGE 26, 282 (284): "... Sie widerspricht unter den hier gegebenen Umständen Art. 20 III GG. Angesichts der strikten Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht kann ihr nicht die Möglichkeit eröffnet sein, einen sie bindenden Rechtssatz dadurch außer Kraft zu setzen, daß sie sich nicht an diesen Rechtssatz hält und dadurch einen mit ihm nicht übereinstimmenden tatsächlichen Zustand scham." Auch Degenhardt, BayVBI. 1990,71 ff. (75) plädiert für eine Einschränkung dieses Außerkrafttretensgrundes. In der Schweiz wird die Existenz derogatorischen Gewohnheitsrechts durchaus abgelehnt. Vgl. hierzu BGE 94 I 305 (308): "Die Auffasssung des Verwaltungsgerichts, wonach das Gewohnheitsrecht auch auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts als Rechtsquelle anzuerkennen ist, und es zwar Lücken des geschriebenen Rechtes auszujiillen, jedoch positive Rechtssätze nicht zu ändern oder auftuheben vermag, entspricht der herrschenden Lehre und im be sondern auch der Praxis des Bundesgerichts." So z.B. auch Häjelin/ Müller, Grundriß, Rz. 163. 156 So im Ergebnis auch Degenhardt, BayVBI. 1990, 71 ff. (77). Dieser begründet seine Ansicht damit, daß dem einzelnen eine Überprüfung der Rechtssätze auf etwaige Änderungsabsichten des Norrngebers nicht zuzumuten ist. Folgt man jedoch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach das Vertrauen des einzelnen in bestehende Rechtssätze spätestens ab Gesetzesbeschluß nicht mehr schützenswert ist (BVerfDE 72, 200 [260]; in diesem Fall wird geradezu verlangt, daß der einzelne Gesetzesänderungsabsichten zur Kenntnis nimmt), erscheint diese Argumentation fragwürdig.

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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Hinzuzufügen bleibt noch, daß das soeben gefundene Ergebnis in der Schweiz durchaus herrschend ist. Denn nach dem dort vorfindbaren Grundsatz der Parallelität der Rechtsformen (auch "Parallelismus der Formen" oder "Theorie der widersprechenden Akte" genannt) kann "ein Rechtssatz - außer durch eine übergeordnete Norm - nur in dem Verfahren abgeändert oder aufgehoben werden, in dem er ursprünglich erlassen worden ist."157 Obwohl dieser Grundsatz fast überall stereotyp aufgeführt wird, finden sich kaum Äußerungen, die zu dessen Herkunft und Inhalt in größerem Umfang Stellung nehmen. Meistens wird auf ein allgemeines verfassungsrechtliches Prinzipl58 sowie die Tatsache, daß er eine Ausprägung des Prinzips des Gesetzesvorrangs darstellt,159 verwiesen. Betrachtet man diese Materie eingehender, fällt auf, daß jener Parallelismus der Formen im Grunde auf dreierlei Weise begründet wird. Zum einen stellt er sicher, daß die Exekutive nicht durch Erlaß eines neueren Rechtssatzes eine höherrangige Norm außer Kraft setzen kann. 16o Die Parallelität der Formen ist hier also eine Ausprägung der Gewaltenteilung. Zum anderen soll dieser Grundsatz den Beteiligungsrechten derjenigen, die auch am Normerlaß mitgewirkt haben, Rechnung tragen. 161 Letztlich wird hervorgebracht, jede rechtssetzende Stelle sei hierdurch solange an ihre Akte gebunden, als sie sie nicht in einem der Rechtssetzung entsprechenden Verfahren beseitigt oder geändert hat. 162 Nur so werde eine gleichmäßige Behandlung aller Bürger garantiert. 163 Die strenge Bindung an das Gesetz soll demnach umfassend einer Willkür staatlichen Handeins entgegenwirken. Demzufolge kann in der Schweiz eine Rechtsvorschrift ohne entsprechenden "Gegenakt" nicht außer Kraft treten. Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, daß ein Außerkrafttreten von Rechtsnormen allein wegen ihres Alters oder der in den Gesetzesänderungsabsichten zum Ausdruck kommenden mangelnden Zeitgemäßheit zu verneinen ist. 164 157 Rhinow / Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 43; Knapp, Grundlagen I, Rz. 393; Thommen, Vorwirkung, S. 109; BGE 112 Ia 136 (139); 105 Ib 72 (81); 103 Ia 369 (378); 101 Ib 52 (55); 101 Ia 583 (591); 98 Ia 105 (111); 94 I 29 (36). 15! BGE 105 Ib 72 (81). 159 BGE 112 Ia 136 (139); 103 Ia 369 (378); 101 Ib 52 (55); 94 I 29 (36); Thommen, Vorwirkung, S. 109. 160 Grisel, ZBL 75 (1974), S. 233 ff. (255); Moor, Droit administratif, S. 69; BGE 101 Ib 52 (55). 161 BGE 101 Ib 52 (55); 94 I 29 (36). 162 BGE 94 I 29 (36); 74 I 17 (17 f.), welche auf F. Fleiner, Die Institutionen des Deutschen Verwaltungsrecht, S. 139 f., sowie Olto Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 80 verweisen; Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. I, S.196. 163 BGE 94 I 29 (36). 164

So im Ergebnis auch Kloepjer, Vorwirkung, S. 115 f.

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B. Die positive Vorwirkung

b) Voranwendung trotz bestehenden Altrechts?

Sofern sich fur die zur Entscheidung anstehenden Fälle entsprechendes Altrecht vorfinden läßt, ist der jeweilige Rechtsanwender gemäß Art. 20 III GG an dieses gebunden. Zu einer Voranwendung des noch nicht in Kraft getretenen Neurechts wird er daher nur willens sein, wenn sich diese als rechtmäßig legitimieren läßt. Letzteres könnte daraus folgen, daß bereits eine Bindung an das künftige Recht besteht, gegenüber der die Bindung an das Altrecht zurücktritt. Infolgedessen ist zu ermitteln, welche Motive hauptsächlich fur eine Voranwendung sprechen und ob aus diesen eine das Altrecht überlagernde Bindung an das werdende Recht zu entnehmen ist. Als tragendes Motiv der Voranwendung einer künftigen Norm wird vor allem die Verhinderung ansonsten innerhalb kürzester Zeit zu korrigierender Verwaltungsentscheidungen genannt. 165 Die Voranwendung nehme im Grunde nur das Ergebnis eines anschließenden Rechtsbehelfsverfahrens, innerhalb dessen die zwischenzeitliehe Rechtsänderung zu berücksichtigen ist, vorweg. 166 Auch sei die jetzige Ablehnung eines Antrags, der kurze Zeit später neu eingereicht gemäß dem geänderten Recht zu bescheiden ist, wenig sinnvoll. 167 Zur Vermeidung unwirtschaftlichen Verwaltungsaufwands sei daher ein voranwendendes Tätigwerden geradezu geboten. Allein aus der Aufhebbarkeit der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung im anschließenden Rechtsbehelfsverfahren auf eine generelle Voranwendbarkeit des Neurechts zu schließen, ist nicht ganz unbedenklich. Dieses Argument kann in den Fällen, in denen bis zum Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens das Neurecht wider Erwarten immer noch nicht in Kraft getreten ist, nicht greifen. 168 Es besteht keine allgemeine Regel, wonach zwischenzeitlich in Kraft getretenes Neurecht stets bei der Entscheidung über einen Rechtsbehelf zu berücksichtigen ist. Am ehesten mag diese These noch fur Widerspruchsverfahren gelten, bei denen Rechtsänderungen zugunsten des Widerspruchsfuhrers grundsätzlich zu beachten sind. 169 Dagegen richtet sich die Bestimmung des im gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren anzuwendenden Rechts nicht nach prozessualen Kriterien, sondern nach materiellem Recht. 170 165 Kloepfer, Vorwirkung, S. 95, sowie DÖV 1973,657 ff. (662); Zimmerlin, ZSR NF 88 1(1969), S. 429 ff. (436); BVR 1983,225 ff. (230); Götz, DVBI. 1972, 188 f. (188). 166

Kloepfer, Vorwirkung, S. 95, sowie DÖV 1973, 657 ff. (661 f.).

167

Zimmerlin, ZSR NF 88 I (1969), S. 429 ff. (436); BVR 1983,225 ff. (230).

168

In diese Richtung Straub, Das intertemporale Recht, S. 89.

169

V gl. dazu Pietzner I Ronellerifitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, § 38

Rz. 15 f.; Mager, Der maßgebliche Zeitpunkt fur die Beurteilung der Rechtswidrigkeit von

Verwaltungsakten, S. 148-154. 170

In diese Richtung Pietzner I Ronellenfitsch, Das Assessorexamen, § 20 Rz. 22.

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Sofern also abzusehen ist, daß das Neurecht erst bei Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs zum Zuge käme, kann dieses Argument überwiegend nur die Voranwendung solcher Rechtsnormen, die bereits ergangene Verwaltungsentscheidungen rückwirkend erfassen wollen, begründen. 171 Insoweit übersehen seine Befürworter auch, daß Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeß unterschiedliche Funktionen erfüllen. Während der Rechtsweg allein der Klärung streitiger Fragen dient, soll das Verwaltungsverfahren das materielle Recht im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung unter Einbezug politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren konkretisieren. 172 Angesichts der Tatsache, daß nur ein geringer Teil der Verwaltungsentscheidungen mit Rechtsbehelfen angegriffen wird, erscheint die obige These insgesamt fragwürdig. 173 Eine erneute Gesuchsbearbeitung ließe sich nicht nur mittels einer den Antragsteller begünstigenden Normvoranwendung, sondern auch durch Zurückstellen des Gesuches bis zum Inkrafttreten des Neurechts vermeiden. 174 Im Gegensatz zur Voranwendung wären bei dieser Vorgehensweise spätere Abänderungsmaßnahmen unnötig, weil der Inhalt der werdenden Norm entgegen aller Erwartungen doch noch modifiziert wurde. Die anfangs genannten Gründe sind daher zur Legitimierung einer positiven Vorwirkung ohne gesetzliche Anordnung weniger geeignet. Für Kloepfer und Häberle ergibt sich die Zulässigkeit der Voranwendung des werdenden Rechts aus der "Geltungslabilität" des bestehenden Altrechts. 175 "Besonders mit zunehmendem Alter vieler Gesetze und vor allem in der Geltungsendphase bei absehbarem Außerkrafttreten verdeutlicht sich der Verlust der Geltungsintensität."176 Sobald die Planung eines mit Rückwirkung ausgestatteten neuen Gesetzes auf der Tagesordnung steht, wird das Altrecht zunehmend schwächer, ab dem Zeitpunkt des Zustandekommens des neuen Gesetzes 177 entbehrt es gar jeglicher Geltungskraft. 178 Daß ein solcher Gel171 So nachher im Ergebnis auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 99 f., 114, sowie DÖV 1973, 657 ff. (663); vgl. zu dem im Rechtsmittelverfahren anzuwendenden Recht auch die neuere Ansicht von Mager, Der maßgebliche Zeitpunkt, s. 43 ff. 172 F Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 65 f.; so im Ergebnis auch Püttner, Verwaltungslehre, S. 366.

173 So auch Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin. S. 229. 174 Straub, Das intertemporale Recht, S. 90, hält das Abwarten des Inkrafttretens des Neurechts für ohne weiteres zumutbar. 175 Kloepfer, Vorwirkung, S. 117 f., sowie DÖV 1973, 657 ff. (662 f.); Häberle, ZfP 1974, 111 ff. (131); in diese Richtung Dahs. ZPR 1970.3 ff. (5). 176

Kloepfer, Vorwirkung, S. 117.

Wenn die Nonn von den Gesetzgebungsorganen, bei Parlamentsgesetzen also von Bundestag und Bundesrat, angenommen wurde. 177

178

Kloepfer, Vorwirkung, S. 117 f.

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tungsschwund des Altrechts nur bei rückwirkenden künftigen Normen angenommen wird, erklärt sich folgendermaßen: Zum einen ist davon auszugehen, daß eine Voranwendung künftigen Rechts kaum in Frage kommt, wenn der Erlaß einer entsprechenden rückwirkenden Norm unmöglich ist. So scheitert beispielsweise eine Voranwendung künftiger Strafgesetze an Art. 103 II GG. 179 Viel wichtiger dürfte aber sein, daß der jeweilige Gesetzgeber nichtrückwirkenden Normen keine Geltung fur die Zeit vor ihrem Inkrafttreten verleihen will. '80 Indem nur rückwirkende Normen voranwendungstauglich sind, soll vermieden werden, daß die Rechtsanwendungsorgane die an sich dem Normgeber obliegende Bestimmung des zum Gesetzesinhalt zählenden zeitlichen Geltungsbereichs einer Norm wahrnehmen. Wird sich der jeweilige Normgeber aber mit großer Wahrscheinlichkeit fur eine rückwirkende Norm entscheiden, überwiegt nach Ansicht dieser Autoren die Loyalität gegenüber dem Neurecht die Bindung an das labile Altrecht. '81 Infolgedessen dürfe der Rechtsanwender voranwendend tätig werden. Vorteil einer solchen Vorgehensweise ist, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse unter Umgehung des relativ langwierigen Rechtsänderungsverfahrens so bald als möglich den geänderten Anschauungen angeglichen werden. '82 Ähnlich begründet J. Neuner die Möglichkeit eines Richterrechts contra legern bei einer sich im positiven Recht abzeichnenden Normänderung. Das Beharren auf einem formellen Gesetzgebungsverfahren mache keinen Sinn, "wenn und sofern die Vorstellungen des Souveräns mit der ursprünglichen Regelungsintention schlechthin nicht mehr zu vereinbaren sind."'83 Zu beachten ist hierbei, daß sich diese Argumentation nicht mehr allein auf rückwirkende Normen beschränkt. Ebenso wird mancherorts bei einer begünstigenden Voranwendung, die ja im Interesse des Adressaten liegt, auf den Rückwirkungsaspekt der werdenden Norm verzichtet. '84 Ob die soeben dargestellten Ansichten ein Abweichen vom Gesetzesvorrang zu rechtfertigen vermögen, soll im folgenden aufgezeigt werden. Gegen die These von der Geltungslabilität des Altrechts spricht vor allem, wie nach dem deutschen Verwaltungsverfahrensrecht mit Verwaltungsakten anläßlich einer Rechtsänderung zu verfahren ist. Gemäß § 49 II I Nr. 4 VwVfG ist eine Behörde zum Widerruf eines begünstigenden Verwaltungs179 Vgl. hierzu Kloepfer, Vorwirkung, S. 100 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Rz. 236. 180 Kloepfer, Vorwirkung, S. 114 f. 181 Kloepfer, Vorwirkung. S.114-116. 182 Kloepfer, Vorwirkung, S. 95, sowie DÖV 1973, 657 ff. (662); Thommen, Vorwirkung, S. 11.

183

Neuner, Die Rechtsfindung contra legern, S. 153; ähnlich Dahs, ZPR 1970, 3 ff. (5).

184

So wohl Zimmerlin, ZSR 88 I (1969), S. 429 ff. (436); BVR 1983, 225 ff. (230).

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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aktes aufgrund einer geänderten Rechtsvorschrift allein unter den dort genannten engen Voraussetzungen berechtigt. Einem Antrag auf Wiederaufgreifen muß sie nur entsprechen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 I Nr. I VwVfG). Aus diesen Bestimmungen wird sodann ein allgemeiner Rechtsgrundsatz entnommen, wonach Verwaltungs akte bei Änderungen des maßgeblichen Rechts ihre Wirksamkeit allein wegen ihres Widerspruchs zum geltenden Recht nicht verlieren. 18s Die Voranwendung einer nichtrückwirkenden künftigen Rechtsnorm würde diesen Grundsatz unterlaufen. 186 Insbesondere die Ablehnung einer nach Altrecht noch zu erteilenden, in Voranwendung des Neurechts aber abzulehnenden Genehmigung wäre mit diesem kaum vereinbar. Eine den Adressaten begünstigende Voranwendung dürfte zumindest bei. Einschlägigkeit des § 51 I Nr. 1 VwVfG zu verneinen sein. Nach dessen eindeutigen Wortlaut muß ein Verwaltungsverfahren nur bei einer tatsächlich eingetretenen Änderung der Rechtslage wiederaufgegriffen werden. Bloß geplante Rechtsänderungen können den Anforderungen des § 51 I Nr. 1 VwVfG nicht genügen. Auch wäre die frühzeitige Bejahung eines Authebungsanspruchs allein aufgrund einer in Aussicht stehenden, den Antragsteller begünstigenden Rechtsänderung mit einer "abträglichen Rechtsunsicherheit" verbunden. 187 Zwar ließe sich daran denken, daß eine Voranwendung für den Adressaten des Behördenhandelns weniger belastend als bei Zuwarten auf das Inkrafttreten einer für ihn ungünstigen rückwirkenden Rechtsänderung iSt. 188 Da rückwirkende Gesetzesänderungen ohnehin nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen möglich sind, darf diesem Aspekt kein allzu großes Gewicht beigemessen werden. Im Gegenteil: Es ist an die Folgen einer vorangewendeten, letztlich aber doch nicht mit einer Rückwirkung versehenen Norm zu erinnern. 189 Abgesehen davon, daß eine gänzliche Rückgängigmachung der IR5 Knack, VwVfG, § 49 Rz. 6.4; Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, S. 162. Kleinlein, VerwArch 81 (1990), 149 ff. (163) meint, ein Verwaltungsakt sei auch dann vom Gesetz gewollt, wenn er aufgrund einer späteren Sach- oder Rechtslage wieder aufgehoben werden muß. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes sei grundsätzlich etwas anderes als die Rechtswidrigkeit seiner Aufrechterhaltung. 186 Tritt die neue Norm rückwirkend in Kraft, kommen die §§ 48, 49 VwVfG nicht zum Zuge. Vgl. Mayer/Kopp, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 14, S. 228. Bei der Voranwendung einer nichtrückwirkenden künftigen Norm würden insbesondere die einschränkenden Voraussetzungen des § 49 11 1 Nr. 4 VwVfG umgangen. IR7 BVerwG, NJW 1986, 1186 f. (1187). 188 Aspekt, der von Straub, Das intertemporale Recht, S. 91, gesehen wird. In diese Richtung: Kloepfer, Vorwirkung, S. 112; Thommen, Vorwirkung, S. 87.

1'9 Straub, Das intertemporale Recht, S. 92; vgl. andererseits die Position von Kloepfer, Vorwirkung, S. 125 f., der als Regulativ das Verhältnismäßigkeitsprinzip einsetzen will.

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B. Die positive Vorwirkung

Folgen der Voranwendung nicht immer möglich sem wird, stellt hier die Vorwegnahme einer nachteiligen Rechtsänderung für den Betroffenen eine Belastung dar. Folgt man den eine positive Vorwirkung ohne Bezugnahme auf das geltende Recht befürwortenden Autoren, wird, solange die künftige Norm noch nicht verkündet ist, faktischen Vorgängen normative Kraft zugeschrieben. '90 Eine derartige normative Kraft des Faktischen ist aber unserer Rechtsordnung fremd. 191 Dies zeigt insbesondere die in Art. 20 III GG enthaltene Regelung, wonach die Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden ist. Ist eine Norm aber noch nicht einmal erlassen, liegt nach allgemeiner Meinung kein Gesetz, sondern nur ein Normentwurf vor. 192 Hätte der Verfassungsgeber eine Bindung an erst werdende Normen gewollt, hätte er dies entsprechend zum Ausdruck bringen müssen. Daß dies nicht geschah, dürfte vor allem mit dem vom Gesetzesvorrang verfolgten Zweck, die Berechenbarkeit staatlichen Handelns zu gewährleisten, erklärbar sein. '93 Bei Anerkennung einer positiven Vorwirkung hätte es der Normgeber jederzeit in der Hand, durch Ankündigung einer rückwirkenden Norm die Rechtsanwendungsorgane in eine bestimmte Richtung zu lenken, nach den zwischenzeitlich gewonnenen Erfahrungen später aber von der Umsetzung dieser Absichten abzusehen. '94 Ebenso ist ein mißbräuchliches Berufen der Verwaltung auf angeblich bevorstehende Rechtsänderungen nie gänzlich auszuschließen. Der baden-württembergische Verwaltungs gerichtshof macht darauf aufmerksam, daß die Verwaltung, indem sie sich einerseits auf ihre strikte Gesetzesbindung an das Altrecht beruft, andere dagegen, die hiergegen nichts einzuwenden haben, im Wege der Voranwendung begünstigt, bestehendes Recht in gewissem Umfang usurpieren könnte. '95 Solange die jeweilige Norm noch nicht zustande gekommen ist, ist auch nicht einzusehen, warum die sichere Rechtsgrundlage eines formell

Eine zu frühzeitige Voranwendung den Bürger begünstigender rückwirkender Normen dürfte oft staatlichen Interessen zuwiderlaufen. 190 Straub, Das intertemporale Recht, S. 91; Kölz, ZSR NF 102 11 (1983), S. 101 ff. (173); Häberle, ZfP 1974, 111 ff. (131). \9\ Vgl. dazu Rehbinder, Einführung, S. 59 f.; Schmidt-Jortzig, Rechtstheorie 1981, 359 ff. (401 f.); P. Kirchhof, Verwalten und Zeit, S.3. Fiedler, AöR 102 (1977), S. 320 ff. (323) meint, die Geltungslabilität des Altrechts sage nichts über eine Voranwendungsbefugnis aus. \92 VGH BW, ESVGH 12, 152 (153); BVerwG, NJW 1961, 1122 f. (1123). 193 Seidel, ZGR 1988, 296 ff. (299), sieht als Ratio des Gesetzmäßigkeitsprinzips die Gewaltenteilung (stärkere demokratische Legitimation des Gesetzgebers) und die Berechenbarkeit staatlichen Handeins an. 194 Ähnlich im Hinblick auf das Verhalten des Bürgers Friauf, BB 1972, 669 ff. (672). 195 VGH BW, DVBI. 1972, 186 ff. (188).

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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geltenden Gesetzes durch eine unsichere ersetzt werden SOIl.196 Im übrigen ist auf die entsprechenden Erörterungen unter dem PTÜfungspunkt der Bekanntmachung von Rechtsnormen hinzuweisen. Zum Schutze des einzelnen ist daher eine Voranwendung geplanter Rechtsnormen abzulehnen. Weiterhin stellt der Gesetzesvorrang sicher, daß die Rechtsanwendungsorgane den vom Normgeber festgelegten Gesetzesinhalt respektieren. Selbst wenn die neue Norm bereits verkündet und lediglich noch nicht in Kraft getreten ist, würde eine Voranwendung die Bestimmungen des Normgebers, ab wann eine Rechtsvorschrift für die einzelnen Wirkungen äußern soll, untergraben. 197 Charakteristisch für Inkrafttretensbestimmungen ist, daß sie eine Stichtagsregelung im weiteren Sinne enthalten. 198 Dies hat zur Folge, daß Verwaltungs entscheidungen bis zum Inkrafttreten des Neurechts nach Altrecht, ab diesem Zeitpunkt entsprechend dem Neurecht zu treffen sind. Gegen diese Argumentation könnte jedoch der Einwand erhoben werden, daß die mit der Normsetzung befaßten Organe häufig mit der Umsetzung ihrer Rechtsänderungsabsichten hinterherhinken und ihnen daher eine strikte Einhaltung der Inkrafttretensbestimmungen nicht wichtig erscheint. Diese zeitliche Rückständigkeit des Normgebers ist zumeist dadurch bedingt, daß das bestehende Recht an zwischenzeitlich gewandelte Verhältnisse und / oder Anschauungen anzupassen ist. Da es aber hauptsächlich Aufgabe des Gesetzgebers ist, diese Wandlungen durch den Erlaß neuer Rechtsvorschriften in Form zu bringen,199 muß diese Rückständigkeit des Normgebers als quasi systemimmanent hingenommen werden. Will der Gesetzgeber ein baldiges Greifen seiner Regelung, kann er ein zeitgleich mit der Verkündung erfolgendes Inkrafttreten des Neurechts anordnen. Ebenso bleibt es ihm unbenommen, die im Neurecht deutlich werdenden gewandelten Rechtsanschauungen auf andere Sachverhalte zuTÜckzuerstrecken. Macht er davon aus irgendwelchen GTÜnden keinen Gebrauch, haben die Normanwendungsorgane diese Motive und damit auch das hinausgeschobene Inkrafttreten der Rechtsänderung zu respektieren. Den Inkrafttretensbestimmungen kommt also durchaus eine eigenständige Bedeutung zu. 2OO Das Hinwegsetzen über die Inkrafttretenster196 Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 360. 197 Trifft der Normgeber keine ausdrückliche Inkrafttretensbestimmung, hat er sich eben rur die gesetzlichen Auffangregeln (vgl. z.B. Art. 82 11 2 GG) entschieden. 198 Kloepfer, DÖV 1978, 225 ff. (228); P Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof V, § 125 Rz. 53; Bäckel, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung, S. 48.

Während das Inkrafttreten den Beginn der Verbindlichkeit eines Gesetzes normiert, enthalten Stichtagsrege1ungen im engeren Sinn Anwendungsregeln innerhalb eines bereits in Kraft getretenen Gesetzes. In BVerfGE 47, 85 (93 f.) werden die zu den Stichtagsregelungen im engeren Sinn entwickelten Kriterien auf die Inkrafttretensregelungen übertragen. 199 Grawert, Der Staat 30 (1991), 209 ff. (213). 200

OVG NW, DÖV 1995, 427 f.: "Anderenfalls wären Bestimmungen über das Inkraft-

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B. Die positive Vorwirkung

mine würde zudem die Berechenbarkeit staatlichen Handeins für den Bürger einschränken. Deshalb sind die Rechtsanwendungsorgane gemäß Art. 20 III GG auch an die Inkrafttretensbestimmungen gebunden. Allerdings könnte man erwägen, ob nicht ausnahmsweise Rechtssätze, die rückwirkend in Kraft treten, eine dem Art. 20 III GG genügende Befugnis zur Anwendung der jeweiligen Nonn vor ihrer Verkündung implizieren. Wenn aber nach deutschem Verfassungsrecht ein Gesetz mangels Verkündung gerade nicht besteht, können die Behörden es nicht im voraus anwenden. 201 Insoweit ist die Fonnel, ein Gesetz trete rückwirkend in Kraft, mißverständlich. Genau genommen wird hiennit ausgedrückt, daß die mit dem Zeitpunkt ihrer Verkündung in Kraft getretene Nonn im nachhinein auf vor diesem Zeitpunkt liegende Sachverhalte anzuwenden ist. 202 Die Behörden sind deshalb gehalten, auch rückwirkende Gesetze nicht vor dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anzuwenden. Letztendlich bleibt zu erwähnen, daß eine Voranwendung nur bei Kenntnis des Rechtsanwenders vom jeweiligen Gesetzesvorhaben möglich ist. Wegen dieser Abhängigkeit von individuellen Kenntnissen ist eine unterschiedliche Verfahrenshandhabung nicht auszuschließen. Allein eine umfassende Bindung an das Altrecht bis zum Inkrafttreten des Neurechts kann am ehesten eine dem Willen des Nonngebers entsprechende Gleichbehandlung aller Bürger garantieren. 203 Daher ist auch bei geplanten Rechtsänderungen am Gesetzesvorrang strikt festzuhalten. Dieses Ergebnis muß ausnahmslos, also einschließlich der begünstigenden Voran wendung gelten: Bereits nach dem Wortlaut des Art. 20 III GG wird nicht zwischen Begünstigungen und Belastungen differenziert. Der Aspekt der Gleichbehandlung sowie die Respektierung der Inkrafttretensbestimmungen des Nonngebers kommen bei Begünstigungen genauso zum Tragen. Daß die begünstigende Voranwendung im Interesse des Antragstellers liegt, vennag deshalb ein Abweichen vom Gesetzesvorrang nicht zu rechtfertigen. Im Ergebnis ist somit festzustellen, daß die Voranwendung künftiger Normen ohne Bezug auf das geltende Recht in Deutschland gegen das Prinzip des Gesetzesvorrangs verstößt. Gleiches dürfte auch für die Schweiz gelten. 204 treten einer Satzung überflüssig, weil diese dann stets mit ihrer Verabschiedung wirksam würde." 201 Aschke, Übergangsregelung, S. 18; Klein / Barbe'y, Das Bundesverfassungsgericht, Fn. 6 zu § 10, S. 102; Kisker, Die Rückwirkung, S. 9 Fn. 4. 202 Aschke, Übergangsregelung, S. 19; Klein / Barbey, Das Bundesverfassungsgericht, Fn. 6 zu § 10, S. 102; Kisker, Die Rückwirkung, S. 9 Fn. 4. 203

Straub, Das intertemporale Recht, S. 93.

Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 281; Knapp. Grundlagen I, Rz. 577; in diese Richtung Schürmann / Hänni, Planungsrecht, S. 259; Häner, Repetitorium, Frage 29, S. 31. 204

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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5. Voran wendung und Gesetzesvorbehalt

Auch der grundrechtliche sowie der allgemeine Gesetzesvorbehalt könnten eine Voranwendung künftiger Normen verbieten. In welchen Bereichen dieselben einschlägig sind, ist in der Literatur im einzelnen umstritten. 20s Da dieser Streit ohnehin nur die Reichweite der Kollision zwischen Gesetzesvorbehalt und der Voranwendung betrifft, soll hier von der stark vergröberten herrschenden Meinung ausgegangen werden: 206 Danach kommt der Gesetzesvorbehalt immer bei Eingriffen in Freiheit und Eigentum sowie in Angelegenheiten, die für den einzelnen oder das Gemeinwesen von wesentlicher Bedeutung sind, zum Tragen. 207 Konsequenz hiervon ist, daß die Verwaltung in diesen Bereichen ohne eine gesetzliche Ermächtigung nicht tätig werden darf.20 8 Liegt aber bei der Voranwendung gerade noch kein voll gültiges Gesetz vor, fragt sich, ob nicht auch eine erst werdende Norm die Funktion einer derartigen Ermächtigungsgrundlage übernehmen kann. Kloepfer bejaht dies, da seiner Ansicht nach der Gesetzesvorbehalt lediglich "die gesetzliche Sanktionierung einer Maßnahme, nicht aber eine zeitliche Priorität des Inkrafttretens eines zum Eingriff ermächtigenden Gesetzes" erfordert. 209 Tritt demnach die vorangewendete Norm später rückwirkend in Kraft, würde der anfängliche Mangel einer voll gültigen Ermächtigungsnorm nachträglich geheilt. Auf einer ähnlichen Linie liegt eine von P. Weides vertretene Position: Nach ihm ist es ausreichend, daß sich ein Verwaltungsakt im Zeitpunkt seiner Verbindlichkeit, also des Zugangs beim Adressaten (§ 43 VwVfG), auf eine voll gültige Norm stützen kann. Belanglos war demgegenüber, daß im Augenblick der Entscheidung des Rechtsanwenders die zugrunde gelegte Norm noch nicht voll gültig war. 210 Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll zuerst die Richtigkeit von Kloepfers weitergehender Ansicht überprüft werden. Gegen Kloepfers These spricht, daß für ihn eine Anwendung erst werdenden Rechts möglich ist, obwohl sich bereits begrifflich von einer Rechtsanwendung erst sprechen läßt, wenn die angewendete Norm existiert. 211 Wie 205

Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rz. 9-21 m.w.N.

206 Folgt man der Lehre vom Totalvorbehalt, würde sich die Frage der Vereinbarkeit von Voranwendung und Gesetzesvorbehalt eben bei sämtlichen Fonnen des Verwaltungshandelns stellen. 207 Vgl. z.B. Stein, Staatsrecht, S. 168; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, S. 92 f.; Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, S. 155 ff. 20R Vgl. z.B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rz. 3. 209 Kloepjer, Vorwirkung, S. 121. wobei er diese Position in DÖV 1973, 657 ff. (662) relativiert. 210

Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, S. 163.

In diese Richtung: Vervier, Der Rechtswechsel im öffentlichen Recht, S. 31; BVerwG, N1W 1963, 1122 f. (1122). 211

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B. Die positive Vorwirkung

bereits oben (S. 76) aufgezeigt, kann einem rückwirkend in Kraft tretenden Rechtssatz keine Befugnis zur Anwendung der jeweiligen Norm vor ihrer Verkündung entnommen werden. 212 Als wesentlich gewichtigeres Gegenargument bleibt anzufiihren, daß Kloepfers Ansicht nur schwerlich mit den Funktionen des Gesetzesvorbehalts in Einklang zu bringen ist. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage fiir das Verwaltungshandeln wurde zum Schutze des einzelnen vor willkürlichen Eingriffen in Freiheit und Eigentum entwikkelt. 213 Indem Kloepfer eine Befugnis zur Voranwendung nur bei höchstwahrscheinlichem Inkrafttreten einer rückwirkenden Norm annehmen will,214 wird die Gefahr eines willkürlichen Verwaltungshandelns eingedämmt. Trotzdem verhindert es nicht völlig, daß der Schutz des einzelnen verringert wird. 215 Sollte die geplante Norm, so wie vorangewendet, später doch nicht in Kraft treten, mußte der einzelne über einen gewissen Zeitraum hinweg ungerechtfertigterweise einen hoheitlichen Eingriff hinnehmen. Daran können selbst spätere Korrekturmaßnahmen der Verwaltung nichts ändern. 216 Im Ergebnis muß deshalb Kloepfers Ansicht, daß eine Voranwendung von später rückwirkend in Kraft tretenden Ermächtigungsnormen rechtens ist, abgelehnt werden. Allein mit der Möglichkeit, zunächst rechtswidrigen Verwaltungsmaßnahmen durch nachträglichen Erlaß einer rückwirkenden Ermächtigungsnorm ihre Rechtswidrigkeit zu nehmen, kann also keineswegs die Rechtmäßigkeit der positiven Vorwirkung begründet werden. 217 Dem Prinzip des Gesetzesvorbehalts kann nur eine in Kraft stehende Ermächtigungsnorm genügen. 218 Peter Weides begründet seine Position, wonach die dem Verwaltungshandeln zugrunde gelegte Rechtsnorm erst im Zeitpunkt des Zugangs der Verwaltungsentscheidung beim Adressaten, also nicht bereits bei der Entscheidungsfällung in Kraft stehen muß, mit einem 1979 ergangenen Urteil des 212 BVerfGE 13, 206 (214) zur Voranwendung einer rückwirkenden Rechtsänderung durch die hamburgischen Finanzbehörden: "Der an Stelle der Wertzuwachssteuer erhobene Zuschlag zur Grunderwerbssteuer ... wurde bis zum Inkrafttreten des Grunderwerbssteueränderungsgesetzes ohne Rechtsgrundlage erhoben. ... auf diese offenkundig ungesetzliche Verwaltungsübung ... ". 21J Vgl. z.B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rz. 9. 214 Kloepfer, Vorwirkung, S. 124, 126. 215 Druck der Verwaltung auf den Normgeber zum Erlaß einer entsprechenden Norm; Berechenbarkeit des Staatshandeins. 216 So aber die Position Kloepfers, Vorwirkung, S. 122: 217 Vgl. hierzu Straub, Das intertemporale Recht, S. 94. Bei einer derartigen Schlußfolgerung wäre die Position des Bürgers erheblich geschwächt. Man denke zum Beispiel daran, daß die Verwaltung aus eigenem Gutdünken irgendwelche Maßnahmen erläßt, die der Gesetzgeber allein wegen der Befürchtung von Beseitigungs- oder Schadensersatzansprüchen rückwirkend sanktioniert. Hier würde letztlich die Verwaltung und nicht mehr der Gesetzgeber bestimmen, was rechtens ist. 218 So auch OVG NW, DÖV 1995,427 f. (428).

I. Keine gesetzliche Anordnung, keine Stütze im geltenden Recht

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Bundesverwaltungsgerichts. 219 In diesem wurde ausgesprochen, es genüge, "wenn die an den Eigentümer gerichtete Zahlungsaufforderung in dem Zeitpunkt gerechtfertigt ist, in dem sie Verbindlichkeit beansprucht. •.120 Befaßt man sich mit dieser Entscheidung eingehender, fällt auf, daß sie keinerlei Aussagen zur Rechtsanwendung einer noch nicht in Kraft getretenen Rechtsnorm trifft. Der soeben zitierte Satz bezieht sich vielmehr darauf, daß eine in Kraft getretene Rechtsänderung auch solche früher ergangenen Verwaltungsakte erfaßt, die zwar nach dem Datum ihres Zugangs beim Adressaten, nicht aber nach dem ihrer Ausfertigung und Unterzeichnung dem Rückwirkungszeitraum der jeweiligen Norm unterfallen. Damit stellt das Urteil lediglich klar, daß nur diejenigen früheren Verwaltungsakte, die zumindest innerhalb des zeitlichen Geltungsbereiches der Rückwirkungsklausel zugegangen sind, der heilenden Wirkung einer nachträglichen Normänderung unterliegen. Insoweit kann aber auf obige Ausführungen zu der von Kloepfer vertretenen Meinung verwiesen werden. Im übrigen lassen sich folgende zwei Einwände gegen die These, daß die Ermächtigungsnorm für das Verwaltungshandeln erst im Zeitpunkt des Zugangs der Verwaltungsentscheidung beim Adressaten in Kraft stehen muß,22I erheben: Zum einen sind mit ihr gewisse Unsicherheiten verbunden. Als Beispiel hierfür sei der wider Erwarten vor Inkrafttreten des jeweiligen Rechtssatzes erfolgte Zugang eines Verwaltungsaktes genannt. Gewichtiger dürfte aber sein, daß diese Meinung in gewisser Weise den Bedeutungsgehalt der Inkrafttretensvorschriften umgeht. Diese enthalten nämlich, von gewissen Besonderheiten abgesehen, eine Stichtagsregelung im weiteren Sinn. 222 War bisher für die Rechtsanwendung das Altrecht maßgeblich, sollen sich mit dem Inkrafttreten des Neurechts sämtliche von der Verwaltung zu treffenden Entscheidungen an diesem orientieren. Würde man diese Stichtagsregelung im Hinblick auf den Zugang der Verwaltungsentscheidung verstehen, hätte dies wohl eine ziemlich uneinheitliche Verwaltungspraxis zur Konsequenz. 223 In BVeIWG, NJW 1980,2209 f. BVeIWG, NJW 1980,2209 f. (2210). 221 Dies wird in Deutschland vom OVG Rheinland-Pfalz, DVBI. 1983,955 f. hauptsächlich damit begründet, daß ein VelWaltungsakt erst in diesem Zeitpunkt Wirksamkeit erlange. In Österreich ist Aichelreiter, ZN 1995, 152 ff. (152) derselben Ansicht. Daß die Behörden unter Umständen noch nicht geltendes Recht anwenden, hält er angesichts dessen, daß eine Rechtsänderung zwischen Willensbildung der Behörde und Erlaß eines Verwaltungsaktes nicht dermaßen häufig vorkomme, für weniger relevant. 222 Kloepfer, DÖV 1978, 225 ff. (228); P. Kirchhof, in: Isensee / Kirchhof V, § 125 Rz. 53. Während das Inkrafttreten den Beginn der Verbindlichkeit eines Gesetzes normiert, enthalten Stichtagsregelungen im engeren Sinn Anwendungsregelungen innerhalb eines bereits in Kraft getretenen Gesetzes. In BVerfGE 47, 85 (93 f.) werden die zu den Stichtagsregelungen i.e.S. entwickelten Kriterien auf die Inkrafttretensregelungen angewendet. 223 So auch Berchtold, ZN 1993, 246 ff. (248). 219 220

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B. Die positive Vorwirkung

Fällen, in denen die Verwaltung die Bekanntgabeform eines Verwaltungsaktes selbst festlegen darf, könnte sie so zugleich über das von ihr anzuwendende Recht bestimmen. Durch die Wahl der Zustellung eines Verwaltungsaktes könnte sie bewirken, daß diesem das Neurecht zugrunde zu legen ist, während bei einer formlosen Bekanntgabe des Verwaltungsaktes das Altrecht maßgeblich wäre. Erläßt die Verwaltung einen mündlichen Verwaltungsakt, hat sie unstreitig das in diesem Zeitpunkt in Kraft stehende Recht anzuwenden. Entscheidet sie sich dagegen für den Erlaß eines schriftlichen Verwaltungsakts, kann sie aufgrund des Zugangserfordemisses ihre Entscheidung bereits gemäß dem noch nicht in Kraft getretenen Neurecht treffen. Bei der obigen Prämisse würde also die Bedeutung einer Stichtagsregelung, die vor allem aus Gründen der Gleichbehandlung einen einheitlichen Inkrafttretenstermin fixieren soll, verwischt. Daher ist sie abzulehnen. Nur eine im Zeitpunkt der Verwaltungs entscheidung in Kraft stehende Rechtsnorm kann den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügen. 224 Infolgedessen muß, soweit das Prinzip des Gesetzesvorbehalts reicht, die Rechtmäßigkeit einer uneingeschränkten Voranwendung verneint werden.

6. Positive Vorwirkung, wenn kein AItrecht existiert Man könnte daran denken, daß, solange im bestehenden Recht eine gesetzliche Regelung fehlt, eine Voranwendung künftigen Rechts durch die Verwaltungsbehörden um so eher möglich ist. Hier sieht sich der jeweilige Rechtsanwender nicht dazu gezwungen, seine aus Art. 20 III GG folgende Bindung an das Altrecht zu umgehen. Trotzdem würde man es sich zu einfach machen, in derartigen Konstellationen dem Griff der Verwaltung zur Voranwendung des künftigen Rechts uneingeschränkt zuzustimmen. Der einzelne Rechtsanwender würde hier die Tatsache verkennen, daß der Gesetzgeber im Bereich des öffentlichen Rechts häufig "qualifiziert schweigt";225 anders ausgedrückt kann bei einer fehlenden gesetzlichen Regelung meistens davon ausgegangen werden, daß der zuständige Normgeber die Einräumung eines Anspruchs oder die Auferlegung einer Pflicht eben gerade nicht will. Eine Voranwendung des künftigen Rechts würde hier das gesetzgeberische Ziel, daß bis zum Tage des Inkrafttretens einer Rechtsänderung gesetzlich nichts Bestimmtes gelten soll, konterkarieren. Aus diesem Grunde ist eine

224 Folgt man der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht, daß die Verwaltung von ihr zu treffende Entscheidungen allein wegen der Erwartung einer Rechtsänderung grundsätzlich nicht hinausschieben darf (vgl. S. 109 ff., insbesondere S. 123), ist auch insoweit die Gefahr, daß die Behörden über das von ihnen anzuwendende Recht bestimmen, gering. 225 Höhn, Praktische Methodik der Gesetzesauslegung, S. 321, 327 ff. (hins. Gesetzeslükken).

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Voranwendung künftigen Rechts bei qualifiziertem Schweigen des Gesetzgebers abzulehnen. Folglich kommt eine positive Vorwirkung allein unter der Voraussetzung, daß der Gesetzgeber überhaupt keine Aussage zur Rechtslage treffen konnte und daher nicht qualifiziert schweigt, in Betracht. Dies dürfte regelmäßig im Bereich der Rechtsfortbildung extra legern, also wenn das geltende Recht überhaupt keine Anhaltspunkte zur Lückenschließung enthält, anzunehmen sein. Bei einer Rechtsfortbildung praeter legern sollte sich der jeweilige Rechtsanwender dagegen an den bereits im geltenden Recht angelegten Lösungsmöglichkeiten orientieren. 226 Kommt ein Verwaltungsorgan also zu dem Schluß, daß es seine Verwaltungsentscheidung extra legern treffen muß, hat es grundsätzlich die Möglichkeit einer Voranwendung des künftigen Rechts in seine Erwägungen zur Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Allerdings ist hier nochmals zu differenzieren: 227 a) Rückwirkender Gesetzentwurf

Will der Gesetzgeber die bis dahin ungeregelte Situation rückwirkend erfassen, sollte der einzelne Rechtsanwender beachten, daß der zuständige Normsetzer nach dem Kompetenzgefüge unseres Rechtssystems hierfür einen "Regelungsvorrang" besitzt. 228 Es wurde zwar aufgezeigt, daß die Verwaltung an Gesetzentwürfe nicht gebunden ist. Diese mangelnde Bindung darf aber bei einer Lücke im geltenden Recht nicht dazu führen, daß sie ihre Entscheidungen nach eigenem Gutdünken ohne Rücksicht darauf trifft, daß der primär zuständige Normsetzer gerade diesen Sachverhalt rückwirkend nach eigenen Maßstäben regeln will. Soweit möglich, sollte der einzelne Rechtsanwender aus diesem Grunde seine Entscheidungsfindung bis zum Inkrafttreten des Neurechts hinausschieben, andernfalls sollte er eben voranwendend tätig werden. Letzteres läßt sich gut an Hand folgenden Beispiels illustrieren: Es herrscht Einigkeit, daß die Verwaltung in Notsituationen, die der Gesetzgeber nicht voraussehen und folglich auch nicht zuvor gesetzlich regeln konnte, die notwendigen Maßnahmen treffen darf und muß. In einer derartigen Situation wäre das Abwarten der Einleitung, Verabschiedung und des Inkrafttretens einer entsprechenden Norm schlichtweg unerträglich. Deshalb muß es genü226 So ist wohl auch Konzen, in: Festschrift zum l25jährigen Bestehen der juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 363 ff. zu verstehen. Bei der Rechtsfortbildung praeter legern bleibt zudem Raum für eine sog. analoge Vorberiicksichtigung. 227 So auch Konzen, in: Festschrift zum l25jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 366 ff. 228 So auch Konzen, in: Festschrift zum l25jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 366 ff.

6 Guckelberger

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B. Die positive Vorwirkung

gen, wenn das Parlament eine "Nachtragsennächtigung" für das bisherige und künftige Verwaltungshandeln schafft. 229 Diese Nachtragsennächtigung durch den demokratisch legitimierten Rechtssetzer würde jedoch leerlaufen, wenn die Verwaltung ihr Handeln bis zum Tage des Inkrafttretens des Neurechts ausschließlich am eigenen Willen ausrichtete. Insbesondere wäre es kaum tragbar, wenn die Verwaltung hier die Dauer eines Gesetzgebungsverfahrens bewußt zur Schaffung eigener Kompetenzen ausnützte. Vielmehr ist folgendes zu beachten: Sicherlich dürfte es richtig sein, daß die Verwaltung in derartigen Fällen zunächst einmal ohne jegliche, Vorgabe tätig wird. Dies folgt aus der Plötzlichkeit der nicht vorhergesehenen und damit auch gesetzlich nicht geregelten Situation. Sobald aber der zuständige Gesetzgeber mit der Einleitung eines Nonnsetzungsverfahrens beginnt, sollte die Verwaltung ihr Handeln am Inhalt des künftigen Rechts orientieren. Denn es ist grundsätzlich Aufgabe des Nonnsetzers, die zu beachtenden Maßstäbe des Verwaltungshandelns vorzugeben. Selbst wenn das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, ist aus den die Aufgabenverteilung zwischen Rechtsanwendung und Nonnsetzung legitimierenden Gründen eine Voranwendung des werdenden Rechts geboten. Hinter diesem Gesichtspunkt treten auch die sonstigen mit einer positiven Vorwirkung verbundenen Gefahren zurück. Vor allem dem Bürger dürfte es eher einleuchten, wenn sich die Verwaltung in derartigen Situationen am Willen des Gesetzgebers, der nach außen hin zumindest in einem gewissen Grade publik wird, orientiert, als nach ihrem eigenen, ihm kaum nachvollziehbaren Gutdünken zu handeln. b) Kein rückwirkender Gesetzentwurf

Mißt sich der im Entstehen befindliche Gesetzentwurf keine Rückwirkung bei und ergibt sich aus ihm, daß nach dem Willen des Gesetzgebers das Neurecht ausschließlich ab dem Tage seines Inkrafttretens seine Wirkungen entfalten soll, kann er nicht vorzeitig bei der Lückenschließung herangezogen werden. Der Rechtsanwender muß hier die "Negativregelung" des Gesetzgebers respektieren,230 wonach der zeitliche Geltungsbereich des Neurechts nicht über den Tennin seines Inkrafttretens hinaus ausgedehnt werden soll. Nach der Meinung von Konzen ist die Rechtslage dagegen anders zu beurteilen, wenn das Neurecht keinerlei Aussagen dazu enthält, wie die Rechtslage in der Vergangenheit zu beurteilen ist. Hier könne der Rechtsanwender 229 Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rz. 28; Kloepfer, in: VVOStRL 40 (1982),63 ff. (74); Ossenbühl, in: IsenseelKirchhofIII, § 62 Rz. 61; vgl. auch P. Kirchhof, Verwalten und Zeit, S, 10 f. 230 Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 367,

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die bestehende Lücke an Hand eigener Wertungen ausfüllen, wobei auch das künftige Recht berücksichtigt werden kann.23I In dieser Konstellation verbleibt also dem Rechtsanwender ein gewisser Entscheidungsspielraum. Daher wird er hier nicht voranwendend, sondern allenfalls vorberücksichtigend tätig. 7. Zusammenfassung

Die voranstehenden Ausführungen haben aufgezeigt, daß in Deutschland eine Voranwendung werdender Normen ohne gesetzliche Grundlage im geltenden Recht bzw. ohne Herstellung einer weitestgehenden Übereinstimmung mit dem an sich maßgeblichen Recht grundsätzlich nicht möglich ist. Der Rechtsanwender ist bis zum Tage des Inkrafttretens des Neurechts an das Altrecht gebunden. Das noch nicht in Kraft getretene Recht kann nicht die Funktion einer Ermächtigungsgrundlage im Sinne des Gesetzesvorbehalts erfüllen. Weiterhin ist sie abzulehnen, weil mit ihr die Gefahr einer Erpressung des Gesetzgebers verbunden ist, der einzelne nicht mit der frühzeitigen Anwendung ihn belastender werdender Normen rechnen muß und ihr die mit der ordentlichen Bekanntmachung von Normen verfolgten Intentionen entgegenstehen. Eine Ausnahme hiervon ist nur in Fällen anzunehmen, in denen eine extra legern zu füllende Lücke im geltenden Recht besteht, die der primär zuständige Gesetzgeber rückwirkend regeln will, und in denen eine sofortige Entscheidung der Verwaltung notwendig ist. Damit wird heute ganz deutlich zwischen noch nicht in Kraft getretenen und in Kraft gesetzten Normen unterschieden. Dies verbietet es den Rechtsanwendern, allein wegen des Vorhandenseins einer zitierfähig ausformulierten Regel 232 voranwendend tätig zu werden. Eine andere Sicht des Verhältnisses zwischen Gesetzentwurf und in Kraft getretenem Recht findet sich dagegen für die Zeit des späteren Naturrechts vor. Damals war man der Ansicht, daß sich Gesetze wie jedes andere menschliche Verhalten als fehlbar erweisen konnten: Vor- und Nachteile eines Gesetzes zeigten sich erst in der Praxis, weshalb Normen im voraus angewendet und auch nach ihrem Inkrafttreten in Frage gestellt werden konnten. Die Grenzen zwischen werdendem und in Kraft getretenem Recht waren also gleichsam "fließend", was die Voranwendung des Corpus Juris Fridericianum (C.lF.) erklärt. 233 •

231 Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 368. 232 So begründet Mußgnug, in: Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, S. 214 , die frühzeitige Inkraftsetzung des VwVKi. 233 Vgl. hierzu Eckert, Die Entstehung der Allgemeinen Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten.

6*

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B. Die positive Vorwirkung

11. Zur positiven Vorwirkung ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung, aber unter Bezugnahme auf das geltende Recht Unter Umständen könnte eine gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehene positive Vorwirkung, die auf das geltende Recht Bezug nimmt, rechtmäßig sein. Eine derartige Verbindung zwischen Voranwendung und Altrecht ließe sich insbesondere unter Verwendung von Nebenbestimmungen im weitesten Sinne234 herstellen. Dabei kommen grundsätzlich zwei Verknüpfungsarten in Betracht: Zum einen kann eine auf der Basis des Altrechts getroffene Verwaltungsentscheidung mit Nebenbestimmungen aus dem werdenden Recht versehen werden. Hier sei nochmals an die Genehmigung des Umbaus einer Tankstelle unter der Auflage, daß deren Zapfsäulen entsprechend der noch nicht in Kraft getretenen BImSchV mit einem Gasrückfiihrungssystem auszustatten sind, erinnert. Da diese Verknüpfungsart lediglich verschleiert, daß sich die Verwaltungsentscheidung in Wahrheit endgültig über die Grenzen des geltenden Rechts hinwegsetzt, muß ihr vor allem aus den auf S. 70 ff. genannten Gründen jegliche Berechtigung abgesprochen werden. Zum anderen könnten sich die Nebenbestimmungen aber auch dazu eignen, daß zwischen der jeweiligen Behördenentscheidung und der jeweils bestehenden Rechtslage eine weitestgehende Übereinstimmung hergestellt wird. Wenn bereits jetzt eine Erlaubnis unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts erteilt wird, bringt die Behörde zum Ausdruck, daß eine momentane Gestattung des Vorhabens nicht, dagegen ab Inkrafttreten des Neurechts möglich ist. Ebenso dürfte dieser Kategorie die Vorausgewähr erhöhter Beamtenbezüge unter Rückforderungsvorbehalt zuzurechnen sein. Denn durch den Vorbehalt wird ausgeschlossen, daß dem Begünstigten gesetzlich nicht gebilligte Bezüge auf Dauer verbleiben. Für die Kategorie der positiven Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht ist also charakteristisch, daß sich der Rechtsanwender im Grunde genommen "rechtstreu" verhält. Im folgenden ist daher die Rechtmäßigkeit derartiger Verknüpfungen näher zu erörtern: 1. Voran wendung unter dem Vorbehalt der Rückgängigmachung a) Situation in Deutschland

Indem die Voranwendung einer erst werdenden Norm mit einem Vorbehalt der Rückgängigmachung verbunden wird, bringt der Rechtsanwender zum 234

Also nicht unbedingt auf die in § 36 VwVfD enthaltenen Ausgestaltungen beschränkt.

II. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

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Ausdruck, daß sein Handeln zwar momentan dem geltenden Recht nicht entspricht. Sollte aber die von ihm vorangewendete Norm rückwirkend in Kraft treten, würde die von ihm getroffene Entscheidung rechtmäßig. Andernfalls, also wenn das Ergebnis der Voranwendung mit der später in Kraft getretenen Norm nicht übereinstimmt, soll aufgrund des Vorbehalts eine dem damaligen bzw. tatsächlich rückwirkend in Kraft getretenen235 Recht entsprechende Rechtslage herbeigeführt werden. Eine derartige Vorgehensweise des Rechtsanwenders dürfte sich von vornherein nur anbieten, wenn die zunächst rechtswidrige Entscheidung nachträglich rechtmäßig werden kann. Nur hier verhält sich die Verwaltung rechtstreu, weil sie durch den Vorbehalt der Rückgängigmachung und den Rückwirkungsaspekt stets die vom Normgeber getroffene Entscheidung respektieren will. 236 Die Verwaltung darf ihre Entscheidungen allein dann mit einem Vorbehalt der Rückgängigmachung versehen, sofern er seine soeben geschilderte Funktion erfüllen kann. Vor allem bei nicht in Geldleistungen bestehenden Verwaltungsentscheidungen macht aber die Beifügung eines derartigen Vorbehalts zumeist keinen Sinn. Eine den Antragsteller begünstigende Baugenehmigung nach werdendem Recht ist unsinnig, wenn nachträglich eine Abrißverfügung droht. 237 Gleichfalls ist die Rückgängigmachung eines wegen Änderung des Bebauungsplanes abgelehnten Baugesuchs unmöglich, da der Baubeginn erst ab Freigabe, nicht aber in Rückdatierung erfolgen kann. Überhaupt dürfte die vorläufige Vorwegnahme einer dem künftigen Recht entnommenen Belastung mangels Vorliegens einer ausreichenden Ermächtigungsnorm238 unmöglich sein. Daher ist für eine - nicht ausdrücklich angeordnete - Voranwendung des künftigen Rechts unter dem Vorbehalt der Rückgängigmachung allein unter den Voraussetzungen, daß der Bürger begünstigt wird sowie die Folgen der Verwaltungsentscheidung ohne größeren Aufwand wieder beseitigt werden können, Raum. Als Leitfall für die nachstehenden Erörterungen soll die unter Vorwegnahme einer künftigen rückAlso wenn die Norm mit anderem Inhalt rückwirkend ergeht. Gewährt der Rechtsanwender vorzeitig eine Leistung, obwohl nicht anzunehmen ist, daß dieses Vorgehen durch das Inkrafttreten einer rückwirkenden Norm geheilt wird, weiß er von vornherein, daß seine Handlung auf Dauer rechtswidrig bleibt. Hier räumt er eigenen (Praktikabilitäts-) Erwägungen oder den Interessen des Bürgers gegenüber dem an sich maßgeblichen Willen des Gesetzgebers den Vorrang ein. Anders ist dagegen die Situation, wenn er vorzeitig etwas tut, weil dies voraussichtlich rückwirkend durch den Gesetzgeber gebilligt wird. Vgl. dazu auch Kloepfer, DÖV 1973, 657 ff. (662). 237 So für den vorläufigen Verwaltungsakt ohne jeglichen Bezug zu einer Rechtsänderung: Peine, DÖV 1986,849 ff. (851); König, BayVBI. 1989,33 ff. (35 f.: Schaffung vollendeter Tatsachen); Martens, DÖV 1987, 992 ff. (999), der aber eine Rückgängigmachung bei kleineren Objekten durchaus für möglich hält. 238 Insoweit würde es sich um eme ausdrücklich angeordnete positive Vorwirkung handeln. 235

236

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B. Die positive Vorwirkung

wirkenden Nonn erfolgte Vorausgewähr von Besoldungserhöhungen unter Rücknahmevorbehalt dienen. Seit kurzem gibt es in der deutschen Literatur einige Autoren, die derartige Zahlungen unter Rückforderungsvorbehalt unter den Begriff des "vorläufigen Verwaltungsaktes" fassen. 239 Diesen wäre zu folgen, wenn die Anordnung derartiger Gewährungen die Merkmale eines Verwaltungsaktes sowie die speziell für vorläufige Verwaltungsakte entwickelten Kriterien erfüllte. Gemäß § 35 S. 1 VwVfG ist jede hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft, ein Verwaltungsakt. Nach herrschender Ansicht enthalten dabei nur solche Anordnungen, die auf Setzung einer endgültigen Rechtsfolge gerichtet sind, eine "Regelung".24o Da die Anordnung einer Leistungsgewährung unter Rücknahmevorbehalt eine gewisse Vorläufigkeit in sich birgt, bezweifeln manche Autoren, ob hier noch von einer Regelung gesprochen werden kann. 241 Berücksichtigt man, daß nach § 36 II Nr. I und 2 VwVfG bedingte und befristete, also zeitlich beschränkte Verwaltungs akte möglich sind, erweisen sich derartige Zweifel als unbegründet. 242 Zudem darf nicht vernachlässigt werden, daß die Verwaltungsentscheidung die Verhältnisse zwischen der Anordnung der Leistungsgewährung und der Rücknahme endgültig regeln will. 243 Infolgedessen muß das Vorliegen einer Regelung bejaht werden. Ungewiß ist aber, ob dieser auch Außenwirkung zukommt. Das Bundesverwaltungsgericht verneint dies grundsätzlich in ständiger Rechtsprechung, da Anordnungen derartiger Zahlungen auf verwaltungsinternen Weisungen, nicht aber auf gesetzlichen Vorschriften beruhten. 244 Hiergegen spricht jedoch, daß sich der Leistungsempfanger regelmäßig keine Gedanken über die der jeweiligen Verwaltungsentscheidung zugrundeliegende Rechtsgrundlage macht. Auch sonst wird die Rechtsnatur einer Verwaltungsmaßnahme an Hand des objektiven Erklärungswertes für den Bürger, nicht aber nach dem Behördenwillen oder gar der rechtlich zulässigen Hand-

239 F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren und vorläufiger Verwaltungsakt, S. 46 f.; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 31 ff.; Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 110 ff. (v.a. S. 110 Fn. 144). 240

Vgl. z.B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rz. 6, 9.

241

In diese Richtung Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rz. 63b.

242 Vgl. z.B. Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 28; F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 84 f.; Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 12 Rz. 31; ähnlich argumentiert Losch, NVwZ 1995,235 ff. (237). 243 F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 83 ff.; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 27, 56; Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 133 f.

244 BVerwGE 11, 283 (284), wobei es aber die Möglichkeit eines Verwaltungsaktes nicht ausdrücklich ablehnt.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

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lungsfonn ennittelt. 245 Werden Zahlungen unter Rücknahmevorbehalt angeordnet, darf der Bürger grundsätzlich davon ausgehen, daß ihm diese bis auf weiteres überlassen werden. Damit liegt aus seiner Sicht eine Regelung mit unmittelbarer Außenwirkung vor. Im Ergebnis sind deshalb Anordnungen von Geldzahlungen unter Rücknahmevorbehalt als Verwaltungsakte einzustufen. Mit dem Erlaß eines vorläufigen Verwaltungsaktes sind vor allem folgende Ziele bezweckt: Durch ihn soll die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des jeweiligen Adressaten vergrößert246 sowie eine schnellere Realisierung des Gesetzeszwecks herbeigeführt werden. 247 Gleichzeitig sollen durch die Vorbehaltsklausel sämtliche der Verwaltung drohenden Risiken, falls sich die Vorteilseinräumung später doch noch als unbegründet erweist, ausgeräumt werden. 248 Insbesondere soll durch die Klausel ein Berufen des Begünstigten auf einen entsprechenden Vertrauensschutz, die Einrede der Entreicherung sowie die Frist des § 48 IV VwVfG ausgeschlossen werden. 249 Gerade dies wird aber auch bei im Vorgriff auf eine Rechtsänderung angeordneten Geldzahlungen unter Rückforderungsvorbehalt angestrebt. Durch die Vorwegnahme höchstwahrscheinlich rückwirkender Besoldungserhöhungen wird die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Begünstigten erhöht. Zugleich wird der mit der Rechtsänderung angestrebte Gesetzeszweck so schnell als möglich realisiert. 250 Die Beifügung eines Rückforderungsvorbehalts stellt sicher, daß eine im nachhinein feststellbare, zu Unrecht erfolgte Auszahlung von Geldern nicht auf Dauer dem Begünstigten verbleibt. Dementsprechend betont das Bundesverwaltungsgericht, daß der Empfanger solcher Zahlungen das Risiko einer eventuellen Überzahlung kennt, weshalb er analog §§ 820, 818 IV BGB den Entreicherungseinwand verliert.25I Deshalb scheint alles dafür zu sprechen, die Anordnung von Geldzahlungen unter Rückforderungsvorbehalt, die im Vorgriff auf eine entsprechend rückwirkende Rechtsänderung vorgenommen werden, als vorläufige Verwaltungsakte zu qualifizieren. Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rz. 49. 246 Peine, DÖV 1986, 849 ff. (849, 852); Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 26, 73; Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 145; F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 23 f.; Martens, DVBI. 1987,992 ff. (996). 247 Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 145; F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 25, der daneben auch die Verwirklichung des öffentlichen Interesses und das Interesse der Verwaltung nennt; Martens. DVBI. 1987,992 ff. (996). 248 Peine, DÖV 1986, 849 ff. (850 ff.); Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 26; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rz. 63b. 249 Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 58-68; F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 31; Peine. DÖV 1986, 849 ff. (850). 250 In diese Richtung BVerwG, ZBR 1964,369 f. (370). 251 BVerwG, ZBR 1964,369 f. (370); OVG Münster, RiA 1977,200. 245

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B. Die positive Vorwirkung

Als Charakteristika eines vorläufigen Verwaltungsaktes werden regelmäßig die Vorbehaltsklausel, 252 seine Akzessorietät zur Endentscheidung 253 sowie die Tatsache, daß er aufgrund einer summarischen Entscheidung ergeht/ 54 genannt. Werden Gelder unter Rücknahmevorbehalt im Vorgriff auf eine Rechtsänderung gewährt, wird durch die Klausel ausgedrückt, daß zu einem späteren Zeitpunkt überprüft wird, ob diese Gewährungen beim Begünstigten verbleiben oder von diesem ganz bzw. teilweise zurückzuerstatten sind. Da die der Leistungsgewährung zugrundeliegende Norm im Zeitpunkt der Behördenentscheidung noch nicht abschließend feststeht, könnte man auch annehmen, daß die jeweilige Rechtsfolge aufgrund einer summarischen Prüfung angeordnet wird. Die Behörden werden nur demjenigen, der mit großer Wahrscheinlichkeit die Anforderungen der künftigen Norm erfüllt, Gelder im voraus gewähren. Nach all dem wären derartige Zahlungen als vorläufige Verwaltungsakte zu qualifizieren. Betrachtet man aber die Literatur zum vorläufigen Verwaltungsakt näher, fällt auf, daß die für ihn typische summarische Prüfung nie im Zusammenhang mit einer Rechtsänderung gesehen wird. 255 Vielmehr treffen die Behörden deshalb eine vorläufige Entscheidung, weil eine noch durchzuführende Sachverhaltsaufklärung256 oder unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung257 dem Erlaß eines endgültigen Verwaltungsaktes entgegenstehen. Mit dieser summarischen, d.h. überschlägigen und oberflächlichen Prüfung ist eine Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens und damit der Entscheidungsfindung bezweckt. Demgegenüber steht bei den unter Vorwegnahme einer Rechtsänderung getroffenen Verwaltungsentscheidungen nicht die Beschleunigung der Dauer von Verwaltungsverfahren im Vordergrund. Statt dessen sollen bei normaler Sachprüfung die Wirkungen einer künftigen Norm akzelleriert werden. Daher steht die Anordnung derartiger Geldleistungen weniger in Akzessorietät zur Endentscheidung als in Akzessorietät zum letztlich in Kraft getretenen Recht. Folg252 Peine, DÖV 1986, 849 ff. (849); F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 39, 41; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 26; Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 128 ff.; Martens, DVBI. 1987, 992 ff. (998); BSG, DVBI. 1988, 449 ff. (450 f.); OVG NW, DVBI. 1991, 1365 f. (1366); König, BayVBI. 1989,33 ff. (36). 253 Peine, DÖV 1986, 849 ff. (849); F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 41; Martens, DVBI. 1987,992 ff. (1000); BVerwGE 67, 99 (103); BSG, DVBI. 1991, 1365 f. (1361). 254 F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 41; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 132 ff.; Peine, DÖV 1986,849 ff. (849). 255 Dies übersehen diejenigen Autoren, die Abschlagszahlungen generell als vorläufige Verwaltungsakte qualifizieren.

256 Weides, Verwaltungsverfahren, S. 45; Martens, DVBI. 1987, 992 ff. (996); Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 126 ff.; Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 86 ff.; F.J. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 4. 257 Martens, DVBI. 1987,992 ff. (996); Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 127 ff.; F.J. Kopp, Vorläufiges VerWaltungsverfahren, S. 4.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

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lich sind das künftige Recht vorwegnehmende Verwaltungs akte unter Rücknahmevorbehalt nicht als die üblichen vorläufigen, sondern eher als "aufgrund einer positiven Vorwirkung vorläufige Verwaltungsakte" anzusehen. Die Anordnung derartiger Geldauszahlungen unter Vorwegnahme einer rückwirkenden Rechtsänderung müßte materiell-rechtlich möglich sein. Unabhängig davon, wie man den Rückforderungsvorbehalt einordnet, muß eine derartige Behördenpraxis in Einklang mit dem geltenden Recht stehen. Da der jeweilige Rechtsanwender eine Verwaltungsentscheidung fällt, die gerade nicht hundertprozentig mit dem zur Zeit der Entscheidungsfindung geltenden Recht übereinstimmt, müßten in unserem Rechtssystem zumindest irgendwelche Normen, die auf die Rechtmäßigkeit dieser Vorgehensweise schließen lassen, existieren. 258 Was die gewöhnlichen vorläufigen Verwaltungsakte anbetrifft, werden insoweit hauptsächlich die §§ 35,259 10 VwVfG 260 , § 123 VwGO analog26I sowie das argumentum a maiore ad minus 262 genannt. 263 Deshalb ist zu prüfen, ob diese Argumente nicht auch auf vorläufige Verwaltungsakte unter Vorwegnahme einer Rechtsänderung herangezogen werden können. Gegen § 35 VwVfG als Rechtsgrundlage spricht, daß dieser zwar zur Bestimmung des Vorliegens eines Verwaltungsaktes dient, aber keinerlei Aussagen zum Inhalt der konkreten Regelung macht. 264 Gemäß § 10 VwVfG ist das Verwaltungsverfahren zweckmäßig durchzuführen. Erläßt man in Vorwegnahme einer rückwirkenden Gesetzesänderung einen vorläufigen Verwaltungsakt, soll verhindert werden, daß die dem Altrecht entsprechende Regelung später wieder abgeändert werden muß. Der jeweilige Rechtsanwender läßt sich bei dieser Vorgehensweise also zumindest bei höchstwahrscheinlichem Inkrafttreten der künftigen Norm durchaus von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten leiten. Die Heranziehung des § 10 VwVfG scheitert jedoch daran, daß er lediglich eine generelle Aussage zur Ausgestaltung des Ver258 Aus diesem Grunde kann der sonst bei begünstigenden Verwaltungsakten vertretenen Entbehrlichkeit einer gesetzlichen Grundlage nicht gefolgt werden. 259 Vgl. dazu FJ. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 115 (nur in verfahrensrechtlicher Hinsicht). 260 Schimmelpjennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 153, 156; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 122 f.; Peine, DÖV 1986, 849 ff. (857); Lässig, in: Finkeinburg / Lässig, Kommentar zum VwVfG, § 10 Rz. 2 f. 261 Kopp, VwVfG, § 9 Rz. 23; FJ. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 115; vgl. dazu auch Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 121 ff. 262 FJ. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 129 f.; Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 122; König, BayVBI. 1989, 33 ff. (34), der zwischen Ermessens- und gebundener Verwaltung unterscheidet. 263 Hierbei wird zumeist nochmals zwischen verfahrensrechtlicher und materiell-rechtlicher Rechtmäßigkeit differenziert. 264 FJ. Kopp, Vorläufiges Verwaltungsverfahren, S. 112; Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 94.

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B. Die positive Vorwirkung

waltungsverfahrens ohne Bezug zum konkreten Regelungsinhalt trifft. 265 Eine dem § 123 VwGO vergleichbare Situation muß schon deshalb verneint werden, weil ein Abwarten des Inkrafttretens der Rechtsänderung ohne weiteres zumutbar ist. Außerdem ist fragwürdig, ob aus Gerichtsbefugnissen entsprechende Kompetenzen der Verwaltung herleitbar sind. 266 Deshalb ist das sogenannte argumentum a maiore ad minus als einschlägige Rechtsgrundlage in Erwägung zu ziehen. Beim vorläufigen Verwaltungsakt ohne Vorwegnahme des künftigen Rechts bedeutet dies, daß die Ermächtigung zum Erlaß einer endgültigen Regelung zugleich eine Befugnis zum Erlaß vorläufiger Maßnahmen impliziert. 267 Da bei der Anordnung von Geldzahlungen im Vorgriff auf eine Rechtsänderung die Ermächtigungsnorm aber noch nicht in Kraft ist, paßt dieses Argument nicht. Vielmehr müßte man sich fragen, ob aus einer noch unvollkommenen Norm nicht bereits eine Befugnis zum Erlaß vorläufiger Regelungen entnommen werden kann. Solange ein Rechtssatz noch nicht verkündet ist, würde man insoweit einem Normentwurf als faktischem Vorgang normative Kraft zuschreiben. Dies ist jedoch, wie bereits vorne gezeigt, mit der deutschen Rechtsordnung kaum vereinbar. Da im übrigen rückwirkende Normen gleichzeitig mit ihrer Verkündung in Kraft treten,268 ist das argumentum a maiore ad minus ab Normerlaß bedeutungslos. Wegen der fehlenden materiell-rechtlichen Rechtsgrundlage muß daher die Möglichkeit des Erlasses vorläufiger Verwaltungsakte im Vorgriff auf eine rückwirkende Rechtsänderung grundsätzlich verneint werden. 269 Eine Ausnahme mag vielleicht für die vorweggenommenen Besoldungerhöhungen unter Rückforderungsvorbehalt gelten. ~nsbesondere das Bundesverwaltungsgericht stützt eine derartige Praxis der Verwaltungsbehörden auf die einem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtenturns entnommene beamtenrechtliche Fürsorgepflicht,270 welche wohl genauer im Alimentationsprinzip zu sehen ist. Im übrigen kann in Deutschland die bloße Beifügung eines Rücknahmevorbe265 So für den vorläufigen Verwaltungsakt ohne Bezug zur Rechtsänderung: Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 122 f. 266 Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 121 f.; König, BayVBI. 1989,33 ff. (34). 267 Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 94 f., der dies aber ablehnt. 268 Ascke, Übergangsregelung, S. 18. 269 Insbesondere greift auch das für die übrigen vorläufigen Verwaltungsakte angeführte Argument, daß mittels der Vorläufigkeit Zeit gewonnen und gesetzmäßige Endverwaltungsakte herbeigeführt werden (Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, S. 146), nicht. 270 BVerwG, ZBR 1964, 369 f. (369). Bedenken ergeben sich daraus, daß die vorangewendete Norm nicht publiziert ist. Da die Voranwendung auf eine Anweisung der Regierung zurückzuführen ist, dürfte ein Gleichbehandlung aller gewährleistet sein. Weil die Beamten begünstigt werden, dürfte in der Tat niemand auf der Einhaltung des Publikationsgrundsatzes beharren. Allerdings wäre ihre Position besser geschützt, wenn die positive Vorwirkung ausdrücklich im geltenden Recht verankert wäre. Vgl. daher die Ausführungen bei der spezialgesetzlich angeordneten positiven Vorwirkung auf S. 116 Fn. 351.

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halts nicht dazu fuhren, daß Verwaltungsentscheidungen unter Vorwegnahme einer rückwirkenden Rechtsänderung als rechtmäßig einzustufen sind. b) Situation in der Schweiz

In BGE 119 Ia 254 ff. wurde die Vorgehensweise der Behörden, den kantonalen Beamten wegen einer rückwirkenden Gesetzesänderung, deren Inkrafttreten noch ausstand, den bisherigen Teuerungsausgleich vorzeitig nicht mehr zu gewähren, gebilligt. Beachtenswert ist dabei, daß diese Entscheidung weder das Institut des vorläufigen Verwaltungsaktes noch irgendeinen Rücknahmevorbehalt anspricht. Wurde noch in BGE 100 Ia 147 ff. betont, daß eine positive Vorwirkung "darin besteht, die noch nicht in Kraft getretenen Bestimmungen ... gleichsam als einstweilige Maßnahmen anzuwenden,..271 verwies das Bundesgericht in seiner neuesten Entscheidung auf das unmittelbare Bevorstehen des Inkrafttretens der Rechtsänderung. 272 Im übrigen meint es, daß normalerweise ein Rechtssatz vor seinem Inkrafttreten nicht anwendbar ist. Hiervon will es jedoch aus den vorliegenden Gründen eine Ausnahme machen: Als Hauptargument fuhrt es die mit einem Abwarten des Inkrafttretens der Gesetzesänderung verbundenen Schwierigkeiten für die Verwaltungsbehörden an. Das Abwarten hätte nämlich nicht weniger als drei verschiedene Gehaltsberechnungen in den ersten drei Monaten des Jahres 1993 zur Folge gehabt. Weiterhin erwähnt es den Aspekt des Rechtsrnißbrauchs, da sich der Staat bei Begründetheit des Klägerbegehrens seinerseits ab Inkrafttreten der Norm auf eine Rückzahlung des Teuerungsausgleiches berufen kann. Auch war das Vorgehen der kantonalen Behörden auf eine Grundlage im geltenden Recht rückführbar. Da diese die Behörden allgemein zum Treffen von Übergangsregelungen ermächtigte, war die Voranwendung nach Ansicht des schweizerischen Bundesgerichts legitim. 273 Bedenken an dieser Argumentation erweckt vor allem das Berufen auf den Aspekt des Rechtsrnißbrauchs. Denn die Tatsache, daß die Kläger letztlich doch die Streichung des Teuerungsausgleiches wegen der Rückwirkung der Norm hinzunehmen haben, kann wohl kaum die Rechtmäßigkeit einer voranwendenden Behördenpraxis begründen. Ebensowenig sind allein praktische Erwägungen der Verwaltungsbehörden geeignet, ihre Bindung an das bestehende Recht zu lockern. Allein das Abstellen auf eine die Voranwendung 271 BGE 100 Ia 147 ff. S. 111.

272

= ImbodenlRhinow,

Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,

BGE 119 Ia 254 (259) = Pra 1994, Nr. 52, S. 187.

BGE 119 Ia 254 (259 f.) = Pra 1994, Nr. 52, S. 186 f. Die entsprechende Vorschrift lautet: "Le conseil d'Etat Miete toutes dispositions necessaires a r application de la presente loi." 273

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B. Die positive Vorwirkung

legitimierende Grundlage im geltenden Recht bewirkt, daß das Prinzip des Gesetzesvorrangs nicht durchbrochen wird. 274 Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Parallelität der Rechtsformen wird verhindert. 275 Zugleich wird dem Erfordernis des Gesetzesvorbehalts genügt. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, daß das schweizerische Bundesgericht in seiner neuesten Entscheidung die Voranwendung einer (auf dem Geldleistungssektor ergehenden) künftigen Norm erlaubt, wenn die werdende Norm den Zeitpunkt der Voranwendung rückwirkend erfaßt, das Inkrafttreten dieser Norm unmittelbar bevorsteht, irgendeine Grundlage im geltenden Recht die Voranwendung legitimiert, sowie überwiegende praktische Erwägungen der Verwaltung ein Abweichen von dem Grundsatz, daß eine Norm vor ihrem Inkrafttreten unanwendbar ist, rechtfertigen. Diesen Kriterien kommt folgende Bedeutung zu: Dadurch, daß die werdende Norm rückwirkend in Kraft tritt, wird sichergestellt, daß die Exekutive die den zuständigen Organen obliegende Bestimmung über den zeitlichen Geltungsbereich des Rechtssatzes respektiert. Überdies führt das Erfordernis des höchstwahrscheinlichen Inkrafttretens der Norm dazu, daß ein etwaiger Druck der Verwaltung auf den Normgeber so gering wie möglich bleibt. Die Voranwendung muß auf irgendeine gesetzliche Grundlage im geltenden Recht rückführbar sein, um dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Rechnung zu tragen. Das Kriterium überwiegender praktischer Erwägungen der Verwaltung stellt sicher, daß die Voranwendung einer Norm ein Ausnahmefall bleibt. Folge von letzterem ist, daß die Voranwendung einer Rechtsnorm hauptsächlich im Rahmen von Dauerbeziehungen zwischen der Verwaltung und dem einzelnen in Betracht kommt. Letztlich ist zu berücksichtigen, daß die Entscheidung des Bundesgerichts eine werdende Norm im Geldleistungssektor betraf. Ob sie auch auf andere Bereiche übertragbar ist, bleibt fragwürdig. Nebenbei dürfte diese Entscheidung bereits erste Indizien für eine ausdrücklich angeordnete positive Vorwirkung geben. Dürfen die Behörden be274 Insoweit wird die Bindung an das Altrecht gelöst; wegen gesetzlicher Billigung besteht keine Erpressungsgefahr. Die mangelnde Publikation des künftigen Rechts könnte deshalb unschädlich sein, weil in der Schweiz ohnehin nicht stets die Pflicht zur Publikation einer Norm vor ihrer Anwendung besteht. Im vom Bundesgericht zu entscheidenden Fall war die werdende Norm vorher schon relativ bekannt. 275 Der Lex-posterior-Grundsatz soll nur verhindern, daß Normen der Exekutive höherrangige Normen außer Kraft setzen. Die Mitwirkung anderer Beteiligter an der Gesetzgebung wird nicht umgangen, wenn sie der Grundlage im bestehenden Recht zugestimmt haben. Außerdem setzt das endgültige Inkrafttreten des Neurechts ihre Beteiligung voraus. Da eine gesetzliche Grundlage besteht, wird auch die Gleichbehandlung aller Betroffener garantiert.

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reits aufgrund einer allgemeinen Vorschrift im geltenden Recht voranwendend tätig werden, muß im Grunde Gleiches für die ausdrücklich angeordnete Vorwirkung gelten. Ist jedoch keine allgemeine Grundlage im bestehenden Recht vorhanden, darf auch die Verwaltung in der Schweiz das künftige Recht nicht einfach vorläufig im voraus anwenden. 2. Voranwendung unter der aufschiebenden I auflösenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts276 Möglich wäre auch, daß der jeweilige Rechtsanwender bereits jetzt voranwendend tätig wird, indem er seine Entscheidung mit einer Bedingung anläßlich des Inkrafttretens des Neurechts versieht. Auf diese Weise kann er sicherstellen, daß die werdende Norm keinerlei rechtlichen Wirkungen vor ihrem Inkrafttreten erzeugt. Dabei lassen sich sowohl eine belastende als auch begünstigende Voranwendung vorstellen. Beispielsweise erließ eine Behörde bereits am 13.12.1993 einen Bescheid, wonach der Betroffene ab dem 1.1.1994, also dem Zeitpunkt, in dem die Ermächtigungsnorm in Kraft trat, zwei Müllbehäiter auf seinem Grundstück aufstellen sollte. 277 Ähnlich verhält es sich auch mit einem Beitragsbescheid einer gesetzlichen Krankenkasse, der aufgrund eines erst ausgefertigten Gesetzes erlassen wurde, aber erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm Verbindlichkeit beanspruchen sollte. 278 Ebenso könnte ein nach Altrecht unzulässiges, nach Neurecht aber mögliches Vorhaben unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens der werdenden Norm bereits jetzt genehmigt werden. Auch ließen sich aufschiebende und auflösende Bedingung miteinander verknüpfen: Dadurch würde erreicht, daß sich der Genehmigungsinhalt zunächst nach Altrecht, ab Inkrafttreten des Neurechts nach diesem richtet. Da § 36 VwVfG die Thematik der Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten ausdrücklich regelt, soll hier der Erlaß dermaßen bedingter Verwaltungsakte zuerst erörtert werden, bevor andere Handlungsformen der Verwaltung wie z.B. der öffentlich-rechtliche Vertrag angesprochen werden.

276 Eine Bedingung liegt vor, wenn der Inhalt der Verwaltungsentscheidung von einem ungewissen Ereignis abhängt. Ist der Eintritt des Ereignisses gewiß, ist die Nebenbestimmung der Befristung zu wählen. Sofern man also der Auffassung ist, daß bei bereits verkündeten Normen ihr Inkrafttreten ein bestimmtes Ereignis ist, müßte man korrekterweise den Ausdruck Befristung verwenden. Zur Vereinfachung wird in dieser Arbeit auch bei derartigen Konstellationen von einer Bedingung gesprochen. 277 So ein vom OVG NW (DÖV 1995,427 f.) zu entscheidender Fall. 278 So ein dem BVerfD (NZS 1995,573) vorgelegter Fall.

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B. Die positive Vorwirkung

a) Situation in Deutschland

aa) Verwaltungsakte unter der Bedingung, daß das Neurecht (erst) ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens Wirkungen entfalten soll Gemäß § 36 I VwVfD dürfen Verwaltungsakte, auf die ein Anspruch besteht, mit einer Bedingung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder sicherstellen soll, daß die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Aufgrund dessen ist die Beifügung einer Nebenbestimmung, deren Inhalt im Kontext mit dem künftigen Recht steht, in all den Fällen unproblematisch, in denen das geltende Recht ausdrücklich eine Vorwirkung des Neurechts vorsieht. Beispielsweise kann gemäß § 33 I BauGB eine Baugenehmigung unter der Voraussetzung erteilt werden, daß das Bauvorhaben bereits jetzt in bestimmten Details dem werdenden Neurecht angepaßt wird. 279 Existiert jedoch keine Vorschrift im geltenden Recht, die eine Vorwirkung des künftigen Rechts anordnet, ist die Rechtmäßigkeit der Beifügung von Nebenbestimmungen, die auf das Neurecht Bezug nehmen, fragwürdig. Betrachtet man die gesetzliche Ausgestaltung des § 36 I VwVfG näher, kommt bei der gebundenen Verwaltung lediglich dessen zweite Alternative, wonach die Nebenbestimmung das Erfülltsein der gesetzlichen Voraussetzungen des jeweiligen Verwaltungsakts sicherstellen soll, in Frage. Obwohl nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nur vom "erfüllt werden" und gerade nicht vom "erfüllt bleiben" die Rede ist, ist heute herrschende Meinung, daß § 36 I VwVfG erweiternd auszulegen ist. 280 Infolgedessen könnte man daran denken, daß diese Vorschrift nicht bloß eine Sicherstellung der Übereinstimmung des Vorhabens mit den jetzigen, sondern auch mit den Anforderungen künftiger gesetzlicher Regelungen bezweckt. Eine derart weite Auslegung wird jedoch übereinstimmend abgelehnt. 281 § 49 11 I Nr. 4 VwVfG ist zu entnehmen, daß ein begünstigender rechtmäßiger Verwaltungsakt allein wegen einer Rechtsänderung nicht unwirksam wird und nur unter den dort genannten Voraussetzungen zurückgenommen werden kann. Würde die Verwaltung einen 279 Ähnlich kann in Fällen, in denen eine negative Vorwirkung besteht, von dieser eine Ausnahme gewährt werden unter der Bedingung, daß das künftige Recht nicht beeinträchtigt wird. Vgl. dazu Grauvogel, in: Brngelmann, BauGB, § 14 Rz. 79-82.

280 BSG, DVBI. 1988, 449 ff. (451 f.); Schachel, Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten, S. 101; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 36 Rz. 56; Kopp, VwVfG, § 36 Rz. 9; a.A.: Meyer, in: Meyer/Borgs, VwVfG, § 36 Rz. 30; vgl. hierzu auch Kemper, Der vorläufige Verwaltungsakt, S. 110 f. 281 Schachel, Nebenbestimmungen, S. 101; Kopp, VwVfG, § 36 Rz. 9; Meyer, in: Meyer / Borgs, VwVfG, § 36 Rz. 30; D. Karl, Der Rechtsschutz gegenüber rechtswidrigen Ne-

benbestimmungen begünstigender Verwaltungsakte, S. 36 f.; BSG, DVBI. 1988, 449 ff. (451 f.).

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

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Verwaltungsakt nach dem geltenden Recht gewähren, dessen Inhalt sich wegen der Beifügung einer Bedingung mit Inkrafttreten des Neurechts eo ipso wandelt, könnte sie stets die einschränkenden Voraussetzungen des § 49 II I Nr. 4 VwVfG umgehen. 282 Des weiteren ist zu beachten, daß eine Gestattung nach Altrecht unter der Bedingung, daß sich ab Inkrafttreten des Neurechts der Regelungsinhalt nach diesem bemißt, häufig nicht besonders sinnvoll ist. Ein derartiges Vorgehen würde beispielsweise im Tankstellenfall bedeuten, daß diese zunächst noch mit den alten Zapfsäulen, ab Inkrafttreten der neuen BImSchV jedoch mit Zapfsäulen mit Gasrückführungssystem auszustatten ist. Hier würde wohl kein vernünftig handelnder Mensch noch Zapfsäulen nach dem Altrecht anbringen, sondern sein Handeln sofort auf die Bedingung einstellen. Im Fall mit den Müllbehältern würden diese unter Umständen früher als notwendig angebracht. Damit könnten die Behörden trotz Beifügung der Bedingung oft ein Ergebnis erreichen, das demjenigen einer uneingeschränkten Voranwendung des künftigen Rechts entspricht. Der Bürger kann zwar in der Zeit zwischen Verabschiedung und Inkrafttreten einer Rechtsänderung freiwillig den Inhalt der künftigen Norm umsetzen. Dies bedeutet aber nicht, daß die Verwaltung durch den Erlaß aufschiebend bedingter Verwaltungsakte die Willensbildung des einzelnen in eine bestimmte Richtung lenken darf. 283 Wenden die Behörden vorzeitig eine den Bürger belastende künftige Norm, deren Wirkungen aufgrund der aufschiebenden Bedingung erst im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens eintreten sollen, an, wird der einzelne oft die bloße Existenz des Verwaltungsaktes als belastend empfinden. Das OVG NordrheinWestfalen wies in seiner Entscheidung zu der aufschiebend bedingten Anordnung der Aufstellung zweier Müllbehälter darauf hin, daß ein Verwaltungsakt eben nicht erst im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rechtsänderung, sondern bereits mit seiner Bekanntgabe wirksam würde. Belastende Anordnungen müßten jedoch wegen des Prinzips des Gesetzesvorbehalts auf einer in Kraft stehenden Ermächtigungsnorm beruhen. Daß diese quasi nachgeschoben wird, genügt, wie bereits aufgezeigt, im Bereich der Eingriffsverwaltung nicht. 284 Eher unverständlich erscheint, daß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde gegen den Beitragsbescheid einer gesetzlichen Krankenkasse nicht angenommen hat, dem ein bloß ausgefertigtes Gesetz zugrunde lag, der aber erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Norm Wirkungen äußern sollte. Da diese Nichtannahmeentscheidung gemäß § 93d I 3 BVerfGG nicht begründet wurde, ist sie für den Leser kaum nach282 BSG, DVBI. 1988, 449 ff. (451 f.); in diese Richtung D. Karl, Der Rechtsschutz, S. 36 f. 283 Im übrigen würde sich der Erlaß von Verwaltungsakten, in denen der Bürger bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens die vom Gesetz geforderte Handlung selbst vornimmt, als überflüssig erweisen. Dermaßen präventive Belastungen sind daher unverhältnismäßig. 284 OVG NW, DÖV 1995,427 f. (428).

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B. Die positive Vorwirkung

vollziehbar. 285 Gegen die Rechtmäßigkeit des Behördenvorgehens spricht, daß die Verwaltung Gesetze, die mangels Verkündung noch nicht existent sind, nicht anwenden darf. Es sei hier auf die Schwierigkeiten für den Bürger hingewiesen, der den materiellen Gehalt eines Bescheides überprüfen will, hierfür aber noch nicht einmal auf eine verkündete Norm zurückgreifen kann. Weiter ist mit einer derartigen Vorgehensweise der Behörden die Gefahr verbunden, daß belastende Maßnahmen aufgrund einer anderen, dem letztlich in Kraft getretenen Gesetz doch nicht entsprechenden Norm erlassen werden. 286 Aus all diesen Gründen darf eine Gestattung nach Altrecht weder pauschal mit einer auflösenden Bedingung versehen werden, wonach diese mit Inkrafttreten einer nachteiligen Rechtsänderung automatisch endet, noch darf sie dahingehend lauten, daß ab dem Tage des Inkrafttretens des Neurechts der von der Verwaltung im Wege der Voranwendung einer den Antragsteller belastenden werdenden Norm gewonnene Inhalt der Verwaltungsentscheidung maßgeblich ist. Folglich kommen nur noch solche Verwaltungsakte, die unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens einer für den Antragsteller günstigen Rechtsänderung stehen, in Betracht. Die Verwaltung könnte von sich aus eine derartige Bedingung anfügen. 287 Zu erwägen ist aber auch, ob nicht der Antragsteller bereits jetzt eine Genehmigung entsprechend dem künftigen Recht unter der aufschiebenden Bedingung seines Inkrafttretens beantragen kann. Dies wäre für ihn deshalb vorteilhaft, weil er das genehmigte Vorhaben sofort mit Inkrafttreten der werdenden Norm in die Tat umsetzen kann. In BVerwGE 16, 198 ff. hat das Bundesverwaltungsgericht die Möglichkeit einer solch vorzeitigen AntragsteIlung bejaht. Zwar könnte man meinen, daß dermaßen frühzeitige Anträge mit etwaigen gesetzlichen Antragsfristen (z.B. AntragsteIlung innerhalb von sechs Monaten) kollidieren. Da solche Bestimmungen regelmäßig aber nur den Ablauf, nicht den Beginn der Antragsfrist regeln sollen, muß dies außer bei einer ausdrücklichen Anordnung, vor Inkrafttreten der Norm gestellte Anträge seien nicht berücksichtigungsfähig, verneint werden. 288 Weiterhin macht das Bundesverwaltungsgericht geltend, daß eine AntragsteIlung vor Inkrafttreten der Rechtsnorm vor allem bei regelungsbedürftigen Materien begrifflich nicht ausgeschlossen ist. 289 Selbst wenn erst die werdende Norm das Antragserfordernis vorsieht, bedeutet dies nicht, daß eine vorherige AntragsteIlung unmöglich ist. Oft ist es reiner Zufall, ob 285

BVerfG, NZS 1995,573.

So Kalkedey, der sich in NZS 1995, 573 ff. ausführlich mit der BVerfG-Entscheidung auseinandersetzt. 287 Wenn die Verwaltung von Amts wegen tätig wird (§ 22 S. 1 VwVfG). 288 BVerwGE 16, 198 (201 f.). 286

289

BVerwGE 16, 198 (201

0.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

97

das Antragserfordernis ausdrücklich normiert oder im Wege der Auslegung, aus Sinn und Zweck der Norm oder an Hand der Natur der Sache ermittelt werden muß. 290 Daß der jeweilige Antrag nicht unter Verwendung der dafür vorgesehenen Formulare oder unter Einhaltung sonstiger Formerfordernisse eingereicht wurde, ist zumindest in den Fällen, in denen die jeweiligen Formerfordernisse bloße Ordnungsvorschriften darstellen, unproblematisch.29\ Zu prüfen bleibt sodann nur noch, ob bei vor Inkrafttreten einer Norm eingereichten Anträgen das erforderliche Antragsinteresse vorliegt. Mit dieser Voraussetzung soll verhindert werden, daß die öffentliche Verwaltung sinnlos, d.h. bei Fehlen jeglichen schutzwürdigen Interesses an der beantragten Entscheidung, in Anspruch genommen wird. 292 Bei einer vor Inkrafttreten der jeweiligen Norm erfolgten Antragstellung könnte man daran denken, daß ein Interesse an einer solch frühzeitigen Inanspruchnahme der Verwaltung nicht besteht. 293 Diese Sicht vernachlässigt aber, daß ein derartiges Vorgehen durchaus im Interesse des Antragstellers liegen kann: Hier sei nochmals an den (wirtschaftlichen) Vorteil der sofortigen Realisierung eines Vorhabens mit Inkrafttreten des Neurechts erinnert. Dieser Vorteil würde, wenn die Bearbeitung eines Antrags von der Beibringung gewisser Nachweise oder einer länger dauernden Begutachtung durch die Behörden abhängig ist, durch das Verbot einer Antragstellung vor Inkrafttreten des Neurechts untergraben. Der Normadressat könnte erst geraume Zeit nach Inkrafttreten des Neurechts von den ihm kraft Gesetzes eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch machen. Letzteres ist aber kaum mit den im Wortlaut des Neurechts deutlich werdenden Intentionen zu vereinbaren, wonach zumindest ein Teil der Begünstigten mit bzw. kurz nach Inkrafttreten der jeweiligen Norm die durch sie vermittelten Rechtspositionen wahrnehmen können soll. Genausowenig kann der Einwand durchgreifen, daß der Antragsteller unter Umständen gar nicht sämtliche Voraussetzungen des Neurechts kennt und deswegen einen erfolglosen Antrag stellt. Hierzu meinte das Bundesverwaltungsgericht, es genüge für eine wirksame Antragstellung, wenn der Antragsteller sein Ziel, nicht aber sämtliche Voraussetzungen auf dem Weg dahin kenne. 294 Nach all dem wird das An290

Kopp, VwVfG, § 22 Rz. 9.

Stelkens, NuR 1985,213 ff. (217); BVerwG, NJW 1960,213 (213); Gusy, BayVBI. 1985, 484 ff. (485) weist im übrigen darauf hin, daß formlose Anträge gewisse Reaktionen der Verwaltung auslösen können. 292 Brühl, Entscheiden im Verwaltungsverfahren, S. 19. 293 In diese Richtung geht M. Schnell, Der Antrag im Verwaltungsverfahren, S. 65. 294 BVerwGE 16, 198 (202). Strenggenommen müßte eine vorzeitige Antragstellung vor Verkündung einer Norm aus Gründen der Gleichbehandlung abgelehnt werden, da weniger Informierte einen Antrag kaum vor diesem Zeitpunkt stellen werden (vgl. hierzu Wittling, Die Publikation, S. 139 f.). Da ror die Antragstellung aber nur die Kenntnis des Zieles, nicht aber des authentischen und vollständigen Normtextes notwendig ist, werden derartige Informationsdefizite relativiert. Die Gleichbehandlung bleibt zumindest insoweit gesichert, 291

7 Guckelberger

98

B. Die positive Vorwirkung

tragsinteresse nur dann fehlen, wenn das Inkrafttreten der künftigen Nonn noch relativ unwahrscheinlich ist. Sofern die allgemeinen Zulässigkeitsanforderungen an die AntragsteIlung gewahrt sind, kann somit ein Antrag grundsätzlich vor Inkrafttreten der entscheidungserheblichen Nonn gestellt werden. Zweifelhaft ist aber, ob ein Antrag, unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens der werdenden Nonn beschieden zu werden, mit dem materiellen Recht vereinbar ist. Bedenken ergeben sich hier vor allem deshalb, weil der Antragsteller der Verwaltung den Inhalt der zu erlassenden Verfügung in gewisser Weise vorschreibt. Dem kÖnnte entgegenstehen, daß nach allgemeiner Ansicht der Inhalt eines Verwaltungsaktes einseitig festgesetzt wird. 295 Ergibt sich jedoch aus dem Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung, daß die AntragsteIlung Wirksamkeit oder Inhalt des Verwaltungsaktes beeinflussen kann, wird der soeben genannte Grundsatz durchbrochen. 296 Dementsprechend ist anerkannt, daß bei antragsbedürftigen Verwaltungsakten der Antrag den Inhalt der zu treffenden Regelung bestimmt. 297 Bei antrags bedürftigen Verwaltungsakten sind daher die obigen Bedenken unbegründet. Was die Rechtmäßigkeit der aufschiebenden Bedingung anbetrifft, ist dies ein vom Antrag unabhängiges Problem, das sogleich erörtert wird. Kennzeichnend für einen den Antragsteller begünstigenden Verwaltungsakt unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts ist, daß dessen Regelungsinhalt dem werdenden Recht entnommen wird, wobei aufgrund der Bedingung von der Begünstigung erst im Augenblick des Inkrafttretens der jeweiligen Nonn Gebrauch gemacht werden kann. Die bedingte Voranwendung geht also im Vergleich zur uneingeschränkten weniger weit, was sich unter Umständen in der Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit niederschlagen kann. Bei näherer Betrachtung scheint es, als würden die Entscheidung des Nonngebers über den zeitlichen Geltungsbereich der jeweiligen Vorschrift sowie die fortbestehende Bindung an das Altrecht respektiert. Die Beifügung der Bedingung verhindert, daß eine nach dem Altrecht nicht mögliche Begünstigung unterbleibt. Gleichzeitig stellt sie sicher, daß vor Inkrafttreten des Neurechts ein Gebrauchmachen von der Begünstigung nicht möglich ist, und trägt somit zu einer Gleichbehandlung der Bürger bei. Die aufschiebende Bedingung bewirkt, daß die Voranwendung keine Folgenbeseitials aufgrund der Bedingung niemand vor Inkrafttreten des Neurechts Gebrauch machen kann. Insoweit dürfte das Interesse daran, daß das Neurecht im Zeitpunkt seines Inkrafttretens seine Wirkungen entfalten kann. ein Abweichen von dieser strengen Sichtweise des Publikationsgrundsatzes rechtfertigen. 295 Vgl. z.B. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 14 Rz. 18 f. 296 Gusy, BayVBI. 1985,484 ff. (489). 297

Schnell, Der Antrag, S. 58; Kopp, VwVfG, § 22 Rz. 10.

II. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

99

gungs- und Ersatzansprüche auslöst, weshalb bei ihr die Gefahr einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Nonngebers als minimal einzustufen ist. Problematisch ist jedoch, ob § 36 VwVfG die Beifügung einer Nebenbestimmung, die auf das Inkrafttreten einer werdenden Nonn Bezug nimmt, ennöglicht. In der Literatur wird auf diese Fragestellung nicht näher eingegangen; man sieht in der Beifügung von Nebenbestimmungen regelmäßig bloß ein Mittel, die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen der (in Kraft stehenden) Ennächtigungsnonn sicherzustellen. 298 Dieser Befund dürfte mit dem Wortlaut und der Stellung des § 36 VwVfG zu erklären sein. Betrachtet man aber allein § 36 11 VwVfG, ist dieser Schluß nicht unbedingt zwingend. Ratio des § 36 VwVfG ist die Ausräumung von Hindernissen, die der Erteilung einer Genehmigung im Zeitpunkt der Behördenentscheidung entgegenstehen. Die Beifügung einer Nebenbestimmung erlaubt also der Verwaltung, anstelle den Verwaltungsakt abzulehnen, dem Interesse des Antragstellers weitestgehend entgegenzukommen. 299 Wird bereits jetzt eine Erlaubnis unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens günstigeren Neurechts erteilt, wird diese Ratio ohne weiteres erfüllt. Allerdings fragt sich, ob man in einer derartigen Situation überhaupt noch vom Vorliegen einer Nebenbestimmung sprechen kann. Mancherorts wird der Bezeichnung Nebenbestimmung entnommen, daß sie nur einzelne, noch offene Voraussetzungen des Verwaltungsakts absichern kann. 30o Demzufolge ist § 36 VwVfG nicht mehr einschlägig, wenn noch mehrere Punkte der Verwaltungsentscheidung offenstehen. Erteilt die Verwaltung eine Erlaubnis unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts, ist genau genommen nicht nur das "ob" des Inkrafttretens der jeweiligen Nonn offen. Vielmehr soll die Begünstigung nur bei Identität der der Entscheidung zugrunde gelegten werdenden und später in Kraft getretenen Nonn in Anspruch genommen werden. Neben dem Inkrafttreten ist daher auch die Übereinstimmung der vorangewendeten und später maßgeblichen Nonn ungewiß. Es ist daher äußerst zweifelhaft, ob eine Voranwendung unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts noch in den Anwendungsbereich des § 36 VwVfG fällt. Verneint man dies, käme aber immer noch eine analoge Anwendung von § 36 VwVfG in Betracht. In bei den Fällen könnte jedoch die aufschiebend bedingte Voranwendung aus anderen Gründen scheitern: Zum einen birgt eine Voranwendung unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts die Gefahr in sich, daß der Rechtsanwender Bestimmungen des Nonngebers, wonach das Neurecht gerade nicht auf Vor-

299

Vgl. z.B. Stelkens, in: Stelkens / Bonk/ Sachs, VwVfG, § 36 Rz. 60. Kopp, VwVfG, § 36 Rz. 9.

300

Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 36 Rz. 55.

298

7"

100

B. Die positive Vorwirkung

gänge vor seinem Inkrafttreten anzuwenden ist, übersieht. Häufig koppelt der Gesetzgeber auch das Inkrafttreten einer Norm mit dem Inkrafttreten anderer Vorschriften. Bei einer aufschiebend bedingten Voranwendung kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß die Behörden unter Umständen die Mitberücksichtigung der anderen Rechtsänderungen vergessen. Zudem ist nicht sicher, ob die Verwaltung nicht wegen zwischenzeitlieher rechtlicher oder tatsächlicher Veränderungen im Augenblick des Inkrafttretens des Neurechts eine ganz andere Rechtsfolge wählen würde. Bereits diese Argumente wekken beachtliche Bedenken gegen eine aufschiebend bedingte Voranwendung. Darüber hinaus könnte einer derartigen Vorgehensweise das Tätigkeitsfeld der Verwaltung entgegenstehen. Als Hauptaufgabe der Verwaltung wird der Gesetzesvollzug, die Rechtsanwendung angesehen. Rechtsanwendung bedeutet, daß ein konkreter Sachverhalt unter den gesetzlichen Tatbestand einer Rechtsnorm subsumiert und aufgrund dessen eine Rechtsfolge angeordnet wird. 301 Von einer Rechtsanwendung läßt sich jedoch, außer bei einer gesetzlichen Anordnung im geltenden Recht, bereits begrifflich nicht sprechen, wenn die zugrunde gelegte Norm gar nicht existiert. Ist es gemäß § 36 VwVfG nicht möglich, daß eine Behörde einen Verwaltungsakt unter der aufschiebenden Bedingung des Vorliegens sämtlicher Sachverhaltsvoraussetzungen erläßt,302 muß Gleiches gelten, wenn zwar der Sachverhalt, nicht aber die anzuwendende Norm feststeht. Insoweit würde sich die Tätigkeit der Verwaltung auf reine Mutmaßungen beschränken. Demgegenüber erfordert die in Art. 20 III GG enthaltene Gesetzesbindung der Verwaltung, daß die Rechtsanwendungsorgane gesetzmäßige Entscheidungen treffen. Daran fehlt es aber zumindest bis zum Zeitpunkt der Verkündung des Neurechts, da die Rechtsanwendungsorgane nicht hundertprozentig wissen, ob der von ihnen zugrunde gelegte Norminhalt und die auf dieser Basis erlassenen Verwaltungsakte auch tatsächlich dem Willen des jeweiligen Gesetzgebers entsprechen. Verlagern sie diese Prüfung durch Beifiigung einer Bedingung in den Verantwortungsbereich des Bürgers, wird die Wahrung des Gesetzmäßigkeitsprinzips in frage gestellt. Zudem ist zu beachten, daß ein dermaßen aufschiebend bedingter Verwaltungsakt bereits im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe gegenüber dem Bürger seine äußere Wirksamkeit erlangt, obwohl seine Rechtswirkungen bzw. -folgen erst zu einem späteren Zeitpunkt eintreten. Da jedoch die fristen zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bereits im Augenblick der äußeren Wirksamkeit des Verwaltungsakts zu laufen beginnen,303 müßte der einzelne Bürger, der die ihm eigentlich nach Neurecht zustehende Begünstigung nicht in vollem Umfang erhält, hiergegen baldigst rechtliche Schritte einleiten. Abgese-

301

Vgl. z.B. Brühl, Entscheiden, S. 62 ff.

302

Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 36 Rz. 55.

303

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rz. 66; Kopp, VwVfG, Vor § 35 Rz. 12.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

101

hen davon, daß rur ihn mangels Verkündung des Neurechts der von den Behörden zugrunde gelegte Norminhalt kaum ermittelbar ist, müßte er also unter Umständen gerichtliche Schritte gegen einen VelWaltungsakt unternehmen, dessen Ermächtigungsgrundlage noch nicht einmal verkündet ist. Eine derartige Kontrolle noch nicht verkündeter Normen durch die Gerichte ist aber unserem momentanen Rechtssystem grundsätzlich aus Gründen der Gewaltenteilung fremd. 304 Eine Ausnahme hiervon wird zwar bei § 33 BauGB, bei dem eine Baugenehmigung im Wege einer Voranwendung des künftigen Bebauungsplans erteilt wird, gemacht. 305 Dies ist jedoch berechtigt, da der nach § 33 BauGB erteilte VelWaltungsakt sofort innere und äußere Wirksamkeit erlangt, so daß die von ihm Betroffenen so schnell wie möglich gegen seine inhaltliche Ausgestaltung vorgehen müssen. Bei aufschiebend bedingten VelWaltungsakten, die erst später innere Wirksamkeit erlangen, dürfte demgegenüber das öffentliche Interesse daran, daß die Judikative keinerlei Einfluß auf die Normsetzung nimmt, sowie daß inhaltlich richtige und nachprüfbare VelWaltungsentscheidungen erlassen werden, das private Interesse des Bürgers an einer möglichst baldigen Inanspruchnahme des Neurechts überwiegen. Daher ist eine aufschiebend bedingte Voranwendung des Neurechts vor dem Zeitpunkt seiner Verkündung nicht möglich. Bei bereits verkündeten Normen steht zwar der maßgebliche Gesetzestext unzweifelhaft fest. Trotzdem ist eine Anwendung dieser bereits existenten, noch nicht in Kraft getretenen Normen nicht gänzlich bedenkenlos. Eine derartige Vorgehensweise könnte die VelWaltung von der Bearbeitung dem bisherigen Recht entsprechender Gesuche abhalten. Die dadurch bedingten Verzögerungen könnten sogar letztlich dazu ruhren, daß diese Vorhaben wegen dem zwischenzeitlichen Inkrafttreten des Neurechts abzulehnen sind. Damit würde die VelWaltung gegen die ihr nach ständiger Rechtsprechung des BGH obliegende Amtspflicht, dermaßen eilbedürftige Vorhaben bevorzugt zu bearbeiten, verstoßen. 306 Im übrigen will der jeweilige Normgeber, der sich rur eine vacatio legis zwischen Verkündung und Inkrafttreten eines Gesetzes entscheidet, zumeist nur eine Umstellung der Behörden auf das kommende Recht,307 nicht aber eine Voranwendung dieser Rechtsnormen ermöglichen. Derartige Umstellungsmaßnahmen könnten zum Beispiel im Erlaß von Auslegungs- und Ermessensrichtlinien bestehen. Bei einer Voranwendung, bei 304 Vgl. hierzu VGH BW, ESVGH 12, 152 (153 f.); BVerwG, NJW 1963, 1122 f. (1123). Eine ausführliche Darstellung der Rechtsschutzprobleme bei der Vorwirkung gibt Kloepfer, Vorwirkung, S. 251 ff., der allerdings zu dem Ergebnis gelangt, daß gegen Vorwirkungen von mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kraft tretender Gesetze ein Rechtschutz eröffnet sein muß. 305

Vgl. zum Rechtsschutz bei § 33 BauGB: OVG Schleswig, NVwZ 1994,916 ff.

306

BGH, BRS 53, Nr. 46, S. 178 f. (179).

307

Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 117; BVerfGE 47, 85 (97).

102

B. Die positive Vorwirkung

der der Rechtsanwender noch nicht über derartige Hilfsmittel verfügt, würde jedoch das mit ihnen angestrebte Ziel einer einheitlichen Verwaltungspraxis konterkariert. Aus all diesen Gründen ist auch eine aufschiebend bedingte Voranwendung bereits verkündeter Rechtsnormen im Grundsatz abzulehnen. Hiervon kommt höchstens eine Ausnahme in Situationen, in denen die Behandlung von Altrechtsgesuchen nicht behindert wird und die betreffenden Umstellungsmaßnahmen der Verwaltung bereits vollzogen sind, in Betracht. Dabei dürfen die Rechtsanwendungsorgane den zeitlichen Geltungsbereich des Neurechts als auch anderer Rechtsänderungen nicht vernachlässigen: Eine aufschiebend bedingte Voranwendung bereits verkündeter Normen ist nur möglich, wenn nach dem Willen des Gesetzgebers die im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung bestehende Rechtslage nicht auf Dauer maßgeblich sein soll. Am besten läßt sich diese Aussage an Hand eines Beispiels konkretisieren: Bestimmt der Gesetzgeber, daß Ehen bis zum Datum x nach Altrecht, danach nach Neurecht geschieden werden, ist es ausgeschlossen, daß in der Zeit vor dem Datum x Ehen unter aufschiebend bedingter Voranwendung des Neurechts geschieden werden. Hier würde der Wille des Normsetzers, daß unter dem Altrecht zu treffende Entscheidungen nicht mehr nach Neurecht zu behandeln sind, umgangen. Anders ist es dagegen in Fällen, in denen die Verwaltung zunächst einen Antrag ablehnen, bei erneuter späterer Gesucheinreichung aber stattgebend bescheiden muß. In derartigen Situationen will der Gesetzgeber ab dem Tage x allen Normadressaten unabhängig von der früheren Rechtslage eine bestimmte Rechtsposition einräumen, weshalb eine aufschiebend bedingte Voranwendung möglich ist. Der Rechtsanwender muß also genauestens ermitteln, ob die unter Zugrundelegung des Altrechts getroffenen Verwaltungsentscheidungen mit Inkrafttreten des Neurechts diesem anzupassen sind oder an ihnen festgehalten wird. Wegen des Ausnahmecharakters muß ein Anspruch des Bürgers, frühzeitig unter der aufschiebend bedingten Voranwendung des bereits verkündeten Neurechts beschieden zu werden, abgelehnt werden. Dies ergibt sich auch aus Sinn und Zweck der Inkrafttretensvorschriften, wonach die Behörden eben erst ab diesem Zeitpunkt zu einer Anwendung des Neurechts verpflichtet sind. Im übrigen ist die Verwaltung in derartigen Ausnahmefällen wegen dem Gesetzmäßigkeitsprinzip dazu gehalten, auf bis zum Inkrafttreten des Neurechts eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage von Amts wegen zu reagieren. 308

308 Es ist also außerhalb des Prinzips des Gesetzesvorbehalts möglich, daß ein Verwaltungsakt äußere Wirksamkeit erlangt, die dazu erforderliche Ermächtigungsnorm bereits verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Der Bürger wird nicht vorzeitig belastet, andererseits wird keine Voranwendung des Neurechts erreicht. Hier sind auch die Inkrafttretensbestimmungen nicht überflüssig, da durch die Bedingung die Entscheidung des Gesetzgebers über den zeitlichen Geltungsbereich des Neurechts beachtet wird.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

103

Folglich ist nur noch zu klären, was mit etwaigen vor Inkrafttreten des Neurechts eingereichten Anträgen zu geschehen hat. Insoweit ist heute gängige Meinung, daß diese analog §§ 133, 157 BGB auszulegen sind. 309 Da eine Bescheidung unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts in der Mehrzahl der Fälle nicht möglich ist, dürfte im Sinne des Antragstellers davon auszugehen sein, daß er so bald als möglich nach Inkrafttreten des Neurechts beschieden werden will. Im übrigen dürfte die Verwaltung wohl je nach Lage der Dinge unterschiedlich verfahren. Hat sie noch viele Anträge, die eigentlich nach Altrecht zu erledigen sind, können Neurechtsanträge zurückgestellt werden. Demgegenüber kann sie, sofern die Bearbeitung der Altrechtsanträge nicht gefährdet ist, aufgrund dieser Anträge Verwaltungsverfahren vor Inkrafttreten des Neurechts einleiten. Denn auch Verwaltungsverfahren, die wegen eines Altrechtsantrags eingeleitet wurden, müssen, sofern keine abweichende gesetzliche Regelung besteht, bei zwischenzeitlichem Inkrafttreten des Neurechts nach diesem beschieden werden. Infolgedessen ist die Verwaltung bei diesen kurz vor Inkrafttreten einer Rechtsänderung gestellten Altrechtsanträgen aus Effektivitätsgründen dazu gehalten, bei der Sachverhaltsennittlung die möglicherweise eintretende und dann zu beachtende Rechtsänderung einzubeziehen. Eine andere Behandlung von Anträgen, die explizit nach Neurecht behandelt werden möchten, macht insoweit keinen Sinn. Außerdem steht dem Antragsteller nach dem Gesetzeswortlaut des Neurechts bereits ab dem Augenblick seines Inkrafttretens eine bestimmte Rechtsposition zu, die mehr oder minder verkürzt würde, wenn ein mit einer längeren Bearbeitungsdauer verbundenes Verwaltungsverfahren erst im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rechtsänderung eingeleitet werden könnte. Nach all dem ist es also durchaus möglich, mit der Einleitung von Verwaltungsverfahren zu beginnen, obwohl das Neurecht noch gar nicht in Kraft getreten ist. Da bei diesem Vorgehen das noch unverbindliche Neurecht regelmäßig nicht unmittelbar vorangewendet wird, dürfte hier das Verwaltungshandeln eher dem Bereich der Vorbereitungsmaßnahmen der Verwaltung als demjenigen der positiven Vorwirkung zuzuordnen sein. bb) Öffentlich-rechtliche Verträge mit aus dem künftigen Recht entnommenem Vertragsinhalt Im Vergleich zu den Verwaltungs akten dürfte die Verwaltung beim Abschluß öffentlich-rechtlicher Verträge einen größeren Spielraum besitzen, bereits jetzt das künftige Recht in den Vertragsinhalt einzubeziehen. Da sie aber auch bei dieser Handlungsfonn gemäß Art. 20 III GG an das bestehende 309

Stelkens, NuR 1985, 231 ff. (217); ders., in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 22

Rz.32.

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B. Die positive Vorwirkung

Recht gebunden ist/ IO kann sie die Rechtsfolgen des künftigen Rechts nicht vorverlagern, sondern muß durch die Beifiigung von Nebenbestimmungen dafür sorgen, daß die Wirkungen des Neurechts erst im Augenblick seines Inkrafttretens ausgelöst werden. Dementsprechend ist es gemäß §§ 62 VwVfG, 308 I, 309 BGB möglich, einen Vertrag, der der momentanen Rechtslage widerspricht unter den Voraussetzungen zu schließen, daß (1.) das jetzige gesetzliche Verbot wegfällt und (2.) die Umsetzung des Vertragsinhalts für die Zeit nach dem Wegfall dieses Verbots vorgesehen ist. 311 Dabei kann das Tatbestandsmerkmal "Wegfall eines· gesetzlichen Verbots" weit interpretiert werden: Die §§ 62 VwVfG, 308 I, 309 BGB dürften nicht nur einschlägig sein, wenn eine bestehende Rechtsnorm aufgehoben wird, sondern auch wenn eine dem Vertragsinhalt vorzeitig zugrunde gelegte werdende Norm später in Kraft tritt. Daß diese Norm im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unter Umständen noch nicht verkündet war, dürfte - im Gegensatz zu den Verwaltungsakten - unschädlich sein. Da ein öffentlich-rechtlicher Vertrag im beiderseitigen Einvernehmen abgeschlossen wird, kann der Bürger den zugrunde gelegten Norminhalt erkennen. Auch stellt sich beim öffentlich-rechtlichen Vertrag nicht unbedingt das Problem, daß die Gerichte bereits vor dem Zeitpunkt der Verkündung der neuen Norm zum werdenden Recht Stellung nehmen. Da gegen derartige Verträge sehr häufig die allgemeine Leistungsklage eröffnet sein wird, bei der keine Rechtsbehelfsfristen zu laufen beginnen, können die Vertragsparteien die Einleitung gerichtlicher Schritte solange hinausschieben, bis das werdende Recht verkündet ist. b) Situation in der Schweiz

Sofern sich überhaupt irgendwelche Äußerungen zur Bescheidung des Antragstellers unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens der zugrunde gelegten werdenden Norm finden lassen, wird eine derartige Vorgehensweise der Behörden als unzulässig angesehen. 312 Marcelle Thommen begründet dies damit, daß das anzuwendende Recht unter Umständen noch gar nicht feststeht. Zudem komme die Beifiigung einer derartigen Bedingung in ihren Wirkungen einer Sistierung, also der negativen Vorwirkung gleich. 3I3 Das zuerst genannte Argument vermag jedoch bei einer vacatio legis, d.h. wenn zwischen der Verkündung und dem Inkrafttreten der Norm ein gewisser Zeitraum liegt, nicht zu greifen. Ausschlaggebender dürfte bei bereits ver310

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 14 Rz. 31.

311

Kopp, VwVfG, § 59 Rz. 7.

312 Thommen, Vorwirkung, S. 77; 1mboden / Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 117. 313 Thommen, Vorwirkung, S. 77.

11. Keine gesetzliche Anordnung, aber Stütze im geltenden Recht

105

kündeten Nonnen sein, daß die Anwendung einer noch nicht in Kraft getretenen Rechtsnonn dem Willen des Nonngebers nicht entspricht. 314 Dies zeigt sich vor allem darin, daß das schweizerische Recht oft detaillierte Bestimmungen enthält, welches Recht zu welchem Zeitpunkt maßgeblich ist. Bestimmt zum Beispiel eine Nonn, daß ein Baugesuch entsprechend dem im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung, der Verwaltungsentscheidung, des Baubeginns geltenden Recht zu bescheiden ist, würden diese Festsetzungen bei einer Voranwendung unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens des Neurechts umgangen. Daher ist in der Schweiz der Erlaß eines Verwaltungsakts unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens der Ennächtigungsnonn wohl kaum möglich. 3. Zusammenfassung

Im Ergebnis kann festgestellt werden, daß eine Voranwendung des künftigen Rechts, bei der die Behörden durch die Beifügung von Klauseln eine weitgehende Übereinstimmung mit dem noch bestehenden Recht erzielen wollen, nur in den seltensten Fällen möglich ist. Der Erlaß von Verwaltungsakten unter Rücknahmevorbehalt, bei denen eine noch nicht in Kraft getretene rückwirkende Nonn im voraus angewendet wurde, scheitert daran, daß nach dem deutschen Recht den Verwaltungsentscheidungen allein das in diesem Zeitpunkt in Kraft stehende Recht zugrunde zu legen ist. Hiervon wird bei künftig rückwirkenden Nonnen im Bereich der Beamtenbesoldungen in Deutschland bei Begünstigungen, in der Schweiz auch bei Belastungen eine Ausnahme gemacht. In Deutschland wurde diese Ausnahme mit der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht begründet. In der Schweiz zog das Bundesgericht eine Vorschrift im geltenden Recht, die jedoch nicht ausdrücklich eine Voranwendung künftigen Rechts vorsieht, heran. Insoweit ist hier die Vorgehensweise der Behörden durch das geltende Recht legitimiert. Gewisse Bedenken ergeben sich aber trotzdem aus der mangelnden Publikation der im voraus angewendeten Nonn. 315 Die Behörden dürfen auch keine Verwaltungsakte, deren Inhalt durch eine Voranwendung des Neurechts gewonnen wurde, unter der aufschiebenden Bedingung des Inkrafttretens der von ihnen zugrunde gelegten Nonn erlassen. Wie aufgezeigt, stehen einer derartigen Vorgehensweise hauptsächlich das Gesetzmäßigkeitsprinzip sowie Sinn und Zweck einer vacatio legis entgegen. 314 RDAF 1972, 68 ff. (69 f.): " Mais cette solution ne saurait etre admise, tout d'abord parce que la loi ne la prevoit pas ... O'autre part et d'une facon generale, le systeme applique par la municipalite aurait I'inconvenient majeur de soustraire ses decisions au contröle juridictionne1 ... ". 315 Vgl. S. 90 Fn. 270 und S. 92 Fn. 274.

106

B. Die positive Vorwirkung

Von diesem Grundsatz darf in Deutschland höchstens unter den Voraussetzungen, daß (l) der Bürger dadurch begünstigt wird, (2) die vorangewendete Nonn bereits verkündet ist, (3) die mit der vacatio legis bezweckten Umstellungsmaßnahmen realisiert wurden, (4) noch nach Altrecht zu treffende anderweitige Verwaltungsentscheidungen nicht behindert werden und (5) der zeitliche Geltungsbereich des Neurechts respektiert wird, abgewichen werden. Bei den öffentlich-rechtlichen Verträgen zeigte sich fiir Deutschland, daß eine aufschiebend bedingte Voranwendung künftigen Rechts über diese engen Voraussetzungen hinaus möglich ist.

IH. Die ausdrücklich angeordnete positive Vorwirkung Kennzeichnend fiir die ausdrücklich angeordnete positive Vorwirkung ist, daß nicht die werdende, sondern eine bereits in Kraft stehende Rechtsnonn die Verwaltung ausdrücklich dazu ennächtigt, ihre Entscheidung an Tatbestand und Rechtsfolge einer künftigen Rechtsnonn auszurichten. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Zum einen kann die zur Voranwendung ermächtigende Nonn bestimmen, daß die das künftige Recht vorwegnehmende Verwaltungsentscheidung ausdrücklich nur vorläufig ergeht. Als Beispiel hierfur sei § 165 I 2 Nr. 1 AO genannt. Hiernach können die Steuerbehörden bei Ungewißheit darüber, ob und wann Verträge mit anderen Staaten über die Besteuerung, die sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken, wirksam werden, die jeweilige Steuer vorläufig festsetzen. Obwohl es sich hier primär um eine Vorwirkung einer völkerrechtlichen Rechtsquelle handelt/ 16 soll diese Rechtsvorschrift wegen ihrer Ähnlichkeit zu einer gesetzlich angeordneten Vorwirkung nationaler Gesetze eingehender behandelt werden. Zum anderen läßt sich vorstellen, daß die zur Voranwendung des künftigen Rechts ennächtigende Nonn keinen Vorläufigkeitsvennerk vorschreibt. So ist nach § 33 BauGB eine Baugenehmigung allein aufgrund der Tatsache, daß ein Bauprojekt den künftigen Festsetzungen des neuen Bebauungsplans entspricht, zu erteilen. Beiden Regelungstypen ist gemeinsam, daß bei Inkrafttreten der vorangewendeten Nonn eine Abänderung der zuvor ergangenen Verwaltungsentscheide unnötig ist. Sollte jedoch das werdende Recht mit anderem Inhalt als bei der Voranwendung später in Kraft treten oder gar scheitern, ist zu vennuten, daß die damit zusammenhängenden Folgen fiir den Bürger und die Verwaltung je nach Regelungstyp unterschiedlich sind: Da der Vorläufigkeitsvennerk die materielle Bestandskraft des jeweiligen Verwaltungsentscheids ausschließen soll, wird hier viel eher eine Angleichung an die später maßgebliche Rechtslage in Betracht kommen. Demgegenüber dürfte sich bei einer Verwaltungsentscheidung ohne Vorläufigkeitsvennerk die Frage stellen, was 316

Vgl. ausfiihrlicher zu dieser Thematik Kloepfer, VOIwirkung, S. 147 ff.

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

107

bei einem Abweichen der vorangewendeten Norm von der später maßgeblichen Rechtslage zu geschehen hat. Da in der Schweiz das Problem einer ausdrücklich angeordneten positiven Vorwirkung im Zusammenhang mit dem Baurecht aktuell wurde, soll hier mit der Erörterung der Ausgestaltung und Rechtmäßigkeit von § 33 BauGB bzw. seinem schweizerischen Pendant begonnen werden. Unter Umständen lassen sich hierbei Kriterien, die generell für das Phänomen einer ausdrücklich angeordneten positiven Vorwirkung ohne Vorläufigkeitsvermerk Verbindlichkeit beanspruchen, ausarbeiten. Im Anschluß daran soll auf § 165 I AO näher eingegangen werden.

1. Zu § 33 BauGB bzw. seinem schweizerischen Pendant: spezialgesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung ohne Vorläufigkeitsvermerk a) Situation in der Schweiz

Im Jahre 1974 hatte sich das schweizerische Bundesgericht mit Art. 36 des Baugesetzes des Kantons Tessin zu befassen. Nach dessen Absatz 2 mußten Bau-, Wiederautbau- und Umbauvorhaben schon vom Zeitpunkt der Auflegung des neuen Bebauungsplanes an dessen Baulinien entsprechen. Ohne nähere Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit derartiger Bestimmungen zu machen, stellt das Bundesgericht vorab bestimmte Bedingungen auf, denen die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung genügen muß: Vor allem wegen den zwischen der Vor- und Rückwirkung bestehenden Ähnlichkeiten seien derartige Normen an den Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen rückwirkender Gesetze zu messen. Dies hat zur Konsequenz, daß die die positive Vorwirkung anordnende Norm zeitlich begrenzt und durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein muß, nicht zu stoßenden Rechtsungleichheiten führen sowie nicht in wohlerworbene Rechte eingreifen darf. Die beiden zuletzt genannten Kriterien sind dabei keine besonderen Voraussetzungen der gesetzlich angeordneten positiven Vorwirkung, sondern ihnen muß jede Rechtsnorm unabhängig von ihrem Inhalt genügen. Da Art. 36 11 BauG TI zeitlich nicht limitiert war, konnte sich das schweizerische Bundesgericht weitere Ausführungen zur positiven Vorwirkung ersparen. 317 In BGE 100 la 157 ff. wurde zwar Art. 36 11 BauGB TI als verfassungswidrig eingestuft, da er seiner Form nach gegen das Prinzip der Rechtssicherheit 317 BGE 100 Ia 147 ff. S. 108 ff.

= Imboden/Rhinow,

Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,

108

B. Die positive Vorwirkung

verstoße. Das Bundesgericht ließ es aber offen, ob dies generell für die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung gelte. Obwohl die soeben genannten Entscheidungen eher unscharf erscheinen, folgerte die schweizerische Lehre aus ihnen mehrheitlich, daß die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung nicht möglich ist. 318 Als Hauptargumente hierfür wurden der Verstoß gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip, insbesondere den Grundsatz der Parallelität der Rechtsformen,319 sowie die mangelnde Voraussehbarkeit des Inkrafttretens der neuen Norm320 genannt. Es finden sich jedoch Stimmen in der baurechtlichen Literatur, die diese Einwände des Bundesgerichts für unbeachtlich halten, sofern man Art. 36 II BauG TI dahingehend versteht, daß die jeweiligen Bauprojekte sowohl den Vorschriften des bestehenden als auch des künftigen Rechts entsprechen müssen. 32I Anders ausgedrückt sollten die Rechtsanwender eben eine kumulative Prüfung zweier Rechtslagen vornehmen. Diese Argumentation erscheint einleuchtend. Da die Behörden nach wie vor an das Altrecht gebunden sind, wird weder gegen das Prinzip der Parallelität der Formen verstoßen noch wird das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Frage gestellt. Dennoch übersehen diese Autoren, daß das von den Behörden anzuwendende Recht ein anderes als das bisherige ist. Sämtliche Bauprojekte, die zwar dem bestehenden, nicht aber dem künftigen Recht entsprechen, sind abzulehnen. Auf diese Weise kann die Verwaltung der Entscheidung des ursprünglichen Gesetzgebers eine ganz andere Richtung geben. Ob sich die vom Bundesgericht gegen die positive Vorwirkung vorgebrachten Einwände entsprechend dieses Vorschlags der baurechtlichen Literatur lösen lassen, ist daher äußerst zweifelhaft. Im Ergebnis ist festzustellen, daß bisher in der Schweiz die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung abgelehnt wurde. Angesichts des 1993 ergangenen Entscheids des Bundesgerichts zur Vorwegnahme künftig rückwirkender Besoldungskürzungen aufgrund einer allgemeinen Vorschrift im bestehenden Recht ist jedoch vorstellbar, daß sich die schweizerische Position zur gesetzlich angeordneten positiven Vorwirkung in nächster Zeit ändern wird. Prognosen hierzu sind schwierig, da vorweggenommene Kürzungen von Beamtengehältern im Gegensatz zu antizipierten baurechtlichen Gestattungen korrigierbar sind.

318 Anderer Ansicht ist Grisel, Traite I, S. 152, nach dem eine positive Vorwirkung künftigen Rechts aufgund einer gesetzlichen Basis im geltenden Recht, die zeitlich limitiert ist, möglich ist. 319 Häfelin/Müller, Grundriß, Rz. 281; Knapp, Grundlagen I, Rz. 577. 320 Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 281; Knapp, Grundlagen I, Rz. 577. J2I Siegrist, Die Bausperre, S. 53; Bianchi, ZBL 1987 (Bd. 88), S. 396 ff. (401).

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

109

b) Situation in Deutschland

Als Prototyp einer eine positive Vorwirkung ohne Vorläufigkeitsvermerk ausdrücklich anordnenden Norm kann § 33 BauGB genannt werden. Diese Vorschrift ermöglicht den Baurechtsbehörden, Bauprojekte, die allein den Festsetzungen des künftigen Bebauungsplans entsprechen, bereits vor dessen Inkrafttreten zu genehmigen. Damit wollte man den Hindernissen, die sich aus dem oft langwierigen Verfahren bis zum Inkrafttreten eines Bebauungsplanes ergeben, entgegenwirken. Ziel dieser Vorschrift ist einerseits, dem Bürger eine möglichst frühzeitige Realisierung seines Bauvorhabens zu ermöglichen. Andererseits soll sie dem öffentlichen Interesse an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung Rechnung tragen. 322 Nach § 33 BauGB wird für den Eintritt der positiven Vorwirkung vorausgesetzt, daß der Gemeinderatsbeschluß zum Erlaß bzw. zur Änderung eines Bebauungsplanes öffentlich bekanntgemacht wurde, die öffentliche Auslegung durchgeführt und die Träger öffentlicher Belange beteiligt worden sind bzw. sofern noch keine Auslegung erfolgt ist, daß die vom Bebauungsplan betroffenen Bürger und Träger öffentlicher Belange zu diesem Stellung nehmen konnten, der Inhalt des neuen Bebauungsplans weitgehend feststeht, das Bauprojekt diesen Festsetzungen entspricht, der Antragsteller die Festsetzungen für sich und seinen Rechtsnachfolger schriftlich anerkennt und letztlich die Erschließung gesichert ist. Des weiteren ist einhellige Meinung, daß § 33 BauGB einzig die Voranwendung eines den Antragsteller im Ergebnis begünstigenden künftigen Bebauungsplans erlaubt. 323 An der Rechtmäßigkeit von § 33 BauGB wird heute nicht gezweifelt. Befaßt man sich mit den Voraussetzungen des § 33 BauGB unter dem Blickwinkel der positiven Vorwirkung näher, lassen sich hierzu folgende Aussagen treffen: I. Das Erfordernis, daß sich der Gemeinderat zur Normänderung entschlossen hat, schließt aus, daß bestimmte Gruppen allein durch die Verlautbarung von Normänderungsabsichten die Rechtsfolge der positiven Vorwirkung auslösen. Denn, solange eine Gesetzgebungsverfahren noch nicht ein322 Vgl. zur Ratio des § 33 BauGB: Schrädter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. If.; Dürr, in: Brüge/mann, BauGB, § 33 Rz. 1; Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1058; Zinkahn, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 2. 323 Ge/zer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1056; Krautzberger, in: Battis / Krautzberger / Löhr, BauGB, § 33 Rz. 1f.; Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd. I, § 33 Rz. 3; Dürr, in: Brüge/mann, BauGB, § 33 Rz. 2; Zinkahn, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 2 f.; Schlez, BauGB, § 33 Rz. 3.

110

B. Die positive Vorwirkung

mal eingeleitet ist, sind sowohl Inhalt als auch Inkrafttreten der neuen Norm gänzlich ungewiß. Da dieses Kriterium bei sämtlichen, eine positive Vorwirkung anordnenden Normen durchschlagen dürfte, kann man hier wohl von einem generellen Rechtmäßigkeitskriterium sprechen. 2. Daß die betroffenen Bürger und Träger öffentlicher Belange zur Thematik des neuen Bebauungsplans Stellung nehmen konnten, dürfte wohl eher als eine Besonderheit des Baurechts einzustufen sein. Gemäß § 1 VI BauGB ist der Inhalt von Bebauungsplänen an Hand einer Abwägung der konkret betroffenen öffentlichen und privaten Belange auszuarbeiten. Zwar soll auch der Parlamentsgesetzgeber beim Erlaß förmlicher Gesetze die verschiedenen kollidierenden Interessen berücksichtigen. Den Bürgern, Lobbys etc. wird aber hierbei rechtlich keine dermaßen starke Stellung wie im Baurecht eingeräumt. Insoweit dürfte es sich also um eine für das Baurecht spezifische Vorwirkungsbedingung handeln. 3. Die Bedingung, daß das Bauvorhaben den künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans entsprechen muß, läßt sich relativ einfach erklären: Nach dem Gesetzmäßigkeitsprinzip besteht allein an gesetzeskonformen Verhaltensweisen und Vorhaben ein Interesse. 4. Aufgrund des schriftlichen Anerkenntnisses der künftigen Festsetzungen werden diese gegenüber dem Bürger vorab verbindlich. 324 Ob diesem Anerkenntnis eine konstitutive oder deklaratorische Bedeutung zukommt, ist zweifelhaft. 325 Es wäre wohl kaum einsichtig, wenn Begünstigungen bereits vor Inkrafttreten einer Norm in Anspruch genommen werden könnten, ohne daß für den Begünstigten im Gegenzug eine Vorabbindung an das neue Recht entsteht. Deshalb spricht vieles dafür, eine bloß deklaratorische Bedeutung des Anerkenntnisses anzunehmen. 5. Gemäß § 33 BauGB müssen für den Eintritt der positiven Vorwirkung sowohl das Inkrafttreten als auch der Inhalt der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplanes mit hinreichender Gewißheit feststehen. Die positive Vorwirkung kann also nicht eintreten, wenn der neue Plan mit erheblichen Mängeln behaftet, die Erteilung der aufsichtsrechtlichen Genehmigung zweifelhaft oder das Wirksamwerden des Planes insgesamt fragwürdig ist. 326 Dieses Er324 Krautzberger, in: Battis I Krautzberger I Löhr, BauGB, § 33 Rz. 11; Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd.l, § 33 Rz. 9; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 33 Rz. 11; Schrödter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. 14; Zinkahn, in: ErnstlZinkahnl Bielenberg, § 33 Rz. 17; Schlez, BauGB, § 33 Rz. 11. l2S

Schlez, BauGB, § 33 Rz. 11.

326 Schrödter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. 7 f.; Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd.l, § 33 Rz.7; GelzerlBirk, Bauplanungsrecht, Rz. 1066; Dürr, in: Brügelmann, § 33 Rz. 7f.; Krautzberger, in: Battis I Krautzberger I Löhr, § 33 Rz. 8; Zinkahn, in: Ernst I Zinkahn I Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 17 f.; Schlez, BauGB, § 33 Rz. 8.

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

111

fordernis läßt sich zum einen damit erklären, daß sich, solange ein Plan nicht inhaltlich ausreichend bekannt ist, wohl kaum von einer Vorwirkung sprechen läßt. 327 Denn wie sollte der Rechtsanwender feststellen, ob die von ihm getroffene Verwaltungsentscheidung den Festsetzungen der künftigen Norm entspricht. Viel wichtiger hierfür dürften aber Sinn und Zweck der gesetzlichen Anordnung einer positiven Vorwirkung sein. Wie anfangs aufgezeigt, soll bei ihr der Bürger sein Verhalten so bald als möglich an der neuen Norm orientieren, der jeweilige Normsetzer andererseits die mit dem Normerlaß verfolgten Ziele erreichen können. Ein zu frühzeitiges voranwendendes Tätigwerden könnte aber eine Situation schaffen, die dem Willen des Normgebers letztlich doch nicht entspricht. 328 Dies könnte ihn an der Verfolgung anderer, als der ursprünglich anvisierten Ziele hindern. Anders wäre dies nur, wenn der durch die Voranwendung begünstigte Bürger das vorweggenehmigte Bauprojekt stets an das später in Kraft getretene Recht anpassen müßte. Daher ist zu klären, wie bei einer Änderung der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplanes nach erfolgten Vorweggenehmigungen zu verfahren ist: Zunächst könnte man daran denken, daß der Gesetzgeber zumindest an die mit hinreichender Gewißheit feststehenden künftigen Festsetzungen des Bebauungsplanes gebunden ist. Die Annahme einer derartigen Bindung hätte jedoch zur Folge, daß der neue Bebauungsplan im Grunde genommen bereits vorzeitig in Kraft treten würde. Dadurch verlöre die gesetzliche Anordnung der positiven Vorwirkung ihren Sinn. In Rechtsprechung und Schrifttum wird daher fast einhellig vertreten, daß der Normgeber die von ihm anvisierten Festsetzungen bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplanes ändern kann. 329 Bejaht man eine solche Abänderungsbefugnis des Gesetzgebers, fragt sich, wie sich eine nachträgliche Änderung der Festsetzungen auf die Position derjenigen Bürger auswirkt, die eine Vorweggenehmigung erhalten haben. Insoweit kommen folgende zwei Extreme in Betracht: Zum einen könnte man daran denken, daß die Betroffenen entschädigungslos eine der neuen Rechtslage entsprechende Situation zu schaffen haben. Wegen dem Erfordernis der materiellen Planreife waren sie sich der Vorläufigkeit ihrer Position bewußt und handelten folglich auf eigenes Risiko. Teilweise wird auch aus dem Anerkenntnis der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans eine von den Betroffenen entschädigungslos hinzunehmende Anpassungspflicht entnommen. 330 Vorteil dieser Extremposition ist, daß sich der Normgeber gerade wegen dieser entschädigungslosen Anpassungspflicht relativ

327

Bianchi, ZBL 1987 (Bd. 88), S. 396 ff. (401).

12R

BVerwG, Buchholz (1965), 40-6.11, § 33 BauGB, Nr.1.

Zinkahn, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, § 33 Rz. 17; BayVerfGH, BayVBI. 1986, 497 ff. (498); VGH BW, ESVGH 12, 152 ff. 110 Hierzu finden sich bei Stein er, DVBI. 1991, 739 ff. (743) weitere Nachweise. 329

112

B. Die positive Vorwirkung

leicht zu einer nachträglichen Abänderung der bisher anVIsIerten Normbestimmungen entschließen kann. Auf der anderen Seite ließe sich vorstellen, daß die Vorweggenehmigung dem Bürger eine endgültige Rechtsposition verschafft. Damit würde diesem das nicht unbeträchtliche Risiko einer Anpassung seines Bauprojekts an den letztlich in Kraft getretenen Bebauungsplan genommen, der Normgeber aber unter Umständen zu sehr von einer Abänderung seiner bisherigen Festsetzungen abgehalten. Die überwiegende Meinung im Schrifttum versucht daher bei § 33 BauGB, einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen den kollidierenden Interessen des Bürgers und des Normgebers zu finden, und gelangt zur folgenden vermittelnden Lösung: Soweit das in Frage stehende Bauprojekt vollendet wurde, genießt es gemäß Art. 14 GG Bestandsschutz. 331 Dies wird einerseits aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung des § 33 BauGB abgeleitet. 332 Andererseits würde der Sinn und Zweck von § 33 BauGB ausgehöhlt, wenn der einzelne im Extremfall sein Bauvorhaben entschädigungslos beseitigen müßte. 333 Von dem Bürger kann daher eine Anpassung an den neuen Rechtszustand nur bei Gewährung einer Entschädigung verlangt werden. Wurde die Vorweggenehmigung noch nicht ins Werk gesetzt, kann diese problemlos gemäß §§ 48,49 VwVfG aufgehoben werden. 334 Sieht das neue Recht im Gegensatz zu vorher eine größere Ausnutzbarkeit vor, handelte der einzelne bei der Realisierung der Vorweggenehmigung auf eigenes Risiko. 335 Soweit möglich, ist es ihm aber unbenommen, sein Vorhaben (entschädigungslos ) der neuen Rechtslage anzugleichen. Demgegenüber ist ihm, wenn das Neurecht eine geringere Ausnutzbarkeit als in der Vorweggenehmigung vorsieht, eine Entschädigung zu zahlen. 336 Diese Kasuistik ist sachgerecht und dürfte vor allem durch die Besonderheiten des Baurechts bedingt sein. Sofern dem Bürger eine vorzeitige Bebau331 GelzerlBirk, Bauplanungsrecht, Rz. 1072; Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd. I, § 33 Rz.9; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 33 Rz. 12; Zinkahn, in: ErnstlZinkahnl Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 17, 23,25 .

. m Vgl. z.B. Steiner, DVBI. 1991,739 ff. (743 f.). 333

So ansatzweise z.B. Schlez, BauGB, § 33 Rz. 12.

Gelzer I Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1071; Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd. I, § 33 Rz. 9; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 33 Rz. 12; Schrödter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. 14; in diese Richtung Zinkahn, in: Ernst I Zinkahn I Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 17. 334

335 Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 33 Rz. 12; Bielenberg, in: ErnstlZinkahnlBielenberg, BauGB, § 33 Rz. 14; Schrödter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. 15. 336 Dürr, in: Brügelmann, BauGB, § 33 Rz. 12; Bielenberg, in: ErnstlZinkahnlBielenberg, § 33 Rz. 25; in diese Richtung Schrödter, in: Schrödter, BauGB, § 33 Rz. 15.

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

113

ung ermöglicht wurde, kann dies nicht allein auf dessen Risiko geschehen. Da bei § 33 BauGB die jeweilige Verwaltungsentscheidung materiell-bestandskräftig wird, steht er nicht sehr viel schlechter als bei Verwaltungsentscheidungen, denen nur in Kraft stehendes Recht zugrunde gelegt wurde. Das Kriterium einer derart fortgeschrittenen Normausarbeitung, daß mit der Normrealisierung zu rechnen ist, verhindert, daß die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers zu früh eingeengt wird. Nach diesem Augenblick kann der Normsetzer zwar immer noch seine ins Auge gefaßten Festsetzungen ändern; in diesem Falle muß er jedoch die Zahlung von Entschädigungen an die durch dieses Abweichen negativ betroffenen Bürger in Kauf nehmen. Festzuhalten bleibt somit, daß bei einer Voranwendung werdender Normen, bei denen die Verwaltungsentscheidung materiell-bestandskräftig wird, weil man dem Bürger das Risiko einer Abänderung der geplanten Vorschriften nicht aufbürden kann, die Gefahr einer Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Normsetzers besteht. Dieses Risiko ist allein dann hinzunehmen, wenn die Voranwendung des werdenden Rechts durch triftige Gründe gerechtfertigt ist. Außerdem ist ihm dadurch vorzubeugen, daß mit dem Inkrafttreten der vorangewendeten Festsetzungen mit hinreichender Gewißheit zu rechnen ist. Empfehlenswert wäre auch, daß zugleich mit dem Erlaß der Vorwirkungsanordnung die erforderliche Interessenausgleichung vorgenommen wird. 6. Daß § 33 BauGB allein die Voranwendung eines den Antragsteller im Ergebnis begünstigenden künftigen Bebauungsplans ermöglicht, wird überwiegend an Hand der Systematik des BauGB erklärt. Vor allem wegen §§ 14 ff. BauGB, die sich detailliert mit der Sicherung der Bauleitplanung befassen, wird § 33 BauGB die Funktion eines negativen Zulässigkeitstatbestands abgesprochen. 337 Manche Autoren meinen, dieses Ergebnis auf das Prinzip des Gesetzesvorbehalts zurückfUhren zu können. Eingriffe in Freiheit und Eigentum dürften nach Art. 20 GG nur aufgrund eines in Kraft getretenen Gesetzes vorgenommen werden. 338 Diese Schlußfolgerung erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als ungenau. Grundlage fUr die ablehnende Verwaltungsentscheidung wäre nämlich § 33 BauGB als in Kraft stehende Vorschrift, die eine belastende positive Vorwirkung anordnet. Allerdings fragt es sich, warum der einzelne eine vorzeitige Anwendung künftiger belastender Vorschriften hinnehmen soll, solange sich der Gesetzgeber noch nicht definitiv fUr das Inkrafttreten der jeweiligen Vorschrift entschieden hat. Hier läßt sich eine ll7 Schlichter, in: Berliner Kommentar, Bd. 1, § 33 Rz. 3; Zinkahn, in: ErnstlZinkahnl Bielenberg, BauOB, § 33 Rz. 2 f.; Krautzberger, in: Battis I Krautzberger I Löhr, BauOB, § 33 Rz. 2; Dürr, in: Brügelmann, § 33 Rz. 2; BVerwOE 20, 127 (129-132). ll8 In diese Richtung Dürr, in: Brügelmann, BauOB, § 33 Rz. 2; Grauvogel. ebd., § 14 Rz.64.

8 Guckelberger

114

B. Die positive Vorwirkung

Parallele zu den gesetzlichen Ermächtigungen der Verwaltung zum Erlaß normaler vorläufiger Verwaltungsakte im Bereich der Eingriffsverwaltung ziehen. 339 Bei diesen wurde zwar des öfteren bemängelt, daß eine Vornahme staatlicher Eingriffe ohne hundertprozentige Gewißheit über das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsnorm im Grunde genommen "potentielles Unrecht" sei. 340 Dennoch wird beispielsweise im Polizeirecht dieser Unsicherheitsfaktor im Interesse einer effektiven Gefahrenabwehr verdrängt. 341 Die Verwaltung kann demnach immer dann zum Erlaß vorläufiger belastender Verwaltungsakte ermächtigt werden, sofern sachliche Gründe an dem möglichst schnellen Erlaß der jeweiligen Verwaltungsmaßnahme das Interesse des Bürgers an einer vollständigen Sachverhaltsaufklärung überwiegen. 342 Infolgedessen ist zu prüfen, ob auch die gesetzliche Anordnung einer belastenden positiven Vorwirkung auf derartige sachliche Gründe zurückgeführt werden kann. Ziel einer derartigen Anordnung ist regelmäßig, den zeitlichen Anwendungsbereich eines neuen Gesetzes zu erweitern. Die Voranwendung belastender werdender Normen wird also im Grunde um ihrer selbst willen angeordnet. Dies kann kaum das für den Bürger mit dem vorzeitigen Eingriff verbundene Risiko rechtfertigen. Will der Gesetzgeber der neuen Norm einen möglichst weiten Anwendungsbereich verschaffen, kann er dies durch ein rückwirkendes Inkrafttreten343 des Neurechts tun. Sofern nicht gewichtige sachliche Gründe die Voranwendung belastender werdender Normen rechtfertigen,344 darf daher keine belastende positive Vorwirkung gesetzlich angeordnet werden. Im übrigen darf die Verwaltung im Bereich der Wesentlichkeitstheorie nicht zu einer Voranwendung werdender Normen ermächtigt werden. Denn es wäre ein Widerspruch, wenn die Verwaltung bereits voranwendend tätig werden könnte, ohne daß der Parlamentsgesetzgeber über die wegen ihrer Bedeutung wesentliche Frage entschieden hat. 7. Eine weitere bei § 33 BauGB aktuell werdende Frage ist, wie der einzelne von den künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans Kenntnis nehmen soll. Normalerweise wird bei Normen, die inhaltlich auf andere Normen verweisen, verlangt, daß die in Bezug genommene Rechtsnorm für den Betroffenen zugänglich und nach ihrer Art für amtliche Anordnungen geeignet ist. 345 Verweist eine Norm auf eine erst werdende Norm, könnte man sich fragen, 339

Vgl. hierzu Schimmelpjennig, Vorläufige VelWaltungsakte, S. 40 ff.

340

Schimmelpjennig, Vorläufige VelWaltungsakte, S. 141 m. w. N.

341

Zu den vorläufigen VelWaltungsakten im Polizeirecht s. Di Fabio, DÖV 1991, 629 ff.

342

Schimmelpjennig, Vorläufige VelWaltungsakte, S. 144.

343

Wobei dieser Ausdruck sprachlich ungenau ist, vgl. S. 76.

Als Beispiel mögen die Schwierigkeiten bei der Besoldungs- und Steuerberechnung im Falle rückwirkender Gesetzesänderungen dienen. 345 Brugger, VelWArch 78 (1987), S. I ff. (12), BVelWGE 50, 250 (264). 344

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

115

ob letztere überhaupt allgemein zugänglich ist, solange das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Hier dürfte die Antwort je nach Art der Norm unterschiedlich ausfallen. Beispielsweise sind Entwürfe von Bebauungsplänen relativ früh bekannt, weil sie wegen der gemäß § 3 BauGB notwendigen Bürgerbeteiligung auszulegen sind. Bei förmlichen Bundesgesetzen sind die jeweils zur Debatte stehenden Normentwürfe durch die Bundestagsdrucksachen der Öffentlichkeit zugänglich. 346 Sollte einem Normentwurf diese Zugänglichkeit fehlen, könnte man immerhin noch erwägen, ob dieses Defizit nicht durch einen Anspruch des Bürgers auf Einsichtnahme bei der zuständigen Stelle kompensiert werden kann. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß Normentwürfe durchaus allgemein zugänglich sein können. Allerdings fragt es sich, ob dermaßen zugängliche Normentwürfe auch das zweite Verweisungskriterium, daß sie ihrer Art nach für amtliche Anordnungen geeignet sind, erfüllen. Hierunter versteht man regelmäßig, daß der Bürger von dem jeweiligen Verweisungsobjekt verläßlich und in zumutbarer Weise Kenntnis nehmen kann. 347 Schenke scheint auch dieses zu bejahen, indem er eine Verweisung auf noch nicht in Kraft getretenes Recht für möglich hält, "soweit deren Text nur bereits festgelegt ist."348 Bei noch nicht verkündeten Normentwürfen besteht jedoch die Gefahr, daß der einzelne einen bereits wieder abgeänderten Normentwurf als für sich maßgeblich ansieht oder überhaupt nicht feststellen kann, welcher von mehreren Vorschlägen letztlich gelten soll. Aus diesem Grunde könnte man meinen, daß die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung nicht möglich ist. Um so erstaunlicher ist es, daß dieses Problem bei § 33 BauGB anscheinend nicht gesehen wird. Da das Publikationserfordernis von Rechtsnormen hauptsächlich dem Schutze des Bürgers dient,349 darf es sich nur zu seinen Gunsten, nicht aber zu Lasten des einzelnen auswirken. Anstelle die gesetzlich angeordnete, den Bürger vom Ergebnis her begünstigende positive Vorwirkung mit der Sanktion der Nichtigkeit zu versehen, ist daher zu überlegen, ob die Publikationszwecke nicht weitestgehend auf andere Art und Weise zu erreichen sind. So könnten die für den Bürger bestehenden Schwierigkeiten, den jeweils maßgeblichen Text der noch nicht verkündeten Norm zu ermitteln, unter Umständen durch einen aus § 33 BauGB herrührenden Anspruch auf Bekanntgabe der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans gegen die Behörden 346

Handschuh, Gesetzgebung, S. 56.

Brugger, VerwArch 78 (1987), S. 1 ff. (13); Clemens, AöR 111 (1986), S.63 ff. (91); BVerwGE 55, 250 (264). 348 Schenke, in: Festschrift für Fröhler zum 60. Geburtstag, S. 96; so wohl auch Kloepjer, Vorwirkung, S. 38. 349 Wittling, Die Publikation, S. 273 ff., will auf diese Weise an sich zu publizierende Verwaltungsvorschriften "retten". Ob sie diese Ansicht aber auch auf Gesetze übertragen würde, ist fragwürdig. 347

s'

116

B. Die positive Vorwirkung

kompensiert werden. 350 Wie vorne aufgezeigt, soll die Verkündung von Rechtsnormen zur Berechenbarkeit des Staatshandelns beitragen. Solange es nur darum geht, dem einzelnen durch die Anordnung einer positiven Vorwirkung eine zusätzliche Handlungsmöglichkeit zu eröffnen, dürfte auch ein Anspruch auf Bekanntgabe der werdenden Norm für eine ausreichende Berechenbarkeit des Staatshandelns sorgen. Inhalt dieses Anspruchs wäre, den Anspruchsinhaber so zu stellen, als wäre die werdende Norm publiziert. Demzufolge müßte die Verwaltung eine Abschrift oder Kopie der künftigen Festsetzungen des Bebauungsplanes ermöglichen und den Antragsteller über bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Verwaltungsverfahrens eintretende Normänderungen informieren. Auf diese Weise ist der am Vorwirkungseintritt des § 33 BauGB Interessierte in der Lage, den Umfang seiner am künftigen Recht ausgerichteten Rechtsposition zu ermitteln sowie zu entscheiden, ob er diese Position vorzeitig ausnutzen will. Da jedem an der Vorwirkung des § 33 BauGB Interessierten ein derartiger Bekanntgabeanspruch zusteht und jeder wegen der Anordnung im geltenden Recht entnehmen kann, daß Vorwirkungen des künftigen Rechts möglich sind/ 51 wird eine Gleichbehandlung aller garantiert. Problematisch wird dagegen bei der Annahme eines Bekanntgabeanspruchs, daß dem Bürger im Vergleich zur Publikation eine wesentlich geringere Distanz zum Staat vermittelt wird. Will der Bürger die ihm kraft Gesetzes eingeräumte Rechtsposition wahrnehmen, muß er sich bei den Behörden über die künftigen Festsetzungen des Bebauungsplans erkundigen. Erst danach ist ihm eine distanzierte Auseinandersetzung mit dem Staat möglich. Dieser Nachteil ist jedoch zumindest im Bereich des Baurechts unerheblich, da der Bürger wegen der praktischen Unmöglichkeit der Publikation von Plänen und Karten ohnehin eine Einsichtnahme bei den staatlichen Stellen in Kauf zu nehmen hat. 352 In anderen Fällen würde dieser Nachteil in Anbetracht dessen, daß die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung es dem einzelnen fakultativ ermöglicht, eine ihm an sich noch nicht zustehende Rechtsposition auszunützen, als gering erscheinen. Wer die persönliche Vorsprache bei den Behörden nicht in Kauf nehmen will, muß sich eben bis zum Inkrafttreten der neuen Norm mit der Altrechtslage begnügen. Diese Kernaussage muß auch für die Gefahr, daß die Behörden falschlicherweise einen nicht völlig authentischen Text des maßgeblichen Normentwurfs ver350 Vgl. allgemein zu einem derartigen Bekanntgabeanspruch bei fehlender Publikation Wittling, Die Publikation, S. 270-298. 351 Bei der positiven Vorwirkung ohne gesetzliche Anordnung besteht die Gefahr, daß nur gut Informierte eine Vorwirkung geltend machen. Die gesetzliche Anordnung i.Y.m. dem Bekanntgabeanspruch bewirkt dagegen, daß jeder das künftige Recht in seine Erwägungen mit einbezieht. 352 Vgl. S. 57 Fn. 91 m.w.N.

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

117

wenden, gelten. Die Behörden sind aufgrund des Gesetzmäßigkeitsprinzips dazu verpflichtet, richtige Angaben gegenüber dem Bürger zu machen. Sollten sie dennoch gegen diese Verpflichtung verstoßen, bleibt dem Betroffenen der Rechtsweg unter Einschluß von Amtshaftungsansprüchen 353 offen. Damit ist der einzelne gegen die aus der mangelnden Verkündung einer Norm herrührenden Gefahren weitestgehend geschützt. Soweit die positive Vorwirkung lediglich zusätzliche Möglichkeiten eröffnet, wird sie durch die Eimäumung eines Bekanntgabeanspruchs ausreichend ergänzt. Im übrigen kann sich der Betroffene jederzeit dazu entschließen, den Zeitpunkt der Verkündung des Neurechts abzuwarten. Demgegenüber läßt sich bei einer gesetzlich angeordneten belastenden positiven Vorwirkung die fehlende Verkündung der werdenden Norm nicht durch einen Bekanntgabeanspruch ersetzen. Denn im Bereich des Gesetzesvorbehalts dürfte der Grundsatz, daß sich niemand ein nichtveröffentlichtes Gesetz entgegenhalten lassen muß, nach wie vor umfassende Geltung beanspruchen. 354 Zu klären bleibt also nur noch, was bei einer fiir den Antragsteller günstigen, einen Dritten aber mittelbar beeinträchtigenden positiven Vorwirkung zu gelten hat. Zweifellos muß es diesem möglich sein, sich gegen eine seiner Ansicht nach unzulässige Vorwirkung zu wehren. Dies kann er, indem er sich seinerseits auf seine Interessen schützende Regelungen der werdenden Norm beruft. Hierfiir muß er deren Inhalt zur Kenntnis nehmen. Fraglich ist also wiederum, ob ein von der Vorwirkung mittelbar Betroffener auf einen Bekanntgabeanspruch verwiesen werden kann. Hauptunterschied zu dem von der gesetzlichen Anordnung einer positiven Vorwirkung Begünstigten ist, daß der Dritte quasi in seine Verteidigerrolle hineingetrieben wird. Will er die Umsetzung der Voranwendung verhindern, muß er schnellsten etwas dagegen unternehmen. Infolgedessen wird sich der Dritte nicht bloß fakultativ, sondern mehr oder minder gezwungenermaßen an die zuständigen Behörden wenden. Der Bedeutungsgehalt des Distanzkriteriums wird also bei mittelbar Betroffenen weit mehr berührt. Dennoch wir ein Bekanntgabeanspruch den Interessen des Dritten ausreichend gerecht. 355 Ansonsten würde ein eher formales Interesse das materielle Interesse des durch die gesetzliche Anordnung der positiven Vorwirkung Begünstigten überwiegen. Deswegen muß es genügen, wenn mittelbar Betroffene mittels eines Bekanntgabeanspruchs von den Festsetzungen der künftigen Norm Kenntnis nehmen können. Außerdem sind 353 Vgl. dazu Bielenberg, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 33 Rz. 24; BayVerfGH, BayVBI. 1986,497 ff. (498 f.). 354 In diese Richtung Wittling, Die Publikation, S. 271 f. m Bei § 33 BauGB ist dies wiederum unproblematisch, da jeder den Inhalt von Bebauungsplänen durch Einsichtnahme feststellen muß. Vgl. S. 57 Fn. 91 m.w.N.

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B. Die positive Vorwirkung

auch sie durch Rechtsschutz- und Amtshaftungsansprüche 356 ausreichend vor falschen Angaben der Behörden geschützt. 8. Weiterhin fragt sich, ob Kriterien wie "eine derart fortgeschrittene Normausarbeitung, daß mit der Normrealisierung zu rechnen ist" noch dem aus dem Rechtsstaatsprinzip entnommenen Bestimmtheitsgrundsatz genügen. 357 Die Normadressaten müssen den Beginn ihres Berechtigtseins, die Behörden den Augenblick, ab dem die die positive Vorwirkung anordnende Vorschrift anzuwenden ist, erkennen können. In einem ähnlich gelagerten Fall, in dem das Inkrafttreten eines Gesetzes von dem Eintritt einer aufschiebenden Bedingung abhängig gemacht wurde, machte das Bundesverfassungsgericht hierzu folgende Ausführungen: 358 "... mit hinreichender Bestimmtheit regeln muß. Dem kann unter bestimmten Voraussetzungen dann Genüge getan sein, wenn kein nach dem Datum bestimmter Zeitpunkt festgelegt ist, sondern hierfür ein mit großer Wahrscheinlichkeit erwartetes bestimmtes Ereignis maßgebend sein soll; wesentlich ist allerdings, daß dies in ausreichender Weise im Gesetz zum Ausdruck kommt. Zweifel, die sich bei der Festlegung des Zeitpunktes ergeben können, sind für sich allein nicht geeignet, die Gültigkeit des Gesetzes in Frage zu stellen. Selbst bei genauer Fixierung sind Unstimmigkeiten hinsichtlich des Inkrafttretens einzelner Normen nicht immer auszuschließen. Wenn auch das Wirksamwerden einer gesetzlichen Regelung im Interesse der Rechtssicherheit einer möglichst genauen Fixierung bedarf, erscheint es andererseits nicht angängig, an Tatbestandsmerkmale, die das Inkrafttreten des Gesetzes regeln, prinzipiell höhere Bestimmtheitsanforderungen zu stellen als an solche, von denen sonstige materielle Rechtsfolgen abhängen. Es kommen vielmehr auch hier die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zur Anwendung." Diese Ausführungen lassen sich ohne weiteres auf die eine positive Vorwirkung anordnende Norm übertragen. Insbesondere bei § 33 BauGB wird allgemein angenommen, daß es sich bei dem Kriterium der materiellen Planreife um einen unbestimmten Rechtsbegriff handle, der gerichtlich voll nachprüfbar ist. 359 Sofern die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung den Eintritt des Voranwendungsbeginns hinreichend umschreibt, dürfte sie also nicht am Bestimmtheitsgrundsatz scheitern. 9. Letztlich ist zu prüfen, ob nicht aus dem in der Schweiz vorgebrachten Einwand, die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung verstoße 356 Hierauf legt vor allem Zinkahn (in: Ernst I Zinkahn I Bielenberg, § 33 Rz. 24, Vor § 39 Rz. 86, § 39 Rz. 15) Wert. 357 In diese Richtung geht die Kritik von Fiedler, AöR 102 (1977), S. 320 ff. (323). 358 BVerfGE 42, 263 (285 f.); vgl. hierzu auch die Kritik von Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 131. 359 GelzerlBirk, Bauplanungsrecht, Rz. 1068; HessVGH, BauR 1992, 135 ff. (136 f.) spricht die Funktion als Tatbestandsmerkmal an.

III. Die ausdrückliche angeordnete positive VOIwirkung

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gegen den Grundsatz der Parallelität der Rechtsformen, auch für Deutschland irgendwelche Konsequenzen entnommen werden können. Nach diesem Grundsatz können die Wirkungen einer Norm nur von demjenigen, der die Norm erlassen hat, beseitigt werden. 360 Sofern aber der zuständige Normgeber selbst die Möglichkeit einer positiven Vorwirkung schafft, kann darin kein Verstoß gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip erblickt werden. Denn er hat selbst die Entscheidung getroffen, ab wann die Wirkungen der bisherigen Norm nicht mehr umfassend eintreten sollen. Des weiteren ist zu beachten, daß ein rangniedrigerer Normgeber keine Ermächtigung zur Voranwendung ranghöherer Normen schaffen kann. Dadurch würde unzulässigerweise in den Kompetenzbereich anderer Organe eingegriffen. Hiervon abgesehen lassen sich jedoch keine weiteren Bedenken gegen die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung ersehen. Resümierend läßt sich daher feststellen: Die mit der Rechtsanwendung befaßten Organe können durch eine Vorschrift im geltenden Recht zur Voranwendung künftiger Normen ermächtigt werden, sofern sich der Normgeber zur Normänderung entschlossen hat, Inkrafttreten als auch Inhalt des Neurechts hinreichend gewiß sind, die Verwaltungsentscheidung Tatbestand und Rechtsfolge der künftigen Norm entspricht und der Bürger im Vergleich zur bisherigen Rechtslage begünstigt wird. Darüber hinaus wäre es empfehlenswert, sowohl den Anspruch des Bürgers auf Bekanntgabe der künftigen Rechtsnorm als auch die bei einer späteren Abänderung der vorangewendeten Vorschrift entstehenden Folgen gesetzlich näher auszugestalten sowie etwaige Besonderheiten der jeweiligen Rechtsgebiete im Auge zu behalten. Allerdings muß sich die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung wohl auf Ausnahmefalle beschränken. Letztere zeichnen sich dadurch aus, daß das Normsetzungsverfahren übermäßig lange dauert und man den Bürger aus begründeten Erwägungen heraus nicht bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts hinhalten möchte. Daß auf diese Weise das Inkrafttreten des Neurechts in engen Grenzen, also nicht in vollem Umfang, vorverlagert werden kann, erklärt sich folgendermaßen: Bei § 33 BauGB bzw. unter den soeben geschilderten Voraussetzungen hat der Bürger regelmäßig kein Interesse daran, sich das Neurecht erst ab dem Augenblick entgegenhalten zu lassen, in dem es endgültig verbindlich geworden ist und er sich über seinen Inhalt vollständig unterrichten konnte. Daher brauchen die Behörden, sofern sich der Bürger nicht auf Gegenteiliges beruft, den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts nicht abzuwarten. An360 Vgl. vorne S. 69. Dabei existiert der Grundsatz der Parallelität der Fonnen zum Schutze derjenigen, die bei der damaligen Nonnsetzung beteiligt waren, in Deutschland nicht.

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B. Die positive Vorwirkung

dererseits will der Gesetzgeber oft selbst, daß seine Regelung alsbald greift. Insbesondere bei § 33 BauGB können die Gemeinden ein (wirtschaftliches) Interesse daran haben, daß ein Bauvorhaben bereits vor Inkrafttreten des Bebauungsplans in die Tat umgesetzt wird. Dies ist regelmäßig ab dem Zeitpunkt, ab dem weitgehende Gewißheit über die Bestimmungen des künftigen Gesetzes besteht, anzunehmen. Wenn also weder Interessen des Bürgers noch des Staates einer Voranwendung des künftigen Rechts entgegenstehen, kann im Wege einer spezialgesetzlichen Anordnung der Eintritt einer positiven Vorwirkung ohne Vorläufigkeitsvermerk vorgesehen werden. 2. Zu § 165 AO: spezialgesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung mit Vorläufigkeitsvermerk Als Beispiel für eine Rechtsnorm, die zur Voranwendung werdenden Rechts ermächtigt, die hierbei getroffenen Verwaltungsentscheidungen aber nur als vorläufig ansieht, kann § 165 I AO genannt werden. Diese Vorschrift bestimmt folgendes: "Soweit ungewiß ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann sie vorläufig festgesetzt werden. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn 1. ungewiß ist, ob und wann Verträge mit anderen Staaten über die Besteuerung (§ 2), die sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken, für die Steuerfestsetzung wirksam werden, 2. das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist, oder 3. die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht ist.

Umfang und Grund der Vorläufigkeit sind anzugeben. Unter der Voraussetzung der Sätze 1 oder 2 kann die Steuerfestsetzung auch gegen oder ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt werden." § 165 I 2 Nr. 2, 3 AO wurde hierbei erst im Jahre 1993 eingefügt. Bis dahin wurde im Schrifttum fast einhellig vertreten, daß künftige Gesetzesänderungen, die rückwirkend in Kraft treten sollen, keine vorläufige Steuerfestsetzung rechtfertigten. 361 Hiervon wurde allein bei möglicherweise rückwirkenden Doppelbesteuerungsabkommen eine Ausnahme gemacht. Im August 1991 erging jedoch ein Beschluß des Bundesfinanzhofes, wonach eine künftige gesetzliche Regelung eine Ungewißheit

361

Seer, DStR 1993,307 ff. (309); NeckeIs, DStZ 1992,391 ff. (392).

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

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über die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer darstellen kann. 362 Auffallend ist dabei, daß dieser Beschluß ohne jegliche Begründung veröffentlicht wurde. Auf ihn dürfte die heutige Fassung des § 165 I AO zurückzuführen sein. Daß eine vorläufige Steuerfestsetzung im Wege der Voranwendung des künftigen Rechts vorgenommen werden kann, steht mit Sicherheit nur für § 165 I 2 Nr. I AO fest,363 weshalb zunächst diese Alternative abzuhandeln ist. Ein Vergleich mit den bei § 33 BauGB entwickelten Strukturmerkmalen ergibt dabei folgendes: I. Nach dem Gesetzeswortlaut ist nicht erforderlich, daß sich der Gesetzgeber bereits zur Normänderung entschlossen bzw. mit der Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens begonnen hat. Ebensowenig ist ihm zu entnehmen, daß der Norminhalt des künftigen Rechts mit großer Wahrscheinlichkeit feststehen muß. Für den Bürger sind diese Kriterien wohl eher unbedeutend, da er durch § 165 I 2 Nr. I AO begünstigt wird. Die Beifügung des Vorläufigkeitsvermerks gewährleistet zudem, daß die Steuerfestsetzung punktuell nicht materiell-bestandskräftig wird364 und immer eine Anpassung an das letztlich in Kraft getretene Recht vorzunehmen ist. Daher stellt sich die Frage einer Einengung der Entschließungsfreiheit des Gesetzgebers eigentlich nicht. Von einer Voranwendung des werdenden Rechts läßt sich aber im Grunde genommen nur sprechen, wenn einigermaßen Gewißheit über seinen Inhalt herrscht. Diese Ungewißheit dürfte frühestens in dem Augenblick entfallen, in dem das Gesetzgebungsverfahren durch einen der Initiativberechtigten bzw. hier wohl genauer der Beginn der Vertragsverhandlungen eingeleitet wurde. Denn erst in diesem Augenblick ist nach außen hin offenkundig, daß das bloße Diskussionsstadium verlassen ist und ernsthafte Absichten an der Verabschiedung eines Doppelbesteuerungsabkommens bestehen. Andererseits liegt es im öffentlichen Interesse, daß nicht zu frühzeitig auf Steuereinnahmen, die an sich nach geltendem Recht zu erheben sind, verzichtet wird. Von Wallis geht daher sogar soweit, daß von ihm die vorläufige Anwendung eines Doppelbesteuerungsabkommens nur in Fällen, in denen das Abkommen bereits paraphiert oder der den Steuerpflichtigen begünstigende Teil trotz schwebender Vertragsverhandlungen unstreitig ist, als sachgerecht empfunden wird. 365 2. Als nächstes wäre zu überlegen, ob die vorläufige Voranwendung des künftigen Rechts, bei der die Verwaltungsentscheidung immer an das letztlich maßgebliche Recht anzugleichen ist, überhaupt dem Gebot der Rechtssicherheit entspricht. Maurer ist beispielsweise der Ansicht, es ginge kaum an, 362

BFH, BStB!. 1991 II S. 868.

So zumindest v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur AO (FGO), § 165 AO Rz. 17. 364 Seer, DStR 1993, 307 ff. (309). 365 v. Wallis, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 165 Rz. 17. 363

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B. Die positive Vorwirkung

"wenn der Gesetzgeber Rechte und Pflichten des Bürgers festlegt, und zugleich zum Ausdruck bringt, daß es noch offen sei, ob sie endgültig anerkannt bleiben."366 Dem kann aber bei § 165 I 2 Nr. 1 AO entgegengehalten werden, daß die dort enthaltene Vorläufigkeit gerade den Interessen des Bürgers dient. Außerdem wird er durch den gesetzlich vorgeschriebenen Vorläufigkeitsvermerk geradezu darauf aufmerksam gemacht, daß die Endgültigkeit der Verwaltungsmaßnahme noch nicht gänzlich sicher ist. Dadurch, daß sich die Vorläufigkeit direkt aus der gesetzlichen Anordnung entnehmen läßt, ist das Staatshandeln ausreichend berechenbar. 367

3. Weiterhin stellt sich die Frage, wie die Tatsache zu bewerten ist, daß das im voraus angewendete Doppelbesteuerungsabkommen noch nicht offiziell bekanntgemacht worden ist. Da sich gemäß § 165 I 2 Nr. I AO die Voranwendung nur zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken darf, kann hier auf die bei § 33 BauGB gemachten Feststellungen verwiesen werden. Beachtenswert ist noch, daß im Bundessteuerblatt jährlich eine Übersicht über den Stand der Doppelbesteuerungsverhandlungen abgedruckt wird. 368 Auch sind gemäß § 165 13 AO Umfang und Grund der Vorläufigkeit zu nennen, so daß insgesamt keinerlei Bedenken gegen die Voranwendung künftiger Doppelbesteuerungsabkommen bestehen. 4. Daß das jeweilige Doppelbesteuerungsabkommen rückwirkend in Kraft treten soll/69 läßt sich folgendermaßen erklären: Bereits bei § 33 BauGB wurde aufgezeigt, daß eine Vorverlagerung des Inkrafttretens einer Norm nur möglich ist, wenn dies sowohl den Interessen des Bürgers als auch des Staates entspricht. Da der Bürger durch § 165 I 2 Nr. I AO begünstigt wird, wird er gegen die vorläufige Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens nichts einzuwenden haben. Anders ist es dagegen aus der Sicht des Staates: Auf Steuereinnahmen soll nur insoweit verzichtet werden, wie dies von ihm ausgehandelt wird. Deshalb kann der Bürger durch eine vorläufige Voranwendung nur begünstigt werden, wenn nach den Intentionen des Staates ein rückwirkender Verzicht auf die Steuererhebung eintreten soll. Damit gelangt man zu dem Ergebnis, daß gemäß § 165 I 2 Nr. I AO Doppelbesteuerungsabkommen vorläufig im voraus anwendbar sind, wenn (1) der Bürger dadurch begünstigt wird, (2) einigermaßen Gewißheit über die Bestimmungen des Abkommens herrscht und (3) dieses voraussichtlich rückwirkend ergehen wird. Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 31. Vgl. zu diesem Problemkreis auch Muckei, Vertrauensschutz, s. 82 Fn. 21. 368 Baum, in: Koch/Scholtz, AO, § 165 Rz. 7/1. 369 Kühn/Hofmann, AO, § 165, S.427; Tipke/Kruse, AO, § 165 Rz.5; Baum, in: Koch/Scholtz, AO, § 165 Rz. 7/1. 366

367

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

123

Ob auch bei § 165 I 2 Nr. 2, 3 AO künftige gesetzliche Bestimmungen im voraus angewendet werden können, ist dagegen fraglich. Jedenfalls finden sich momentan im dazu einschlägigen Schrifttum zu einer derartigen Vorgehensweise der Behörden keinerlei Aussagen. Ziel dieser Bestimmungen war, dem Bürger etwaige Vorteile aus der Unvereinbarkeitserklärung eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht offenzuhaIten. 370 Eine vorläufige Steuerfestsetzung entsprechend dem künftigen Recht käme daher frühestens in dem Augenblick, in dem sich der Gesetzgeber aus diesem Grunde zur Einleitung eines Normänderungsverfahrens entschließt, in Betracht. Hat nun aber beispielsweise das Bundesverfassungsgericht eine Steuerrechtsnorm für nichtig erklärt, erwiese sich die vorläufige Voranwendung künftigen Rechts aus Sicht des Bürgers als nachteilhaft. Folglich ist aufzuzeigen, ob überhaupt triftige Gründe eine derartige Voranwendung rechtfertigen und ihr nicht die mangelnde Publikation der jeweiligen Norm entgegengehalten werden kann. Für eine derartige Vorgehensweise könnte sprechen, daß die zumeist rückwirkend ergehende Neuregelung alsbald greifen und der Staat auch bis zu deren Inkrafttreten Steuern einnehmen können soll. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber den bisherigen Rechtszustand, nämlich die Nichtigkeit der jeweiligen Steuerrechtsnorm, selbst verschuldet hat und der Bürger möglicherweise vorläufig Steuern zahlt, die er nach der letztlich in Kraft getretenen Neuregelung gar nicht zahlen muß. Insoweit besteht aus der Sicht des Bürgers die Gefahr eines Mißbrauchs der vorläufigen Steuerfestsetzung unter Voranwendung des künftigen Rechts zur Schaffung einer, wenn auch nur kurzfristigen, Einnahmequelle. Diese wäre erst in dem Moment gebannt, in dem die jeweilige Steuerrechtsnorm zustande gekommen ist. Darüber hinaus ist auf den bei § 33 BauGB bereits erwähnten Grundsatz, daß sich im Bereich der Eingriffsverwaltung niemand ein nichtveröffentlichtes Gesetz entgegenhalten lassen muß, hinzuweisen. Selbst wenn sich der Staat dazu verpflichtet, den von ihm geschaffenen Rechtszustand an die letztendlich in Kraft getretene Norm anzugleichen, ändert dies nichts daran, daß der Bürger vorläufig einen Eingriff hinnehmen mußte, dessen Umfang und Voraussetzungen er nicht abschätzen kann. Auch die Angabe von Umfang und Grund der Vorläufigkeit (§ 165 I 3 AO) kann nur dazu führen, daß der Bürger quasi im nachhinein den staatlichen Eingriff versteht. Der Annahme eines vorzeitigen Bekanntgabeanspruchs steht entgegen, daß das im Interesse des Bürgers geschaffene Verkündungserfordernis nicht durch ein "Minus" ersetzt werden sollte. Im Ergebnis ist daher eine vorläufige Voranwendung künftiger Steuerrechtsnormen, die den Bürger belasten, abzulehnen. Es mag zwar angehen, eine vorläufige Steuerfestsetzung bei Ungewißheit über das Vorliegen bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen einer Steuererhebung vorzunehmen. 370

Seer, DStR 1993, 307 ff. (307 f.).

124

B. Die positive Vorwirkung

Hier weiß der Bürger aufgrund einer publizierten Norm, was ihm bei derartigen Ungewißheiten droht, und daß diese Vorgehensweise vom Gesetzgeber von vornherein für alle Zeit gebilligt ist. Im Gegensatz dazu entscheidet der Gesetzgeber bei der vorläufigen Anwendung künftiger Steuerbestimmungen erst zu einem späteren Zeitpunkt, was zu gelten hat, ohne daß der Bürger dies einer publizierten Norm entnehmen kann. Im Bereich einer den Bürger belastenden vorläufigen Steuerfestsetzung haben die Finanzbehörden deshalb sorgfaltigst zwischen tatsächlichen und rechtlichen Ungewißheiten zu differenzieren. Bei § 165 I 2 Nr. 2, 3 AO kommt daher höchstens eine vorläufige Steuerfestsetzung entsprechend dem noch anwendbaren bisherigen Steuergesetz oder eine Aussetzung des Verfahrens in Betracht. 3. Zusammenfassung

Es wurde aufgezeigt, daß es zwei verschiedene Regelungstypen geben kann, die zu einer Voranwendung werdenden Rechts ermächtigen: Einmal kann die in Vorwegnahme des künftigen Rechts ergehende Verwaltungsentscheidung materiell-bestandskräftig werden. Andererseits kann ein Vorläufigkeitsvermerk dafür sorgen, daß die jeweilige Verwaltungsentscheidung an das letztlich in Kraft getretene Recht angeglichen wird. Beide Male dürfte Voraussetzung der Voranwendung sein, daß das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wurde und hinreichende Gewißheit über Inhalt und Inkrafttreten des werdenden Rechts herrscht. Bei § 33 BauGB folgt dies daraus, daß man die Entschlußfreiheit des jeweiligen Normsetzers nicht zu sehr einengen will. Bei Voranwendungsermächtigungen, die diesen Problemkreis nicht oder nur am Rande tangieren, dürfte dieses Erfordernis der Tatsache, daß man nicht gänzlich unüberschaubare Zustände herbeiführen will, zu entnehmen sein. Es wäre niemand damit gedient, wenn die Verwaltung bei § 165 I 2 Nr. 1 AO je nach Stand der Doppelbesteuerungsverhandlungen ganz unterschiedliche vorläufige Steuerfestsetzungen träfe. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die hier für die Verwaltung bei der Anpassung der in Vorwegnahme des künftigen Rechts ergehenden Verwaltungsentscheidungen entstünden, würde eine derartige Sichtweise der Voranwendung zu einer zu starken Ungleichbehandlung der Bürger führen. Zudem sollte man bedenken, daß die Rechtsanwendungsorgane vor diesem Zeitpunkt oft überfordert wären, den jeweils maßgeblichen Normtext herauszufinden, oder bei einem noch vagen Normtext eine Überprüfung, ob Tatbestand und Rechtsfolgen der künftigen Norm gegeben sind, kaum möglich wäre. Damit gelangt man zum zweiten Hauptproblern der ausdrücklich angeordneten positiven Vorwirkung, nämlich der Frage, ob diese nicht an der fehlenden Publikation der vorangewendeten Norm scheitern muß. Eine grobe Durchsicht der Literatur zur Thematik der Verweisung ergibt, daß zwar die Möglichkeit einer noch nicht in Kraft getretenen Norm als

III. Die ausdrückliche angeordnete positive Vorwirkung

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Verweisungsobjekt gesehen wird, man aber wohl eher zur Unzulässigkeit derartiger Verweisungen tendiert. 371 Diese Schwierigkeit wurde hier auf diese Weise gelöst, daß man das Publikationserfordernis nicht zu Lasten des Bürgers versteht. Es ist durchaus möglich, daß der Bürger in bestimmten Fällen, genauer, wenn ihn das künftige Recht begünstigt, keineswegs auf dem Grundsatz beharren wird, daß ihm das neue Recht erst bei endgültiger Verbindlichkeit und vorheriger Möglichkeit der Kenntnisnahme entgegengehalten wird. Bei einer derartigen Fallkonstellation kann es genügen, wenn man dem Bürger eine annähernd gleiche Rechtsposition wie bei Verkündung der Norm verschafft. 372 Eine Voranwendung belastender werdender Normen ist dagegen im Moment nicht möglich, da hier das Publikationsinteresse des Bürgers entgegensteht. De lege ferenda wäre aber zu überlegen, ob man diesem Nachteil nicht einfach dadurch entgehen kann, daß die zu einer positiven Vorwirkung ermächtigende Norm eine Bekanntmachung der voranzuwendenden Norm vorschreibt. Kann eine noch nicht verkündete Norm grundsätzlich aus sich selbst heraus keine Geltung erlangen, kann die spezialgesetzliche Anordnung der positiven Vorwirkung einer neuen Rechtsnorm, die noch nicht in Kraft getreten ist, normative Wirkkraft vor diesem Zeitpunkt verleihen. 373 Auf diese Weise wird ein Großteil der gegen die gesetzlich nicht vorgesehene positive Vorwirkung erhobenen Bedenken, insbesondere solche des Gesetzesvorrangs und des Gesetzesvorbehalts, ausgeräumt. Im Gegensatz zur echten Rückwirkung käme hier auch die für den jeweiligen Sachverhalt entscheidende Norm nicht erst verspätet zum Zuge. Die gesetzliche Anordnung einer positiven Vorwirkung bewirkt, daß der Verwaltungsentscheidung bereits jetzt diejenigen künftigen Normen zugrunde zu legen sind, die für diesen Zeitpunkt letztendlich maßgebend sein werden. Damit handelt es sich bei der gesetzlich angeordneten positiven Vorwirkung nicht um den klassischen Fall einer Verweisungsnorm, bei der man sich lediglich die Wiedergabe eines anderen Normtextes ersparen will. 374 Vielmehr ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Vorwirkung, die Wirkungen des künftigen Rechts bereits geraume Zeit vor dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens eintreten zu lassen, daß eine derartige Ermäch371 Vgl. hierzu: Schenke, in: Festschrift für Fröhler zum 60. Geburtstag, S. 95 f.; Karpen, in: Rödig, Theorie der Gesetzgebung, S. 228 f.; Bundesminister der Justiz, Handbuch der Rechtsförmlichkeit, Rz. 136. m Hier sei nochmals betont, daß die gesetzliche Anordnung der positiven Vorwirkung eine Gleichbehandlung der Bürger garantiert und eine Kontrolle des Staatshandelns ermöglicht. Vgl. S. 116, insbesondere Fn. 351. 373 In diese Richtung: Karpen, in: Rödig, Theorie der Gesetzgebung, S. 232. Zu diesem Ergebnis dürfte wohl auch Schenke, in: Festschrift für Fröhler zum 60. Geburtstag, unter Zugrundelegung seiner Ansicht auf S. 95 gelangen. 374 Vgl. zu den Funktionen einer Verweisung: Schneider, Gesetzgebung, Rz. 378 ff.

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B. Die positive Vorwirkung

tigung zur Voranwendung künftigen Rechts nur übergangsweise gilt, weil sie in strenger Akzessorietät zu der vom Gesetzgeber letztendlich getroffenen Entscheidung steht. Sowohl bei § 33 BauGB als auch bei § 165 I 2 Nr. 1 AO werden die Behörden nur solange zur Voranwendung ermächtigt, wie das Neurecht noch nicht in Kraft getreten ist bzw. der Gesetzgeber vom Erlaß der Neuregelung nicht endgültig Abstand genommen hat. Der Vorteil der gesetzlichen Anordnung einer positiven Vorwirkung ist, daß die mit einer Rechtsänderung verfolgten Intentionen bereits geraume Zeit vor ihrem Inkrafttreten realisierbar sind und damit das bestehende Recht in gewissem Maße überlagern. Diese Möglichkeit darf aber nicht dazu führen, daß der in unserem ganzen Rechtssystem angelegte Grundsatz ausgehöhlt wird, daß eine Norm ihre Wirkungen erst nach dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens entfalten soll. Dessen Ratio dürfte vor allem darin liegen, daß Begünstigungen, Belastungen oder sonstige gesetzliche Anordnungen grundsätzlich solange nicht vollzogen werden sollen, wie auch nur minimal mit dem Scheitern des sie vorsehenden Normentwurfs zu rechnen ist. Daneben sei nochmals an die Funktionen der Bekanntmachung einer Norm als auch einer eventuell angestrebten vacatio legis erinnert. Eine Ermächtigung zur Voranwendung des künftigen Rechts ist daher nur ausnahmsweise möglich. Voraussetzung hierfür ist regelmäßig, daß die vorzeitige Anwendung des Neurechts sowohl im Interesse des Bürgers als auch des Staates liegt. Zur Einschränkung ist darüber hinaus zu fordern, daß sie auf triftigen Gründen basiert. Bei § 33 BauGB wurden diese darin erblickt, daß sich die Dauer bis zum Inkrafttreten eines Bebauungsplans oft über einen zu langen Zeitraum erstreckt. Die vorläufige Anwendbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrages wird ähnlich damit begründet, daß man das oft langwierige parlamentarische Genehmigungsverfahren bis zu seinem Inkrafttreten nicht abwarten möchte. 375 Weiterhin wäre zu überlegen, ob nicht ganz ausnahmsweise triftige Gründe des Staates eine Voranwendung des künftigen Rechts rechtfertigen können, selbst wenn hieran jegliches Interesse des Bürgers fehlt.

375

Vgl. dazu Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 718.

c. Die negative Vorwirkung Am Anfang (Seite 26) wurde die negative Vorwirkung damit umschrieben, daß gewisse Verwaltungsentscheidungen in Erwartung einer Rechtsänderung zunächst nicht getroffen oder abgelehnt werden. Diese Nichtanwendung kann dabei folgendennaßen vor sich gehen: 1. Gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung Der Gesetzgeber kann anordnen, daß wegen des baldigen Inkrafttretens einer Rechtsänderung an sich nach dem geltenden Recht anzuwendende Nonnen nicht mehr anwendbar sind. Beispiele hierfiir lassen sich vor allem im Bereich des Baurechts vorfinden: So bestimmt etwa § 14 I BauGB, daß eine Gemeinde zur Sicherung ihrer Planung rur den künftigen Planbereich eine Veränderungssperre mit dem Inhalt, gewisse bauliche Vorhaben oder Veränderungen zu unterbinden, erlassen kann. § 15 BauGB ennöglicht es den Baurechtsbehörden, rur einen gewissen Zeitraum die Entscheidung über Bauanträge, die die Realisierung der künftigen Bebauungsplanung gefährden, zurückzustellen. 2. Negative Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung Bei der gesetzlich nicht vorgesehenen negativen Vorwirkung zögern die Behörden in aller Regel die Entscheidungsfindung anhängiger Verwaltungsverfahren bis zum Inkrafttreten des Neurechts hinaus. Als Beispiel hierfiir läßt sich ein erst vor kurzem vom BGH zu entscheidender Amtshaftungsprozeß nennen, bei dem die Behörden die Genehmigung einer Aufstellung von Spielautomaten solange hinausgeschoben hatten, bis das beantragte Vorhaben wegen des zwischenzeitlichen Inkrafttretens einer neuen Spielverordnung abzulehnen war.! Häufig finden sich auch Fälle, in denen nicht rechtzeitig über die Erteilung einer Baugenehmigung entschieden wurde, so daß die Realisierung der Vorhaben wegen des zwischenzeitlichen Inkrafttretens einer Veränderungssperre und eines späteren neuen Bebauungsplans unmöglich war. 2 Das schweizerische Bundesgericht hatte einen Fall zu entscheiden, in dem die Genehmigung eines Bauantrags mittels Landtausch und anschließendem Ausnahmebewilligungsverfahren

1

BGH, BRS 53, Nr. 46.

2

Vgl. z.B. BGH, BRS 53, Nr. 66.

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C. Die negative Vorwirkung

so lange hinausgezögert wurde, bis die Behörden das Gesuch unter Zugrundelegung des geänderten Gewässerschutzgesetzes ablehnen konnten. 3 Im übrigen sind mannigfaltige Formen der Herbeiführung einer negativen Vorwirkung denkbar. So könnte man sich beispielsweise vorstellen, daß ein Baugesuch zunächst zu Unrecht abgelehnt wird, in der Folgezeit aber nur noch unter Zugrundelegung des Neurechts zu bescheiden ist. Da es unmöglich ist, all diese Ausprägungen der negativen Vorwirkung einzeln abzuhandeln, soll nachstehend nur die wohl am häufigsten vorkommende Form der negativen Vorwirkung, nämlich das nur zögerliche Vorgehen der Behörden, erörtert werden. Die hierzu getroffenen Aussagen sind sodann sinngemäß auf die anderen Formen zu übertragen. Zur KlarsteIlung sei aber bereits jetzt hervorgehoben, daß schon begrifflich keine negative Vorwirkung vorliegt, wenn die Entscheidung einer Verwaltungsangelegenheit im Rahmen der für den konkreten Einzelfall normalen Bearbeitungszeit getroffen wird. 4

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung Kennzeichnend für die gesetzlich nicht vorgesehene negative Vorwirkung ist, daß die Behörden trotz Fehlens einer Ermächtigungsnorm die Entscheidung einer Verwaltungsangelegenheit in Erwartung einer Rechtsänderung hinausschieben. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Zum einen kann eine Behörde die Entscheidungsfindung ausdrücklich ablehnen oder stillschweigend unterlassen, ohne überhaupt tätig zu werden. 5 Zum anderen kann die Behörde nach außen hin zu erkennen geben, daß sie sich mit der Bearbeitung des Gesuchs befaßt, diese aber realiter über Gebühr verzögert. 6 Sofern das Abwarten des künftigen Rechts nicht im Interesse des Bürgers liegt, wird die Verwaltung regelmäßig bestrebt sein, ihr Nichthandeln zu kaschieren. Als Beispiel hierfür läßt sich ein nur zögerliches Tätigwerden der im Rahmen eines mehrstufigen Verwaltungsakts zu beteiligenden Behörden nennen. Eine derartige Kaschierung wäre jedoch unnötig, wenn die Verwaltung trotz fehlender spezialgesetzlicher Ermächtigungsgrundlage den Eintritt einer negativen Vorwirkung herbeiführen könnte. Daher ist in einem ersten Schritt zu 3

BGer, in: Pra 64 (1975), Nr. 217.

In diese Richtung: Grisel, ZBL 75 (1974), S. 233 ff. (250); BGE 100 Ia 147 ff. boden/Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 108 ff. (llO). 4

= Im-

5 Dies wird in der Schweiz als Rechtsverweigerung bezeichnet; vgl. Müller, in: Kommentar zur BV I, Art. 4 Rz. 89. 6 Dies wird in der Schweiz als Rechtsverzögerung bezeichnet; vgl. Müller, ebd., Art. 4 Rz.92.

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

129

prüfen, ob die Verwaltung den Bürger unverzüglich zu bescheiden hat. Sollte dies bejaht werden, ist anschließend zu klären, ob nicht ausnahmsweise eine zeitlich verzögerte Bescheidung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist.

1. Situation in Deutschland a) Pflicht der Verwaltung zu einer möglichst raschen Bescheidung des Bürgers?

Gegen die Annahme einer Verpflichtung der Behörden, den Bürger so rasch wie möglich zu bescheiden, sprechen vor allem folgende zwei Einwände: Es läßt sich nachweisen, daß das Rechtsstaatsprinzip am Ende des 19. Jahrhunderts rein inhaltlich verstanden wurde. Dies hatte zur Konsequenz, daß die Verwaltung den Bürger zwar inhaltlich richtig, nicht aber möglichst rasch bescheiden mußte. 7 Zum anderen könnte unter Umständen § 75 S. 2 VwGO entnommen werden, daß die Behörden generell nicht dazu verpflichtet sind, Verwaltungsverfahren vor Ablauf einer Dreimonatsfrist zu Ende zu führen. Denn nach dieser Bestimmung kann der Bürger erst nach drei Monaten seit Stellung seines Antrags gerichtliche Schritte gegen eine bisher unterbliebene Bescheidung einleiten. Eine derartige Sicht des § 75 S. 2 VwGO dürfte aber dessen Ratio verkennen. Mit dieser Vorschrift war lediglich ein Schutz der Gerichte vor einer verfrühten Klageerhebung und damit eine Entlastung der Justiz bezweckt. 8 Außerdem eröffnet § 75 S. 2 VwGO selbst die Möglichkeit, bei Vorliegen besonderer Umstände schon vor Ablauf von drei Monaten Klage zu erheben. Deshalb dürfte es sich bei § 75 S. 2 VwGO nur um eine besondere Prozeßvoraussetzung, nicht aber um eine Vorschrift zur verbindlichen Festlegung der Dauer von Verwaltungsverfahren handeln. 9 Der BGH nimmt in ständiger Rechtsprechung eine Amtspflicht der Rechtsanwendungsorgane, "Anträge mit der gebotenen Beschleunigung zu bearbeiten und, sobald ihre Prüfung abgeschlossen ist, ungesäumt zu bescheiden," an. IO Die Begründungen hierfür sind vielfältig. So wird in BGHZ 30, 19 (26) die von den Behörden zu beachtende Beschleunigungspflicht dem Rechtsstaatsprinzip entnommen. Zur Bekräftigung wird zudem auf die Untätigkeitsklage verwiesen, die diese Amtspflicht konkretisiert. Andere Entscheidungen 7

Bullinger, JZ 1991,53 ff. (54 f.).

BVerwGE 42, 108 (110); andererseits soll dem Bürger das Risiko genommen werden, selbst festzustellen, wann die Voraussetzungen einer Klageerhebung gegeben sind. 8

9 So im Ergebnis auch der BGH, BRS 53, Nr. 66, S. 236 ff. (236); vgl. auch Kopp, VwGO, § 75 Rz. 3. 10 BGHZ 30, 19 (26); 15,305 (311 f.); BGH, WM 1972,743 ff. (744); WM 1970, 1252 ff. (1254 f.).

9 Guckelberger

130

C. Die negative Vorwirkung

betonen demgegenüber, daß eine AntragsteIlung zu einer besonderen Beziehung zwischen der Behörde und dem Antragsteller führe, "aus welcher dem mit der Bearbeitung des Gesuchs befaßten Beamten die Amtspflicht erwächst, das Gesuch gewissenhaft, förderlich und sachdienlich zu bearbeiten und dabei jede vermeidbare Schädigung des Antragstellers zu unterlassen.,,11 Auf einer ähnlichen Linie liegt die Argumentation, daß die Beamten "nicht nur Diener des Staates, sondern auch Helfer des Staatsbürgers" sind, weshalb sie zu einer möglichst baldigen Entscheidung in Sachen des Bürgers verpflichtet sind. 12 Insgesamt läßt sich feststellen, daß diese Rechtsprechung vor allem den Schutz der Interessen des Bürgers bezweckt. Ein Verstoß gegen die soeben dargestellte Amtspflicht kann aber nur einen in Geld bestehenden Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung nach sich ziehen. Die Mehrzahl der VerwaltungsrechtswissenschaftIer ist der Ansicht, daß § lOS. 2 VwVfG, wonach ein Verwaltungsverfahren einfach und zweckmäßig zu gestalten ist, den Grundsatz der Beschleunigung einschließt. 13 Dabei wurde in der Anfangszeit vertreten, daß dieser Grundsatz nur als verwaltungsinternes, nichtverbindliches Handlungsprogramm zu verstehen sei. 14 Heute hingegen ist die Außenwirkung des § 10 VwVfG anerkannt. Überall finden sich Äußerungen, § 10 VwVfG sei unmittelbar geltendes Recht bzw. habe rechtsnormativen Charakter. 15 Allerdings führt nach wohl überwiegender Meinung ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz nicht zur Rechtswidrigkeit der jeweiligen Verwaltungsentscheidung. Vielmehr ist der betroffene Bürger auf die Erhebung einer Untätigkeitsklage, Schadensersatz aus Amtshaftung sowie die Einleitung disziplinarrechtlicher Schritte beschränkt. 16 Das Bundesverfassungsgericht hat bisher zur Thematik der Beschleunigung von Verfahrenshandlungen relativ selten Stellung genommen. Im Jahre 1982 bejahte es einen Anspruch auf fehlerfreie, d.h. auch rechtzeitige Ermessensausübung. Hierbei ließ es offen, ob dieser Anspruch bei Begünstigungen aus Art. 3 I GG, bei Belastungen aus Art. 2 I GG, aus dem Rechtsstaatsprinzip,

11

BGH, WM 1970, 1252 ff. (1253 f.).

12

BGHZ 15, 305 (312).

Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren, S. 29; Kopp, VwVfG, § 10 Rz.3, 10; Obermayer, VwVfG, § 10 Rz. 3, 16a; Knack, VwVfG, § 10 Rz. 4.4; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 10 Rz. 14; a.A: Meyer, in: Meyer/Borgs, VwVfG, § 10 11

Rz. 6, der das Rechts- und Sozialstaatsprinzip und das Willkürverbot heranzieht. 14

Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren, S. 29.

15 Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren, S. 29 f.; Kopp, VwVfG, § 10 Rz. I; Knack, VwVfG, § 10 Rz. 4.1; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 10 Rz. 12. 16 Kopp, VwVfG, § 10 Rz. 11; Obermayer, VwVfG, § 10 Rz. 22; Knack, VwVfG, § 10 Rz.4.1; Weides, Verwaltungsverfahren, S. 163, weist darauf hin, daß kein Folgenbeseiti-

gungsanspruch des Bürgers besteht.

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

131

einer materiell-rechtlichen Vorwirkung der Ermessensnorm oder gar einem die materielle Position ergänzenden subjektiven Verfahrensrecht herzuleiten ist. 17 Auch in BVerfGE 69, 161 (170) äußerte es sich nicht dazu, ob sich eine für sämtliche Bereiche des Verwaltungsrechts geltende Beschleunigungspflicht aus einem einheitlichen Grundsatz herleiten läßt. Jedenfalls zog es in dem dort zu entscheidenden Fall das Willkürverbot zur Begründung eines Anspruchs auf rechtzeitige Ermessensausübung heran. Auch in der Literatur finden sich ähnliche Erwägungen zur Begründung der Beschleunigungspflicht. 18 Exemplarisch sollen hier jedoch nur zwei dieser Ansichten näher dargestellt werden. Martin Bullinger ist der Meinung, daß die Pflicht zur beschleunigten Durchführung von Verwaltungsverfahren Ausfluß der einzelnen materiellen Grundrechte ist: Eingriffe in Freiheitsrechte dürften nicht länger andauern, als unbedingt nötig ist. Grundrechtliche Leistungsansprüche erfüllten nur bei einer möglichst raschen Umsetzung ihren Sinn. 19 Daneben entnimmt er den Beschleunigungsgrundsatz aus Art. 19 IV GG. Denn ein effektiver und damit rechtzeitiger Rechtsschutz impliziert mittelbar, daß das vorgelagerte Verwaltungsverfahren einigermaßen rasch beendet wird. 20 Ferdinand Kopp meint ebenfalls, daß der Beschleunigungsgrundsatz in Art. 19 IV GG verankert ist. 21 Gleichzeitig sieht er ihn aber auch als eine Ausprägung des Gesetzmäßigkeitsprinzips an. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedeute nämlich nicht nur, daß die Verwaltung eine den Gesetzen entsprechende und damit inhaltlich richtige Entscheidung trifft, sondern darüber hinaus einen raschen und wirksamen Gesetzesvollzug. 22 Die vorangehenden Ausführungen haben aufgezeigt, daß in Deutschland unabhängig davon, welcher Begründung man folgt - eine Pflicht der Verwaltung, den Bürger möglichst zügig zu bescheiden, existiert. Da die Rechtsanwendungsorgane bei der negativen Vorwirkung die Bescheidung des Bürgers wegen einer erwarteten Rechtsänderung hinausschieben, verstößt die Verwaltung gegen die ihr obliegende Beschleunigungspflicht. Dieser Verstoß wäre nur zu billigen, sofern die abwartende Haltung der Verwaltung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Im folgenden sind daher die Motive, die eine negative Vorwirkung möglicherweise legitimieren, darzustellen.

17

BVerfGE 60,16 (41 f.); 69.161 (170).

SO stützte beispielsweise Kopp. BayVBI. 1980, 263 ff. (267), den Beschleunigungsgrundsatz auf Art. 19 IV GG, das Rechtsstaatsprinzip sowie eine verfahrensrechtliche Seite des materiellen Rechts. 19 Bullinger, Beschleunigte Genehmigungsverfahren, S. 39 f.; dieser grundrechtliche Anspruch wird von Laubinger, VerwArch 73 (1982), S. 60 ff. (83 ff.), in Frage gestellt; vgl. auch Krebs, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar I, Art 19 Rz. 48. 20 Bullinger. Beschleunigte Genehmigungsverfahren, S. 40 ff. 21 Kopp, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, S. 158. 22 Kopp, Verfassungsrecht, S. 69 f. IK



132

C. Die negative Vorwirkung

b) Sachliche Rechtfertigung der negativen Vorwirkung?

aa) Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Norm

Als eines der möglichen Motive, die die Verwaltung zu einer Rechtsverzögerung veranlassen, nennt Kloepfer das Bestreben der Rechtsanwendungsorgane, den Anwendungsbereich des künftigen Gesetzes auszudehnen. 23 Hätte die Verwaltung bei normalem Bearbeitungstempo im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung das Altrecht anzuwenden, kann das Hinausschieben der Entscheidung dazu führen, daß das noch anhängige Verwaltungsverfahren wegen des zwischenzeitlichen Inkrafttretens des Neurechts an Hand von diesem zu entscheiden ist. Da bei dieser Verzögerungstatik die Motivation der Rechtsanwendungsorgane mit derjenigen der gesetzlich nicht vorgesehenen positiven Vorwirkung deckungsgleich ist, dürfte diese Vorgehensweise nicht wesentlich anders als bei der Voranwendung zu beurteilen sein. Man könnte zwar zunächst meinen, bei einem nur zögerlichen Tätigwerden der Behörden würden die Inkrafttretensbestimmungen des jeweiligen Gesetzgebers umfassend respektiert. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß diese Sicht zu formalistisch ist. Erst vor kurzem wies Martin Bullinger darauf hin, "daß die Befugnis, über Zeitpunkt und Zeitdauer des Tätigwerdens zu entscheiden, eine bedeutsame Macht verleiht."24 Legt der jeweils zuständige Normgeber den Inkrafttretenstermin der neuen Norm fest, macht er von dieser Machtausübung Gebrauch. Er fixiert den Zeitpunkt, von dem anhängige Verwaltungsverfahren nicht mehr nach dem Alt-, sondern aufgrund des Neurechts zu beurteilen sind. Dies ist für den Bürger insofern von entscheidender Bedeutung, als seine Position je nach Lage des Falles mit Inkrafttreten der neuen Norm verbessert oder verschlechtert wird. Entschließen sich die Rechtsanwendungsorgane, die Entscheidungsfindung anhängiger Verwaltungsverfahren zu verzögern, um den Anwendungsbereich des Neurechts zu vergrößern, wird diese Machtentscheidung des jeweiligen Normgebers abgeschwächt. Denn die Rechtsänderung erfaßt bedingt durch die Verzögerung der Behörden Verwaltungsverfahren, die nach dem Willen des jeweiligen Normgebers gerade noch unter Anwendung des Altrechts zu entscheiden waren. Damit nehmen die Rechtsanwendungsorgane bei der Verzögerung von Verwaltungsentscheidungen zur Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Norm eine ihnen nicht zustehende Machtentscheidung wahr. 25 Zudem ist zu beachten, daß der Normgeber häufig bei der Festsetzung von Inkrafttretensterminen 23

Kloepfer, Vorwirkung, S. 56, und DÖV 1973, 657 ff. (658).

Bullinger, JZ 1991,53 ff. (54); so auch bereits P. Kirchhof, Verwalten und Zeit, S. 7. 25 Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 352, spricht zu Recht von einer Abstreifung der Gesetzesbindung im Wege einer Korrektur des Gesetzes. 24

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

133

auf das Vertrauen des Bürgers in das Fortbestehen des bisherigen Rechts Rücksicht nimmt. Ein nur zögerliches Tätigwerden der Verwaltung hätte damit eine Verschiebung dieser Gewichtung des Vertrauensschutzes als weitere Konsequenz. Diesen bei den Kritikpunkten will Kloepfer entgehen, indem er die Verwaltung nur bei rückwirkenden Rechtsänderungen zu einer dilatorischen Verfahrensweise ermächtigen will. 26 Dann wird die negative Vorwirkung aber gerade nicht mehr zur Erweiterung des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Norm, sondern um anderer Motive willen herbeigefiihrt. Das Motiv, den Anwendungsbereich des künftigen Rechts zu vergrößern, kann demnach ein Abweichen vom Grundsatz der Beschleunigung nicht rechtfertigen. 27 bb) Ziel einer zeitgerechteren / besseren Verwaltungsentscheidung

In engem Zusammenhang mit dem soeben dargestellten Motiv steht das Bestreben der Verwaltung, durch eine Verzögerung der Verwaltungsverfahren zeitgerechtere Verwaltungsentscheidungen zu treffen. Die neue Norm soll nicht allein deshalb zur Anwendung kommen, weil ihr Anwendungsbereich vergrößert werden soll, sondern weil ihr Regelungsinhalt im Vergleich zum Altrecht als wesentlich zeitgerechter oder besser empfunden wird. Damit ist die zögerliche Handlungsweise der Verwaltung zumeist auf eine bestimmte subjektive Haltung der Rechtsanwendungsorgane zurückzufiihren. 28 Sicherlich existiert kein allgemeiner Erfahrungssatz, wonach neue Gesetze im Vergleich zum Altrecht tatsächlich besser sind. Oft erweist sich im nachhinein, daß die neue Norm zur Erreichung des angestrebten Zieles eher ungeeignet war. 29 Vielfach wird jedoch der jeweilige Rechtsanwender im Hinblick darauf, daß der Gesetzgeber bei Erlaß einer neuen Norm die aktuellen Verhältnisse einbezieht, das Neurecht als wesentlich zeitgerechter empfinden. Deshalb ist zu prüfen, ob dieses Gefiihl der größeren Zeitgerechtigkeit der neuen Norm ein Abweichen von der Beschleunigungspfticht rechtfertigt. Bedenken gegen die nur zögerliche Behandlung von Verwaltungsverfahren wegen des baldigen Inkrafttretens einer neueren, zeitgerechteren Norm er26

Kloepfer, Vorwirkung, S. 56.

27 Gleiches muß gelten, wenn die Verwaltung noch unter dem Altrecht einzuleitende Verwaltungsverfahren hinauszögert, damit das Neurecht erst möglich spät zur Anwendung kommt = Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Norm. 28 Kloepfer, Vorwirkung, S. 58, und DÖV 1973,657 ff. (658). 29 Vgl. zu dieser Problematik Kloepfer, Vorwirkung, S. 57 f.; Dürig, in: Festschrift zum 500-jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, S. 24. Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß im Mittelalter das alte Recht als gegenüber dem neuen Recht besser empfunden wurde. Vgl. hierzu z.B. Fleiner-Gerster, Leitfaden, S. 120.

134

C. Die negative Vorwirkung

geben sich hauptsächlich aus dem Rechtsstaatsprinzip. Da der einzelne Bürger oft nicht weiß, ob der rur ihn zuständige Sachbearbeiter das Neurecht als zeitgemäßer oder besser einschätzt, ist rur ihn das Verhalten des jeweiligen Rechtsanwenders nicht abzusehen und somit mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit verbunden. Diese Rechtsunsicherheit wird in unserem Rechtssystem dadurch vermieden, daß die Rechtsanwendungsorgane das Neurecht ab dem Tage seines Inkrafttretens anzuwenden haben, unabhängig davon, ob sie dieses als zeit- oder nicht zeitgemäß empfinden. Da es Aufgabe des Normgebers ist, inhaltlich nicht mehr zeitgemäße Normen an gewandelte Anschauungen und Verhältnisse anzupassen, ist allein die aus seiner Sicht zeitgemäße Lösungsmöglichkeit maßgebend. Daher wäre nur daran zu denken, daß die Rechtsanwendungsorgane generell bei ausstehenden Rechtsänderungen zu einer Verzögerung von Verwaltungsverfahren verpflichtet sind. 30 Auf S. 65 ff. wurde jedoch aufgezeigt, daß die Diskussion von Rechtsänderungen nicht zum Außerkrafttreten des Altrechts, die damit verbundene Geltungslabilität des Altrechts die Exekutive nicht von der Gesetzesbindung an dieses entbindet. Folglich ist nur noch auf Thomas Würtenberger zu verweisen, wonach die Verwaltung wegen der Bindung an Gesetz und Recht auch zum Vollzug dem Zeitgeist zuwiderlaufenden Rechts verpflichtet ist. 3l ce) Verzögerung zur Verhinderung personaler Ungleich behandlungen

Nach der Meinung Kloepfers ist die Herbeiruhrung einer negativen Vorwirkung durch die Verwaltung ein geeignetes Mittel, den mit einer Rechtsänderung verbundenen personalen Ungleichbehandlungen entgegenzuwirken. Häufig sei es reiner Zufall, ob eine Verwaltungsentscheidung noch unter Anwendung des Altrechts oder bereits entsprechend dem Neurecht entschieden wird. 32 Diese Ungleichbehandlung ist darauf zurückzuruhren, daß die Verwaltung in der Regel dazu verpflichtet ist, ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts ihre Verwaltungsentscheidungen an der neuen Norm auszurichten. Mußte beispielsweise der Rechtsanwender gestern noch Subventionen in alter Höhe gewähren, erscheint es ihm und dem betroffenen Bürger als unbillig, wenn ab heute erhöhte oder gekürzte Subventionen auszuzahlen sind. Wird der jeweilige Rechtsanwender dagegen nur zögernd tätig, kann er bewirken, daß die an sich gestrigen Verwaltungsentscheidungen entsprechend dem "Heute" zu bescheiden sind. Mancher mag es deshalb durchaus als ein30 So auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 57 f., nach dem aus dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori allein das maßgeblich ist, was aus Sicht des Gesetzgebers das Bessere ist. 31 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 156.

32

Kloepfer, Vorwirkung, S. 58, sowie DÖV 1973,657 ff. (658).

I. Zur negativen VOIwirkung ohne spezial gesetzliche Anordnung

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leuchtend empfinden, wenn die mit der Entscheidungsfindung befaßten Sachbearbeiter aus dieser Motivation heraus den Erlaß von Verwaltungsakten im Hinblick auf das kommende Recht hinauszögern. Dennoch erscheint eine derartige Vorgehensweise der Behörden als fragwürdig. In Literatur und Rechtsprechung herrscht Einigkeit, daß jede Rechtsänderung zunächst gewisse Ungleichbehandlungen mit sich bringt. 33 Diese könnten im Grunde genommen nur durch einen Verzicht des Gesetzgebers auf den Erlaß neuer Normen vermieden werden. Dies hätte jedoch zur Folge, daß eine Anpassung bestehender Normen an gewandelte Verhältnisse und/ oder Anschauungen unmöglich ist. Da aber unsere heutige Gesellschaft im Gegensatz zu früher nicht mehr der Ansicht ist, daß das Recht unveränderlich vorgegeben, sondern vom souveränen Staat erlassen und jederzeit abänderbar ist,34 geht auch das Grundgesetz von der Möglichkeit, bestehendes Recht zu ändern, aus. Dementsprechend meint das Bundesverfassungsgericht, daß die durch die Inkrafttretensbestimmungen bedingten Ungleichbehandlungen Kehrseite der Aufgabe des Gesetzgebers, "Recht mit Wirkung zu einem bestimmten Zeitpunkt neu zu setzen," sei. 35 Den durch die Rechtsänderung bedingten Ungleichheiten begegnet es nur insoweit, als Art. 3 I GG den Inkrafttretensbestimmungen eines Gesetzes eine äußere Grenze setzt: "Die Wahl des Zeitpunktes des Inkrafttretens eines neuen Gesetzes muß am gegebenen Sachverhalt orientiert, d.h. sachlich vertretbar sein. ,,36 Der Gesetzgeber wird in aller Regel eine den Erfordernissen des Art. 3 I GG entsprechende Inkrafttretensregelung treffen, wodurch ein weiteres ausgleichendes Tätigwerden der Behörden unnötig wird. Im übrigen kann auch eine zur Verhinderung personaler Ungleichheiten herbeigeführte negative Vorwirkung nie eine völlige Gleichbehandlung aller gewährleisten. Die verzögerliehe Verfahrensweise der Behörden führt allein dazu, daß das Inkrafttreten der neuen Norm quasi "vorverlagert" wird. Anstelle das neue Recht auf sämtliche am 1.10. noch nicht beendeten Verwaltungsverfahren anzuwenden, werden jetzt eben auch Verwaltungsverfahren, die eigentlich am 1.9. unter Zugrundelegung des Altrechts zu entscheiden waren, von diesem erfaßt. Damit schafft die zögerliche VorJ3 Vgl. z.B. Dürig, in: Festschrift zum 500-jährigen Bestehen der Tübinger luristenfakultät, S. 24; Maurer, in: Bonner Kommentar, Art. 82 Rz. 121. 34 Vgl. Fleiner-Gerster, Leitfaden, S. 120 f.; Compes, Der gesetzgeberische Eingriff, S. 24-30, begründet die generelle Möglichkeit von Rechtsänderungen mit dem Demokratieprinzip (Herrschaft auf Zeit), daß aus rechts- und sozialstaatlichen Gründen Gesetze dem Gemeinwohl und der materiellen Gerechtigkeit dienen sollen, der Anpassung an unvorhergesehene Entwicklungen sowie Art. 3 I GG. Vgl. auch v. Mangoldt/Klein/Starck, GGKommentar, Art. 3 I Rz. 172. 35 BVerfGE 47, 85 (93). 36 BVerfGE 47, 85 (94); in E 79, 212 (219) weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß Stichtagsregelungen gesetzestechnisch kaum zu entbehren und deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden sind.

136

C. Die negative Vorwirkung

gehensweise der Behörden ihrerseits einen Stichtag, der unter dem Aspekt des Art. 3 I GG noch viel bedenklicher ist. Orientiert sich der Normgeber bei Erlaß der Inkrafttretensbestimmungen noch an vom Gesetzesinhalt oder durch den Schutz des Vertrauens des Bürgers in den Fortbestand des Altrechts bedingten Aspekten, sind für die Rechtsanwendungsorgane bei der Herbeiführung der negativen Vorwirkung reine Billigkeitserwägungen leitend. Letztlich besteht bei der Bejahung einer gesetzlich nicht vorgesehenen negativen Vorwirkung die Gefahr, daß etwaige vom Normgeber getroffene Übergangsregelungen wegen der Verzögerungsmöglichkeiten der Behörden außer acht gelassen werden. Deshalb ist zu fordern, daß die Inkrafttretensbestimmungen von Normen allein vom dazu legitimierten Normgeber zu treffen und nicht durch irgendwelche Billigkeitserwägungen der Rechtsanwendungsorgane auszuhöhlen sind. dd) Verhinderung einer späteren Korrektur der Verwaltungsentscheidungen

Ebenso wie bei der gesetzlich nicht angeordneten positiven Vorwirkung sieht Kloepfer in der Herbeiführung der negativen Vorwirkung eine Möglichkeit der Behörden, den Erlaß von Verwaltungsentscheidungen zu vermeiden, die kurz darauf wegen des Inkrafttretens des Neurechts abgeändert werden müßten. 37 Insoweit ist die negative Vorwirkung sogar gegenüber der positiven Vorwirkung vorteilhafter: Während bei letzterer immer die Gefahr einer Abänderung der in Vorwegnahme des künftigen Rechts getroffenen Verwaltungsentscheidungen besteht, weil die zugrunde gelegte Norm letztlich überhaupt nicht bzw. mit anderem Inhalt erging, warten die Rechtsanwendungsorgane bei der negativen Vorwirkung das Inkrafttreten des Neurechts ab. Fraglich ist also, ob derartige Zweckmäßigkeits- bzw. Effektivitätserwägungen ein Abweichen von dem der Verwaltung obliegenden Beschleunigungsgrundsatz rechtfertigen. Hierbei ist ebenso wie bei der gesetzlich nicht angeordneten positiven Vorwirkung zu differenzieren, ob sich das Neurecht eine TÜck- oder normalwirkende Geltung beimißt. 38 Soll die Rechtsänderung nichtTÜckwirkend in Kraft treten, dürfte folgendes gelten: Nach dem bestehenden Recht darf der einzelne von diesem in bestimmtem Umfang Gebrauch machen. Diese Möglichkeit darf ihm nicht allein wegen des baldigen Inkrafttretens des Neurechts genommen werden. Denn die Rechtsanwendungsorgane sind gemäß Art. 20 III GG an das bestehende Recht gebunden. Würden die Behörden vorzeitig 37

Kloepfer, Vorwirkung, S. 59, sowie DÖV 1973,657 ff. (658 f.).

So auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 60 ff., nach dem Ld.R. nur den Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung Iiickwirkend erfassende Normen eine spätere Korrektur auslösen können. 38

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

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einer Korrektur der von ihnen zu treffenden Verwaltungsentscheidungen vorbeugen, würden sie auch die in § 49 11 I Nr. 4 VwVfG enthaltenen einschränkenden Voraussetzungen an die Abänderbarkeit von nach Altrecht zu treffenden Verwaltungsentscheidungen umgehen. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip erlaubt daher nicht, daß die Verwaltung aus Gründen der Effizienz dem Bürger an sich zustehende Rechte vorenthält. Deshalb können von der Verwaltung Effektivitätsgesichtspunkte nur unter der Voraussetzung berücksichtigt werden, daß sie die Rechte des Bürgers wahrt. 39 Solange also das bestehende Recht für den Bürger nur irgendwie von Vorteil ist, ist ein Abweichen der Verwaltung vom Beschleunigungsgrundsatz nicht möglich. Nichts anderes dürfte gelten, wenn die Verwaltung im öffentlichen Interesse zu einem eingreifenden Tätigwerden verpflichtet ist. Hier wäre es falsch, in Erwartung des baldigen Inkrafttretens des Neurechts nach dem geltenden Recht noch zu verfolgende öffentliche Interessen hintanzustellen. 40 Ein nur zögerliches Tätigwerden der Verwaltung käme daher höchstens in Fällen, in denen der Bürger nach geltendem Recht ablehnend zu bescheiden ist, in Betracht. Da aber oft die positive oder negative Bescheidung eines Gesuchs nicht abzusehen ist, müssen die Behörden eine umfassende Prüfung der Rechts- und Sachlage vornehmen. Kommen sie im Rahmen dieser Prüfung zu dem Ergebnis, daß dem eingereichten Gesuch zwar nach geltendem Recht nicht, unter Umständen aber bei Inkrafttreten des Neurechts stattzugeben ist, wäre ein Hinauszögern der Verwaltungsentscheidung weniger durch Effektivitätserwägungen als durch ein "Handeln im Interesse des Bürgers" bedingt.41 Nach all dem kann die Erwartung des baldigen Inkrafttretens einer normal wirkenden neuen Norm grundsätzlich nicht dazu führen, daß die Verwaltung aus Effektivitätsgründen noch unter Zugrundelegung des Altrechts zu treffende Verwaltungsentscheidungen hinausschiebt. Schwierig wird es dagegen, wenn die künftige Norm voraussichtlich mit rückwirkender Geltung erlassen wird. Bei einer solchen Konstellation müßte die Verwaltung sämtliche Verwaltungsentscheidungen, die in den Rückwirkungszeitraum fallen, mit Inkrafttreten des Neurechts korrigieren. Hier könnte ein nur zögerliches Tätigwerden der Behörden sowohl im Effektivitätsinteresse der Verwaltung als auch im Interesse des Bürgers liegen. Ohne jeden Zweifel wird letzterer nichts dagegen einzuwenden haben, wenn die Behörden auf den sofortigen Erlaß eines ihn belastenden Verwaltungsaktes wegen 39

gen.

So Degenhardt, DVBI. 1982, 872 ff. (872), aber nicht im Hinblick auf Rechtsänderun-

40 Sonst könnten der Gesetzgeber und I oder die Verwaltung einseitig durch das Berufen auf eine bevorstehende Rechtsänderung ihre Bindung an das bestehende Recht lösen, was nach Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 23, gerade nicht möglich sein soll. 41 Das Handeln im Interesse des Bürgers wird unten (S. 141 f.) als eigenständiger Rechtfertigungsgrund der negativen Vorwirkung angesprochen.

138

C. Die negative VOlWirkung

einer bevorstehenden, ihn rückwirkend begünstigenden Rechtsänderung verzichten. Auch bei einem rückwirkenden Inkrafttreten einer ihn belastenden neuen Norm dürfte der einzelne häufig eher unangenehm überrascht sein, wenn im nachhinein eine kurz zuvor gewährte Verwaltungsentscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit abgeändert wird. 42 Hier könnte die Verwaltung dem Interesse des Bürgers aber auch dadurch Rechnung tragen, daß sie bei Erlaß ihrer Verwaltungsmaßnahme explizit auf das unter Umständen baldige Inkrafttreten einer rückwirkenden Rechtsänderung hinweist. Außerdem kann der Effektivitätsgedanke zumindest bis zum Zeitpunkt des Zustandekommens einer Rechtsnorm keine Rolle spielen. Zwar mag es sein, daß der Bürger bei Parlamentsgesetzen mit dem Gesetzesbeschluß des Bundestags nicht mehr in das Fortbestehen des bisherigen Rechts vertrauen kann. 43 Daraus folgt aber nicht automatisch das Inkrafttreten der soeben vom Bundestag beschlossenen Norm. Es ist durchaus in Erwägung zu ziehen, daß der Bundesrat eine Abänderung des zuvor ergangenen Gesetzesbeschlusses bewirkt. Ein nur zögerliches Tätigwerden der Verwaltung würde demnach bei einer Abänderung des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes durch den Bundesrat den Bürger unter Umständen ungerechtfertigterweise belasten bzw. begünstigen, falls zu frühzeitig auf die Verfolgung öffentlicher Interessen verzichtet wird. Aus diesem Grunde sollte die Verwaltung bis zum Augenblick des Zustandekommens der neuen Norm eine Rechtsverzögerung vermeiden und beim Erlaß ihrer Verwaltungsentscheidungen auf die bevorstehende Rechtsänderung hinweisen. Ist die neue rückwirkende Norm einmal zustande gekommen, dürfte die Verwaltung in der Praxis kaum noch Verwaltungsentscheidungen entsprechend dem Altrecht treffen. Bei streng juristischer Betrachtung muß man aber auch dieser nur zögerlichen Vorgehensweise der Behörden die Berechtigung absprechen. Die Behörden sind gemäß Art. 20 III GG bis zur Verkündung und dem Inkrafttreten des Neurechts nach wie vor an das Altrecht gebunden. 44 Ein Abweichen vom Beschleunigungsgrundsatz in Erwartung einer rückwirkenden Rechtsänderung wäre daher nur rechtmäßig, sofern diese Vorgehensweise der Verwaltung auf eine gesetzliche Ermächtigungsnorm zurückzuführen ist. 45

42 Deshalb ist m.E. fragwürdig, ob der BGR an seiner (s.u. Fn. 48) geschilderten Rechtsposition auch bei einem rückwirkenden Inkrafttretens des Neurechts festhalten würde. 43 Vgl. BVerffiE 72, 200 (261 f.). 44 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 40, wonach die Verwaltung kein Recht hat, eine Gesetz zu suspendieren oder von ihm im Einzelfall zu dispensieren. So dürfte wohl auch Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 361, zu verstehen sein.

4S V gl. dazu die Ausführungen zur gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung auf S. 145 ff.

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

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ee) Schutz der Absichten des Gesetzgebers Ein Abweichen vom Beschleunigungsgrundsatz könnte ferner deshalb erforderlich sein, um den mit dem Erlaß der neuen Norm verfolgten Intentionen des Gesetzgebers soweit wie möglich zum Erfolg zu verhelfen. Vor allem der BGH hatte sich in mehreren Amtshaftungsfallen mit der verzögerlichen Vorgehensweise von Behörden zu befassen, weil eine Bescheidung des Bürgers unter weiterer Zugrundelegung des Altrechts nach Ansicht der Verwaltung den Absichten des mit der Gesetzesänderung befaßten Normgebers zuwiderlief. 46 Die negative Vorwirkung wird hier also gewissermaßen aus Loyalität gegenüber dem zuständigen Normgeber herbeigeführt. Berücksichtigt man aber, daß die meisten Normen mit ihrem Inkrafttreten die vom jeweiligen Normgeber verfolgten Ziele umfassend realisieren können, scheint das Berufen der Behörden auf eine derartige Loyalität gegenüber dem Gesetzgeber fragwürdig: Sofern das Neurecht die ihm zugeschriebene Ordnungsfunktion ab dem Tage seines Inkrafttretens wahrnehmen kann, ist ein vorheriger Schutz der Absichten des Gesetzgebers unnötig. Die Anerkennung eines Loyalitätsaspekts hätte hier lediglich zur Folge, daß der zeitliche Anwendungsbereich der neuen Norm vergrößert bzw. der zeitgemäßeren Norm zum Durchbruch verholfen wird - ein Motiv, das, wie bereits aufgezeigt, abzulehnen ist. Deshalb kann sich die Verwaltung höchstens in Fällen, in denen die weitere Anwendung des Altrechts bis zum Inkrafttreten des Neurechts dessen Ordnungsfunktion in Frage stellen würde, auf Loyalitätserwägungen berufen. Beispiele hierfür lassen sich vor allem im Bereich des Baurechts finden: Ein neuer Bebauungsplan ist von Anfang an funktionslos, wenn noch unter dem Altrecht Zustände oder vollendete Tatsachen geschaffen werden, die in offensichtlichem Widerspruch zu der für den neuen Bebauungsplan vorgesehenen Bauweise stehen. Gleiches mag eventuell bei einer geplanten rückwirkenden Rechtsänderung gelten. Hier kann sich der Normgeber - da die Verwaltung ja eigentlich bis zum Inkrafttreten des Neurechts zur Altrechtsanwendung verpflichtet ist - wegen des für die Verwaltung entstehenden Korrekturaufwands zu einem Verzicht auf den Erlaß einer Rückwirkungsklausel "gezwungen" sehen. Hauptmotivation der Verwaltung für ihr zögerliches Vorgehen ist also bei derartigen Konstellationen die Wahrung der Entschlußfreiheit des Normgebers. Die Verwaltung reagiert sozusagen auf die im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der Normänderungsabsichten entstehende Gefahr einer - aus ihrer Sicht - mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Altrechts durch den Bürger. Letzterem erscheint dagegen sein Verhalten keineswegs als mißbräuchlich. Alles, was er will, ist die Wahrnehmung seiner ihm nach dem geltenden Recht zustehenden Möglichkeiten. 47 46

BGH, NVwZ 1994,405 ff. (406); BGH, BRS 53, Nr. 46, 66.

47

So auch Friauf, BB 1972,669 ff. (673). Dieser teilt das Bürgerverhalten (ebd. S. 671)

140

C. Die negative Vorwirkung

Da eine dermaßen motivierte zögerliche Bescheidung durch die Verwaltung in eine dem Bürger kraft Gesetzes zustehende Rechtsposition eingreift, ist für eine derartige Vorgehensweise der Verwaltung eine gesetzliche Ermächtigungsnorm erforderlich. 48 Unter Umständen läßt sich insoweit aus dem Grundgesetz ein allgemeiner Grundsatz der Organtreue ableiten,49 wonach sich beispielsweise Gesetzgeber und gesetzesvollziehende Verwaltung kooperativ zu verhalten haben. Insbesondere sollen die Organe darauf achten, daß andere Organe nicht überrumpelt oder mutwillig an der Wahrnehmung ihrer Funktionen gehindert werden. Dieser Grundsatz ist jedoch dann nicht mehr einschlägig, wenn die Behinderung auf ein Fehlverhalten Dritter zurückzuführen ist, die sich außerhalb des Bereichs der betreffenden Organe befinden. Aus diesem Grunde ist die Verwaltung unter dem Aspekt der Organtreue nicht zur Verhinderung einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Altrechts durch den Bürger verpflichtet. Vielmehr obliegt es dem Normgeber selbst, seine Entschlußfreiheit durch eine Geheimhaltung seiner Rechtsänderungsabsichten abzusichern. Ebenso ist es möglich, daß der für das Verwaltungsverfahren zuständige Gesetzgeber die Rechtsanwendungsorgane unter eng benannten Voraussetzungen zu einem Abweichen vom Beschleunigungsgrundsatz ermächtigt. Die Bejahung einer zum Schutz der Absichten des Normgebers herbeigeführten, gesetzlich aber nicht vorgesehenen Verzögerungsmöglichkeit der Verwaltung hätte des weiteren eine erhebliche Rechtsunsicherheit für den Bürger zur Konsequenz. Es wäre nicht auszuschließen, daß sich die Behörden ihrerseits mißbräuchlich auf eine angebliche Loyalität gegenüber dem Gesetzgeber berufen. Auch dürfte es für die Rechtsanwendungsorgane oft nicht abzusehen sein, ob ihre Verzögerungstaktik wirklich im Interesse des mit der Rechtsänderung befaßten Normgebers liegt. Deshalb entbehrt die gesetzlich nicht vorgesehene Rechtsverzögerung der Verwaltung zum Schutze der Absichten des Normgebers jeglicher Rechtfertigung. Von diesem sehr deutlichen Ergebnis könnte jedoch in der folgenden Situation eine Ausnahme angebracht sein. Soll ein Rechtsanwender eine Entscheidung treffen, die das geltende Recht nicht geregelt hat, wird er oft zum Hinausschieben seiner Entscheidung tendieren, wenn der Gesetzgeber diese in folgende drei Kategorien ein: (1) diejenigen, die unabhängig von der Rechtsänderung vom bestehenden Recht Gebrauch machen wollten, (2) diejenigen, die wegen der Rechtsänderung vorzeitig, an sich für einen späteren Zeitpunkt geplanten Dispositionen nach geltendem Recht treffen, und (3) diejenigen, die wegen de~ Rechtsänderung in einer Art Torschlußpanik an sich nie beabsichtigte Dispositionen nach geltendem Recht wahrnehmen. 4R SO dürfte wohl der BGH, BRS 53, Nr. 66, S. 236 ff. (237 f.), zu verstehen sein: "Selbst wenn das Vorhaben den Intentionen des Gemeinderats als des zuständigen Ortsgesetzgebers zuwiderlaufen mochte, so änderte dieser Umstand nichts daran, daß das Vorhaben planungsrechtlich zulässig war und die Klägerin auf den positiven Bescheid einen Anspruch hatte." 49 V gl. hierzu Stern, Staatsrecht I, S. 134 f.

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezial gesetzliche Anordnung

141

Lücke rückwirkend schließen will. Da er nur subsidiär zur Rechtsfortbildung zuständig ist, will er aus Gründen der Organtreue nicht die primär vom Gesetzgeber zu treffende Entscheidung konterkarieren. Auch dürfte hier die Reaktion der Rechtsanwendungsorgane regelmäßig nicht auf eine aus ihrer Sicht mißbräuchliche Inanspruchnahme des Altrechts durch den Bürger zurückzuführen sein, so daß der Anwendungsbereich des Grundsatzes der Organtreue nicht wie oben verschlossen ist. Im Schrifttum wird daher vertreten, daß ein derartiges Verzögern der zu treffenden Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist. 50 ff) Handeln im Interesse des Bürgers

Letztlich könnte die Herbeiführung einer negativen Vorwirkung dadurch gerechtfertigt sein, daß die verzögerliche Vorgehensweise der Behörden im Interesse des Bürgers liegt. Insoweit ist vor allem an Situationen zu denken, in denen ein Antrag unter Zugrundelegung des Altrechts abzulehnen, bei Abwarten des Inkrafttretens des Neurechts möglicherweise positiv zu bescheiden wäre. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip würde hier umfassend gewahrt, da die Rechtsverzögerung in ihren Wirkungen einer ablehnenden Bescheidung gleichkommt, d.h. ein Gebrauchmachen des Bürgers vom Altrecht nicht möglich ist. Nach Inkrafttreten des Neurechts müßte zwar der jeweilige Rechtsanwender prüfen, ob dieses auch auf bereits vor diesem Zeitpunkt eingeleitete Verwaltungsverfahren anwendbar ist. Dies dürfte jedoch normalerweise keine größeren Schwierigkeiten bereiten. Ist die Verwaltung dagegen kraft Gesetzes zu einem Einschreiten verpflichtet, kann sie ihre gemäß Art. 20 III GG bestehende Bindung an das Gesetz nicht einfach unter Berufung auf etwaige Belange des Bürgers lösen. Im übrigen ist aber vor einer zu schnellen Bejahung eines Handeins im Interesse des Bürgers zu warnen. Kommt es diesem darauf an, so schnell wie möglich unter Zugrundelegung des Altrechts beschieden zu werden, bringt ihm ein nur zögerliches Tätigwerden der Verwaltung wenig. Anders ist es dagegen, wenn der Verwaltung ein frühzeitiger Antrag des Bürgers auf Bescheidung gemäß dem Neurecht vorliegt. Bei einer solchen Konstellation ist das Abwarten des Inkrafttretens des Neurechts durch die Verwaltung durchaus legitim. Unter dem Gesichtspunkt des "Handeins im Interesse des Bürgers" ist gleichfalls noch zu erörtern, ob es rechtens ist, daß die Verwaltung noch unter dem Altrecht einzuleitende Verwaltungsverfahren hinausschiebt, damit die unter Zugrundelegung des Neurechts zu treffende Verwaltungsentscheidung den Bürger später trifft. 51 Im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen 50 So Konzen, in: Festschrift zum l25jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 366 f. 51 Vgl. zu dieser Problematik auch S. 133 Fn. 27. Da die Verwaltung jedoch wegen dem

142

C. Die negative Vorwirkung

äußert sich hier die Vorwirkung des künftigen Rechts darin, daß mit der jetzigen Verzögerung des Verwaltungs verfahrens ein Hinausschieben der Anwendbarkeit des Neurechts bezweckt wird. Sofern das Neurecht den Bürger im Vergleich zu bisher belastet, wäre die Rechtsverzögerung zweifellos durch ein Handeln im Interesse des Bürgers motiviert. Da der Bürger aber auch daran interessiert sein kann, möglichst rasch über Art und Ausmaß eines von ihm bereits in Erwägung gezogenen Eingriffs Näheres zu erfahren,52 sei hier gleichfalls vor einer vorschnellen Bejahung des Merkmals "Handeln im Interesse des Bürgers" gewarnt. Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Neuregelung zumeist nach dem Willen des Normgebers möglichst rasch greifen soll. Daher 3 ist die Verwaltung nur dann zu einer Verzögerung im Interesse des Bürgers berechtigt, wenn die Anwendung des Neurechts von der Zustimmung des Bürgers abhängt. c) Zusammenfassung

Die Verwaltung ist in Deutschland grundsätzlich ohne gesetzliche Ermächtigungsnorm nicht dazu befugt, Verwaltungsverfahren wegen des baldigen Inkrafttretens einer Rechtsänderung hinauszuzögern. Denn es fehlt regelmäßig an einem die Verzögerung rechtfertigenden sachlichen Grund. Ausnahmsweise kann aber von diesem Grundsatz abgewichen werden, sofern das nur zögerliche Vorgehen der Verwaltung im Interesse des Bürgers liegt und nicht im Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers54 steht oder eine Lücke im geltenden Recht durch eine rückwirkende Rechtsänderung geschlossen werden soll. 2. Situation in der Schweiz In der Schweiz wird - ebenfalls wie in Deutschland - von dem Grundsatz ausgegangen, daß eine Verzögerung von Verwaltungsverfahren in Erwartung des baldigen Inkrafttretens einer Rechtsänderung ohne gesetzliche Grundlage unzulässig ist. 55 Dabei sei bereits hier betont, daß die Verletzung des der Beschleunigungsgrundsatz noch nach dem Altrecht zulässige Vorhaben bevorzugt zu behandeln hat, läßt sich hier nur dann von einem Hinausschieben sprechen, wenn diese bevorzugte Behandlung nicht gefährdet wird.

Kopp, Verfassungsrecht, S. 114. Gemeint sind das Gesetzmäßigkeitsprinzip und der Grundsatz der ürgantreue. 54 Kein Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers liegt vor, wenn der Bürger ablehnend zu bescheiden ist oder die Durchfiihrung eines Verwaltungsverfahrens von der Zustimmung des Bürgers abhängt. 55 Siegrist, Die Bausperre, S. 63 ff.; Grisel, ZBL 75 (1974), S. 233 ff. (250); Haller/ Karlen, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 336; Knapp, Grundlagen I, Rz. 565, 568; Kölz, 52

53

I. Zur negativen Vorwirkung ohne spezialgesetzliche Anordnung

143

Verwaltung obliegenden Beschleunigungsgebots im Gegensatz zu Deutschland nicht nur einen in Geld bestehenden Schadensersatzanspruch nach sich zieht, sondern daß die verzögerten Verwaltungsverfahren trotz des zwischenzeitlichen Inkrafttretens des Neurechts unter Zugrundelegung des Altrechts abzuschließen sind. 56 Es wäre rechtsmißbräuchlich, wenn die Behörden mit ihrer rechtswidrigen Vorgehensweise das erreichen könnten, was gerade nicht eintreten soll. 57 Das schweizerische Bundesgericht ist in ständiger Rechtsprechung der Auffassung, die gesetzlich nicht vorgesehene negative Vorwirkung verstoße gegen das aus Art. 4 BV (Gleichheitssatz) abgeleitete Rechtsverzögerungsbzw. Rechtsverweigerungsverbot. 58 Dieses Verbot ist gegenüber dem Gleichheitssatz insoweit verselbständigt, als es unabhängig von einer Ungleichbehandlung, also auch bei Fehlerhaftigkeit sämtlicher Verwaltungsverfahren, einschlägig ist. 59 Die schweizerische Literatur lehnt dagegen eine nur zögerliche Vorgehensweise der Behörden unter folgenden Aspekten ab: Andre Grisei hält die negative Vorwirkung nur bei Bestehen einer gesetzlichen Grundlage rur zulässig, weil eine derartige Vorgehensweise der Behörden den Bürger in seinen Rechten beeinträchtige. 60 Nach Markus Siegrist eröffnet die Bejahung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Rechtsverzögerungsmöglichkeit der Gefahr einer rechtsungleichen, willkürlichen und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Verfahrensweise der Behörden Tür und Tor. Allein das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage stelle sicher, daß der einzelne sowohl den Zeitpunkt als auch die Voraussetzungen des Eintritts einer negativen Vorwirkung verläßlich abschätzen kann. 61 Zudem sieht er den Bürger um die bei einer gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten geprellt. 62 Einzig Martin Straub geht auf die von Kloepfer vorgebrachten Argumente näher ein. Was das Motiv der Verhinderung korrekturbedürftiger Verwaltungsentscheidungen anbetrifft, wird seiner Ansicht nach das Prinzip der funktionalen Gewaltenteilung aufgeweicht. ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (175); Häfe/in/Müller, Grundriß, Rz. 284; Fleiner-Gerster, Grundzüge, 10/27; Imboden / Rhinow', Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 113 f.; BGE 110 Ib 332 ff. 56 Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S.44 f.; BGer, in: Pra 64 (1975), Nr. 217, S. 618; BGer, in: Pra 70 (1981), Nr. 222, S.596; BGE 110 Ib 332 (336 f.); 107 Ib 133 (138); 99 Ia 113 (122). 57 BGE 110 Ib 332 (336 f.). 5R BGE 100 Ia 147 ff. S. 108 ff. (110).

59 60 61

62

= Imboden/Rhinow,

Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,

L. Meyer, Das Rechtsverzögerungsverbot, S. 1.

Grisel, Traite I, S. 151; ebenso Thommen, Vorwirkung, S. 93. Siegrist, Die Bausperre, S. 63, 65; Knapp, Grundlagen I, Rz. 565 ff. Siegrist, Die Bausperre, S. 67.

144

C. Die negative Vorwirkung

Insbesondere gehe mit der Unklarheit, wer den Beginn der negativen Vorwirkung bestimmen soll, die Gefahr eines ungleichmäßigen und unkontrollierbaren Verwaltungshandelns einher. Auch liege die Verhinderung späterer Korrektunnaßnahmen der Verwaltung nicht im Interesse des Bürgers, da dieser durch Hinweise auf eine bevorstehende Rechtsänderung vor unliebsamen Überraschungen ausreichend geschützt wird. 63 Das Argument der größeren Zeitgerechtigkeit der Verwaltungsentscheidungen entkräftet Straub damit, daß es gerade Aufgabe der Inkrafttretensbestimmungen von Gesetzen sei, den Zeitpunkt der Anwendungspflicht des Neurechts verbindlich festzulegen. 64 Aus diesen Gründen will er sich nicht der von Kloepfer vertretenen Rechtmäßigkeitsthese anschließen. Damit kann auch rur die Schweiz festgestellt werden, daß allein die Erwartung des baldigen Inkrafttretens einer Rechtsänderung die Verwaltung nicht zu einer verzögerlichen Behandlung anhängiger Verwaltungsverfahren ennächtigen kann. Von diesem Grundsatz werden jedoch teilweise zwei Ausnahmen anerkannt: Weitgehende Einigkeit herrscht, daß die Behörden unter dem Aspekt des "Handelns im Interesse des Bürgers" zu einer verzögerlichen Verfahrenshandhabung berechtigt sind. 65 Hierbei betont jedoch die schweizerische Lehre zu wenig, daß nicht jedes Abwarten einer rur den Bürger günstigen Rechtsänderung zugleich in dessen Interesse liegen muß. Die soeben geschilderte Ausnahme kann des weiteren dann nicht greifen, wenn die Interessen des Bürgers nach dem Willen des jeweiligen Nonngebers gerade nicht zu berücksichtigen sind. Manche Autoren vertreten ohne nähere Begründung, die Behörden könnten auch dann vom Beschleunigungsgrundsatz abweichen, wenn der Zeitraum bis zum Inkrafttreten des Neurechts sehr kurzfristig ist, sich die Verzögerung beispielsweise nur auf drei Tage erstreckt. 66 Berücksichtigt man, daß der einzelne bis zum Tage des Inkrafttretens des Neurechts vom Altrecht umfassend Gebrauch machen kann, erscheint diese Ausnahme unter dem Blickwinkel der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedenklich. Daß sie dennoch in der schweizerischen Literatur Anklang findet, dürfte wohl damit zu erklären sein, daß der Nachweis des Hinauszögerns einer Verwaltungsentscheidung um drei Tage in der Praxis kaum gelingen kann. Derartige Erwägungen können aber nicht dazu ruhren, daß die Verwaltung von ihrer Gesetzesbindung an das Altrecht entbunden wird. 63 Straub, Das intertemporale Recht, s. 86 ff. (87 f.). 64 Straub, Das intertemporale Recht, S. 88. 6S Haller / Karten, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 336; Griset, Traite I, S. 152, und ZBL 75 (1974), S. 233 ff. (250); Siegrist, Die Bausperre, S. 65. 66Imboden / Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 114; Haller/Karten, Raumplanungs- und Baurecht, Rz. 336; Häjelin/Müller, Grundriß, Rz. 285.

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

145

Im Ergebnis bleibt daher festzuhalten, daß in der Schweiz ein Hinauszögern von Verwaltungsverfahren wegen des baldigen Inkrafttretens einer Rechtsänderung, abgesehen von der eng begrenzten Ausnahme des Handeins im Interesse des Bürgers, ohne gesetzliche Grundlage im geltenden Recht nicht möglich ist.

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung Bei der gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung wird die Verwaltung durch eine Vorschrift im geltenden Recht dazu ermächtigt, von der bis dahin vorzunehmenden Anwendung bestimmter Rechtsnormen anläßlich einer bevorstehenden Rechtsänderung abzusehen. Im Gegensatz zur positiven Vorwirkung soll die Verwaltung bei der negativen Vorwirkung gerade nicht voranwendend tätig werden. Insbesondere soll sie ihren Entscheidungen nicht den Inhalt des künftigen Rechts - wenn auch unter Umständen nur vorläufig - zugrunde legen, sondern allein wegen einer bevorstehenden Rechtsänderung, die ihren Entscheidungsbereich tangiert, das bestehende Recht nicht mehr wie bisher anwenden; das gesetzgeberische Projekt ist lediglich ausläsendes Moment für den Eintritt der negativen Vorwirkung,67 ohne daß dessen konkreter Regelungsinhalt vorweggenommen wird. Der Rechtsanwender hat also zunächst festzustellen, ob in seinem Entscheidungsbereich eine Rechtsänderung erfolgen wird. Ist dies zu bejahen, darf er weder wie bisher das bestehende Recht anwenden noch den Inhalt des künftigen Rechts antizipieren, sondern soll im Ergebnis eine Suspendierung der Verwaltungsverfahren herbeiführen. Als Beispiele für eine solche gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung werden in der Schweiz regelmäßig die baurechtliche Veränderungssperre sowie die Möglichkeit der Zurückstellung von Baugesuchen genannt. Es bietet sich daher an, die Fragen, wann und unter welchen Voraussetzungen die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung möglich ist, zunächst einmal im Wege einer Analysierung dieser Rechtsvorschriften näher zu erforschen. Da sich die schweizerischen und deutschen Regelungen weitgehend gleichen, will ich mich auf die deutschen Baurechtsnormen beschränken. Sollte jedoch die schweizerische Lehre oder Rechtsprechung bei dem einen oder anderen Punkt einen anderen Standpunkt einnehmen, wird hierauf hingewiesen.

67 Kölz, ZSR NF 102 II (1983), 101 ff. (175); Rhinow/Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50.

10 Guckelberger

146

C. Die negative Vorwirkung

1. Die Veränderungssperre gemäß § 14 I BauGB

Nach § 14 I BauGB können die Gemeinden, wenn sie einen Beschluß zur Aufstellung eines Bebauungsplans gefaßt haben, zur Sicherung dieser Planung eine Veränderungssperre mit dem Inhalt beschließen, daß gewisse Vorhaben nicht mehr wie bisher vorgenommen werden dürfen. Ratio des § 14 BauGB ist, den Gefahren zu begegnen, die sich durch die relativ lange Dauer bis zum Inkrafttreten eines neuen Bebauungsplans ergeben. Denn, sofern das Altrecht im Vergleich zum geplanten Neurecht günstiger ist, werden die von der Rechtsänderung möglicherweise Betroffenen alles daran setzen, die ihnen durch das Altrecht eingeräumte Rechtsposition noch vor Inkrafttreten des Neurechts auszunutzen. Diese Ausnützungsbestrebungen können zur Schaffung tatsächlicher Situationen führen, die das Inkrafttreten jeder neuen Planung illusorisch machen. Deshalb ist der Erlaß einer Veränderungs sperre unentbehrliches Mittel zur Verhinderung einer negativen Präjudizierung der Verhältnisse. 68 Vorteil dieser Sperre ist, daß ihr Erlaß im Vergleich zur Ausarbeitung des definitiven Rechts wesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt. 69 Der Normgeber kann also durch eine materiell-rechtliche70 Anordnung sämtliche Vorhaben, die die neue Planung nur irgendwie abstrakt gefahrden können,1! verhindern. Voraussetzung für den Erlaß einer Veränderungs sperre gemäß § 14 I BauGB ist, daß der zuständige Normgeber einen Beschluß über die Aufstellung eines Bebauungsplans gefaßt hat, welcher ortsüblich bekanntzumachen ist. Dieses Erfordernis erklärt sich damit, daß, solange ein Normsetzungsverfahren noch nicht einmal eingeleitet ist, die Notwendigkeit planungssichernder Maßnahmen noch gänzlich offen ist. 72 Zwar besteht unter Umständen aus der Sicht des Normgebers bereits in dem Stadium, in dem lediglich das "ob" einer Normänderung diskutiert wird, ein Sicherungsbedürfnis. Diesem kann er aber selbst Rechnung tragen, indem die an der Normgebung Beteiligten ihre Erwägungen zur Normänderung geheimhalten. Ansonsten würde das Si68 Gelzer/Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1484 f.; Grauvogel, in: Brügelmann, BauOB, vor § 14 Rz. 1,7, § 14 Rz. 2; Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauOB, § 14 Rz. 2; Schmaltz, in: Schrödter, BauOB, § 14 Rz.2, 5; Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/ Löhr, BauOB, § 14 Rz. I; BOE 113 Ja 362 (365); 118 Ja 510 (5\3).

69

Straub, Das intertemporale Recht, S. 108.

Lemmel, in: Berliner Kommentar J, § 15 Rz. I; Krautzberger, in: Battis / Krautzberger / Löhr, BauOB, § 15 Rz. I. 71 Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauOB. § 14 Rz. 7, 20; Lemmel, in: Berliner Kommentar J, § 14 Rz. 2; Schmaltz, in: Schrödter, BauOB, § 15 Rz. 1; Grauvogel, in: Brügelmann, BauOB, § 14 Rz. 24; Hill, BauR 1981,523 ff. (523). 70

72 In diese Richtung: Bielenberg, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauOB, § 14 Rz. 10; Grauvogel, in: Brügelmann, BauOB, § 14 Rz. 12; Söjker, in: Festschrift für Weyreuther, S.383.

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

147

cherungsbedürfnis des Gesetzgebers zu sehr auf Kosten des Bürgers ausgedehnt. Die Veränderungssperre darf des weiteren nur erlassen werden, sofern sie zur Sicherung der Planung erforderlich ist. Dies läßt sich bereits aus Sinn und Zweck eines Sicherungsmittels ableiten. Überwiegend wird jedoch zur Begründung das Verhältnismäßigkeitsprinzip herangezogen, da der Eintritt der negativen Vorwirkung Eigentum und Freiheit des Bürgers berührt. 73 Diesem Erforderlichkeitskriterium wird vor allem in Deutschland entnommen, daß die künftige Planung zumindest im Zeitpunkt des Erlasses der Veränderungssperre ein Mindestmaß an Konkretisierung aufweisen muß. 74 Solange sich der Norrngeber nicht einmal über die Grundkonzeption seiner Planung, insbesondere ob diese das Altrecht erweitern oder verschärfen soll, klar wurde, kann von einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Altrechts durch den Bürger nicht die Rede sein. Insoweit fehlt es an einem die negative Vorwirkung rechtfertigenden Grund. Das Konkretisierungserfordernis verhindert zudem, daß die Veränderungs sperre vom jeweiligen Norrngeber mißbräuchlich, also unabhängig von einer Gefährdung seiner Entschlußfreiheit, eingesetzt wird. Immer wieder wird betont, daß die Veränderungs sperre kein Mittel zur Verhinderung bloß unerwünschter Vorhaben bzw. kein reines "Blokkierungsinstrument" sei. 75 Ebensowenig dient sie dazu, die Rechtssetzung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. 76 Könnte der Gesetzgeber jedes Mal, wenn er eine Rechtsänderung nur eventuell erwägt, bewirken, daß Verwaltungsverfahren gegenüber dem Bürger ausgesetzt werden, hätte dies doch eine gewisse Rechtsunsicherheit für den einzelnen zur Konsequenz. Kennzeichnend für die negative Vorwirkung ist nämlich, daß sie sozusagen in Akzessorietät zum Rechtsänderungsverfahren steht. Wird das anfangs eingeleitete Gesetzgebungsverfahren nicht zu Ende geführt, sind die zunächst suspendierten Verwaltungsverfahren unter Zugrundelegung des bisherigen Rechts abzuschließen. 77 Aus Sicht des Bürgers könnten daher Verwaltungsverfahren quasi will73 Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 14 Rz. 7; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 14 Rz. 11, 29; Hauth, BauR 1989, 271 ff. (275); Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 14 Rz. 7; BGE 113 Ia 362 (367); BGE 118 Ia 510 (514). 74 Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1489; Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 14 Rz. 5, 7; Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 14 Rz. 8, § 15 Rz. 5; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 14 Rz. 12, 17; Hauth, BauR 1989,271 ff. (275 ff.); Krautzberger, in: Battis / Krautzberger / Löhr, BauGB, § 14 Rz. 9; Bielenberg, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 14 Rz. 15a; OVG Münster, NVwZ-RR 1995, 134 f. (134). 75 Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1498; Bielenberg, in: Ernst / Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 14 Rz. 15a; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 14 Rz. 12 f.; Hauth, BauR 1989,271 ff. (276, 279, 281); für § 15 BauGB: Hili, BauR 1981,523 ff. (525, 530); in

diese Richtung OVG Münster, NVwZ-RR 1995, 134 f. (135). 76

Straub, Das intertemporale Recht, S. 108.

Tritt dagegen das neue Gesetz in Kraft, endet die negative Vorwirkung und das Altrecht wird aufgehoben. 77

10·

148

C. Die negative Vorwirkung

kürlich verzögert werden, wenn man keine strengeren Voraussetzungen an die Rechtsänderungsabsichten des Gesetzgebers stellt. Auch das schweizerische Bundesgericht ist der Meinung, daß der Eintritt der negativen Vorwirkung vom Vorliegen ernsthafter und einigermaßen konkretisierter Planungsabsichten abhängig ist. 78 Erst vor kurzem stellte es in einem Einzelfall fest, daß planungsrechtliche Festlegungen, die erst im Laufe eines Rechtsmittelverfahrens konkrete Züge annehmen, für den davorliegenden Zeitraum keine negative Vorwirkung auslösen könnten. Sonst müßte der betroffene Bauwillige in Kauf nehmen, "daß er hinterher Vorschriften unterworfen würde, die bei Einreichung des Baugesuchs und noch im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheids noch nicht einmal im Entwurf vorlagen."79 Allerdings sollten keine überspannten Anforderungen an das Konkretisierungserfordernis gestellt werden. Vor allem in Deutschland wird häufig vertreten, daß der Normgeber bei einer Änderung seiner ursprünglich anvisierten Planungskonzeption eine erneute Veränderungssperre erlassen müsse, da sich das einst erlassene Sicherungsmittel auf eine andere Planung bezog. 8o In der Schweiz dürfte dagegen bei ernsthafter Fortführung der neuen Planung die bisherige Veränderungssperre fortbestehen. Begründet wird dies hauptsächlich damit, daß die Veränderungs sperre ja nicht die ursprünglich anvisierte Planung verwirklichen, sondern vorrangig die Entschlußfreiheit der Planungsorgane absichern SOll.81 Letzteres erscheint einleuchtender. Da die negative Vorwirkung ja gerade nicht das künftige Recht vorwegnehmen soll, greift ihre Ratio auch bei einer Änderung der anfänglichen Normkonzeption ein. Jedoch dürfte das eingangs erwähnte Akzessorietätskriterium die Reichweite der negativen Vorwirkung einschränken. Sofern die neue Konzeption im Vergleich zur ursprünglichen einen ganz anderen Inhalt verfolgt, also ein aliud darstellt, dürfte die negative Vorwirkung entfallen. Im übrigen ist zu beachten, daß der Nachweis ernsthafter Normänderungsabsichten nicht allein durch den Nachweis einer hinreichend konkreten Normausarbeitung gelingen kann. So zeigte sich vor allem im Bereich des Baurechts, daß schlaue Gemeinden vorsorglich einen Bebauungsplanentwurf ausarbeiten ließen, um - da ja scheinbar eine konkretisierte Planung vorlag - dem Mißbrauchseinwand zu entgehen. 82 Da sowohl der Nachweis der Ernsthaftigkeit der Planung als auch einer hinreichend konkreten Normkonzeption zum Schutze des Bürgers entwickelt wurden, ist aus dem soeben genannten Grunde zu empfehlen, auf einer getrennten Nachweisführung zu bestehen. Unabhängig von diesen Ausführungen bleibt auf jeden Fall festzuhalten, daß das Erforderlichkeitskriterium generell zur Einschrän78 79 80 81 82

BGE 113 Ia 362 (365); 118 Ia 510 (512); 110 Ia 163 (165). BGE 118 Ia 510 (514). Hauth, BauR 1989,271 ff. (279). Vgl. dazu BGE 113 Ia 362 (365). Hauth, BauR 1989,271 ff. (272).

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

149

kung der Gefahr einer zu laxen Handhabung der negativen Vorwirkung unentbehrlich ist. Weiterhin wird in Deutschland aus dem Erforderlichkeitskriterium abgeleitet, daß die Veränderungssperre inhaltlich, räumlich und zeitlich zu begrenzen ist. 83 Inhaltliche und räumliche Begrenzung bedeutet dabei, daß der Normgeber die zur Wahrung seiner Entschlußfreiheit zu unterbindenden Maßnahmen nennen muß. Dieses Kriterium ist in Anbetracht dessen, daß die negative Vorwirkung in Freiheit und Eigentum des Bürgers eingreift, sachgerecht. Mit der zeitlichen Begrenzung wird sichergestellt, daß sich der Normgeber schnellstens über die Umsetzung seines Normänderungsvorhabens Klarheit verschafft. 84 Gleichzeitig bewirkt sie, da der Bürger die zeitliche Dauer der Sperre absehen kann, daß der Eingriff in seine Rechtsposition als weniger schwer empfunden wird. 85 Zudem ist im Bereich des Baurechts in Deutschland die Festlegung zeitlicher Grenzen zur Abgrenzung einer entschädigungslos hinzunehmenden Inhaltsbestimmung des Eigentums von einer entschädigungspftichtigen Enteignung geboten. 86 Demgegenüber lehnt das schweizerische Bundesgericht das generelle Erfordernis einer zeitlichen Befristung der negativen Vorwirkung ab. Vielmehr folgt es der Argumentation A. Grisels, wonach die Dauer der Wirkungen einer gesetzlichen Vorschrift nicht zu den Essentialia des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit gehört. 87 Im Hinblick darauf, daß der Normgeber durch die zeitliche Befristung zu einer möglichst schnellen Realisierung seines Projektes angehalten und dadurch der vom Bürger hinzunehmende Eingriff möglichst gering gehalten wird, ist jedoch auch der Schweiz generell eine zeitliche Begrenzung der negativen Vorwirkung anzuraten. 88 Letztlich wird im Rahmen des Erforderlichkeitskriteriums diskutiert, ob der Eintritt einer negativen Vorwirkung nicht bei einer zunächst rechtswidrigen Planungskonzeption entfallen müsse. Dies befiirworten manche Autoren, da das Bestehen einer Korrekturmöglichkeit ihrer Ansicht nach nicht den Eingriff in die Sphäre des Bürgers rechtfertigt. 89 Andere hingegen halten das 83 Gelzer/ Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1493-1497, 1547 ff.; Bielenberg, in: Ernst/ Zinkahn / Bielenberg, BauGB, § 14 Rz. 18, 21 ff., § 17 Rz. I a; Inhalt: Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 14 Rz. 12 ff. 84 In diese Richtung Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1547. 85 Gelzer/Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1547, sehen dies als Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsprinzips an. 86 Vgl. § 18 BauGB.

87 BGE 100 Ia 152 ff. (250). 88 89

= Pra

1974, Nr. 203, S. 583; Grisel, ZBL 75 (1974), S. 233 ff.

Grisel, in: Traite I, S. 152; Thommen, Vorwirkung, S. 95 f. Hauth, BauR 1989, 271 ff. (280).

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C. Die negative Vorwirkung

Bestehen einer Korrekturmöglichkeit fUr den Eintritt einer negativen Votwirkung ausreichend. 90 Diese Frage dürfte nicht anders als bei der Prüfung, wie weit die künftige Norm konkretisiert sein muß, zu lösen sein. Ohne jeden Zweifel darf der Normgeber nicht einfach eine rechtswidrige Planung einleiten, um Vorhaben mißbräuchlich zu verhindern. Andererseits kann nicht jede Rechtswidrigkeit der anfanglichen Plankonzeption zu einer Aufhebung der Veränderungssperre fUhren, sofern sich der Gesetzgeber von ernsthaften Normänderungsabsichten leiten läßt. Denn das Normgebungsverfahren ist ja gerade dazu da, derartige Unstimmigkeiten zu bereinigen. Nach all dem kann festgestellt werden, daß dem Erforderlichkeitskriterium bei der gesetzlichen Anordnung einer negativen Votwirkung entscheidende Bedeutung zukommt.

2. Die Zurückstellung von Baugesuchen gemäß § 15 BauGB § 15 I BauGB erlaubt es den Behörden, Baugesuche zurückzustellen, wenn die Voraussetzungen fUr eine Veränderungssperre gegeben sind, diese aber noch nicht beschlossen bzw. noch nicht in Kraft getreten ist, sofern zu befUrchten ist, daß die DurchfUhrung der Planung durch das Vorhaben unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert werden würde. Auch hier handelt es sich um eine Vorschrift, die eine negative Präjudizierung der Verhältnisse verhindern soll. 9\ Im Gegensatz zur Veränderungssperre stellt jedoch die Zurückstellung von Baugesuchen eine formell- bzw. verfahrensrechtliche Ermächtigungsnorm dar,92 die sich vor allem an die Rechtsanwendungsorgane als direkte Normadressaten richtet. Nach § 15 I BauGB darf eine Zurückstellung von Baugesuchen nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen einer Veränderungssperre vorliegen, diese aber noch nicht beschlossen oder in Kraft getreten ist. Mit anderen Worten muß die jeweilige Gemeinde eine Aufstellung, Aufhebung, Änderung oder Ergänzung eines Bebauungsplanes beschlossen haben, was ortsüblich bekanntzumachen ist. Die Planungsabsichten der Gemeinde müssen ernsthaft, die Absicherung der Planung muß erforderlich sein. 93 90 Gelzer/Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1491, 1507; Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 14 Rz. 15a; Söjker, in: Festschrift für Weyreuther, S. 387 f.; Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 14 Rz. 9, die die Grenze in der Regel für den Fall offensichtlicher Rechtswidrigkeit ziehen; OVG Münster, NVwZ-RR 1995, 134 f. (134). 91 V gl. z.B. Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1484. 92 Gelzer / Birk, Bauplanungsrecht, Rz. 1600; Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 15 Rz. 1; Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 15 Rz. 1; Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 15 Rz. 3; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 15 Rz. 5; Hili, BauR 1981, 523 ff. (524); Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 15 Rz. 1; Straub, Das intertemporale Recht, S. 105. 93 Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 15 Rz. 1,3; Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielen-

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

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Da es sich bei der Zurückstellung von Baugesuchen um eine verfahrensrechtliche. Vorschrift handelt, haben die Baugenehmigungsbehörden zu prüfen, ob die künftige Planung durch das jeweilige Vorhaben konkret gefährdet werden kann. 94 Entsprechend dem Charakter der negativen Vorwirkung dürfen die Behörden hier keine voll umfängliche Prüfung vornehmen,. ob das jeweilige Vorhaben dem künftigen Recht widerspricht (dann Voranwendung!).95 Maßgeblich ist nach dem Wortlaut des § 15 I BauGB allein, ob eine schwere Beeinträchtigung der künftigen Planung durch das jeweilige Vorhaben zu befürchten ist. Der Rechtsanwender muß also eine prognoseähnliche Entscheidung treffen,96 bei der er zum Beispiel auch die Möglichkeit einer späteren Abänderung der zunächst anvisierten Planung in seine Erwägungen mit einbeziehen muß. Diese Prüfung wird ihm dadurch erleichtert, daß eine Zurückstellung von Baugesuchen nur auf Antrag der Gemeinde erfolgen kann. Hierdurch wird zum einen der Planungshoheit der Gemeinde Rechnung getragen. 97 Verbleibt dieser im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften noch ein Spielraum, ist die Entscheidung, sowohl auf den Erlaß einer Veränderungssperre als auch eine Zurückstellung von Baugesuchen verzichten zu können, zu respektieren. Könnten die Behörden unabhängig von einer Zustimmung des Normgebers die Anwendbarkeit des Altrechts aussetzen, würden sie eine ihnen nicht zustehende Kompetenz wahrnehmen. Zum anderen können die Behörden gerade wegen der durch das Antragserfordernis bedingten Ausfiihrungen des Normgebers prüfen, ob ein Vorhaben die Realisierung der Gesetzgebungsabsichten gefährden kann. Unter Umständen wird die Gemeinde durch die Nachfrage der Genehmigungsbehörden erst auf die Möglichkeit des Erlasses einer Ver-

berg, BauGB, § 15 Rz. 4; Krautzberger, in: Battis I Krautzberger I Löhr, BauGB, § 15 Rz. 2 f.; Hili, BauR 1981,523 ff. (529 f.). 94 Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 15 Rz. I, 4; Lemmel, in: Berliner Kommentar I, § 15 Rz. 5; Bielenberg, in: ErnstlZinkahnlBielenberg, BauGB, § 15 Rz. 9 f. 9S SO dürfte wohl auch Moor, Droit administratif, S. 181 f., zu verstehen sein. In diese Richtung tendieren auch Rhinow I Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50. Der gegen die positive Vorwirkung vorgebrachte Einwand, daß dem einzelnen noch nicht veröffentlichtes und noch nicht in Kraft getretenes Recht entgegengehalten wird, läßt sich am besten entkräften, wenn der Rechtsanwender etwaige Widersprüche des Vorhabens zum zukünftigen Recht gar nicht anprüfen muß. Dies bedeutet nicht, daß die negative Vorwirkung ihren Charakter als Sicherungsmittel der neuen Normgebung verliert. Sämtliche Vorhaben können eben ab einem bestimmten Stadium des Planungsverfahrens nicht mehr genehmigt werden, weil hier stets mit einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Altrechts zu rechnen ist.

Krautzberger, in: BattislKrautzbergerlLöhr, BauGB, § 15 Rz. 3. Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 15 Rz. 5; Bielenberg, in: ErnstlZinkahnlBielenberg, BauGB, § 15 Rz. 6; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 15 Rz. 27. 96 91

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C. Die negative Vorwirkung

änderungs sperre aufmerksam gemacht. 98 Damit dient das Antragserfordernis zugleich den Interessen des Normgebers als auch dem Schutz des Bürgers.

3. Zusammenfassung zur Analyse von §§ 14, 15 BauGB Faßt man die bei §§ 14, 15 BauGB gewonnenen Erkenntnisse zusammen, lassen sich folgende Aussagen zur gesetzlichen Anordnung einer negativen Vorwirkung treffen: Zwar sind sowohl der jeweilige Gesetzgeber als auch die Behörden gemäß Art. 20 III GG an die bestehenden Gesetze gebunden. Daher ist es ausgeschlossen, daß sich der Normgeber und die Rechtsanwendungsorgane eigenmächtig von der Bindung an das Altrecht lösen. 99 Sofern aber der Gesetzgeber die Voraussetzungen, unter denen das Altrecht nicht mehr umfassend wirken soll, von vornherein in Gesetzesform festlegt, wird diese Bindungswirkung auf verfassungsrechtlich zulässige Weise abgeschwächt. So wie der Normsetzer die Verwaltung dazu ermächtigen kann, ausnahmsweise vom bestehenden Recht abzusehen (vgl. z.B. §§ 31 BauGB, 57 LBO BW), kann er also auf gesetzlichem Wege den Eintritt einer negativen Vorwirkung herbeifiihren. Die Besonderheit der negativen Vorwirkung ist darin zu sehen, daß sie in strenger Akzessorietät zu einem Gesetzgebungsverfahren steht: Das bis dahin maßgebliche Recht kommt solange vorübergehend nicht zum Zuge, bis Klarheit über das Schicksal des künftigen Rechts besteht. Scheitert das eingeleitete Gesetzgebungsverfahren, kommt das bis dahin maßgebliche Recht wieder zum Tragen. Tritt dagegen neues Recht in Kraft, so hebt es das bestehende Recht auf. Auf diese Weise wird bei geplanten Rechtsänderungen eine Art "Schwebezustand" herbeigefiihrt, der den bis zum Eintritt der negativen Vorwirkung geschaffenen Zustand fiir einen gewissen Zeitraum konserviert. Für manchen schweizerischen Autor liegt darin eine intertemporalrechtliche Regelung im weiteren Sinn,loo die das Verhältnis zwischen bestehendem und künftigem Recht näher ausgestaltet. So kann die gesetzliche Anordnung der negativen Vorwirkung dazu fiihren, daß das spätere Recht Sachverhalte ergreift, die ohne diese Anordnung an sich nach Altrecht zu beurteilen gewesen wären. Dies kann eine Belastung fiir den Bürger darstellen. Gleiches gilt, wenn er eine ihm nach bisherigem Recht zustehende Rechtsposition, wenn auch nur vorübergehend, nicht ausnützen kann. Da derartige Belastungen einen Eingriff enthalten, können sie nicht beliebig herbeigefiihrt werden. Man denke hier nur an die Zustände, die dadurch entstehen, daß Gesetzesprojekte zwar eingeleitet, letztlich aber doch nicht in die Tat Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 15 Rz. 5. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 23. 100 Straub, Das intertemporale Recht, S. 125.

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II. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

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umgesetzt werden. 101 Aus Sicht des Bürgers würde hier eine zu weit gehandhabte negative Vorwirkung zu einer für ihn schwer einschätzbaren Rechtslage führen. Aus diesem Grunde sollte der Eintritt der negativen Vorwirkung nur bei Vorliegen eines tr!ftigen Grundes ausgelöst werden. Als einschränkende Voraussetzungen wurden für den Bereich des Bauplanungsrechts darüber hinaus ausgearbeitet, daß sich der jeweilige Normgeber zur Normänderung entschlossen haben muß, dieser Entschluß auf ernsthaften Absichten beruht, die Normkonzeption ein Mindestmaß an Konkretisierung aufweist und die Belastung des Bürgers so gering wie möglich ist. Damit ist das soeben vorgefundene Ergebnis weitgehend mit den von der schweizerischen Praxis entwickelten Kriterien an eine negative Vorwirkung identisch, wonach diese im geltenden Recht vorgesehen und auf triftige Gründe zurückzuführen sein muß, nur zeitlich mäßig gelten darf, Rechtsungleichheiten vermeiden und wohlerworbene Rechte beachten muß. I02 In der Schweiz sind somit die Anforderungen an die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung mit den Kriterien an rückwirkende Gesetze identisch. l03 Da die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung aber nur dazu führt, daß das geltende Recht vorübergehend nicht angewendet wird, während die Rückwirkung nachträglich auf Sachverhalte der Vergangenheit einwirkt, werden die Anforderungen an die negative Vorwirkung zumeist nicht ganz so streng verstanden. 104 Bei der gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung kommt auch nicht das bei der positiven Vorwirkung vorgefundene Publikationsproblem zum Tragen. Denn im Gegensatz zu dieser wird ja das künftige Recht gerade nicht im voraus angewendet. Der Bürger kann sämtliche Voraussetzungen, unter denen die Anwendung des bisherigen Rechts "ausgesetzt" wird und die ihn schlimmstenfalls treffende Rechtsfolge, nämlich die Suspendierung des Verwaltungsverfahrens, dem geltenden Recht entnehmen. Zwar bemängelt Blaise Knapp bei der gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung, "daß der Bürger oft nicht weiß, durch welche Tatsachen oder Anträge ihre Anwendung ausgelöst wird."105 Dieser Kritik trägt aber das deutsche Baurecht Rechnung, 101 Straub, Das intertemporale Recht, S. 105: "Eine Regelung, die bei jeder in Aussicht stehenden Rechtsänderung die Sistierung zulässt oder anordnet, kann der Rechtssicherheit nicht genügen." 102 Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 284 m.w.N.; Schürmann / Hänni, Planungsrecht, S.259. 103 Schürmann / Hänni, Planungsrecht, S. 259; Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 284. 104 BGer, ZBL 84 (1983), S. 542 ff. (547); Häfelin / Müller, Grundriß, Rz. 284; Schürmann / Hänni, Planungsrecht, S. 259. 105 Knapp, Grundlagen I, Rz. 569.

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C. Die negative Vorwirkung

da nach §§ 14, 15 BauGB der Beschluß zur Einleitung des Normsetzungsverfahrens öffentlich bekanntzumachen ist. Im übrigen handelt es sich bei dem Erfordernis einer (einigermaßen konkretisierten) Rechtsänderung eben um ein Tatbestandsmerkmal, dessen Vorliegen ohne weiteres feststellbar ist. 106 4. Gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung auch außerhalb des Planungsrechts? Schließlich bleibt noch zu klären, ob sich die Möglichkeit einer gesetzlich angeordneten negativen Vorwirkung auf den Bereich des Planungsrechts beschränkt. Hierfur spricht insbesondere, daß Pläne immer im Hinblick auf eine konkrete Sachlage erlassen werden und gerade deswegen vor zwischenzeitlichen Veränderungen der tatsächlichen Situation zu schützen sind. Wegen dieser Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen meint Pierre Moor, daß im Bereich des Planungsrechts der Erlaß rückwirkender Normen ungeeignet und infolgedessen durch die Vorwirkung zu ergänzen ist. Für all die übrigen Fälle dürfte er dagegen die Rückwirkung als Reaktionsmöglichkeit auf ein mißbräuchliches Ausnützen des Altrechts für ausreichend halten. \07 Auf einer ähnlichen Linie liegt die Haltung Martin Straubs, wonach generell-abstrakte Normen trotz mißbräuchlicher Inanspruchnahme des Altrechts zumindest ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens ihren Sinn erreichen. lOB Diesen Autoren dürfte im Grundsatz zu folgen sein. Da das Neurecht regelmäßig ab dem Tage seines Inkrafttretens immer noch umfassende Wirkungen äußern kann, fehlt es zumeist an einem den Eintritt der negativen Vorwirkung rechtfertigenden Grund. Von diesem Grundsatz erscheint jedoch in bestimmten Fällen echt rückwirkender Gesetze eine Ausnahme angebracht. Dies läßt sich positivrechtlich mit § 165 I 2, 4 AO belegen, wonach ein möglicherweise rückwirkend ergehendes Doppelbesteuerungsabkommen bzw. in Fällen, in denen die Nichtigkeit einer Norm durch bestimmte Gerichte festgestellt wurde / werden soll und daher mit einer rückwirkenden Neuregelung zu rechnen ist, die Finanzbehörden die Steuerfestsetzung vorläufig aussetzen können. Es wäre daher zu überlegen, ob diese Regelung nicht auch auf Verwaltungsverfahren in anderen Bereichen, unabhängig von dem Erfordernis der Anhängigkeit eines Rechtsstreits über die Nichtigkeit des bisherigen Rechts, analog anwendbar 106 Auch in anderen Bereichen, insbesondere bei den unbestimmten Rechtsbegriffen, ergibt sich das Erfülltsein eines gesetzlichen Tatbestandsmerkmals nicht unbedingt auf den ersten Blick, sondern muß erst im Wege weiterer Ennittlungen herausgefunden werden. 107 Moor, Droit administratif, S. 181. 108 Straub, Das intertemporale Recht, S. 51; VG Kanton Zürich, in: Rechenschaftsbericht an den Kantonsrat 1983, 165 f. (166).

11. Die gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung

155

ist, sofern bloß mit einer rückwirkenden Rechtsänderung zu rechnen ist. 109 Hiergegen spricht jedoch, daß nur bei der Nichtigerklärung des bisherigen Rechts durch ein Gericht eine "Lücke" im geltenden Recht besteht, bei der bloßen Beschlußfassung des Bundestags, ein rückwirkendes Gesetz zu erlassen, es an einer derartigen Lücke wegen der weiteren Maßgeblichkeit des bisherigen Rechts dagegen fehlt. Wäre der Gesetzgeber bei § 165 I AO der Ansicht gewesen, nicht nur rückwirkende Doppelbesteuerungsabkommen, sondern generell jede rückwirkende Rechtsänderung rechtfertige eine Aussetzung der Verwaltungsverfahren, hätte er § 165 I AO nicht dermaßen kompliziert gefaßt. Allerdings wäre es denkbar, daß der Gesetzgeber in Zukunft für bestimmte Fälle, unter anderem wenn eine neue Norm rückwirkend in Kraft treten soll, eine gesetzliche Ermächtigungsnorm zur Aussetzung von Verwaltungsverfahren schafft. So sieht auch Fleiner-Gerster in der Anordnung einer negativen Vorwirkung ein Mittel des Gesetzgebers, bereits abzusehenden Schwierigkeiten bei der späteren Abänderung eines Gesetzes schon im Zeitpunkt seines Erlasses zu begegnen. 110 In Anlehnung an die im Baurecht vorgefundene Situation ist die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung vor allem dann zu erwägen, wenn durch die weitere Anwendung des bisherigen Rechts die mit dem Neurecht angestrebten Wirkungen gefährdet sind. Als Beispiel hierfür sei die von der Praxis trotz Fehlens einer gesetzlichen Grundlage vorgenommene Aussetzung von Verwaltungs verfahren genannt, wenn sie eine Lücke im geltenden Recht vorfindet, die der Gesetzgeber rückwirkend schließen will. Hier könnte eine eigenständige Rechtsfortbildung dazu führen, daß die dem Gesetzgeber eingeräumte Rechtssetzungsprärogative illusorisch wird. Ähnlich verhält es sich bei solchen rückwirkenden Normen, die aus bestimmten Gründen heraus einen Überraschungseffekt entfalten müssen, damit das Neurecht die ihm zugeschriebene Ordnungsfunktion überhaupt erfüllen kann. Müßten die Behörden in derartigen Fällen das Altrecht bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts vollziehen, würden sie die vom Gesetzgeber verfolgten Intentionen geradezu konterkarieren. Auch könnte der Gesetzgeber generell dadurch, daß die Behörden das Altrecht bis zum Tage des Inkrafttretens des Neurechts anwenden und bei einer Rechtsänderung sämtliche von ihnen getroffenen Verwaltungsentscheidungen korrigieren müssen, davon ab109 Eine solche wird von Kloepfer, Vorwirkung, S. 68 ff., entwickelt. Im Verwaltungsprozeßrecht wird fiir eine analoge Anwendung des § 94 VwGO eingetreten, wenn ein Rechtsstreit über die Gültigkeit einer Norm vor einem anderen Gericht anhängig ist (Kopp, VwGO, § 94 Rz. 4a). 110 Fleiner-Gerster, Leitfaden, S. 133: "Bei solchen Erlassen denkt der Gesetzgeber bereits an die nächste Gesetzesrevision und sorgt damit fiir eine sinnvolle Anpassungsmöglichkeit an das neue Recht, indem er den Behörden bestimmte Befugnisse zur Regelung von Problemen erteilt, die auf die Inkraftsetzung des neuen Rechts hin anders oder neu geregelt werden müssen."

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C. Die negative Vorwirkung

gehalten werden, eine neue Norm mit einer Rückwirkung zu versehen. Demgegenüber könnte der Erlaß einer "Sperre" einer solchen Einschränkung der Entschlußfreiheit des Normsetzers zuvorkommen. Damit der Gesetzgeber nicht vor vollendete Tatsachen gestellt wird, wäre also bei bestimmten rückwirkenden Normen die Herbeiruhrung einer negativen Vorwirkung durch einen triftigen Grund gedeckt. Der Beginn der Sperre dürfte dabei zeitlich nicht anders als bei den rückwirkenden Gesetzen einsetzen. Sonst würde der zeitliche Geltungsbereich eines Gesetzes - im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - zu weit zu Lasten des Bürgers ausgedehnt. Auch sollte man sich darüber im klaren sein, daß die negative Vorwirkung bei Scheitern des Gesetzesprojektes eine dem Bürger zustehende Rechtsposition vorübergehend einschränkte. Deshalb sollte von ihr abgesehen werden, wenn sich die durch die weitere Anwendung des Altrechts entstehende Situation bis zum Inkrafttreten des Neurechts ohne größeren Aufwand beseitigen läßt. Ebenso ist zu bedenken, daß dem Gesetzgeber manchmal mehr an der weiteren Anwendung des Altrechts als der Herbeiruhrung eines Schwebezustands gelegen sein kann. Davon abgesehen ließe sich bei künftig rückwirkenden Gesetzen durch den Erlaß einer Sperre ein "Mehr" an Rechtssicherheit erzielen. Denn sowohl die Bürger als auch die Rechtsanwendungsorgane wüßten, daß die Wirkungen des bisher angewendeten Rechts bei einer zu erwartenden echt rückwirkenden Rechtsänderung vorläufig in gewissem Umfang ausgesetzt werden. III Sofern die Voraussetzungen rur den Fortbestand der "Sperre" weggefallen sind, hätten die Behörden dann so schnell wie möglich eine Anpassung an die letztlich geltende Rechtslage vorzunehmen. Demzufolge dürfte auch in Deutschland ein enger Zusammenhang zwischen der gesetzlichen Anordnung einer negativen Vorwirkung und der Rückwirkung von Gesetzen bestehen. Oft erweist sich die Anordnung einer negativen Vorwirkung als notwendig, damit ein rückwirkendes Gesetz ergehen bzw. es die mit ihm angestrebten Wirkungen entfalten kann. Insoweit sind hier die Voraussetzungen an vorwirkende und rückwirkende Normen gleich. Im Gegensatz zu den Meinungsäußerungen in der Schweiz dürften die Anforderungen an die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung häufig sogar strenger als bei der Rückwirkung sein. Dies deshalb, weil nicht jedes rückwirkende Gesetz einer Ergänzung durch die gesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung bedarf. Letztlich könnte man an die Anordnung einer negativen Vorwirkung denken, wenn das bestehende Recht die ihm zugeschriebene Ordnungs funktion offensichtlich nicht erfiillt und aus diesem Grunde ein Rechtsänderungsverfahren eingeleitet wurde. Da davon auszugehen ist, daß das bestehende Recht 111 Vgl. zu dem Zustand der Rechtsunsicherheit ab dem Gesetzesbeschluß des Bundestags bei Erlaß einer rückwirkenden Norm Maurer, in: Isensee / Kirchhof III, § 60 Rz. 34.

III. Negative Vorwirkung beim Folgenbeseitigungsanspruch?

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die mit ihm angestrebten Intentionen grundsätzlich bis zum Zeitpunkt seines Außerkrafttretens verwirklicht, müßte sich der Eintritt einer negativen Vorwirkung hier auf absolute Ausnahmefälle beschränken. Gemeint sind die vor allem im Bereich des Richterrechts - diskutierten Situationen, in denen die Nichtberücksichtigung einer Rechtsänderung zu schlichtweg unerträglichen Ergebnissen führte. Daher wäre zu überlegen, ob nicht das Interesse an einer materiell gerechten Entscheidung die Nichtanwendung des bestehenden Rechts rechtfertigt l12 und der Rechtsanwender auf diese Weise von dem sich ihm stellenden Konflikt entbunden werden könnte.

IH. Anhang: Negative Vorwirkung beim richterrechtlich entwickelten öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch? Auch innerhalb des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs kann noch nicht in Kraft getretenes Recht in engen Grenzen Vorwirkungen entfalten. Obwohl bis heute eine allgemeine gesetzliche Ausgestaltung dieses Anspruchs fehlt, sind dessen Voraussetzungen und Inhalt weitestgehend anerkannt. Nach allgemeiner Auffassung setzt die Bejahung eines Folgenbeseitigungsanspruchs voraus, daß durch einen hoheitlichen Eingriff in ein subjektives Recht ein noch andauernder rechtswidriger Zustand geschaffen worden ist. 113 Dieser Anspruch soll jedoch entfallen, sofern damit zu rechnen ist, daß der Gesetzgeber diesen Zustand durch einen nachträglichen Normerlaß billigen wird. 114 Das Bundesverwaltungsgericht läßt hierfür nicht bereits jede Möglichkeit einer späteren Legalisierung genügen. In einer 1994 ergangenen Entscheidung meinte es vielmehr, daß die Legalisierung des rechtswidrigen Zustands zeitlich unmittelbar bevorstehen müsse. Hieran fehle es aber, solange die Beklagte nicht einmal einen neuen Bebauungsplan beschlossen hat. 115 Begründet wird die Vorwirkung des künftigen Rechts fast einhellig mit 112 Dahs, ZRP 1970, 3 ff. (5); Neuner, Die Rechtsfindung, S. 153, der weniger den Aspekt der Gerechtigkeit als das Interesse an einem dem Willen des Volkssouveräns entsprechenden Ergebnis betont. In diese Richtung Hilger, in: Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, S. 118. III Vgl. z.B. BVerwGE 80, 178 (179); BVerwG, NVwZ 1994,275 ff. (276). 114 Vgl. z.B. BVerwGE 80, 178 (179); BVerwG, NVwZ 1994,275 ff. (278). Leicht anders gestaltet sich die Rechtslage, wenn durch das rechtswidrige Verwaltungshandeln ein Dritter begünstigt wurde. Vgl. dazu VGH Kassel, NVwZ 1995, 300 ff. Zum Teil wird ein Wegfall des Folgenbeseitigungsanspruchs nur angenommen, wenn die Verwaltung den rechtswidrigen Zustand legalisieren kann. Insofern könnten also nur von der Exekutive erlassene Rechtsnormen eine Vorwirkung entfalten. Da die Situation aber nicht anders ist, wenn z.B. ein Parlamentsgesetz erlassen wird, dürfte es sich hier um eine wohl eher unbewußt vorgenommene Einschränkung handeln. 115 BVerwG, NVwZ 1994, 275 ff. (278). Vgl. zu dieser Entscheidung auch T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 171 f. Der VGH BW, NVwZ-RR 1994, 7 f.

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C. Die negative Vorwirkung

dem Einwand unzulässiger Rechtsausübung: Es widerspreche dem Grundsatz von Treu und Glauben, wenn jemand die Wiederherstellung eines früheren Zustands verlange, obwohl der momentan rechtswidrige Zustand legalisiert werden kann. 116 Allerdings könne dieser Einwand, weil er eine formal bestehende Rechtsposition des Bürgers hemmt oder vernichtet, nur substantiiert erhoben werden. Sonst würde dem Bürger das unnötige Risiko eines weiteren Prozesses aufgebürdet. Die öffentliche Hand sei durch die Möglichkeit, später eine Vollstreckungsabwehrklage zu erheben, ausreichend geschützt. 117 Es ist nun zu differenzieren, ob dieser den Folgenbeseitigungsanspruch ausschließende Einwand auf einer positiven oder negativen Vorwirkung des künftigen Rechts beruht. Wie oben aufgezeigt (S. 26 f.), ist die Abgrenzung der bei den Vorwirkungsformen an Hand der Art und Weise des Behördenvorgehens vorzunehmen; genauer gesagt ist zu ermitteln, ob der Anspruch aufgrund einer Voranwendung des künftigen Rechts (= positive Vorwirkung) oder bloß in Erwartung einer Rechtsänderung ohne Vorwegnahme des künftigen Rechts (= negative Vorwirkung) abgelehnt wird. Betrachtet man die zum Folgenbeseitungsanspruch ergangene Rechtsprechung, sind Aussagen darüber, wie die Gerichte vorgehen, nur schwer möglich. Manche Textpassagen lassen jedoch vermuten, daß das Entfallen des Folgenbeseitigungsanspruchs aufgrund des Einwands unzulässiger Rechtsausübung eher auf eine negative Vorwirkung des künftigen Rechts zurückzuführen ist. Gewisse Äußerungen, wonach der Einwand unzulässiger Rechtsausübung voraussetze, daß von der Legalisierungsmöglichkeit alsbald Gebrauch gemacht werde 118 oder daß die Legalisierung zeitlich unmittelbar bevorstehen müsse 119 , lassen darauf schließen, daß die Gerichte den Folgenbeseitigungsanspruch allein wegen des mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarteten Inkrafttretens einer Rechtsänderung ablehnen. Hierfür spricht auch eine 1995 veröffentlichte Entscheidung des VGH Kassel. In dieser äußerte er ernsthafte Zweifel, ob eine Veränderungssperre als Instrument zur Bewahrung eines rechtswidrigen Planfeststellungsbeschlusses noch dem Willen des Gesetzgebers entspricht, und prüfte daher den Einwand unzulässiger Rechtsausübung beim öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch an. 120 Diese Entscheidung spricht sehr stark für das Vorliegen (8), setzte eine "hinreichend gesicherte Erwartung, daß eine Behörde von der ihr nen Möglichkeit, rechtmäßige Zustände herbeizuführen, alsbald Gebrauch machen voraus. 116 BVerwGE 80, 178 (179); BVerwG, NVwZ 1994,275 ff. (278); T. Schneider, beseitigung, s. 170 ff.; Schoch, Jura 1993, 478 ff. (486). 117 BVerwGE 80, 178 (182 f.); BVerwG, NVwZ 1994,275 ff. (278); VGH BW, RR 1994, 7 f. (8). 118 VGH BW, NVwZ-RR 1994, 7 f. (8). 119 BVerwG, NVwZ 1994,275 ff. (278). 120

VGH Kassel, NVwZ 1995,300 ff. (303).

gegebewerde," FolgenNVwZ-

III. Negative Vorwirkung beim Folgenbeseitigungsanspruch?

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einer negativen Vorwirkung: Weil die Rechtsprechung öffentlich-rechtliche Folgenbeseitigungsansprüche im Bereich des Planungsrechts nicht aufgrund einer eine negative Vorwirkung anordnenden Vorschrift ablehnen konnte, berief sie sich auf den Einwand unzulässiger Rechtsausübung, sofern mit einer alsbaldigen, den rechtswidrigen Zustand billigenden Entscheidung des zuständigen Gesetzgebers zu rechnen war. Bei der Qualifizierung dieses Einwands als negative Vorwirkung kann den Gerichten nicht entgegengehalten werden, daß gegenüber dem Bürger eine belastende, noch nicht publizierte Norm im voraus angewendet wird. Auch würde vermieden, daß die Gerichte frühzeitig zu noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Normen gutachtlich Stellung nehmen. Aus all diesen Gründen wird hier der Einwand unzulässiger Rechtsausübung als negative Vorwirkung qualifiziert. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Rechtsprechung hinsichtlich der Bedeutung dieses Einwandes selbst noch im Schwanken ist. So meinte das Bundesverwaltungsgericht in einer neueren Entscheidung, daß von einer unzulässigen Rechtsausübung solange nicht gesprochen werden könne, als von der Beklagten kein Bebauungsplan beschlossen worden ist. Das Gericht könne nicht prüfen, "ob die neuerlichen Festsetzungen und Abwägungen mutmaßlichen rechtlichen Bestand haben."\2\ Es ist daher nicht auszuschließen, daß sich im Laufe der Zeit eine positive Vorwirkung beim öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch herauskristallisieren wird. Enthält der Folgenbeseitigungsanspruch eine negative Vorwirkung künftigen Rechts, stellt sich der Einwand unzulässiger Rechtsausübung als eine richterrechtlich entwickelte Einschränkung gewisser Rechtspositionen dar. Diese müßte weitgehend den Kriterien, die fiir die spezialgesetzliche Anordnung einer negativen Vorwirkung ermittelt wurden, entsprechen. Es müßte also (1) der Normsetzer zur Normänderung entschlossen sein, (2) das künftige Recht bereits ein Mindestmaß an Konkretisierung angenommen haben, (3) die Belastung des Bürgers so gering wie möglich und (4) der Eintritt der negativen Vorwirkung durch triftige Gründe gerechtfertigt sein. Mißt man die Rechtsprechung zum Wegfall des Folgenbeseitigungsanspruchs an diesen Kriterien, dürften die Voraussetzungen (1) und (2) erfiillt sein. Eine Rechtsänderung wird nur dann alsbald oder zeitlich unmittelbar bevorstehen, wenn das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wurde und der Inhalt der künftigen Norm einigermaßen konkretisiert ist. Bedenken ergeben sich jedoch bei den bei den letztgenannten Anforderungen. Kann der rechtswidrige Zustand ohne größeren Aufwand beseitigt und nach Inkrafttreten des Neurechts wiederhergestellt werden, dürfte fraglich sein, ob man dem Bürger den Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenhalten kann. Denn nach der an sich maßgeblichen 121 BVerwG, NVwZ 1994, 275 ff. (278); kritisch T. Schneider, Folgenbeseitigung, S. 17l f.

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C. Die negative Vorwirkung

Rechtslage darf er von der ihm zustehenden Rechtsposition bis zum Inkrafttreten des Neurechts Gebrauch machen. Die die negative Vorwirkung rechtfertigenden triftigen Gründe könnten darin gesehen werden, daß dem Staat nicht eine unter Umständen sehr kostspielige Beseitigungsaktion aufgebürdet werden soll, wenn der bereits bestehende Zustand im nachhinein ohnehin wiederherzustellen ist. Dem kann man entgegenhalten, daß der Einwand späterer Legalisierung die Behörden zunächst zur Herbeiführung rechtswidriger Zustände verleiten könnte und der Bürger auf diese Weise Eingriffe vorzeitig hinnehmen muß, die er ohne jene richterrechtlich entwickelte Einschränkung nach dem bestehenden Recht gar nicht zu dulden brauchte. Insoweit widerspricht dieser im Rahmen des Folgenbeseitigungsanspruchs entwickelte Gedanke dem Gesetzmäßigkeitsprinzip der Verwaltung. Daher muß unter Umständen bei den triftigen Gründen danach differenziert werden, ob für das Behördenhandeln eine - wenn auch nichtige - Ermächtigungsgrundlage bestand oder die Verwaltung die Dauer bis zum Inkrafttreten des Neurechts nicht abwarten wollte. Im letzteren Falle dürfte die dolo-agit-Einrede gegenüber dem Bürger scheitern, da sich der Staat wegen des Handeins ohne jegliche Ermächtigungsnorm selbst mißbräuchlich verhielt. Damit genügt die Rechtsprechung zum Entfallen des Folgenbeseitigungsanspruchs wegen Bevorstehens einer Rechtsänderung den Anforderungen, die an eine gesetzlich angeordnete negative Vorwirkung künftigen Rechts gestellt werden. Trotzdem fragt es sich, ob sich dieser richterrechtlich entwickelte Einwand so ohne weiteres in das bestehende Rechtssystem einfügt. Vor allem in Anbetracht des bei den allgemeinen Erörterungen zur gesetzlich nicht vorgesehenen negativen Vorwirkung gewonnenen Ergebnisses, daß bis zum Inkrafttreten des Neurechts grundsätzlich strikt am bestehenden Recht festzuhalten ist, erscheint diese Rechtsprechung befremdlich. Am besten läßt sich dies mit Hilfe des folgenden Vergleichs belegen: Klagt der Bürger ein ihm zustehendes Recht ein, ohne daß die Verwaltung zuvor rechtswidrige Zustände geschaffen hat, käme wohl kein Gericht auf die Idee, dem Bürger eine bevorstehende Rechtsänderung entgegenzuhalten. Vielmehr wird es der Klage unter Berufung auf den Grundsatz stattgeben, daß es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat. 122 Anders verhält es sich dagegen beim Folgenbeseitigungsanspruch, bei dem das Begehren des einzelnen mit dem Einwand des unmittelbaren Bevorstehens einer Rechtsänderung abgewiesen wird. Der Bürger wird hier dadurch, daß die Verwaltung rechtswidrige Zustände schafft und aufrechterhält, im Vergleich zu anderen, die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Neurechts unbehelligt bleiben, benachteiligt. Man mag nun einwenden, der ein-

122 Dieser Grundsatz ist vereinfacht wiedergegeben. In der Regel wird zwischen Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen differenziert.

III. Negative Vorwirkung beim Folgenbeseitigungsanspruch?

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zeine sei ja immer noch durch etwaige Amtshaftungsansprüche ausreichend geschützt. Diese Sicht vernachlässigt aber, daß der Amtshaftungsanspruch ein Sekundäranspruch ist und primär ein Interesse an gesetzmäßigen Rechtszuständen besteht. Bisher wurde der Einwand unzulässiger Rechtsausübung wegen einer bevorstehenden Rechtsänderung hauptsächlich im Bereich des Bau- und Planungsrechts aktuell. Dabei war den Rechtsanwendungsorganen ein Rückgriff auf die Institute der Veränderungssperre oder des ZurücksteIlens von Gesuchen anscheinend verwehrt, da der Bürger ja allein eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands begehrt. Aus diesem Grunde wäre zu überlegen, ob nicht der Gesetzgeber für Bereiche. in denen z.B. aufgrund einer unerkannt nichtigen Bauleitplanung rechtswidrige Zustände geschaffen wurden, in engen Grenzen eine negative Vorwirkung für etwaige Wiederherstellungsbegehren des Bürgers anordnen kann und soll.

11 Guckelberger

D. Die Vorberücksichtigung Als weitere Form der Vorwirkung noch nicht in Kraft getretener Normen führt Kloepfer deren Vorberücksichtigung an. Für diese ist charakteristisch, daß die Behörden bei ihrer Entscheidungsfindung nach geltendem Recht das baldige Inkrafttreten des Neurechts in ihre Erwägungen mit einbeziehen. Anders ausgedrückt läßt sich die Verwaltung bei der Auslegung des bzw. der Ermessensausübung nach geltendem Recht unter anderem von dem Inhalt der werdenden Norm leiten.) Ebenso zählt zu diesem Vorwirkungsbereich die Schließung von Lücken im geltendem Recht, bei der die Analogiebegründung auch unter Einbeziehung des künftigen Rechts erfolgt. Kloepfer spricht hier von einer sog. "analogen Vorberücksichtigung".2 Im Gegensatz zur gesetzlich nicht vorgesehenen positiven Vorwirkung ist und bleibt das geltende Recht Ausgangsbasis der Vorberücksichtigung. Dies hat zur Folge, daß der jeweilige Rechtsanwender das künftige Recht bei der Auslegung des geltenden Rechts nicht mit berücksichtigen kann, soweit dem der klare Wortlaut des Altrechts entgegensteht,3 bzw. bei einem Analogieschluß das werdende Recht außer acht zu lassen hat, sofern das vorhandene Rechtssystem und der Inhalt des künftigen Rechts kaum miteinander zu vereinbaren sind. 4 Damit geht die Vorberücksichtigung wegen ihrer Abhängigkeit vom bestehenden Recht im Verhältnis zur uneingeschränkten positiven Vorwirkung oft weniger weit. 5 In dieser Bindung des Rechtsanwenders an das bestehende Recht kommt zudem der zwischen der Vorberücksichtigung und der positiven Vorwirkung unter Bezugnahme auf das geltende Recht bestehende Unterschied zum Ausdruck. Bei letzterer wird die Verwaltung umfassend voran wendend tätig, versucht aber durch die Beifügung von Klauseln - man erinnere sich an die Vorwegnahme künftiger Besoldungserhöhungen unter Beifügung eines Rücknahmevorbehalts - eine weitestgehende ÜbereinI Kloepfer, Vorwirkung, S. 161, 166, sowie DÖV 1973, 657 ff. (663); Thommen, Vorwirkung, S. 65.

2

Kloepfer, Vorwirkung, S. 177.

3

Kloepfer, Vorwirkung, S. 167.

Um keine analoge Vorberücksichtigung, sondern um eine positive Vorwirkung handelt es sich also, wenn die Lückenschließung unabhängig von der bestehenden Rechtslage und damit allein unter Heranziehung des künftigen Rechts vorgenommen wird. 4

5 Kloepfer, Vorwirkung, S. 167. Je weiter bzw. unbestimmter der Wortlaut des Altrechts ist, desto mehr kann sich die Vorberücksichtigung einer Voranwendung annähern (ebd.,

S.200).

I. Vorberücksichtigende Auslegung und analoge Vorberücksichtigung

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stimmung mit dem geltenden Recht zu erzielen. Demgegenüber wird bei der Vorberücksichtigung allein das bestehende Recht den Verwaltungsentscheidungen zugrunde gelegt, so daß eine Beifügung von Nebenbestimmungen unnötig ist. Andererseits bringt die Tatsache, daß das geltende Recht Ausgangsbasis der Vorberücksichtigung ist, gegenüber der reinen Voranwendung des künftigen Rechts gewisse Vorteile mit sich. Indem die Verwaltung ihr Handeln auf eine Grundlage im geltenden Recht abstützen kann, steht ihrem Vorgehen weder das Prinzip des Gesetzesvorrangs noch des Gesetzesvorbehalts entgegen. Außerdem meint Kloepfer, daß deswegen die bei der positiven Vorwirkung aufgestellte Forderung, wonach das vorangewendete, noch nicht in Kraft getretene Neurecht rückwirkend ergehen muß, bei der Vorberücksichtigung entbehrlich ist. 6 Ob die Vorberücksichtigung künftigen Rechts nicht doch aus anderen Gründen problematisch sein könnte, soll nachstehend erörtert werden. Dabei soll zunächst auf die vorberücksichtigende Auslegung unter Einbezug der analogen Vorberücksichtigung eingegangen werden, bevor in einem zweiten Schritt die vorberücksichtigende Ermessensausübung anzusprechen ist.

I. Vorberücksichtigende Auslegung und analoge Vorberücksichtigung Der Begriff vorberücksichtigende Auslegung soll umschreiben, daß der Bedeutungsgehalt bestehender Rechtsvorschriften unter Mitberücksichtigung einer bevorstehenden Rechtsänderung ermittelt wird. Beispielsweise könnte sich der jeweilige Rechtsanwender bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe wie "öffentliches Interesse", "öffentliche Sicherheit und Ordnung" durchaus von Gesichtspunkten leiten lassen, die in einer erst werdenden Norm zum Ausdruck kommen. 7 Könnte man eine derartige Vorgehensweise der mit dem Normvollzug bestehenden Rechts betrauten Organe als rechtmäßig anerkennen, käme dieser Vorwirkungsform sogar eine relativ große Bandbreite zu. Denn sehr viele der in den Rechtsvorschriften verwendeten Begriffe sind auslegungsbedürftig. Dies ist durch vielfältige Gründe bedingt. Unter anderem lassen sich hierfür nennen: Die Unzulänglichkeit der Sprache, 6 Kloepfer, Vorwirkung, S. 167, 180, sowie DÖV 1973, 657 ff. (663); ähnlich Konzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 358. 7 Als Beispiel hierfür läßt sich eine Entscheidung des HessVGH in VerwRspr. 17, Nr. 221, nennen, in dem er die sofortige Voll ziehung der Ausweisung eines Ausländers aus dem Bundesgebiet bejahte, weil das in Bälde in Kraft tretende AuslG, wonach ein Ausländer, der seinen Lebensunterhalt nur unter Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestreiten kann, wegen der darin enthaltenen Konkretisierung des öffentlichen Interesses am Sofortvollzug ausgewiesen werden kann. Vgl. zur Interpretation eines "wichtigen Grundes" BVerwG, NJW 1994, 1425 f. (\426); OVG Münster, NJW 1995, 1231 ff.

11'

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D. Die Vorberücksichtigung

die Wahl eines unbestimmten Rechtsbegriffs zur Erreichung eines politischen Kompromisses, der Griff zu einer abstrakten Formulierung, weil der Gesetzgeber nicht sämtliche Anwendungsfälle einer Norm voraussehen kann oder den Rechtsanwendungsorganen einen gewissen Spielraum einräumen will, ein gewandelter Sprachgebrauch usf. 8 In Deutschland stellt jedoch nach der wohl überwiegenden Meinung der mögliche Wortsinn eine Grenze der Auslegung 9 - und damit auch der Vorberücksichtigung - dar. Begründet wird dies hauptsächlich damit, daß die Rechtsanwender dem Gesetzmäßigkeitsprinzip unterliegen,1O die Entscheidung des Normgebers aus Gründen der Gewaltenteilung zu respektieren sei!! sowie das Prinzip der Rechtssicherheit und der Publizität von Normen ein Abweichen vom verkündeten Normtext im Interesse des Bürgers verhinderten.!2 Ergibt sich, daß ein Sachverhalt nicht mehr unter den Wortlaut einer bestimmten Norm subsumierbar ist, ohne daß ein einleuchtender Grund für dessen rechtliche Nichterfassung besteht, bleibt Raum für eine Analogie. Wird im Rahmen dieses Analogieschlusses ähnlich wie bei der Auslegung das künftige Recht mit einbezogen, handelt es sich um eine analoge Vorberücksichtigung. Für das schweizerische Bundesgericht und die ihm mehrheitlich folgende Literatur ist dagegen im möglichen Wortsinn einer Norm keine absolute Auslegungsgrenze zu sehen; vielmehr ist anerkannt, daß ausnahmsweise vom Wortlaut abgewichen werden kann, wenn triftige Gründe dafür sprechen, daß dieser den eigentlichen Sinn der Bestimmung nicht wiedergibt oder zu einem vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten, einem willkürlichen, bundesrechtsoder verfassungswidrigen Ergebnis führt.!3 Hinsichtlich der dadurch bedingten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Auslegung und Analogie wird hier nur pauschal auf die dazu einschlägige Literatur verwiesen.!4

H Vgl. z.B. Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 438; Gern, VerwArch 1989,415 ff. (416); Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 160 ff. 9 Zippelius, Methodenlehre, S. 43; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Schmalz, Methodenlehre fiir das juristische Studium, Rz. 234 f.; Neuner, Die Rechtsfindung, S. 90 ff.; BVerfGE 87, 363 (392); 85, 69 (73); BVerfG, NJW 1995, 1141 ff. (1141).

In diese Richtung: Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 164. Larenz, Methodenlehre, S. 322; Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 164. 12 In diese Richtung: F. Müller, Juristische Methodik, S. 185; Gern. VerwArch 1989, 415 ff. (434); BVerfG, NJW 1995, 1141 ff. (1141) betont vor allem den Aspekt, daß der Bürger das Staatshandeln voraussehen können muß. 13 Vgl. Knapp, Grundlagen I, Rz. 419 m.w.N. 14 Vgl. Höhn, Praktische Methodik, S. 315 ff.; Hutter, Die Gesetzeslücke, S. 179 ff. 10 11

I. Vorberücksichtigende Auslegung und analoge Vorberücksichtigung

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Obwohl allgemeine Kenntnisse darüber fehlen, welcher Auslegungsmethoden sich die vollziehende Gewalt bedient, kann man davon ausgehen, daß die Argumentation der Behörden detjenigen der Gerichte sowie den in der Literatur vertretenen Positionen gleicht. Daher ist es unschädlich, wenn nachfolgend weniger Argumentationsmuster der Verwaltung als aus den bei den anderen Bereichen vorgestellt werden. Da in Deutschland nach wie vor eine registermäßige Erfassung der Gerichtsentscheidungen auf eine Vorberücksichtigung hin fehlt, während in der Schweiz seit geraumer Zeit eine Kategorie der "Bedeutung von Materialien zu bevorstehender Gesetzesrevision bei der Auslegung des geltenden Rechts" in den Sachregistern der Bundesgerichtsentscheidungen existiert, wird zuerst die in der Schweiz vorfindbare Rechtssituation dargestellt, bevor näher auf die Rechtslage in Deutschland eingegangen wird. 1. Situation in der Schweiz

In den schweizerischen Lehrbüchern zum Verwaltungsrecht finden sich regelmäßig Äußerungen, wonach werdendes Recht bei der Auslegung bestehender Rechtsnormen eine Rolle spielen kann, ohne daß dies näher begründet wird. '5 Nur einige wenige Autoren engen diese These weiter ein. Nach Marcelle Thommen muß die Vorberücksichtigung des noch nicht in Kraft getretenen Rechts sachlich begründet und mit Sinn und Zweck des geltenden Rechts vereinbar sein. '6 Kölz fordert, daß sich die Vorberücksichtigung im Rahmen des Wortlauts und des telos des Altrechts halten sowie dem Vertrauens- und Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechen muß. 17 Pierre Moor meint, daß eine Vorberücksichtigung werdenden Rechts nur innerhalb der von den herkömmlichen Interpretationsmethoden abgesteckten Grenzen möglich ist.·'8 Das schweizerische Bundesgericht hat sowohl im Bereich des Privat- als auch des öffentlichen Rechts bereits mehrfach zum Mittel einer vorberücksichtigenden Auslegung bzw. einer analogen Vorberücksichtigung gegriffen. '9 Martin Riemer meint diesbezüglich, die Vorberücksichtigung werdenden Rechts könne zumindest im Bereich des schweizerischen Privatrechts als eine traditionelle Vorgehensweise angesehen werden. 20 Analysiert man die in letzter Zeit, al15 Grisel, Traitt~ I, S. 151; Rhinow / Krähemann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, S. 50; Moor, Droit administratif, S. 181. 16 Thommen, Vorwirkung, S. 105. 17 Kölz, ZSR NF 102 II (1983), S. 101 ff. (174). IR Moor, Droit administratif, S. 181. 19 BGE 117 II 466 (475, 477); 118 II 459 (461 f.); 110 II 293 (296); 89 I 464 (476); 105 Ib 294 (299). 20 Riemer, recht 1993, 223 ff. (223 f.).

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D. Die Vorberucksichtigung

lerdings vorwiegend im Bereich des Privatrechts ergangenen Gerichtsentscheide näher, lassen sich dabei folgende Aussagen treffen: Das Bundesgericht hat mehrfach festgestellt, daß laufende Gesetzesrevisionen bei der Auslegung mehrdeutigen Altrechts bzw. bei der Schließung von Lücken im geltenden Recht mitzuberücksichtigen sind. 21 Auffallend ist jedoch, daß es bei der Vorberücksichtigung des werdenden Rechts wohl teilweise darüber hinaus verlangt, es dürften keine grundlegenden Unterschiede zwischen dem geltenden Recht und dem neuen Gesetzentwurf bestehen. 22 Dieses Erfordernis dürfte kaum dahin zu verstehen sein, daß das kommende Neurecht den Inhalt des bestehenden Rechts authentisch wiedergeben soll. Das schweizerische Bundesgericht geht regelmäßig nicht davon aus, daß eine Vorberücksichtigung nur möglich ist, wenn das werdende Recht exakt den Inhalt des bestehenden Rechts wiedergibt. 23 Vielmehr kann in diesem Erfordernis eine Konkretisierung der Feststellung, die Ausgangsbasis der Vorberücksichtigung müsse im geltenden Recht liegen, erblickt werden. Denn bei grundlegenden Unterschieden zwischen bestehendem und werdendem Recht dürfte sich der Rechtsanwender bei einem Abstellen auf das künftige Recht regelmäßig von der Ausgangsbasis des geltenden Rechts loslösen. Dabei bleibt offen, ob das Bundesgericht hierin ein für die Vorberücksichtigung werdenden Rechts stets zu beachtendes und verbindliches Merkmal erblickt. Unter Heranziehung von BGE llO 11 293 (296) sowie der Tatsache, daß dieses Merkmal in manchen Gerichtsentscheiden überhaupt nicht angesprochen wird, dürfte dies aber eher zu verneinen sein. Als Legitimationsgründe der Vorberücksichtigung nennt das Bundesgericht oft die Schaffung von Rechtskontinuität24 , d.h. die Annäherung des bestehenden an das künftige Recht, sowie daß in den Gesetzentwürfen der Wille des heutigen Gesetzgebers zum Ausdruck kommt. 25 Der Griff zur Vorberücksichtigung des werdenden Rechts ist dabei anscheinend nicht vom Erreichen einer bestimmten Phase des GesetzgebungsverJahrens abhängig. In der Regel dürfte aber für den Rechtsanwender eine derartige Vorgehensweise um so näher liegen, je geringer der Zeitraum bis zum Inkrafttreten des Neurechts ist. 26 So wird in einem Gerichtsentscheid hervorgehoben, daß sich der Wille des Gesetzgebers besonders in einer bereits abgeschlossenen und lediglich 21

BGE 117 II 466 (475, 477); 118 11 459 (461 f.); 110 11 293 (296).

22

BGE 118 11 172 (175); 11711 466 (475); 110 11 293 (296).

Vgl. BGE 110 11 293 (289), wo ein Entwurf der Revision des Aktienrechts unter Einschränkungen von der bisherigen Konzeption abweicht. Anders könnte dagegen BGE 117 11 466 (475) zu verstehen sein. 23

24

BGE 60 11 313 (321).

25

BGE 117 II 466 (477); 118 11 459 (465 ff.).

26

Riemer, recht 1993, 223 ff. (223).

I. Vorberücksichtigende Auslegung und analoge Vorberücksichtigung

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noch nicht in Kraft getretenen Gesetzesrevision manifestiert und es kaum anginge, "daß der Richter kurz vor Inkrafttreten einer Bestimmung, welche die zu beurteilende Streitfrage zum Gegenstand hat, sich über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzte und die Lücken abweichend von dessen Regelungsabsicht füllte. ,